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German Pages 1500 [1718] Year 2023
Mönning (Hrsg.) Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz
Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz
4., erweiterte und neu bearbeitete Auflage
herausgegeben von Professor Dr. Rolf-Dieter Mönning
bearbeitet von Daniel Bauch, Prof. Dr. Christian Berger, Friedrich Birnbreier, Dr. Jochen Blöse, Dr. Mark Boddenberg, Charalambos Bograkos-Tzannetakos, Eric Coordes, Detlev Cornelius, Dr. Friedrich L. Cranshaw, Tobias Daniels, Artur Deichmann, Prof. Dr. Martin Dreschers, Udo Feser, Prof. Dr. Peter Fissenewert, Robert Fliegner, Dr. Michael Flitsch, Prof. Dr. Lucas F. Flöther, Dr. Michael C. Frege, Daniel Friedemann Fritz, Prof. Dr. Katharina Gelbrich, Ingo Gerdes, Erwin Gerster, Dr. Marc Alexander Göb, Marion Gutheil, Ottmar Hermann, Dr. Dr. Stefan Hohberger, Gudrun Hübl, Arnd D. Kaiser, Julia Kappel-Gnirs, Dr. Benedict Kebekus, Dr. Frank Kebekus, Prof. Ulrich Keller, Dr. Oliver Klöck, Béla Knof, Michael Mönig, Cornelia Mönning, Dr. Elena Mönning, Prof. Dr. Rolf-Dieter Mönning, Prof. Dr. Matthias Nicht, Dr. Maximilian Pluta, Prof. Dr. Hanns Prütting, Knut Rebholz, Hans-Peter Runkel, Prof. Dr. Jens M. Schmittmann, Marco Schulz, Jörg Spies, Prof. Dr. Florian Stapper, Prof. Dr. Christoph Thole, Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Dr. Sven-Holger Undritz, Prof. Dr. Heinz Vallender, Holger Voskuhl, Dr. Stefan Weniger, Dr. Carsten M. Wirth, Dr. Hermann Peter Wohlleben, Wolfgang Zenker, Dr. Franc Zimmermann
RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG Köln
Zitierempfehlung: Verfasser in: Mönning, Betriebsfortführung, § … Rz. …
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Vorwort Die 4. Auflage des Handbuchs erscheint zu einer Zeit, in der unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftsleben vor gewaltigen Herausforderungen und tiefgreifenden Veränderungen stehen. Das gilt leicht abgeschwächt ebenso für den Bereich des Insolvenz- und Restrukturierungsrechts. Auch hier hat es in der Zeit nach dem Erscheinen der 3. Auflage gesetzliche Änderungen und exogene Einflüsse gegeben, deren Tragweite gegenwärtig noch nicht abschließend zu beurteilen ist und die ihren Niederschlag in den Beiträgen dieser 4. Auflage finden. Die Änderung gesetzlicher Rahmenbedingungen betrifft das im Baukastensystem ausgestaltete Gesetz zur Fortentwicklung und Ergänzung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG), das am 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Es enthält mit dem Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG) ein neues Instrumentarium, das für die Bewältigung von Unternehmenskrisen unterhalb der Eintrittsschwelle in ein Insolvenzverfahren zum Einsatz kommen soll. Mit dem StaRUG setzt der Gesetzgeber die Vorgabe der EU-Kommission für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und mit Unternehmensinsolvenzen um. Dabei ist Deutschland seiner Linie treu und seinen Traditionen verhaftet geblieben. Zwar sieht das StaRUG ganz im Sinne der EU-Empfehlungen für einen präventiven Restrukturierungsplan auch die Möglichkeit vor, einen Restrukturierungsplan privatautonom zu verhandeln und durchzuführen. Zugeschnitten bleibt der Restrukturierungsrahmen aber in erster Linie auf ein Planverfahren unter gerichtlicher Leitung und Aufsicht. Mehr als zwei Jahre nach Einführung des StaRUG ist der Erfolg bescheiden. Wie ehedem beim Schutzschirmverfahren werden bereits die Sterbeglocken geläutet. Dies könnte sich auch in Bezug auf das StaRUG als verfehlte und verfrühte Annahme erweisen. Deshalb werden alle für eine Betriebsfortführung maßgeblichen Themenbereiche in der aktuellen Auflage auch in das Frühstadium einer Unternehmenskrise verortet, wobei auch die außergerichtliche Unternehmenssanierung einbezogen wird, weil diese in unmittelbarer Konkurrenz zu einer Krisenbewältigung unter Inanspruchnahme des Restrukturierungsrahmens steht und die Fortführung von Unternehmen in beiden Varianten anspruchsvoll ist. Als weiterer wichtiger Meilenstein im Insolvenzgeschehen stand 2018 die Evaluation des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen „ESUG“ auf dem Programm. Das aus Professoren bestehende Forscherteam kam zu dem Ergebnis, dass die durch das ESUG eingeführten Änderungen insgesamt als positiv zu bewerten sind, allein schon deshalb, weil mit dem ESUG ein wichtiger Schritt in eine neue Insolvenzkultur getan wurde. Kritik wurde an den Zugangsregelungen zur Eigenverwaltung geübt. Das Schutzschirmverfahren hielten die Forscher für überflüssig. Und dann kam Corona. Und widerlegte die Gutachter in Bezug auf das Schutzschirmverfahren, das sich als taugliches Sanierungsinstrument in Großverfahren bewährte. Tatsache aber ist, dass auch die Restrukturierungswelt seit Beginn der COVID 19-Pandemie aus den Fugen geraten ist. Die Insolvenzvermeidung wurde zum eigenständigen politischen Ziel erhoben. Durch massive staatliche Finanzhilfen, flankiert durch eine Kette von Maßnahmegesetzen, wurden Liquiditätsengpässe überbrückt und Insolvenzantragspflichten ausgesetzt. Was im Grunde genommen einem Misstrauensvotum gegen das Insolvenz- und Sanierungsrecht gleichkommt, dem der Gesetzgeber offensichtlich kein ausreichendes Potenzial zur Krisenbewältigung beimisst. Was zunächst auf Corona zugeschnitten war, wurde auf hochwasserbedingte Krisen übertragen und als vorläufiger Schlusspunkt mit dem SanInsKG bezogen auf die Folgen des V
Vorwort Ukraine-Krieges fortgeschrieben. Mit dem am 9. November 2022 in Kraft getretenen Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen (SanInsKG), wird der für die Bewertung der Fortführungsprognose im Rahmen der insolvenzrechtlichen Überschuldungsprüfung maßgebliche Betrachtungszeitraum ebenso reduziert wie die Prognose zur Durchfinanzierung eines Verfahrens in Eigenverwaltung, die Voraussetzung für die Anordnung der Eigenverwaltung ist, dessen Zugangsvoraussetzungen mit dem SanInsFoG wieder erschwert wurden. Und mit dem dritten Baustein des SanInsKG bekommen überschuldete Unternehmen mehr Zeit für Sanierungsmaßnahmen, um einen Insolvenzantrag noch abwenden zu können. Die Verkürzung von Prognosezeiträumen und die Verlängerung von Gestaltungsoptionen werden sich auch auf die Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz auswirken. Denn unter den derzeitigen Bedingungen kann die Unternehmensplanung nur noch auf einen überschaubaren Zeitraum ausgerichtet werden. In stürmischen Zeiten ist nicht vorhersehbar, wie sich die anhaltende Corona-Pandemie, die Energiekrise, der Fachkräftemangel, die steigende Inflation, zunehmende Klimaschäden, gestörte Lieferketten, globale Spannungen, schärfere Umweltauflagen und die immer weiter ausufernde Bürokratisierung mittel- bis langfristig auf die Unternehmensentwicklung und Unternehmensplanung auswirken. Und niemand weiß, ob sich der fürchterliche Krieg in der Ukraine tatsächlich regional begrenzen lässt. Inhaber, Geschäftsführer und Vorstände, Insolvenzverwalter, Sachwalter, Generalbevollmächtigte und Sanierungsberater werden nur noch deutlich verkürzte Prognosezeiträume ihren Planungen zugrunde legen können und darüber hinaus einer permanenten Beobachtungspflicht unterliegen, aus denen Handlungs- und Berichtspflichten entstehen, wenn erfolgsgefährdende Entwicklungen erkannt werden. Und ganz aktuell wird diskutiert, ob die Einhaltung ökologischer und sozialer Standards notwendige Voraussetzungen für einen Sanierungsprozess sein sollten. Die Aufgabe, Unternehmen unter Krisenbedingungen fortzuführen, wird damit nicht einfacher. Die 4. Auflage erhebt deshalb den Anspruch, die erhöhten Anforderungen an eine Betriebsfortführung praxisgerecht darzustellen und Lösungsansätze für Verwalter, Geschäftsleiter und Berater zu vermitteln. Der bewährte Autorenkreis ist zusammen geblieben. Soweit das SanInsFoG und der gesellschaftliche Diskurs zwangsläufig zu einem erweiterten Themenspektrum geführt haben, konnten neue Autorinnen und Autoren gewonnen werden. War die 1. Auflage 1997 ausschließlich auf die Betriebsfortführung unter Insolvenzbedingungen ausgerichtet, wird die schwierigste Aufgabe, die im Rahmen eines Insolvenzverfahrens oder eines Restrukturierungsvorhabens erfolgreich bewältigt werden muss, nun umfassend auf allen Krisenstufen, ihren Erscheinungsformen und spezifischen Anforderungen thematisiert. Die 4. Auflage befindet sich auf dem Gesetzgebungs- und Bearbeitungsstand Januar/Februar 2023. Die bis zu diesem Zeitpunkt ergangene Rechtsprechung ist verarbeitet. Und auch die jüngste Entwicklung auf der nie stillstehenden Baustelle des Insolvenzrechtes wird bereits thematisiert. Von der Europäischen Kommission wurde am 7. Dezember 2022 ein Richtlinienentwurf vorgelegt, der die Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts beinhaltet. Ziel der Richtlinie ist die Förderung der Kapitalmarktunion, um grenzüberschreitenden Investoren eine erhöhte Rechtssicherheit zu gewährleisten. Der Richtlinienentwurf setzt die Bemühungen um eine Angleichung der Insolvenzrechte fort. Soweit es um die Sanierung von Krisenunternehmen geht, ist das im Entwurf vorgesehen Pre-Pack-Verfahren von besonderer Bedeutung. Dieses Verfahren muss man sich als eine Art Vorbereitungsphase vorstellen, bei der unter Aufsicht eines Monitors der Verkauf des sich in der Krise befindenden Unternehmens im Insolvenzverfahren parallel zur Antragstellung vorbereitet wird. Die in diesem Stadium bereits verhandelte Übertragung der Sanierung soll dann im eröffneten Verfahren genehmigt und unter Aufsicht des InsolvenzverVI
Vorwort walters in einer gesonderten Liquidationsphase umgesetzt werden. Der Insolvenzverwalter nimmt dann auch die Erlösverteilung vor. Um eine Verzahnung der Vorbereitungsphase mit dem späteren Insolvenzverfahren zu gewährleisten, soll der Monitor auch zum Insolvenzverwalter bestellt werden. Offen bleibt, wie diese Überlegungen mit einer vom sich selbstverwaltenden Schuldner in der Eigenverwaltung betriebenen Reorganisation, mit der die Erhaltung des Unternehmensträgers angestrebt wird, in Einklang gebracht werden soll. Und ebenso unklar ist, wie sich der bereits in einer Vorbereitungsphase eingeleitete Verkauf des Unternehmens mit der parallel laufenden Betriebsfortführung des Unternehmens verbinden lässt. Insoweit zeichnen sich bereits relevante Themen für die 5. Auflage ab. Wieder gilt mein herzlicher Dank allen Autorinnen und Autoren, die dieses Werk mit ihren Beiträgen prägen und geholfen haben, den ehrgeizigen Zeitplan zur Herausgabe zu halten. Das Lektorat lag wieder in den bewährten Händen von Frau Rechtsanwältin Iris ThevesTelyakar. Sie hat nicht nur die Manuskripte bearbeitet, sondern auch wichtige Hinweise und Anregungen gegeben. Ein ganz besonderer Dank gebührt auch wieder Herrn Markus Sauerwald, der nicht nur den Anstoß für die 4. Auflage gegeben hat, sondern das Projekt auch verlagsseitig mit großem Engagement, hinreichender Geduld, aber hin und wieder auch mit dem gebotenen Nachdruck begleitet hat. Herausgeber, Verlag und Autoren wünschen und hoffen, dass „Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz“ auch in seiner 4. Auflage den Anforderungen der Praxis in einer geänderten Welt und unter schwierigen Bedingungen gerecht wird. Anregungen, Lob und Kritik sind erwünscht. Aachen, Köln im März 2023
Rolf-Dieter Mönning
VII
Inhaltsübersicht Seite Vorwort................................................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis .............................................................................................................. XIII Autorenverzeichnis .......................................................................................................... XXV Literaturverzeichnis....................................................................................................... XXXV
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung §1
Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung (Uhlenbruck/Vallender) ...................................................... 3
§2
Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung (Prütting) ............................................................................................ 41
§3
Die Funktion der Betriebsfortführung im deutschen Insolvenzrecht (Feser) ........ 55
§4
Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil (Rebholz)..... 67
§5
Betriebsfortführung und Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzund Eigenverwaltung (Runkel/Fliegner).................................................................... 79
§6
Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur durch ESUG, Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen und StaRUG (Flöther/Gelbrich) ................................................................................ 95
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung §7
Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung (Weniger) ............................................................................... 113
§8
Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung unter Einbeziehung externen Rats (F. Kebekus/B. Kebekus) ................................. 127
§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung (Pluta)................................................. 169
§ 10 Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen i. R. des Regel- sowie Planinsolvenzverfahrens (E. Mönning) ....................................... 207 § 11 Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren (R.-D. Mönning)............................ 241 § 12 Gläubigerautonomie – Einbeziehung von Gläubigerversammlung und Gläubigerausschuss – (Zenker)................................................................................. 387 § 13 Aufsicht und Kontrolle durch das Insolvenzgericht und das Restrukturierungsgericht (StaRUG) (Gerster) ......................................... 421 § 14 Kompetenzverteilung in der Eigenverwaltung bei Betriebsfortführung (Thole)..................................................................................... 503 § 15 Steuerung, Überwachung und Beendigung der Fortführung (Hübl/Kappel-Gnirs).................................................................... 517
IX
Inhaltsübersicht § 16 Fehlentwicklungen bewältigen – Erkennen, gegensteuern, korrigieren, abbrechen? (Hohberger)............................................................................................ 601 § 17 Betriebsfortführung in Eigenverwaltung im Planverfahren und im Schutzschirmverfahren (Spies)............................................................................ 629
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung – Rechtsstellung, Zusammenarbeit und Kommunikation § 18 Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential (Flitsch/Birnbreier) ......... 689 § 19 Kommunikation in der Unternehmenskrise (Voskuhl) .......................................... 707 § 20 Psychologische Aspekte der Betriebsfortführung (Stapper).................................. 745 § 21 LEAN-Management als Führungsinstrument in der Unternehmenssanierung (Kaiser) ............................................................................ 753
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung § 22 Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz-und Eigenverwaltung (Hermann/Fritz)........................................................................... 771 § 23 Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht (Cranshaw).... 835 § 24 Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen (Undritz/Knof) ..... 917
Teil V Einzelfragen § 25 Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung (Dreschers) ..... 947 § 26 Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme (C. Mönning).......... 989 § 27 Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz (Wohlleben/Daniels) ................ 1071 § 28 Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft (Blöse) ........................ 1091 § 29 Die Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Betriebsfortführung (Boddenberg)....................................................................................... 1109 § 30 Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung (Bograkos) ....................................................................... 1127 § 31 Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz (Gutheil)........................................... 1145 § 32 Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung (Cornelius) ...................................................................... 1163 § 33 M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung (Deichmann).................... 1211 § 34 Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz (Klöck/Gerdes) ........... 1259 § 35 Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung (Fissenewert) ..... 1283 § 36 Betriebsfortführung und Großschadensereignisse/Pandemie (Zimmermann) ... 1303 § 37 Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung (Zimmermann) ........................................................... 1309
X
Inhaltsübersicht § 38 Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung (Wirth/Göb) ................................................................... 1335 § 39 Betriebsfortführung in Sonderfällen (Mönig/Coordes) ........................................ 1359 § 40 Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich (Bauch) .................................................................... 1393 § 41 Betriebsfortführung und Versicherungsschutz (Schulz) ...................................... 1407
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung § 42 Interne und externe Rechnungslegung, Steuern (Schmittmann) ......................... 1445 § 43 Externe Schlussrechnungsprüfung (Schmittmann)............................................... 1497 § 44 Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, des Sachwalters und der Organe der Insolvenzschuldnerin (Frege/Berger/Nicht)................................ 1505 § 45 Haftung der Beteiligten eines Restrukturierungsvorhabens nach dem StaRUG (Fritz) ............................................................................................... 1539 § 46 Vergütungsfragen (U. Keller)................................................................................. 1585 Stichwortverzeichnis ........................................................................................................ 1619
XI
Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort................................................................................................................................... V Inhaltsübersicht .................................................................................................................... IX Autorenverzeichnis .......................................................................................................... XXV Literaturverzeichnis....................................................................................................... XXXV
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung §1
Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung.............................................................................................. 3
I.
Geschichtliche Entwicklung ......................................................................................... 5
II.
Initiativen des Kölner Fachkongresses 1977................................................................ 7
III.
Die Betriebsfortführung im System der InsO ............................................................. 8
IV.
Die Unternehmensfortführung nach der InsO ........................................................... 9
V.
Zuständigkeiten für Sanierungsentscheidungen und -maßnahmen.......................... 12
VI.
Die Sanierungsentscheidung bei drohender Zahlungsunfähigkeit ........................... 15
VII. Anforderungen an ein Sanierungskonzept................................................................. 19 VIII. Die unverzichtbare Fortbestehensprognose .............................................................. 20 IX.
Rechtsfolgen einer misslungenen außergerichtlichen Sanierung.............................. 22
X.
Das ESUG und die neue Insolvenzkultur.................................................................. 25
XI.
Die problematische Fortführungsfinanzierung ......................................................... 32
XII. Rechtzeitige Einbeziehung der Anteilsinhaber.......................................................... 35 XIII. Konzerninsolvenzrecht ............................................................................................... 36 XIV. Zusammenfassung ....................................................................................................... 37 §2
Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung............................................................................................................. 41
I.
Einleitung..................................................................................................................... 41
II.
Die Bedeutung von Verfahrensgrundsätzen .............................................................. 42
III.
Die klassischen Verfahrensgrundsätze ....................................................................... 42
IV.
Die Verfahrensgrundsätze bei Fortführung und Sanierung...................................... 47
V.
Ethik und Betriebsfortführung................................................................................... 50
VI.
Fortführungs- und Insolvenzwürdigkeit ................................................................... 51
VII. Pflichtenentlastung und Freistellung von Risiken bei Betriebsfortführung? .......... 52
XIII
Inhaltsverzeichnis §3
Die Funktion der Betriebsfortführung im deutschen Insolvenzrecht................. 55
I.
Konkurs und Vergleich................................................................................................ 55
II.
Gesamtvollstreckungsverfahren.................................................................................. 59
III.
Die Insolvenzordnung................................................................................................. 60
IV.
Fazit .............................................................................................................................. 65
§4
Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil .................. 67
I.
Einleitung ..................................................................................................................... 67
II.
Der Insolvenzverwalter und das Klavier..................................................................... 68
III.
Verantwortlichkeit....................................................................................................... 72
IV.
Normierungs-/Messbarkeitsversuche ........................................................................ 73
V.
ESUG ........................................................................................................................... 74
VI.
SanInsFoG, StaRUG ................................................................................................... 75
VII. Zusammenfassung/Ausblick ....................................................................................... 76 §5
Betriebsfortführung und Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzund Eigenverwaltung ................................................................................................. 79
I.
Einführung in die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung........................................................................................................... 79
II.
Überblick über die Regelungen der GOI................................................................... 81
III.
GOI-Regelungen zur Betriebsfortführung und Auslaufproduktion........................ 88
§6
Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur durch ESUG, Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen und StaRUG................................................................................................................ 95
I.
Begriff der Sanierungs- und Fortführungskultur....................................................... 96
II.
Entwicklung in Deutschland....................................................................................... 97
III.
Änderungen durch das ESUG................................................................................... 100
IV.
Änderungen durch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen .................................................................................................. 105
V.
Änderungen durch das StaRUG ............................................................................... 107
VI.
Fazit und Ausblick..................................................................................................... 109
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung §7
Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung................................................................................................ 113
I.
Die Entscheidungssituation ...................................................................................... 113
II.
Analyse der Unternehmenskrise (Ursachenanalyse) .............................................. 115
III.
Ermittlung von Sanierungsmaßnahmen ................................................................... 118
XIV
Inhaltsverzeichnis IV.
Sanierungskonzept und Planungsrechnung ............................................................. 124
V.
Umsetzung und Controlling .................................................................................... 125
VI.
Zusammenfassung ..................................................................................................... 126
§8
Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung unter Einbeziehung externen Rats......................................................................... 127
I.
Vorbemerkung........................................................................................................... 129
II.
Einbeziehung externen Rats ..................................................................................... 130
III.
Anforderungen an die Unternehmensfortführung ................................................. 137
§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung........................................................... 169
I.
Theoretische Grundlagen.......................................................................................... 170
II.
Liquiditätsplanung..................................................................................................... 174
III.
Finanzierung durch Verwertung............................................................................... 176
IV.
Finanzierung durch Eigenkapital.............................................................................. 182
V.
Finanzierung durch Fremdkapital ............................................................................ 192
VI.
Finanzierung durch die öffentliche Hand................................................................ 203
§ 10 Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen i. R. des Regel- sowie Planinsolvenzverfahrens.................................................... 207 I.
Einführung ................................................................................................................. 208
II.
Vereinbarkeit von Finanzierungsleistungen der öffentlichen Hand mit dem EU-Beihilferecht (§§ 107 ff. AEUV) ........................................................ 209
III.
Beihilferelevanz eines Insolvenzplanverfahrens bei Beteiligung öffentlicher Gläubiger ............................................................................................... 229
IV.
Notifizierungsverfahren gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV..........................................234
V.
Fazit............................................................................................................................ 238
§ 11 Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren...................................................... 241 I.
Funktion des Eröffnungsverfahrens......................................................................... 246
II.
Rechtliche Voraussetzungen der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren ............................................................................................ 260
III.
Wirtschaftliche und organisatorische Voraussetzungen der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren ......................................................... 330
IV.
(Zwangs-)Maßnahmen zur Sicherung der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren ............................................................................................ 366
V.
Betriebsfortführung und Öffentlichkeit .................................................................. 381
VI.
Übergang.................................................................................................................... 382
VII. Fazit............................................................................................................................ 383
XV
Inhaltsverzeichnis § 12 Gläubigerautonomie – Einbeziehung von Gläubigerversammlung und Gläubigerausschuss –................................................................................................ 387 I.
Vorbemerkung: Rolle der Gläubiger bei der Betriebsfortführung ......................... 388
II.
Organe der Gläubiger im Insolvenzverfahren (Überblick) .................................... 390
III.
Gläubigerbeteiligung im Eröffnungsverfahren ........................................................ 404
IV.
Gläubigerbeteiligung im eröffneten Regelverfahren................................................ 410
V.
Gläubigerbeteiligung im eröffneten Planverfahren.................................................. 419
VI.
Kollektive Gläubigerbeteiligung nach dem StaRUG ............................................... 419
§ 13 Aufsicht und Kontrolle durch das Insolvenzgericht und das Restrukturierungsgericht (StaRUG)....................................................... 421 I.
Vorbemerkung ........................................................................................................... 423
II.
Begriff der insolvenzrechtlichen Aufsicht................................................................ 424
III.
Die insolvenzgerichtliche Aufsicht im Überblick ................................................... 437
IV.
Schwerpunkte insolvenzgerichtlichen Aufsicht und Kontrolle im Verlauf des Insolvenzverfahrens bei Fortführung des schuldnerischen Unternehmens .... 475
V.
Exkurs: Sonderinsolvenzverwalter............................................................................ 499
VI.
Schlussbemerkung ..................................................................................................... 499
VII. Gerichtliche Aufsicht im Restrukturierungsrahmen nach StaRUG....................... 500 § 14 Kompetenzverteilung in der Eigenverwaltung bei Betriebsfortführung .......... 503 I.
Einführung ................................................................................................................. 503
II.
Die Abgrenzung zwischen Eigenverwaltung und Sachwaltung .............................. 504
III.
Kein rechtlicher Einfluss der Aufsichtsorgane gemäß § 276a InsO ....................... 510
IV.
Generalbevollmächtigte und Sanierungsgeschäftsführer (CRO) ........................... 512
V.
Das Verhältnis zu den externen Sanierungsberatern ............................................... 513
VI.
Haftung der Beteiligten............................................................................................. 514
VII. Konflikte über strategische oder operative Fragen.................................................. 514 VIII. Gläubigerausschuss.................................................................................................... 515 IX.
Einbindung des Insolvenzgerichts............................................................................ 516
§ 15 Steuerung, Überwachung und Beendigung der Fortführung............................. 517 I.
Die Betriebsfortführung im System der InsO ......................................................... 519
II.
Betriebsfortführung im vorläufigen Verfahren ........................................................ 544
III.
Betriebsfortführung im endgültigen Verfahren ....................................................... 569
IV.
Betriebsfortführung in der Eigenverwaltung ........................................................... 580
V.
Regulatorische Restriktionen in der Betriebsfortführung und Vermögensverwertung............................................................................................... 584
XVI
Inhaltsverzeichnis § 16 Fehlentwicklungen bewältigen – Erkennen, gegensteuern, korrigieren, abbrechen?................................................................................................................. 601 I.
Systematisierung der Anwendungsbereiche der Fortführung oder des Abbruchs ............................................................................................................. 601
II.
Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen .................................................................. 604
III.
Umfassende Restrukturierungsmaßnahmen als einziger Weg ............................... 613
IV.
Operative und strategische Restrukturierungsmaßnahmen entlang der Wertschöpfungskette auf der Zeitschiene ......................................................... 618
V.
Abbruch von Maßnahmen ........................................................................................ 624
§ 17 Betriebsfortführung in Eigenverwaltung im Planverfahren und im Schutzschirmverfahren...................................................................................... 629 I.
Vorbemerkung........................................................................................................... 630
II.
Maßnahmen im Vorinsolvenzzeitraum und Erstellung eines Sanierungskonzepts................................................................................................... 633
III.
Antragsschrift ............................................................................................................ 646
IV.
Handlungsspielraum der Unternehmensleitung im Rahmen der Betriebsfortführung ............................................................................................ 648
V.
Umsetzung der beabsichtigten Sanierung durch einen Insolvenzplan................... 660
VI.
Muster ........................................................................................................................ 664
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung – Rechtsstellung, Zusammenarbeit und Kommunikation § 18 Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential ....................................... 689 I.
Einleitung: Die Rolle des Schuldners in der insolvenzrechtlichen Praxis.............. 690
II.
Der schuldnerische Personenkreis ........................................................................... 693
III.
Schuldnerische Gestaltungsmöglichkeiten i. R. des Insolvenzantrags................... 693
IV.
Die Rechtsstellung des Schuldners im vorläufigen Insolvenzverfahren................. 694
V.
Die Rechtsstellung des Schuldners im eröffneten Insolvenzverfahren.................. 699
§ 19 Kommunikation in der Unternehmenskrise ........................................................ 707 I.
Einführung ................................................................................................................. 708
II.
Kommunikationsverantwortliche – Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Öffentlichkeit sowie Unternehmensführung und Belegschaft ....................... 713
III.
Das Handwerkszeug von Pressesprechern in der Insolvenz .................................. 718
IV.
Ablauf der Krisenkommunikation während einer Restrukturierung ..................... 737
V.
Exkurs: Die Medien in Deutschland ........................................................................ 740
§ 20 Psychologische Aspekte der Betriebsfortführung................................................ 745 I.
Vorbemerkung........................................................................................................... 745
XVII
Inhaltsverzeichnis II.
Psychologische Fähigkeiten und Kenntnisse des Sach- oder Insolvenzverwalters und § 56 InsO ............................................................................................................ 745
III.
Die Psyche nach dem Insolvenzantrag ..................................................................... 746
IV.
Der Fels in der Brandung .......................................................................................... 746
V.
Insolvenz und Psyche ................................................................................................ 747
VI.
Grenzen der Psychologie bei der Betriebsfortführung ........................................... 751
§ 21 LEAN-Management als Führungsinstrument in der Unternehmenssanierung ......................................................................................... 753 I.
Unternehmenssanierung und LEAN-Management – passt das wirklich zusammen? Vorab: Ja ................................................................................................ 753
II.
Starten wir die Reise. Phase 1: Ruhe vor dem Sturm............................................... 754
III.
Phase 2: Chaos pur! ................................................................................................... 757
IV.
Phase 3: Weg aus der Misere ..................................................................................... 758
V.
Phase 4: Rosskur – Jetzt konsequent durchstarten ................................................. 760
VI.
Phase 5: Nachhaltigkeit ............................................................................................. 766
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung § 22 Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz-und Eigenverwaltung....................................................................................................... 771 I.
Ausgangslage.............................................................................................................. 773
II.
Betriebsfortführung im Konzern nach nationalem Recht....................................... 777
III.
Betriebsfortführung im Konzern außerhalb nationalen Rechts.............................. 820
§ 23 Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht .................... 835 I.
Die Rolle des Konzerns im Insolvenzverfahren ...................................................... 837
II.
Die Konzerninsolvenz im internationalen Insolvenzrecht und in einzelstaatlichen Insolvenzrechtsregelwerken ................................................................... 858
III.
Der Konzern im Regelinsolvenzverfahren und im Verfahren mit Insolvenzplan ...................................................................................................... 865
IV.
Folgen der Eigenverwaltung...................................................................................... 898
V.
Entwicklungslinien im Konzerninsolvenzrecht....................................................... 901
VI.
Zusammenfassung, Thesen ....................................................................................... 911
§ 24 Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen ............................ 917 I.
Einleitung ................................................................................................................... 918
II.
Grenzüberschreitende Insolvenzverfahren .............................................................. 918
III.
Modifizierte Universalität nach der EuInsVO......................................................... 919
IV.
Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführung..................................... 928
XVIII
Inhaltsverzeichnis V.
Öffentliche Bekanntmachungen............................................................................... 934
VI.
Grenzüberschreitende Befugnisse des Insolvenzverwalters ................................... 934
VII. Kooperation der Insolvenzverwalter ........................................................................ 935 VIII. Kooperation der Insolvenzgerichte .......................................................................... 938 IX.
Ausübung von Wahlrechten ..................................................................................... 939
X.
Austauschverträge zwischen den Verfahren ............................................................ 940
XI.
Masseverbindlichkeiten aus grenzüberschreitender Betriebsfortführung ............. 940
XII. Erhalt des Unternehmens als organisatorischer Verbund....................................... 943
Teil V Einzelfragen § 25 Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung .................... 947 I.
Einleitung................................................................................................................... 948
II.
Die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungsverfahren ............................................................................ 949
III.
Arbeitsrechtsrechtliche Probleme einer Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren ............................................................................ 955
§ 26 Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme ............................. 989 I.
Betriebsverfassungsrechtliche Probleme.................................................................. 990
II.
Tarifrechtliche Probleme......................................................................................... 1065
§ 27 Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz................................................. 1071 I.
Begriffliche Grundlagen .......................................................................................... 1071
II.
Abwicklung im Regelinsolvenzverfahren............................................................... 1077
III.
Handlungsoption Insolvenzplan ............................................................................ 1083
IV.
Zusammenfassung und Ausblick ............................................................................ 1089
§ 28 Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft ................................ 1091 I.
Einführung ............................................................................................................... 1092
II.
Rechtsformüberlegungen........................................................................................ 1093
III.
Grundsätze der wirtschaftlichen Neugründung .................................................... 1093
IV.
Kapitalaufbringung in der Auffanggesellschaft ..................................................... 1097
V.
Rechtsbeziehungen zwischen Insolvenzmasse und Auffanggesellschaft............. 1102
§ 29 Die Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Betriebsfortführung .............. 1109 I.
Einleitung................................................................................................................. 1109
II.
Aus- und Absonderungsrechte und deren Rechtsgrundlagen .............................. 1110
III.
Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Antragsphase...................................... 1116
IV.
Stellung der Sonderrechtsgläubiger im eröffneten Verfahren............................... 1120
V.
Konkurrenz von Sonderrechten ............................................................................. 1124
XIX
Inhaltsverzeichnis § 30 Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung ......................................................................................... 1127 I.
Einführung ............................................................................................................... 1128
II.
Problemstellung im Falle einer Betriebsfortführung............................................. 1128
III.
Dogmatische Grundlagen........................................................................................ 1130
IV.
Durchsetzungspflicht und Aufgaben des Insolvenzverwalters............................. 1131
V.
Die zivilrechtliche Haftung bei Verstoß gegen die Pflicht zur Anfechtung........ 1133
VI.
Die strafrechtliche Haftung des Insolvenzverwalters ........................................... 1136
VII. Vertrauenstatbestand, Verzicht und Erlassvertrag ................................................ 1138 VIII. Zusammenfassung ................................................................................................... 1143 § 31 Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz ......................................................... 1145 I.
Einführung ............................................................................................................... 1146
II.
Ermittlung der Massezulänglichkeit ....................................................................... 1147
III.
Masseunzulänglichkeit bei Verfahrenseröffnung................................................... 1151
IV.
Wirkungen der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ............................................. 1152
V.
Haftung .................................................................................................................... 1158
VI.
Masseunzulänglichkeit in der Eigenverwaltung ..................................................... 1160
VII. Masseunzulänglichkeit und Insolvenzplan............................................................. 1162 VIII. Beseitigung der Masseunzulänglichkeit.................................................................. 1162 IX.
Erneute Anzeige der Masseunzulänglichkeit ......................................................... 1162
§ 32 Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung ...... 1163 I.
Vorbemerkung ......................................................................................................... 1165
II.
Antragsverfahren/Ziel: Sicherung des Grundstücks ............................................. 1166
III.
Eröffnetes Verfahren ............................................................................................... 1184
IV.
Exit-Strategien des Insolvenzverwalters................................................................. 1198
§ 33 M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung........................................ 1211 I.
M&A-Prozess: Definition, Bedeutung und Bezug zur Betriebsfortführung....... 1212
II.
Wesentliche Schritte eines strukturierten M&A-Prozesses (Praxisbericht)........ 1234
III.
Auswirkungen und Besonderheiten der Betriebsfortführung auf den M&A-Prozess............................................................................................. 1244
IV.
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und Würdigung ........................ 1256
§ 34 Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz.................................. 1259 I.
Problemaufriss ......................................................................................................... 1260
II.
Typen von Genehmigungen ................................................................................... 1260
III.
Realkonzessionen in der Insolvenz......................................................................... 1260
IV.
Personalkonzessionen in der Insolvenz ................................................................. 1262
V.
Alternativszenarien.................................................................................................. 1278
VI.
Fazit .......................................................................................................................... 1281
XX
Inhaltsverzeichnis § 35 Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung ..................... 1283 I.
Einführung ............................................................................................................... 1284
II.
Insolvenzverwaltung ist ein Beruf!......................................................................... 1285
III.
Was bedeutet eigentlich Compliance? ................................................................... 1286
IV.
Inhalte eines CMS bei Insolvenzverwaltern .......................................................... 1286
V.
CMS und § 56 InsO als Eignungskriterien ............................................................ 1287
VI.
CMS als „Best-of“ ................................................................................................... 1288
VII. Haftung von Insolvenzverwaltern.......................................................................... 1289 VIII. Compliance-Anforderungen an den Insolvenzverwalter ...................................... 1291 IX.
Zwischenfazit........................................................................................................... 1296
X.
Checkliste zum Aufbau eines Compliance-Management-Systems (CMS) einer Insolvenzverwalterkanzlei inklusive Regelungen zur Betriebsfortführung .......................................................................................... 1296
§ 36 Betriebsfortführung und Großschadensereignisse/Pandemie.......................... 1303 I.
Einleitung................................................................................................................. 1303
II.
Krisenfrühwarnsystem ............................................................................................ 1303
III.
Krisenursachen ........................................................................................................ 1304
IV.
Auswirkungen von Großschadenereignissen auf die Betriebsfortführung.......... 1305
V.
Staatliche Hilfen, Vermeidung von Insolvenzfällen .............................................. 1306
VI.
Auswirkungen im (vorläufigen) Insolvenzverfahren ............................................ 1307
§ 37 Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung.................................................................................... 1309 I.
Allgemeines.............................................................................................................. 1310
II.
Strategische Sanierung von Grundstücken und behördliche Inanspruchnahme .................................................................................................... 1315
III.
Ordnungsrechtliche Inanspruchnahme als Zustandsstörer in den verschiedenen Insolvenzverfahrensstadien und -konstellationen ................................................. 1321
IV.
Besonderheiten bei Inanspruchnahme als Handlungsstörer oder Betreiber........ 1332
V.
Besonderheiten bei Emissionsberechtigungen ...................................................... 1333
§ 38 Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung .......... 1335 I.
Wettbewerbsrecht.................................................................................................... 1336
II.
Lizenzen und immaterielle Wirtschaftsgüter......................................................... 1346
§ 39 Betriebsfortführung in Sonderfällen ................................................................... 1359 I.
Einführung ............................................................................................................... 1360
II.
Insolvenzrecht versus sonstige Rechtsgebiete (Berufs-/Verbandsrecht) ............ 1361
III.
Die Betriebsfortführung der freien Berufe ............................................................ 1362
XXI
Inhaltsverzeichnis IV.
Die Betriebsfortführung des Profifußballvereins .................................................. 1377
V.
Zusammenfassung ................................................................................................... 1391
§ 40 Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich.................................................................................. 1393 I.
Einleitung ................................................................................................................. 1393
II.
Besonderheiten im Verhältnis Automobilhersteller – Zulieferer ......................... 1395
III.
Einzelne Maßnahmen .............................................................................................. 1396
IV.
Fazit .......................................................................................................................... 1406
§ 41 Betriebsfortführung und Versicherungsschutz .................................................. 1407 I.
Einführung ............................................................................................................... 1409
II.
Der Verwalter – Das Verfahren .............................................................................. 1410
III.
Risikomanagement................................................................................................... 1420
IV.
Rechtlicher Exkurs .................................................................................................. 1423
V.
Versicherungsschutz der Schuldnerin .................................................................... 1427
VI.
Fazit: Eintritt in bestehende Verträge oder Neuabschluss?.................................. 1442
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung § 42 Interne und externe Rechnungslegung, Steuern................................................ 1445 I.
Einleitung ................................................................................................................. 1447
II.
Handelsrechtliche Rechnungslegung...................................................................... 1448
III.
Offenlegung von Jahresabschlüssen ....................................................................... 1452
IV.
Prüfungspflicht im Insolvenzverfahren.................................................................. 1453
V.
Steuerrechtliche Buchführungspflicht.................................................................... 1454
VI.
Steuern...................................................................................................................... 1456
§ 43 Externe Schlussrechnungsprüfung ...................................................................... 1497 I.
Einleitung ................................................................................................................. 1497
II.
Anordnung der externen Schlussrechnungsprüfung ............................................. 1498
III.
Auswahl des Schlussrechnungsprüfers ................................................................... 1500
IV.
Ort der Durchführung der Schlussrechnungsprüfung .......................................... 1501
V.
Kosten der Schlussrechnungsprüfung .................................................................... 1501
§ 44 Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, des Sachwalters und der Organe der Insolvenzschuldnerin ................................................................. 1505 I.
Einleitung ................................................................................................................. 1507
II.
Überblick über Haftungstatbestände ..................................................................... 1508
XXII
Inhaltsverzeichnis III.
Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters ....................................................... 1511
IV.
Haftung des Insolvenzverwalters ........................................................................... 1515
V.
Haftung des Sachwalters in der Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO ........... 1531
VI.
Haftung der Insolvenzschuldnerin und ihrer Organe in der Eigenverwaltung ... 1535
§ 45 Haftung der Beteiligten eines Restrukturierungsvorhabens nach dem StaRUG........................................................................................................... 1539 I.
Haftungsgrundsätze und Ziele des StaRUG.......................................................... 1541
II.
Haftung des Schuldners .......................................................................................... 1544
III.
Haftung der Organe, insbesondere der Geschäftsleitung..................................... 1551
IV.
Haftung des Restrukturierungsbeauftragten ......................................................... 1566
V.
Haftung der Schuldnerberater ................................................................................ 1577
§ 46 Vergütungsfragen................................................................................................... 1585 I.
Die Vergütung des Insolvenzverwalters bei Betriebsfortführung ........................ 1587
II.
Die Vergütung der weiteren Organe des Insolvenzverfahrens............................. 1605
III.
Die Beschäftigung von Hilfskräften bei Betriebsfortführung .............................. 1611
IV.
Das Prüfungsrecht des Insolvenzgerichts bei Betriebsfortführung ..................... 1614
Stichwortverzeichnis........................................................................................................ 1619
XXIII
Autorenverzeichnis Daniel Bauch, Rechtsanwalt/Syndikusrechtsanwalt, D.E.A. (Paris I), ist Syndikusrechtsanwalt bei der CARIAD SE, einer 100 %-Tochtergesellschaft der Volkswagen AG im Bereich der Software-Entwicklung. Nach mehrjähriger Zugehörigkeit zu einer überörtlichen Kanzlei als Insolvenzverwalter sowie als Sanierungs- und Restrukturierungsberater, wechselte er zunächst in das Risikomanagement und später in den Zentralen Rechtsservice der AUDI AG. Zu seinen Aufgaben bei der CARIAD SE zählt u. a. die Compliance-Rechtsberatung in komplexen M&A-Projekten u. a. mit Fragestellungen aus dem Insolvenz- und Restrukturierungsrecht. Daniel Bauch ist u. a. Mitautor des „Handbuch des Fachanwalts Bank- und Kapitalmarkrecht“. Prof. Dr. Christian Berger, LL.M. (Edin.), Universitätsprofessor, Universität Leipzig, Juristenfakultät, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Urheberrecht; Direktor des Ernst-Jaeger-Instituts für Unternehmenssanierung und Insolvenzrecht Geboren 1960 in Stuttgart, kaufmännische Ausbildung, Studium der Rechtswissenschaft in Hamburg und Heidelberg, Promotion und Habilitation an der Universität Bayreuth, LL.M. (Commercial Law) University of Edinburgh, seit 1998 Professor an der Universität Leipzig, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Urheberrecht Friedrich Birnbreier ist Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Wellensiek Rechtsanwälte, Partnerschaftsgesellschaft mbB. Er begleitet regemäßig Geschäftsleitungen in der Unternehmenskrise, insbesondere im Rahmen von Eigenverwaltungen. Ferner berät er Banken und andere Stakeholder in Restrukturierungsszenarien. Zu den genannten Themengebieten veröffentlicht er regelmäßig in Fachpublikationen. Dr. Jochen Blöse, MBA, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, ist Rechtsanwalt in der Kölner Kanzlei Jacobs & Dr. Blöse. Er beschäftigt sich neben gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsfragen im Schwerpunkt mit der Beratung und Vertretung von Gesellschaftern und Organen krisengefährdeter oder insolventer Unternehmen. Er ist u. a. Herausgeber bzw. (Mit)Autor der Werke „Unternehmenskrisen“ (hrsg. v. Blöse/Kihm), „Krisenmanagement mit Outsourcing“ und „Praxisleitfaden Insolvenzreife“. Dr. Mark Boddenberg, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, ist Partner der Kanzlei Eckert Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaftsgesellschaft mbB. Neben seiner Tätigkeit als Insolvenzverwalter an den Gerichten Köln, Bonn und Aachen ist er bundesweit als Sanierungsberater tätig und hat gerade in den letzten Jahren als Generalhandlungsbevollmächtigter eine Vielzahl von Eigenverwaltungsverfahren im Gesundheitswesen begleitet. Daneben ist er regelmäßig als Dozent tätig und kommentiert u. a. fortlaufend die §§ 129 – 147 InsO im „Handbuch zur Insolvenz“ im Stollfußverlag. Charalambos Bograkos-Tzannetakos, Rechtsanwalt und Inhaber der Kanzlei Bograkos Rechtsanwälte, ist spezialisiert auf die Ermittlung und Durchsetzung von insolvenzspezifischen Tatbeständen. Weitere Schwerpunkte sind der bankrechtliche Bereich im Insolvenzverfahren sowie die vorinsolvenzrechtliche Sanierungsberatung. Er ist Autor im Handbuch „Praxis der Insolvenzanfechtung“. Er referiert über Insolvenzanfechtung sowie Organhaftung und veröffentlicht regelmäßig zu insolvenzanfechtungsrechtlichen Themen. Seit zwei Jahrzehnten vertritt er bundesweit namhafte Insolvenzverwalter. Er analysiert Liquiditätskrisen, stellt die Insolvenzreife fest und ermittelt Anfechtungsansprüche und unterstützt Insolvenzverwalter bei der Durchsetzung solcher Ansprüche. Ein weiterer wesentlicher Schwerpunkt stellt die Prüfung der Haftungsansprüche gegen die Organe dar. Dabei sind insbesondere versicherungsrechtliche Fragestellungen bei der D&O-Versicherung zu berücksichtigen. XXV
Autorenverzeichnis Eric Coordes, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeits- und Insolvenzrecht, ist Partner der Mönig Wirtschaftskanzlei. Er ist als Insolvenzverwalter in Niedersachsen und NordrheinWestfalen tätig. Darüber hinaus berät er Unternehmen in Fragen der Restrukturierung und Sanierung insbesondere unter Insolvenzbedingungen und ist auf die wirtschafts- wie arbeitsrechtliche Begleitung von Unternehmenskäufen und -verkäufen spezialisiert. Detlev Cornelius, Rechtsanwalt, nimmt aufgrund seiner Erfahrung als Syndikusanwalt regelmäßig Projekteinsätze als interimistischer Inhouse-Jurist wahr. Bis Ende August 2013 war er als Rechtsanwalt bei hww wienberg wilhelm Rechtsanwälte Partnerschaft tätig. Dort beriet er hausintern in der Funktion einer Rechtsabteilung zu einer Vielzahl von rechtlichen Fragen innerhalb und außerhalb des Insolvenzrechts. Dr. Friedrich L. Cranshaw, Rechtsanwalt, Mutterstadt, u. a. Depré RECHTSANWALTS AG, Mannheim, vorm. langjährig Banksyndikus/Direktor einer südwestdeutschen Landesbank. Er arbeitet auf den Gebieten des europäischen Rechts, des Sanierungs- und Insolvenzrechts, des Internationalen Privatrechts sowie des Bankrechts und verwandten Gebieten. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen, u. a. von Monographien zum Staatsbeihilfenrecht (2006) sowie zur Insolvenz von juristischen Personen des öffentlichen Rechts (2007), ständiger Autor einer Reihe von Zeitschriften, Mitherausgeber eines Bankenkommentars zum Insolvenzrecht, eines Kommentars zum Anfechtungsrecht sowie Verfasser bzw. Mitherausgeber einer größeren Zahl weiterer Publikationen auf seinen Arbeitsgebieten. Ferner hat er langjährige Erfahrungen als Dozent zahlreicher Einrichtungen und arbeitet in rechtswissenschaftlichen Organisationen mit. Tobias Daniels, Dipl.-Kfm., Master of Laws (LL.M.) und Bankkaufmann, leitet beim Pensions-Sicherungs-Verein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (PSVaG) die Arbeitsgruppe „Restrukturierung“, welche sich insbesondere mit der Prüfung von Insolvenzplänen und außergerichtlichen Vergleichsanträgen auf Zustimmungsfähigkeit durch den PSVaG befasst. Darüber hinaus verfügt er über umfangreiche Erfahrungen in der Vertretung des PSVaG in Gläubigerausschüssen und Gläubigerversammlungen. Artur Deichmann, Dipl.-Kfm. und Bankkaufmann, ist Managing Partner bei SSC Consult in Köln. Seine Tätigkeitsgebiete umfassen einerseits die M&A- und Finanzierungsberatung im Mittelstand mit Schwerpunkt auf Industrials, Business Services, Technology und Pflege. Zu den wichtigsten Aufgabenstellungen zählen hier die Beratung bei Unternehmernachfolgen und Konzernausgliederungen. Unabhängig von Branchenschwerpunkten berät Artur Deichmann bei M&A-Prozessen und Finanzierungsprojekten im Insolvenzumfeld. Im Rahmen von Insolvenzverfahren hat er in letzter Zeit zahlreiche Unternehmenstransaktionen sowohl hinsichtlich übertragender Sanierungen als auch im Zuge der Umsetzung von Insolvenzplänen erfolgreich umgesetzt. Zu nennen sind hier u. a. Unylon Polymers (Guben), Bonner Fahnenfabrik (Bonn), Kaufhaus JOH (Gelnhausen), Bäckerei Wilhelm Middelberg, Anton Cramer (Greven), SRI-Gruppe (Durach), FFK-Gruppe, Alsfelder Landbrauerei, QSN 24h, Druckwerke Reichenbach, Kalenderverlag Treuleben & Bischof (Reichenbach), Messe Kongresse und Ausstellungen (Dresden), Mittelsächsische Textilreinigungs- und Handels AG (Riesa), Passiovita (Brühl), RUKA Ofenkeramik und Zubehör (Mügeln), Selectrona, Dippoldiswalde, KAHLA Thüringen Porzellan, DKF Deutscher Krankenfahrdienst (Köln), Eisengießerei Torgelow, CIP-Gruppe (Speyer), Gesundheitsresort Dr. Wüsthofen (Bad Salzschlirf). Prof. Dr. Martin Dreschers, Rechtsanwalt, ist Partner der überregionalen Sozietät d e n s Insolvenzverwaltung und wird regelmäßig von den Insolvenzgerichten Aachen, Köln und Mönchengladbach in Verfahren aller Branchen zum Sachverständigen, Treuhänder, Insolvenzverwalter und Sachwalter bestellt. Er ist Fachanwalt für Arbeits- und Insolvenzrecht und verfügt über eine umfassende Erfahrung im Zusammenhang mit der Klärung von ArXXVI
Autorenverzeichnis beitnehmerfragen sowie der Verhandlung mit Betriebsräten und Gewerkschaften in Insolvenzverfahren aller Größenordnungen. Neben einer umfassenden Vortragstätigkeit im Inund Ausland ist er Autor diverser Fachveröffentlichungen zu allen Bereichen des Insolvenzrechts sowie Inhaber einer ordentlichen Professur für Unternehmensrecht an der Fachhochschule Aachen. Udo Feser ist Rechtsanwalt, Insolvenzverwalter und Partner im Berliner Büro der überregionalen Kanzlei Mönning Feser Partner. Seit der Kanzleigründung im Jahr 1984, wurden von ihm als Insolvenzverwalter mehr als 2 500 Konkurs-, Gesamtvollsteckungs- und Insolvenzverfahren abgewickelt. Sein Schwerpunkt liegt in der Betriebsfortführung und Sanierung der insolventen Unternehmen. Er ist Mitglied des Gravenbrucher Kreises, des Verbandes der Insolvenzverwalter Deutschland e. V. (VID) und Mitbegründer des Berlin/Brandenburger Arbeitskreises für Insolvenzrecht e. V. Darüber hinaus ist er Mitglied bei INSOL Europe. Prof Dr. Peter Fissenewert, Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei BUSE. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind das Wirtschaftsrecht und das Wirtschaftsstrafrecht und hier insbesondere das Gesellschaftsrecht, Restrukturierung, Sanierung und Insolvenz sowie Compliance-Beratung und Managerhaftung. Er zählt zu den führenden Beratern und Autoren in diesen Bereichen und nimmt regelmäßig als Redner an hochkarätigen Fachveranstaltungen teil. Robert Fliegner, Rechtsanwalt und Mediator, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, ist Partner der Sozietät RUNKEL Rechtsanwälte. Er wird von vier nordrhein-westfälischen Insolvenzgerichten regelmäßig zum Insolvenzverwalter und Sachwalter bestellt. Auch berät er Gesellschaften, Gesellschafter und Selbständige in Insolvenz- und Sanierungsszenarien. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen (u. a. Kommentierung zur internen Rechnungslegung bei Pape/Uhländer, „NWB Kommentar zum Insolvenzrecht“ sowie Autor des Kapitels zur Beratung in der Nachlassinsolvenz bei Runkel/J. Schmidt, „Anwaltshandbuch Insolvenzrecht“). Er referiert regelmäßig zu insolvenzrechtlichen Themen und war Mitglied der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung (GOI) im Verband der Insolvenzverwalter Deutschland e. V. (VID). Dr. Michael Flitsch, Rechtsanwalt, ist Partner der Anchor Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind die Haftungsabwehr für Gesellschaftsorgane (Geschäftsführer, Vorstände und Aufsichtsräte) sowie die Insolvenzanfechtung. Er begleitet zudem Gesellschafter und Gläubiger in der Unternehmenskrise und in der Insolvenz. Dr. Michael Flitsch ist Autor zahlreicher Buch- und Zeitschriftenbeiträge. Prof. Dr. Lucas F. Flöther ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sanierungs- und Insolvenzrecht und Gründungspartner der Sozietät FLÖTHER & WISSING Rechtsanwälte – Insolvenzverwaltung – Sanierungskultur. Die Sozietät zählt im Bereich der Insolvenzverwaltung zu den führenden überregional tätigen Kanzleien Deutschlands und hat sich auf die Verwaltung und Sanierung sowie Sanierungs- und Restrukturierungsberatung großer Unternehmen spezialisiert. Prof. Dr. Lucas F. Flöther wird seit 1999 als Gesamtvollstreckungs- und Insolvenzverwalter beauftragt und betreute bislang über 1 000 Unternehmensinsolvenzen. Er ist Vorsitzender des Ausschusses Insolvenzrecht der Bundesrechtsanwaltskammer. Regelmäßig referiert und veröffentlicht er zum Insolvenzrecht, insbesondere im Bereich der Eigenverwaltung, des Insolvenzplans und des internationalen Insolvenzrechts. Er ist seit 2012 Honorarprofessor für Bürgerliches Recht und Insolvenzrecht an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Dr. Michael C. Frege, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Insolvenzverwalter und Wirtschaftsmediator, ist Partner der Kanzlei CMS Hasche Sigle. Seinen beruflichen Schwerpunkt hat er in der Insolvenzverwaltung, insbesondere von international tätigen Konzernunternehmen, in der Sonderinsolvenzverwaltung, Sanierungsberatung und Mediation. Er ist zudem Autor zahlreicher Fachbeiträge und Fachbücher, u. a. Frege/Riedel, „SchlussXXVII
Autorenverzeichnis bericht und Schlussrechnung“, Frege/Keller/Riedel, „HRP Handbuch der Rechtspraxis Insolvenzrecht“, Frege, „Verhandlungserfolg in Unternehmenskrise und Sanierung“ und Frege, „Der Sonderinsolvenzverwalter“. Daniel Friedemann Fritz, Rechtsanwalt und Partner der internationalen Wirtschaftskanzlei Dentons. Er berät alle Beteiligten in inländischen wie internationalen Insolvenzverfahren und damit in Zusammenhang stehenden Transaktionen bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Gläubiger vertritt er auch in Gläubigerausschüssen (z. B. Praktiker, PD Systems), Käufer und Verkäufer bzw. Insolvenzverwalter bei M&A-Transaktionen in der Insolvenz. Neben zahlreichen Publikation beriet er als „Private Expert“ die Europäische Kommission bei der Erstellung einer Gesetzgebungsinitiative zur Harmonisierung des europäischen Insolvenzrechts bzw. Einführung eines präventiven Restrukturierungsrahmens. Dr. Katharina Gelbrich ist Professorin für Recht, insbesondere Wirtschaftsrecht an der HTWK Leipzig und Mitarbeiterin in der Sozietät FLÖTHER & WISSING Rechtsanwälte – Insolvenzverwaltung – Sanierungskultur. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen in der Insolvenzverwaltung, insbesondere in der Eigenverwaltung, bei Konzerninsolvenzen sowie der Sanierungsberatung und Restrukturierung. Ingo Gerdes ist Partner der Kanzlei Streitbörger in Düsseldorf. Er ist spezialisiert auf die Beratung von Insolvenzverwaltern bei der Aufdeckung und Durchsetzung von (Organ-) Haftungs- und Anfechtungsansprüchen. Außerdem berät Ingo Gerdes Sachwalter i. R. der Eigenverwaltung. Erwin Gerster ist Insolvenzrichter und Restrukturierungsrichter beim Amtsgericht Dresden und Lehrbeauftragter der Hagen Law School. Darüber hinaus veröffentlicht und referiert er regelmäßig zu insolvenzrechtlichen Themen. Dr. Marc Alexander Göb ist Partner der Kanzlei sgpartner Rechtsanwälte in Düsseldorf. Er berät Unternehmen, deren Gesellschafter und Organmitglieder, Insolvenzverwalter, Gläubiger(-ausschüsse) und Banken bei insolvenz- und gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen. Insbesondere berät und vertritt er bei der Geltendmachung und Abwehr von Ansprüchen wegen Organ- und Gesellschafterhaftung sowie Insolvenzanfechtung. Ein weiterer Fokus liegt auf der außergerichtlichen und gerichtlichen Sanierung und Restrukturierung von Unternehmen. Er publiziert regelmäßig in insolvenzrechtlichen Fachbüchern und -zeitschriften, ist Herausgeber eines Buches zum Gläubigerausschuss/Gläubigerversammlung und referiert zu insolvenz- und gesellschaftsrechtlichen Themen. Marion Gutheil, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Insolvenz- und Sanierungsrecht und Mediatorin, leitet den Düsseldorfer und Hagener Standort der Mönig Wirtschaftskanzlei. Sie ist seit 20 Jahren in der Insolvenzverwaltung und -beratung tätig und wird von verschiedenen Insolvenzgerichten in Nordrhein-Westfalen zur Insolvenzverwalterin, Sachwalterin und Treuhänderin bestellt. Sie ist spezialisiert auf Betriebsfortführung und übertragende Sanierung. Außerdem hat sie umfangreiche Erfahrungen mit anfechtungsrechtlichen Themen. Daneben berät sie Gesellschafter und Organe von Gesellschaften zu insolvenz- und sanierungsspezifischen Fragen und begleitet diese in der Eigenverwaltung. Ottmar Hermann, Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Fachanwalt für Insolvenzrecht, ist Gründungspartner der Kanzlei HERMANN RWS, nunmehr hww hermann wienberg wilhelm. Vor allem als Insolvenzverwalter beschäftigt er sich seit vielen Jahren intensiv mit der Sanierung, Restrukturierung und Abwicklung von Unternehmen und Konzernen. Umfassende Erfahrungen hat er insbesondere bei der Fortführung von internationalen Konzernen, z. B. Philipp Holzmann AG, EganaGoldpfeil, Wilhelm Karmann GmbH, Deutsche Woolworth sowie von mittelständischen Betrieben gesammelt. Ottmar Hermann ist Fachreferent bei Tagungen und Symposien und hat zahlreiche juristische Schriften veröffentlicht. XXVIII
Autorenverzeichnis Dr. Dr. Stefan Hohberger hat ein Doppelstudium der Betriebswirtschaftslehre und Politik/ Philosophie in München absolviert, in Betriebswirtschaftslehre zum Dr. rer. pol. sowie in Politik & Philosophie zum Dr. phil. promoviert. Seit 1997 erfolgte die Spezialisierung auf Unternehmenssanierung. Ab 1999 übernahm er das Sanierungsmanagement von mittelständischen Industrie-, Handels- und Dienstleistungsbetrieben aller Branchen. Seit dieser Zeit hat er über 150 Krisenfälle bis zu einer Größe von 6 000 Mitarbeitern und 600 Mio. € Umsatz europaweit (Spanien, Italien, Schweiz, Österreich, Polen etc.) betreut. Er war Vice President Operations der einzigen deutschen M-DAX-notierten Sanierungsholding ARQUES Industries AG. Dr. Stefan Hohberger ist Verfasser des deutschsprachigen Sanierungshandbuches „Praxishandbuch Sanierung im Mittelstand“ sowie von zahlreichen Publikationen zu den Themen Controlling, Sanierung, Performancesteigerung und politische Philosophie. Seit 2000 ist er zudem Handelsrichter an der Kammer für Wirtschaftssachen am LG Hof sowie seit 2002 als Sanierungsberater bei ZMM, der IHK und United-Interim gelistet. Er ist weiterhin der erste deutsche zertifizierte Sanierungsexperte (CTE Certified Turnaround Expert), war Lehrbeauftragter für Unternehmenssanierung an der Universität Kassel und ist Lehrgangsleiter für Zertifikatskurse zum Restrukturierungsberater. 2013 bis 2019 war er Vorsitzender des Beirates des deutschen Sanierungsverbandes BRSI e. V. Gudrun Hübl, Dipl.-Kffr., ist geschäftsführende Gesellschafterin der CMC Controlling – Management Consultants GmbH, Dresden, die sie 1996 gründete. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt auf der betriebswirtschaftlichen Steuerung von Insolvenzverfahren. Dabei ermöglicht die Verknüpfung von insolvenzspezifischen Informationsbedürfnissen mit der handelsrechtlichen Datenbasis zusätzliche Aussagen zu angrenzenden Aufgabenfeldern wie Sanierungsplanungen mithilfe eines Insolvenzplanes, oder Planungen zur Prognose der Entwicklung im Vorfeld der Antragstellung. Der Fokus ihrer Tätigkeit ist bei produzierenden zum Teil börsennotierten Unternehmen sowie im Healthcare-Bereich (Kliniken) zu sehen. Arnd D. Kaiser, Dipl.-Ing. (FH), studierter Produktionstechniker, Manager und LEANForscher, ist Europas LEAN-Coach Nr. 1 und Experte bei der Einführung und Re-Aktivierung von LEAN-Management. Sein Spezialgebiet ist die effiziente und nachhaltige Umsetzung der LEAN-Denkweise ins Tagesgeschäft. Sein angewandtes Expertenwissen konnte er seit über 31 Jahren in über 14 Ländern auf fünf Kontinenten vertiefen. Seit 2002 praktiziert er aktiv im Ausland und setzt sowohl international, als auch national mit Erfolg und Nachhaltigkeit den LEAN-Gedanken branchenübergreifend um. Julia Kappel-Gnirs, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Insolvenz- und Sanierungsrecht, ist Partnerin bei hww hermann wienberg wilhelm Rechtsanwälte Partnerschaft, Frankfurt am Main. Sie wird regelmäßig hessenweit und in angrenzenden Bundesländern in Insolvenzverfahren aller Branchen, auch in grenzüberschreitenden Verfahren, als Insolvenzverwalterin und Sachverwalterin bestellt und vertritt Unternehmen in Eigenverwaltungsverfahren als Generalbevollmächtigte und CRO. Sie verfügt über 25-jährige Erfahrung im Insolvenzund Sanierungsrecht sowie in der außergerichtlichen und forensischen Vertretung von Gläubigern, Gesellschaftern und Geschäftsleitern. Sie begleitete u. a. federführend den komplexen M&A-Prozess der insolventen Thomas Cook Deutschland Gruppe, bei der sie auch Insolvenzverwalterin wesentlicher Gesellschaften ist. Darüber hinaus sanierte sie erfolgreich auf Seiten der Eigenverwaltung oder als Sachwalterin eine Vielzahl von Unternehmen über Insolvenzpläne. Sie referiert regelmäßig zu Eigenverwaltung und StaRUG bei Tagungen und Webinaren. Sie ist Gründungsmitglied des Distressed Ladies – Women in Restructuring e. V. Dr. Benedict Kebekus ist bei Freshfields Bruckhaus Deringer im Bereich der Restrukturierungsberatung tätig. Vor und während des juristischen Vorbereitungsdienstes war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht (Prof. Dr. Reinhard Bork) an der Universität Hamburg. Im Zuge dessen hat er zu Fragen des Insolvenzanfechtungsrechts und der Geschäftsleiterhaftung wegen verbotener ZahlunXXIX
Autorenverzeichnis gen promoviert. Neben Veröffentlichungen im Insolvenz- und Gesellschaftsrecht kommentiert er – gemeinsam mit Prof. Dr. Reinhard Bork – § 15b InsO im Kommentar von Kübler/ Prütting/Bork. Dr. Frank Kebekus, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, ist seit 1991 ausschließlich im Bereich der Insolvenzverwaltung und Restrukturierungsberatung tätig. Er hat seitdem nahezu 1 000 Unternehmensinsolvenzen geführt. Sein Schwerpunkt liegt in der Bearbeitung von Konzerninsolvenzen und grenzüberschreitenden Verfahren. Er veröffentlicht und referiert regelmäßig zu insolvenzrechtlichen Themen und hat seit 2015 einen Lehrauftrag an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg inne. Prof. Ulrich Keller lehrt an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin Zwangsvollstreckungsrecht und Insolvenzrecht. Er war unter anderem Rechtspfleger in Insolvenzsachen und Zwangsvollstreckungssachen und an verschiedenen Amtsgerichten in Bayern und Sachsen tätig. Prof. Ulrich Keller ist seit vielen Jahren ausgewiesener Experte zur Vergütung in Insolvenzverfahren. Im RWS-Verlag erscheint sein „Handbuch zu Vergütung und Kosten im Insolvenzverfahren“, im „Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung“ kommentiert er die Insolvenzrechtliche Vergütungsverordnung. Er ist Mitautor bei Karsten Schmidt, InsO, sowie Autor eines Lehrbuchs zum Insolvenzrecht. Zudem gibt er das „Handbuch Insolvenzrecht“ (Frege/Keller/Riedel) und das „Handbuch Zwangsvollstreckungsrecht“ heraus. Dr. Oliver Klöck ist Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei TaylorWessing in Düsseldorf. Er leitet die öffentlich-rechtliche Practice Area „Umwelt, Planung, Regulierung“ und koordiniert die regulatorische Beratung im Gesundheitswesen. Seine fachlichen Schwerpunkte liegen im regulatorischen Gesundheitsrecht (v. a. Zulassung und Finanzierung medizinischer Leistungserbringer, Fusionen, Kooperationen und Outsourcing-Projekte im stationären und ambulanten Sektor sowie Beratung von Krankenkassen und Ministerien) sowie im Umweltrecht, wo er insbesondere Unternehmen der Entsorgungswirtschaft sowie des produzierenden Gewerbes im Abfall-, Immissionsschutz-, Bodenschutz- und Wasserrecht berät. Schließlich berät und vertritt Dr. Oliver Klöck die öffentliche Hand und Unternehmen in öffentlich-rechtlichen Fragen ohne Immobilienbezug, häufig im Bereich IT-gestützter Hochsicherheitsprojekte. Er tritt regelmäßig mit Vorträgen und Veröffentlichungen insbesondere im regulatorischen Gesundheitsrecht hervor. Béla Knof, Rechtsanwalt, ist Local Partner der Sozietät White & Case LLP in Hamburg. Er wird regelmäßig als Insolvenzverwalter bestellt. Darüber hinaus begleitet er Unternehmenssanierungen und finanzielle Restrukturierungen außerhalb der Insolvenz. Er ist Autor zahlreicher insolvenz- und gesellschaftsrechtlicher Kommentare sowie Handbücher und veröffentlicht regelmäßig zu aktuellen Themen der Restrukturierung und Insolvenz, einschließlich des europäischen und internationalen Insolvenzrechts. Michael Mönig, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, gründete nach Zulassung zur Rechtsanwaltschaft 1983 im Januar 1984 die Sozietät Mönig in Münster. 1989 wurde Michael Mönig zum vereidigten Buchprüfer bestellt. 2001 erfolgte die Ernennung zum Fachanwalt für Insolvenzrecht. Als Insolvenzverwalter ist er im Bezirk der Insolvenzgerichte Münster, Dortmund, Essen, Bochum und Leipzig tätig. Neben der beratenden Tätigkeit im Insolvenzund Sanierungsrecht referiert er regelmäßig zu insolvenzrechtlichen Themen. Cornelia Mönning, Rechtsanwältin, verfügt über mehr als 25-jährige Expertise auf den Gebieten des Arbeitsrechts und des Insolvenzarbeitsrechts. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Vorbereitung und Begleitung von Betriebsänderungen, Verhandlungen mit den Tarifvertragsparteien und natürlich auch die Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im arbeitsgerichtlichen Instanzenzug. Sie ist Lehrbeauftragte im Fach Arbeitsrecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Studienort Aachen. XXX
Autorenverzeichnis Dr. Elena Mönning hat an der Westfälischen-Wilhelms- Universität Münster und an der National und Kapodistrian-Universität Athen Rechtswissenschaft studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie 2017 ihre Promotion zum Thema „Internationales Staatensanierungsverwaltungsrecht“ abgeschlossen hat. Nach ihrer Tätigkeit bei Mönning Feser Partner, Rechtsanwälte/Insolvenzverwalter in Berlin leitet sie seit 2018 die Kontakt- und Informationsstelle Brüssel des Landtags Brandenburg. Prof. Dr. Rolf-Dieter Mönning, Rechtsanwalt, war Gründer und Seniorpartner der 1980 mit Stammsitz in Aachen errichteten Sozietät Mönning & Georg. Ab 1.7.2017 vereinigten sich Prof. Dr. Rolf-Dieter Mönning und Udo Feser in der überregional tätigen Sozietät Mönning Feser Partner, die sich auf die professionelle Abwicklung von Insolvenzverfahren sowie Sanierungsberatung spezialisiert hat. Er wird seit 1979 mit der Abwicklung von Konkurs-, Vergleichs-, Gesamtvollstreckungs- und Insolvenzverfahren beauftragt und hat bis heute über 3 000 Verfahren unterschiedlicher Größenordnungen mit Schwerpunkt Fortführung und Sanierung bearbeitet. Prof. Dr. Rolf-Dieter Mönning veröffentlicht und referiert regelmäßig im In- und Ausland zu insolvenzrechtlichen Themen und ist Herausgeber des vorliegenden Handbuchs. Bis zu seiner Emeritierung war er ordentlicher Professor für Unternehmensrecht an der Fachhochschule Aachen. Prof. Dr. Matthias Nicht ist Professor für Bürgerliches Recht, Vollstreckungs- und Insolvenzrecht, Registerrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin. Zuvor war er über mehrere Jahre als Rechtsanwalt bei CMS Hasche Sigle Insolvenzberatung und -verwaltung, Leipzig/Frankfurt am Main, in der Insolvenzverwaltung tätig, vorwiegend im Bereich international handelnder Konzernunternehmen. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge, u. a. in Keller, „Handbuch Zwangsvollstreckungsrecht“, Kübler/Bork/Prütting, „HRI – Handbuch Restrukturierung vor und in der Insolvenz“, Flöther, „Handbuch zum Konzerninsolvenzrecht“, Theiselmann, „Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts“. Dr. Maximilian Pluta ist Managing Partner der PLUTA Rechtsanwalts GmbH und Geschäftsführer der PLUTA Management GmbH. Er leitet den Geschäftsbereich Sanierung und Restrukturierung. Als Rechtsanwalt, Steuerberater und Diplomkaufmann begleitete er bereits zahlreiche größere Unternehmen bei der Sanierung, der Restrukturierung oder bei der Vorbereitung und Durchführung von Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung. Prof. Dr. Hanns Prütting ist seit 1986 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Arbeitsrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und war Direktor des Instituts für Verfahrensrecht, des Instituts für Anwaltsrecht sowie des Instituts für Internationales und Europäisches Insolvenzrecht. Er ist Mitherausgeber und Autor zahlreicher Kommentare, Lehrbücher und sonstiger Publikationen, etwa des Insolvenzrechtskommentars von Kübler/Prütting/Bork, ferner des Kommentars zum BGB von Prütting/Wegen/Weinreich, des ZPO-Kommentars von Prütting/Gehrlein, des Kommentars zum FamFG von Prütting/Helms, des Kommentars zur BRAO von Henssler/Prütting sowie des Kommentars zum Arbeitsgerichtsgesetz von Germelmann/Matthes/Prütting. Er ist ferner Mitherausgeber der ZIP sowie mehrerer Schriftenreihen. Prof. Dr. Hanns Prütting ist Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Knut Rebholz, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht und Arbeitsrecht, ist Partner der Sozietät Mönning Feser Partner, Berlin. Er ist seit über 20 Jahren im Insolvenz- und Sanierungsrecht und in Berlin und Brandenburg als Insolvenzverwalter und Zwangsverwalter tätig.
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Autorenverzeichnis Hans-Peter Runkel, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Insolvenzverwalter, war Seniorpartner der Kanzlei RSW Rechtsanwälte (heute: RUNKEL Rechtsanwälte), ist Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Verbandes der Insolvenzverwalter Deutschland e. V. (VID) und Mitglied des Gravenbrucher Kreises. Daneben war er Vorsitzender des Anwaltsvereins Wuppertal sowie 24 Jahre Vorstandsmitglied der Anwaltskammer Düsseldorf. Neben regelmäßigen Veröffentlichungen in Zeit- und Festschriften ist er Mitherausgeber und Autor des „Anwaltshandbuchs Insolvenzrecht“. Prof. Dr. Jens M. Schmittmann lehrt an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Wirtschafts- und Steuerrecht. Zudem ist er Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, Fachanwalt für Handelsund Gesellschaftsrecht, Fachanwalt für Steuerrecht sowie Steuerberater und Gastdozent an der Bundesfinanzakademie sowie der Universität Oldenburg. Prof. Dr. Jens M. Schmittmann ist Mitglied des Anwaltssenats des Bundesgerichtshofs, nachdem er Mitglied des Zweiten Senats des Anwaltsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen war, sowie Mitherausgeber des Buches „Praxis der Insolvenzanfechtung“ (Haarmeyer/Huber/Schmittmann). Weiterhin kommentiert er im „Kommentar zur InsO“ (hrsg. K. Schmidt) die Regelung des § 155 InsO sowie das Insolvenzsteuerrecht und im Kommentar von Pape/Uhländer verschiedene Regelungen, insbesondere die §§ 207 ff. InsO. Im RWS Verlag sind seine Bücher „Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz“ (gemeinsam mit Bernadette Duda) und „Haftung der Organe in Krise und Insolvenz“ erschienen. Marco Schulz, Dipl.-Betriebswirt (BA) Fachrichtung Versicherungen, Versicherungskaufmann, ist Vorstand des Geschäftsbereiches der AdVertum AG Versicherungsmakler – Member of MRH Trowe und zugleich Managing Partner der inhabergeführten Mesterheide Rockel Hirz Trowe (MRH Trowe) Versicherungsmakler-Gruppe. Er ist Dozent an der Akademie der WVIB Schwarzwald AG (Wirtschaftsverband industrieller Unternehmen in Baden). Jörg Spies, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Bankkaufmann, ist Inhaber der auf Insolvenzabwicklungen und Restrukturierungsberatung spezialisierten Kanzlei SPIES Restrukturierung. Jörg Spies wird seit 1993 als Insolvenzverwalter bestellt und ist insbesondere im Bereich der Insolvenzplanerstellung bundesweit tätig. Mit der Erstellung von Sanierungskonzepten und deren Umsetzung i. R. von Insolvenzplanverfahren mit Eigenverwaltung bei Eintritt in die Geschäftsleitung ist er seit 20 Jahren einer der Sanierungsexperten in Deutschland, die in Krisensituationen auch operative Verantwortung in Unternehmen übernehmen. Er hält regelmäßig Vorträge und publiziert zum Thema Insolvenzplan und Eigenverwaltung. Prof. Dr. Florian Stapper, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, Fachanwalt für Steuerrecht, hat nach Promotion und Mitarbeit in einer Großkanzlei zwei Jahre als Assistent in der Wirtschaftsprüfung (Big Five) und danach als Assistent eines großen Konkursverwalters gearbeitet und gelernt. Im Anschluss hat er ein auf die Insolvenzund Zwangsverwaltung spezialisiertes Büro in Leipzig mit zunächst einer vom Arbeitsamt bezahlten Sekretärin gegründet (Garagengründung). Die Kanzlei ist inzwischen mit drei Partnern und rund 50 Mitarbeitern an mehreren Gerichten tätig. Prof. Dr. Florian Stapper ist in mehr als 3 000 Insolvenzverfahren durch die Gerichte als Sachverständiger beauftragt und/oder als Insolvenzverwalter bestellt worden. Er ist auf die Betriebsfortführung mit anschließender Sanierungslösung spezialisiert. Mit knapp 50 als Insolvenzverwalter bei Gericht eingereichten Insolvenzplänen und einer Erfolgsquote von 100 % ist er insofern bundesweit führend. Prof. Dr. Florian Stapper veröffentlicht regelmäßig in Fachzeitschriften und hält Vorträge und Vorlesungen auf Fachveranstaltungen und bei Universitäten.
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Autorenverzeichnis Prof. Dr. Christoph Thole, Dipl.-Kfm., ist Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Verfahrensrecht und Insolvenzrecht sowie des Instituts für Internationales und Europäisches Insolvenzrecht an der Universität zu Köln. Zugleich ist er auch Direktor des Instituts für Anwaltsrecht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Insolvenz- und Restrukturierungsrecht einschließlich seiner europäischen und gesellschaftsrechtlichen Bezüge. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu allen Bereichen der Unternehmensinsolvenz und u. a. als Mitherausgeber des Heidelberger Kommentars zur Insolvenzordnung sowie des „Handbuch Insolvenzplan“, ferner als Kommentator der Europäischen Insolvenzordnung im Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung und als Autor des Buches „Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz“ ausgewiesen. Ferner war er an der vom BMJV ausgeschriebenen „ESUG-Evaluation“ beteiligt. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck leitete von 1975 – 1995 die Konkursabteilung am Amtsgericht Köln und war von 1968 – 1997 Vorsitzender des Arbeitskreises für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen e. V.; von 1978 – 1985 war er Mitglied der Kommission für Insolvenzrecht. 1980 erhielt er einen Lehrauftrag an der Universität zu Köln, 1986 wurde er dort Honorarprofessor. Unter anderem ist er Herausgeber der Zeitschrift „NZI“. Sein Kommentar zur Insolvenzordnung gilt als Standardwerk. Zugleich ist er Verfasser zahlreicher Buchwerke und von Beiträgen zum Insolvenzrecht und Arztrecht. Dr. Sven-Holger Undritz, Rechtsanwalt, Partner der Sozietät White & Case LLP in Hamburg. Seit 1998 ist er regelmäßig als Insolvenzverwalter tätig und wird auch zum Sachwalter in der Eigenverwaltung bestellt. Darüber hinaus begleitet er Unternehmenssanierungen und Restrukturierungen, u. a. unter Einsatz von Treuhandmodellen als Instrument der Sanierung. Er ist Mitautor sowohl im „Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht“ (Internationales Insolvenzrecht) als auch im Kommentar von Karsten Schmidt (Eigenverwaltung). Er veröffentlicht regelmäßig zu diversen Themen des Insolvenz- und Restrukturierungsrechts, u. a. zu aktuellen Sanierungsthemen, dem Unternehmenskauf in der Insolvenz sowie dem europäischen und internationalen Insolvenzrecht. Er ist Mitglied des Gravenbrucher Kreises und wird regelmäßig als Referent zu insolvenzrechtlichen Fortbildungsveranstaltungen bzw. Symposien eingeladen. Prof. Dr. Heinz Vallender war bis November 2015 Leiter der Insolvenzabteilung des Amtsgerichts Köln und bis Oktober 2016 Direktor des Instituts für Internationales und Europäisches Insolvenzrecht der Universität zu Köln. Er ist Herausgeber des Vallender, „EuInsVO“, 2. Auflage, und Mitherausgeber der demnächst erscheinenden 16. Auflage des Uhlenbruck, „Kommentar zur Insolvenzordnung“. Er ist ferner Mitherausgeber der Zeitschrift NZI und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Insolvenz- und Sanierungsrecht. Bis 2017 war er darüber hinaus Vorsitzender des Arbeitskreises für Insolvenzwesen Köln e. V. Holger Voskuhl ist Kommunikationsberater und seit vielen Jahren auf die interne und externe Krisenkommunikation spezialisiert. Er hat dabei sowohl als Pressesprecher eine Vielzahl von Unternehmen, Restrukturierungsexperten, Insolvenzverwaltern und Sachwaltern bei Veränderungs- und Transformationsprozessen unterstützt als auch im Hintergrund die Verantwortlichen beraten, oftmals auch bei der Vorbereitung eines Insolvenzverfahrens nach ESUG. Dabei konnte er von Automobilzulieferern über Unternehmen aus dem Einzelhandel bis hin zu Profi-Sportvereinen und Krankenhäusern Erfahrungen in den verschiedensten Branchen sammeln. Holger Voskuhl ist seit Jahren Dozent im LL.M.-Studiengang Unternehmensrestrukturierung an der Universität Heidelberg. Dr. Stefan Weniger, Rechtsanwalt, Dipl.-Betriebswirt (BA), ist Partner der Deloitte GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind die Erstellung von Sanierungskonzepten und die Übernahme von Sanierungsgeschäftsführungen, auch in der Eigenverwaltung. Zu seinen Veröffentlichungen gehört neben zahlreichen Artikeln zum XXXIII
Autorenverzeichnis Sanierungs- und Insolvenzrecht in diversen Fachzeitschriften auch der Beitrag zum Sanierungsgeschäftsführer in „Modernes Sanierungsmanagement“. Dr. Carsten M. Wirth, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, ist Partner der Mönig Wirtschaftskanzlei. Er ist in Nordrhein-Westfalen als Insolvenzverwalter bestellt. Zudem ist er bei der Gestaltung von Insolvenzplänen und eigenverwalteten Unternehmen beratend tätig. Dr. Hermann Peter Wohlleben, Rechtsanwalt, war 21 Jahre Mitglied des Vorstands des PENSIONS-SICHERUNGS-VEREIN Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (PSVaG) in Köln und dort verantwortlich für die Bereiche „Insolvenz und Leistung“ sowie „Recht und Personal“ und ist Mitglied des Vereins für Insolvenzwesen, Köln, sowie Ehrenmitglied der aba Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung. Er ist Autor diverser Publikationen u. a. zur betrieblichen Altersversorgung und zum Insolvenzrecht. Wolfgang Zenker ist Rechtsanwalt in Berlin. Zu seinen Publikationen gehören Kommentierungen und Beiträge zum Insolvenz- und Gläubigeranfechtungsrecht, darunter das Kapitel „Insolvenzanfechtung“ in Bork/Hölzle „Handbuch zum Insolvenzrecht“, die Mitarbeit an Paulus, „EuInsVO“, und die Kommentierung der §§ 174 – 186 InsO im „Beck’schen Online-Kommentar InsO“. Dr. Franc Zimmermann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, ist Partner der überregionalen, auf die Sanierung von Betrieben ausgerichteten Sozietät Mönning Feser Partner mit Schwerpunkt im Bereich der Insolvenzverwaltung und dem Fokus auf dem Sanierungsrecht. Er ist u. a. in Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt als Insolvenzverwalter, Sachwalter, Sanierungsberater und zudem als Sonderinsolvenzverwalter tätig. Dr. Franc Zimmermann ist Mitautor des Insolvenzrechtskommentars von Nerlich/Römermann, des durch die Serbian Bankruptcy Supervision Agency herausgegebenen Kommentars zu den Grundlagen des Serbischen Insolvenzanfechtungsrechts, veröffentlicht regelmäßig Beiträge in Fachzeitschriften und referiert im In- und Ausland zu insolvenzrechtlichen Themen. Er ist regelmäßig Referent des RWS-Verlages zu der wiederkehrenden Fortbildungsveranstaltung „Betriebsfortführung in der Insolvenz“ und hat mehr als 2 000 Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren bearbeitet und begleitet.
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Literaturverzeichnis Weitere themenspezifische Literatur, Zeitschriften- und Festschriftbeiträge sind in den Literaturübersichten der jeweiligen Paragrafen aufgeführt Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, Insolvenzrecht, Kommentar, 4. Aufl. 2020 (zit.: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Bearbeiter, InsR) Altmeppen, GmbHG, Kommentar, 10. Aufl. 2021 (zit.: Altmeppen-Bearbeiter, GmbHG) Andres/Leithaus, InsO, Kommentar, 4. Aufl. 2018 (zit.: Andres/Leithaus-Bearbeiter, InsO) Assies/Beule/Heise/Strube, Handbuch des Fachanwalts Bank- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2019 (zit.: Bearbeiter in: Assies/Beule/Heise/Strube, Hdb. FA Bank- und Kapitalmarktrecht) Bartosch, EU-Beihilfenrecht, 3. Aufl. 2020 Baumbach/Hopt, HGB, Kommentar, 40. Aufl. 2021, 41. Aufl. 2022 (hrsg. v. Hopt) (zit.: Baumbach/Hopt-Bearbeiter, HGB) Baumbach/Hueck, GmbHG, siehe Noack/Servatius/Haas Baums, Recht der Unternehmensfinanzierung, 2017 Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2017, 4. Aufl. 2023 (zit.: Bearbeiter in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Insolvenz) Beck’sche Online-Formulare Vertragsrecht, hrsg. v. Weise/Krauß, Ed. 60, 2022 (zit.: Bearbeiter in: Beck’sche Online-Formulare Vertragsrecht) Beck’scher Bilanz-Kommentar, hrsg. v. Grottel/Justenhoven/Schubert/Störk, 13. Aufl. 2022 (zit.: Bearbeiter in: Beck’scher Bilanz-Komm) Beck’scher Online-Großkommentar Aktienrecht, Gesamthrsg. Henssler, AktG hrsg. v. Spindler/Stilz, Stand: 1.8.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOGK-AktR) Beck’scher Online-Großkommentar Zivilrecht, Gesamthrsg. Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, BGB hrsg. v. Artz/Ball/Benecke/u. a., Stand: 1.1.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOGK-ZivilR) Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, hrsg. v. Rolfs/Kreikebohm/Giesen/Udsching, Ed. 63, 1.3.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOK-ArbR) Beck’scher Online Kommentar BGB, hrsg. v. Hau/Poseck, 63. Ed. 1.8.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOK-BGB) Beck’scher Online Kommentar GewO, hrsg. v. Pielow, Ed. 57, 1.6.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOK-GewO) Beck’scher Online Kommentar GmbHG, hrsg, v. Ziemons/Jaeger/Pöschke, 52. Ed. 1.6.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOK-GmbHG) Beck'scher Online-Kommentar Insolvenzrecht, hrsg. v. Fridgen/Geiwitz/Göpfert, 27. Ed. 15.4.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOK-InsR) Beck'scher Online-Kommentar StaRUG, hrsg. v. Skauradszun/Fridgen, 5. Ed. 17.7.2022 (zit.: Bearbeiter in: BeckOK-StaRUG) Beck’sches Formularbuch GmbH-Recht, hrsg. v. Lorz/Pfisterer/Gerber, 2010 (zit.: Bearbeiter in: BeckFormb GmbH-Recht) XXXV
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XLII
Literaturverzeichnis Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, 4. Aufl. 2020 (zit.: Bearbeiter in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts) Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2021 (zit.: Bearbeiter in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung) Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, ZIP Praxisbuch, 3. Aufl. 2020 Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010 Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, Kommentar, 43. Aufl. 2022 (zit.: Thomas/Putzo-Bearbeiter, ZPO) Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblatt, 170. EL 6/2022 (zit.: Tipke/Kruse-Bearbeiter, AO/FGO) Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021 Uhlenbruck, InsO, Kommentar, hrsg. v. Uhlenbruck/Hirte/Vallender, 15. Aufl. 2019 (zit.: Uhlenbruck-Bearbeiter, InsO) Vallender, EuInsVO, Kommentar, 2. Aufl. 2020 (zit.: Vallender-Bearbeiter, EuInsVO) Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl. 2022 (zit.: Bearbeiter in: Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts) Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 13. Aufl. 2021 Westpfahl/Goetker/Wilkens, Grenzüberschreitende Insolvenzen, RWS-Skript Bd. 347, 2008 Wicke, GmbHG, 4. Aufl. 2020 Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021 (zit.: Bearbeiter in: Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt) Wimmer, InsO, siehe Frankfurter Kommentar Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Handbuch des Fachanwalts Insolvenzrecht, 8. Aufl. 2018 (zit.: Bearbeiter in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR) Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Grundzüge der Unternehmensfinanzierung, 11. Aufl. 2013 Zantow/Dinauer/Schäffler, Finanzwirtschaft des Unternehmens, 4. Aufl. 2016 Ziegenhagen/Thieme, Besteuerung in Krise und Insolvenz, 3. Aufl. 2020 Zimmer, InsVV, Kommentar, 2. Aufl. 2021 Zöller, ZPO, Kommentar, 33. Aufl. 2020, 34. Aufl. 2022 (zit.: Zöller-Bearbeiter, ZPO)
XLIII
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
§1 Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung Uhlenbruck/Vallender
Übersicht I. 1.
Geschichtliche Entwicklung................... 1 Die ersten Korrekturen der „Perle der Reichsjustizgesetze“ ........................... 1 2. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise ....... 2 3. Die Entdeckung des Insolvenzverfahrens als Fortführungschance .......... 4 II. Initiativen des Kölner Fachkongresses 1977 ........................................ 7 III. Die Betriebsfortführung im System der InsO .................................................... 9 IV. Die Unternehmensfortführung nach der InsO ......................................... 11 1. Das Vorbild ausländischer Regelungen .... 11 2. Die Betriebsfortführung als Verfahrensziel ................................................ 12 3. Die Betriebsfortführung als interne Gesellschaftspflicht ................................. 16 V. Zuständigkeiten für Sanierungsentscheidungen und -maßnahmen ...... 21 1. Zuständigkeiten für die interne Fortführungsentscheidung ..................... 21 2. Sanierungsentscheidungen im vorinsolvenzlichen Bereich........................... 23 3. Erweiterung der Zuständigkeiten bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes.... 27 VI. Die Sanierungsentscheidung bei drohender Zahlungsunfähigkeit .... 30 1. Sanierung mittels StaRUG...................... 31 2. „Freie Sanierung“..................................... 36 3. Sanierung in einem Insolvenzverfahren.... 38 VII. Anforderungen an ein Sanierungskonzept .................................................... 39
VIII. Die unverzichtbare Fortbestehensprognose .................................................. 41 1. Gesetzliche Grenzen einer Unternehmensfortführung ............................... 41 2. Die Sanierungsbescheinigung ................. 44 3. Die Sanierungsfähigkeit .......................... 45 IX. Rechtsfolgen einer misslungenen außergerichtlichen Sanierung .............. 48 X. Das ESUG und die neue Insolvenzkultur ....................................................... 56 1. Das unveränderte Verfahrensziel ........... 56 2. Besondere Merkmale der neuen Insolvenzkultur ....................................... 62 3. Rechtzeitige Kommunikation mit den Hauptgläubigern........................ 65 4. Anfechtungsrisiken von Krisenvereinbarungen ........................................ 66 5. ESUG-Evaluation.................................... 67 6. Umsetzung der Evaluation mittels SanInsFoG .................................. 69 XI. Die problematische Fortführungsfinanzierung............................................ 72 1. Die Beschaffung von Liquidität.............. 72 2. Die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld ........................................................... 74 3. Die Begründung von Masseschulden ..... 77 XII. Rechtzeitige Einbeziehung der Anteilsinhaber ................................. 82 XIII. Konzerninsolvenzrecht ......................... 85 XIV. Zusammenfassung.................................. 89
Literatur: Baur, Sanierungen. Wege aus Unternehmenskrisen, 1978; Beissenhirtz, Plädoyer für ein Gesetz zur vorinsolvenzlichen Sanierung von Unternehmen, ZInsO 2011, 57; Besau, Chancen und Risiken bei der Rettung von Unternehmen durch übertragende Sanierung, KSI 2011, 202; Bitter/Rauhut, Insolvenzrechtliche Grundlagen der übertragenden Sanierung – Eine Einführung unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, Teil A: Übernahmegestaltung und Haftungsvermeidung, KSI 2007, 197; Bitterkresser, Positive Fortführungsprognose trotz fehlender Ertragsfähigkeit? – Zur Überschuldung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO, insbesondere bei kriselnden Assetfinanzierungen, ZIP 2012, 1733; Bork, Neue Grundlagen des Restrukturierungsrechts, ZRI 2021, 345; Bork, Pflichten der Geschäftsführung in Krise und Sanierung, ZIP 2011, 101; Bork, Grundfragen des Restrukturierungsrechts – Prolegomena zu einer Reform des deutschen Insolvenzrechts, ZIP 2010, 397; Brass, Rechtsvergleichende Betrachtungen zu einem neuen Konkursrecht, Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 1942, S. 329; Bratschitsch/Schnellinger, Unternehmenskrisen – Ursachen, Frühwarnung, Bewältigung, 1981; Brinkmann/Zipperer, Die Eigenverwaltung nach dem ESUG aus Sicht von Wissenschaft und Praxis, ZIP 2011, 1337; de Bruyn/Ehmke, StaRUG & InsO: Sanierungswerkzeuge des Restrukturierungs- und Insolvenzverfahrens, NZG 2021, 661; Buchalik, Eigenverwaltungen benötigen Berater, INDat-Report 02/2013, 38; Cranshaw, Bemerkungen zur Vorfinanzierung von Insolvenzgeld, ZInsO 2013, 1493; Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, 1999; Emmerich,
Uhlenbruck/Vallender
3
§1
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
Die Sanierung, 1. Teil, 1930; Fischer, Der Übernahme-Swap durch Insolvenzplan – Investitionsentscheidung im Wettbewerb, NZI 2013, 823; Fleege-Althoff, Die notleidende Unternehmung, 1. Bd., Krankheitserscheinungen und Krankheitsursachen, 1930; Fölsing, Die Zähmung des Widerspenstigen im Suhrkamp-Fall: Schutzschirmverfahren bei Gesellschafterstreit, ZInsO 2013, 1325; Frege, Grundlagen und Grenzen der Sanierungsberatung, NZI 2006, 545; Fuhrmann/Heinen/Schilz, Die gesellschaftsrechtlichen Aspekte des StaRUG, NZG 2021, 684; Ganter, Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungs- und Schutzschirmverfahren, NZI 2012, 433; Ganter, Betriebsfortführung durch den vorläufigen Verwalter trotz Globalzession?, NZI 2010, 551; Gehler, Ausländische Insolvenzverfahren zur Sanierung deutscher Unternehmen, NZI 2010, 665; Graf-Schlicker, Die Entwicklung des ESUG und die Fortentwicklung des Insolvenzrechts, ZInsO 2013, 1765; Groß/Amen, Die Erstellung der Fortbestehensprognose, Wpg 2002, 433; Groß/Amen, Die Fortbestehensprognose, Wpg 2002, 225; Haarmeyer/ Buchalik, Sanieren statt liquidieren. Neue Möglichkeiten der Sanierung durch Insolvenz nach dem ESUG, 2012; Haas, Mehr Gesellschaftsrecht im Insolvenzplanverfahren. Die Einbeziehung der Anteilsrechte in das Insolvenzverfahren, NZG 2012, 961; Haghani, Krisenfrüherkennung im Unternehmen mittels Frühwarnsystem, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 15; Hanisch, Zur Reformbedürftigkeit des Konkurs- und Vergleichsrechts, ZZB 1977, 1; Harder/Lojowsky, Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen – Verfahrensoptimierung zur Sanierung von Unternehmensverbänden?, NZI 2013, 327; Hess, Sanierungshandbuch, 6. Aufl., 2013; Hirte/Knof/Mock, Überschuldung und Finanzmarktstabilisierungsgesetz, ZInsO 2008, 1217; Hoegen/Kranz, Neue Möglichkeiten der Konzernsanierung durch SanInsFoG und StaRUG, NZI 2021, 105; Hornfischer, Der Konkurs der Stadt Glashütte, KTS 2008, 423; Jacoby, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, ZGR 2010, 359; Jaffé/Friedrich, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Insolvenzstandorts Deutschland, ZIP 2008, 1849; Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./Thole, Evaluierung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011 (zit.: Jacoby/Madaus/Sack/ H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung), abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/101018_Gesamtbericht_Evaluierung_ESUG.pdf; Kilger, Der Konkurs des Konkurses, KTS 1975, 142; Kirchhof, Die mehrseitige Treuhand in der Insolvenz, in: Festschrift für Gerhart Kreft, 2004, S. 359; Klöhn/Franke, Grund- und Gegenwartsfragen des Sanierungsrechts – Ein Beitrag zu der europäischen Restrukturierungsrichtlinie und dem deutschen SanInsFoG, ZEuP 2022, 44; Knops/Bamberger/Maier/Reimer, Recht der Sanierungsfinanzierung, 2005; Kort, CompliancePflichten und Haftung von GmbH-Geschäftsführern, GmbHR 2013, 566; Kuder, Neues Restrukturierungsrecht für Banken, in: Stärkung des Anlegerschutzes – Neues Rechtsrahmen für Sanierungen (Bankrechtstag 2011), 2012; Lürken, Totgesagte leben länger – Neuer Anstoß aus Brüssel für die Einführung eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens, NZI 2015, 3; Luttermann/Geißler, Rechtsbasis und Praxis einer Kultur der Unternehmenssanierung, ZInsO 2013, 1381; Mackebrandt/Jung, Außergerichtliches Sanierungsverfahren versus Schutzschirmverfahren (§ 270b InsO), KSI 2014, 5; Madaus, Umwandlungen als Gegenstand eines Insolvenzplans nach dem ESUG – Zugleich eine Untersuchung der Grenzen der gesellschaftsrechtlichen Regelungsmacht des neuen Insolvenzplans, ZIP 2012, 2133; Madaus, Aktivierung des Planverfahrens als Sanierungsverfahren durch Zulassung einer Bestätigungsinsolvenz (pre-voted bankruptcy), NZI 2011, 622; Marotzke, Restrukturierung geerbter Unternehmen und mitgeerbter Geschäftsschulden mithilfe eines Restrukturierungsplans auf Grundlage des StaRUG, ZInsO 2022, 1397; Marotzke, StaRUG oder InsO? Checkliste für sanierungswillige Schuldner, ZInsO 2022, 192; Noack, Gesellschaftsrecht, Sonderband zu Kübler/Prütting, InsO, 1999; Pannen, Krise und Insolvenz bei Kreditinstituten, 2. Aufl., 2006; Paulus, Das englische Scheme of Arrangement – ein neues Angebot auf dem europäischen Markt für außergerichtliche Restrukturierungen, ZIP 2011, 1077; Pluta, Sanierung in der Insolvenz – Für wen?, ZInsO 2013, 1404; Portisch, Risikoerkennung und Sanierungswürdigkeitsprüfung durch Kreditinstitute – Sanierungsentscheidungen nachvollziehbar treffen, KSI 2013, 149; Rajak, Die Kultur der Insolvenz, ZInsO 1999, 666; Rauhut, Die Gesellschafter unter dem StaRUG, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 52; Römermann, Ein Jahr ESUG – Eine Bestandsaufnahme aus dem Blickwinkel der GmbH-Beratung, GmbHR 2013, 337; Römermann/Praß, Beratung der GmbH als Schuldnerin in Krise und in Insolvenz nach dem ESUG, GmbHR 2012, 425; Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, 10. Aufl., 1965; Schienstock/Reifert/Drießen, ESUG-Werkzeuge öffnen neue Sanierungswege – Anwendungserfahrungen im Überblick, KSI 2013, 167; Schmidt, A./ Poertzgen, Geschäftsführerhaftung (§ 64 S. 1 GmbHG) in Zeiten des ESUG, NZI 2013, 369; Schmidt, K., Nichts für Feiglinge und nichts für Rambos, INDat-Report 01/2016, 32; Schmidt, K., Überschuldung und Unternehmensfortführung oder: per aspera ad astra, ZIP 2013, 485; Schmidt, K., Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht im ESUG-Entwurf, BB 2011, 1603; Schmidt, K., Die übertragende Sanierung – Bestandsaufnahmen und Ausblicke an der Schwelle der Insolvenzrechtsreform, KTS-Schriften zum Insolvenzrecht, Bd. 1, 1991, S. 67; Schülke, Überwindung der Krise? – Die Die Restrukturierung mit dem neuen StaRUG- ein Überblick, DStR 2021, 621; Schumpeter, Konjunkturzyklen, Bd. 1, 1961; Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl., 1952; Seibt/Bulgrin, Entwurf des Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz – Kritische Analyse aus gesellschaftsrechtlicher Sicht, DB 2020, 2226; Sendel-Müller, Behavioral Turnaround-Management, KSI 2007, 262; Sinz, Revolvierende Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes, in: Festschrift für Wilhelm Uhlenbruck, 2000, S. 157; Skauradszun/Amort, Krisenfrüherkennung – management, Organkompetenzen und die Frage
4
Uhlenbruck/Vallender
Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
§1
nach der Restrukturierungsverschleppungshaftung, DB 2021, 1317; Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, 1927; Stüdemann, Der Konkursverwalter als Unternehmer, in: Festschrift Einhundert Jahre Konkursordnung 1877-1977, 1977, S. 401; Thole, Viel zu früh für einen Abgesang auf das StaRUG, INDat-Report 01/2022, 82; Thole, Treuepflicht-Torpedo? Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht im Insolvenzverfahren, ZIP 2013, 1937; Uhlenbruck, Risiken vorinsolvenzlicher übertragender Sanierung und Anschlussinsolvenzverfahren, in: Festschrift für Hans Haarmeyer, 2013, S. 301; Uhlenbruck, Risiken vorinsolvenzlicher übertragender Sanierung und Anschlussinsolvenzverfahren, ZInsO 2013, 2033; Uhlenbruck, Von der Notwendigkeit eines eigenständigen Sanierungsverfahrens, NZI 2008, 201; Uhlenbruck, Außergerichtliche Sanierung? – Eine Schicksalsfrage notleidender Unternehmen, BB 2001, 1641; Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, 1994; Uhlenbruck, Zur Krise des Insolvenzrechts, NJW 1975, 897; Ulmer, Die gesellschaftsrechtlichen Regelungsvorschläge der Kommission für Insolvenzrecht, ZHR 149 (1985) 541; Undritz, Möglichkeiten und Grenzen vorinsolvenzlicher Unternehmenssanierung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, Kap. 29, 3. Aufl., 2009, S. 932; Vallender, Konzernsanierung durch Aufrechterhaltung der (faktischen) Leitungsmacht mittels Eigenverwaltung, NZI 2020, 76; Vallender, Das Schutzschirmverfahren nach dem ESUG, GmbHR 2012, 450; Vallender, Insolvenzkultur gestern, heute und morgen, NZI 2010, 838; Veil, Krisenbewältigung durch Gesellschaftsrecht. Verlust des halben Kapitals, Pflicht zu ordnungsgemäßer Liquidation und Unterkapitalisierung, ZGR 2006, 374; Weber/Dömmecke, Das Haftungsregime des StaRUG, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 27; Wertenbruch, Gesellschafterbeschluss für Insolvenzantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit?, DB 2013, 1592; Wohlleben, Insolvenzplan zur Fortführung von Unternehmen mit betrieblicher Altersversorgung, in: Festschrift für Jobst Wellensiek, 2011, S. 691; Zipperer, Der präventive Restaurierungsrahmen – ein flankierendes Projekt der Kommission zur Effektivierung der EuInsVO, ZInsO 2016, 831; Zipperer, „Übertragende Sanierung“ – Sanierung ohne Grenzen oder erlaubtes Risiko?, NZI 2008, 206; Zipperer/Vallender, Die Anforderungen an die Bescheinigung für das Schutzschirmverfahren, NZI 2012, 729.
I.
Geschichtliche Entwicklung
1.
Die ersten Korrekturen der „Perle der Reichsjustizgesetze“
Fast alle modernen Gesetzgebungen kennen Institutionen, die es ermöglichen, insolvenz- 1 abwendende Schuldenregelungen auch gegen den Widerstand einer Minderheit von Gläubigern durchzusetzen. In England schuf erst die Gesetzgebung des 16. Jahrhunderts die Möglichkeit der Beschlagnahme des Schuldnervermögens, den raschen Verkauf und die verhältnismäßige Verteilung des Verkaufserlöses unter den Gläubigern.1) In Deutschland wurde am 10.6.1929 über das Vermögen der sächsischen Stadtgemeinde Glashütte das Konkursverfahren eröffnet.2) Sämtliche staatlichen Einrichtungen, wie z. B. Schwimmbäder, Feuerwehr, Krankenhäuser und sogar das Rathaus fielen in die Konkursmasse. Es bedurfte einer Entscheidung des sächsischen OVG vom 3.5.1930, um die Unentbehrlichkeitserklärung des Innenministeriums für wirksam zu erklären. Es folgte die Verordnung zur Sicherung des Haushalts und der Haushalte der Gemeinden, die sog. Sparverordnung vom 21.9.1931. Sie bestimmte, dass über das Vermögen einer Gemeinde, eines Bezirksverbandes oder eines Schulbezirks das Konkursverfahren nicht stattfinden durfte (vgl. § 12 Abs. 1 InsO). Seitdem findet in Deutschland ein Staatsbankrott nur in der Form einer Währungsreform statt. 2.
Die Folgen der Weltwirtschaftskrise
Einen besonderen Schock verursachte die Weltwirtschaftskrise 1929. Zunächst brach die 2 zweitgrößte deutsche Versicherungsgesellschaft „Frankfurter Allgemeine Versicherungsgesellschaft“ zusammen. 1931 folgte die „Darmstädter und Nationalbank“ (DANAT-Bank). Die Folge war eine Notverordnung (Brüning) „VO über Aktienrecht, Bankenaufsicht und eine Steueramnestie“ von 1931. Schon unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich in Deutschland gezeigt, dass in vielen Fällen wirtschaftlichen Zusammenbruchs von Unternehmen ein dringendes Bedürfnis bestand, lebensfähigen Betrieben, die infolge des Krieges notleidend geworden waren, besonderen Schutz zu gewähren. Jetzt ___________ 1) 2)
Vgl. Rajak, ZInsO 1999, 666, 668. Vgl. Hornfischer, KTS 2008, 423 ff.
Uhlenbruck/Vallender
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§1
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
rächte sich bitter, dass der Gesetzgeber der Konkursordnung (KO) gemeint hatte, auf die Regelung eines gerichtlichen Sanierungsverfahrens verzichten zu können. Die Geschäftsaufsichtsverordnungen von 1914, 1916 und 1924 waren Flickwerk und wurden letztlich durch das „Gesetz über den Vergleich zur Abwendung des Konkurses“ vom 5.7.1927 abgelöst. Die anschließende Vergleichsordnung vom 26.2.1935, die vor allem als Instrument der Sanierung und Fortführung insolventer Unternehmen dienen sollte, hat die Erwartungen der deutschen Wirtschaft deshalb nicht erfüllt, weil sie bar jeder betriebswirtschaftlichen Kenntnisse ausschließlich von Juristen konzipiert worden war. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Buch von Karl Künne, „Außergerichtliche Vergleichsordnung“, insgesamt sieben Auflagen, zuletzt 1968, erfahren hat. 3 Noch 1951 vermutete Röpke3) die Wirkung des Konkurses als „Todesstrafe des Zivilrechts“. Nach Muthesius4) war das Ausscheiden eines lebensunfähigen Unternehmens die „notwendige Prämie des Selbstreinigungsprozesses einer ansonsten sauberen Wirtschaft“. Im Insolvenzrecht ging man grundsätzlich von einer Zerschlagung des Schuldnerunternehmens aus, was bei der Schlieker-KG zur Ablehnung der Vergleichseröffnung führte, obwohl der Verkauf der Werften später 21,5 Mio. DM einbrachte. Eine Unternehmensfortführung war zu diesem Zeitpunkt kein Thema. Die ungünstige Sanierungsprognose des vorläufigen Vergleichsverwalters im Verfahren Borgward führte zur Eröffnung des Anschlusskonkurses, obgleich alle Gläubiger später aus der Masse befriedigt werden konnten. In der Rechtswissenschaft erfolgte der eigentliche Durchbruch zu den Möglichkeiten einer Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren 1982 durch das Gutachten von Karsten Schmidt für den 54. Deutschen Juristentag zum Thema „Möglichkeiten der Sanierung von Unternehmen durch Maßnahmen im Unternehmens-, Arbeits-, Sozial- und Insolvenzrecht“, nachdem Walter Baur auf dem 8. Europäischen Managementsymposion in Davos 1978 bereits dargelegt hatte, dass Sanierungen reines Management sind und deshalb in der Überführung aus der Krise in die Wachstumsphase enden müssen.5) 3.
Die Entdeckung des Insolvenzverfahrens als Fortführungschance
4 Erst Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts entdeckte die Betriebswirtschaftslehre die Unternehmenskrise als Chance für einen wirtschaftlichen Neuanfang. Die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen hatten dazu geführt, dass sich 1930 sowohl der Jurist Hugo Emmerich6) als auch der Betriebswirt Fritz Fleege-Althoff7) in grundlegenden Werken mit der notleidenden Unternehmung und der Sanierung befassten. Das Erscheinen des zweiten Teils der beiden Werke wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindert. 1959 sah sich die Deutsche Gesellschaft für Betriebswirtschaft veranlasst, einen Arbeitsausschuss für Insolvenzwesen zu gründen. Auf dem ersten Kongress „Zentralprobleme des Insolvenzwesens“ führte der damalige Leiter des Arbeitsausschusses für Insolvenzwesen u. a. aus, die alte Berliner Tradition der Pflege eines wirtschaftsnahen Insolvenzrechts, dessen besondere Repräsentanten, der Berliner Amtsgerichtsrat Leopold Levy und der Leipziger Universitätsprofessor Jaeger gewesen seien, habe nach jahrzehntelangem Ruhen durch den Arbeitsausschuss für Insolvenzwesen innerhalb der Organisation der Deutschen Gesellschaft für Betriebswirtschaft eine für Wissenschaft und Praxis begrüßenswerte Erneuerung er___________ 3) 4) 5) 6) 7)
6
Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, S. 305. Vgl. auch Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, 2. Halbbd., S. 577 ff. Muthesius, Zeitschrift für die gesamte Kreditwirtschaft, S. 760. Vgl. auch Schumpeter, Konjunkturzyklen, Bd. 1, S. 103; Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, S. 342. Vgl. Baur, Sanierungen. Wege aus Unternehmenskrisen. Emmerich, Die Sanierung, 1. Teil. Fleege-Althoff, Die notleidende Unternehmung, 1. Bd., Krankheitserscheinungen und Krankheitsursachen.
Uhlenbruck/Vallender
Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
§1
fahren. Die Anregung zu der Veranstaltung war erfolgt durch den Kölner Arbeitskreis für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen, der zum damaligen Zeitpunkt bereits sein zehnjähriges Bestehen feierte. Der Beitrag von Rudolf Baade „Probleme der Insolvenzpolitik“ befasste sich eingehend mit Fragen der Insolvenzrechtsreform. Auch der damalige Vorsitzende des Kölner Arbeitskreises für Insolvenzrecht Hans Brass sprach sich in mehreren Beiträgen der Zeitschrift „Konkurs und Treuhand“ für eine Reform des Konkursrechts aus.8) Kein Geringerer als Ernst Jaeger hat auf dem I. Internationalen Kongress für Gläubigerschutz in Wien 1930 die dringende Notwendigkeit einer Reform bejaht. Auch in der Betriebswirtschaftslehre besann man sich auf den heute noch viel zitierten Satz von Ernst Jaeger: „Der Konkurs ist ein Wertvernichter schlimmster Art und obendrein das teuerste Schuldentilgungsverfahren. Je größer das ihm verfallende Unternehmen ist, je weitere Wirtschaftskreise der Zusammenbruch in Mitleidenschaft zieht, desto erwünschter muss es sein, wenn Schuldner und Gläubiger durch Vereinbarung eines Ausgleichs dem Konkurse vorbeugen.“
Nach zutreffender Auffassung von Ernst Jaeger vermag selbst das beste Konkursgesetz die 5 Nachteile nicht auszuschließen, die der Konkurs jeder größeren Unternehmung für die unmittelbar Beteiligten, aber auch für weitere Verkehrskreise im Gefolge hat. Auf der traditionellen Pfingsttagung des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. 1980 wurde erneut ein Grundstein für die Fortführung von Unternehmen in der Insolvenz gelegt. Der Betriebswirt Eberhard Witte9) bemühte gar den Eid des Hippokrates: „Die Erhaltung und Wiederherstellung der wirtschaftlichen Gesundheit jedes einzelnen Unternehmens soll oberstes Gebot des Bemühens sein.“ 1955 war schon das Werk von F. A. Schmitt/ F. Schmitt, „Rationelle Sanierung. Die Vermeidung und Beseitigung von Zahlungsschwierigkeiten auf organischer Grundlage“, erschienen, hatte aber wenig Beachtung gefunden. Auch bei den damaligen Konkurs- und Vergleichsverwaltern setzte in den siebziger Jahren 6 des vorigen Jahrhunderts ein völliges Umdenken ein. Sie führten oftmals im eröffneten Konkursverfahren jahrelang Unternehmen weiter und ließen sich in der Presse als „Heilpraktiker der deutschen Wirtschaft“ feiern. Eine Vielzahl von Unternehmensfortführungen im Konkurs führte teilweise zu einer Verzerrung des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Gesunde Konkurrenzunternehmen gerieten in Schwierigkeiten, weil die Konkursunternehmen wegen des Zahlungs- und Zinsstopps günstiger produzieren konnten. II.
Initiativen des Kölner Fachkongresses 1977
Der Arbeitskreis für Insolvenz- und Schiedsgerichtswesen e. V. Köln hat zum 100jährigen 7 Bestehen der KO eine Festschrift unter dem Titel „Einhundert Jahre Konkursordnung 1877–1977“ herausgegeben.10) In dem Geleitwort stellte der damalige Bundesminister der Justiz Dr. Hans-Jochen Vogel fest, ein gewisses Versagen der KO habe sich schon nach der Jahrhundertwende abgezeichnet, als in wirtschaftlichen Krisenjahren mit hohen Insolvenzzahlen der Konkurs sich als „höchst kostspielige, mit schweren Verlusten verbundene Liquidationsart“ herausstellte. In der Weltwirtschaftskrise habe sich der Konkurs vollends als „hoffnungslose Lösung“ beim wirtschaftlichen Zusammenbruch eines Unternehmens erwiesen. In seinem viel beachteten Referat zum Thema „Der Konkursverwalter als Unternehmer“11) hat Stüdemann die Frage untersucht, ob die KO in ihrer damaligen Fassung ___________ 8) Brass, Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 1942, S. 329 ff.; Brass, Zeitschrift für Konkursund Treuhandwesen 1940, S. 18. 9) Witte in: Bratschitsch/Schnellinger, Die Unternehmenskrise – Anfang vom Ende oder Neubeginn?, Unternehmenskrisen – Ursachen, Frühwarnung, Bewältigung, S. 7, 12. 10) Herausgeber Wilhelm Uhlenbruck, Bernd Klasmeyer und Bruno M. Kübler, mit einem Geleitwort des damaligen Bundesministers der Justiz Dr. Hans-Jochen Vogel. 11) Stüdemann in: FS Einhundert Jahre Konkursordnung, S. 401 ff.
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dem „Handeln des Konkursverwalters als Unternehmer Raum gibt und ihn damit nicht länger vor eine rein vollstreckungsrechtlich, sondern vor eine in erster Linie betriebswirtschaftlich zu beurteilende Situation stellt.“ Nach Stüdemann werde „[…] ein Prozess der Umorientierung von der Unternehmenszerschlagung zur Unternehmensfortführung als gleichberechtigter, gegebenenfalls sogar genereller Verwertungsform ein Umdenken auch in anderen Bereichen zur Folge haben müssen“, wie z. B. für die Haftung des Konkursverwalters.12)) Es sei „hohe Zeit, die traditionellen Formen der Konkursabwicklung auf ihre Gültigkeit zu überprüfen.“
8 Die Ölpreiskrise von 1973 hatte eine Rezession zur Folge, die viele Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte, denen das geltende Insolvenzrecht nicht gewachsen war. Der Hamburger Insolvenzverwalter Dr. Joachim Kilger sprach 1975 auf dem 38. Deutschen Anwaltstag in Berlin vom „Konkurs des Konkurses“.13) Aufgrund der massiven Forderungen aus allen Fachbereichen konnte sich auch der Gesetzgeber der Einsicht nicht verschließen, dass die früher oftmals gerühmte Qualität der KO als trefflichstes der Reichsjustizgesetze und die Bewährung der Vergleichsordnung von 1935 in der Vergangenheit nicht verhindern konnten, dass die Funktionsfähigkeit des Insolvenzrechts weitgehend verloren ging. III.
Die Betriebsfortführung im System der InsO
9 Anfang 1978 setzte der damalige Bundesminister der Justiz, Dr. Hans-Jochen Vogel, die Kommission für Insolvenzrecht ein, der auch der Verfasser Uhlenbruck dieser Ausführungen angehörte. Vorgegebenes Ziel für die Arbeit der Kommission war es, entsprechend dem USamerikanischen Insolvenzrecht ein Reorganisationsverfahren zu entwickeln, das umfassende Maßnahmen zur Sanierung eines in Schwierigkeiten geratenen Unternehmens ermöglicht. Nach den Vorstellungen des Justizministeriums sollten Gläubiger und Anteilseigner eines insolventen Unternehmens als Verfahrensbeteiligte auch über Eingriffe in gesellschaftsrechtliche Verhältnisse des Unternehmens in einem einheitlichen Verfahren entscheiden können. In dem 1985 erschienenen „Ersten Bericht der Kommission für Insolvenzrecht“ sollte gemäß Ziff. 2.1.1 Abs. 2 der Leitsätze ein Reorganisationsverfahren innerhalb eines einheitlichen Insolvenzverfahrens eingeführt werden. In jedem Verfahren sollte nach Eintritt der Insolvenz die konkursmäßige Liquidation des Schuldnervermögens abgewendet werden, „indem vor allem die Vermögensverhältnisse des Schuldners neu geordnet werden.“ Gemäß Ziff. 2.4.9.5 Abs. 1 der Kommissionsleitsätze (S. 282) war der Ausschluss von Gesellschaftern wegen Wertlosigkeit ihrer Anteile aus einer Gesellschaft zulässig. Ein Ausschluss konnte allerdings nicht mit Hilfe eines Reorganisationsplans bewirkt werden, sondern bedurfte nach den Vorstellungen der Kommission einer gerichtlichen Entscheidung, mit der die Wertlosigkeit des Anteils festgestellt wurde. Der Vorschlag hat ebenso wie die Befugnis, durch Beschluss des Insolvenzgerichts Gesellschafter aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft auszuschließen, wegen verfassungsrechtlicher Bedenken keinen Eingang in die Insolvenzordnung (InsO) gefunden. War schon der konkursabwendende Vergleich als ein dem Konkurs vorgeschaltetes gerichtliches Vergleichsverfahren, wie es der Bundesratsentwurf 1875 vorgesehen hatte, bei den Beratungen auf der Strecke geblieben, so wies die am 1.1.1999 in Kraft getretene InsO weitere Defizite auf, die eine Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren erschwerten oder unmöglich machten. Weder das in den §§ 217 ff. InsO geregelte Insolvenzplanverfahren noch die Eigenverwaltung nach den §§ 270 ff. InsO boten eine hinreichende Rechtsgrundlage für die fortführende Sanierung i. R. eines Insolvenzverfahrens. Die Schuldnerunternehmen waren faktisch darauf beschränkt, ___________ 12) Stüdemann in: FS Einhundert Jahre Konkursordnung, S. 439. 13) Kilger, KTS 1975, 142, 165; vgl. auch Uhlenbruck, NJW 1975, 897 ff.; Hanisch, ZZB 1977, 1 ff.
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„[…] in ein Regelinsolvenzverfahren zu gehen, weil der Eigenverwaltung kaum Aussichtschancen eingeräumt wurden und das Planverfahren als zu aufwändig erachtet wurde.“14)
Durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Miss- 10 bräuchen (MoMiG) hat der Gesetzgeber das gesamte Kapitalersatzrecht mit Wirkung zum 1.11.2008 neu geregelt. Schon vor dem Inkrafttreten der InsO war diese schon mehrfach geändert worden und auch nach dem Inkrafttreten sprach man wegen der dauernden Änderungen von der „Dauerbaustelle Insolvenzrecht“. Die InsO hat in vielfacher Hinsicht den Anliegen der Praxis Rechnung getragen, ohne dabei gravierende Eingriffe in das Gesellschaftsrecht vorzunehmen. Noack15) spricht zutreffend von einer „gesellschaftsrechtlichen Enthaltsamkeit der Insolvenzordnung“. Im Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen galt das deutsche Recht als sanierungsunfreundlich, was einige Krisenunternehmen dazu bewog, ihren Sitz zu verlegen, um die Sanierungs- und damit Fortführungschancen ausländischen Insolvenzrechts zu nutzen. In kleinen Schritten tastete sich der deutsche Gesetzgeber mit weiteren Regelungen vor, um im Vergleich mit ausländischen Rechtsordnungen das deutsche Insolvenzrecht wettbewerbsfähig zu machen. IV.
Die Unternehmensfortführung nach der InsO
1.
Das Vorbild ausländischer Regelungen
Schon bei der Einsetzung der Kommission für Insolvenzrecht hatte der damalige Bundes- 11 minister der Justiz, Dr. Vogel, darauf hingewiesen, dass in die Beratungen auch die Sicht der kreditgewährenden Wirtschaft und der Arbeitnehmerschaft einbezogen werden sollten. Als Ausgangspunkt solle zwar nach wie vor die Insolvenz als Fall der Haftungsverwirklichung gesehen werden. Die Insolvenz könne jedoch nicht mehr lediglich als Angelegenheit zwischen Gläubiger und Schuldner begriffen werden. Vielmehr seien in der heutigen eng ineinander verzahnten und miteinander verflochtenen Wirtschafts- und Arbeitswelt auch die allgemeinen volkswirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu erkennen und zu bewerten. Sehr bedenkenswert erschien dem Minister der Vorschlag zu sein, „nach amerikanischem und französischem Vorbild ein besonderes Sanierungsverfahren einzuführen.“ Die Politik hatte inzwischen erkannt, dass sich eine funktionierende Wirtschaft nur eine begrenzte Zahl an Insolvenzen und nur eine bestimmte Höhe an Insolvenzschäden leisten kann, wenn sie nicht selbst Schaden nehmen will. 2.
Die Betriebsfortführung als Verfahrensziel
Der eigentliche Durchbruch zu Möglichkeiten einer Betriebsfortführung im Insolvenz- 12 verfahren erfolgte 1982 durch das Gutachten von Karsten Schmidt zum Thema „Möglichkeiten der Sanierung von Unternehmen durch Maßnahmen im Unternehmens-, Arbeits-, Sozial- und Insolvenzrecht“ für den 54. Deutschen Juristentag. In Ziff. 19 heißt es u. a.: „Unternehmensfortführung im Insolvenzverfahren sollte Regel werden, nicht Ausnahme bleiben, solange das Verfahren mit Reorganisationszweck betrieben wird.“ (D 131).
Dies stellte eine endgültige Abkehr von der Auffassung des BGH dar, wonach die Er- 13 öffnung des Konkurses ein wirtschaftliches Stadium markiert, „[…] das im Interesse der Gläubiger eine Weiterführung des betroffenen Unternehmens verbietet und zur Verwertung noch vorhandener Vermögensteile zum Zwecke gleichmäßiger Gläubigerbefriedigung zwingt.“16)
___________ 14) So Römermann/Praß, GmbHR 2012, 425, 427. 15) Noack, Gesellschaftsrecht, Sonderband zu Kübler/Prütting, InsO, Rz. 5. 16) BGH, Urt. v. 10.4.1979 – VI ZR 77/77, NJW 1980, 55 = KTS 1980, 122, 123 m. krit. Anm. Mohrbutter.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
14 Stüdemann, Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln, legte 1995 in der Zeitschrift „Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 1995“ (S. 1, 20) einen Beitrag vor zum Thema „Der Gedanke der Fortführung insolvent gewordener Unternehmen und seine Verwirklichung im neuen Insolvenzrecht“. Nach Feststellung von Stüdemann zeigt sich die als „erstrangiges Ziel des Insolvenzverfahrens vorgegebene Unternehmensfortführung zulasten der Unternehmenszerschlagung“ unverkennbar bereits im vorgeschlagenen Aufbau des Gesetzes und im Umfang seiner Abschnitte. Enttäuscht heißt es aber weiter: „Offensichtlich vermochten die Verfasser der dem Ersten Kommissionsbericht nachfolgenden Entwürfe den kühnen Sprung aus der Befangenheit jahrtausendealten Denkens aber nicht zu folgen: Alle nachfolgenden Entwürfe bis hin zur Insolvenzordnung übernehmen die von der Kommission für Insolvenzrecht entwickelten Gedanken nicht, sondern fallen zurück in den vertrauten Dunstkreis der bonorum distractio, die Empfehlung zur Fortführung auf den Lippen, die Zerschlagung im Kopf.“
15 Spätestens mit dem ESUG sind später diese Geburtsfehler der InsO weitestgehend berichtigt worden. Es erstaunt, dass die Vereinigung der Zivilprozessrechtslehrer in der Zeit vom 28.2. bis 4.3.1990 in Würzburg eine Arbeitstagung zum Thema „Insolvenzrechtsreform“ durchgeführt hat, auf der sich nur der Beitrag von Karsten Schmidt mit der Übertragenden Sanierung als „zweifelhafte Form der Unternehmensfortführung“ befasst.17) Das von der Reformkommission vorgeschlagene Reorganisationsverfahren sollte „[…] in geeigneten Fällen die Insolvenz eines unternehmerisch tätigen Schuldners auf wirtschaftlich vertretbare und den Gläubigern zumutbare Weise bereinigen und das schuldnerische Unternehmen – statt es zu liquidieren – mit seinen Produktionsstätten, Arbeitsplätzen und Geschäftsbeziehungen auf Dauer erhalten.“18)
3.
Die Betriebsfortführung als interne Gesellschaftspflicht
16 Zu begrüßen ist, dass die Reformkommission frühere Reformbestrebungen aufgegriffen und ein einheitliches Insolvenzverfahren vorgeschlagen hat, das die bisherige Aufteilung zwischen Vergleichsverfahren und Konkurs aufhebt. Missverständlich war aber der Vorschlag im Regierungsentwurf, „[…] die Eigentümer als latente Gruppe zu behandeln, der es überlassen wird, auf ihre Kosten sich selbst zu organisieren und an der Abstimmung über einen Plan teilzunehmen.“19)
17 Anders als § 91 Abs. 2 AktG i. d. F. des KonTraG sieht das GmbHG keine Verpflichtung des Geschäftsführers vor, ein Überwachungssystem einzurichten, um den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Mit der Einführung des Unternehmensstabilisierungs- und – restrukturierungsgesetzes (StaRUG) vom 22.11.202020) wurde für die Mitglieder des zur Geschäftsführung berufenen Organs einer juristischen Person (Geschäftsleiter) gemäß § 1 StaRUG eine Pflicht zur Krisenfrüherkennung statuiert. Sie haben fortlaufend über Entwicklungen zu wachen, welche den Fortbestand der juristischen Person gefährden können. Erkennen sie solche Entwicklungen, haben sie ge___________ 17) Vgl. Tagungsband, KTS Schriften zum Insolvenzrecht, Bd. 1/1991, S. 67 ff.; s. a. Flessner, Sanierung und Reorganisation, 1982. 18) Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, S. 152. 19) So die Allgemeine Begründung zum RegE InsO, abgedr. bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S. 256. 20) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. Das Gesetz ist gemäß Art. 25 Abs. 1 am 1.1.2021 in Kraft getreten (die §§ 84 bis 88 sind am 17.7.2022 in Kraft getreten, Art. 25 Abs. 3 Nr. 1). Zuletzt geändert wurde es durch Art. 12 des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften, v. 7.7.2022, BT-Drucks. 20/2653.
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eignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen und den zur Überwachung der Geschäftsleitung berufenen Organen unverzüglich Bericht zu erstatten. Die Vorschrift ist als allgemeine Regelung für alle Kapitalgesellschaften und kapitalistischen Personengesellschaften (§ 1 Abs. 2 StaRUG) gedacht.21) Sie beschränkt sich darauf, das geltende Recht im Interesse an Rechtsklarheit für die Rechtsanwender einer positiven Regelung zuzuführen.22) § 1 StaRUG enthält keine konkreten Vorgaben, wie die Geschäftsleiter bestandsgefähr- 18 dende Entwicklungen ermitteln und bekämpfen sollen. Insbesondere für KMU’s dürfte der Verweis auf das Portal www.existenzgruender.de eine Hilfestellung bieten (siehe § 101 StaRUG). Dort werden verschiedene Checklisten und Merkblätter bereitgestellt, die bei der Krisenidentifikation und Krisenbewältigung helfen könnten.23) Es dürfte indes keinem Zweifel unterliegen, dass eine detaillierte, transparente und technisch sauber hergeleitete Liquiditätsplanung für die nächsten 24 Monate für jedes Unternehmen unerlässlich ist, um die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten der Geschäftsleitung zu gewährleisten. Zutreffend weist Haghani24) darauf hin, dass ein effektives Risikofrühwarnsystem neben der 24-Monats-Liquiditätsplanung auch einen Überblick über Fälligkeiten und Kosten der Finanzverbindlichkeiten, vollständige Transparenz im Hinblick auf die Vertriebspipeline sowie einen datenbasierten Überblick über operative Kennzahlen und Performance berücksichtigen muss. Letztlich kommt den Geschäftsleitern bei der konkreten Ausgestaltung eines Überwa- 19 chungssystems zwar ein unternehmerischer Ermessensspielraum zu, nicht jedoch bezüglich des Bestehens einer Überwachungspflicht.25) Weder aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 2 und 3 StaRUG noch aus der Gesetzesbegründung26) dazu lässt sich entnehmen, dass die Geschäftsleitung Maßnahmen zur Insolvenzabwendung ohne Beachtung der Zuständigkeiten der zuständigen Gesellschaftsorgane ergreifen darf. Bei Eingriffen in die Struktur der Gesellschaft durch einen Restrukturierungsplan bedarf es eines Gesellschafterbeschlusses.27) Bereits vor Inkrafttreten des StaRUG traf den GmbH-Geschäftsführer nach allgemeiner 20 Meinung eine Organisationspflicht, die ihn in die Lage versetzte, die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft jederzeit zu überblicken und Risiken rechtzeitig zu erkennen. Deshalb war ein Geschäftsführer bereits vor Einführung des § 1 StaRUG verpflichtet, ein geeignetes Risikokontrollsystem einzurichten, „das den Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft Rechnung trägt. Jene Organisationspflicht ist Bestandteil der Pflicht zu ordnungsgemäßen Geschäftsführung.“28) Die Organisationspflicht des organschaftlichen Vertreters einer antragspflichtigen Gesellschaft besteht als interne Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Sie enthält regelmäßig eine Solvenzprognose, die weitgehende Ähnlichkeiten aufweist mit der Solvenzprognose zur Feststellung einer Überschuldung oder drohenden Zahlungsunfähigkeit. So ist z. B. von dem Geschäftsführer einer GmbH „eine Fortbestehensprognose zu fordern, die auf der Grundlage einer kontinuierlichen Finanzplanung erfolgt.“29) Die Beurteilung der Fortbestehensprognose nach § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB reicht ___________ 21) 22) 23) 24) 25) 26) 27) 28) 29)
Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 103. Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 103. Schülke, DStR 2021, 621, 623. Haghani, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 15, 16. Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 229; Gerig in: Morgen, StaRUG, § 1 Rz. 16. Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 104. Rauhut, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 52, 54; Fuhrmann/Heinen/Schilz, NZG 2021, 684, 692. Lutter/Hommelhoff-Kleindiek, GmbHG, § 43 Rz. 31; Bork, ZIP 2011, 101, 105 ff. Bork, ZIP 2011, 101, 103 f. vgl. auch Spindler, Unternehmensorganisationspflichten; Noack/Servatius/ Haas-Beurskens, GmbHG, § 43 Rz. 17; Kort, GmbHR 2013, 566 ff.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
wegen des liquiditätsbezogenen Ansatzes der Insolvenzprognose nicht30) aus. Die Aussage, dass organschaftliche Vertreter einer insolvenzantragspflichtigen Gesellschaft aufgrund ihrer Organisationspflicht und Selbstbeobachtungspflicht zur Sanierung verpflichtet sind, sagt nichts darüber aus, welche Sanierungsmaßnahmen in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Jedenfalls hat der organschaftliche Vertreter zunächst alle Maßnahmen zu treffen, die die Fortführung des Betriebes gewährleisten. Hierzu gehört auch die Erstellung eines Sanierungskonzepts. Die Entscheidung über das Sanierungskonzept fällt dagegen in den Kompetenzbereich der Gesellschafter. Ob und inwieweit Gesellschafter aufgrund ihrer Treuepflicht zur Sanierung verpflichtet sind, ist nach wie vor ungeklärt.31) V.
Zuständigkeiten für Sanierungsentscheidungen und -maßnahmen
1.
Zuständigkeiten für die interne Fortführungsentscheidung
21 Zuständig für eine vorläufige Sanierungsmaßnahme ist grundsätzlich der Geschäftsführer oder Vorstand einer antragspflichtigen Gesellschaft. Ergibt sich bei der Aufstellung der Jahresbilanz oder einer Zwischenbilanz oder ist bei pflichtgemäßem Ermessen anzunehmen, dass ein Verlust i. H. der Hälfte des Grundkapitals besteht, hat der Vorstand einer AG die Hauptversammlung einzuberufen und ihr dies anzuzeigen (§ 92 Abs. 1 AktG). Eine ähnliche Regelung findet sich in § 49 Abs. 3 GmbHG, wenn sich aus der Jahresbilanz oder aus einer im Laufe des Geschäftsjahres aufgestellten Bilanz ergibt, dass die Hälfte des Stammkapitals verloren ist. Der Geschäftsführer einer GmbH hat aber außer in den gesetzlich geregelten Fällen die Gesellschafterversammlung auch dann einzuberufen, wenn es im Interesse der Gesellschaft erforderlich erscheint (§ 49 Abs. 2 GmbHG). Das Erfordernis ist jedenfalls zu bejahen, wenn eine Unternehmenskrise vorliegt, die die Fortführung des Unternehmens gefährdet.32) Die Pflicht eines organschaftlichen Vertreters zur Sicherung der einstweiligen Unternehmensfortführung bis zur Entscheidung der Gesellschafterversammlung folgt nicht zuletzt aus der Entscheidungsbefugnis der Gesellschafter. Sie ermöglicht zugleich auch eine Fortführung des Unternehmens durch den vorläufigen Insolvenzverwalter, der nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO das Schuldnerunternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen hat, soweit nicht das Insolvenzgericht einer Stilllegung zustimmt, um eine erhebliche Verminderung des Vermögens zu vermeiden. Die Pflicht, das schuldnerische Unternehmen zunächst fortzuführen, resultiert insoweit aus der gesetzlichen Kompetenzzuweisung. Auch bei der Zusammenarbeit zwischen Insolvenzschuldner und Sachwalter sollten Kompetenzkonflikte vermieden und Kooperationspotentiale genutzt werden.33) Das Insolvenzgericht ist grundsätzlich frei in der Bestimmung der Rechte des vorläufigen Verwalters und kann gemäß § 22 Abs. 2 ___________ 30) Vgl. Zabel in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 3 Rz. 118 ff. 31) Vgl. Lutter/Hommelhoff-Kleindiek, GmbHG, § 43 Rz. 36, 37; Thole, ZIP 2013, 1937 ff. Grundsätzlich gilt, dass der Gesellschaftsvertrag die Grundlage der gesellschafterlichen Treuepflicht bildet und damit auch deren Inhalt und Umfang bestimmt (BGH, Beschl. v 9.6.2015 – II ZR 227/14, Rz. 8, DNotZ 2016, 139; BGH, Urt. v. 25.2.2011 – II ZR 122/09, Rz. 21, ZIP 2011, 768 m. w. N.). Die qualifizierte Mehrheit einer Publikumspersonengesellschaft ist befugt, die Minderheit vor die Alternative „Sanieren oder Ausscheiden“ zu stellen, wenn anderenfalls die Liquidation der Gesellschaft unvermeidlich ist (BGH, Urt. v. 19.9.2009 – II ZR 240/08, DStR 2009, 2495). Der entsprechende Beschluss über den Ausschluss eines Gesellschafters, der sich an einer Sanierung nicht beteiligt, bedarf grundsätzlich der Zustimmung des betroffenen Gesellschafters, da der Entzug der Mitgliedschaft den Kern der Gesellschafterrechte betrifft. Der Beschluss ist aber auch ohne Zustimmung gegenüber den betroffenen Gesellschaftern wirksam, weil diese sich so behandeln lassen müssen, als hätten sie dem Beschluss zugestimmt (OLG Brandenburg, Urt. v. 3.2.2021 – 7 U 43/19, BeckRS 2021, 2120). 32) Lutter/Hommelhoff-Bayer, GmbHG, § 49 Rz. 13; Veil, ZGR 2006, 374, 381. 33) Frege/Nicht in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 2 Rz. 67 ff. Vgl. auch Frege, Verhandlungserfolg in Unternehmenskrise und Sanierung.
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Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
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InsO die Fortführung des Unternehmens gemäß § 22 Abs. 1 InsO anordnen. Selbst ohne gerichtlichen Beschluss erfasst die allgemeine Sicherungspflicht des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters auch die Pflicht zur Mitwirkung an der Betriebsfortführung und Betriebserhaltung, obwohl eine ausdrückliche gesetzliche Regelung insoweit fehlt.34) Die Zuständigkeitsbereiche für Sanierungsmaßnahmen bei einer Krisengesellschaft lassen 22 sich nur schwer abgrenzen. Richtig ist aber, dass zwischen dem Erkennen der Krise bis zur Entscheidung der Gesellschafter über Sanierungsmaßnahmen Eilmaßnahmen erforderlich sind, die allein der Vorstand bzw. der Geschäftsführer zu verantworten hat.35) Davon unberührt bleibt die Insolvenzantragspflicht eines Geschäftsführers. Der Geschäftsführer einer GmbH ist verpflichtet, für den Zeitraum seiner Anzeige der Unternehmenskrise bis zur Sanierungsentscheidung der Gesellschafter sämtliche Sofortmaßnahmen zu treffen, die den Fortbestand des Betriebes gewährleisten. Handelt es sich um eine Unternehmenskrise, die den Fortbestand der Unternehmung gefährdet, sind die organschaftlichen Vertreter vor allem im Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO verpflichtet, das Unternehmen zunächst fortzuführen. Sie haben sämtliche Eilmaßnahmen vorzunehmen, die die Fortführung des Betriebes ermöglichen bis die Gesellschafterversammlung endgültig entscheidet.36) Die Sanierungs- und Fortführungspflicht trifft bei mehrköpfigen Vertretungsorganen jeden organschaftlichen Vertreter ohne Rücksicht auf seine interne Zuständigkeit. 2.
Sanierungsentscheidungen im vorinsolvenzlichen Bereich
Bereits vor Inkrafttreten des StaRUG am 1.1.2021 war der organschaftliche Vertreter einer 23 antragspflichtigen Gesellschaft aufgrund seiner Organisationspflicht zur ständigen Selbstbeobachtung und zur Ergreifung von Maßnahmen verpflichtet, die eine Krise der Gesellschaft beseitigen. Dem entspricht weitgehend § 1 StaRUG. Danach hat er bei Entwicklungen, die den Fortbestand der juristischen Person gefährden können, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Unter Gefährdung des Fortbestands einer juristischen Person ist der zu erwartende Eintritt der Insolvenzreife – als Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und/oder Überschuldung (§ 19 InsO) – zu verstehen, weil mit Vorliegen der Insolvenzreife bei juristischen Personen nach § 15a InsO die Insolvenzantragspflicht einhergeht.37) Welche konkreten Maßnahmen der organschaftliche Vertreter insoweit zu ergreifen hat, beantwortet – wie bereits an anderer Stelle ausgeführt – Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift nicht. Aus dem Erfordernis der Geeignetheit lässt sich indes entnehmen, dass die zu ergreifenden Maßnahmen die Gefährdung des Fortbestands beseitigen müssen.38) So kann ein GmbH-Geschäftsführer aufgrund einer bestandsgefährdenden Notlage der Gesellschaft gehalten sein, eine einstweilige Einstellung oder Kürzung von Versorgungsbezügen zu veranlassen oder eine Kürzung der Bezüge entsprechend § 87 Abs. 2 AktG hinzunehmen. Grundsätzlich ist der organschaftliche Vertreter berechtigt, alle erforderlichen „internen 24 Sanierungsmaßnahmen“ ohne Mitwirkung der Gesellschafter durchzuführen. Auch hier stößt er aber an natürliche Grenzen, wie z. B. bei der übertragenden Sanierung.39) Selbst ___________ 34) Vgl. Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren, Teil II Rz. 2210, S. 225. Ähnlich die Hamburger Leitlinien zum Insolvenzeröffnungsverfahren, ZInsO 2004, 24, und die Heidelberger Leitlinien, ZInsO 2009, 1848. 35) Vgl. K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 2.65 ff.; Bork, ZIP 2011, 101, 108. 36) Vgl. Bork, ZIP 2011, 101, 108. 37) Skauradszun/Amort, DB 2021, 1317, 1319; Mock in: BeckOK-StaRUG, § 1 Rz. 30. 38) Mock in: BeckOK-StaRUG, § 1 Rz. 30. 39) Zu den Risiken vorinsolvenzlicher übertragender Sanierung und Anschlussinsolvenzverfahren s. Uhlenbruck in: FS Haarmeyer, S. 301 ff. = ZInsO 2013, 2033 ff.; Hess, Sanierungshdb., Kap. 13 Rz. 217.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
wenn bei einer übertragenden Sanierung außerhalb des Insolvenzverfahrens das Unternehmen mit seinen Vermögenswerten vom Unternehmensträger, der als juristische Person fortgeführt werden kann, ganz oder teilweise getrennt wird, handelt es sich letztlich um eine Liquidation, die einen Gesellschafterbeschluss voraussetzt. Beim Asset Deal wird z. B. das Unternehmen durch Veräußerung der für seine Fortführung notwendigen Gegenstände auf einen anderen Rechtsträger übertragen. Der bisherige Unternehmensträger wird, sofern es sich um eine juristische Person handelt, bis zur Löschungsreife weitergeführt und anschließend gelöscht. Die übertragende Sanierung ist ohne Mitwirkung der Gesellschafter nicht möglich.40) Da es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und die Art und Weise einer Unternehmenssanierung um eine außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme handelt, die den Bestand des Unternehmens berührt, steht den Gesellschaftern einer GmbH die Entscheidungsbefugnis über die Unternehmensfortführung und entsprechende Maßnahmen der Sanierung zu.41) 25 Als geeignete Gegenmaßnahme i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG, welche die Gefährdung des Fortbestands der Gesellschaft zu beseitigen geeignet ist, zählt insbesondere die Anzeige eines Restrukturierungsvorhabens nach § 31 Abs. 1 StaRUG.42) Bei juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit ist das gesetzliche Vertretungsorgan bzw. der vertretungsberechtigte persönlich haftende Gesellschafter zur Anzeige befugt. Bei der GmbH ist die Anzeige vom Geschäftsführer (§ 35 GmbHG), bei der AG, der Genossenschaft, dem eingetragenen Verein und der Stiftung jeweils vom Vorstand zu erstatten (§ 78 AktG, § 25 GenG, §§ 86, 26 BGB). Bestehen interne gesellschaftsrechtliche Zustimmungsvorbehalte (z. B. ein die Restrukturierungsanzeige legitimierender Gesellschafterbeschluss nach §§ 46 Nr. 6, 49 Abs. 2 GmbHG), berühren diese die Wirksamkeit der Anzeige im Außenverhältnis nicht.43) 26 Beantragt der Geschäftsführer einer GmbH die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, ohne die Möglichkeit einer „freien“ Sanierung ausreichend geprüft zu haben, verletzt er die Pflicht zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung nach § 43, Abs. 1, 2 GmbHG.44) 3.
Erweiterung der Zuständigkeiten bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes
27 Liegt ein Insolvenzgrund vor, der nach § 15a InsO zum Insolvenzantrag verpflichtet, so erweitern sich die Zuständigkeiten: Der organschaftliche Vertreter ist nach Vorliegen eines Insolvenzgrundes gemäß § 15a Abs. 1 InsO verpflichtet, ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einen Eröffnungsantrag zu stellen. Hieraus lässt sich nicht etwa der Schluss ziehen, dass die Entscheidungsbefugnis über die Verfahrensart ausschließlich bei einem Geschäftsführer oder antragspflichtigen Vorstand liegt. Vielmehr ist der antragspflichtige organschaftliche Vertreter zunächst verpflichtet, die Gesellschafterversammlung über das Vorliegen eines Insolvenzgrundes und seine Antragspflicht zu informieren. Die Gesellschafterversammlung ___________ 40) Vgl. K. Schmidt, KTS-Schriften zum Insolvenzrecht, Bd. 1, S. 67 ff. Zipperer, NZI 2008, 206 ff.; Besau, KSI 2011, 202 ff.; Bitter/Rauhut, KSI 2007, 197 ff. 41) Vgl. Gottwald/Haas-Haas, InsR-Hdb., § 92 Rz. 141; Bork, ZIP 2011, 101, 107 f.; zur Fortbestehensprognose s. Groß/Amen, Wpg 2002, 225 und Wpg 2002, 433. 42) Skauradszun/Amort, DB 2021, 1317, 1319 ff. 43) Kramer in: BeckOK-StaRUG, § 31 Rz. 3 m. w. N. 44) Es handelt sich insoweit nicht um die Haftung wegen „verfrühter“ Antragstellung, sondern wegen der schuldhaften Verletzung der Zuständigkeit für eine Sanierungsentscheidung. Liegt ein Insolvenzgrund vor, der den Geschäftsführer zum Insolvenzantrag verpflichtet (§ 15a InsO), so entfällt nicht etwa die Entscheidungsbefugnis der Gesellschafterversammlung. Zur Planung der Sanierungsstrategie s. Hess, Sanierungshdb., Kap. 4 Rz. 34 ff.; Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 2. Aufl., 2004, Rz. 5.452 ff.
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Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
§1
ist zwar hinsichtlich der Antragstellung nicht weisungsbefugt; sie kann jedoch den Geschäftsführer anweisen, gemäß § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO den Antrag auf gerichtliche Anordnung eines Schutzschirmverfahrens zu stellen und die Drei-Wochen-Frist bzw. bei Überschuldung die Sechs-Wochen-Frist des § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO nutzen, eine außergerichtliche Sanierung zum Zwecke der Betriebsfortführung herbeizuführen. Umstritten ist, ob es für einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit 28 (§ 18 InsO) eines Gesellschafterbeschlusses bedarf.45) Da die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zur Auflösung der Gesellschaft führt und grundsätzlich den Verlust der Verfügungsbefugnis zur Folge hat, stellt sich im Hinblick darauf, dass die Altgesellschafter im Insolvenzplanverfahren gemäß § 225a Abs. 2, 3 InsO ihre Gesellschafterposition verlieren können, die Frage, ob Geschäftsführer oder Vorstände vor Stellung des Insolvenzantrags nach § 18 InsO einen Beschluss der Gesellschafterversammlung bzw. einer Hauptversammlung einzuholen haben. Dies wird von der absolut h. M. auch dann bejaht, wenn eine Eigenverwaltung mit Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO beantragt werden soll.46) Insoweit ist eine Weisung der Gesellschafter für Geschäftsführer verbindlich. Stellt der Geschäftsführer trotz entgegenstehender Weisung einen Insolvenzantrag, kann das gesetzliche Vertretungsorgan von den Gesellschaftern neu besetzt und der Antrag vom Amtsnachfolger zurückgenommen werden.47) Auch der Geschäftsführer einer GmbH ist verpflichtet, für den Fall einer Sanierungsmög- 29 lichkeit den Gesellschaftern ein Sanierungskonzept vorzulegen, das geeignet ist, die Insolvenzantragspflicht zu beseitigen. Da die Insolvenzantragspflicht eine öffentlich-rechtliche Pflicht ist, finden das Entscheidungs- und das Weisungsrecht der Gesellschafter ihre Grenze bei Vorliegen eines antragspflichtigen Insolvenzgrundes (§ 15a InsO). VI.
Die Sanierungsentscheidung bei drohender Zahlungsunfähigkeit
Hat der organschaftliche Vertreter einer antragspflichtigen Gesellschaft die Gesellschafter 30 dahingehend informiert, dass der Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 Abs. 1 InsO) vorliegt, haben diese in eigener Zuständigkeit zu entscheiden, ob eine mögliche Sanierung mit dem Ziel der Betriebsfortführung innerhalb oder außerhalb eines Insolvenzverfahrens stattfinden soll. Die Entscheidung erfordert eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile der einzelnen Sanierungsmöglichkeiten.48) 1.
Sanierung mittels StaRUG
Da eine Unternehmenssanierung am besten unter einem zeitlich begrenzten Schutzschirm 31 gelingt,49) bietet sich seit dem 1.1.2021 neben den Instrumenten der InsO die Inanspruchnahme des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens des StaRUG vom 22.11.202050) ___________ 45) Vgl. Wertenbruch, DB 2013, 1592 ff.; OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121 = GmbHR 2013, 590 m. Anm. Leinekugel. 46) Vgl. Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593 und die dort in Fn. 19 angegebene Literatur. 47) Vlg. BGH, Beschl. v. 10.7.2008 – IX ZB 122/07, Rz. 5, NZI 2008, 550. 48) Vgl. Uhlenbruck, BB 2001, 1641 ff.; Uhlenbruck, Außergerichtliche Sanierung, in: Knops/Bamberger/ Maier/Reimer, § 5; Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 1 ff.; Undritz in: Kölner Schrift zur InsO, Kap. 29 Rz. 10 ff. 49) Marotzke, ZInsO 2022, 192, 193. 50) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). Das Gesetz ist gemäß Art. 25 Abs. 1 am 1.1.2021 in Kraft getreten (die §§ 84 bis 88 sind am 17.7.2022 in Kraft getreten, Art. 25 Abs. 3 Nr. 1). Eingehend dazu Bork, ZRI 2021, 345 – mit umfassenden Literaturhinweisen.
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an. Dieses Gesetz dient, wie bereits der Name sagt, der Restrukturierung sanierungsbedürftiger Unternehmen.51) Es normiert Vorgaben zur Risikofrüherkennung und Risikobewältigung, um auf eine frühere Ergreifung von notwendigen Sanierungsmaßnahmen hinzuwirken.52) 32 Das StaRUG ist Teil des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG)53) und als dessen Kernstück dort in Art. 1 verankert. Die drohende Zahlungsunfähigkeit ist materielle Zugangsvoraussetzung zum Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen. Sie gibt dem Schuldner das Recht, durch eine Anzeige nach Maßgabe des § 31 StaRUG das Restrukturierungsvorhaben einzuleiten. Nach der Neufassung des § 18 Abs. 2 InsO aufgrund des Art. 5 Nr. 10 des SanInsFoG ist ein Schuldner drohend zahlungsunfähig, der voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine Verbindlichkeiten im gesetzlichen Prognosezeitraum von 24 Monaten im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Fälligkeit zu erfüllen. 33 Mit Einführung des StaRUG hat sich der deutsche Gesetzgeber dafür entschieden, den Rechtsrahmen der vorgerichtlichen Restrukturierung in einem eigenständigen Gesetz und nicht in der InsO zu regeln.54) Anlass für das Tätigwerden des Gesetzgebers gab insbesondere die Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen (Restrukturierungsrichtlinie)55). Ziel dieser Richtlinie, die auf dem Vorschlag einer Richtlinie der Europäischen Kommission vom 23.11.2016 beruht, ist es, zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beizutragen und Hindernisse für die Ausübung von Grundfreiheiten, etwa des freien Kapitalverkehrs oder der Niederlassungsfreiheit, zu beseitigen, die auf Unterschiede zwischen den nationalen Vorschriften und Verfahren für präventive Restrukturierung, die Insolvenz, die Entschuldung und Tätigkeitverbote zurückzuführen sind. Bestandsfähige Unternehmen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, sollen Zugang zu wirksamen nationalen präventiven Restrukturierungsrahmen haben, die es ihnen ermöglichen, ihren Betrieb fortzusetzen.56) 34 Einen solchen Restrukturierungsrahmen bietet das StaRUG an. Es ermöglicht Unternehmen, sich auf der Grundlage eines von den Gläubigern mehrheitlich angenommenen Restrukturierungsplans zu sanieren. Es schließt die Lücke, die das frühere Sanierungsrecht zwischen dem Bereich der freien, dafür aber auf den Konsens aller Beteiligten angewiesenen Sanierung einerseits und der insolvenzverfahrensförmigen Sanierung mit ihren Kosten und Nachteilen gegenüber der freien Sanierung gelassen hat.57) Dieser Restrukturierungsrahmen soll es dem Unternehmen grundsätzlich ermöglichen, die Verhandlungen zu dem Plan selbst zu führen und den Plan selbst zur Abstimmung zu stellen. 35 Das StaRUG erweitert das bisherige Sanierungsspektrum wie folgt58): x
Zur Förderung von außergerichtlichen Sanierungsverhandlungen kann das Restrukturierungsgericht auf Antrag einen Sanierungsmoderator (§§ 94 ff. StaRUG) oder einen
___________ 51) Marotzke, ZInsO 2022, 1397. 52) Schülke, DStR 2021, 621. 53) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 54) Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 68. 55) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 56) ErwG 1 der Restrukturierungsrichtlinie. 57) RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 1. 58) Bork, ZRI 2021, 345, 346.
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Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
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Restrukturierungsbeauftragten bestellen (§ 77 Abs. 1 StaRUG). Dem Schuldner wird die Möglichkeit eröffnet, eine außergerichtliche Abstimmung der betroffenen Gläubiger über den von ihm vorgelegten Restrukturierungsplan zu suchen. Soweit er dies für erforderlich erachtet, kann er einen Antrag auf gerichtliche Bestätigung des Plans stellen (§ 29 Abs. 2 Nr. 4, §§ 60 ff., 97 StaRUG). Die Wirkungen des bestätigten Plans beschreibt § 67 StaRUG. Das Gesetz ermöglicht auch die gerichtliche Vorklärung bestätigungsrelevanter Punkte (§ 29 Abs. 2 Nr. 2, §§ 46 ff. StaRUG). Ferner sieht es die Absicherung der Sanierungsverhandlungen durch ein maßgeschneidertes Moratorium vor (§ 29 Abs. 2 Nr. 3, §§ 49 ff. StaRUG). Schließlich steht dem Schuldner die Möglichkeit zur Durchführung eines gerichtlichen Restrukturierungsplanverfahrens mit anschließender gerichtlicher Bestätigung des Plans vor (§ 29 Abs. 2 Nr. 1, §§ 45 ff., 60 ff. StaRUG). x
Ebenso wie die InsO – wenn auch in zeitlich etwas engeren Grenzen – verschafft das StaRUG dem Schuldner Schutz gegenüber Maßnahmen der individuellen Rechtsdurchsetzung (vgl. §§ 29 Abs. 2 Nr. 3, 49 ff. StaRUG und den diese ergänzenden § 30g ZVG). Um die Instrumente des StaRUG in Anspruch nehmen zu können, muss der Schuldner insolvenzfähig sein (§ 30 Abs. 1 Satz 1 StaRUG) und sich im Stadium drohender Zahlungsunfähigkeit befinden (§ 29 Abs. 1 StaRUG).
x
Kernstück des StaRUG ist der Restrukturierungsplan, durch den der Schuldner mit Zustimmung der planbetroffenen Gläubiger und Anteilseigner seine Fremd- und Eigenkapitalstruktur bis hin zu einzelnen Vertragsklauseln neu gestalten kann.59) Durch den Plan können grundsätzlich alle Forderungen von Gläubigern gestaltet werden, die auch im Falle der Insolvenz als Insolvenzforderungen i. S. der §§ 38 und 39 InsO gestaltbar wären, sowie Rechte, die im Insolvenzverfahren als Absonderungsrechte zu qualifizieren wären (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG). Gegen angemessene Entschädigung können auch Rechte an gruppeninternen Drittsicherheiten gestaltet werden (§ 2 Abs. 4 StaRUG). Da durch den Plan nicht nur Forderungen, sondern auch Vertragsbedingungen mehrseitiger Rechtsverhältnisse neu gestaltet werden können, ergeben sich dadurch für den Schuldner zusätzliche Gestaltungschancen für die Betriebsfortführung.60) Handelt es sich bei dem Schuldner um eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit oder eine Kommanditgesellschaft auf Aktien, so hat der Schuldner dem Plan eine Erklärung der Personen beizufügen, die nach dem Plan persönlich haftende Gesellschafter des Unternehmens sein sollen, dass sie zur Fortführung des Unternehmens auf der Grundlage des Plans bereit sind (§ 15 Abs. 1 StaRUG).
x
Für Kleinst- und kleine Unternehmen stellt die in den §§ 94 bis 100 StaRUG geregelte Sanierungsmoderation ein für eine Unternehmenssanierung förderliches Instrument dar. Dabei handelt es sich um ein von den Instrumenten des Restrukturierungs- und Stabilisierungsrahmen unabhängiges Verfahren zur Überwindung wirtschaftlicher und finanzieller Schwierigkeiten. Im Idealfall führt die Sanierungsmoderation zu einem gerichtlich bestätigten Sanierungsvergleich.61) Der große Vorteil dieses Vergleichs ist, dass er den Vorzug der Anfechtungsfestigkeit (§ 97 StaRUG) genießt.62)
2.
„Freie Sanierung“
Dem Schuldner bleibt es auch nach (oder trotz) Einführung des StaRUG (siehe näher dazu 36 Rz. 31 f.) unbenommen, die Krise durch eine außergerichtliche oder „freie Sanierung“ zu ___________ 59) 60) 61) 62)
de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 667. de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 667. Marotzke, ZInsO 2022, 192, 196. Thole, INDat-Report 01/2022, 82, 83.
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bewältigen.63) Weder das StaRUG noch die InsO wollen eine außergerichtliche Sanierung beeinträchtigen. Allein die Existenz des StaRUG kann sich disziplinierend auf außergerichtliche Sanierungsverhandlungen auswirken. Denn die Erkenntnis, dass Blockadepositionen sog. Akkordstörer durch Mehrheitsentscheidungen (§§ 25 ff. StaRUG) gegen den Widerstand einzelner opponierender Gläubiger durchgesetzt werden können,64) kann zumindest atmosphärisch den Einigungsdruck erhöhen.65) Bei der freien Sanierung sucht das schuldnerische Unternehmen mit seinen Stakeholdern eine einvernehmliche Lösung, um Entwicklungen zu beseitigen, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden. Sein Bestreben geht regelmäßig dahin, den Rechtsträger zu erhalten.66) Als Sanierungsvorteil kann sich bei der freien Sanierung vor allem die fehlende Publizität67) erweisen. Der freien Sanierung ist eine eigenständige Legitimation zu bescheinigen, weil die über die Fortführung eines Unternehmens in der Krise im Einzelfall privatautonom disponierenden Beteiligten erfahrungsgemäß nicht willkürlich entscheiden, sondern sich am Ergebnis der Prüfungsfrage orientieren, ob das insolvenzbedrohte Unternehmen sanierungsfähig (sanierungswürdig) ist.68) 37 Ist die außerinsolvenzliche Sanierung erfolgreich, kann sie nicht nur Kosten sparen helfen, sondern in kurzer Zeit zum Sanierungserfolg führen. Nicht zu verkennen ist indes, dass den Vorteilen wie dem Fehlen staatlicher Aufsicht, dem freien Aushandeln der Verfahrensweise und der hohen Flexibilität gewichtige Nachteile und Gefahren gegenüberstehen. So sind nach zutreffender Ansicht von Pelz69) die Bevorzugung bestimmter Beteiligter, Schädigung wirtschaftlich Schwacher, Abschneiden von Rechtspositionen und ungerechtfertigte Vermögensverlagerungen nicht auszuschließen. 3.
Sanierung in einem Insolvenzverfahren
38 Bei Vorliegen der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) hat das schuldnerische Unternehmen das Recht, nicht jedoch die Pflicht, bei sich abzeichnender Zahlungsunfähigkeit frühzeitig insolvenzrechtliche Maßnahmen einzuleiten.70) Ob es sich für die Inanspruchnahme des Restrukturierungs- und Sanierungsrahmens des StaRUG entscheidet oder den Gang ins Insolvenzverfahren beschreiten möchte, ist seiner freien Entscheidung überlassen und bedarf sorgfältiger Überlegung. Beide Verfahren bieten zahlreiche Vor- aber auch Nachteile.71) Auch die Entscheidung für ein Insolvenzverfahren bei drohender Zahlungsunfähigkeit erhöht die Chancen einer Sanierung und trägt dazu bei, die Befriedigungsaussichten der Gläubiger zu verbessern.72) Liegt bereits der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung vor, der nach § 15a InsO zur Insolvenzantragstellung ___________ 63) 64) 65) 66) 67)
68) 69) 70) 71) 72)
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Häuser in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 65 Rz. 3. Kramer in: BeckOK-StaRUG, § 29 Rz. 50 m. w. N. Thole, INDat-Report 01/2022, 82. Näher dazu Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 47. Bei dem Restrukturierungsverfahren nach Maßgabe des StaRUG handelt es sich um ein vertrauliches Verfahren. Allerdings kann der Schuldner hierauf verzichten, indem er nach § 84 Abs. 1 Satz 1 StaRUG einen Antrag auf öffentliche Bekanntmachung stellt. Dies hat den Vorteil, dass bei einem ab dem 17.7.2022 gestellten Antrag die EuInsVO Anwendung findet (näher dazu Skauradszun in: BeckOK-StaRUG, § 84 Rz. 1, 10 ff.). K. Schmidt, Gutachten D zum 54. DJ, S. 104 i. V. m. S. D 26; Häuser in: Ellenberger/Bunte, BankrechtsHdb., § 65 Rz. 5. In Beck/Depre/Ampferl, Praxis der Insolvenz, § 37 Rz. 213. S. a. Drukarczyk/Schöntag in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 3 Rz. 1 ff. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 114. Näher dazu Marotzke, ZInsO 2022, 192 ff. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 81.
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Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
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verpflichtet, kommt eine Sanierung mit den Instrumenten des StaRUG allerdings nicht mehr nicht in Betracht (vgl. § 29 Abs. 1 StaRUG). Die Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung hat darüber zu entscheiden, ob in einem eröffneten Insolvenzverfahren die Fortführung des Betriebes angestrebt werden soll. Die Insolvenzantragspflicht der Geschäftsführer steht nicht mehr zu Disposition. Allerdings müssen die Gesellschafter damit rechnen, dass die Gläubigerversammlung gemäß § 157 Satz 1 InsO im Berichtstermin beschließt, dass das Schuldnerunternehmen gegen ihren Willen stillgelegt wird.73) VII. Anforderungen an ein Sanierungskonzept Die Sanierungspflicht eines organschaftlichen Vertreters74) umfasst in der Unternehmens- 39 krise die Erarbeitung eines tragfähigen Sanierungskonzepts und sämtliche vorbereitenden Maßnahmen, die der Gesellschafterversammlung eine rasche Entscheidung über die notwendigen Sanierungsmaßnahmen ermöglichen (siehe oben Rz. 23 ff. und unten Weniger, § 7 Rz. 62 ff. sowie R.-D. Mönning, § 11 Rz. 337). Ein taugliches Sanierungskonzept darf sich nicht auf die finanzwirtschaftliche Seite beschränken, sondern muss auch die Ursachen einbeziehen, die zur Zahlungsunfähigkeit bzw. finanzwirtschaftlichen Krise geführt haben.75) Erforderlich ist eine Analyse der Verluste und der Möglichkeit deren künftiger Vermeidung, eine Beurteilung der Erfolgsaussichten und der Rentabilität des Unternehmens in der Zukunft und Maßnahmen zur Vermeidung oder Beseitigung der (drohenden) Insolvenzreife.76) Beschränkt sich ein Sanierungsversuch allein darauf, dass alle oder ein Teil der Gläubiger quotal auf ihre Forderungen verzichten, ist dies nur dann erfolgversprechend, wenn der Insolvenzgrund allein auf einem Finanzierungsproblem beruht, etwa dem Ausfall berechtigter Forderungen des Schuldner, das Schuldnerunternehmen aber grundsätzlich profitabel arbeitet.77) Das Sanierungskonzept muss berücksichtigen, ob zur Sanierung ein Forderungsverzicht der Gläubiger ausreichend ist oder ob Umstrukturierungsmaßnahmen erforderlich sind.78) Die Beseitigung der Ursachen der Krise ist die Grundlage jeder erfolgversprechenden Sa- 40 nierung, sofern die Krise nicht ausnahmsweise lediglich auf einem Zahlungsausfall beruht.79) Bei Vorliegen eines überzeugenden Unternehmenskonzepts und einer langfristigen Finanzplanung (siehe R.-D. Mönning, § 11 Rz. 351 ff.) kann ein organschaftlicher Vertreter grundsätzlich von der Bereitschaft der Gesellschafter ausgehen, den Betrieb fortzuführen. Für einen sanierungsvorbereitenden Insolvenzantrag darf die angestrebte Sanierung allerdings nicht offensichtlich aussichtslos sein, was auch für einen Antrag auf Eigenverwaltung mit Schutzschirm gilt (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO). Nicht übersehen werden darf, dass es seit dem Inkrafttreten des ESUG möglich ist, i. R. eines Insolvenzplans einen Kapitalschnitt durchzuführen, der zunächst eine Kapitalherabsetzung auf „Null“ vorsieht und damit zu einem Verlust der Geschäftsanteile der Altgesellschafter führt. Die Altgesellschafter bilden bei der Abstimmung über den Insolvenzplan eine eigene Gruppe. Auf deren ___________ 73) „Eine Unternehmensfortführung in der Insolvenz ist die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs unter Führung des Unternehmens durch den Insolvenzverwalter anstatt durch die Organe des insolventen Unternehmensträgers“ (K. Schmidt-Jungmann, InsO, § 157 Rz. 1). 74) Vgl. Frege, NZI 2006, 545, 546; Undritz in: Kölner Schrift zur InsO, Kap. 29 Rz. 21. 75) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 83, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636. 76) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 83, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385. 77) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 83, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 29, 31, ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636. 78) BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 34 ff., ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636. 79) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 83, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 40, ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
Abstimmungsverhalten kommt es – anders als bei einem Gesellschafterbeschluss – im Ergebnis nicht an, wenn die Umsetzung des Plans zu einem Ausscheiden des Altinhabers ohne jegliche Abfindung führt. Insoweit greift das Obstruktionsverbot des § 245 Abs. 3 InsO ein. Wird der Betroffene durch den Plan nicht schlechter gestellt als ohne Plan, so kann eine verweigerte Zustimmung zum Plan durch das Gericht ersetzt werden.80) Im Wege des „Debt Equity Swaps“ besteht die Möglichkeit für Gläubiger, ihre Forderungen im Wege des Planverfahrens in eine Beteiligung am schuldnerischen Unternehmen umzuwandeln, wodurch ein Passivtausch von bilanziellen Fremdkapital in Eigenkapital stattfindet (§ 225a Abs. 2 InsO). VIII. Die unverzichtbare Fortbestehensprognose 1.
Gesetzliche Grenzen einer Unternehmensfortführung
41 Eine Fortführung des Schuldnerunternehmens im und außerhalb des Insolvenzverfahrens setzt eine überzeugende Insolvenzprognose voraus. „Die Vorgabe der dauerhaften Betriebsfortführung mit dem Ziel der Sanierung ist ohne weitere konkrete Determinanten nicht möglich.“ (Wimmer/Wegener).81) Die fortsetzende Sanierung eines Krisenunternehmens erfordert eine sorgfältige Vorbereitung. Bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit entscheiden die Gesellschafter, ob das Unternehmen außergerichtlich oder i. R. eines vorinsolvenzlichen Verfahrens nach Maßgabe des StaRUG82) oder eines Insolvenzverfahrens saniert werden soll. Letzterenfalls kann es aber eine unliebsame Überraschung geben, wenn der Insolvenzverwalter das Unternehmen vor dem Berichtstermin stilllegen will (§ 158 Abs. 1 InsO) oder die Gläubigerversammlung gemäß § 157 Satz 1 InsO im Berichtstermin beschließt, dass er Betrieb stillgelegt wird. 42 Im Eröffnungsverfahren hat der Insolvenzverwalter gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO das Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen. Aber auch hier kann das Insolvenzgericht einer Stilllegung zustimmen, um eine erhebliche Verminderung des Schuldnervermögens zu vermeiden (§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO). Wird eine Fortführung des Schuldnerunternehmens durch Insolvenzverfahren angestrebt, so ist eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der gerichtlichen Sanierung die gründliche und rechtzeitige Vorbereitung des Insolvenzverfahrens. Es gilt, das Schuldnerunternehmen als betriebliche Einheit zu erhalten, um eine dauerhafte Sanierung durch Insolvenzplan im Verfahren zu erreichen. Aber: „Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, den Betrieb im Blindflug oder um jeden Preis fortzuführen, nur um der Fortführungsprämisse gerecht zu werden.“83) Zulässig ist jedoch eine kurzfristige Betriebsfortführung mit dem Ziel einer wirtschaftlich sinnvollen Ausproduktion und anschließenden Stilllegung. 43 Ist eine übertragende Sanierung beabsichtigt, sind entsprechende Übernahmeangebote oder das Interesse eines oder mehrerer potentieller Erwerber zu dokumentieren. Die Fortbestehensprognose hat für die Insolvenzpraxis eine besondere Bedeutung erlangt, seitdem durch Gesetz vom 5.12.201284), der mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz vom 17.10.200885) ___________ 80) LG Traunstein, Beschl. v. 27.8.1999 – 4 T 2966/99, NZI 1999, 461; Wimmer/Jaffé in: FK-InsO, § 245 Rz. 37 ff. Zu den gesellschaftsrechtlichen Regelungsvorschlägen der Kommission für Insolvenzrecht s. Ulmer, ZHR 149 (1985) 541 ff. 81) So Wimmer/Wegener in: FK-InsO, § 157 Rz. 2. 82) Rauhut, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 52, 54. 83) So v. Websky in: Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren, Teil III Rz. 1703, S. 533. 84) Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften, v. 5.12.2012, BGBl. I 2012, 2418. 85) Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG), v. 17.10.2008, BGBl. I 2008, 1982.
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eingeführte Überschuldungsbegriff in § 19 Abs. 2 InsO86) entfristet wurde. Die Fortführung des Unternehmens, also des Unternehmensträgers, ist nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO Tatbestandsmerkmal und von einem organschaftlichen Vertreter einer antragspflichtigen Gesellschaft ohnehin zu prüfen. Die maßgeblichen Elemente der Fortführungsprognose sind ein tragfähiges Unternehmenskonzept und eine Finanzplanung sowie die Fortsetzungsbereitschaft der Gesellschafter. Auf eine Ertragsfähigkeit kommt es nicht an.87) 2.
Die Sanierungsbescheinigung
Zu den vorbereitenden Tätigkeiten des oder der organschaftlichen Vertreter eines antrags- 44 pflichtigen Unternehmens kann im Einzelfall auch die Einholung eines Sanierungsgutachtens gehören.88) Das Sanierungsgutachten hat zwei Funktionen: Einmal ermöglicht es die Entscheidung, ob eine außergerichtliche Unternehmenssanierung möglich ist; zum anderen kann es die Bescheinigung eines in Insolvenzsachen erfahrenen Steuerberaters, Wirtschaftsprüfers oder Rechtsanwalts oder einer Person mit vergleichbarer Qualifikation darstellen, aus der sich ergibt, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, aber keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt und die angestrebte Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO). Die Bescheinigung ist mit Gründen zu versehen. Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) hat 2022 den Entwurf eines IDW-Standards verabschiedet (IDW ES 9)89), der die Berufsauffassung wiedergibt, welche Anforderungen an den beauftragten Wirtschaftsprüfer und den Inhalt der Bescheinigung zu stellen sind. Entgegen dem IDW-Standard ist die Bescheinigung schon taugliche Grundlage für eine Anordnung des Schutzschirmverfahrens, wenn nachgewiesen wird, dass die Fortführung des Unternehmens gesichert ist.90) Dazu reicht die Darstellung wesentlicher Punkte des Sanierungskonzepts aus, was allerdings nicht unbestritten ist. Die Bejahung des Merkmals der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit einer Unternehmensfortführung“ schließt nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO die Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung aus.91) 3.
Die Sanierungsfähigkeit
Nach Auffassung des II. Zivilsenats des BGH92) ist die Überlebens- bzw. Fortführungs- 45 prognose dann negativ, wenn die „Finanzkraft der Gesellschaft nach überwiegender Wahrscheinlichkeit kurz- oder mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht“ (siehe auch unten Weniger, § 7 Rz. 62 ff.). In einer weiteren Entscheidung vom 9.10.200693) stellt der BGH darauf ab, ob die Finanzkraft des Unternehmens objektiv mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Fortführung ausreicht. Eine günstige Fortführungsprognose setze sowohl den Fortführungswillen des Schuldners bzw. seiner Organe als auch die – grundsätzlich aus einem aussagefähigen Unternehmenskonzept herzuleitende – Überlebensfähigkeit des Schuldnerunternehmens voraus. Anders als bei der Überschuldung kommt es auf ___________ 86) Im Rahmen des SanInsFoG hat der Gesetzgeber mit Geltung zum 1.1.2021 in § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO die Voraussichtsdauer in Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeitsvorschau mit „zwölf Monaten“ eingefügt. Damit ist der Zeithorizont für die Fortbestehensprognose gesetzlich definiert (Frind in: Kroiß, Rechtsprobleme durch COVID-19, § 7 Rz. 11). 87) Vgl. K. Schmidt, ZIP 2013, 485 ff.; Hirte/Knof/Mock, ZInsO 2008, 1217, 1219 f. 88) Vgl. auch Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, S. 288 ff. 89) IDW Standard, Bescheinigung nach § 270d InsO und Beurteilung der Anforderungen nach § 270a InsO (IDW ES 9 n. F.), Stand: 9.2.2022, IDW Life 3/2022, S. 304 ff. 90) Vgl. auch Zipperer/Vallender, NZI 2012, 729, 733. 91) Vgl. K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 5.144. 92) BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201, 214 = ZIP 1992, 1382; vgl. auch OLG Köln, Urt. v. 19.12.2000 – 22 U 144/00, WM 2001, 1160. 93) BGH, Beschl. v. 9.10.2006 – II ZR 303/05, ZInsO 2007, 36, 37 = ZIP 2006, 2171.
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eine Prognosedauer nicht an. Die in einem Insolvenzplan vorgesehenen Opfer der Gläubiger und Anteilseigner können dazu führen, dass mit Abschluss des Verfahrens der Betrieb wieder profitabel arbeitet. Bis zur Entscheidung der Gläubigerversammlung oder nach deren Entscheidung entstehende Kosten gehen zulasten der Masse. Entscheidend ist immer, ob die Fortsetzung eines defizitären Betriebes im Hinblick auf den durch die Sanierung entstehenden Massezuwachs kompensiert wird. Es kommt letztlich darauf an, ob durch die Fortführung des Betriebes oder des Unternehmens ein optimales Verwertungsergebnis zugunsten der Gläubiger erzielt wird. Selbst bei optimaler Fortführungsprognose ist das Ergebnis der Betriebsfortführung nicht immer mit letzter Sicherheit planbar. Wegen der mit einer Betriebsfortführung verbundenen Risiken sind an die Prüfung durch den Insolvenzverwalter besondere Anforderungen zu stellen. Eine Fortführung des Geschäftsbetriebes ohne solide Planrechnungen wird dem Ziel und Zweck des Insolvenzverfahrens nicht gerecht und kann zur Haftung des Insolvenzverwalters sowie der entscheidenden Gläubigerorgane führen. 46 In masseunzulänglichen Verfahren besteht nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Verpflichtung des Verwalters zur Abwicklung und Verwertung der Masse fort. Eine weitere Betriebsfortführung ist nur zulässig, wenn als Ergebnis der Betriebsfortführung eine zeitnahe, möglichst vollständige Befriedigung der Massegläubiger erreicht werden kann.94) Mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ändert sich meist das Verfahrensziel. Der Insolvenzverwalter hat die Masse unverzüglich zu verwerten und langfristige Verträge zu beenden. Ob die Fortführungsfähigkeit auch die Ertragsfähigkeit des Unternehmens voraussetzt, ist umstritten.95) Richtig ist, dass die langfristige Sanierung eines Krisenunternehmens letztlich dazu führen muss, dass wieder Gewinn erwirtschaftet wird. „Die Ertragsfähigkeit des Unternehmens im Sinne einer Sicherung der Innenfinanzierung des Unternehmens ist kein selbstständiger und notwendiger Gegenstand der Fortführungsprognose, sondern nur ein – allerdings wichtiger – Faktor zur Bestimmung der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens.“96)
47 Etwas anderes gilt nur, wenn bei einem dauerhaft nicht ertragsfähigen Unternehmen die Liquidität nur noch für einen von vornherein absehbaren Zeitraum durch Aufzehrung des vorhandenen Vermögens aufrechterhalten werden kann. Entscheidend ist letztlich, ob die Liquiditätsprognose für das laufende und nächstfolgende Geschäftsjahr zu einer Gefährdung der Gläubigeransprüche führt, also der Zusammenbruch des Unternehmens bereits absehbar ist. IX.
Rechtsfolgen einer misslungenen außergerichtlichen Sanierung
48 Bei den meisten antragspflichtigen Gesellschaften geht einem gerichtlichen Insolvenzverfahren der Versuch einer außergerichtlichen Sanierung voraus in der Hoffnung, den Betrieb trotz Vorliegens einer Krise, oftmals sogar trotz eines Insolvenzgrundes fortführen zu können. Die antragspflichtigen organschaftlichen Vertreter übersehen dabei, dass sie erhebliche Haftungs- und strafrechtliche Risiken eingehen, wenn die sog. „freie“ Sanierung (siehe dazu Rz. 36) nicht gelingt und ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet wird.97) Selbst wenn eine Zahlungsunfähigkeit droht, aber noch kein antragspflichtiger Insolvenzgrund vorliegt, ist entweder die Inanspruchnahme des Restrukturierungs- und Sanierungsrahmens des StaRUG oder das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung nach den §§ 270 ff. InsO oftmals die beste Option für eine fortführende Sa___________ 94) 95) 96) 97)
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Vgl. BGH Urt. v. 4.7.2002 – IX ZR 97/99, ZIP 2002, 1633 = ZInsO 2002, 879. Vgl. K. Schmidt-K. Schmidt, InsO, § 19 Rz. 52. Bitterkresser, ZIP 2012, 1733, 1743. S. Uhlenbruck, ZInsO 2013, 2033 ff.
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nierung des Betriebes und des Unternehmens. Trotz der Vorteile, die ein vorinsolvenzliches gerichtliches Sanierungsverfahren nach Maßgabe des StaRUG bietet, ist nicht zu verkennen, dass es für bestimmte Fallgestaltungen keine hinreichende Sanierungsoption darstellt. So wurde weder § 103 InsO noch die auf bestimmte Miet- und Pachtverträge mit dem Schuldner in der Rolle des Mieters oder Pächters beziehenden Vertragsauflösungsrechte des § 109 InsO in das StaRUG übernommen. Bedarf es einer vorzeitigen Beendigung langfristiger Miet- oder Pachtverträge und sind einvernehmliche Lösungen nicht erreichbar, bleibt oft nur die Inanspruchnahme der Sanierungsinstrumente der InsO.98) Zu unterscheiden ist zwischen der internen Sanierungspflicht, die dem organschaftlichen Vertreter einer antragspflichtigen Gesellschaft gegenüber der Gesellschaft als Ausfluss seiner Organisationspflicht obliegt, und der externen Sanierungspflicht. Die schuldhafte Verletzung der externen Sanierungspflicht führt dazu, dass das Unternehmensrisiko weitgehend auf die Gläubiger des Krisenunternehmens abgewälzt wird.99) Rechtsgrundlage für eine vorinsolvenzliche außergerichtliche Sanierungspflicht sind die 49 §§ 5a Abs. 4, 30, 43a GmbHG, § 15a InsO.100) Oftmals übersehen und verkannt werden von organschaftlichen Vertretern eines Krisenunternehmens die Risiken einer schuldhaften Verletzung interner und externer Sanierungspflichten. Neben der schuldhaften Verletzung der Insolvenzantragspflicht, die nach § 15a Abs. 4 InsO strafbar ist, kommt oftmals eine Strafbarkeit wegen unterlassener Verlustanzeige (§§ 401, 92 AktG, §§ 84, 49 Abs. 3 GmbHG) in Betracht, sowie eine Haftung nach § 15b InsO. Neben dem strafbaren Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) erweist sich die vielgepriesene übertragende Sanierung oftmals als Bankrottdelikt i. S. von § 283 StGB, das mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist, wenn der Übertragungsakt bei Überschuldung oder bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit stattgefunden hat. Soweit der Schuldner ein Restrukturierungsverfahren nach Maßgabe des StaRUG mit 50 einer Anzeige gemäß § 29 StaRUG eingeleitet hat, treffen ihn eine Vielzahl von Pflichten, die zu einer Haftung nach § 43 StaRUG führen können. So hat er dem Restrukturierungsgericht den Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit i. S. des § 17 Abs. 2 InsO anzuzeigen (§ 32 Abs. 3 StaRUG). Ebenso trifft den Schuldner eine Anzeigepflicht, wenn das Restrukturierungsvorhaben keine Aussicht auf Umsetzung hat, insbesondere, wenn infolge der erkennbar gewordenen ernsthaften und endgültigen Ablehnung des vorgelegten Restrukturierungsplans durch Planbetroffene nicht davon ausgegangen werden kann, dass die für eine Planannahme erforderlichen Mehrheiten erreicht werden können (§ 32 Abs. 4 StaRUG). Verletzt der Schuldner die ihm obliegende Anzeigepflicht, kann dies zur Aufhebung der Restrukturierungssache und damit zum Fortfall der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache führen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StaRUG). Mit der Aufhebung der Restrukturierungssache endet für den Schuldner zwar die Möglich- 51 keit, auf die Instrumente des Stabilisierungs- und Restukturierungsrahmens zuzugreifen (§ 29 Abs. 2 StaRUG). Er kann seine Sanierungsbemühungen jedoch in einem Insolvenzverfahren vorantreiben. Eine schuldhafte Verletzung der Anzeigepflichten kann zu einer Binnenhaftung der Geschäftsleiter gegenüber dem Schuldner führen (§ 43 Abs. 1 Satz 2 ___________ 98) Ebenso Marotzke, ZInsO 2022, 192, 194. 99) Nach Feststellung von Eidenmüller (ZIP 2010, 649, 652) gibt es allerdings kein Urteil, durch das der Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft auf dieser Grundlage zum Schadensersatz verurteilt worden ist. Die Einführung einer Haftungsnorm bei unterbliebenen Restaurierungsmaßnahmen sei aber erwägenswert. vgl. auch Veil, ZGR 2006, 374, 376 ff. 100) Vgl. Undritz in: Kölner Schrift, Kap. 29 Rz. 21; Bork, ZIP 2011, 101, 102; kritisch Lutter/HommelhoffKleindiek, GmbHG, 13. Aufl., 1991, § 43 Rz. 37.
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StaRUG). Dritten steht demgegenüber wegen Verletzung der Anzeigepflichten kein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB gegen den Schuldner zu, weil § 32 StaRUG nicht als Schutzgesetz zugunsten einzelner Gläubiger anzusehen ist.101) Die fehlende oder nicht rechtzeitige Anzeige der Insolvenzreife stellt einen Straftatbestand dar (§ 42 Abs. 3 StaRUG). Während die Antragspflicht nach der InsO dem Schuldner ggf. eine Drei- bzw. Sechs-Wochen-Frist einräumt (§ 15a Abs. 1 Satz 2 InsO), knüpft das StaRUG bereits an die fehlende oder nicht rechtzeitige Anzeige die Strafbarkeit. 52 Auch wenn die Insolvenzantragspflicht während der Rechtshängigkeit des Restrukturierungsverfahrens suspendiert ist (§ 42 Abs. 1 Satz 1 StaRUG), darf der Geschäftsleiter das Zahlungsverbot des § 15b InsO, das ab Eintritt der Insolvenzreife einsetzt, und die daran geknüpften Rechtsfolgen nicht ausblenden. Es ist kraft fehlender Suspendierung durch § 42 StaRUG im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen weiter anwendbar.102) Ebenso hat er sich darüber im Klaren zu sein, dass er einer deliktischen Außenhaftung nach § 826 BGB unterliegen kann.103) 53 Scheitert eine vorinsolvenzliche Sanierung und kommt es zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, werden sämtliche Vermögensübertragungen und sonstige gläubigerbenachteiligende Handlungen im Wege der Insolvenzanfechtung nach den §§ 129 ff. InsO rückgängig gemacht. Eine Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO setzt voraus, dass der Schuldner mit dem Vorsatz gehandelt hat, seine Gläubiger zu benachteiligen. Ein erhebliches Beweisanzeichen für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH gegeben, wenn der Gläubiger eine Befriedigung erhält, die er nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hat.104) Die Indizwirkung der Inkongruenz für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners kann im Einzelfall allerdings ausgeschlossen sein. So z. B., wenn die Gewährung einer inkongruenten Befriedigung Bestandteil eines ernsthaften, letztlich aber fehlgeschlagenen Sanierungsversuchs ist.105) Nach Auffassung des BGH entfällt der Benachteiligungsvorsatz nicht etwa durch die bloße Hoffnung des Schuldners auf eine Sanierung, „[…] wenn die dazu erforderlichen Bemühungen über die Entwicklung von Plänen und die Erörterung von Hilfsmöglichkeiten nicht hinausgekommen sind“. Vielmehr muss zu der Zeit der angefochtenen Handlung „ein schlüssiges, von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgehendes Sanierungskonzept vorliegen, das mindestens in den Anfängen schon in die Tat umgesetzt worden ist und beim Schuldner die ernsthafte und begründete Aussicht auf Erfolg rechtfertigt“.106)
54 Zahlungen des Schuldners an einen Sanierungsberater können indes auch dann ohne Benachteiligungsvorsatz erfolgen, wenn das Sanierungskonzept noch nicht in den Anfängen in die Tat umgesetzt ist, sofern der Sanierungsversuch nicht von vornherein aussichtslos ist und der Schuldner mit der Vorstellung handelt, dass eine Vergütung dieser Beratungsleistungen erforderlich ist, um die Erfolgsaussichten einer Sanierung prüfen oder eine Sanierung beginnen zu können.107) Gleichzeitig hat der BGH in seiner Entscheidung vom 3.3.2022 klargestellt, dass der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht allein auf eine nur drohende Zahlungsunfähigkeit gestützt werden kann. Um einen Benachteiligungsvorsatz im Stadium der drohenden Zahlungsunfähigkeit annehmen zu können, müssen stets weitere ___________ Kramer in: BeckOK-StaRUG, § 32 Rz. 55 m. w. N. So zu Recht Mock in: BeckOK-StaRUG, § 43 Rz. 29. Weber/Dömmecke, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 27. BGH, Urt. v. 5.3.2009 – IX ZR 85/07, BGHZ 180, 98 = ZIP 2009, 922. So BGH, Urt. v. 30.4.2020 – IX ZR 162/16, Rz. 53, ZRI 2020, 361 = NZI 2020, 687; BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137, 138. 106) BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137, 138 m. w. Rechtsprechungshinweisen. 107) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385.
101) 102) 103) 104) 105)
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Umstände hinzutreten.108) Für einen Benachteiligungsvorsatz bei drohender Zahlungsunfähigkeit kann sprechen, wenn der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit sicher zu erwarten ist und alsbald bevorsteht, der Schuldner sich bewusst ist, dass er kurzfristig einen Insolvenzantrag stellen wird, und er gleichwohl Gläubiger in der verbleibenden Zeit bis zum ohnehin beabsichtigten Insolvenzantrag befriedigt.109) Die Teilnahme an außergerichtlichen Sanierungsversuchen stellt somit auch für die Gläu- 55 biger des Krisenunternehmens ein nicht unerhebliches Risiko dar. Nach § 26 Abs. 4 InsO ist bei schuldhafter Insolvenzverschleppung jede antragspflichtige Person zur Leistung eines Massekostenvorschusses verpflichtet. Insgesamt ist festzustellen, dass die außergerichtliche Sanierung, vor allem die fortführende „freie“ Sanierung mit dem Inkrafttreten des ESUG und den gerichtlichen Möglichkeiten einer Betriebsfortführung im „Wettbewerb der Insolvenzrechte“ gleichgezogen hat.110) X.
Das ESUG und die neue Insolvenzkultur
1.
Das unveränderte Verfahrensziel
Auf dem 7. Deutschen Insolvenzrechtstag 2010 hat die Bundesministerin der Justiz von der 56 Notwendigkeit einer „neuen Insolvenzkultur“ gesprochen. Bereits 1999 hatte Eidenmüller111) für außergerichtliche Sanierungen eine „fehlende Vergleichskultur“ beklagt und das deutsche Insolvenzrecht als „Zerschlagungsrecht“ beanstandet. Allerdings vollziehe sich der von ihm angemahnte Einstellungswandel „natürlich nicht von heute auf morgen“. Wie oben bereits dargestellt wurde, hatte die Betriebswirtschaftslehre schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erkannt, dass ein Insolvenzverfahren volkswirtschaftlich nicht mehr allein als „Instrument zur Ausmerzung unrentabler Betriebe“ oder als „privatrechtliche Todesstrafe“ für unternehmerisches Fehlverhalten angesehen werden kann.112) Mit der am 1.1.1999 in Kraft getretenen InsO wurde die Grundlage für eine neue Insolvenzkultur geschaffen. Im Rahmen der gesetzgeberischen Aktivitäten wurde sich meist auf die US-amerikanische Regelung des Chapter 11 berufen. Dabei wurde übersehen, dass die amerikanische Insolvenzkultur Sanierungen im ausschließlichen Interesse des Schuldnerbetriebes oder im Allgemeinen wirtschaftlichen Interesse zulässt. Nicht verkannt werden darf auch, dass in den USA an dem Reorganisationsverfahren nach Chapter 11 BC teilweise heftige Kritik geübt wird und das Restrukturierungsgesetz sich ebenso zu einer „Dauerbaustelle“ entwickelt hat wie in Deutschland die InsO. Elizabeth Warren hat die Stimmungslage in den USA 1992 wie folgt beschrieben: „After twelve years of experience with the new Bankruptcy Code, people are angry with the bankruptcy process. Creditors are angry with debtors who have resisted payment and thwarted their collection efforts. Employees are angry with companies that have laid them off while big boys remain in their high paying jobs. Tort victims are angry with companies because they are not getting enough money to compensate them for all that they have lost. Judges are angry with disputants because they have neither the time nor the resources to monitor the cases in their care. And everyone is angry with the lawyers because they are getting rich.”113)
___________ 108) BGH, Urt. v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, Rz. 40, ZRI 2021, 645 = NZI 2021, 720. 109) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385. 110) Zu neuen Sanierungsmöglichkeiten durch das ESUG s. a. Schienstock/Reifert/Drießen, KSI 2013, 167 ff.; Römermann/Praß, GmbHR 2012, 425 ff. 111) Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, S. 363, 364. 112) Anders noch Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. 113) The Untenable Case for Repeal of Chapter 11, 102 Yale LJ 37, 477 f. (1992).
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57 Dem Reformgesetz von 1978 in den USA ist immer wieder der Vorwurf gemacht worden, allzu schuldnerfreundlich zu sein. In Deutschland zeigte sich bald, dass die als Jahrhundertgesetz gepriesene InsO der Nachbesserung bedurfte.114) Es folgte 2007 das Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens (BGBl. I, 509), 2008 das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (BGBl. I, 2026), das Restrukturierungsgesetz als Kreditinstitute-Reorganisationsgesetz und das Haushaltsbegleitgesetz 2011 (BGBl. I, 1855). Letztlich stellte sich heraus, dass sämtliche Nachbesserungsgesetze nicht den beabsichtigten Erfolg brachten und vor allem die Eigenverwaltung und damit die Fortführung von Unternehmen im Insolvenzverfahren von der Praxis vielfach nicht angenommen wurden. Erst das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), das am 1.3.2012 hinsichtlich seiner wesentlichen Teile in Kraft getreten ist (BGBl. I, 2582), brachte den entscheidenden Durchbruch, indem es dem Schuldner in erfolgversprechenden Sanierungsfällen die Eigenverwaltung als Sanierungsweg anbot. 58 Mit dem ESUG hat der deutsche Gesetzgeber u. a. die Sanierungsmöglichkeiten überlebensfähiger Krisenunternehmen wesentlich verbessert, den Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl des Insolvenzverwalters gestärkt, das Insolvenzplanverfahren gestrafft und Blockadepotenzial abgebaut sowie den Zugang zur Eigenverwaltung erleichtert. Entsprechend der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses115) hat der Deutsche Bundestag es abgelehnt, ein in der Fachliteratur116) vielfach gefordertes vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren einzuführen. Dies entsprach der von der Reformkommission vorgeschlagenen einheitlichen Regelung des Insolvenzverfahrens.117) 59 Das ESUG verzichtet auf ein Moratorium („automatic stay“), wie etwa das Recht des amerikanischen Chapter 11. Es orientiert sich vielmehr an dem Scheme of Arrangement nach sec. 895 ff. des englischen Companies Act 2006.118) Die Einstellung der Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung würde dem Schuldnerunternehmen dringend benötigte Liquidität entziehen.119) In der Sanierungsphase benötigt ein Unternehmen eine zeitlich begrenzte Exekutionssperre, die § 270d Abs. 1 Satz 2 InsO auf höchstens drei Monate festlegt. Durch die Kombination von Eigenverwaltung mit einem Debt Equity Swap und eine Einschränkung der Rechtsbehelfe sollen die Voraussetzungen für eine rasche und nachhaltige Unternehmenssanierung geschaffen werden. 60 Die Eigenverwaltung erhielt ihre besondere Ausprägung durch das in § 270d InsO (= § 270b InsO a. F.) geregelte Schutzschirmverfahren, das dem Schuldner die Möglichkeit eröffnet, den Insolvenzantrag vorzubereiten und frühzeitig zu stellen. Das ESUG eröffnet neue Sanierungsoptionen und erweitert das Aufgabenspektrum für die Restrukturierungsbranche. Durch die Reform sollte insbesondere die „Eigenverwaltung aus ihrem bisherigen Dornröschenschlaf geweckt werden“.120) Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers kann hier___________ 114) Vallender, NZI 2010, 838, 843. 115) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ESUG, BT-Drucks. 17/7511; BT-Plenarprotokoll v. 27.10.2011, S. 16173. Überlagert wurde das Gesetzgebungsverfahren durch Begehrlichkeiten des Fiskus, der Sonderregelungen für sich forderte. S. Hirte/Knof/Mock, Das neue Insolvenzrecht nach dem ESUG, S. 5; Lürken, NZI 2015, 3 ff. 116) Vgl. Bork, ZIP 2010, 397, 406; Jacoby, ZGR 2010, 359, 371 ff.; Beissenhirtz, ZInsO 2011, 57; Madaus, NZI 2011, 622, 624 ff.; Undritz in: Kübler, HRI, 1. Aufl., 2012, § 2 Rz. 2. 117) BT-Plenarprotokoll v. 27.10.2011, S. 16173. 118) Vgl. Gehler, NZI 2010, 665; Paulus, ZIP 2011, 1077; High Court of Justice (Chancery Division) London, v. 6.5.2011 – [2011] EWHC 1104 (Ch), ZIP 2011, 1017. 119) Einzelheiten und zur Stornierung von Vertragsbeziehungen bei Zipperer, ZInsO 2016, 831, 838. 120) Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337.
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durch die Quote erfolgreicher Sanierungen erhöht werden.121) Auch nach dem ESUG bleibt das Sanierungsverfahren Insolvenzverfahren und zugleich ein Mittel der Haftungsverwirklichung. Die fortführende Sanierung ist demnach „nur ein Mittel zur bestmöglichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger“.122) Auch eine Restruktion oder Reorganisation ist nach der zutreffenden Formulierung von Eidenmüller lediglich „ein Instrument zur Maximierung des haftenden Schuldnervermögens“.123) Die materielle Insolvenz lässt nicht zwingend den Schluss auf ein Versagen der Vermögens- und Haftungssteuerung zu.124) Schlechte Unternehmensführung ist zwar die Hauptursache vieler Insolvenzen; zwingend ist aber nicht, dass der Schuldner bzw. seine organschaftlichen Vertreter in allen Fällen den Eintritt der Insolvenz zu vertreten haben. Nach zutreffender Feststellung von Brinkmann und Zipperer125) darf die Eigenverwaltung nicht etwa in den „Dienst einer Kultur des Scheiterns“ gestellt werden. Das Schuldnerunternehmen erhält keineswegs auf Kosten seiner Gläubiger eine neue Chance. Vielmehr geht es letztlich darum, die Unternehmensfortführung im Wege der Eigenverwaltung als beste Form der Gläubigerbefriedigung zu nutzen und das Verfahren gleichzeitig im Bereich der internationalen Insolvenzrechte konkurrenzfähig zu machen. Nach Feststellung von Karsten Schmidt sind „gute Sanierungen früh, schnell und still“ durch- 61 zuführen.126) Nach wie vor ist bei fehlender Antragspflicht von dem organschaftlichen Vertreter einer Gesellschaft zunächst abzuwägen, ob eine außergerichtliche Sanierung („freie Sanierung“; siehe dazu Rz. 36) nicht kostengünstiger, in kürzerer Zeit und stiller zu bewältigen ist.127) Ein Nachteil dieses Verfahrens liegt darin, dass kein Zwang zur Einigung der Gläubiger besteht und sog. Akkordstörer die Verteilungsgerechtigkeit torpedieren können. Die Entscheidung darüber, ob bei wirtschaftlicher Unternehmenskrise eine außergerichtliche Sanierung durchgeführt oder das StaRUG in Anspruch genommen werden soll, fällt in den Zuständigkeitsbereich der Gesellschafterversammlung.128) 2.
Besondere Merkmale der neuen Insolvenzkultur
Das ESUG hat die insolvenzrechtliche Welt in Deutschland verändert.129) Besondere Merk- 62 male einer neuen Insolvenzkultur130) sind die Regelungen, die auch in einem Eröffnungsverfahren oder Schutzschirmverfahren den Schuldner und den vorläufigen Insolvenzverwalter verpflichten, ein Unternehmen, das der Schuldner betreibt, bis zur Entscheidung der Gläubiger über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen, soweit nicht das Insolvenzgericht einer vorzeitigen Stilllegung zustimmt, um eine erhebliche Verminderung des Schuldnervermögens zu vermeiden (§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO). Da nach § 157 InsO die Gläubiger über eine Fortführung, übertragende Sanierung oder Liquidation entscheiden, ist der vorläufige Insolvenzverwalter grundsätzlich und vorrangig verpflichtet, das Unternehmen bzw. den Betrieb bis zum Berichtstermin aufrechtzuerhalten und fortzuführen.131) ___________ 121) 122) 123) 124) 125) 126) 127)
128) 129) 130) 131)
Einzelheiten bei Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337 ff. Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1137, 1138. Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, S. 50. So aber Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 2.24. Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337, 1339. K. Schmidt, INDat-Report 01/2016, 32, 33. S. Mackebrandt/Jung, KSI 2014, 5; Jaffé/Friedrich, ZIP 2008, 1849, 1851; Eidenmüller, ZIP 2010, 649, 655; Beissenhirtz, ZInsO 2011, 57; Bork, ZIP 2010, 397; Undritz/Knof in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 3 Rz. 1; Undritz in: Kölner Schrift, Kap. 29 Rz. 1 ff.; Uhlenbruck, NZI 2008, 201; Uhlenbruck, BB 2001, 1641. Vgl. Kolmann, Schutzschirmverfahren, Rz. 88; Zipperer, ZInsO 2016, 831, 836. Römermann, GmbHR 2013, 337, 344. Näher hierzu Vallender, NZI 2010, 838. v. Websky in: Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren, Teil III Rz. 1535, S. 483.
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Nach Luttermann und Geißler132) hat das ESUG neue Instrumentarien geschaffen, wobei namentlich konkrete Mitwirkungsbefugnisse der Gläubiger einer „herkömmlichen Resignation zur Ohnmacht verurteilter Verfahrensbeteiligter entgegenwirken.“ Gesetzt werde auf ein stärkeres Miteinander und gefördert werde eine allseits tragfähige Sanierungskultur, die auch international konkurrenzfähig sei. Letztlich eröffnet das ESUG neue Strategien zur Optimierung der Sanierungschancen von krisenbetroffenen Unternehmen im Eigenverwaltungsverfahren. Die neue Rechtslage erfordert ein Umdenken von allen Verfahrensbeteiligten. Aus der Pflicht, das Schuldnerunternehmen fortzuführen, folgt „[…] ohne dass es eines gesonderten Beschlusses des Insolvenzgerichts bedürfte, auf der Grundlage der gesetzlichen Kompetenzzuweisung die Rechtsmacht, alle der Fortführung zweckdienlichen Entscheidungen zu treffen.“133)
63 Das Haftungsrisiko der Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder nach § 15b InsO erhöht sich allerdings, wenn ein Unternehmen in (vorläufiger) Eigenverwaltung fortgeführt wird.134) An einem Verschulden der organschaftlichen Vertreter fehlt es jedoch meistens, wenn rechtzeitig ein Sanierungsplan als sog. Pre-Packaged-Plan erstellt wird, der den Fortbestand des Krisenunternehmens dokumentiert und Zahlungen an Gläubiger garantiert.135) Je höhere Anforderungen an eine aktuelle Bescheinigung nach§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO (= § 270b Abs. 1 Satz 3 InsO a. F.) gestellt werden, umso geringer ist die Gefahr einer organschaftlichen Haftung oder einer Strafbarkeit. Im Zweifel sollte der organschaftliche Vertreter des Schuldnerunternehmens den Antrag nach § 270d Abs. 4 Satz 1 InsO stellen, dass er Masseverbindlichkeiten begründen darf. In dem durch das ESUG eingeführten Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO (= § 270b InsO a. F.) ist dem Insolvenzgericht die verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen, anhand der Bescheinigung nach § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO (= § 270b Abs. 3 InsO a. F.) darüber zu entscheiden, ob dem Schuldner bzw. Schuldnerunternehmen der Zutritt zu diesem Verfahren innerhalb eines Insolvenzeröffnungsverfahrens gewährt wird.136) Aus der Bescheinigung, die von einem in Insolvenzsachen erfahrenen Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Rechtsanwalt oder einer Person mit vergleichbarer Qualifikation ausgestellt sein muss, ergibt sich meist die Rechtfertigung für die Anordnung sanierungsvorbereitender Maßnahmen im Eröffnungsverfahren. Die Bestellung eines vorläufigen Sachwalters § 270b Abs. 1 InsO (§ 270 Abs. 2 Satz 1 InsO a. F.) sowie eines vorläufigen Gläubigerausschusses nach § 22a InsO verhindern weitgehend eine Haftung des organschaftlichen Vertreters wegen verbotener Zahlungen. 64 Zur Sanierungswürdigkeit ist festzustellen, dass nach § 1 InsO das Insolvenzverfahren auch nach Inkrafttreten des ESUG weiterhin ein Instrument der Haftungsverwirklichung i. R. der Gesamtvollstreckung bleibt. Weder die Verwertung des Schuldnervermögens noch der „Erhalt“ des Unternehmens sind das alleinige Ziel des Verfahrens.137) Beide sind lediglich Mittel zur Gläubigerbefriedigung, die andere Mittel keineswegs ausschließen. Auf die Sanierungswürdigkeit des Schuldners bzw. des organschaftlichen Vertreters kommt es nach dem ESUG nicht mehr an, da die Ablehnungsgründe der §§ 17, 18 VglO sich in der Praxis oftmals als gläubigerschädlich erwiesen hatten.138) Einige Insolvenzgerichte wie z. B. Hamburg und Heidelberg haben inzwischen Leitlinien entwickelt, wie Leistungen betriebsnot___________ Luttermann/Geißler, ZInsO 2013, 1381, 1386; Schienstock/Reifert/Drießen, KSI 2013, 167 ff. K. Schmidt-Hölzle, InsO, § 22 Rz. 9. Vgl. A. Schmidt/Poertzgen, NZI 2013, 369 ff. Zur Sanierungsfähigkeitsprüfung vgl. Portisch, KSI 2013, 149 ff. Zu den Anforderungen an die Bescheinigung für das Schutzschirmverfahren vgl. auch Zipperer/Vallender, NZI 2012, 729 ff.; s. a. Kolmann, Schutzschirmverfahren. 137) Vgl. Jaeger-Gerhardt, InsO, § 1 Rz. 2. 138) Vgl. Kilger/K. Schmidt, Insolvenzgesetzes, 17. Aufl., § 17 VglO Anm. 1; Gottwald-Uhlenbruck, Insolvenzrecht-Hdb, 1. Aufl., 1992, § 69 Rz. 6; Zabel in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 3 Rz. 43.
132) 133) 134) 135) 136)
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wendiger Lieferanten im Insolvenzeröffnungsverfahren abzusichern sind.139) Nach Feststellung von Frind140) ist die Betriebsfortführung niemals als Selbstzweck anzusehen, sondern sie ist vielmehr darauf reduziert, „im eröffneten Insolvenzverfahren eine optimale Befriedigung der Gläubiger zu erreichen“. Das ist angesichts der Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 15.11.2011 an die Kommission zu Insolvenzverfahren i. R. des EUGesellschaftsrechts141) zweifelhaft geworden, wenn es dort heißt „[…] das Insolvenzrecht ein Mittel zur Rettung von Unternehmen […] sein sollte; […] in der Erwägung, dass eine solche Rettung, wenn immer sie möglich ist, dem Schuldner, den Gläubigern und den Arbeitnehmern nützen sollte.“142)
3.
Rechtzeitige Kommunikation mit den Hauptgläubigern
Die durch das ESUG eingeführten Sanierungsoptionen sind so angelegt, dass sie ohne die 65 Einschaltung eines Beraters nicht funktionieren. Eine fortführende Sanierung in einem gerichtlichen Insolvenzverfahren kann letztlich nur Erfolg haben, wenn rechtzeitig ein Sanierungs- und Insolvenzplan erstellt wird. Erst wenn die Opfer feststehen, die einige oder alle Gläubiger zu bringen haben, hat der Berater oder der organschaftliche Vertreter nach Information der Gesellschafter die Pflicht, die wesentlichen Verfahrensbeteiligten von den beabsichtigten Sanierungsmaßnahmen und der damit verbundenen Fortführung zu unterrichten und den Plan zu verhandeln. Zu Beginn der Verhandlungen stehen meist ein betriebswirtschaftliches Grobkonzept und die integrierte Planung für das erste Jahr. In der Praxis zeigt sich, dass den Großgläubigern, vor allem den Banken eine besondere Bedeutung i. R. der Vorprüfung zukommt. Es entspricht jahrelanger Erfahrung und Praxis, dass später auch andere Gläubiger einer betriebsfortführenden Sanierung zustimmen, wenn die Bankengläubiger das Fortführungskonzept geprüft und gebilligt haben. Ähnliches gilt für den PSVaG, wenn das Schuldnerunternehmen Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu erbringen hat.143) Bei einer beabsichtigten Fortführung des insolventen Unternehmens gilt es vor allem auch, eine betriebliche Altersversorgung fortzuführen.144) Weiterhin sind die relevanten Stakeholder rechtzeitig in das Verfahren einzubinden. Aus der Aufgabenverteilung im Zusammenhang mit einer Sanierung folgt, dass der organschaftliche Vertreter die Gesellschafter schon über das Vorliegen einer krisenhaften Entwicklung und mögliche Sanierungskonzepte zu informieren hat.145) 4.
Anfechtungsrisiken von Krisenvereinbarungen
Zu beachten ist, dass bei vorinsolvenzlichen Vereinbarungen mit Gläubigern und die Be- 66 sicherung von Krediten in der Unternehmenskrise die Gefahr besteht, dass diese später in einem eröffneten Insolvenzverfahren vom Insolvenzverwalter angefochten werden.146) Einem Gläubiger dürfte es nach der Kenntnis von einem Sanierungsplan schwerfallen, seine mangelnde Kenntnis von der Krise in einem späteren Insolvenzverfahren zu beweisen. Das ___________ 139) Hamburger Leitlinien zum Insolvenzverfahren, ZInsO 2004, 24; Heidelberger Richtlinien, ZInsO 2009, 1848. 140) Frind in: Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren, Teil II Rz. 416, S. 109. 141) Entschließung des Europäischen Parlaments v. 15.11.2011 mit Empfehlungen an die Kommission zu Insolvenzverfahren i. R. des EU-Gesellschaftsrechts (2011/2006(INI)), ErwG J, abrufbar unter http:// www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2011-0484+0+DOC+ XML+V0//DE (Abrufdatum: 6.12.2022). 142) S. a. Zipperer, ZInsO 2016, 831. 143) Vgl. Rendels in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 23 Rz. 4. 144) Vgl. Wohlleben in: FS Wellensiek, S. 691, 698. 145) Vgl. Scholz-K. Schmidt/Seibt, GmbHG, § 49 Rz. 23; Bork, ZIP 2011, 101, 108. 146) S. BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137, 139; Uhlenbruck, ZInsO 2013, 2033 ff.
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Risiko einer allzu offenen Kommunikation mit Gläubigern besteht zum einen darin, dass die Krise des Unternehmens bekannt wird und zu Forderungen der Gläubiger nach weiterer Besicherung ihrer Ansprüche führt, zum anderen die erhöhte Gefahr eines Gläubigerinsolvenzantrags besteht. In der Praxis wird empfohlen, zunächst ein betriebswirtschaftliches Grobkonzept und die integrierte Finanzplanung für das erste Jahr zu erstellen. Eine Woche vor Einreichung sollten die Insolvenzanträge fertiggestellt und die Insolvenzgeldvorfinanzierung147) geklärt sein. Sodann finden der Reihenfolge nach statt: „Ansprache möglicher Sachwalter, Vorgespräch mit dem Gericht,148) Vorbereitung unechter Massekreditverträge, Information und Abstimmung mit den Banken und Kreditversicherern, Factoringgesellschaften und den Mitgliedern eines präsumptiven vorläufigen Gläubigerausschusses.“149) Das ESUG erlaubt Vorgespräche des vorläufigen Sachwalters über das geplante Verfahren auch bei Gericht.150) Soweit Arbeitnehmerinteressen tangiert werden, ist die rechtzeitige Information der Bundesagentur für Arbeit unverzichtbar. Soweit Gläubiger dem vorläufigen Gläubigerausschuss angehören, sind diese bereits informiert und insoweit entfällt die Informationspflicht des Schuldnerunternehmens. 5.
ESUG-Evaluation
67 Mit Beschluss des Deutschen Bundestages vom 27.10.2011 wurde die Bundesregierung verpflichtet, die Erfahrungen mit der Anwendung des ESUG fünf Jahre nach dessen Inkrafttreten zu evaluieren und auf dieser Grundlage dem Deutschen Bundestag unverzüglich Bericht zu erstatten. Das BMJV hat zur Vorbereitung des Berichts der Bundesregierung und in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz eine Forschergemeinschaft, bestehend aus Prof. Dr. Florian Jacoby, Prof. Dr. Stephan Madaus, Prof. Dr. Detlef Sack, Heinz Schmidt und Prof. Dr. Christoph Thole, mit der Durchführung einer rechtstatsächlichen und rechtswissenschaftlichen Untersuchung zur Wirkungsweise des ESUG beauftragt. Die Forschergemeinschaft hat am 30.4.2018 ihren Bericht vorgelegt. 68 Darin empfahl sie u. a. ein gesetzgeberisches Nachsteuern der ESUG-Reformen i. S. einer stärkeren Begrenzung des Zugangs zur Eigenverwaltung im eröffneten Verfahren, aber auch im Eröffnungsverfahren, mit dem Ziel der Ausklammerung ungeeigneter Verfahren.151) Da das Schutzschirmverfahren die Erwartungen nicht erfüllt habe, spreche viel für die Verschmelzung des § 270a- und des § 270b-InsO-Verfahrens, wenn man die Zugangsvoraussetzungen zur Eigenverwaltung und damit auch zu § 270a InsO generell erhöhe. Darüber hinaus sei es sinnvoll, die Anforderungen an einen Sachwalter je nach Art von Verfahren festzusetzen, die der Gesetzgeber für die Eigenverwaltung freigibt.152) Es sei angebracht, in der Eigenverwaltung eine weniger vom Schuldner und dessen Beratern abhängige Auswahl des Sachwalters zu ermöglichen und insoweit auch die Abhängigkeit des Sachwalters vom Berater und die daraus folgende Geneigtheit der Rücksichtnahme auf die Organe des ___________ 147) Im StaRUG-Verfahren gibt es für die Arbeitnehmer kein Insolvenzgeld. Wird dieses für die Betriebsfortführung benötigt, bleibt nur die (vorläufige) Eigenverwaltung (Bork, ZRI 2021, 345). 148) Aufgrund des gemäß Art. 5 Nr. 6 SanInsFoG eingeführten § 10a Abs. 1 Satz 1 InsO hat ein Schuldner, der mindestens zwei der drei in § 22a Abs. 1 InsO genannten Voraussetzungen erfüllt, an dem für ihn zuständigen Gericht Anspruch auf ein Vorgespräch über die für das Verfahren relevanten Gegenstände; insbesondere die Voraussetzungen für eine Eigenverwaltung, die Eigenverwaltungsplanung, die Besetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses, die Person des vorläufigen Insolvenzverwalters oder Sachwalters, etwaige weitere Sicherungsanordnungen und die Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten. 149) Buchalik, INDat-Report 02/2013, 38. 150) Vgl. Haarmeyer/Buchalik, Sanieren statt liquidieren, S. 155. 151) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 298. 152) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 298.
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Schuldners und nahestehende Personen zu verringern.153) Ferner solle geprüft werden, ob § 56a InsO in der Eigenverwaltung und nur dort (Verweis in § 274 InsO) generell gestrichen werden sollte, um derartigen Verflechtungen keinen Vorschub zu leisten. Mit der Erhöhung der Neutralität des Sachwalters könne die Sanierung durchaus gefördert werden.154) 6.
Umsetzung der Evaluation mittels SanInsFoG
Der Gesetzgeber hat mit dem SanInsFoG vom 22.12.2020155) mit Wirkung zum 1.1.2021 69 einen Teil der Vorschläge aus dem Evaluierungsbericht zur Eigenverwaltung aufgegriffen.156) Er hat insbesondere die bisher in §§ 270 – 270c InsO a. F. enthaltenen Regelungen157) zu den Voraussetzungen der Eigenverwaltung, der vorläufigen Eigenverwaltung, dem Schutzschirmverfahren und der Bestellung des Sachverwalters erheblich ausführlicher in den §§ 270 – 270f InsO geregelt.158) Die Anordnung der Eigenverwaltung hat nach Maßgabe des § 270f Abs. 1159) i. V. m. § 270b160) und § 270e InsO zu erfolgen. Das SanInsFoG verzichtet auf den „Nachteilsbegriff“ des § 270 Abs. 2 InsO a. F. und regelt den Zugang zur Eigenverwaltung durch Anordnungs- und Versagungsgründe. Vor allem die Neufassung des § 270a InsO stellt eine nicht unerhebliche Verschärfung 70 des Zugangs zur Eigenverwaltung dar. Neben dem Antrag des Schuldners ist Voraussetzung für die Anordnung der Eigenverwaltung, dass der Schuldner eine umfassende Eigenverwaltungsplanung einreicht. Ergänzend sind eine Reihe von Erklärungen beizufügen, die das Gericht und die Gläubiger bzw. einen eventuell eingesetzten Gläubigerausschuss (vgl. § 270b Abs. 3 InsO) in die Lage versetzen sollen, zu prüfen, ob der Schuldner bereit und in der Lage ist, seine Geschäftsführung an den Interessen der Gläubiger auszurichten (vgl. § 270b Abs. 2 InsO).161) Kommt der Schuldner diesen Anforderungen nach, besteht dann allerdings auch ein klarer Anspruch auf Anordnung der Eigenverwaltung.162) Aufgehoben wurde die in § 270b Abs. 3 InsO a. F. vorgesehene Möglichkeit einer Gene- 71 ralermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten im Schutzschirmverfahren. Sie wurde ersetzt durch die nunmehr in § 270c Abs. 4 InsO geregelte, für alle Eigenverwaltungsverfahren geltende Möglichkeit, Einzelermächtigungen zur Begründung von Masseverbindlichkeiten zu erlassen.163) Neu eingefügt durch das SanInsFoG wurde auch § 270e InsO, der die Voraussetzungen für die Aufhebung der vorläufigen Eigenverwal___________ 153) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 299. 154) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 299. 155) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 156) Graf-Schlicker-Graf-Schlicker, InsO, § 270 Rz. 3. 157) Gemäß Art. 5 Abs. 4 COVInsAG sind die §§ 270 bis 285 InsO a. F. auf Eigenverwaltungsverfahren, die zwischen dem 1.1.2021 und 31.12.2021 beantragt wurden, weiterhin anwendbar, wenn die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Schuldners auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen ist. Darüber hinaus gelten die alten Bestimmungen für alle vor dem 1.1.2021 beantragten Verfahren. 158) Art. 5 Nr. 36 SanInsFoG. 159) Zuletzt geändert durch Art. 11 Nr. 3 des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften, v. 20.7.2022, BGBl. I 2022, 1166. 160) Zuletzt geändert durch Art. 11 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften, v. 20.7.2022, BGBl. I 2022, 1166. 161) Laroche in: Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, § 2 Rz. 19. 162) Fiebig in: HambKomm-InsO, Vorb. zu §§ 270 ff. Rz. 12. 163) Laroche in: Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, § 2 Rz. 20.
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tung normiert. Diese erfolgt nicht durch einen Aufhebungsbeschluss sondern durch Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters. XI.
Die problematische Fortführungsfinanzierung
1.
Die Beschaffung von Liquidität
72 Da der vorläufige Insolvenzverwalter ebenso wie der vorläufige Sachwalter das Unternehmen im Eröffnungsverfahren zunächst fortzuführen hat wie die organschaftlichen Vertreter des Schuldnerunternehmens, stellt sich meist die Frage, wie die Finanzierung der einstweiligen Fortführung sichergestellt werden kann. Ohne ausreichende Liquidität ist weder eine einstweilige noch eine endgültige Fortführung des Schuldnerunternehmens möglich. Ist die Finanzierung der Unternehmensfortführung nicht gewährleistet, bleibt nur eine schnelle Beendigung der Fortführung durch Übergang in ein formelles Insolvenzverfahren oder durch Übertragung des Unternehmens auf einen Dritten im Wege der übertragenden Sanierung.164) Die Frage der Fortführungsfinanzierung ist die Kernfrage jeglicher Unternehmensfortführung innerhalb eines gerichtlichen Insolvenzverfahrens. Das hat auch der Gesetzgeber so gesehen, wenn in der Begründung zu § 311 RegE InsO darauf hingewiesen wird, dass es für das Gelingen einer Sanierung häufig entscheidend ist, dass dem Unternehmen nach der Bestätigung des Sanierungsplans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens „Fresh Money“ zugeführt wird. Ohne eine ausreichende Liquidität lässt sich eine Betriebsfortführung nicht organisieren und es bleibt nichts anderes übrig, als entweder das Unternehmen im Wege der übertragenden Sanierung auf einen „liquiden Dritten“ zu übertragen oder in das Regelverfahren überzugehen.165) 73 Vom vorläufigen Insolvenzverwalter werden oftmals Zahlungszusagen, Bürgschaften oder „Garantieerklärungen“ abgegeben, um den Schuldnerbetrieb am Laufen zu halten. Eine Vorfinanzierung von Insolvenzgeld durch den vorläufigen Verwalter dürfte allerdings wegen Interessenkollision unzulässig sein. Liquidität kann auch geschaffen werden durch ein restriktiveres Forderungsmanagement, Reduktion von Vorratsvermögen, durch Lagerabverkäufe sowie Ausweitung von Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen durch Verlängerung von Zahlungszielen.166) Auch der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter kann aufgrund einer gerichtlichen Einzelermächtigung während des Eröffnungsverfahrens bereits Masseverbindlichkeiten begründen. Inzwischen ist auch weitgehend anerkannt, dass die Absicherung von im Eröffnungsverfahren benötigten Gläubigern durch ein sog. Treuhandkonto ebenfalls in Betracht kommt, sofern das Insolvenzgericht zustimmt.167) Die in § 1 Satz 1 InsO postulierte Sanierungsfunktion des Insolvenzverfahrens wird verstärkt durch die Fortführungspflicht es „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters in § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO, der andererseits eine stärkere Einbeziehung der Gläubiger bereits im Insolvenzeröffnungsverfahren nach § 22a InsO entspricht. 2.
Die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld
74 Eine weitere, aber bedeutsame Möglichkeit der Fortführungsfinanzierung innerhalb eines Insolvenzverfahrens, die allerdings mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden ist168), ist die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld. Nach § 170 Abs. 4 SGB III können Ansprüche auf ___________ Vgl. Undritz in: Kübler, HRI, 1. Aufl., 2012, § 2 Rz. 28. So zutreffend Undritz in: Kübler, HRI, 1. Aufl., 2012, § 2 Rz. 28. So Sendel-Müller, KSI 2007, 262 ff. AG Hamburg, Beschl. v. 8.12.2004 – 67g IN 390/04, ZInsO 2005, 447; Kirchhof in: FS Kreft, S. 359; A. Schmidt in: HambKomm-InsO, § 1 Rz. 47. 168) Näher dazu Küpper/Heinze in: Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, § 3 Rz. 74. 164) 165) 166) 167)
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Arbeitsentgelt schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens zwecks Vorfinanzierung von Insolvenzgeld an einen Dritten übertragen oder verpfändet werden, wenn der neue Gläubiger oder Pfandgläubiger nicht zugleich Gläubiger des Arbeitgebers oder an dessen Unternehmen beteiligt ist und wenn kein Umgehungsgeschäft vorliegt.169) Mittlerweile ist es einhellige Meinung, dass die Ausschöpfung des Insolvenzgeldzeitraums in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen eines fortführungs- und sanierungsfähigen Unternehmens dem Willen des Gesetzgebers jedenfalls entspricht, wenn ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter eingesetzt worden ist.170) „Die Fortführungsfinanzierung bleibt auch nach der Stärkung der Sanierungsinstrumente Eigenverwaltung und Insolvenzplan die Achillesferse eines jeden Sanierungsversuchs“ (Undritz).171)
Meist ist zur Besicherung von Massekrediten kein Vermögen vorhanden. In der Praxis bleibt 75 daher die Vorfinanzierung des Insolvenzgelds durch ein Kreditinstitut die einzige Möglichkeit, die notwendige Liquidität aufrechtzuerhalten. Einzelheiten zur Finanzierung der Betriebsfortführung siehe unten Pluta, § 9. Mit dem Inkrafttreten der InsO gelten für die Ansprüche der Arbeitnehmer auf Zahlung von Insolvenzgeld die Regelungen in den §§ 165 ff. SGB III. Nach § 170 Abs. 4 Satz 1 SGB III ist für die wirksame Übertragung des Entgeltanspruchs auf die Bank die Zustimmung der Agentur für Arbeit erforderlich.172) Da der vorläufige Insolvenzverwalter gemäß § 22 Abs. 1 InsO verpflichtet ist, das Schuldnerunternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen, gewinnt die Finanzierung der offenen und noch anfallenden Personalkosten oftmals verfahrensentscheidende Bedeutung. Ohne die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld müssten viele Verfahren in das Regelverfahren überführt werden, weil es an der notwendigen Liquidität fehlt. Die Insolvenzgeldvorfinanzierung ist auch im Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO 76 möglich und zulässig.173) In der Praxis wird empfohlen, bereits in der Bescheinigung nach § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO Ausführungen in Bezug auf § 170 Abs. 4 SGB III aufzunehmen.174) Generell sollte eine Bank nur dann einer Insolvenzgeldvorfinanzierung zustimmen, wenn im Schutzschirmverfahren ein vorläufiger Gläubigerausschuss nach § 22a InsO bestellt wird. Einzelheiten siehe unten Gerster, § 13 Rz. 170 und Pluta, § 9 Rz. 1 ff. 3.
Die Begründung von Masseschulden
Auf Antrag des Schuldners hat das Gericht gemäß § 270c Abs. 4 Satz 1 InsO anzuordnen, 77 dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründet. Die neue Fassung (zur Generalermächtigung siehe § 270b Abs. 3 InsO a. F.) soll nur die Anordnung sog. Einzelermächtigungen für einzelne Masseverbindlichkeiten ermöglichen.175) Auch hierdurch sollen die Voraussetzungen für eine Unternehmensfortführung für das Schuldnerunternehmen im Eröffnungsverfahren verbessert werden. Sind die Verbindlichkeiten, auf die sich die Ermächtigung beziehen soll, bereits im Finanzplan berücksichtigt, steht dem Gericht kein ___________ 169) Vgl. Pape/Uhlenbruck/Voigt-Salus, Insolvenzrecht, Kap. 20 Rz. 38; Borchardt in: Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren Teil II Rz. 567 ff., S. 158 ff. 170) Vgl. A. Schmidt in: HambKomm-InsO, § 1 Rz. 25. 171) Undritz in: Kübler, HRI, 1. Aufl., 2012, § 2 Rz. 30; s. a. Niering/Hillebrand, Wege durch die Unternehmenskrise, Kap. 9.6 S. 273 ff. 172) Vgl. Pape/Uhlenbruck/Voigt-Salus, Insolvenzrecht, Kap. 9 Rz. 20 ff., S. 89 ff. 173) Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen Insolvenzgeld, Stand: 20.12.2018, Ziff. 3.2 Abs. 1 zu § 170 SGB III, abrufbar unter https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba016429.pdf. 174) Vgl. Haarmeyer/Buchalik, Sanieren statt liquidieren, Ziff. 24.3 S. 161. 175) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 207.
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Ermessen zu. Es hat dem Antrag des Schuldners zu entsprechen.176) Durch den in § 270c Abs. 4 Satz 3 InsO erfolgenden Verweis auf § 55 Abs. 2 InsO erhält das Schuldnerunternehmen zudem im Antragsverfahren bereits die Möglichkeit, wie ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter Masseverbindlichkeiten zu begründen. 78 Sanierungen großer Unternehmen mit einem Umsatz von über 300 Mio. € finden bislang überwiegend im außergerichtlichen Bereich statt. Die unbestreitbaren Vorteile eines Eigenverwaltungsverfahrens nach dem ESUG, wie z. B. Insolvenzgeldvorfinanzierung, erleichterte Kündigung von Dauerschuldverhältnissen, Erfüllungswahlrecht bei bestehenden Aufträgen, Satzungsänderungen, Anteilsübertragungen oder Abberufung und Bestellung von Organen, sind bislang nur in wenigen Fällen wahrgenommen worden. Erfahrungen mit dem ESUG zeigen jedoch hinsichtlich der Abwicklungsgeschwindigkeit und Steuerbarkeit des Verfahrens für die Gläubiger sehr gute praktische Ergebnisse (Einzelheiten siehe Hübl/Kappel-Gnirs, § 15 Rz. 12 ff. R.-D. Mönning, § 11 Rz. 450 ff.).177) Als Grund hierfür werden allgemein der gründliche Vorbereitungsaufwand und eine sachkundige Beratung angeführt. 79 Statt oder neben einer Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten kann der Schuldner auch im Verfahren nach § 270b InsO die Betriebsfortführung durch Vereinbarung einer „Doppeltreuhand“ organisieren.178) Zu beachten ist, dass nach § 55 Abs. 3 Satz 1 InsO die nach § 169 SGB III auf die Bundesagentur übergegangenen Arbeitsentgeltansprüche als Insolvenzforderungen zu behandeln sind. Durch den Insolvenzantrag kann schließlich vor allem in Bezug auf rückständige Mieten (§ 112 InsO) und auf die Finanzierung der laufenden Gehälter (§ 165 SGB III) zumindest vorübergehend der Liquiditätsbedarf reduziert werden.179) 80 Bei der beabsichtigten Betriebsfortführung durch das Schuldnerunternehmen ist oftmals die Liquiditätsbeschaffung das einzige Problem. Bei dem Verkauf nicht betriebsnotwendigen Vermögens ist zu beachten, dass Verwertungshandlungen grundsätzlich dem eröffneten Insolvenzverfahren vorbehalten sind. Die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld ist eine freiwillige Maßnahme, die schließlich auch der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit bedarf (§ 170 Abs. 4 Satz 2 SGB III). Diese wird ihre Zustimmung nur erteilen, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass zumindest eine erhebliche Anzahl von Arbeitsplätzen durch die Betriebsfortführung erhalten werden kann.180) Der Nachweis setzt ein belastbares Fortführungskonzept voraus. 81 Die Liquiditätsbeschaffung erfordert kurzfristige Maßnahmen, die mit erheblichen Haftungsgefahren verbunden sind. So kann z. B. fraglich sein, ob das Schuldnerunternehmen die Eigentumsvorbehaltsware nutzen, verarbeiten oder veräußern darf.181) Eine Sicherungsanordnung des Insolvenzgerichts nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO enthält im Regelfall nicht das Recht zur Einziehung einer sicherheitshalber abgetretenen Forderung und zur Nutzung der abgetretenen Zahlungseingänge im laufenden Geschäftsbetrieb182) (siehe unten Pluta, § 9 Rz. 1 ff.). Die Beschaffung der notwendigen Liquidität hängt oftmals auch von dem ___________ 176) Graf-Schlicker-Graf-Schlicker, InsO, § 270c Rz. 22. 177) Vgl. WBDat/INDat-Report, Das erste Jahre ESUG – Erfahrungen und Analysen aus der Praxis, 2013, S. 8; The Boston Consulting Group (BCG), Empirische Studie, mitgeteilt in INDat-Report 02/2003, 6. 178) Ganter, NZI 2012, 433, 439 f.; K. Schmidt-Undritz, InsO, § 270b Rz. 12. 179) So Niering/Hillebrand, Wege durch die Unternehmenskrise, S. 30. 180) Vgl. Götsch in: Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren, Rz. 1040 ff.; Sinz in: FS Uhlenbruck, S. 157 ff. 181) Vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZInsO 2010, 714, 723 = ZIP 2010, 739. 182) Vgl. auch Ganter, NZI 2010, 551, 552; Borchardt in: Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren Teil II Rz. 573, S. 160.
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Vom Konkurs zum ESUG – Betriebsfortführung als Sanierungsentscheidung
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Vertrauen eines Kreditinstituts in die Fähigkeiten eines vorläufigen Insolvenzverwalters ab. Nicht zuletzt darum ist die Betriebsfortführung in der Insolvenz von einem erfahrenen Insolvenzrechtler leichter zu beurteilen als von einem Anfänger, z. B. bei der Frage, ob eine Insolvenzgeldvorfinanzierung auch im Schutzschirmverfahren möglich ist (siehe unten Dreschers, § 25 Rz. 22 ff.).183) Die InsO i. d. F. des ESUG bietet letztlich dem Krisenunternehmen einen rechtlich und wirtschaftlich geordneten Weg, Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken zu vermeiden.184) Durch das ESUG sollen einem notleidenden Unternehmen Anreize geboten werden, in einer wirtschaftlichen Krisensituation möglichst frühzeitig eine Restrukturierung in einem Insolvenzverfahren anzustreben. Deshalb wurde die Eigenverwaltung gestärkt und das „Schutzschirmverfahren“ (§ 270d InsO = § 270b InsO a. F.) eingeführt.185) XII. Rechtzeitige Einbeziehung der Anteilsinhaber Es gilt als eine der besonderen Errungenschaften des ESUG, dass der Gesetzgeber mit dem 82 Debt Equity Swap die Anteilseigner einer Gesellschaft in das Insolvenzverfahren einbezogen hat. Der durch das ESUG vollzogene Paradigmenwechsel ist gekennzeichnet durch den Grundsatz „Insolvenzrecht überlagert Gesellschaftsrecht“. Die Folge ist, dass Entscheidungszuständigkeiten für gesellschaftsrechtliche Maßnahmen von der früher ausschließlich zuständigen Gesellschafterversammlung nunmehr teilweise auf die Beteiligtenversammlung verlagert werden, in der die Anteilseigner eine Gruppe neben den Gläubiger-Gruppen bilden.186) Die inhaltliche Beschlusskontrolle richtet sich nicht mehr ausschließlich nach Gesellschafterinteressen, sondern orientiert sich weitgehend am Gläubigerinteresse. Zweifelhaft ist allerdings, ob es sich für einen Formwechsel, eine Ausgliederung oder eine Verschmelzung lohnen kann, freiwillig und geplant in ein Insolvenzverfahren zu gehen und die Möglichkeiten einer „Pre-Packaged Bankruptcy“ unter Eigenverwaltung für Restaurierungen zu nutzen187) (siehe unten Prütting, § 2 Rz. 39). Soll durch Insolvenzplan in Anteilsrechte der Gesellschafter eingegriffen werden, müssen sie als selbstständige Gruppe am Planverfahren beteiligt werden (§ 222 Abs. 1 Nr. 4 InsO). Ein solcher Eingriff findet immer statt, wenn der Plan auf eine Fortsetzung der Gesellschaft gerichtet ist, womit die Gesellschafter ihr Liquidationsrecht verlieren und gemäß § 225a Abs. 3 InsO dem insolvenzrechtlichen Fortsetzungsbeschluss unterworfen werden.188) Die Umwandlung von Gläubigerforderungen in Anteilsrechte durch einen Debt Equity 83 Swap“ ist eine Sacheinlage. Eine Forderung darf auf die Einlage nur angerechnet werden, soweit sie vollwertig, fällig und liquide ist. Nach einer im Vordrängen befindlichen Meinung kann die Forderung zum Nominalwert eingelegt werden.189) Einzelheiten siehe Pluta, § 9 Rz. 55 ff. Da die Ursache für die Unternehmenskrise oftmals in der Person des organschaftlichen 84 Vertreters liegt, ist der Austausch häufig Voraussetzung für die erfolgreich fortgesetzte Unternehmenssanierung. Mit der Bestätigung des Insolvenzplans werden die im Plan vorgesehene Abberufung eines Organs und eine gleichzeitige Neubestellung wirksam. Allerdings ist es für diese Maßnahme meist zu spät. Die Abberufung eines Geschäftsführers, der ___________ 183) Vgl. Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1494. 184) Vgl. Ehlers, BB 2013, 1539 ff.; Luttermann/Geißler, ZInsO 2013, 1381 ff.; Römermann/Praß, GmbHR 2012, 425, 426. 185) So Graf-Schlicker, ZInsO 2013, 1765. 186) Vgl. Haas, NZG 2012, 961, 964; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz. 187) So teilweise wörtlich Madaus, ZIP 2012, 2133, 2139. 188) Vgl. K. Schmidt-Spliedt, InsO, § 225a Rz. 5. 189) Vgl. Hölzle in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 26 Rz. 26, der zutreffend von einem „Verdrängungsbereich II“ spricht; Fischer, NZI 2013, 823 ff.
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§1
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
die Unternehmenskrise zu verantworten hat, sollte bereits im Vorverfahren erfolgen und durch Insolvenzplan bestätigt werden. XIII. Konzerninsolvenzrecht 85 Bis zum 21.4.2018 berücksichtigte die InsO die Insolvenz verbundener Unternehmen weder im Text noch konzeptionell.190) Dies änderte sich durch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen vom 13.4.2017191), das am 21.4.2018 in Kraft getreten ist. Es bildet keinen eigenständigen Teil der InsO. Die einzelnen Regelungen finden sich vielmehr als Einzelnormen bei den Zuständigkeitsvorschriften (§§ 3a bis 3e InsO) und in einem besonderen Kapitel, dem Siebten Teil der InsO (Koordinierung von Verfahren von Schuldnern, die derselben Unternehmensgruppe angehören, §§ 269a bis 269i InsO). 86 Vor Inkrafttreten des Gesetzes wurden Konzerninsolvenzen in der gerichtlichen Praxis meist pragmatisch bewältigt. Es hatten sich insoweit „Best-Practice“-Standards herausgebildet. Insolvenzgerichte und Insolvenzverwalter behalfen sich mit einer flexiblen Interpretation des geltenden Insolvenzrechts und ermöglichten auf diese Weise weitgehend eine koordinierte Abwicklung der einzelnen Insolvenzverfahren über konzernverbundene Unternehmen.192) 87 Das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen ermöglicht im Falle der Insolvenz einer Unternehmensgruppe i. S. des § 3e InsO eine koordinierte Insolvenzabwicklung durch örtliche und personelle Verfahrenskonzentration und die rechtliche Verankerung von Informations-, Koordinations- und Kooperationspflichten.193) Die bessere Abstimmung fördert die wirtschaftliche Einheit des Konzerns. Der daraus folgende wirtschaftliche Mehrwert kann im Interesse der Gläubiger genutzt werden. Die Regelungen des Konzerninsolvenzrechts stellen im Zusammenwirken mit der Eigenverwaltung – häufig in der besonderen Ausgestaltung des Schutzschirmverfahrens – ein geeignetes Mittel zur Bewältigung von Konzerninsolvenzen dar.194) Dies gilt insbesondere bei einer beabsichtigten Betriebsfortführung mit einer konkreten Sanierungsaussicht.195) Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass der Gesetzgeber keine konzernweite Eigenverwaltung geregelt hat. Mit der Aufrechterhaltung der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis der einzelnen konzernverbundenen Unternehmen durch Anordnung der Eigenverwaltung kann wirksam der Gefahr begegnet werden, dass in den parallelen Verfahren unterschiedliche Abwicklungsstrategien erwogen und umgesetzt werden.196) Auf diese Weise wird auch die erfolgreiche Umsetzung des ggf. für den gesamten Konzern entworfenen Insolvenzplans erleichtert.197) 88 Obwohl die EU-Restrukturierungsrichtlinie den Konzern als Sanierungsobjekt weitgehend unberücksichtigt lässt,198) finden sich dazu in den geänderten Bestimmungen der InsO aufgrund des SanInsFoG und im StaRUG sanierungsfördernde Regelungen. So kann durch einen Restrukturierungs- oder Insolvenzplanplan in Drittsicherheiten eingegriffen werden. Während das StaRUG für das vorgerichtliche Verfahren diese Möglichkeit in § 2 Abs. 4 StaRUG vorsieht, enthält die InsO in § 254 Abs. 2 Satz 1 i. V. m §§ 217 Abs. 2, 230 Abs. 4 ___________ 190) 191) 192) 193) 194) 195) 196) 197) 198)
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Vallender in: Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, § 20 Rz. 12. Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866. Vallender in: Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, § 20 Rz. 12. Vallender, NZI 2020, 761. Vallender, NZI 2020, 761 m. w. N. Vgl. BGH, Urt. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, Rz. 16, NZI 2016, 963, 964. Vallender, NZI 2020, 761, 762. Harder/Lojowsky, NZI 2013, 327, 331. Hoegen/Kranz in: Flöther, Sanierungsrecht, Kap. 1 Rz. 44.
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§1
InsO entsprechende Regelungen. Die Notwendigkeit von Eingriffen in Drittsicherheiten rechtfertigt sich nach Ansicht von Hoegen/Kranz199) im Sanierungskontext durch die Haftungsgemeinschaft zentraler Konzernfinanzierungen mit umfassender Up- und CrossStream Besicherung. § 49 Abs. 3 StaRUG ermöglicht zudem die Einbeziehung von gruppeninternen Sicherheiten in eine Stabilisierungsanordnung. XIV. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es ein Ziel des ESUG ist, der Eigenverwal- 89 tung und der Betriebsfortführung in der Insolvenz zu mehr Akzeptanz in der Praxis zu verhelfen und sie für die Schuldner planbar zu machen. § 270a Abs. 1 InsO verlangt für den Zugang zur Eigenverwaltung eine umfangreiche sog. Eigenverwaltungsplanung. Zusammen mit den beizufügenden Erklärungen nach § 270a Abs. 2 InsO und den Vorgaben in § 270b InsO hat der Gesetzgeber die Anforderungen gegenüber den bis zum Inkrafttreten des SanInsFoG200) geltenden Vorschriften zwar erhöht, gleichzeitig dem Schuldner aber mehr Planungssicherheit gegeben:201) Erfüllt er die gesetzlichen Voraussetzungen, besteht ein klarer Anspruch auf Anordnung der Eigenverwaltung.202) Bislang sind Eigenverwaltungsverfahren weitgehend bei Sanierungen großer Unternehmen 90 genutzt worden. Es hat sich herausgestellt, dass das ESUG erhebliche Anforderungen an die Fachkompetenz von Beratern, Insolvenzverwaltern und Insolvenzrichtern stellt. Der organschaftliche Vertreter eines Schuldnerunternehmens ist mit den gesetzlichen Maßnahmen, die die Unternehmensfortführung gewährleisten und sich am IDW-Standard „IDW S 6“ zu orientieren haben, im Allgemeinen überfordert. Das inzwischen weitgehend perfekte Sanierungsgesetz erfordert deshalb in seiner Anwendung professionelle Rechtsanwender. Neben die in der außergerichtlichen Praxis erfolgreiche „freie Sanierung“ ist seit dem 1.1.2021 91 das außergerichtliche Sanierungsverfahren (Unternehmensstabilisierungs- und restrukturierungsgesetz – StaRUG) getreten. Die Akzeptanz des mit diesem Gesetz angebotenen Sanierungs- und Restrukturierungsrahmens ist bislang indes eher bescheiden. So sind im Jahre 2021 lediglich 22 Anzeigen für Restrukturierungsvorhaben (§ 31 StaRUG) bei den Restrukturierungsgerichten eingegangen. Aus ihnen gingen vier gerichtlich bestätigte Restrukturierungspläne hervor, fünf Mal erfolgte die Rücknahme der Anzeigen durch den Schuldner und vier Verfahren waren Ende 2021 noch rechtshängig.203) Ob sich das StaRUG als Erfolgsmodell erweisen wird, bleibt abzuwarten. Bedeutung dürfte es insbesondere bei einer finanziellen Restrukturierung erlangen (siehe § 2 Abs. 2 StaRUG).204) Auch die Möglichkeit der internationalen Anerkennung des Verfahrens seit dem 17.7.2022 dürfte die Attraktivität des StaRUG erhöhen.205) Unbeschadet dessen behält das klassische Insolvenzverfahren in Form eines Regel-, Eigen- 92 verwaltung- oder Schutzschirmverfahrens seine Relevanz für die Fälle, bei denen bereits der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung vorliegt. Es ermöglicht den Eingriff in die Rechte von Arbeitnehmern, erlaubt anders als das StaRUG (vgl. § 44 StaRUG) einen Eingriff in bestehende Vertragsverhältnisse (§§ 103 ff. InsO)206) und ___________ 199) 200) 201) 202) 203) 204) 205) 206)
Hoegen/Kranz, NZI 2021, 105, 107. Art. 25 Abs. 1 SanInsFoG. Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 203. Fiebig in: HambKomm-InsO, Vorbemerkung zu §§ 270 ff. Rz. 12. INDat-Report 01/2022, 75. de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 672. Die §§ 84 bis 88 StaRUG sind gemäß Art. 25 Abs. 3 Nr. 1 SanInsFoG am 17.7.2022 in Kraft getreten. Die ausführlich und kontrovers diskutierte Frage, ob außerhalb eines Insolvenzverfahrens ein Eingriff in bestehende Vertragsverhältnisse zulässig sein darf, hat der Gesetzgeber durch Streichung der entsprechenden Vorschriften im StaRUG-E beantwortet (Schülke, DStR 2021, 621, 625 mit Literaturnachweisen).
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§1
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bietet den großen Vorteil einer Insolvenzgeldvorfinanzierung. Unerlässlich für den Erfolg einer angestrebten Sanierung ist aber auch insoweit, dass der Schuldner, der sich für das Eigenverwaltungsverfahren als Sanierungsoption entscheidet, dieses rechtzeitig und gewissenhaft vorbereitet, bevor er unter den von einer akuten Zahlungsunfähigkeit ausgehenden Handlungsdruck gerät. 93 Die unbestreitbaren Vorteile eines Insolvenzverfahrens für eine fortführende Sanierung hat bereits zu einem Umdenken bei den Schuldnern geführt. Vor allem durch das Schutzschirmverfahren wird einem Schuldner bzw. einem Schuldnerunternehmen hinreichend Zeit für eine sorgfältige Sanierungsplanung unter dem Schutz des Insolvenzgerichts verschafft.207) Die frühzeitige Einbindung der wesentlichen Gläubiger in das Verfahren entsprechend dem sog. „Pre-Arranged-Deal“ erweist sich in den meisten Fällen als hilfreich. Die Rolle, die Insolvenzrichter, vorläufiger Gläubigerausschuss und vorläufiger Sach- bzw. Insolvenzverwalter im Eröffnungsverfahren spielen, gewinnt zunehmend an Bedeutung. 94 Nicht abschrecken, sondern anspornen sollte die Tatsache, dass in der Diskussion zur Anwendung von Neuregelungen des ESUG zahlreiche Streitfragen auftreten. So hat der Streit der Gesellschafter im Schutzschirmverfahren des Suhrkamp-Verlags208) die Frage aufgeworfen, ob insoweit der Vorwurf eines „missbräuchlichen Insolvenzverfahrens“ zu erheben und ob das Schutzschirmverfahren ein taugliches Instrument ist, Gesellschafterstreitigkeiten zu bereinigen. Die Antwort ist einfach: Liegen die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vor, ist der Weg offen, im eröffneten Verfahren auch gesellschaftsrechtliche Probleme durch Insolvenzplan zu lösen. Förderlich für eine Betriebsfortführung ist auch die Möglichkeit, dass das Gericht im Eigenverwaltungseröffnungsverfahren auf Antrag anordnen kann, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründen kann (§ 270c Abs. 4 Satz 1 InsO). Richtig ist, dass der Gesetzgeber mit dem „Schutzschirmverfahren“ dem Schuldner eine gewisse Atempause verschafft, um die Sanierung so vorzubereiten, dass sie den gesetzlichen Anforderungen entspricht. „Die Rechtspraxis hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass sie – unterstützt durch eine umfangreiche Aufsatz- und Kommentarliteratur – in der Lage ist, Anfangsschwierigkeiten bei der Anwendung neuer Regelungen erfolgreich zu überwinden.“209)
95 Das Strafbarkeitsrisiko für Berater, Schuldner und Sachwalter sowie die strafrechtlichen Risiken der Mitglieder des Gläubigerausschusses und der Neugesellschafter bedürfen noch einer eingehenden Klärung. Die Schnittstelle zwischen Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht wirft noch eine Fülle von Problemen auf, die ebenso der Bewältigung durch die Gerichte und die Praxis bedürfen wie die Folgen des ESUG zum Insolvenzarbeitsrecht oder die Wertberechnung bei Unternehmensfortführung.210) Nach zutreffender Feststellung von Karsten Schmidt211) hat sich „[…] das Insolvenzrecht immer mehr unternehmensrechtliche Aufgaben aufgeladen und begonnen, die Wirtschaftswelt – weit über die bloß haftungsrechtliche Befassung mit Interessen von Gläubigern und Schuldnern hinaus – mitzuprägen.“
96 Die Handhabung des neuen Instrumentariums durch das Insolvenzgericht und die Beteiligten setzt gesellschaftsrechtliche und insolvenzrechtliche Sachkenntnis sowie viel wirtschaftliches Fingerspitzengefühl voraus. Der Fall „Suhrkamp“ zeigt, dass die InsO i. d. F. ___________ Vgl. Vallender, GmbHR 2012, 450 ff. Vgl. Fölsing, ZInsO 2013, 1325 ff. So Graf-Schlicker, ZInsO 2013, 1765. Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.7.2010 – I-10 W 60/10, ZIP 2010, 1911; OLG München, Urt. v. 8.8.2012 – 11 W 832/12, ZInsO 2012, 1722; LG Leipzig, Beschl. v. 28.2.2013 – 8 T 325/12, ZInsO 2013, 684. 211) K. Schmidt, BB 2011, 1603 ff. 207) 208) 209) 210)
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des ESUG durchaus geeignet ist, mittels Insolvenzverfahrens auch gesellschaftsrechtliche Probleme zu lösen, solange nicht der Insolvenzzweck verlorengeht. Festzuhalten bleibt weiterhin, dass Insolvenzanträge viel zu spät gestellt werden. Meist ist 97 es für eine fortführende Sanierung des Unternehmens zu spät. Will das ESUG seinen Sanierungsauftrag erfüllen, bedarf es gewisser Grundkenntnisse beim Schuldner bzw. eines Krisenmanagements und eines sachkundigen Beraters, der zu angemessenem Honorar im Stande ist, für das Krisenunternehmen ein tragfähiges Sanierungskonzept zu erstellen. Die nachfolgenden Beiträge werden Möglichkeiten und Wege aufzeigen einem Krisenunternehmen mit Hilfe von ausgewiesenen Sachkennern und auf der Grundlage des StaRUG in einem außergerichtlichen Verfahren oder des ESUG in einem Insolvenzverfahren den Betrieb nachhaltig zu restrukturieren und das Unternehmen mit einer oftmals Vielzahl von Arbeitsplätzen zu erhalten und fortzuführen. Ein rechtlich wie betriebswirtschaftlich und steuerlich durchdachtes Sanierungskonzept kostet Zeit. Ein Geschäftsführer oder Vorstand sollte es bei beabsichtigter Eigenverwaltung und Betriebsfortführung nicht so weit kommen lassen, dass er den Sanierungszeitraum des Schutzschirmverfahrens benötigt. Unter dem Gesichtspunkt der neuen Insolvenzkultur hat Pluta212) die Frage gestellt „Sa- 98 nierung in der Insolvenz – Für wen?“ Richtig ist, dass eine Vielzahl von Interessen bei der Entscheidung über die Fortführung im Insolvenzverfahren mitspielen. Auch wenn man nicht mit dem allgemeinen Sanierungsstandard IDW S 6 davon ausgeht, dass ein Unternehmen erst saniert ist, wenn es eine branchenübliche Rendite abwirft, erfordert die Nachhaltigkeit der Sanierung, dass die Existenz des Krisenunternehmens für das laufende und das folgende Jahr gesichert ist. Der Erfolg zeigt sich erst im dauerhaften Erhalt des Unternehmens oder in der Höhe der Quote für gesicherte und für ungesicherte Gläubiger. „Allerdings kann es“, nach Pluta „ungesicherten Gläubigern passieren, dass sich – je nach Verfahrenssteuerung – keiner mehr um sie kümmert“ (sog. „forgotten men“). Dass dieses nicht geschieht, gilt es zu vermeiden. Dass für die Restrukturierung von Kreditinstituten Sonderregelungen gelten, die die Stabilität des Finanzmarktsystems garantieren sollen, muss im Interesse eines umfassenden Anlegerschutzes hingenommen werden.213) Durch das ESUG sollte die Möglichkeit einer außergerichtlichen Restrukturierung kei- 99 neswegs ausgeschlossen werden. Vielmehr ermöglicht das am 1.1.2021 in Kraft getretene StaRUG Unternehmen, sich auf der Grundlage eines von den Gläubigern mehrheitlich angenommenen Restrukturierungsplans zu sanieren. Es schließt die Lücke, die das frühere Sanierungsrecht zwischen dem Bereich der freien, dafür aber auf den Konsens aller Beteiligten angewiesenen Sanierung einerseits und der insolvenzverfahrensförmigen Sanierung mit ihren Kosten und Nachteilen gegenüber der freien Sanierung gelassen hat.214) Dieser Restrukturierungsrahmen soll es dem Unternehmen grundsätzlich ermöglichen, die Verhandlungen zu dem Plan selbst zu führen und den Plan selbst zur Abstimmung zu stellen. Bestandsfähige Unternehmen, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, sollen Zugang zu wirksamen nationalen präventiven Restrukturierungsrahmen haben, die es ihnen erlauben, ihren Betrieb fortzusetzen. Daneben ermöglicht es unter bestimmten Voraussetzungen eine Sanierung ohne den „Makel“ der Insolvenz.215) Die einzelnen Beiträge in diesem Werk sollen dazu beitragen, Vertrauen in die Möglichkeiten aufzubauen, die der deutsche Gesetzgeber mit dem StaRUG und dem ESUG Krisenunternehmen als Mittel einer nachhaltigen Restrukturierung anbietet. ___________ 212) Pluta, ZInsO 2013, 1404. 213) Vgl. Pannen, Krise und Insolvenz bei Kreditinstituten; Kuder, Neues Restrukturierungsrecht für Banken, in: Bankrechtstag 2011, S. 95 ff.; Gößmann/Frege/Nicht in: Kübler, HRI, 2. Aufl., 2015, § 58 Rz. 1 ff. 214) RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 1. 215) Schülke, DStR 2021, 621.
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§2 Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung Prütting
Übersicht I. II. III. 1.
2.
3.
Einleitung.................................................. 1 Die Bedeutung von Verfahrensgrundsätzen............................................... 2 Die klassischen Verfahrensgrundsätze............................................................ 3 Verfassungsrechtlich garantierte Verfahrensgrundsätze ............................... 4 1.1 Rechtsstaatsprinzip ......................... 4 1.2 Gesetzlicher Richter........................ 7 1.3 Rechtliches Gehör ........................... 8 1.4 Justizgewährung .............................. 9 1.5 Willkürverbot................................. 10 1.6 Materieller Grundrechtsschutz..... 11 1.7 Informationelle Selbstbestimmung ....................................... 12 Allgemeine Verfahrensgrundsätze ......... 13 2.1 Dispositionsmaxime...................... 13 2.2 Untersuchungsgrundsatz.............. 14 2.3 Amtsbetrieb ................................... 15 2.4 Mündlichkeit.................................. 16 2.5 Unmittelbarkeit ............................. 17 2.6 Öffentlichkeit ................................ 18 2.7 Konzentrationsmaxime ................. 19 2.8 Förderung gütlicher Einigung ...... 20 Spezielle insolvenzrechtliche Verfahrensgrundsätze ............................. 21
3.1
Gleichmäßige Gläubigerbefriedigung ................................... 21 3.2 Universalität................................... 22 3.3 Geldliquidation .............................. 25 3.4 Formalisierung............................... 26 3.5 Gläubigerautonomie...................... 27 3.6 Einheit des Verfahrens .................. 28 3.7 Nachforderung und Entschuldung ....................................... 29 IV. Die Verfahrensgrundsätze bei Fortführung und Sanierung ........... 30 1. Grundsatz ................................................ 30 2. Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit ..... 31 3. Die Sanierungsinstrumente..................... 33 4. Abweichung von Verfahrensgrundsätzen?...................................................... 38 4.1 Einheit des Verfahrens .................. 38 4.2 Dispositionsmaxime...................... 40 4.3 Förderung gütlicher Einigung ...... 41 4.4 Untersuchungsmaxime ................. 42 V. Ethik und Betriebsfortführung ............ 43 VI. Fortführungs- und Insolvenzwürdigkeit .............................. 46 VII. Pflichtenentlastung und Freistellung von Risiken bei Betriebsfortführung?........................................................ 49
Literatur: Bork, Sanierungsrecht in Deutschland und England, 2011; Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./ Thole, ESUG-Evaluierung, Forschungsbericht zur Evaluierung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7. Dezember 2011, 2019; Kassing, Mediation im Insolvenzrecht, in: Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, 3. Aufl. 2016, S. 845; Prütting, Rechtsmissbrauch und Insolvenzantrag, in: Festschrift für Bruno Kübler, 2015, S. 567; Prütting, Allgemeine Verfahrensgrundsätze der Insolvenzordnung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung (Kap. 1), 3. Aufl., 2009, S. 1; Thole, Die Reform der Eigenverwaltung: Eine Umsetzung der ESUG-Evaluation?, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 90; Thole, Treuepflicht-Torpedo? Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht im Insolvenzverfahren (Zugleich Besprechung LG Frankfurt/M. v. 10.9.2013 – 3-09 O 96/13, ZIP 2013, 1831 – Suhrkamp), ZIP 2013, 1937.
I.
Einleitung
Dem Gedanken der Fortführung und Sanierung von Unternehmen liegen bestimmte ver- 1 fahrensrechtliche Rahmenbedingungen zugrunde, die im Folgenden einer Betrachtung unterzogen werden sollen. Zu denken ist dabei in erster Linie an die allgemeinen Verfahrensgrundsätze, die jeder prozessualen Abwicklung zugrunde liegen (siehe dazu Rz. 2 ff., 3 ff., 30 ff.). Darüber hinaus haben ethische Aspekte eine gewisse Bedeutung (siehe Rz. 43 ff.) In jüngster Zeit hat sich die Diskussion insbesondere auf die Insolvenzwürdigkeit und damit in direktem Zusammenhang auf die Fortführungswürdigkeit fokussiert (siehe Rz. 46). Abschließend wird der Gesichtspunkt der Pflichtenentlastung angesprochen (siehe Rz. 49).
Prütting
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§2 II.
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung Die Bedeutung von Verfahrensgrundsätzen
2 Strukturprinzipien und Verfahrensabläufe lassen sich in jedem geordneten Verfahren i. R. gewisser Grundsätze systematisieren. Solche Grundsätze sind für eine prozedurale Gerechtigkeit von erheblicher Bedeutung. Denn sie verweisen auf das Gesamtverständnis einer Verfahrensordnung und auf die dahinterstehenden Gerechtigkeitsmaßstäbe des Gesetzgebers. Nur durch solche Verfahrensgrundsätze lassen sich der allgemeine Aufbau einer Prozessordnung, seine tragenden Elemente und letztlich die Gesamtstruktur des Verfahrens ermitteln und darstellen. Durch die Herausarbeitung von Verfahrensgrundsätzen kann also eine Diskussion über konkrete einzelne Fragen durchaus erleichtert werden. Auch jede Rechtsvergleichung setzt solche allgemeinen Strukturmerkmale und Verfahrensgrundsätze voraus. Schließlich baut die methodische Fortentwicklung einer Verfahrensordnung auf solchen Strukturmerkmalen auf. Es erstaunt daher, dass sich im Insolvenzrecht nur sehr selten Überlegungen zu den Verfahrensmaximen finden lassen.1) III.
Die klassischen Verfahrensgrundsätze
3 Will man sich einen Überblick über die Verfahrensgrundsätze des geltenden Insolvenzrechts verschaffen, so liegt es nahe, eine Dreiteilung vorzunehmen. x
Zunächst wirkt das Verfassungsrecht auf das Insolvenzrecht ein. Daher lassen sich diejenigen verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundsätze zusammenstellen, die sich unmittelbar aus der Verfassung herauslesen lassen.
x
Darüber hinaus verweist § 4 InsO bekanntlich auf die Vorschriften der ZPO, die i. R. des Insolvenzverfahrens subsidiär zur Anwendung kommen können. Daher ist es sinnvoll, im Anschluss an die verfassungsrechtlichen Grundlagen eine Zusammenstellung der allgemeinen Verfahrensgrundsätze zu geben, wie sie typischerweise auch in einem zivilprozessualen Verfahren zu erörtern wären.
x
Schließlich kann man eine dritte Gruppe von Verfahrensgrundsätzen zusammenstellen, die sich in dieser Form allein aus dem geltenden Insolvenzrecht herauslesen lassen und die durch ganz spezielle insolvenzrechtliche Aspekte geprägt sind.
1.
Verfassungsrechtlich garantierte Verfahrensgrundsätze2)
1.1
Rechtsstaatsprinzip
4 An erster Stelle ist hier das Rechtsstaatsprinzip zu nennen, wie es in Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG niedergelegt ist. Kennzeichen des Rechtsstaatsprinzips ist es, dass es von der Rechtsprechung des BVerfG nach Art einer grundlegenden Generalklausel herangezogen wird, um einzelne speziellere Verfahrensgrundsätze aus ihm heraus zu entwickeln. Zu diesen Grundsätzen gehören die Gesetzesbindung der Gerichte sowie der Grundsatz der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit des Verfahrens, den man nicht selten mit dem Schlagwort der „Justizförmigkeit“ zum Ausdruck bringt. 5 Weiterhin ist aus dem Rechtsstaatsprinzip das Gebot des effektiven Rechtsschutzes entwickelt worden. Damit wird vor allem die wirksame Kontrolle aller Rechtsakte durch die zuständige Gerichtsbarkeit charakterisiert. Ein Teilaspekt des Gebots des effektiven Rechtsschutzes ist der Beschleunigungsgrundsatz. Er soll sicherstellen, dass jedes Verfahren in einer zügigen und rechtsstaatlich vertretbaren Weise abgewickelt wird. Das insolvenzrecht___________ 1) Eine Ausnahme machen Stürner in: MünchKomm-InsO, Einl. Rz. 46 ff.; Prütting in: Kölner Schrift, S. 1 ff. 2) Zu den verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundsätzen im Einzelnen vgl. Stürner in: MünchKommInsO, Einl. Rz. 77 ff.; Prütting in: Kölner Schrift, S. 1 ff, Rz. 7 ff.
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Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung
§2
liche Eröffnungsverfahren ist als ein Eilverfahren in besonderer Weise dem Beschleunigungsgrundsatz unterstellt. Aus dem Zusammenwirken von materiellen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip 6 hat das BVerfG den Anspruch auf ein faires Verfahren entwickelt. Soweit also einer Partei (insbesondere in der Zwangsvollstreckung) große materielle Verluste drohen, ergibt sich aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren die Forderung an den Richter, diese Partei gesondert über die Rechtslage zu belehren. Schließlich ist das Gebot der Waffengleichheit im Prozess sowie das Verbot einer überlangen Verfahrensdauer ein Ausschluss des Rechtsstaatsprinzips. Das Problem der überlangen Verfahrensdauer ist daneben insbesondere in Art. 6 Abs. 1 EMRK ausdrücklich geregelt. 1.2
Gesetzlicher Richter
Aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt sich die Garantie des gesetzlichen Richters und damit 7 das Gebot, für jede einzelne Rechtssache den zuständigen Spruchkörper und den zuständigen Richter im Voraus möglichst eindeutig in einer allgemeinen Norm festzulegen. Die einzelnen Normen der Gerichtsverfassung, die jeweiligen Zuständigkeitsnormen der Prozessordnungen und die ergänzenden Regeln aus dem Geschäftsverteilungsplan sind daher Ausprägungen dieses grundgesetzlichen Gedankens. Insbesondere soll durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verhindert werden, dass innerhalb der Gerichtsorganisation Manipulationen vorkommen. 1.3
Rechtliches Gehör
In Art. 103 Abs. 1 GG ist der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör nieder- 8 gelegt. Er kann heute als ein absolut zentrales prozessuales Grundrecht gelten. In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör in drei verschiedenen Schritten zu realisieren ist. Für die Parteien besteht zunächst ein Recht auf Orientierung, also auf Benachrichtigung vom Verfahren, auf Mitteilung von Äußerungen anderer Beteiligter sowie auf Akteneinsicht. In einem zweiten Schritt gibt der verfassungsrechtliche Grundsatz rechtlichen Gehörs jeder Partei das Recht auf Äußerung. Schließlich und in zentraler Weise wird in einem dritten Schritt durch diesen Grundsatz das Gericht verpflichtet, das Parteivorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. 1.4
Justizgewährung
Verfassungsrechtlich garantiert ist weiterhin der Justizgewährungsanspruch (auch Rechts- 9 schutzgarantie genannt). So ergibt sich aus Art. 19 Abs. 4 GG unmittelbar eine solche Garantie des Zugangs zu Gericht für jedermann bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Über diesen Wortlaut der Verfassung hinaus ist aber auch für alle privatrechtlichen Streitigkeiten anerkannt, dass sich eine Garantie des umfassenden Rechtsschutzes aus der Verfassung ableiten lässt. Neben Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG werden als Rechtsgrundlagen häufig das Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 2 Abs. 1 GG genannt. 1.5
Willkürverbot
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist auch im Verfahren von Bedeutung. 10 Das BVerfG hat aus ihm das Willkürverbot entwickelt, das sich auch für die konkrete Ausgestaltung von Verfahrensnormen fruchtbar machen lässt.
Prütting
43
§2 1.6
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung Materieller Grundrechtsschutz
11 Das BVerfG hat ferner konkrete Folgerungen für das Verfahrensrecht auch unmittelbar aus einzelnen materiell-rechtlichen Grundrechten gezogen. Dies gilt insbesondere für die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, für das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 Abs. 2 GG sowie für den Gesichtspunkt der Berufsfreiheit des Art. 12 GG. 1.7
Informationelle Selbstbestimmung
12 Prozessuale Bedeutung hat auch der verfassungsrechtliche Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung. Dieses Grundrecht hat das BVerfG aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG entwickelt. 2.
Allgemeine Verfahrensgrundsätze3)
2.1
Dispositionsmaxime
13 Die Verfahrenseinleitung und die Verfahrensherrschaft werden je nach Ausgestaltung im Einzelnen durch den Gegensatz von Dispositionsmaxime und Offizialprinzip gekennzeichnet. Im Insolvenzrecht gibt es keine Verfahrenseinleitung ohne Antrag. Darin spiegelt sich die Dispositionsmaxime deutlich wider. Im weiteren Verlauf des Verfahrens wird freilich die Parteiherrschaft über den Verfahrensgegenstand und über das Verfahrensende sehr stark eingeschränkt. Insofern kann man nur von einer beschränkten Dispositionsmaxime sprechen. Durch das ESUG ist jedoch die Dispositionsfreiheit der Gläubiger deutlich erweitert worden. Die moderne Entwicklung des Insolvenzrechts strebt also nach einer Verstärkung der Dispositionsmaxime. 2.2
Untersuchungsgrundsatz
14 Die Sammlung und Beibringung des Tatsachenstoffs in einem Verfahren wird durch den Gegensatz von Verhandlungsmaxime und Untersuchungsgrundsatz geprägt. Das Insolvenzrecht hat hier in § 5 Abs. 1 InsO ganz klar den Untersuchungsgrundsatz gesetzlich festgeschrieben. Daran ändern die im Einzelnen vorhandenen Mitwirkungspflichten der Beteiligten nichts. 2.3
Amtsbetrieb
15 Der formale Verfahrensgang ist durch den Amtsbetrieb gekennzeichnet (Gegensatz: Parteibetrieb). Danach ist das Insolvenzgericht zuständig für Terminsanberaumungen, Ladungen, Zustellungen, Bekanntmachungen und Eintragungen. 2.4
Mündlichkeit
16 Die Form des wirksamen prozessualen Handelns von Gericht und Parteien wird durch den Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit näher bestimmt. In der InsO gilt insoweit der Grundsatz der fakultativen Mündlichkeit. Dies ergibt sich insbesondere aus § 5 Abs. 2 und Abs. 3 InsO. Dabei ist i. R. der Änderungen durch das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens vom 15.7.20134) das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Weise neu geregelt worden, dass nunmehr das schriftliche Verfahren insoweit der Regelfall sein soll. ___________ 3) Zu den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen im Einzelnen vgl. Stürner in: MünchKomm-InsO, Einl. Rz. 47 ff.; Prütting in: Kölner Schrift, S. 1 ff., Rz. 38 ff. 4) Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, v. 15.7.2013, BGBl. I 2013, 2379.
44
Prütting
Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung 2.5
§2
Unmittelbarkeit
Im Zivilprozess ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit anerkannt, wonach die mündliche 17 Verhandlung und insbesondere die Beweisaufnahme unmittelbar vor dem erkennenden Gericht durchzuführen sind (vgl. im Einzelnen §§ 128 Abs. 1, 355 Abs. 1, 309 ZPO). Im Insolvenzrecht wird der Grundsatz der Unmittelbarkeit regelmäßig nicht näher behandelt. Denn da das Insolvenzrecht keine zwingende Mündlichkeit des Verfahrens kennt, kann insoweit auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht streng durchgeführt werden. Soweit aber auch im Insolvenzrecht die Mündlichkeit des Verfahrens beachtet wird, muss ebenfalls der Grundsatz der Unmittelbarkeit gelten. Dagegen verliert der Grundsatz der Unmittelbarkeit im eröffneten Verfahren aufgrund der Kompetenzen des Insolvenzverwalters vollkommen an Bedeutung. 2.6
Öffentlichkeit
Ähnlich wie die Unmittelbarkeit beruht auch der Grundsatz der Öffentlichkeit auf dem 18 Prinzip der Mündlichkeit. Soweit daher Mündlichkeit nur fakultativ vorgesehen ist, kann auch der Grundsatz der Öffentlichkeit nur fakultativ Beachtung finden. Im Übrigen bezieht sich der Grundsatz der Öffentlichkeit nur auf die Gerichtsverhandlungen (§ 169 Satz 1 GVG). Dagegen ist eine Gläubigerversammlung grundsätzlich nicht öffentlich. Öffentlich ist demgegenüber die Bekanntgabe einer Entscheidung des Insolvenzgerichts (§§ 23, 30, 252 InsO). 2.7
Konzentrationsmaxime
Vielfältige verfahrensrechtliche Einzelregelungen, die der Beschleunigung und der Konzen- 19 tration des Verfahrens dienen, werden teilweise auch unter dem Begriff der Konzentrationsmaxime zusammengefasst. Hierher gehören also gesetzliche oder richterliche Fristen, Vorschriften zur Straffung des Verfahrensablaufs sowie insbesondere Präklusionsmöglichkeiten. 2.8
Förderung gütlicher Einigung
Besonderes Gewicht hat in jüngerer Zeit der Verfahrensgrundsatz der Förderung einer güt- 20 lichen Einigung erhalten. Im Zivilprozess ist dieser Grundgedanke insbesondere in § 278 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5 und Abs. 6 sowie in § 278a ZPO niedergelegt. Im Insolvenzrecht wird man die sich aus den §§ 278, 278a ZPO ergebenden Grundgedanken ebenfalls anwenden können. Jedenfalls ist anerkannt, dass auch im Insolvenzverfahren eine Mediation sowohl außergerichtlich als auch während des Verfahrens möglich erscheint.5) 3.
Spezielle insolvenzrechtliche Verfahrensgrundsätze6)
3.1
Gleichmäßige Gläubigerbefriedigung
An erster Stelle ist der Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung (par conditio 21 creditorum) zu nennen, der im Insolvenzrecht als das beherrschende Prinzip anzusehen ist. Er steht im Gegensatz zum Prioritätsprinzip der Einzelzwangsvollstreckung und sichert im Insolvenzverfahren den grundlegenden Vorgang einer gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger in der Form einer anteiligen und gleichmäßigen Befriedigung. ___________ 5) Im Einzelnen vgl. Kassing in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, S. 845 ff. 6) Zu den speziellen insolvenzrechtlichen Verfahrensgrundsätzen im Einzelnen vgl. Stürner in: MünchKommInsO, Einl. Rz. 62 ff.; Prütting in: Kölner Schrift, S. 1 ff., Rz. 61 ff.
Prütting
45
§2 3.2
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung Universalität
22 Ein weiteres zentrales insolvenzrechtliches Prinzip ist der Universalitätsgrundsatz. Er weist allerdings unterschiedliche Inhalte und Ausprägungen auf. Im nationalen Insolvenzrecht wird der Universalitätsgrundsatz vor allem in der Form der personellen Universalität (Gläubigeruniversalität) verstanden. Damit kommt zum Ausdruck, dass in einem Insolvenzverfahren alle Gläubiger ohne Rücksicht auf ihre jeweilige Stellung am Insolvenzverfahren teilnehmen müssen und ihnen eine isolierte Befriedigung durch Einzelzwangsvollstreckung verwehrt ist. Insofern ist der Gedanke der personellen Universalität eine zwingende Folge des Gedankens der Gläubigergleichbehandlung. 23 Der Grundgedanke der Universalität lässt sich im nationalen Insolvenzrecht aber auch mit der Frage nach der Insolvenzfähigkeit i. S. von § 11 InsO verknüpfen (Schuldneruniversalität). Im Gegensatz zum Gedanken des Kaufmannskonkurses, wie er etwa im französischen Recht ausgeprägt ist, geht das deutsche Insolvenzrecht davon aus, dass jede natürliche und jede juristische Person sowie jede Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit i. S. von § 11 InsO insolvenzfähig ist. 24 Demgegenüber stehen sich i. R. des internationalen Insolvenzrechts die beiden Grundprinzipien des Territorialitätsgrundsatzes und des Universalitätsgrundsatzes gegenüber. Bei der Frage nach der internationalen Universalität geht es um das Problem, in welchem Umfang ein nationales Insolvenzverfahren Auslandswirkungen aufweist und ob durch ein ausländisches Insolvenzverfahren Inlandswirkungen herbeigeführt werden. Aufgrund der Rechtsprechung des BGH7) wird in Deutschland der Gedanke der internationalen Universalität vertreten. Der Gesetzgeber hat diesen Gedanken in Art. 102 EGInsO übernommen. Im Rahmen der EU ist insbesondere auf Art. 16 EuInsVO hinzuweisen. Diese europäische Universalität findet freilich in Art. 16 Abs. 2 EuInsVO insoweit eine starke Einschränkung, als in jedem Mitgliedstaat der Union ein eigenes Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden kann. 3.3
Geldliquidation
25 Im Gegensatz zum Grundsatz der Naturalvollstreckung in der Einzelzwangsvollstreckung ist das Insolvenzrecht im Hinblick auf die Forderungen nach gleichmäßiger und anteiliger Befriedigung aller Gläubiger vom Grundsatz der Geldliquidation geprägt. Dies setzt in verschiedener Weise eine Umwandlung von Forderungen in Geldbeträge sowie eine Umwandlung noch nicht fälliger Forderungen, Auflösen bedingter Forderungen oder Forderungen auf wiederkehrende Leistungen voraus (im Einzeln vgl. §§ 41, 42, 45, 46 InsO). 3.4
Formalisierung
26 Trotz aller Unterschiede zwischen Einzelzwangsvollstreckung und Insolvenz dient auch das Insolvenzrecht ebenso wie der Bereich der Einzelzwangsvollstreckung letztlich der Befriedigung der Gläubiger. Insolvenzrecht ist also im Kern ebenfalls Vollstreckungsrecht. Daher muss sich das Insolvenzrecht wie jede Zwangsvollstreckung im Hinblick auf die Stärke des Grundrechtseingriffs und den Gedanken der Rechtssicherheit durch eine strenge Formgebundenheit auszeichnen. Vollstreckungsmaßnahmen sind daher stets an strikte formelle Voraussetzungen geknüpft. Daher erzwingen i. R. des Insolvenzrechts der Gedanke der Effizienz und der Rechtssicherheit ebenfalls ein Verfahren, in dem einerseits formalisierte Kriterien die Prüfung der materiellen Gläubigerberechtigung ablösen und andererseits die materielle Berechtigung in einem eigenen Streitverfahren außerhalb des Insolvenzver___________ 7) BGH, Urt. v. 13.7.1983 – VIII ZR 246/82, BGHZ 88, 147 = ZIP 1983, 961; BGH, Urt. v. 11.7 1985 – IX ZR 178/84, BGHZ 95, 256 = ZIP 1985, 944.
46
Prütting
Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung
§2
fahrens geklärt werden kann. Insolvenzrechtlich umgesetzt wird dies durch das Feststellungsverfahren der §§ 174 ff. InsO. 3.5
Gläubigerautonomie
Von besonderer Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang ist der Grundsatz der Gläu- 27 bigerautonomie. In einem engen Zusammenhang mit der möglichst marktkonformen Insolvenzabwicklung und einer Verstärkung der Verteilungsgerechtigkeit i. R. der Insolvenz sowie vor allem einer Verbesserung der Sanierungsmöglichkeiten soll die Gläubigerautonomie den Ablauf des Verfahrens positiv beeinflussen. Grundsätzlich stehen hierzu die Mitwirkungsmöglichkeiten der Gläubiger i. R. einer Gläubigerversammlung und i. R. des Gläubigerausschusses zur Verfügung. Ein zentrales Mittel zur autonomen Abwicklung ist darüber hinaus die Aufstellung eines Insolvenzplans. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin die Gläubigerbeteiligung bei der Bestellung des Insolvenzverwalters (§§ 56a, 57 InsO). 3.6
Einheit des Verfahrens
Die InsO ist im Gegensatz zum früheren deutschen Recht und zum Recht vieler anderer 28 Staaten durch den Grundsatz der Einheit des Verfahrens geprägt. Dies zeigt sich äußerlich in der Zusammenfassung aller wesentlichen insolvenzrechtlichen Regelungen i. R. eines einheitlichen Gesetzes, nämlich der InsO. Inhaltlich zeigt sich dies i. R. der verfahrensmäßigen Einheit einer Insolvenz. So wird insbesondere die Frage nach der Liquidation oder Sanierung des schuldnerischen Unternehmens nicht durch eine notwendige Entscheidung zwischen einem Konkursantrag und einem Vergleichsantrag präjudiziert, wie ihn das frühere Recht kannte. Vielmehr eröffnet der einheitliche Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. 3.7
Nachforderung und Entschuldung
Ein zentrales Anliegen des Insolvenzrechts ist der Grundsatz der Restschuldbefreiung. 29 Allerdings stehen sich hier wiederum die konträren Gesichtspunkte der Nachforderung und der Entschuldung gegenüber. So ist auch im neuen Insolvenzrecht jedenfalls für natürliche Personen am Grundsatz der Nachforderung festgehalten worden (vgl. § 201 InsO). Nur auf Antrag kann in einem besonderen Verfahren Restschuldbefreiung gewährt werden (§ 286 InsO). Diese Restschuldbefreiung ist allerdings auch i. R. eines Insolvenzplans möglich (§§ 254, 254b InsO). Die Restschuldbefreiung gemäß § 286 InsO gilt allerdings nicht für juristische Personen und insolvenzfähige Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit. Bei diesen juristischen Personen und Gesellschaften tritt freilich im Falle einer insolvenzrechtlichen Liquidation des Rechtsträgers eine faktische Schuldbefreiung ein. IV.
Die Verfahrensgrundsätze bei Fortführung und Sanierung
1.
Grundsatz
Aus dem Grundgedanken der Einheit des Insolvenzverfahrens und den gleichgelagerten 30 Verfahrenszielen des § 1 InsO lässt sich der allgemeine Gedanke entnehmen, dass die Verfahrensabläufe eines Insolvenzverfahrens sowohl im Falle der Liquidation als auch der insolvenzmäßigen Sanierung gleichgelagert sind. Man könnte also die naheliegende These aufstellen, dass dieselben Verfahrensprinzipien einschlägig sind, auch wenn eine Betriebsfortführung und der Versuch einer Sanierung gegeben sind. Der Belastbarkeit dieses Grundgedankens und der möglichen Abweichung vom dargestellten Grundsatz muss im Folgenden nachgegangen werden.
Prütting
47
§2 2.
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit
31 Im Einzelnen gibt das Gesetz dem vorläufigen Insolvenzverwalter die Möglichkeit, bis zur Entscheidung über den Eröffnungsantrag das schuldnerische Unternehmen fortzuführen (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Darüber hinaus kann der vorläufige Insolvenzverwalter Prüfungen ansetzen, inwieweit Aussichten für eine Fortführung des Unternehmens des Schuldners bestehen (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Nichts anderes gilt nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens für den Insolvenzverwalter. Auch dieser hat grundsätzlich die Sanierungsfähigkeit des schuldnerischen Unternehmens und die verschiedenen Möglichkeiten einer Sanierung im Einzelnen zu prüfen. Dies ergibt sich neben der allgemeinen Zielsetzung in § 1 InsO vor allem auch aus § 156 InsO, wonach der Insolvenzverwalter im Berichtstermin die Chancen einer Sanierung oder einer übertragenden Sanierung darzulegen hat. Sodann beschließt nach § 157 InsO die Gläubigerversammlung über eine vorläufige Fortführung des schuldnerischen Unternehmens. 32 Der BGH hat für eine Prüfung der Sanierungsfähigkeit verlangt, dass ein schlüssiges Konzept vorliegt, das ernsthafte und begründete Aussichten auf Erfolg rechtfertigt.8) Nach dem neuen IDW-Standard über die Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6)9) ist ein Unternehmen sanierungsfähig nur dann, wenn die Annahme der Unternehmensfortführung i. S. von § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB bejaht werden kann und daher keine rechtlichen oder tatsächlichen Gegebenheiten der Fortführung der Unternehmenstätigkeit entgegenstehen. Für einen längeren Prognosezeitraum sind in diesem Zusammenhang sowohl die Wettbewerbsfähigkeit als auch die Renditefähigkeit des Unternehmens wiederherzustellen (sog. nachhaltige Fortführungsfähigkeit). Eine solche positive Fortführungsprognose setzt zunächst jedenfalls voraus, dass die Gefahr des Eintritts einer Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung für einen prognosefähigen Zeitraum abzuwenden oder behebbar ist. 3.
Die Sanierungsinstrumente
33 Soweit die Sanierungsfähigkeit des schuldnerischen Unternehmens zu bejahen ist, bietet die Gesetzeslage verschiedene Sanierungsinstrumente an. In erster Linie ist hier als vorläufige Maßnahme an die Fortführung des Unternehmens zu denken (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Weiteres zentrales Sanierungsinstrument ist das Insolvenzplanverfahren. Hintergrund ist der Gedanke der Gläubigerautonomie und die Möglichkeit, eine privatautonome Bewältigung der Insolvenz in einem bestimmten Rechtsrahmen abzuwickeln. Daher bietet der Insolvenzplan die Möglichkeit, Sanierungskonzepte rechtlich festzuschreiben und umzusetzen und dabei auch vom Regelinsolvenzverfahren (also vom Gesetz) abzuweichen. Es lässt sich also sagen, dass die Möglichkeit einer privatautonomen Insolvenzplanerstellung zugleich einer Förderung des Gedankens der gütlichen Einigung dient. Umgekehrt wird die in § 5 Abs. 1 InsO angeordnete Untersuchungsmaxime i. R. eines Planverfahrens deutlich zurückgedrängt. 34 Innerhalb des Insolvenzplanverfahrens ermöglicht das Gesetz seit der Änderung durch das ESUG, die Forderungen der Gläubiger in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Schuldner umzuwandeln (debt to equity swap). Diese Neuregelung in § 225a InsO beruht auf der bahnbrechenden Änderung in § 217 Satz 2 InsO, wonach im Falle der Insolvenz eines Schuldners, der keine natürliche Person ist, auch die Anteils- und Mitgliedschaftsrechte der am Schuldner beteiligten Personen in den Plan einbezogen werden können. Weiterhin ___________ 8) BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 236/91, ZIP 1993, 276, 279. 9) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff.
48
Prütting
Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung
§2
zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Konsequenzen einer solchen Forderungsumwandlung. Gemäß § 225a Abs. 4 InsO sind dabei nämlich Change-of-Control-Klauseln ohne Wirksamkeit und können nicht zum Rücktritt oder zur Kündigung von Verträgen führen, an denen der Schuldner beteiligt ist. Schließlich ist § 225a Abs. 5 InsO zu erwähnen, der den am Schuldner beteiligten Personen die Möglichkeit zum Austritt aus der juristischen Person oder der Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit gibt. Als weitere zentrale Sanierungsinstrumente kommen die erheblich erweiterte und 2021 35 überarbeitete Eigenverwaltung sowie insbesondere das Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO in Betracht. Auch die Möglichkeit einer übertragenden Sanierung ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Das in viel diskutierte Schutzschirmverfahren stellt dem Schuldner einen Zeitraum von maximal drei Monaten zur Verfügung, um einen Insolvenzplan vorzulegen. Während dieses Zeitraums können Maßnahmen der Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner untersagt oder vorläufig eingestellt werden. Nur hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass sich i. R. der verschiedenen Sanierungsmöglichkeiten komplizierte Probleme des Zusammenspiels von Gesellschafts- und Insolvenzrecht ergeben, wie dies der Fall Suhrkamp paradigmatisch gezeigt hat.10) Schließlich hat der Gesetzgeber mit dem StaRUG11) im Jahre 2021 Instrumente für eine 36 vorinsolvenzrechtliche Stabilisierung und Restrukturierung von Unternehmen geschaffen. Im Einzelnen sieht § 29 Abs. 2 StaRUG vier verschiedene Instrumente vor, nämlich x
die Durchführung eines gerichtlichen Planabstimmungsverfahrens,
x
die gerichtliche Vorprüfung von Fragen, die für die Bestätigung des Restrukturierungsplans erheblich sind,
x
die gerichtliche Anordnung von Regelungen zur Einschränkung von Maßnahmen der individuellen Rechtsdurchsetzung und
x
die gerichtliche Bestätigung eines Restrukturierungsplans.
Damit knüpft der Gesetzgeber an vorläufige Maßnahmen i. R. der Insolvenzeröffnung 37 gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 3 und 5 InsO und an das Schutzschirmverfahren i. R. der Eigenverwaltung gemäß. § 270d InsO an. 4.
Abweichung von Verfahrensgrundsätzen?
4.1
Einheit des Verfahrens
Der dargestellte Grundsatz der Einheit des Insolvenzverfahrens bedarf in diesem Zusam- 38 menhang näherer Prüfung. Denn dieser Grundsatz beschreibt nicht nur die integrierende Wirkung der Gläubigergleichbehandlung, der Formalisierung und damit der Verfahrenseinheit in dem Sinne, dass neben dem Schuldner alle Gläubiger an einem Insolvenzverfahren beteiligt sind. Vielmehr lässt sich dieser Grundsatz umgekehrt auch durch eine Ausschlusswirkung Dritter charakterisieren. Dies bedeutet, dass an einem Insolvenzverfahren niemand beteiligt sein kann, der nicht Schuldner, Gläubiger oder Verwalter (bzw. gleichgestellte Person) ist. Von diesem Grundsatz hat nun § 217 Satz 2 InsO eine bemerkenswerte Ausnahme gebracht. 39 Nunmehr können auch die Inhaber von Anteils- oder Mitgliedschaftsrechten am Schuldner in den Insolvenzplan einbezogen werden. Die revolutionäre Bedeutung dieses unschein___________ 10) Vgl. dazu Thole, ZIP 2013, 1937; Prütting in: FS Kübler, S. 567. 11) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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49
§2
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
baren Satzes ist im insolvenzrechtlichen Schrifttum noch nicht ausreichend gewürdigt worden. Konsequenterweise werden diese an der schuldnerischen Gesellschaft beteiligten Personen i. R. des Planverfahrens in eine eigene Gruppe eingeordnet (§ 222 Abs. 1 Nr. 4 InsO). Im Rahmen des Obstruktionsverbotes können diese Personen also auch letztlich gegen ihren Willen von gesellschaftsrechtlichen Veränderungen betroffen werden. 4.2
Dispositionsmaxime
40 Interessante Überlegungen zu Einschränkungen der Dispositionsmaxime i. R. eines Sanierungsverfahrens können sich daraus ergeben, dass nach Antragstellung starke Einschränkungen der Dispositionsfreiheit gegeben sind. Im Grundsatz läuft das Insolvenzverfahren nach Verfahrenseinleitung seinen gesetzlich vorgezeichneten Weg.12) Das Gericht kann weiterhin im Falle der beantragten Eigenverwaltung einen solchen Antrag nach Prüfung zurückweisen. Die Dispositionsmöglichkeiten des Antrags stellenden Schuldners begrenzen sich in diesem Fall darauf, dass er den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zurücknimmt (§ 270c Abs. 5 InsO). Die weiteren Möglichkeiten der Beteiligten i. R. ihrer Dispositionsfreiheit bestehen gemäß § 218 InsO vor allem in der Vorlage eines Insolvenzplans an das Insolvenzgericht. Diese Hinweise zeigen, dass i. R. von Sanierungsbemühungen weder von einer eindeutigen Dispositionsmaxime im Hinblick auf die Befugnisse der Parteien noch vom Offizialprinzip ausgegangen werden kann. Vielmehr entsteht hier eine insolvenzrechtliche Maxime gemischter Befugnisse. 4.3
Förderung gütlicher Einigung
41 Die erhebliche Ausweitung von Möglichkeiten i. R. des Insolvenzplanverfahrens und der Eigenverwaltung sowie die Schaffung des Schutzschirmverfahrens stärken in erheblichem Umfang den Gedanken der Förderung einer gütlichen Einigung.13) Die Chance zu parteiautonomen Lösungen ist jedenfalls verstärkt gegeben. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang als gegenläufige Tendenz festzustellen, dass unterschiedliche Interessen der Beteiligten zu besonders heftigen Auseinandersetzungen i. R. parteiautonomer Lösungen führen können. Das Suhrkamp-Verfahren ist hierfür wiederum ein deutlicher Beleg.14) 4.4
Untersuchungsmaxime
42 Im gesamten Insolvenzverfahren gilt gemäß § 5 Abs. 1 InsO generell die Untersuchungsmaxime. Diese erfährt freilich i. R. von Planverfahren und Eigenverwaltung starke Einschränkungen. Lediglich bei der Entscheidung über den Eröffnungsantrag (§ 13 InsO) und dessen Voraussetzungen, also vor allem dem Vorliegen eines Eröffnungsgrundes i. S. von §§ 16 ff. InsO kommt insoweit eine Amtsermittlung in Betracht. V.
Ethik und Betriebsfortführung
43 Der Zwiespalt zwischen konsensualen Lösungen i. R. von Sanierungsbemühungen und dem extrem harten Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen der Gläubiger, der Gesellschafter sowie der an der Existenz des Unternehmens Interessierten führt zu der weitergehenden Frage, ob die Beteiligten sich hier Fragen eines ethischen Verhaltens stellen müssen oder ob umgekehrt die existenzielle Bedrohung des Schuldners alle Überlegungen eines ethischen Verhaltens zur Seite stellt. Im Einzelnen könnte der Gedanke eines ethischen Einwirkens bedeuten, dass die nach § 15a InsO einer Antragspflicht unterliegenden Mit___________ 12) Bork, Sanierungsrecht in Deutschland und England, S. 70. 13) Kassing in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, S. 845. 14) Prütting in: FS Kübler, S. 567.
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Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung
§2
glieder des schuldnerischen Vertretungsorgans unter Abwägung der Interessen der Gesellschaft, der eigenen Haftungsinteressen sowie der Interessen der Gläubiger und der Arbeitnehmer die Entscheidung über einen möglichen Insolvenzantrag nicht ausschließlich aus der Sicht einer möglichen eigenen Haftung treffen, sondern i. R. der Prognoseentscheidung alle realen Möglichkeiten einer Unternehmensrettung bedenken und gegenüberstellen. Ganz ähnlich ist von einem Sanierungsberater zu erwarten, dass er nicht ausschließlich 44 aus dem Gesichtspunkt von Haftungsfolgen zu einer möglichst frühzeitigen Stellung eines Insolvenzantrags rät. Vielmehr wäre diesem Ratschlag die Chance einer Sanierung außerhalb der Insolvenz und ohne ein Insolvenzverfahren in der Abwägung gegenüberzustellen. Exakt solche Abwägungen unter Berücksichtigung aller berechtigten Interessen werden durch die Möglichkeiten des ESUG und nunmehr auch des StaRUG jedenfalls gestärkt (siehe unten Runkel/Fliegner, § 5). Das Schutzschirmverfahren und die Möglichkeit einer Antragsrücknahme nach § 270c Abs. 5 InsO sind hierzu ein wichtiger Ansatzpunkt. Der dort vorgesehene maximale Zeitraum von drei Monaten wird allerdings im Zweifel nicht immer ausreichend sein. Er setzt voraus, dass die handelnden Personen (Geschäftsführer, Gesellschafter, Sanierungsberater) schon vorher einen Sanierungsplan ausgearbeitet haben. Genau dieser Weg ist aber sicherlich Teil eines nunmehr auch vom Gesetzgeber gewünschten wirtschaftsethischen Verhaltens. Grundlage ist insoweit § 218 Abs. 1 Satz 2 InsO, der die Vorlage eines Insolvenzplans durch den Schuldner ausdrücklich auch in dem Zeitpunkt vorsieht, in dem der Antrag auf Eröffnung des Verfahrens gestellt wird. Die hier geforderten ethischen Aspekte bei der Abwägung von Sanierungsentscheidungen 45 und Insolvenzanträgen lassen sich in gewissem Umfang auch auf das eröffnete Verfahren übertragen. Dies gilt jedenfalls für die Durchführung der Eigenverwaltung. Dies betrifft darüber hinaus in abgeschwächter Form auch den Insolvenzverwalter eines Regelverfahrens. Auch er wird heute neben dem Grundgedanken der Liquidation in verstärktem Maße die gemeinsame Prüfung der Interessen der Gläubiger, der Arbeitnehmer, der Anteilseigner und des betroffenen Umfeldes zu erwägen und auszutarieren haben. VI.
Fortführungs- und Insolvenzwürdigkeit
Der Begriff der „Würdigkeit“ taucht in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen auf (Preis- 46 würdigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Auszeichnungswürdigkeit, Verdienstwürdigkeit). In jüngerer Zeit findet sich der Begriff auch im Umfeld des Insolvenzrechts (Sanierungswürdigkeit, Fortführungswürdigkeit, Insolvenzwürdigkeit). Zwar kennt das Gesetz diese Begriffe nicht, berichtet wird aber aus der Praxis, dass mit Gedanken wie der Würdigkeit und der Nachhaltigkeit für die Aussonderung bestimmter Unternehmen aus dem Markt plädiert wird, um einer befürchteten Umweltschädlichkeit, einer möglichen Kriegswaffenproduktion, einer sonstigen Gefährlichkeit oder anderen ideologisch abgelehnten Unternehmensgegenständen zu begegnen. Hervorzuheben ist dabei zunächst das Verfahren der Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO). 47 Durch die InsO, 1999 in das deutsche Recht eingefügt, hat die Eigenverwaltung durch das ESUG 201215) und durch das SanInsFoG 202016) erhebliche Veränderungen erfahren. Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem auf die neuen Anforderungen an die Eigenverwaltungsplanung gemäß § 270a InsO hinzuweisen. Durch die Detailtiefe der Anforderungen an den Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung ist zugleich eine erhebliche Ver___________ 15) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 16) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256.
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51
§2
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
schärfung der Antragsvoraussetzungen in das Gesetz gelangt. Der Gesetzgeber hat diese Regelung auf die ausdrückliche Empfehlung der Kommission zur ESUG-Evaluation eingefügt, um den durch die frühere Zugangsregelung zentralen Begriff des Nachteils schärfer zu regeln und zu konkretisieren. Damit wird vom Schuldner nunmehr eine Eigenverwaltungswürdigkeit verlangt.17) 48 Es wäre jedoch ein grobes Missverständnis, wollte man das sinnvolle Erfordernis der Eigenverwaltungswürdigkeit auf ein Verlangen nach Insolvenzwürdigkeit oder Fortführungswürdigkeit übertragen. Ein solcher Gedanke verkennt, dass die Anordnung der Eigenverwaltung ein Privileg für den Schuldner enthält. Wollte man dem Insolvenzverwalter die Prüfung eines ungeschriebenen Merkmals der Fortführungs- oder Insolvenzwürdigkeit auferlegen, würde durch einen solchen unbestimmten Rechtsbegriff große Unsicherheit in das Insolvenzverfahren hineingetragen. Es entstünde die Gefahr von Missbrauch des Verfahrens durch sachfremde Aspekte. Das Insolvenzrecht hat nicht die Aufgabe, Klimaund Umweltschutz sowie Natur- und Tierschutz zu fördern. Der Begriff der Würdigkeit wäre also eine insolvenzfremde Rechtsfortbildung. VII. Pflichtenentlastung und Freistellung von Risiken bei Betriebsfortführung? 49 Die bisherigen Erwägungen führen letztlich auch zu der Frage, ob den am Insolvenzverfahren Beteiligten und insbesondere dem das schuldnerische Unternehmen fortführende Insolvenzverwalter als Ausgleich für das im Zusammenhang mit der Fortführung übernommene Risiko verfahrensmäßige Erleichterungen, also die Befreiung von Pflichten und Lasten sowie die Freistellung von Risiken zugesprochen werden können. Diese Frage ist – soweit ersichtlich – in Rechtsprechung und Literatur noch keiner abschließenden Klärung zugeführt. Die Ambivalenz der Fragestellung liegt freilich auf der Hand. Man könnte zweifellos argumentieren, dass sich für eine Pflichtenentlastung oder eine Freistellung von Risiken der handelnden Personen im Gesetz keinerlei Anhaltspunkt findet. Umgekehrt ließe sich argumentieren, dass die Unternehmensfortführung und alle weiteren Sanierungsbemühungen im Interesse aller Beteiligten und mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Allgemeinheit sind. Pflichtenentlastungen und Risikofreistellungen könnten daher aus diesem Blickwinkel ein sinnvoller Ausgleich für die besonderen Bemühungen der Beteiligten sein. 50 Zur Beantwortung der gestellten Frage bedarf es eines normativen Ansatzpunktes. Dieser ist speziell für die Haftung des Insolvenzverwalters entweder in § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO oder in § 93 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AktG (Business Judgement Rule) zu suchen. Nach § 60 InsO hat der Verwalter für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. Diese Formulierung ist geeignet, die Haftungsnorm des § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO zu konkretisieren und auszufüllen, wonach der Insolvenzverwalter in dem Umfang haftet, in dem er schuldhaft seine Pflichten verletzt. Es erscheint hier denkbar und naheliegend, im Einzelnen die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters unter Einbeziehung der eingegangenen Risiken und Belastungen zu bestimmen.18) Dieser Gedanke könnte zu einer gewissen Absenkung des strengen Haftungsmaßstabes des § 60 Abs. 1 InsO führen. Der Verschuldensmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters ist individuell anhand seiner konkreten Aufgaben zu bestimmen.19) Zu demselben Ergebnis würde es wohl führen, wenn man die Rolle des die Betriebsfortführung leitenden Insolvenzverwalters mit dem Organ einer juristischen Person ___________ 17) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 70 ff.; ebenso Thole, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 90, 91. 18) Vgl. insbesondere Kübler/Prütting/Bork-Lüke, InsO, § 60 Rz. 36. 19) So wohl auch Brandes/Schoppmeyer in: MünchKomm-InsO, § 60 Rz. 90, 90a.
52
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Verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen für Fortführung und Sanierung
§2
vergliche und § 93 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AktG analog heranziehen würde. Dieser Gedanke wird in der Literatur verschiedentlich erwogen (siehe unten Frege/Berger/Nicht, § 44 Rz. 53 ff.). In künftigen Fällen ist hier die Rechtsprechung aufgerufen, die Sorgfaltsmaßstäbe im Einzelfall zu konkretisieren. Gleiches (nämlich die Haftung nach § 60 InsO einschließlich des Haftungsmaßstabs des 51 § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO bzw. analog § 93 Abs. 1 AktG) gilt für den vorläufigen Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO), für den Sachwalter (§ 274 Abs. 1 InsO), für den Treuhänder (§ 313 Abs. 1 Satz 3 InsO) und für Sanierungsberater sowie Sachverständige aus vertraglichen Anspruchsgrundlagen mit dem Haftungsmaßstab des § 276 BGB. Im Ergebnis ist dieser Haftungseinschränkung zuzustimmen.
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53
§3 Die Funktion der Betriebsfortführung im deutschen Insolvenzrecht Feser
Übersicht I. 1.
Konkurs und Vergleich .............................. 1 Die Entwicklung des Konkurs- und Vergleichsrechts ........................................... 1 2. Der Funktionsverlust des Konkursrechtes......................................................... 11 3. Selbsthilfe der Praxis – Änderung des Sequestrationszweckes ........................ 20 4. Akzeptanz der Betriebsfortführung als zulässige Verwaltungsmaßnahme ........ 23 II. Gesamtvollstreckungsverfahren ............. 26 1. Liquidation oder Betriebsfortführung ...... 26 2. Betriebsfortführungen, Verfahrensziele, gesetzliche Sanierungsförderung............... 28
III. Die Insolvenzordnung ............................. 33 1. Verfahrenszweck ........................................ 33 2. Betriebsfortführung im Insolvenzantragsverfahren ......................................... 44 3. Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren..................................... 48 4. Entwicklung des Insolvenzrechts ............. 52 4.1 Reform des Insolvenzrechts durch das ESUG ............................ 53 4.2 Unternehmensstabilisierungsund -restrukturierungsgesetz (StaRUG)....................................... 57 IV. Fazit ............................................................ 63
Literatur: Beule, Die Umsetzung der Insolvenzrechtsreform in der Justizpraxis, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2000, S. 23; Bork, Grundfragen des Restrukturierungsrechts, ZIP 2010, 397; Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, Mechanismen der Unternehmensreorganisation und Kooperationspflichten im Reorganisationsrecht, 1999; Gessner/Rhode/ Strate/Ziegert, Praxis der Konkursabwicklung, 1978; Gravenbrucher Kreis, Alternativentwurf zum Regierungsentwurf einer Insolvenzordnung, ZIP 1993, 625; Gravenbrucher Kreis, „Große“ oder „kleine“ Insolvenzrechtsreform?, ZIP 1992, 657; Haarmeyer/Wutzke/Förster, Gesamtvollstreckungsordnung, 4. Aufl., 1998; Jaeger, Die Konkursordnung 1879–1904, DJZ 1904, Sp. 904; Jaffé, Restrukturierung nach der InsO: Gesetzesplan, Fehlstellen und Reformansätze innerhalb einer umfassenden InsO-Novellierung aus Sicht eines Insolvenzpraktikers, ZGR 2010, 248; Kilger/Schmidt, KO, 16. Aufl., 1993; Kreft, Aktuelle Schwerpunkte der BGH-Rechtsprechung zum Gesamtvollstreckungsrecht, in: Prütting, RWSForum 9, 1997, S. 21; Landfermann, Sanierungsförderung und Gesamtvollstreckung, ZIP 1991, 826; Paulus, Zum Verhältnis von Aufrechnung und Insolvenzanfechtung, ZIP 1997, 569; Smid, Probleme von Unternehmenssanierung und Gesamtvollstreckung, WM 1991, 1621; Smid/Zeuner, Gesamtvollstreckungsordnung, 2. Aufl., 1994; Undritz, Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren – die Quadratur des Kreises?, NZI 2007, 65.
I.
Konkurs und Vergleich
1.
Die Entwicklung des Konkurs- und Vergleichsrechts
Das Verständnis der Funktion der Betriebsfortführung im deutschen Insolvenzrecht er- 1 fordert zunächst einen Blick auf die rechtsgeschichtliche Entwicklung des deutschen Insolvenzrechts und ihrer Verfahrenszwecke. Dabei wird man zum einen feststellen, dass die Rechtsentwicklung zunächst geprägt war 2 von dem Verfahrensziel der Liquidierung der Unternehmensträger das dann Anfang der 80iger Jahre überging in das Verfahrensziel der Restrukturierung des Unternehmensträgers, so die rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Indikatoren dies zulassen. Nach einigen Jahren ist festzustellen, dass das Recht und die Praxis von gerichtlichen und außergerichtlichen Unternehmensrestrukturierungen einer erheblichen gesetzlichen Dynamik unterliegen. Hinzuweisen ist hier auf die Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/2023 (Restruktu-
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rierungsrichtlinie)1) die im Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen – StaRUG2) – mündete. Weiter ist festzustellen, dass das Insolvenzrecht sich fortentwickelt in ein Unternehmenssanierungsrecht bestehend aus außergerichtlichen und gerichtlichen Bestandteilen zur Sanierung von Unternehmensträgern. In diesem Restrukturierungsrahmen ist die Betriebsfortführung ein zentraler Bestandteil. 3 Die Rechtsentwicklung war zunächst dadurch gekennzeichnet, dass der Antrag auf Eröffnung eines gerichtlichen Konkursverfahrens den Schlusspunkt hinter ein gescheitertes wirtschaftliches Engagement setzte. Im Bewusstsein der Menschen bedeutet der Konkurs Zerschlagung des Unternehmensträgers ohne Restrukturierung des Unternehmensträgers. 4 Das Stigma des Konkurses spiegelte sich auch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit wieder und findet seinen Ausdruck in der Meinung von Ernst Jaeger wieder der von „Konkurs als Wertevernichter schlimmster Sorte und teuerstem Schuldentilgungsverfahren“3) sprach. 5 Zunächst wird man sich die Frage stellen müssen, ob dieser Zerschlagungsgedanke nicht schon in der Konkursordnung angelegt war. Die Konkursordnung von 1877 war ihren Vorschriften und ihrem Verständnis nach darauf angelegt, dass das Unternehmen des Schuldners zur Gläubigerbefriedigung liquidiert werden müsse. 6 Der Grund dafür, dass die Liquidation des Schuldnervermögens ausschließlich im Vordergrund des Konkursverfahrens stand, ergab sich aus dem Zweck des Konkursverfahrens, die Haftung des Schuldners für alle seine Verbindlichkeiten zu verwirklichen. Ursächlich für diese einseitige Ausrichtung des deutschen Konkursrechts war der Umstand, dass bei der Neuregelung der Konkursordnung von 1877 anstelle der deutschen Gemeinschuldordnung, die auch die Möglichkeit zur Sanierung des Schuldners bot4) die Konkursordnung zum Gesetz wurde. Die Ausrichtung der KO an der Liquidierung des schuldnerischen Vermögens führte zunächst dazu, dass die Konkurspraxis die Betriebsfortführung als Mittel der Sanierung des schuldnerischen Vermögens nicht einsetzte, um so den Unternehmensträger im Ganzen zu verwerten, obwohl in den §§ 130, 132 Abs. 1 KO dafür durchaus Ansatzmöglichkeiten gegeben waren. 7 Auch in der Literatur spielte die Möglichkeit der Betriebsfortführung im Konkursverfahren keine Rolle. Noch in der 3. Aufl. des Kurzkommentars von Böhle-Stammschröder zur Konkursordnung aus dem Jahre 1953 findet sich weder im Stichwortverzeichnis noch in den §§ 130, 132, 117 KO irgendein Hinweis auf die Möglichkeit der Betriebsfortführung. 8 Die Praxis der Konkursabwicklung sah die Zerschlagung des Unternehmens des Schuldners vor. Die Erkenntnis, dass das Unternehmen des Schuldners als Sach- und Rechtsgesamtheit zur Konkursmasse gehört und damit der Verwertungskompetenz des Verwalters unterstand, war in der Konkurspraxis nicht vorhanden. Auch, dass in der Regel durch die Betriebsfortführung ein Überschuss erwirtschaftet werden konnte, der die Konkursmasse
___________ 1) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 2) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 3) Jaeger, DJZ 1940, Sp. 904, 911. 4) Deutsche Gemeinschuldordnung 1873, 4. Buch. §§ 233 – 256.
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erhöhte und damit die Quote für die Gläubiger erhöhen konnte, wurde von der Konkurspraxis nicht erkannt.5) Trotz dieser Möglichkeiten hat die Betriebsfortführung als Verwertungs- und Verwal- 9 tungsinstrument in der Hand des Verwalters lange Zeit in der Praxis keine Rolle gespielt. Eine auf die damalige BRD bezogene Untersuchung belegt, dass in nur 4 % der untersuchten Konkursfällen Betriebe zeitweilig durch den Konkursverwalter fortgeführt worden waren.6) Ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Konkursrechts zeigt, dass die KO von 1877 schon 10 kurze Zeit nach ihrem Inkrafttreten Gegenstand erster Reformbemühungen war. Es lässt sich dabei feststellen, dass die Schwerpunkte der Reformdiskussion sich im Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse und der wirtschaftspolitischen Grundströmungen wechselten. Erste Reformbemühungen bezogen sich auf die Notwendigkeit eines konkursabweisenden Vergleichsverfahrens. Hatte der Reichsgesetzgeber in der Konkurseröffnung noch die Notwendigkeit betont, gescheiterte Schuldner aus dem Wirtschaftsverkehr auszuscheiden, so erkannte man bereits vor dem 1. Weltkrieg, dass die alleinige Gesamtvollstreckung zum „Wertevernichter schlimmster Art“ wurde.7) Die vordringlichste Reformaufgabe wurde darin gesehen, den Konkurs abzuwenden. Diese Überlegungen führten dazu, dass 1935 die Vergleichsordnung erlassen wurde. 2.
Der Funktionsverlust des Konkursrechtes
Die durch die Ölpreiskrise 1973 ausgelöste Rezession, die in den Jahren von 1972 bis 1975 11 zu einer Verdoppelung der Konkursanträge führte, verschaffte den Reformforderungen die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit. Die zunehmende Funktionsunfähigkeit von Konkurs- und Vergleichsverfahren wurde eindringlich mit dem Schlagwort vom „Konkurs des Konkurses“ belegt. Im Jahre 1970 wurden in der Bundesrepublik 4.201 Konkursverfahren beantragt. Die Er- 12 öffnungsquote lag bei nahezu 50 %. Diese Tendenz hielt bis zum Jahre 1973 mit lediglich geringfügigen Veränderungen (plus 3,6 %) an. Im Jahr 1974 stieg die Zahl der Konkursanträge sprungartig um 40 % auf 7.722 Verfahren an. Während 1970 die Zahl der eröffneten Konkursverfahren die der mangels Masse abgewiesenen Anträge noch überstieg, standen 1974 3.870 abgelehnte Konkursanträge 3.482 eröffneten Konkursverfahren gegenüber. Erstmals 1981 wurde die Schwelle von 10.000 Konkursanträgen mit insgesamt 11.635 Kon- 13 kursanträgen überschritten. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Insolvenzkurve 1985 mit 18.876 Konkursanträgen. Dabei ging die Zahl der Vergleichsverfahren kontinuierlich seit 1970 von 258 auf nur noch 72 Verfahren im Jahre 1985 zurück. Die Zahl der eröffneten Konkursverfahren stagnierte trotz der gestiegenen Gesamtzahl bei ca. 4.000 Verfahren.8) Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellte sich die Frage, welche Ursachen dem 14 Funktionsverlust des Konkurs- und Vergleichsrechts zugrunde lagen. Eine Analyse der Rechtspraxis zeigt verschiedene Ursachen für den Funktionsverlust des Konkursrechts. Zu nennen wären hier zunächst die zunehmenden Sonderrechte der Kreditwirtschaft sowie 15 der Warenkreditgeber. Die daraus abgeleiteten Rechte der Sicherungsgeber erfasste den ___________ 5) Z. B. RG, Urt. v. 16.1.1909 – VII 146/08, RGZ 70, 228; RG, Urt. v. 2.4.1919 – I 221/18, RGZ 95, 237; BGH, Urt. v. 26.2.1960 – I ZR 159/58, BGHZ 32, 103, 105. 6) Gessner/Rhode/Strate/Ziegert, Praxis der Konkursabwicklung S. 218, zit. nach Riering, die Betriebsfortführung durch den Konkursverwalter, 1987, S. 16. 7) Jaeger, DJZ 1904, Sp. 904, 911. 8) ZIP-Report, Insolvenzstatistik 1995, ZIP 1996, 1150.
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werthaltigen Teil der vorhandenen Wirtschaftsgüter und führte zu einer erheblichen Belastung der Masse mit Aussonderungs- und Absonderungsrechten. 16 Während die Konkursmasse durch die bestehenden Aussonderungs- und Absonderungsrechte wertmäßig ausgehölt wurde, wuchsen die Masseverbindlichkeiten aus dem Lohnund Gehaltsbereich an. 17 Auch die Ansprüche aus bestehenden Verträgen, deren Erfüllung für die Zeit nach Eröffnung des Konkursverfahrens bis zu ihrer Vertragsbeendigung aus der Konkursmasse zu erfolgten hatte (§ 59 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 KO), belasteten die Konkursmasse erheblich. Dies betraf vor allem Ansprüche der von der Insolvenz ihres Arbeitgebers betroffenen Arbeitnehmer, deren Lohnforderungen bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses für die Zeit nach Konkurseröffnung als echte Masseschulden zu berücksichtigen waren.9) 18 Verstärkt wurde diese Entwicklung auch durch die Tatsache, dass sämtliche Kündigungsschutzbestimmungen im Konkursverfahren ihre Gültigkeit behielten.10) Gesetzliche Kündigungsfristen von bis zu sieben Monaten, teilweise verlängert um vom Arbeitsamt verfügte Sperrfristen, Sonderkündigungsschutzregelungen für Betriebsräte, Schwerbehinderte, werdende Mütter u. a. Personengruppen führten unter den Bedingungen zunehmender Arbeitslosigkeit zum „Konkurs im Konkurs“, einer alsbaldigen Einstellung des Konkursverfahrens mangels Masse gemäß § 205 KO oder der Ablehnung einer Verfahrenseröffnung mangels Kostendeckung (§ 107 KO). 19 Wo mangels Masse nichts mehr zu eröffnen oder nach Eröffnung keine Deckung der echten Masseverbindlichkeiten und der Massekosten zu bewerkstelligen war, drohte der Funktionsverlust des geltenden Konkurs- und Vergleichsrechts. So wurden 1983 von vier Konkursanträgen drei bereits mangels Masse abgelehnt. 3.
Selbsthilfe der Praxis – Änderung des Sequestrationszweckes
20 Es war zunächst nicht der Gesetzgeber der versuchte, Abhilfe zu schaffen. Bereits in den 70iger Jahren als die Krise des Konkursrechts immer stärker in die Diskussion kam, entdeckte die Praxis das Rechtsinstitut der Sequestration für das Konkursverfahren. Man sah in ihm ein probates Mittel, die Entstehung von Masseansprüchen zu verhindern oder abzubauen. Dem Sequester wurden weitreichende Befugnisse zugestanden. Diese Befugnisse sollten es dem Sequester ermöglichen durch ein sog. „dynamische Sequestration“ bei Fällen mit problematischer Massekostendeckung, Masse zu generieren, um das Konkursverfahren eröffnungsfähig und überhaupt erst durchführbar zu machen. Die Sequestration wurde so routinemäßig in den meisten Eröffnungsverfahren angeordnet. 21 Die Unternehmensfortführung durch den Sequester, früher kaum anzutreffen, war nicht mehr ungewöhnlich. In Rechtsprechung und Literatur bestand weitgehend Einigkeit, dass der Sequester den schuldnerischen Betrieb nicht einfach schließen darf.11) Begründet wurde dies damit, dass der Sequester in unzulässiger Weise einen endgültigen Zustand schaffen würde, obwohl zu dieser Zeit noch gar nicht feststehe, ob das beantragte Konkursverfahren eröffnet werde oder nicht.12) 22 Darauf hingewiesen wurde außerdem, dass die KO davon ausgehe, dass nach Eröffnung des Konkursverfahrens der Geschäftsbetrieb des Schuldners fortzuführen sei. Dies ergäbe ___________ 9) BAG, Urt. v. 15.12.1987 – 3 AZR 420/87, ZIP 1988, 327. 10) BAG, Urt. v. 16.9.1982 – 2 AZR 271/80, ZIP 1983, 205 = NJW 1983, 1341. 11) BGH, Urt. v. 27.3.1961 – II ZR 294/59, NJW 1961, 1304; OLG Schleswig, Urt. v. 22.2.1985 – 14 U 187/84, ZIP 1985, 556, 558; Kuhn/Uhlenbruck, KO, § 106 Rz. 13a; Kilger/Schmidt, KO, § 106 Rz. 4. 12) Mohrbutter/Ringstmeier, Hdb. der Insolvenzverwaltung, § 106 I 27, Fn. 1.
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sich daraus, dass über die Schließung des Geschäftsbetriebes erst die Gläubigerversammlung (§ 132 KO) zu beschließen habe. 4.
Akzeptanz der Betriebsfortführung als zulässige Verwaltungsmaßnahme
Die oben geschilderte Entwicklung, insbesondere die rechtliche Ausgestaltung der Sequestra- 23 tion als dynamische Sequestration war die Antwort der Insolvenzpraxis und der konkursrechtlichen Literatur auf die Anfang der 80iger Jahre drohende Funktionsunfähigkeit des geltenden Konkurs- und Vergleichsrechts. Dabei diente die Fortführung des Geschäftsbetriebes während der Sequestration zunächst 24 nur dem Ziel, die für die Eröffnung eines Konkursverfahrens erforderliche Kostendeckung im Verfahrensstadium zu erwirtschaften und die Zahl der mangels Masse nicht eröffnungsfähigen Konkursverfahren nicht weiter zu erhöhen. Schon bald zeigte sich, dass das Instrument der Betriebsfortführung als Vehikel fungierte, um die Diskussion über die Verfahrensziele des Insolvenzrechts anzustoßen. Darauf wird noch einzugehen sein. In Zeiten zunehmender Konkursanträge war aus ordnungspolitischen Gründen die Eröff- 25 nung des Konkursverfahrens gewünscht. Ein geordnetes Verfahren bot Gewähr, dass das Verhalten des Schuldners geprüft wurde, dass das verbliebene Vermögen gesichert und bestmöglich verwertet, und dass insbesondere Auskunfts-, Anzeige- und Nachweispflichten im steuerlichen Bereich erfüllt wurden. II.
Gesamtvollstreckungsverfahren
1.
Liquidation oder Betriebsfortführung
Anstelle der Übernahme der KO auch für das Gebiet der ehemaligen DDR entschied sich 26 der Gesetzgeber 1990 für die Beibehaltung der Gesamtvollstreckungsordnung (GesO) bis zum Inkrafttreten eines angestrebten einheitlichen Insolvenzrechts für das vereinigte Deutschland. Mit dem Erlass der Gesamtvollstreckungsverordnung am 1.7.1990, durch den Einigungsvertrag geändert und umbenannt in „Gesamtvollstreckungsordnung“,13) sollte zusammen mit der Zweiten Verordnung über die Gesamtvollstreckung vom 25.7.1990, ebenfalls durch den Einigungsvertrag geändert und umbenannt in „Gesetz über die Unterbrechung von Gesamtvollstreckungsverfahren“14) dem Problem Rechnung getragen werden, dass der Anpassungsprozess in der zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden DDR zu einem raschen Anstieg der Insolvenzen führen würde, wobei es rechtspolitisch darauf ankam, den Unternehmen einen gesetzlichen Rahmen zu geben, die Betriebe auch nach Einleitung eines Gesamtvollstreckungsverfahrens fortzuführen. Betriebsfortführung und Liquidation sollten geleichwertig nebeneinanderstehen. Im 27 Einzelfall sollte zu entscheiden sein, ob eine sofortige Verwertung der vorhandenen Wirtschaftsgüter erfolgen muss oder eine begrenzte Betriebsfortführung auch mit dem Ziel einer Sanierung möglich ist.15)
___________ 13) Verordnung über die Gesamtvollstreckung v. 6.6.1990, GBI. I Nr. 32, S. 285, geändert durch Anlage II Kap. III A Abschn. II Nr. 1 des Einigungsvertrages v. 31.8.1990, BGBl. II 1990, 889, 1153; Bekanntmachung der Neufassung v. 23.5.1991, BGBl. I, 1185, zuletzt geändert durch Gesetz v. 18.6.1997, BGBl. I, 1430, 1441. 14) Zweite Verordnung über die Gesamtvollstreckung – Unterbrechung des Verfahrens v. 25.7.1990, GBl. Nr. 45, S. 762, geändert durch Anlage II Kap. III A Abschn. II Nr. 2 des Einigungsvertrages v. 31.8.1990, BGBl. II 1990, 889, 1155, i. d. F. der Bekanntmachung vom 23.5.1991, BGBl. I 1991, 1191. 15) Haarmeyer/Wutzke/Förster, Gesamtvollstreckungsordnung, § 1 Rz. 6 ff.; Landfermann, ZIP 1991, 826 ff.; Smid/Zeuner-Smid, GesO, § 1 Rz. 7.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung Betriebsfortführungen, Verfahrensziele, gesetzliche Sanierungsförderung
28 Durch den Einigungsvertrag ist die GesO mit nur geringen Änderungen in den Rang eines eigenständigen Bundesgesetztes erhoben worden. Die GesO definierte als Verfahrensziele nunmehr auch wirtschafts-, sozial-, arbeitsmarkt- und strukturpolitische Ziele. 29 So sollte die GesO dazu beitragen, den zwar erwarteten, in seinen Ausmaßen aber falsch eingeschätzten Anpassungsprozess der DDR-Planwirtschaft und den Übergang in eine marktwirtschaftliche Ordnung zu erleichtern, die erwarteten Masseentlassungen zu verlangsamen und den Rechtsfrieden in der ehemaligen DDR zu sichern.16) 30 Bereits vom Verfahrenszweck her waren KO und GesO nicht identisch.17) Werden Probleme der wirtschaftlichen Neuordnung und Anpassung an regionale und überregionale Strukturfragen zu einem eigenständigen Insolvenzverfahrenszweck, so verschiebt sich das Spannungsfeld der tradierten Insolvenzverfahrensziele von Liquidation durch Einzelveräußerung und der damit verbundenen Zerschlagung hin zur Gesamtverwertung mit dem Ziel einer übertragenden Sanierung oder zur Reorganisation und Sanierung des insolventen Unternehmensträgers selbst. 31 Auch im Gesamtvollstreckungsverfahren war der Verwalter Sachwalter der Gläubigerinteressen. Nicht anders als im Konkursverfahren diente auch im Gesamtvollstreckungsverfahren das Mittel der Betriebsfortführung durch den Verwalter allen Verfahrenszielen – Liquidation, übertragende Sanierung, Reorganisation. 32 Dass dabei die Betriebsfortführung im besonderen Maße die Erfüllung der erweiterten rechtspolitischen Zielsetzung der GesO gewährleistete, lag auf der Hand, da durch die Betriebsfortführung der unvermeidbare Absturz eines insolventen Unternehmens zumindest zeitlich verzögert wurde. Der Gesetzgeber hat dafür zumindest versucht, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Betriebsfortführung zu schaffen. III.
Die Insolvenzordnung
1.
Verfahrenszweck
33 Am 1.1.1999 trat die Insolvenzordnung (InsO) in Kraft. Mit ihr wurde die innerdeutsche Rechtseinheit durch Schaffung eines einheitlichen Insolvenzverfahrens herbeigeführt.18) Die inhaltliche Auseinandersetzung um die Insolvenzrechtsform war geprägt, um die Auseinandersetzung über die von der Insolvenzrechtsform verfolgten Verfahrenszwecke. 34 Während die vom BMJ 1978 berufene Insolvenzrechtskommission in ihrem Abschlussbericht vom Dezember 1984 sowie in dessen Ergänzung aus dem Jahre 198019) den Schwerpunkt auf die Entwicklung eines besonderen Reorganisationsverfahrens zum Zwecke der Sanierung des insolventen Unternehmensträgers zur Vermeidung einer Insolvenz legte, betonten zunächst der RefE eines Gesetzes zur Reform des Insolvenzrechts vom November 1989 und der davon nur leicht abweichenden RegE vom November 1991 als Verfahrensziel wieder das Prinzip der kollektiven Haftungsverwirklichung, wonach das Insolvenzverfahren zur gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger durch bestmögliche Liquidation des Schuldnervermögens führen sollte.20) ___________ 16) Haarmeyer/Wutzke/Förster, Gesamtvollstreckungsordnung, § 1 Rz. 6 ff.; Landfermann, ZIP 1991, 826; Smid, WM 1991, 1621 ff. 17) Kreft in Prütting, RWS-Forum 9, S. 21, 23 f.; Paulus, ZIP 1997, 569, 574 ff. 18) Beule in: Kölner Schrift zur InsO, S. 23 ff. Rz. 2 – 4. 19) BMJ, Erster und Zweiter Bericht der Kommission für Insolvenzrecht. 20) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 77 ff., abgedr. in: Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, RWS-Dok. 8, Bd. 1, 1. Aufl., 1994, S. 97 f.
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Die nachhaltige Kritik, die der RegE durch Literatur und Praxis erfuhr,21) veranlassten den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zu substantiellen Änderungen und Ergänzungen, die insbesondere auch das Vorverfahren betrafen, das jetzt auch dazu dienen sollte, die Fortführungsaussichten mit dem Ziel einer nachhaltigen Sanierung zu prüfen.22) Zusammen mit der Regelung, dass ein Verfahren nur eröffnet werden darf, wenn die Kosten des gesamten Verfahrens gedeckt sind, wurden wesentliche Kritikpunkte der Insolvenzpraxis übernommen.23) Dem vorläufigen Insolvenzverwalter wurde die Möglichkeit eingeräumt, die Weichen auf eine Fortführung des Geschäftsbetriebes zu stellen, um die Option für die nunmehr gleichwertigen Verfahrensziele Liquidation, übertragende Sanierung oder Sanierung des Rechtsträgers bis zur Gläubigerversammlung offen zu halten.24) Die Betriebsfortführung erhält damit im Insolvenzeröffnungsverfahren eine zentrale Bedeutung. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers der InsO kommt der Gläubigerversammlung die Entscheidungskompetenz über den Fortgang des Insolvenzverfahrens zu. Sowohl durch die Form und die Art der Masseverwertung als auch durch die Gestaltung des Verfahrens (Fortführung des schuldnerischen Unternehmens) werden die Interessen der Beteiligten unmittelbar berührt.25) Die Entscheidungsmöglichkeit über den Ablauf des Verfahrens ist Ausfluss einer besonderen Betonung der Gläubigerautonomie. Prägende Intention dieser Ausgestaltung war die Überlegung des Gesetzgebers, dass die Entscheidungen über das Verfahrensziel grundsätzlich von denjenigen Personen zu treffen sind, deren Vermögenswerte auf dem Spiel stehen. Die Bestimmung des Verfahrensziels obliegt der Gläubigerversammlung (§ 157 InsO). Die Gläubiger legen im Berichtstermin die Aufgaben des Insolvenzverwalters hinsichtlich der Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse fest.26) Die Gläubigerversammlung kann entscheiden über x die Stilllegung oder x die vorläufige Fortführung des Betriebes oder x den Verkauf des Betriebes als Ganzes sowie x die Erstellung eines Insolvenzplans. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren kein Selbstzweck ist. Ziel und Rechtfertigung der Betriebsfortführung liegen vielmehr allein darin, die den Gläubigern zur Verfügung stehende Haftungsmasse im Vergleich zu anderen Formen der Insolvenzabwicklung zu maximieren; dies stellt § 1 InsO klar.27) Neben der Vollabwicklung des Schuldnervermögens und der Liquidation des Rechtsträgers28) eröffnen das Insolvenzplanverfahren nach §§ 217 ff. InsO die Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO sowie das Schutzschirmverfahren gemäß § 270d die Möglichkeit, durch Fortführung des Unternehmens bei gleichzeitigem Erhalt des Rechtsträgers die Haftung des Schuldnervermögens zu verwirklichen. ___________ Gravenbrucher Kreis, ZIP 1992, 657 ff. Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, RWS-Dok. 8, Bd. 1, 1. Aufl., 1994, S. 5 f. Gravenbrucher Kreis, ZIP 1992, 625 ff. Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, RWS-Dok. 8, Bd. 1, 1. Aufl., 1994, S. 5 f. Vgl. Allg. Begr. RegE Nr. 3. a, kk) in: Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, RWS-Dok. 18, Bd. 1, 2. Aufl., 2000, S. 96. 26) Vgl. Allg. Begr. RegE Nr. 3. a, kk) in: Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, RWS-Dok. 18, Bd. 1, 2. Aufl., 2000, S. 96. 27) Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, S. 50. 28) Zur Aufgabe der Vollabwicklung s. etwa Uhlenbruck-Pape, InsO, § 1 Rz. 11.
21) 22) 23) 24) 25)
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42 Zwischen den Arten der Massenverwertung besteht Gleichrang.29) Es gibt weder eine Zerschlagungsautomatik noch ist die Sanierung ein vorrangiges Verfahrensziel. Den Wettbewerb um die beste Verwertungsart entscheidet allein das eben genannte Ziel des Verfahrens nach § 1 InsO, das darin besteht, die Befriedigungschancen für die Gesamtheit der Gläubiger zu optimieren. Demnach ist „eine Betriebsfortführung betriebswirtschaftlich sinnvoll, volkswirtschaftlich erwünscht und juristisch geboten, wenn der Wert des Unternehmens im Falle der Fortführung größer ist als bei einer Liquidation“.30)
43 Aus dieser strikten Zweckbindung ergibt sich auch, dass es im Falle des Gelingens der Sanierung allein darum geht, die positive Differenz zwischen Zerschlagungs- und Fortführungswert unter den Beteiligten aufzuteilen. 2.
Betriebsfortführung im Insolvenzantragsverfahren
44 Nach der Konzeption der InsO sollen weder der Insolvenzantrag noch die Verfahrenseröffnung eine Vorentscheidung zur Betriebseinstellung treffen. Daher sind sowohl der vorläufige als auch der endgültige Verwalter gehalten, den Geschäftsbetrieb des schuldnerischen Unternehmens regelmäßig bis zum Berichtstermin aufrechtzuerhalten. 45 Wurde einem vorläufigen Verwalter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übertragen, handelt es sich also um einen „starken“ vorläufigen Verwalter, so bestimmt § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO, dass das Unternehmen des Schuldners bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen ist.31) Die Unternehmensfortführung steht dabei nicht im Ermessen des vorläufigen Verwalters, sondern stellt eine Pflichtaufgabe dar.32) 46 Das Unternehmen des Schuldners ist nur dann stillzulegen, wenn durch die Betriebsfortführung eine erhebliche Minderung des Haftungsvermögens droht.33) 47 Die gleiche Pflicht obliegt auch dem sog. „schwachen“ vorläufigen Verwalter. Obwohl der „schwache“ vorläufige Verwalter nur über den Zustimmungsvorbehalt Einfluss nehmen kann und er für die Masse keine Verpflichtungs- oder Verfügungsgeschäft vornehmen darf, hat er seine Entscheidungen am Ziel der Betriebsfortführung zu orientieren.34) Dies ergibt sich aus § 21 Abs. 1 InsO, wonach es Ziel aller Sicherungsmaßnahmen ist, nachteilige Veränderungen in der Vermögenslage des Schuldners zu verhindern. Hierzu zählt – darauf weist der Gesetzgeber ausdrücklich hin – dass ein Unternehmen des Schuldners vorläufig fortgeführt werden soll.35) Mangels eigener Verfügungsbefugnis besteht die Fortführungspflicht des „schwachen“ vorläufigen Verwalters auf der Ebene der Ausübung des Zustimmungsvorbehalts. Ein passives Verhalten des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters oder die Ausübung der Zustimmungserklärung, die sich nicht am Ziel der Betriebsfortführung orientiert, wären pflichtwidrig; der vorläufige Insolvenzverwalter liefe Gefahr, sich wegen Verletzung der Fortführungsverpflichtung schadensersatzpflichtig zu mach.36)
___________ 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35)
Uhlenbruck-Pape, InsO, § 1 Rz. 1. Uhlenbruck-Pape, InsO, § 1 Rz. 4. Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 22 Rz. 23. Vgl. Blersch/Goetsch/Haas, BK-InsO, § 22 Rz. 13. Vgl. Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 5 Rz. 109 ff. Vgl. Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 5 Rz. 109 ff. Vgl. Begr. RegE z. § 21 InsO, Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, RWS-Dok. 18 Bd. 1, 2. Aufl., 2000, S. 178. 36) Undritz, NZI 2007, 65, 68.
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Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren
Der Insolvenzverwalter hat das Unternehmen des Schuldners regelmäßig bis zum Be- 48 richtstermin fortzuführen. Die Pflicht zur Betriebsfortführung ist zwar nicht ausdrücklich normiert, ergibt sich aber stillschweigend aus der Gesetzessystematik, insbesondere aus den Bestimmungen der §§ 157, 158 InsO. Die Pflicht zur Betriebsfortführung bedeutet gleichzeitig ein vorläufiges Verwertungsverbot. Nach § 159 InsO darf der Verwalter erst nach dem Berichtstermin das zur Insolvenzmasse gehörige Vermögen verwerten. Die Fortführung des Geschäftsbetriebes des Schuldners ist dabei niemals Selbstzweck, son- 49 dern allenfalls Mittel zur Verwirklichung eines zulässigen Verfahrensziels. Häufig wird die Betriebsfortführung nur i. V. m. Sanierungsbestrebungen des Schuldners gesehen. Übersehen wird dabei jedoch, dass die Betriebsfortführung auch die spätere Einzel- oder Gesamtliquidation des Unternehmens des Schuldners vorbereiten bzw. erst ermöglichen kann. Auch darin besteht die Funktion der Betriebsfortführung. Die Betriebsfortführung in der Insolvenz des Schuldners eröffnet demnach i. S. der oben 50 geschilderten Verfahrensziele die nachfolgenden Optionen: x
kurzzeitige Betriebsfortführung begrenzt auf den Zeitraum des vorläufigen Insolvenzverfahrens zur Schaffung der Masse für die Verfahrenskostendeckung.
x
Betriebsfortführung (auch mittel- bis langfristig) mit dem Ziel einer übertragenden Sanierung;
x
dauerhafte Betriebsfortführung zum Zwecke der Reorganisation (Insolvenzplanverfahren).
Aus alledem ergibt sich, dass die Entscheidung über die Betriebsfortführung im eröffneten 51 Insolvenzverfahren nicht von den gesetzlichen Verfahrenszielen getrennt werden kann. Die Betriebsfortführung in der Insolvenz ist nicht Zweck, sondern allenfalls Mittel zur Realisierung eines zugelassenen Verfahrensziels. 4.
Entwicklung des Insolvenzrechts
Analysiert man die Entwicklung des Insolvenzrechts seit Inkrafttreten der Insolvenzord- 52 nung, so wird man feststellen, dass die Insolvenzordnung seit ihrem Inkrafttreten erheblichen strukturellen Veränderungen unterworfen war. Die Veränderungen führen weg von der klassischen Abwicklung von Insolvenzverfahren hin zu einem Sanierungsrecht, in dem das Insolvenzverfahren nur noch ein Bestandteil der Sanierung von Unternehmensträgern darstellt. Gerade die Hinwendung vom Insolvenzrecht zu einem Sanierungsrecht verschafft der Betriebsfortführung eine entscheidende Bedeutung. 4.1
Reform des Insolvenzrechts durch das ESUG
Mit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), in 53 Kraft getreten am1.03.2012, hat der Gesetzgeber, das als Paradigmenwechsel angekündigte Reformpaket in Kraft gesetzt. Die Umsetzung des ESUG kann i. R. der vielfältigen Gesetzesänderungen der InsO als erster Schritt hin zur Stärkung der Sanierungsbemühungen im Insolvenzrecht angesehen werden. Ziele des ESUG waren u. a. die Verbesserung der Sanierungsmöglichkeiten überlebens- 54 fähiger Gesellschaften und darüber hinaus die stärkere Beteiligung der Gläubiger am Insolvenzverfahren. Durch das ESUG sollten auch die Schwachstellen des bisherigen Insolvenzplanverfahrens beseitigt werden. Zu nennen wäre hier u. a. der Abbau von Blockade-
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§3
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
potenzial einzelner Gläubiger. Die Eigenverwaltung sollte durch das ESUG gestärkt und die frühzeitige Stellung von Insolvenzanträgen sollte erleichtert werden.37) 55 Dazu wurden zum Teil völlig neue Wege eingeschlagen und bisher nicht kodifizierte Instrumente eingeführt. Zu nennen sind insbesondere: x
die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses für die Auswahl des vorläufigen Insolvenzverwalters und des vorläufigen Sachwalters sowie des Insolvenzverwalters und des Sachwalters;
x
zur Vorbereitung eines Sanierungsplans in Eigenregie des Schuldners wurde ein sog. „Schutzschirmverfahren“ (§ 270d InsO) eingeführt;
x
schließlich wurde der Debt-Equity-Swap (Umtausch von Forderungen in Gesellschaftsanteile der Schuldnerin) im Insolvenzplanverfahren eingeführt.
56 In einer Pressemitteilung des BMJ zum Inkrafttreten des ESUG vom 29.2.2012 hieß es: „Insgesamt wollen wir durch das neue ESUG einen Mentalitätswechsel für eine neue Insolvenzkultur einleiten“. 4.2
Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz (StaRUG)
57 Im Rahmen der Einführung des ESUG hat der Gesetzgeber beschlossen, eine Evaluierung des ESUG vorzunehmen. Diese Evaluierung ergab insbesondere die Reformbedürftigkeit des Eigenverwaltungsverfahrens. Diese Erkenntnis fiel mit einer Entwicklung in Recht und Praxis zusammen, die daraufhin wirkte eine homogene Restrukturierungskultur zu schaffen, die eine Sanierung sowohl im außergerichtlichen als auch im gerichtlichen Verfahren ermöglichte. 58 Diese langjährige Debatte wurde nicht zuletzt durch Sanierungsfälle ausgelöst die durch Sitzverlegungen nach England bestimmt waren. (Hans Brochier38), Schefenacker39), Deutsche Nickel40)). 59 Mit der Verabschiedung des am 1.1.2021 in Kraft getretenen Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG)41), dessen Art. 1 das StaRUG42) enthält, wurden die Weichen für eine frühzeitige Sanierung von Unternehmen gestellt. Der Weg für ein Sanierungsrecht ist damit eröffnet. 60 Kernpunkte des StaRUG-Verfahrens sind der Eingriff in die Struktur der Verbindlichkeiten (§ 2 Abs. 1 und 2 StaRUG) sowie die Möglichkeit von Eingriffen in die Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte (§ 2 Abs. 3 i. V. m. § 7 Abs. 4 StaRUG). Ein weiterer wesentlicher Schwerpunkt ist die Ausgestaltung des Restrukturierungsplanes (§ 5 StaRUG)43).
___________ Quelle: Statistisches Bundesamt; Jaffé, ZGR 2010, 248, 251. Hans Brochier Holdings Ltd v Exner [2006] EWHC 2594 (Ch). Schefenacker Ltd. Case No. 07-11482 (S.D.N.Y: 2007). High Court of London, Court Case number 2771/2005. Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 42) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 43) Bork, ZIP 2010, 397.
37) 38) 39) 40) 41)
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Die Funktion der Betriebsfortführung im deutschen Insolvenzrecht
§3
Festzuhalten ist nach bisherigen Erfahrungen, dass die Anzahl deutscher Unternehmen, 61 die die Restrukturierung durch ein StaRUG-Verfahren versucht haben, nach mehr als einem Jahr nach Geltung des StaRUG verschwindend gering ist. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten. Die Frage bleibt, welche Auswirkungen die Reformen des Insolvenzrechts auf die Funktion 62 der Betriebsfortführung haben. Man wird hier künftig unterscheiden müssen zwischen dem gerichtlichen Verfahren nach der InsO und dem Verfahren nach StaRUG: x
StaRUG-Verfahren Das StaRUG-Verfahren ist im Wesentlichen als außergerichtliches Sanierungsverfahren ausgestaltet. Der Kern des StaRUG-Verfahrens ist die Sanierung des Unternehmensträgers durch einen Restrukturierungsplan. Dieser Restrukturierungsplan setzt die Möglichkeit einer Betriebsfortführung zwingend voraus. Die Durchführung eines Restrukturierungsplanverfahrens nach StaRUG ist nicht möglich, wenn die Schuldnerin zahlungsunfähig ist. Die Möglichkeit einer Betriebsfortführung ist mithin der Indikator für den Einstieg in ein Sanierungsverfahren nach den Vorschriften des StaRUG. Darüber hinaus erfordert § 14 Abs. 2 StaRUG die Vorlage eines Finanzplanes aus dem sich ergibt, dass eine Fortführung des Betriebes der Schuldnerin möglich ist. Auch hier ist die Betriebsfortführung zwingender Bestanteil der Sanierungsplanung.
x
Insolvenzverfahren Eine Sanierung im Insolvenzverfahren, sei es im Wege der übertragenden Sanierung, sei es durch die Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens setzt ebenfalls notwendigerweise die Betriebsfortführung voraus. Ist eine Betriebsfortführung nicht mehr möglich, muss die Liquidation des Unternehmensträgers durchgeführt werden.
IV.
Fazit
Das Insolvenzverfahren ist ein kollektives Gesamtvollstreckungsverfahren im Interesse 63 der Gläubiger. Es soll dazu dienen, eine gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger zu gewährleisten (§ 1 InsO). Die Sanierung des schuldnerischen Unternehmens im Insolvenzverfahren ist nur dann zu- 64 lässig, wenn es für die Gläubiger die besseren Quoten bietet. Eine Sanierung soll und muss dann erfolgen, wenn der Fortführungswert höher ist als der Zerschlagungswert. Die Funktion der Betriebsfortführung besteht zum einen darin, die Eröffnungsvoraus- 65 setzungen des Insolvenzverfahrens zu schaffen und zum anderen die im Insolvenzverfahren bestehenden Verwertungsoptionen bis zum Berichtstermin für die Gläubiger zu erhalten. Im Sanierungsverfahren nach dem StaRUG ist die Betriebsfortführung Bedingung für 66 die Anwendung des StaRUG und Grundlage für die erforderliche Finanzplanung. Mit der Entwicklung des Insolvenzrechts hin zu einem Sanierungsrecht, gewinnt die Betriebsfortführung als Grundlage und Voraussetzung jeder Sanierungsbemühung eine zentrale Bedeutung. Die InsO sowie das StaRUG schaffen lediglich den Rahmen jeder Unternehmenssanierung. 67 Die eigentliche betriebswirtschaftliche und operative Sanierung des Unternehmensträgers setzt auf der Betriebsfortführung auf und gestaltet von dort die Sanierung des Unternehmensträgers.
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§4 Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil Rebholz
Übersicht I. II. 1.
Einleitung.................................................. 1 Der Insolvenzverwalter und das Klavier................................................. 7 Das Instrument........................................ 11 1.1 Schaffung der betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlage........................................ 12 1.2 M&A-Prozess, Insolvenzplan ...... 14 1.3 Gläubigerrechte ............................. 15 1.4 Sonderrechte .................................. 16 1.5 Individualarbeitsrechtliche Pflichten ......................................... 17 1.6 Kollektivarbeitsrechtliche Pflichten ......................................... 20
1.7 1.8
Immaterielle Wirtschaftsgüter...... 22 Öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeiten .................... 23 1.9 Erfüllung steuerlicher Pflichten ... 25 2. Geeignete Spieler..................................... 27 3. Das Konzert............................................. 32 III. Verantwortlichkeit................................. 40 IV. Normierungs-/Messbarkeitsversuche ... 43 V. ESUG....................................................... 48 1. Allgemeines ............................................. 48 2. Bisherige Entwicklung unter dem ESUG............................................... 52 VI. SanInsFoG, StaRUG ............................. 55 VII. Zusammenfassung/Ausblick ................ 62
Literatur: Berger/Frege/Nicht, Unternehmerische Entscheidungen im Insolvenzverfahren – Entscheidungsfindung, Kontrolle und persönliche Haftung, NZI 2010, 321; Fröhlich, Rücknlick Gesamtjahr 2021, Sanierungs- und Insolvenzgeschehen, SanInsights, Ausgabe 6 2/2022, S. 13, abrufbar unter: https:// www.bakertilly.de/fileadmin/public/Downloads/Newsletter/SanInsights/SanInsights-Ausgabe-202202.pdf (Abrufdatum: 18.11.2022); Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./Thole, Evaluierung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011 (zit.: Jacoby/Madaus/ Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung), abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/101018_Gesamtbericht_Evaluierung_ESUG.pdf (Abrufdatum: 18.11.2022); Jäger/Weber, Konkursordnung, Kommentar, 8. Aufl., 1958–1973; Mönning, R.-D., Insolvenzverwalter als Arbeitgeber: Chancen und Risiken für Arbeitnehmer und Betriebsrat, in: Heinrich, Wirtschaft im Umbruch, Neue Aufgaben für die Arbeits- und Insolvenzrechtspraxis, 2010; Rattunde, Sanierung durch Insolvenz, ZIP 2003, 2103; Stahlschmidt, Die Möglichkeiten des neuen Sanierungsrechts, ZInsO 2021, 205; Stapper, Das Profil des Insolvenzverwalters, in: Festschrift für Wilhelm Nordemann, 1999, S. 259; Wellensiek, Die Fachanwaltschaft für Insolvenzrecht, NZI 1999, 169; Wellensiek, Probleme der Betriebsfortführung in der Insolvenz, in: Festschrift für Wilhelm Uhlenbruck, 2000, S. 199; Thole, Aktuelle Entwicklungen im Berufsrecht der Insolvenzverwalter, AnwBl 2021, 111; Uhlenbruck-Kommission, Zusammenfassung der Empfehlungen der Uhlenbruck-Kommission, NZI 2007, 507; Zimmermann, COVID-Schutzschirmverfahren, StB 2021, 138.
I.
Einleitung
Nach wie vor präsent und zutreffend ist die Aussage von Jäger, wonach die Auswahl des 1 Insolvenzverwalters die Schicksalsfrage des Insolvenzverfahrens ist.1) Nach wie vor gibt es Schätzungen zufolge rund 2 000 Insolvenzverwalter in Deutschland, 2 von denen hauptberuflich 500 bis 800 als Unternehmensinsolvenzverwalter tätig sind.2) Diese Entwicklung ist u. a. dem Umstand geschuldet, dass an die Zulassung als Insolvenzverwalter, welchen das BVerfG3) ausdrücklich als Beruf anerkannt hat, zunächst keine detaillierten und genauen Voraussetzungen verbunden sind. Trotz konstantem jährlichen Rückgang der Unternehmensinsolvenzen in den Jahren 2011 von 30 100 auf 13 990 im ___________ 1) Jäger/Weber, KO, § 78 Rz. 7. 2) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Verband_Insolvenzverwalter_und_Sachwalter_Deutschlands (Abrufdatum: 3.3.2023). 3) BVerfG, Beschl. v. 3.8.2004 – 1 BvR 135/00 und 1086/01, ZIP 2004, 1649 = NZI 2004, 574.
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67
§4
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
Jahr 2021 hat die von vielen erwartete Marktbereinigung und der damit verbundene Rückgang der Zahl tätiger Insolvenzverwalter bisher noch nicht stattgefunden.4) 3 Grundsätzlich wird der Insolvenzverwalter durch einen, das Insolvenzverfahren eröffnenden Beschluss gemäß § 27 InsO bestellt. Dabei schreibt § 56 InsO lediglich vor, dass zum Insolvenzverwalter eine für den Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige Person zu bestellen ist, die aus dem Kreis aller zur Übernahme von Insolvenzverwaltungen bereiten Personen auszuwählen ist. Weitere Voraussetzungen für die Bestellung normiert § 56 InsO nicht. 4 Die Rechtsprechung hat ergänzend neben der Geschäftskundigkeit auch die persönliche Integrität, insbesondere die Ehrlichkeit, als weitere persönliche Anforderung an einen Insolvenzverwalter festgelegt ebenso wie das Nichtvorliegen von strafbaren Handlungen im Zusammenhang mit der Verwaltung fremden Vermögens, die die Ablehnung der Bestellung bzw. auch eine Entlassung rechtfertigen.5) 5 Die genannten Vorgaben reichen jedoch bei Weitem nicht aus, um hieraus auch nur annähernd den Rückschluss ziehen zu können, ob eine Person die Anforderungen, die eine Betriebsfortführung mit sich bringt, erfüllt bzw. über die erforderlichen unternehmerischen Qualitäten hierzu verfügt. 6 Verstärkt steht hier seit einiger Zeit die Schaffung eines Berufsrechts der Insolvenzverwalter in der Diskussion,6) wobei eine tatsächliche Umsetzung des Vorhabens noch keine konkreten Formen angenommen hat. II.
Der Insolvenzverwalter und das Klavier
7 Das Insolvenzverfahren selbst als auch die Betriebsfortführung sind mit einem Klavier vergleichbar, das der Insolvenzverwalter zu spielen hat. Damit das Konzert im Ergebnis auch ein Erfolg für alle Beteiligten wird, sind bestimmte Anforderungen zu erfüllen. 8 Voraussetzung ist, dass der Insolvenzverwalter zunächst die Belegung sämtlicher Tasten kennt und weiß, wann er welche zu spielen hat. Hierbei hat er die Saiten, sprich Beteiligten, i. R. der Betriebsfortführung so anzusprechen, dass im Ergebnis eine Komposition entsteht, die zu dem in § 1 InsO normierten Ziel der bestmöglichen Befriedigung aller Gläubiger führt. Hierzu ist es nicht ausreichend, allein das Instrument und dessen Tastenbelegung zu kennen, der Insolvenzverwalter muss das Instrument auch beherrschen, um gerade auch die sich aus § 158 InsO ergebende Grundidee zu realisieren, einen laufenden schuldnerischen Betrieb zumindest bis zur Gläubigerversammlung fortzuführen, sofern dies ohne eine erhebliche Verminderung der Insolvenzmasse möglich ist. 9 Im Hinblick auf die bereits oben erwähnte Vielzahl der zwischenzeitlich bestellten Verwalter kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass es bereits ausreichend für eine Listung bzw. auch Bestellung ist, wenn man behauptet zu wissen, was ein Klavier ist. 10 Gerade hinsichtlich eines laufenden, fortzuführenden Geschäftsbetriebs und den darin verkörperten Wert, bedarf es jedoch umfangreicherer und weiterer Voraussetzungen und Qualifizierungen, um die in der InsO normierten Ziele im Hinblick auf die Erhaltung von Geschäftsbetrieben erfüllen zu können.
___________ 4) Institut für Mittelstandsforschung, abrufbar unter www.ifm-bonn.org (Abrufdatum: 18.11.2022). 5) BGH, Beschl. v. 17.3.2011 – IX ZB 192/10, ZIP 2011, 671 = NZI 2011, 282; LG Stendal, Beschl. v. 11.8.2010 – 25 T 107/10, NZI 2010, 993; BGH, Beschl. v. 31.1.2008 – III ZR 161/07, ZIP 2008, 446 = NZI 2008, 241; LG Halle, Beschl. v. 22.10.1993 – 2 T 247/93, ZIP 1993, 1739. 6) Thole, AnwBl. 2021, 111.
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Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil 1.
§4
Das Instrument
Gemäß § 80 Abs. 1 InsO geht das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende 11 Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über. Dies bewirkt eine Vielzahl einerseits gesetzlicher als auch aufgabenimmanenter Pflichten auch i. R. der Betriebsfortführung, die durch den Insolvenzverwalter zu erfüllen sind. Auf diese wird in den folgenden Kapiteln des Werks dezidiert eingegangen werden. Insbesondere handelt es sich um folgende Parameter: 1.1
Schaffung der betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlage
Der Insolvenzverwalter ist hier i. R. der obligatorischen Betriebsfortführung zu allen Maß- 12 nahmen berechtigt und verpflichtet, die der Fortführung des Schuldnerbetriebes dienen und eine vorzeitige Stilllegung verhindern. Zu diesem Zweck hat er insbesondere Finanzund Liquiditätspläne, Plan-, Gewinn- und Verlustrechnungen zu erstellen sowie diese fortlaufend den tatsächlichen Entwicklungen des Unternehmens anzupassen.7) Ebenfalls hat er ein entsprechendes Controlling durchzuführen und Soll- und Ist-Ergebnisse 13 zu vergleichen.8) 1.2
M&A-Prozess, Insolvenzplan
Der Insolvenzverwalter muss sowohl mit der Durchführung von M&A-Prozessen, im Hin- 14 blick auf eine eventuelle Veräußerung des Betriebes i. R. einer übertragenden Sanierung, als auch mit dem Instrument des Insolvenzplans vertraut sein und diese auch beherrschen sowie entscheiden, welches der Instrumente zur Anwendung kommen kann. 1.3
Gläubigerrechte
Die in der InsO normierten Rechte der Gläubiger, insbesondere in Form der Einberufung 15 von Gläubigerversammlungen bzw. des Gläubigerausschusses sind zu wahren. 1.4
Sonderrechte
Er hat geltend gemachte Sonderrechte zu prüfen und entsprechend zu berücksichtigen, 16 was insbesondere in den §§ 48 ff. InsO normiert ist. Aus- und Absonderungsrechte hat der Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren grundsätzlich zu berücksichtigen und deren Rechtspositionen zu achten.9) 1.5
Individualarbeitsrechtliche Pflichten
Der Insolvenzverwalter tritt funktionell in die Arbeitgeberposition mit der Folge ein, dass 17 er sämtliche Rechte und Pflichten hat, die sich aus der Arbeitgeberstellung des Insolvenzschuldners ergeben. Er ist an die zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bestehende arbeitsrechtliche Rechtslage gebunden.10) Ebenso muss der Insolvenzverwalter mit dem Belangen des Insolvenzgeldes vertraut sein, 18 insbesondere i. R. des vorläufigen Verfahrens mit der Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes nach § 188 Abs. 4 Satz 1 SGB III. ___________ 7) 8) 9) 10)
Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199, 211. Voigt-Salus in: Mohrbutter/Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, § 22 Rz. 167. BGH, Urt. v. 1.12.2005 – IX ZR 115/01, ZIP 2006, 194, 195. Heinze/Bertram in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 103 Rz. 24; BAG, Urt. v. 30.1.1991 – 5 AZR 32/90, ZIP 1991, 744 = NJW 1991, 1971.
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§4
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
19 Dies umfasst auch sozialversicherungsrechtliche Pflichten, insbesondere die Abführung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge nach § 28d Satz 1 SGB IV bzw. auch die Beiträge zu Berufsgenossenschaft nach §§ 150 ff. SGB VII. 1.6
Kollektivarbeitsrechtliche Pflichten
20 Der Insolvenzverwalter ist an geltende Betriebsvereinbarungen gebunden.11) Er hat die betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften, insbesondere auch im Hinblick auf Betriebsänderungen und damit verbundene Pflichten zum Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans – unter Berücksichtigung der speziellen insolvenzrechtlichen Vorschriften der §§ 120 ff. InsO – zu beherrschen. 21 Der Insolvenzverwalter hat sämtliche Rechte des Betriebsrats in personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zu beachten.12) Auch die tariflichen Bindungen wirken gegenüber dem Insolvenzverwalter.13) 1.7
Immaterielle Wirtschaftsgüter
22 Der Insolvenzverwalter muss in der Lage sein die, eventuell bei der Schuldnerin bestehenden und vorhandenen, immateriellen Wirtschaftsgüter in Form von Patenten, Konzessionen etc. zu erfassen, zu bewahren und deren weitere Anwendungen i. R. der Betriebsfortführung sicherzustellen. 1.8
Öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeiten
23 Grundsätzlich wird das Ordnungsrecht durch das Insolvenzrecht nicht verdrängt.14) Die Bestimmungen des Ordnungsrechts gelten im eröffneten Verfahren fort. Adressat der Ordnungsverfügung ist nach Insolvenzeröffnung der Verwalter. 24 Dies ist insbesondere problematisch bei Vorhandensein von umweltbelastenden Gegenständen bzw. hinsichtlich eventuell erforderlicher Genehmigungen zur Fortsetzung bzw. Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes, bspw. nach dem BImSchG.15) 1.9
Erfüllung steuerlicher Pflichten
25 Der Schuldner selbst bleibt auch während des Insolvenzverfahrens Steuersubjekt und damit auch Steuerschuldner i. S. von § 43 AO bzw. Steuerpflichtiger nach § 33 AO.16) Gemäß § 34 Abs. 3 AO hat der Insolvenzverwalter jedoch die steuerrechtlichen Pflichten des Schuldners wahrzunehmen. 26 Im Rahmen der Fortführung, insbesondere auch im Zusammenhang mit insolventen Konzernen, hat er sich mit x
ggf. bestehenden steuerrechtlichen Organschaften,
x
der eventuellen Besteuerung des Sanierungsgewinns sowie
sämtlichen weiteren Steuern wie Körperschaftsteuer, Lohnsteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Grundsteuer, Kraftfahrzeugsteuer etc. ___________ x
11) Heinze/Bertram in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 103 Rz. 24. 12) BAG, Urt. v. 20.11.1970 – 1 AZR 409/69, BAGE 23, 62, 72; Ott in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 126. 13) BAG, Urt. v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, ZIP 1987, 727; Nerlich/Römermann-Wittkowski, InsO, § 80 Rz. 111. 14) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, NZI 2005, 51, 52 = ZIP 2004, 2145; Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 80 Rz. 170. 15) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 247 ff. 16) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 238.
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Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil
§4
auseinanderzusetzen, die insolvenzrechtlich erforderlichen Abgrenzungen vorzunehmen und entsprechende Pflichten der Insolvenzmasse zu erfüllen.17) 2.
Geeignete Spieler
Die hier dargestellten Themen stellen die wesentlichen Bereiche der Betriebsfortführung 27 im Insolvenzverfahren dar. Aus der Komplexität ergibt sich bereits, dass eine nicht hinreichend qualifizierte Person nicht zum Insolvenzverwalter bestellt werden kann. Ersichtlich muss ein Insolvenzverwalter Kenntnisse über eine große Bandbreite von Rechts- 28 gebieten, insbesondere im Gesellschafts-, Handels-, Arbeits-, Steuerrecht und den angeschlossenen Nebenrechtsgebieten besitzen, da das Insolvenzrecht eine Schnittmaterie verschiedenster Rechtsgebiete ist.18) Neben diesen Rechtskenntnissen sind des Weiteren betriebswirtschaftliche Kenntnisse 29 erforderlich, um zumindest theoretisch und vom Wissenshorizont her die Aufgaben i. R. einer Betriebsfortführung bewältigen zu können. Daher werden insbesondere Berufsgruppen wie Juristen, Wirtschaftsprüfer oder Steuer- 30 berater und ähnlich vorgebildete Personen als Insolvenzverwalter bestellt, die jedoch nicht nur auf ihren berufsspezifischen Wissensbereich beschränkt sein dürfen, sondern insbesondere das Zusammenspiel der einzelnen rechtlichen und wirtschaftlichen Bereiche beherrschen müssen.19) Lediglich umfangreiches theoretisches Wissen bzw. die Kenntnis der Belegung der Tasten 31 des Klaviers führen nun nicht dazu, dass eine in sich stimmige Komposition erklingt und damit ein gelungenes Konzert gespielt wird. Hierzu bedarf es weiterer, nicht normierter und auch schwer messbarer Voraussetzungen und Fähigkeiten. 3.
Das Konzert
Bei den im vorigen Abschnitt dargestellten Voraussetzungen handelt es sich um die fach- 32 lichen Voraussetzungen, über die jeder Insolvenzverwalter i. R. einer Betriebsfortführung grundsätzlich verfügen muss. Alleine die fachliche Kompetenz an sich ist jedoch nicht ausreichend, um eine Betriebsfortführung erfolgreich durchführen zu können. Hinzukommen müssen hier weitere persönliche, insbesondere auch unternehmerische 33 Voraussetzungen, die gesetzlich nicht normiert, aber vom Gesetzgeber unausgesprochen intendiert sind. Das sind diejenigen Anforderungen, die sich im Laufe der Ausübung des Berufs herauskristallisiert haben. Danach ist unerlässlich, dass der Insolvenzverwalter für eine erfolgreiche Ausübung der Tätigkeit i. R. der Fortführung über zahlreiche sog. Softskills verfügt.20) Bei der Ausübung seiner Tätigkeit auch und gerade i. R. der Betriebsfortführung ist der 34 unternehmerisch handelnde Insolvenzverwalter als zentrale Figur des Insolvenzverfahrens nicht nur den Normierungen der InsO unterworfen, vielmehr muss der Insolvenzverwalter bei seiner Entscheidungsfindung eine Vielzahl von Interessen berücksichtigen, die seine Entscheidungsfreiheit zumeist stark reduzieren.21)
___________ 17) 18) 19) 20) 21)
Hierzu im Einzelnen: Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 238 ff., 244 f. Eickmann in: HK-InsO, § 56 Rz. 19. Stapper in: FS Nordemann, S. 259, 261; Graeber in: MünchKomm-InsO, § 56 Rz. 18. R.-D. Mönning in: Heinrich, Wirtschaft im Umbruch, S. 31. Smid, Grundzüge des Insolvenzrechts, § 9 II. 1. Rz. 1.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
35 Insbesondere bei der Betriebsfortführung übt der Insolvenzverwalter eine Unternehmerfunktion aus und hat unternehmerische Entscheidungen zu treffen.22) Zur optimalen Wahrung der Gläubigerinteressen werden an einen Insolvenzverwalter gerade im Falle der Fortführung des schuldnerischen Unternehmens, insbesondere bei der Sanierung, Anforderungen gestellt, die auch mit den Anforderungen an aktive Unternehmer, Kaufleute und im besten Sinne des Wortes Manager gestellt werden.23) Der Insolvenzverwalter nimmt daher grundsätzlich dieselben Aufgaben wie ein Kaufmann, Geschäftsführer oder Vorstand wahr. Er ist auf Grund seines wirtschaftlichen Betätigungshintergrunds mit einem Unternehmensleiter vergleichbar.24) 36 Er hat strategische und operative Entscheidungen, gerade auch im Hinblick auf die künftige Positionierung des Unternehmens mit seinen Produkten, zu treffen. Dies erfordert eine selbstbewusste, erfahrene, wirtschaftlich denkende und auf Ausgleich völlig widerstreitender Interessen bedachte Persönlichkeit mit Entscheidungsfreude, pragmatischer Tendenz zu schnellen Lösungen, guter Menschenkenntnis und peinlicher finanzieller Korrektheit. Gefordert wird Mut, Rückgrat, Entscheidungsfreude, Ehrlichkeit und Erfahrung.25) 37 Die gesamte, bisher dargestellte, fachliche Kompetenz kann in einer Betriebsfortführung lediglich ein- und umgesetzt werden, sofern der Insolvenzverwalter über die Fähigkeit der Kommunikation mit allen Beteiligten verfügt. Insbesondere in Sanierungsfällen braucht der Insolvenzverwalter nicht nur Kompetenz, sondern vor allem Akzeptanz, denn Sanierung beruht auf Konsens.26) 38 Im Rahmen der Betriebsfortführung wird nur derjenige Insolvenzverwalter erfolgreich sein, der insbesondere gegensätzliche Interessen von Beteiligten erkennt und durch sinnvolle Kommunikation und Akzeptanz in der Lage ist, die widerstreitenden Interessen so auszugleichen, dass die Betriebsfortführung erfolgreich durchgeführt werden kann. Kommunikationstalent ist hierbei in vielfältiger Weise gefordert, da der Insolvenzverwalter mit sämtlichen Verfahrensbeteiligten vor dem Hintergrund deren jeweiliger Individualinteressen und auch dem vorhandenen Verständnis für die Rahmenbedingungen eines Insolvenzverfahrens Konsens schaffen muss. Hier ist insbesondere auch diplomatisches Geschick Voraussetzung,27) um das für eine erfolgreiche Betriebsfortführung bzw. Unternehmenssanierung erforderliche positive Insolvenzklima zu schaffen.28) 39 Nur wenn diese Voraussetzungen in der Person des Insolvenzverwalters vorhanden sind, wird es ihm gelingen, durch das Spielen der richtigen Tasten zum richtigen Zeitpunkt und mit der richtigen Stärke dem Klavier die Komposition zu entlocken, die im Ergebnis den Erfolg bei den Insolvenzgläubigern schaffen wird. III.
Verantwortlichkeit
40 Bei Durchsicht der InsO ist festzustellen, dass der Insolvenzverwalter selbst nur in ganz geringem Umfang hinsichtlich der direkten Vornahme von Handlungen eingeschränkt ist. 41 Lediglich in § 158 Abs. 2 InsO ist normiert, dass das Insolvenzgericht auf Antrag des Schuldners und nach Anhörung des Verwalters die Stilllegung oder Veräußerung eines ___________ Berger/Frege/Nicht, NZI 2010, 321. Frege/Keller/Riedel, Hdb. InsR, Rz. 290. Berger/Frege/Nicht, NZI 2010, 321, 322. BGH, Beschl. v. 17.3.2011 – IX ZB 192/10, ZIP 2011, 671 = NZI 2011, 282; Rattunde/Smid/ZeunerSmid, InsO, § 56 Rz. 6; Graeber in: MünchKomm-InsO, § 56 Rz. 55. 26) Rattunde, ZIP 2003, 2103. 27) Wellensiek, NZI 1999, 169, 170. 28) Rattunde, ZIP 2003, 2103, 2109.
22) 23) 24) 25)
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Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil
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schuldnerischen Betriebes untersagt, wenn diese ohne eine erhebliche Verminderung der Insolvenzmasse bis zum Berichtstermin aufgeschoben werden kann. Zwar sehen die §§ 160–163 InsO eine Vielzahl von Konstellationen vor, für deren Umsetzung der Insolvenzverwalter die Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw. der Gläubigerversammlung benötigt. Gleichwohl ist jedoch in § 164 InsO festgehalten, dass durch einen Verstoß gegen diese Vorschriften die Wirksamkeit der Handlungen des Insolvenzverwalters an sich nicht berührt wird. Entsprechende Verfügungen des Insolvenzverwalters sind lediglich unwirksam, sofern sie dem Insolvenzzweck der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung offenbar zuwiderlaufen.29) Ansonsten verbleiben den Geschädigten lediglich Ersatzansprüche gemäß §§ 60 ff. InsO. 42 In diesem Zusammenhang hat der BGH eine grundlegende Entscheidung getroffen.30) Die Business Judgement Rule, wie sie in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG normiert ist, findet auf eine unternehmerische Entscheidung des Insolvenzverwalters weder im Wege einer Analogie noch anderweitig Anwendung. Gerade aber die Tatsache, dass der Insolvenzverwalter im Hinblick auf Verfügungen lediglich in ganz geringem Umfang zunächst bezüglich deren Wirksamkeit eingeschränkt werden kann, erfordert es einen verantwortungsvollen Umgang unter Berücksichtigung sämtlicher widerstreitender Interessen mit dem anvertrauten Vermögen, insbesondere dem laufenden Geschäftsbetrieb und damit einhergehend die Charakterstärke, die in so großem Umfang übertragene Entscheidungsmacht sinnvoll zur bestmöglichen Zielerreichung der Beteiligten einzusetzen. IV.
Normierungs-/Messbarkeitsversuche
In der Vergangenheit ist vielfach versucht worden, durch diverse Normierungsregularien 43 Kriterien für den „idealen“ Insolvenzverwalter zu entwickeln. Beispielhaft sind hier zu nennen die Empfehlungen der Uhlenbruck-Kommission,31) die teilweise auch von Eigeninteressen gesteuerten Bemühungen diverser Berufsverbände wie des VID oder des Gravenbrucher Kreises, die diverse Zertifizierungsmodelle bzw. Verhaltenskodizes entwickelt haben als auch Messbarkeitsversuche des Erfolgs eines Insolvenzverwalters, wie es bspw. das AG Hannover durch Auswertung diverser Verfahrenszahlen vornimmt. Eine Auswertung dieser Art, die das AG Charlottenburg daran angelehnt vorgenommen hat, hat der BGH jedoch als untauglich eingestuft.32) Das Erfüllen all dieser objektiven Voraussetzungen, wie das Einhalten eines Verhaltensko- 44 dexes, persönliche Integrität etc., ist ohnehin Grundvoraussetzung zur verantwortungsvollen Ausübung des Verwalteramts. Gerade nicht messbar sind jedoch die oft entscheidenden Erfolgsparameter, die Softskills 45 bzw. die Persönlichkeit eines einzelnen Verwalters, für den Erfolg einer Betriebsfortführung. So ist erfahrenen Praktikern durchaus bekannt, dass es Betriebsfortführungen gibt, bei 46 denen es ohne größere Probleme möglich ist, den Betrieb fortzuführen und nahezu sämtliche bzw. sämtliche bei der Schuldnerin bestehenden Arbeitsplätze zu erhalten, was im Ergebnis dazu führt, dass dieser Insolvenzverwalter als „guter“ Verwalter wahrgenommen wird. Andererseits ist derjenige Verwalter, dem es gelingt, unter schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wenigstens einen Teilbetrieb zu erhalten und einen Teil der Arbeitsplätze zu bewahren, deswegen nicht automatisch ein schlechter Insolvenzverwalter, wenngleich oftmals hier das Ergebnis von allen Beteiligten oder dem breiten Publikum als min___________ 29) 30) 31) 32)
Ausführlich hierzu Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 80 ff. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, BGHZ 225, 90 = ZIP 2020, 1080. Uhlenbruck-Kommission, NZI 2007, 507; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 56 Rz. 32. BGH, Beschl. v. 13.1.2022 – IX AR (VZ) 1/20, NZI 2022, 377.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
derwertig wahrgenommen wird, auch wenn es inhaltlich mit höheren qualitativen Anforderungen verbunden war. 47 Da jede Betriebsfortführung, aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, als Einzelfall betrachtet werden muss und hier grundsätzlich keine objektiv messbaren Erfolgskriterien angelegt werden können, kann hier aus der Erfüllung objektiver Kriterien wie der Inhaberschaft eines Zertifikats, die zudem lediglich meist Abläufe und nicht Inhalte erfassen, noch kein Rückschluss auf die jeweilige Eignung bzw. die qualitative Abwicklung des einzelnen Fortführungsfalles gezogen werden, da die hierfür u. a. sehr ausschlaggebenden persönlichen Qualitäten des Insolvenzverwalters objektiv nicht messbar sind. V.
ESUG
1.
Allgemeines
48 Gemäß dem durch das ESUG per 1.3.2012 eingeführten § 56a InsO besteht nun die Möglichkeit, dass die Gläubiger „ihren“ Insolvenzverwalter selbst bestimmen können. Das früher bei der Bestellung alleinherrschende Insolvenzgericht ist hier nunmehr stark bzw. vollständig eingeschränkt, wenn eine entsprechend professionelle Vorbereitung dieses Punktes erfolgt ist. 49 Bis zu diesem Zeitpunkt war, um im obigen Bild zu bleiben, den Gläubigern vielfach bekannt, dass ein Klavierkonzert stattfindet. Unter dem Programmpunkt Klavierspieler war jedoch immer vermerkt: Überraschung des Veranstalters, die dann oftmals auch für die Gläubiger sehr groß war. Diese haben nun entsprechend hohen Einfluss auf die Verwalterwahl, womit sich auch ein Insolvenzverwalter nunmehr bei den potenziellen Gläubigern bzw. auch den Koordinatoren im Vorfeld, insbesondere Sanierungsberatungen bzw. Sanierungsabteilungen größerer Dienstleistungseinheiten wie Wirtschaftsprüfern etc. präsentieren muss. 50 Hierzu gehört zu der vorerwähnten Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten heutzutage auch eine repräsentative Außendarstellung einschließlich entsprechender Werbe- und Marketingmaßnahmen. Auch hier haben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren starke Umwälzungen stattgefunden, was sich an den Darstellungen vieler Büros durch Erarbeitung einer Corporate Identity, den Bezug repräsentativer Büroflächen oder eben auch der Entwicklung der Printmedien und auch in den letzten Jahren der zeitgemäßen Internet-Medien und der Selbstdarstellung auf vielfach von Profis ausgefeilten Internetpräsentationen ablesen lässt. 51 Die Abdeckung dieser Bereiche ist erforderlich, um auch in Zeiten des ESUG für die nun zum Teil bezüglich der Bestellung des Verwalters relevanten Beteiligten präsent zu sein. 2.
Bisherige Entwicklung unter dem ESUG
52 Bereits mit der Verabschiedung des ESUG am 7.12.2011 hat der Bundestag die Bundesregierung verpflichtet, fünf Jahre nach Inkrafttreten des ESUG eine Evaluierung durchzuführen.33) Dieser mehr als 300 Seiten umfassende Bericht wurde durch ein Team von fünf Wissenschaftlern (Jacoby, Madaus, Sack, H. Schmidt, Thole) erarbeitet und im Oktober 2018 vorgestellt.34) Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass eine Abkehr bzw. eine grundlegende Umgestaltung der Eigenverwaltung aufgrund des Ergebnisses der Evaluierung nicht indiziert sei.35) ___________ 33) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. ESUG, v. 26.10.2011, BT-Drucks. 17/7511, S. 5 Abschn. II (Entschließungsantrag); BTag, Beschl. v. 27.10.2011, Plenarprotokoll 17/136, S. 16173. 34) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung. 35) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 297.
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Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil
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Einer Statistik der STP GmbH36) ist zu entnehmen, dass in den ersten drei Jahren der 53 Gültigkeit des ESUG bei insgesamt über 29 000 Insolvenzverfahren von Kapital- und Personengesellschaften lediglich 732 Verfahren über die Instrumente der §§ 270a sowie 270b InsO eingeleitet worden, was nicht einmal 2,5 % entspricht. Dieses hat sich im Laufe der Zeit nicht geändert und wird auch durch den Evaluierungsbericht bestätigt,37) wonach Eigenverwaltungsverfahren als quantitativ nicht besonders relevant anzusehen sind. Der als marginal anzusehende Anteil an ESUG-Verfahren erlangt jedoch trotzdem beson- 54 dere Bedeutung, da insbesondere bei den sog. „großen“ Verfahren nahezu 50 % der Verfahren über die §§ 270a oder 270b InsO eingeleitet worden sind. So lag im Jahr 2021 der Anteil bei Unternehmen mit mehr als 20 Mio. € Jahresumsatz, bei 49 %, die das Insolvenzverfahren gemäß §§ 270a, 270b InsO beantragt haben38). VI.
SanInsFoG, StaRUG
Der Evaluierungsbericht sieht Korrektur- und Ergänzungsbedarf in Bezug auf einzelne, 55 allerdings durchaus gewichtige Weichenstellungen sowie Einzelfragen.39) Der Gesetzgeber hat diese Anregungen mit dem SanInsFoG vom 22.12.2020,40) das in Art. 5 Änderungen der InsO vorsieht, umgesetzt. Zudem wurde mit dem SanInsFoG zugleich die Richtlinie der EU 2019/1023 (Restrukturie- 56 rungsrichtlinie)41) in das nationale Recht umgesetzt.42) Hierzu wurde in Art. 1 des SanInsFoG das neue StaRUG43) geschaffen. Hierbei handelt es sich um ein insbesondere finanzwirtschaftliches Sanierungsinstrument außerhalb eines Insolvenzverfahrens und anders als bei einer sonstigen außergerichtlichen Sanierung um ein förmliches Verfahren, das den Vorteil mit sich bringt, dass sämtliche geschlossenen Lösungen anfechtungs- und insolvenzfest sind.44) Dieses Verfahren ist noch weiter entfernt von der Tätigkeit des klassischen Insolvenzver- 57 walters als diejenige des Sachwalters in Eigenverwaltungsverfahren. Hier verbleiben nur, sofern man nicht als Berater für die Schuldnerin das Restrukturierungsverfahren durchführt, die Rollen des durch das Gericht bestellten Restrukturierungsbeauftragen (§§ 73–79 StaRUG) oder Sanierungsmoderators (§§ 94, 96 StaRUG), die aber überhaupt keine Möglichkeiten zum unternehmerischen Handeln beim sich in der Restrukturierung befindlichen Unternehmen bieten. Hier ist das als Insolvenzverwalter erworbene Knowhow insbesondere auch die vertiefte Kenntnis der Insolvenzplanregeln, an die die Regelungen des Restrukturierungsplans eng angelehnt sind, ein Vorteil, mit dem sich ein Insolvenz___________ 36) 37) 38) 39) 40) 41)
42) 43)
44)
http://insolvenzblog.de/3-jahre-esug-statistik/2015/03/11/ (Abrufdatum: 18.11.2022). Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 15. Fröhlich, SanInsights, Ausgabe 6, 2/2022, S. 13. Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 297. Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Kübler/Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 270 Rz. 4. Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). Zimmermann, StB 2021, 138; Stahlschmidt, ZInsO 2021, 205, 210.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
verwalter in diese Positionen beim Restrukturierungsgericht platzieren und im Verfahren einbringen kann. 58 Das ESUG hat im Hinblick auf die hier gegenständliche Thematik des Insolvenzverwalters als Unternehmer in Verfahren dieser Art zu erheblichen Änderungen geführt. Als Sachwalter i. R. der Eigenverwaltung stehen diesem keinerlei Verfügungsbefugnisse, sondern lediglich Überwachungsaufgaben zu, die Parallelen im Wirtschaftsleben am ehesten in der Position des Aufsichtsrats einer AG finden, der gegenüber dem Vorstand nicht weisungsbefugt ist, gleichwohl jedoch umfangreiche Kontrollpflichten hat als auch für die Erfüllung seiner Pflichten entsprechend umfangreich haftet. Dies hat sich auch durch die Anpassungen der InsO in Art. 5 des SanInsFoG nicht geändert. Noch ferner hiervon sind die Regelungen des StaRUG, die zu einer Verwalterposition gar keinen Bezug mehr haben. 59 Die dem klassischen Insolvenzverfahren innenwohnende Position des Insolvenzverwalters als Regenten sieht weder das ESUG auch nach den Änderungen durch das SanInsFoG noch das StaRUG mehr vor; sollte der in Aussicht genommene schwache Regent im Vorfeld andeuten, den Schlüssel zur Schatztruhe übernehmen zu wollen, wie ihm dies in § 275 Abs. 2 InsO eingeräumt wird, führt dies im Ergebnis faktisch meist dazu, dass der Kandidat aus dem Kreis der eventuell zu Ernennenden ausgeschlossen wird. 60 Unabhängig davon, ob das Instrumentarium des ESUG nun die Gläubigerautonomie wie ursprünglich angedacht verstärkt hat oder tatsächlich das Verfahren eher den Schuldnern und deren Beratern zur Sanierung in Eigenregie nahezu ohne Einfluss des Sachwalters verhilft, ist im Ergebnis festzustellen, dass es in ESUG-Verfahren zu einer deutlichen Schwächung des vom Gesetzgeber vorgesehenen Überwachungsorgans im Vergleich zum klassischen Insolvenzverwalter gekommen ist, was im StaRUG noch weniger ausgeprägt ist. 61 Als Unternehmer im eigentlichen Sinne, wie dies im klassischen Insolvenzverfahren der Fall ist, kann der Sachwalter im ESUG-Verfahren nicht gesehen werden – noch weniger der Restrukturierungsbeauftragte oder Sanierungsmoderator in einem StaRUG-Verfahren. VII. Zusammenfassung/Ausblick 62 Neben der Beherrschung der relevanten, sämtlicher ein Insolvenzverfahren berührender Rechtsgebiete und betriebswirtschaftlichen Fähigkeiten, sind insbesondere Softskills in der Person des Insolvenzverwalters erforderlich, mit denen er in der Lage ist, die oftmals widerstreitenden Interessen der Beteiligten zu einen, und durch Kommunikation und diplomatisches Geschick das angestrebte Verfahrensziel zu erreichen. Hierbei muss es dem Insolvenzverwalter insbesondere gelingen, sich innerhalb kürzester Zeit das Vertrauen der Beteiligten zu erarbeiten, um erfolgreich den der InsO innewohnenden Grundgedanken der Sanierung und Betriebsfortführung unter enormem Zeitdruck umsetzen zu können. 63 Diese Erfordernisse sind jedoch nur eingeschränkt normierbar. Deren Auswirkungen auf das Verfahrensergebnis sind zwar von entscheidender Bedeutung, jedoch im Hinblick auf das Verfahrensergebnis leider schwer messbar. 64 Durch die Einführung des ESUG ist es bereits zu einer erheblichen Schwächung der alten Position des Insolvenzverwalters gekommen, der als Sachwalter lediglich noch Überwachungspflichten zu erfüllen hat. In den Verfahren nach StaRUG ist nichts geblieben, was außer Kompetenz und dem Vorhandensein von Softskills in Zusammenhang mit dem Insolvenzverwalter als Unternehmer steht. Ob sich Verfahren nach dem StaRUG in großem Umfang durchsetzen, ist als fraglich anzusehen. Nach Kenntnis des Verfassers hat es in Deutschland seit Inkrafttreten der Regelungen nicht einmal 30 Verfahren bis zum 30.6.2022 bundesweit gegeben.
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Der Insolvenzverwalter als Unternehmer – das Anforderungsprofil
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Der sich in den letzten fünf bis zehn Jahren abzeichnende und durchgeführte Wandel auch 65 im Bereich der Gesetzgebung führt also insbesondere dazu, dass der Insolvenzverwalter als Unternehmer im Insolvenzverfahren selbst immer weniger relevant sein wird, da vermutlich größere Unternehmensrestrukturierungen künftig weiterhin außerhalb eines klassischen Insolvenzverfahrens, bei dem der Insolvenzverwalter als Unternehmer gefordert ist, oder über das StaRUG außerhalb eines Insolvenzverfahrens durchgeführt werden. Der Insolvenzverwalter ist künftig noch mehr in der Rolle als eigener Unternehmer ge- 66 fordert, um sich hier dem Wandel der Märkte anzupassen und sich auch künftig in den maßgeblichen Restrukturierungsprozessen eine Position zu sichern. Auch in eigener Hinsicht sind die Insolvenzverwalter durch die Entwicklung der Verfahrenszahlen unternehmerisch zunehmend herausgefordert, da die Zeiten, in denen es nicht eine Frage war, ob ein Insolvenzverwalter Geld verdient, sondern wieviel Geld er verdient, größten Teils vorüber sind. Einhergehend mit der immer restriktiveren Vergütungspolitik der Gerichte besteht vor 67 diesem Hintergrund nunmehr die Gefahr, dass insbesondere mittelgroße Verwalterbüros, die durch die Bearbeitung einer Vielzahl kleiner und mittlerer Verfahren das Rückgrat der Insolvenzverwaltung darstellen, hierdurch die Möglichkeit genommen wird, die zur Abwicklung von, erwarteten qualitativ hochwertigen, Verfahren notwendige Infrastruktur dauerhaft vorzuhalten und die ihnen übertragenen Verfahren weiterhin auf diesem Niveau abzuarbeiten. Die Art der Vergütungsfestsetzung ist inzwischen teilweise damit vergleichbar, dass erwartet wird, dass der Standardflug nach Mallorca, der 99 € ohne Gepäck kostet, inklusive Sitzplatzreservierung, Zusatzgepäck, Getränken und Verpflegung an Bord für 77 € durchgeführt wird. Mit diesem Ansinnen bekommt man bei der Airline kein Ticket. Der Verwalter erfährt aber leider immer erst (teils nicht nur Monate, sondern Jahre) nach der Landung, wie denn der durchgeführte Flug nun tatsächlich vergütet wird; unter Ausschöpfung des Beschwerdewegs kann das auch Jahre dauern. Vor dem Hintergrund der seit Inkrafttreten der InsVV im Jahr 1999 bis zum 31.12.2020 unverändert bestehenden InsVV haben die 77 € aufgrund der Inflation von 33,3 % in diesem Zeitraum45) noch eine Kaufkraft von 51,36 €. Durch diese Umstände sind die Insolvenzverwalter mehr denn je gezwungen, eventuell 68 auch im eigenen Büro Maßnahmen umzusetzen, die sie bisher nur in ihrer unternehmerischen Funktion als Insolvenzverwalter in schuldnerischen Betrieben umsetzen mussten.
___________ 45) www.finanz-tools.de; www.statista.com (Abrufdatum jew.: 18.11.2022).
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§5 Betriebsfortführung und Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung Runkel/Fliegner
Übersicht I.
Einführung in die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung ......................................... 1 1. Entstehungsgeschichte ................................ 1 2. GOI: Verpflichtender Qualitätsstandard im VID........................................... 7 II. Überblick über die Regelungen der GOI...................................................... 12 1. Gliederungsübersicht ................................. 12 2. Die wichtigsten Grundaussagen einzelner Regelungen ................................. 13 2.1 Allgemeine Bestimmungen ........... 13 2.2 Allgemeine Anforderungen an den Verwalter und seine Organisation .................................. 14 2.3 Regeln zum Verfahrensablauf....... 23 2.4 Regeln zur Eigenverwaltung ......... 38 2.5 Regeln zum Insolvenzplan............ 40 2.6 Regeln zu Auslandsberührungen und zur Öffentlichkeitsarbeit ....... 41
III. GOI-Regelungen zur Betriebsfortführung und Auslaufproduktion............ 43 1. Betriebsfortführung ................................... 44 1.1 Die spezielle GOI-Regelung......... 44 1.2 Weitere einschlägige Qualitätsstandards......................... 48 1.2.1 Höchstpersönlichkeit.................... 49 1.2.2 (Externe)Dienstleistung ............... 52 1.2.3 Compliance .................................... 54 1.2.4 Verfahrensannahme und Kontaktaufnahme .......................... 55 1.2.5 Transparenz und Kommunikation gegenüber Beteiligten .................... 56 1.2.6 Behandlung von Masseverbindlichkeiten ........................... 59 1.2.7 Rechnungswesen und Abschlüsse ..................................... 60 1.2.8 Eigenverwaltung und Insolvenzplan................................. 63 2. Regelung zur Auslaufproduktion.............. 66
Literatur: Ahrendt, Qualität in der Insolvenzverwaltung, InsVZ 2010, 363; Dettmer, Neue Qualitätsstandards im VID e. V. – Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung GOI, ZInsO 2013, 170; Römer, QMS und GOI: Chancen und Herausforderungen für die Insolvenzpraxis! Ein Erfahrungsbericht aus Auditoren-, Berater- und Insolvenzverwaltersicht, KSI 2012, 218; Siemon, Die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung des VID – des Guten zu viel!, ZInsO 2013, 666; Smid, Vorabsprachen und Vorbefassung in der Insolvenz – Wann sind Transparenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Gefahr?, ZInsO 2022, 965; Smid, Zuständigkeit des Insolvenzgerichts bei Sitzverlegung, Verwalterauswahl und Pflichtenkanon des Insolvenzverwalters de lege ferenda – Gesetzgebungsvorschläge nicht nur aus Anlass des „Bremer Modells“, NZI 2021, 710.
I.
Einführung in die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung
1.
Entstehungsgeschichte
Die Spiele der Fußball-Bundesliga werden vom Anpfiff bis zum Abpfiff nach den Regeln 1 des Deutschen Fußball-Bundes durchgeführt. Trotzdem hält die samstägliche Sportschau neben Spieltag-Highlights immer auch „schmale Kost“ bereit. Der Einfluss von Spielregeln auf die Güte des Spiels ist offensichtlich begrenzt. Die materiell- und verfahrensrechtlichen Bestimmungen der InsO sind die normierten Spiel- 2 regeln des Insolvenzverfahrens. Sie enthalten Regelungen zur Verfahrenschronologie und begründen Rechte und Pflichten Verfahrensbeteiligter. Indes zeigt auch hier die Praxis, dass allein eine an den Maßstäben der InsO gemessen regelkonforme Verfahrensabwicklung noch kein Gütesiegel verdient. Seit jeher waren im Kreis der Konkurs- und Insolvenzverwalter unterschiedliche Abwick- 3 lungsmentalitäten erkennbar. Die Gründe dafür sind vielschichtig. So waren bis zur Einführung der InsO im Jahr 1999 noch nicht einmal die Verfahrensziele normiert. Auch die Runkel/Fliegner
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§5
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
rechtliche Einordung des Konkurs-/Insolvenzverwalters selbst stand im Streit.1) Im Spannungsfeld zwischen Gläubiger- und Schuldnerinteressen konnte so ein generell unterschiedliches Aufgabenverständnis bei der Handhabung ein und desselben Abwicklungssachverhalts zu recht unterschiedlichen Sachbehandlungen führen. 4 In jüngerer Zeit ist die Praxis der Insolvenzabwicklung zunehmend in den Fokus der Fachöffentlichkeit, aber auch allgemein der Medien geraten. Gegenstand der Kritik war dabei immer häufiger unzulängliches Verwalterhandeln, das im schlimmsten Fall sogar die Strafbarkeitsschwelle überschritt.2) Es kann dahinstehen, ob diese zunehmende Aufmerksamkeit tatsächlich mit einer Zunahme an schlechter Verwaltung korreliert. Tatsache ist jedenfalls, dass das Ansehen des Berufsstands der Insolvenzverwalter unter dieser Presse zunehmend litt. 5 Zudem wirkten auch weitere äußere Einflüsse in den letzten Jahren maßgeblich auf den Verwalterberuf ein: In der Folge eines Beschlusses des BVerfG vom August 20043) waren die bis dahin in der Praxis üblichen geschlossenen Listen bei den Insolvenzgerichten nach und nach abgeschafft worden. Die Konkurrenzsituation hat sich vor diesem Hintergrund in den letzten Jahren stetig verschärft. Weitere Konkurrenz erwächst dem Berufsstand der Insolvenzverwalter neuerdings durch die Beraterbranche. Hier hat das ESUG mit der Novellierung des Rechts der Eigenverwaltung ein umkämpftes Betätigungsfeld bereitet. 6 Der Verband Insolvenzverwalter Deutschlands e. V., seit 2020 umbenannt zum Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e. V. (VID), hatte diese Entwicklungen auf seiner Frühjahrstagung im Jahr 2010 aufgenommen. Nach eingehender Diskussion hatte die Mitgliederversammlung beschlossen, einen Kodex für gute Insolvenzverwaltung zu erarbeiten, der über die schon damals existierenden (allgemeinen) Berufsgrundsätze des VID hinausgehen sollte. Deshalb wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche erstmals Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung (GOI) erarbeitete, die letztendlich auf der Frühjahrstagung des VID am 5.5.2012 verabschiedet wurden. In der Folgezeit kam es als Reaktion auf die Entwicklungen der Praxis mehrfach zu Ergänzungen und formalen Anpassungen der Regelungen. Derzeit gelten die GOI in der Fassung vom 15.12.2020.4) 2.
GOI: Verpflichtender Qualitätsstandard im VID
7 Wie sich bereits aus der Präambel ergibt, schaffen die im VID zusammengeschlossenen Insolvenzverwalter mit den GOI, aufbauend auf den gesetzlichen Vorschriften und den bereits 2006 verabschiedeten Berufsgrundsätzen, nunmehr erstmals einen Qualitätsstandard der Berufsausübung. Zwar handelt es sich dabei durchaus um einen Mindeststandard für die Abwicklung von Insolvenzverfahren,5) gleichwohl sind die GOI so konzipiert, dass sie ein aus heutiger Sicht gutes fachliches Niveau der Verwaltertätigkeit („State of the art“) in allen wesentlichen Aufgabenbereichen sicherstellen sollen. Sie sind alles andere als der „Marketinggag“ eines Berufsverbandes. 8 Im Dienste der Sache kam weder eine Orientierung am untersten Abwicklungsniveau noch an etwaigen besonderen Schutzbedürfnissen kleiner (Einzel-)Verwalterbüros in Betracht. Vielmehr verlangte der ausschließliche Qualitätsfokus, bei der Formulierung der GOI einzig die sachlichen Erfordernisse in den Mittelpunkt zu rücken. Bei der Formulierung ___________ 1) Zum Theorienstreit: Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 20 ff. 2) Vgl. bspw. Rspr.- und Literaturnachweise bei Frind in: HambKomm-InsO, § 59 Rz. 14, die nahezu ausschließlich jüngeren Datums sind. 3) BVerfG, Beschl. v. 3.8.2004 – 1 BvR 135/00 u. 1086/01, ZIP 2004, 1649 ff. 4) GOI – Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung, Stand: 15.12.2020, abrufbar unter https://www.vid.de/der-verband/qualitaetsstandards/goi/. 5) Dettmer, ZInsO 2013, 170.
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Runkel/Fliegner
Betriebsfortführung und Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung
§5
der Qualitätsstandards wurden deshalb vornehmlich die Erwartungen der (anderen) Verfahrensbeteiligten in den Mittelpunkt gestellt.6) Die GOI sind darauf angelegt, die Abwicklungspraxis durch eine Vielzahl verpflichtender Qualitätsvorgaben zu verbessern, indem insbesondere jeder Insolvenzverwalter aufgerufen ist, seine Abwicklungsprozesse in qualitativer Hinsicht an jene der GOI anzugleichen. Die Berufsausübungsregelungen der GOI waren, vereinzelter kritischer Stimmen7) zum 9 Trotz, schon wenige Jahre nach ihrer Einführung über die Implementierung einer Zertifizierungsverpflichtung faktisch ein gelebter Standard. Über die Satzung des VID wurde die Anerkennung und Einhaltung der GOI für dessen Mitglieder verbindlich normiert. Zudem haben sich die Mitglieder verpflichtet, für ihre Tätigkeit als Insolvenzverwalter ein Qualitätsmanagementsystem zu installieren und dieses durch eine akkreditierte Zertifizierungsstelle nach ISO 9001 in der jeweils aktuellen Fassung zertifizieren zu lassen8). Die Einhaltung der GOI ist durch die Zertifizierung nachzuweisen. Maßgeblich sind insoweit alle Verfahren ab dem 1.1.2013.9) Die Einhaltung der GOI wird i. R. der Zertifizierung jährlich anhand einer eigenständig hierfür erarbeiteten Prüfungsordnung (GOI PrüfO10) überprüft.11) Zertifizierte Verwalter führen das Zertifikat VID-CERT. Smid bescheinigt den GOI heute Rechtsnormqualität. Die GOI könnten als Teil des Korpus 10 insolvenzrechtlicher Normen über die Pflichten der Insolvenzverwalter angesehen werden. Zur Beseitigung von Unklarheiten über den normtheoretischen Status schlägt er vor, in der Haftungsnorm des § 60 InsO zukünftig die GOI als Haftungsmaßstab ausdrücklich zu erwähnen12). Wenn mit der verbindlichen Verpflichtung auf Einhaltung der GOI zukünftig eine Auslese, 11 etwa i. R. von Bestellungsentscheidungen, verbunden ist, so ist dies seitens des VID sicherlich beabsichtigt. Die durchaus fordernden, aktivierenden Qualitätsanforderungen der GOI sollen Richtern und Gläubigern gleichermaßen ein maßgebliches Unterscheidungskriterium etwa i. R. von Bestellungsentscheidungen sein.13) Die GOI sollen eben nicht nur schlechte Verwaltung im Bereich des Berufsstands der Insolvenzverwalter erschweren, sie sollen auch Begehrlichkeiten der Beraterbranche14) zurückdrängen, die häufig insbesondere schon den hohen Anforderungen an eine spezialisierte Büroorganisation nicht genügen wird. II.
Überblick über die Regelungen der GOI
1.
Gliederungsübersicht
Die GOI enthalten einführend allgemeine Bestimmungen, die die Verpflichtung des Ver- 12 walters zur Befassung mit seiner internen Organisationsstruktur ebenso sicherstellen sollen, wie auch die Errichtung eines Risikomanagements, von Qualitätssicherungsprozessen und ___________ 6) Ahrendt, InsVZ 2010, 363 ff. 7) Siemon, ZInsO 2013, 666. 8) Im August 2021 hat der VID mit dem Ziel einer Feststellung der Akkreditierungsfähigkeit der GOI als Konformitätsbewertungsprogramm i. R. der ISO 9001-Zertifizierung einen Akkreditierungsantrag bei der Deutschen Akkreditierungsstelle GmbH (DAkkS) eingereicht; das Verfahren dauert an. 9) Zu Einzelheiten s. „I. Erläuterung“ der Prüfungsordnung zu den Grundsätzen ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung (GOI PrüfO); zum konkreten Nutzen der Zertifizierung: Römer, KSI 2012, 218 ff. 10) Die Ermittlung von Änderungsbedarf in Bezug auf die PrüfO ist maßgeblicher Gegenstand des derzeit bei der Deutschen Akkreditierungsstelle (DAkkS) anhängigen Akkreditierungsantrags. 11) Text der Prüfungsordnung (GOI PrüfO), abrufbar unter www.VID.de. 12) Smid, NZI 2021, 710, 714 f. 13) Grundsätzlich zustimmend neuerdings Frind in: HambKomm-InsO, § 56 Rz. 76, 77. 14) Auch die Beraterbranche blieb nicht untätig: Im Oktober 2015 hat der Bundesverband Deutscher Unternehmensberater BDU e. V. mit den von seinem „Fachverband Sanierungs- und Insolvenzberatung“ erarbeiteten Grundlagen ordnungsgemäßer Restrukturierung und Sanierung (GoRS) einen Leitfaden für seine Mitglieder vorgelegt.
Runkel/Fliegner
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§5
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
einer Finanzplanung zur Absicherung dieser (eigenen) Organisation. Hiermit wird Erfordernissen der Zertifizierung nach ISO 9001:2015 Rechnung getragen. Sodann behandeln die GOI zunächst Standards zu allgemeinen Anforderungen an den Verwalter und seine Organisation. Der Verfahrenschronologie folgend werden im Anschluss Standards typischer Verwaltertätigkeiten gesetzt. Die aktuelle Fassung der GOI ist unter www.VID.de jederzeit abrufbar. Die ebenfalls dort abrufbare GOI PrüfO behandelt den konkreten Prüfungsumfang jedes einzelnen der insgesamt 70 Grundsätze, die die GOI enthalten. Dabei werden Regelungen der GOI immer dann mit einer Grundsatz-Ziffer versehen, wenn die Regelung einer Prüfung durch Zertifizierer faktisch zugänglich ist. Aus Platzgründen sowie aus Gründen der Übersichtlichkeit wird nachstehend lediglich die Gliederung wiedergegeben. Präambel I. Allgemeine Bestimmungen 1. Verantwortung, Führung, Organisation, Überwachung 2. Risikomanagement, Qualitätssicherung 3. Finanzplanung II. Allgemeine Anforderungen an den Verwalter und seine Organisation 1. Verfahrensziel und allgemeine Anforderungen 2. Höchstpersönlichkeit 3. Dienstleister 4. Vertretungsregelung (Urlaub, Krankheit) 5. Personelle und sachliche Ausstattung der Organisation 6. Haftpflichtversicherung 7. Fortbildung 8. Sachbearbeiterfortbildung 9. Compliance 10. Qualitätspolitik, Erfolgskontrolle III. Regeln zum Verfahrensablauf 1. Annahme des Amtes/Erklärung gegenüber dem Gericht 2. Kontaktaufnahme 3. Sicherungsmaßnahmen 4. Arbeitnehmerfragen 5. Gläubigerausschuss 6. Gutachten 7. Einrichtung von Konten 8. Informationen gegenüber Gericht und Verfahrensorganen 9. Gläubigerinformation 10. Regeln für Buchhaltung, zeitnahes Buchen 11. Erstellung von Jahresabschlüssen und Steuererklärungen 12. Behandlung von Aus- und Absonderungsrechten 13. Behandlung der Masseverbindlichkeiten 14. Betriebsfortführung 15. Auslaufproduktion 16. Vermögensverwertung 17. Unternehmensveräußerung 18. Forderungsprüfung und Tabellenführung 19. Verteilung 20. Verfahrensabschluss 21. Schlussrechnungslegung
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Betriebsfortführung und Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung
§5
IV. Besondere Regeln zur Eigenverwaltung 1. Allgemeine Regelung 2. Eigenverwaltender Schuldner 3. Sachwalter 4. Kommunikation, Zugang zu Unterlagen und Daten 5. Berichtspflicht nach § 274 Abs. 3 InsO 6. (vorläufiger) Sachwalter und Gläubigerausschuss 7. Kassenführung V. Insolvenzplan VI. Besonderheiten bei Auslandberührungen/Internationales Insolvenzrecht VII. Öffentlichkeitsarbeit
2.
Die wichtigsten Grundaussagen einzelner Regelungen
2.1
Allgemeine Bestimmungen
Der Geltungsbereich der GOI umfasst die Tätigkeit als
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x
Sachverständiger,
x
(vorläufiger) Insolvenzverwalter,
x
Sonderinsolvenzverwalter,
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(vorläufiger) Sachwalter,
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Treuhänder,
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Verfahrenskoordinatoren gemäß § 269e InsO und eigenverwaltenden Schuldner, dessen (organschaftliche) Vertreter und Bevollmächtigte. In Bezug auf diese sämtlichen Tätigkeiten ist in den GOI stets lediglich vom „Verwalter“ die Rede. Nach dem Wortlaut sind der Restrukturierungsbeauftragte (§§ 73 ff. StaRUG)15) und der Sanierungsmoderator (§ 96 StaRUG) nicht in den Geltungsbereich einbezogen. Indessen sind auch diese beiden Amtsstellungen durch eine fachkundige, unparteiische Tätigkeit in einem gerichtlich begleiteten Sanierungsverfahrens geprägt. Nach ihrem Sinn und Zweck sind die GOI daher – soweit jeweils passend – auch auf diese Tätigkeiten anzuwenden.
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Um den Anforderungen an eine Zertifizierung nach ISO 9001:2015 gerecht zu werden, sind den GOI seit Dezember 2020 Regelungen zur eigenen Organisation vorangestellt. Der Verwalter ist nunmehr ausdrücklich verpflichtet, „Grundsätze seiner Organisation“ zu entwickeln, intern bekannt zu geben, sicherzustellen und fortlaufend zu überwachen. Regelungsbedürftig sind dabei die Prozessabläufe von Mitarbeitern und Dienstleistern, derer sich der Verwalter zur Abwicklung von Insolvenzverfahren bedient. Absehbare Gefahren für die eigene Organisationsstruktur soll durch die Einrichtung eins Risikomanagementsystems begegnet werden. Dem gleichen Zweck dient die Einrichtung eines Qualitätssicherungsprozesses und einer vorausschauenden Finanzplanung in eigener Sache.
2.2
Allgemeine Anforderungen an den Verwalter und seine Organisation
Um den Anforderungen an eine Zertifizierung nach ISO 9001:2015 gerecht zu werden, ist 14 den Regelungen zu den allgemeinen Anforderungen an den Verwalter seit Dezember 2020 ___________ 15) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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das Verfahrensziel vorangestellt. Demnach orientiert der Verwalter sein Verhalten ausschließlich an den gesetzlichen Zielen des Insolvenzverfahrens (§ 1 InsO) und richtet sein Handeln an den zulässigen Anforderungen des Gerichts aus. 15 Die GOI unterstreichen sodann einleitend die höchstpersönliche Natur des Verwalteramts. Danach ist das Kriterium persönlicher Aufgabenwahrnehmung nicht erfüllt, wenn der Verwalter sich nur formal zum Insolvenzverwalter bestellen lässt, die Abwicklung aber umfassend anderen Personen überlässt. Die grundlegenden, verfahrensleitenden Entscheidungen muss der Verwalter immer selbst treffen. Gleichzeitig wird der Einsatz von Mitarbeitern für eine effiziente Verfahrensabwicklung allerdings als unverzichtbar anerkannt. 16 Die für den Zertifizierer maßgebliche PrüfO geht zur Sicherstellung der Höchstpersönlichkeit von Regelungen im Qualitätsmanagementsystem aus, die sicherstellen, dass ggf. eingesetzte Mitarbeiter dem Verwalter alle Sachverhalte vorlegen, die einer grundsätzlich verfahrensleitenden Entscheidung bedürfen. 17 Die Regelung zu Dienstleistern zielt durch Erstellung einer Positivliste u. a. darauf ab, die sog. „Kofferraumverwaltung“ zu bekämpfen, die sich durch die regelmäßige Beauftragung externer Dienstleister zur Bewerkstelligung ureigener Verwalteraufgaben, z. B. Insolvenzbuchhaltung, Tabellenführung oder Erstellung von Schlussrechnungen, auszeichnet. Aus Transparenzgründen sollen im Übrigen alle Beauftragungen stets dem Insolvenzgericht in geeigneter Weise angezeigt werden. 18 Bei der Ausstattung seiner Organisation verlangen die GOI in personeller Hinsicht den Einsatz qualifizierten Personals für alle relevanten Bereiche der Insolvenzverwaltung, namentlich für die Personalsachbearbeitung, die Lohn- und Finanzbuchhaltung, das Vertragswesen und die Verwaltung der Dauerschuldverhältnisse, die Behandlung der Aus- und Absonderungsansprüche, die Tabellenführung, das Forderungsmanagement, die Qualitätssicherung sowie für die Fristenkontrolle und die Terminverwaltung. In sachlicher Hinsicht setzen die GOI den Einsatz einer leistungsfähigen und gerichtskompatiblen elektronischen Datenverarbeitung voraus. 19 Nach den GOI unterhält der Insolvenzverwalter eine seinem Risiko angemessene, auf das spezielle Risiko des Verwalters zugeschnittene Berufshaftpflichtversicherung, wobei ein Mindestversicherungsschutz von 2 Mio. € pro Versicherungsfall und 4 Mio. € Jahreshöchstleistung festgeschrieben ist. Auch ist der Insolvenzverwalter gehalten, seinen Versicherungsschutz ständig zu überprüfen, um einen Nachversicherungsbedarf jederzeit erkennen zu können. 20 In deutlicher Abweichung von den Vorschriften der Fachanwaltsordnung (FAO) regeln die GOI einen Fortbildungsumfang von mindestens 30 Stunden im Jahr, wobei allerdings Autoren- und Vortragstätigkeiten anrechenbar sind. Auch sorgt der Insolvenzverwalter für eine regelmäßige Aus- und Fortbildung der eingesetzten Sacharbeiter. Nach den GOI garantiert er, dass mindestens ein „Mann-Tag“ pro Sachbearbeiter und pro Jahr für Aus- und Fortbildungskurse aufgewandt wird. 21 Im Rahmen der Compliance hat der Verwalter nach den GOI durch schriftliche Arbeitsanweisung oder entsprechende arbeitsvertragliche Vereinbarungen sicherzustellen, dass auch seine Mitarbeiter Kontrahierungs-, Erwerbs- und Nutzungsverbote beachten, welche der Verwalter bereits gemäß § 8 der Berufsgrundsätze des VID zu beachten hat. 22 Insbesondere Vorschläge des BRAK-InsO aufnehmend, sehen die GOI auch erstmals verpflichtend eine Erfolgskontrolle i. S. einer gelebten Qualitätspolitik vor, welche allerdings zunächst als rein interne Erfolgskontrolle ausgestaltet ist. Danach legt der Verwalter neben der Insolvenzquote weitere Qualitätsziele fest, bspw. Eröffnungsquote, durchschnittliche Verfahrensdauer, Massemehrung durch insolvenzspezifische Ansprüche etc. Er gibt diese
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Ziele seiner Organisation bekannt und überprüft jährlich deren Erreichung. Eine externe Erfolgskontrolle, bspw. durch Abgleich der Daten verschiedener Verwalter, ist angesichts der fast unüberschaubaren Vielzahl an verfahrens- und verwalterbezogenen Besonderheiten nach heutigem Stand nicht seriös möglich.16) Eine wissenschaftlich anerkannte vergleichende externe Erfolgskontrolle gibt es bisher nicht. Die GOI möchten deshalb – begleitend zu den Vorgaben des Insolvenzstatistikgesetztes – zunächst einmal einen eigenen Datenbestand schaffen, der intern durch Datenabgleiche durchaus schon in einem überschaubaren Zeitraum Verbesserungspotenzial aufdecken kann. 2.3
Regeln zum Verfahrensablauf
Nach den Regeln zum Verfahrensablauf darf der Insolvenzverwalter sein Amt nur anneh- 23 men, wenn er nach seiner aktuellen Belastung, der Leistungsfähigkeit seiner Mitarbeiter und der vorhandenen Infrastruktur in der Lage ist, den Anforderungen des konkreten Verfahrens zu genügen. Für die Umsetzung angeordneter Sicherungsmaßnahmen setzen die GOI in bestimmten 24 Bereichen konkrete Standards: So soll die Inventur des beweglichen Anlage- und Vorratsvermögens (lieferantenbezogen) an allen relevanten Standorten durch hierfür qualifiziertes Personal oder Sachverständige erfolgen. Bei Bauinsolvenzen hat eine Sicherung der Baustelle und die Erfassung der Bautenstände zu erfolgen. Zudem sind die Bauvertragsunterlagen einschließlich Korrespondenz sowie die Avalunterlagen (insbesondere SubunternehmerAvale) sicherzustellen. Im Bereich des Arbeitnehmersektors sehen die GOI ganz konkrete Kommunikations- 25 pflichten des Verwalters vor. In einer Betriebsversammlung sind die Arbeitnehmer regelmäßig unmittelbar nach Insolvenzantragstellung über den generellen Verfahrensablauf, die Situation des Unternehmens und die geplanten Maßnahmen und insbesondere über ihre Rechte zu informieren. Auch sind konkrete Maßnahmen des Verwalters vorgesehen, die gerade im Interesse der Arbeitnehmer liegen. So hat der Verwalter auf die Insolvenzgeldvorfianzierung hinzuwirken, eine Funktionsfähigkeit der Personalabteilung sicherzustellen und Urlaubs- und Überstundenansprüche der Arbeitnehmer zeitnah zu ermitteln. Da zu einem professionellen Verständnis von Insolvenzverwaltung die möglichst frühzeitige 26 und intensive Einbindung der Gläubiger in alle Entscheidungen und Maßnahmen des Verwalters gehört, regt der (vorläufige) Insolvenzverwalter, wenn Entscheidungen von besonderer Bedeutung zu treffen sind und soweit dies für den Einzelfall zweckmäßig und angemessen erscheint, die Einsetzung eines (vorläufigen) Gläubigerausschusses an. Nach der Intention der GOI soll § 22a Abs. 3 InsO aus Sicht des Verwalters eher restriktiv ausgelegt werden. Zu Form und Inhalt des Insolvenzgutachtens setzen die GOI konkrete Mindeststandards. 27 So soll sich etwa die Darstellung des Aktivvermögens an der Gliederung des § 266 Abs. 2 HGB orientieren und jeweils auch die an den Vermögensgegenständen bestehenden Fremdrechte benennen. Zudem ist stets auf die insolvenzspezifischen Ansprüche (z. B. Anfechtung, Haftungsansprüche gegen Organe und Gesellschafter) einzugehen. Zur Einrichtung von Konten regeln die GOI das Verbot von Sammelkonten. Sofern in 28 einem Verfahren gesonderte Konten genutzt werden (z. B. Projekt-, Sonderkonten), hat der Verwalter diese Konten unabhängig von der rechtlichen bzw. wirtschaftlichen Zuordnung vollständig, umfassend und transparent gegenüber dem Insolvenzgericht abzurechnen. ___________ 16) Vgl. dazu auch Ahrendt, InsVZ 2010, 363 ff.
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Gleiches gilt nach den GOI, wenn der Insolvenzverwalter Dritte als Treuhänder beauftragt. Die rechtliche Gestaltung ist in diesem Fall zu dokumentieren. 29 Ausführlich regeln die GOI auch den Informationsumfang gegenüber Gericht und Verfahrensorganen sowie die Gläubigerinformation. Letztere wurde nach der Ursprungsfassung der GOI von 2012 verpflichtend über ein elektronisches passwortgeschütztes Gläubigerinformationssystem gewährleistet. Nach der aktuellen, 2016 überarbeiteten und deutlich vager formulierten Fassung stellt der Verwalter den beteiligten Gläubigern lediglich „online Informationen zur Erreichbarkeit zur Verfügung. Er gewährleistet ferner die Bereitstellung aktueller Informationen zu den Ergebnissen der Forderungsprüfung, zur voraussichtlichen Verfahrensdauer und zur Quote.“ Flankierend wird seither lediglich das Erfordernis postuliert, im Falle der Einrichtung eines Gläubigerinformationssystems den Datenschutz zu beachten. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts vom 22.12.2020 (SanInsFoG)17) knüpft der Gesetzgeber an die durch die Ursprungsfassung etablierte Praxis der Verwalterkanzleien an.18) Nach dem neu geschaffenen § 5 Abs. 5 InsO soll ein Verwalter eine elektronisches Gläubigerinformationssystem vorhalten; u. a. sollen den Gläubigern auch die dem Gericht übersandten Berichte des Verwalters zugänglich gemacht werden. Dies ist einer der seltenen Fälle, in welchen die Qualitätsanforderungen der InsO gleich mehrfach über die Regelungen der GOI hinausgehen. 30 Ambitioniert sind die Regeln für Buchhaltung und das zeitnahe Buchen. Danach soll die insolvenzrechtliche Rechnungslegung mittels eines Systems, das Radierbuchungen ausschließt, erfolgen. In ab dem 1.1.2013 eröffneten Verfahren muss ein Insolvenzverwalter den Standardkontenrahmen in der Fassung verwenden, die zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens von dem Fachausschuss SKR-InsO in Kraft gesetzt ist. Zahlungswirksame Geschäftsvorfälle auf den Konten sind regelmäßig innerhalb von zehn Arbeitstagen buchhalterisch zu verarbeiten. Wenngleich der Beginn dieser Zehn-Tages-Frist nach den Erwägungen der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der GOI erst am 4. Tag ab dem Datum des Auszugs zu rechnen ist, so zwingt gerade diese Anforderung die meisten Verwalterbüros regelmäßig doch zu erheblichen Anstrengungen. 31 Die GOI enthalten weiterhin Mindeststandards bei der Behandlung von Aus- und Absonderungsrechten und Masseverbindlichkeiten. Hier geht es insbesondere um die Wahrung der Rechte der Aus- und Absonderungsgläubiger und der Massegläubiger. Der Verwalter muss i. R. seiner Verfahrensführung Sorge dafür tragen, dass die Rechte dieser Gläubiger – etwa auch durch Anträge nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO oder gerichtliche Einzelermächtigung – erhalten bleiben. Diesem Ziel dient auch die oben beschriebene Regelung bei den Sicherungsmaßnahmen, lieferantenbezogen zu inventarisieren. 32 Beauftragt der Insolvenzverwalter für die Be- und/oder Verwertung des Anlage- und Umlaufvermögens einen Dritten, so muss dieser u. a. eine ausreichende Haftpflichtversicherung nachweisen und die Verwertungserlöse für jedes einzelne Verfahren auf gesonderten Konten vereinnahmen. Über Verwertungserlöse hat der Dritte zeitnah abzurechnen und diese auszukehren. 33 Im Bereich der Unternehmensveräußerung gehen die GOI von einer aktiven Suche nach Kaufinteressenten aus. Der Verwalter hat vorhandene Interessenten kurzfristig zu kontaktieren. Auch soll der Verwalter selbst oder über einen geeigneten Dienstleister die jeweiligen Voraussetzungen für einen strukturierten M&A-Prozess schaffen. Zur optimalen Gestaltung des Veräußerungsprozesses sehen die GOI weitere konkrete Vorgaben vor. ___________ 17) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 18) Rüther in: HambKomm-InsO, § 5 Rz. 48.
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Begleitend soll der Verwalter aktiv notwendige Restrukturierungsmaßnahmen als Voraussetzung einer optimalen Veräußerung ergreifen. Im Bereich der Tabellenführung gehen die GOI davon aus, dass der Verwalter zum Prü- 34 fungstermin die eingegangenen Forderungsanmeldungen regelmäßig materiell geprüft hat. Vorläufiges Bestreiten soll vermieden werden. Die Forderungsprüfung soll laufend fortgesetzt werden. Wie sich aus der aktivierenden Intention der GOI ergibt, soll von Abschlagsverteilungen 35 frühzeitig Gebrauch gemacht werden. Die „Kann“-Bestimmung des § 187 Abs. 2 Satz 1 InsO soll von den Verwaltern als eine „Soll“-Bestimmung verstanden werden. Konsequenterweise fordern die GOI auch den frühestmöglichen Verfahrensabschluss, ggf. 36 unter dem Vorbehalt der Nachtragsverteilung. Nach den Erwägungen der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der GOI sollte aus den Zwischenberichten des Insolvenzverwalters idealerweise stets hervorgehen, wann der Verwalter mit dem Verfahrensabschluss rechne und von welchen Arbeitsschritten der Abschluss abhängig sei. Demgegenüber äußert sich die letztendlich verabschiedete GOI PrüfO zu entsprechenden inhaltlichen Anforderungen an die Zwischenberichte allerdings nicht. Für die Schlussrechnungslegung halten die GOI das Erfordernis fest, an die Vermögens- 37 übersicht (§ 153 InsO) anzuknüpfen. Die anschließende Vermögensentwicklung ist unter Bezugnahme auf die Zwischenberichte umfassend und detailliert darzustellen. Die Transparenz und Nachvollziehbarkeit für die Verfahrensbeteiligten soll so erhöht werden. 2.4
Regeln zur Eigenverwaltung
Die GOI sahen in ihrer Ursprungsfassung aus 2012 zunächst lediglich eine „konstruktive 38 Begleitung der Eigenverwaltung durch den Verwalter“ vor. Herausgestellt wurde zudem schon anfänglich, dass der Verwalter für das Amt des (vorläufigen) Sachwalters als objektiver und unabhängiger Vertreter der Gläubigerinteressen zur Verfügung stehe. Die sehr kurz gehaltene Ursprungsformulierung stammte aus einer Zeit, als noch keine praktischen Erfahrungen mit den Verfahren nach den §§ 270a, 270b InsO a. F., jetzt §§ 270b, 270d InsO vorlagen. Der Ausschuss Sanierung, Insolvenzplan und Eigenverwaltung im VID hatte später ergänzende Formulierungsvorschläge unterbreitet, welche nach Abstimmung mit der GOIArbeitsgruppe und einer Beschlussfassung durch die Mitgliederversammlung im Mai 2013 in Kraft traten. Im Hinblick auf die für die Unabhängigkeit des Verwalters streitende Transparenz19) sind nach der überarbeiteten Regelung nunmehr Kontakte des (vorläufigen) Sachwalters mit Beteiligten vor Beauftragung stets offenbarungspflichtig.20) Zudem ist es dem (vorläufigen) Sachwalter verboten, vor seiner Beauftragung Verpflichtungen oder Zusagen im Hinblick auf die spätere Amtsausübung zu machen.21) Zudem enthält die Eigenverwaltungsregelung nunmehr ein auf die Interessen des eigenverwaltenden Schuldners bezogenes Rücksichtnahmegebot. Abermals nach Abstimmung unter den VID-Ausschüssen enthalten die GOI in der Fassung 39 vom 15.12.2020 nunmehr auch konkretere Regelungen zur Kommunikation sowie zum Informationsaustausch des Sachwalters mit dem Schuldner. Insbesondere enthalten sie konkrete Vorgaben an den Sachwalter, seine regelmäßige Informiertheit über eingegangene Verbindlichkeiten, aktuelle Ergebnis- und Planrechnungen, die Auftragslage, die Ausübung der Wahlrechte, die Personalentwicklung, Kosteneinsparungen, die Vermögensverwertung ___________ 19) Fiebig in: HambKomm-InsO, § 270b Rz. 39. 20) IV. 3. b) GOI unter Hinweis auf die allgemeine Bestimmung in III. 1. c) GOI; vgl. auch § 4 der VIDBerufsgrundsätze. 21) Weiterführend Smid, ZInsO 2022, 965 ff.
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und die Betriebsfortführung sicher zu stellen. Auch werden potenzielle Themen einer Nachteilsanzeige nach § 274 Abs. 3 InsO katalogartig, wenn auch beispielhaft, aufgeführt. An Gläubigerausschusssitzungen soll der Sachwalter teilnehmen. Die Verpflichtung zur Initiierung eines regelmäßig sinnvollen Vorgesprächs mit dem Gericht (§ 10a InsO) ist hingegen bisher in den GOI nicht enthalten. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass § 10a InsO erst nach der Verabschiedung der aktuellsten Fassung der GOI mit Gesetz vom 22.12.2020 zum 1.1.2021 in Kraft trat. 2.5
Regeln zum Insolvenzplan
40 Für den Insolvenzplan normieren die GOI die Verpflichtung des Verwalters zu prüfen, ob sich durch einen Plan die Verfahrensergebnisse gegenüber einer Regelabwicklung verbessern lassen. Insoweit besteht eine Äußerungspflicht im Bericht zur Gläubigerversammlung. 2.6
Regeln zu Auslandsberührungen und zur Öffentlichkeitsarbeit
41 Soweit Verfahren Auslandsbezug aufweisen, muss der Verwalter gewährleisten, dass er oder die von ihm in den jeweiligen Verfahren eingesetzten Sachbearbeiter über ausreichende Kenntnisse des internationalen Insolvenzrechts und über entsprechende Sprachkenntnisse, zumindest aber verhandlungssicheres Business-English verfügen. Auch muss sichergestellt sein, dass der Verwalter rechtliche Problemstellungen in fremder Jurisdiktion prüfen und Lösungen erarbeiten kann. 42 Die GOI betonen abschließend die Notwendigkeit, eine die Verfahrensziele fördernde aktive, professionelle Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. III.
GOI-Regelungen zur Betriebsfortführung und Auslaufproduktion
43 Eingebettet in die Regeln zum Verfahrensablauf enthalten die GOI zwei spezielle Regelungen, die sich mit der Fortführung und Einstellung des schuldnerischen Geschäftsbetriebs befassen. III. 14. Betriebsfortführung a) In jedem Verfahren sind alle Möglichkeiten der Betriebsfortführung zwecks Erhalt des Unternehmens und der Arbeitsplätze auszuschöpfen (Grundsatz Nr. 56 GOI PrüfO). b) Die Betriebsfortführung erfordert eine zeitnahe Liquiditätsplanung in Anlehnung an den IDW-Standard. Die Einhaltung der Planung wird in regelmäßigen Abständen durch einen Soll-/Ist-Vergleich überprüft (Grundsatz Nr. 57 GOI PrüfO). III. 15. Auslaufproduktion Der Insolvenzverwalter erstellt in Fällen, in denen ein dauerhafter Erhalt des Unternehmens nicht möglich ist, für den Auslaufzeitraum ausreichende Planungen in den Bereichen Personal, Liquidität und Produktion in Abhängigkeit realistischer Auftragsvolumina. Der Insolvenzverwalter sorgt für die notwendige Kommunikation – insbesondere mit den beschäftigten Arbeitnehmern – über die Besonderheiten, den Ablauf und die Folgen einer Auslaufproduktion. Während der auslaufenden Beschäftigungsverhältnisse macht der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmern in geeigneten Fällen die jeweiligen Förderungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten zugänglich (Grundsatz Nr. 58 PrüfO).
1.
Betriebsfortführung
1.1
Die spezielle GOI-Regelung
44 Wie oben bereits deutlich wurde, haben die GOI im Hinblick auf den Verwalter eine fordernde, aktivierende Intention. Dies zeigt sich auch bei der Betriebsfortführung. Der Verwalter soll – durch Schaffung entsprechender Standardprozesse – alle Möglichkeiten der
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Betriebsfortführung ausschöpfen, die dem Erhalt des Unternehmens und der Arbeitsplätze dienen könnten. Die GOI-Arbeitsgruppe hatte den Diskussionsstand, der für die Formulierung der jeweiligen GOI-Regelungen maßgeblich war, als „Motive/Erläuterungen“ festgehalten. Danach setzt das Ausschöpfen aller Möglichkeiten einer Betriebsfortführung in einem ersten Schritt voraus, die Fortführungsfähigkeit positiv festzustellen. Vorab ist zu klären:
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x
Stehen der Fortführung schutzrechtliche Aspekte entgegen, z. B. fehlende Patente, Lizenzen?
x
Sind die schuldnerischen Produkte aus irgendwelchen Gründen nicht mehr absetzbar?
x
Stehen die erforderlichen Mitarbeiter, insbesondere eventuelle Know-how-Träger zur Verfügung oder sind diese bereits „auf dem Sprung“?
x
Stehen die bisherigen Betriebswege, etwa Vertreter etc., noch zur Verfügung und besteht weitere Abnahmebereitschaft der Kunden, Stichwort: Delisting?
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Können die erforderlichen Vormaterialien noch bezogen werden oder verweigern eventuelle (Key-)Lieferanten die weitere Belieferung?
x
Bestehen sonstige unternehmens- oder marktbedingte Besonderheiten?
Ergeben die vorbezeichneten grundsätzlichen Überlegungen zur Fortführungsfähigkeit einen 46 positiven Befund, so hat der Verwalter in einem zweiten Schritt eine realistische Planrechnung unter Berücksichtigung der liquiditätswirksamen Zu- und Abflüsse aufzustellen. Nach den Motiven/Erläuterungen der GOI-Arbeitsgruppe entspricht die Planrechnung ihrer Form nach einer in die Zukunft gerichteten GuV mit der Maßgabe der Aufzeichnung der liquiditätswirksamen Einnahmen und Ausgaben. Hieraus muss sodann ein eventueller Kreditbedarf wegen des zeitlichen Auseinanderfallens zwischen Ausgabenerfordernis und Einnahmezufluss zu ersehen sein. Die Besonderheit der Implementierung der GOI in das Qualitätsmanagementsystem der 47 Verwalterkanzleien besteht angesichts des vorbezeichneten Regelungsinhalts weniger in einer Verschärfung der ohnehin hohen Anforderungen, die die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des BGH an die Liquiditätsplanung gestellt hat. Vielmehr führt die mit der Implementierungsverpflichtung verbundene Zertifizierungspflicht in den Verwalterbüros dazu, dass die geforderte Liquiditätsplanung auch tatsächlich zeitnah erstellt wird und körperlich vorliegen muss. Denn die PrüfO zur GOI sieht für den Fall der Betriebsfortführung die Vorlage der entsprechenden Liquiditätsplanungen vor (GOI PrüfO Nr. 57, 58). Der Wert der GOI liegt damit in der Beseitigung eines (vermeintlichen) Vollzugsdefizits. 1.2
Weitere einschlägige Qualitätsstandards
Oben wurden bereits die wichtigsten Grundaussagen der einzelnen GOI-Regelungen in 48 allgemeiner Form behandelt. Nahezu jeder in den GOI geregelte Standard hat schon bei Betriebsfortführungen kleineren Zuschnitts seinen Anwendungsbereich. Auf die besonders fortführungsrelevanten Standards soll nachstehend eingegangen werden. 1.2.1 Höchstpersönlichkeit Wie vorstehend bereits ausgeführt wurde, unterstreichen die GOI die höchstpersönliche 49 Natur des Verwalteramts. Lässt sich der Verwalter nur formal zum Insolvenzverwalter bestellen, so ist das Kriterium persönlicher Aufgabenwahrnehmung nicht erfüllt. Nach den GOI sollen folgende Tätigkeiten deshalb regelmäßig höchstpersönlich ausgeführt werden: x
Grundlegende, verfahrensleitende Entscheidungen;
x
Terminwahrnehmung beim Insolvenzgericht; Runkel/Fliegner
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x
Teilnahme an Gläubigerausschusssitzungen;
x
Informationserteilung zumindest in der ersten Betriebsversammlung;
x
grundlegende Verhandlungen mit Übernahmeinteressenten;
x
interne und externe Verfahrensleitung.
50 Fraglos kann ein Verwalter, der pro Jahr 50 oder sogar 100 neue Verfahren annimmt, die übernommenen Aufgaben nur durch erhebliche Delegation erfüllen. Er wird nur in der Lage sein, einen kleinen Teil der Arbeit höchstpersönlich zu erledigen. Unabhängig von der Arbeitsbelastung ist allerdings unabdingbar, dass der Verwalter die das Verfahren prägenden Entscheidungen stets selbst trifft und auch die insoweit wesentlichen Termine selbst wahrnimmt. Dies soll „regelmäßig“ der Fall sein. Vertretungen sind nach der PrüfO zur GOI zwar zulässig. Sie sind aber sachlich zu begründen und zu dokumentieren. Gerechtfertigt ist eine Vertretung insbesondere bei Krankheit, Urlaub und Doppelterminierung. Auch der Einsatz eines jüngeren Kollegen zum Zwecke der Ausbildung wird von der PrüfO akzeptiert. 51 Regelmäßig wird die höchstpersönliche Aufgabenwahrnehmung im ureigenen Interesse des Verwalters liegen. Dies gilt schon aus Marketinggründen für die Teilnahme an einer Gläubigerausschusssitzung und die Terminwahrnehmung beim Insolvenzgericht. Es gilt aber auch für die Betriebsversammlung und Übernahmeverhandlungen, wo der Verwalter für sich regelmäßig eine größere Überzeugungskraft in Anspruch nehmen kann. In Eigenverwaltungsverfahren gelten die Grundsätze zur Höchstpersönlichkeit sowohl für den (vorläufigen) Sachwalter als auch für den Vertreter der eigenverwaltenden Geschäftsführung (den Chief Restructuring Officer, „CRO“). 1.2.2 (Externe)Dienstleistung 52 Die GOI definieren Bereiche, in denen sich der Insolvenzverwalter Dienstleister auf Kosten der Masse bedienen kann. Dies sind: x
Inventarisierung sowie die Be- und Verwertung von Wirtschaftsgütern;
x
Unterstützung bei der Suche nach Investoren zur Vorbereitung der übertragenden Sanierung eines insolventen Unternehmens durch M&A-Berater;
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Erstellung der Buchführung sowie von Jahresabschlüssen und Steuererklärungen;
x
Rechtsberatung und Steuerberatung, soweit es sich um „besondere Aufgaben“ i. S. der InsVV handelt;
x
Be- und Verwertung von Immobilien;
x
Einschaltung von branchen- und insolvenzerfahrenen Zeitmanagern, sofern das vorhandene Management entweder nicht vertrauenswürdig genug oder nicht qualifiziert genug erscheint oder wenn es aus anderen Gründen nicht zur Verfügung steht;
x
bei Bauinsolvenzen die Beauftragung von Fachingenieuren, die zur Sicherung der Bautenstände und zur Sicherung der entsprechenden Werklohnansprüche erforderlich sind.
53 Hier ist auf das Übliche abgestellt worden und dies nicht zuletzt mit Blick auf die InsVV. Die natürliche Bremse für ein totales Outsourcen sind die Zuschlagsfaktoren, die jeder Verwalter im eigenen Interesse im Blick haben wird. Zugleich ist umgekehrt festzuhalten, dass der vergütungsneutrale Einsatz hochspezialisierter Unterstützungskräfte zur sachgerechten Verfahrensbearbeitung unabdingbar ist. Insoweit sind die GOI gerade bei Betriebsfortführungen auch eine Argumentationshilfe gegenüber einer hin und wieder noch anzutreffenden, allzu naiven gerichtlichen Sichtweise. Aus Transparenzgründen ist die Beauftragung externer Dienstleister dem Insolvenzgericht im Übrigen anzuzeigen. Nach Auffassung
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der GOI-Arbeitsgruppe ist hier letztlich auch der Rechtsgedanke des § 407a Abs. 2 Satz 2 ZPO zu berücksichtigen. 1.2.3 Compliance Nach den GOI stellt der Verwalter durch schriftliche Arbeitsanweisungen oder entspre- 54 chende arbeitsvertragliche Vereinbarungen sicher, dass auch seine Mitarbeiter die Kontrahierungs-, Erwerbs- und Nutzungsverbote des § 8 der Berufsgrundsätze des VID beachten. Dadurch soll verhindert werden, dass Mitarbeiter des Verwalterbüros und auch die ihnen nahestehenden Personen während der Dauer des Insolvenzverfahrens eine Beratung oder Vertretung des Schuldners übernehmen. Erst recht soll verhindert werden, dass Mitarbeiter des Insolvenzverwalters mit Unternehmen, an denen sie persönlich unmittelbar oder mittelbar – etwa über Familienangehörige oder andere Gesellschaften – beteiligt sind, kontrahieren. Mitarbeiter dürfen zudem keine Vergütung für Leistungen annehmen, die i. R. des Insolvenzverfahrens erbracht werden. Hierzu zählen insbesondere von dritter Seite angebotene Provisionen für die Vermittlung von Grundstücken, Gewerbebetrieben etc. Schließlich soll auch verhindert werden, dass Mitarbeiter des Insolvenzverwalters Massegegenstände selbst oder durch Dritte erwerben. Eine solche Compliance-Regelung war längst überfällig, da Zweifel an der Unabhängigkeit des Verwalters auch durch Handlungen seiner Mitarbeiter hervorgerufen werden können. 1.2.4 Verfahrensannahme und Kontaktaufnahme Die Förderung der Transparenz, der Kommunikation und einer an den berechtigten Inte- 55 ressen der Beteiligten orientierten Abwicklung ist ein Leitbild der GOI. Im Falle der Betriebsfortführung haben alle Beteiligten ein besonderes Interesse daran, dass schnell Klarheit über den Verwalter besteht. Manchmal kommt es auf wenige Stunden an, weil unter Umständen dringend Erklärungen gegenüber Arbeitnehmern, Lieferanten, Kunden usw. abgegeben werden müssen. Dem tragen die GOI Rechnung. Nach sofortiger Prüfung der aktuellen Belastung und potenzieller Interessenkollisionen hat der Verwalter „unverzüglich“ zu erklären, ob er das ihm übertragene Amt annimmt. Ebenso „unverzüglich“ hat der Verwalter Kontakt zum Schuldner aufzunehmen. Wie die GOI ausdrücklich festhalten, muss diese Kontaktaufnahme bei einem laufenden Geschäftsbetrieb „spätestens am folgenden Werktagvor Ort“ erfolgen. 1.2.5 Transparenz und Kommunikation gegenüber Beteiligten Die GOI soll dazu beitragen, im wohlverstandenen Eigeninteresse des Berufsstands der 56 Insolvenzverwalter die Transparenz der Verfahrensabwicklung zu erhöhen. Deshalb sehen die GOI – unabhängig von normierten gesetzlichen Verpflichtungen – gesteigerte Kommunikationspflichten des Verwalters vor. So sind die Mitarbeiter in der Regel unmittelbar nach Insolvenzantragstellung auf einer Betriebsversammlung durch den vorläufigen Verwalter über den generellen Verfahrensablauf, die Situation des Unternehmens und die geplanten Maßnahmen sowie ihre Rechte zu informieren. Die Betriebsversammlung soll regelmäßig innerhalb von drei Tagen nach Anordnung der vorläufigen Verwaltung erfolgen. Dabei regeln die GOI sogar im Detail, welche einzelnen Rechte der Arbeitnehmer anzusprechen sind, vgl. hierzu III. 4., Grundsatz 35 der GOI. Auch halten die GOI fest, dass Arbeitnehmer während des Verfahrensablaufs über den Sachstand, geplante Maßnahmen und die Verfahrensoptionen zu informieren sind. Die GOI verlangen den fortlaufend kommunikativen Verwalter. Zum Zwecke der (laufenden) Gläubigerinformation sahen die GOI seit 2012 standardmäßig 57 die Bereitstellung eines elektronischen, passwortgeschützten GläubigerinformationssysRunkel/Fliegner
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
tems vor. Der Verwalter hatte die Bereitstellung aktueller Informationen zu den Ergebnissen der Forderungsprüfung, zur voraussichtlichen Verfahrensdauer und zur Quote zu gewährleisten. Damit behoben die GOI einen in vielen Kanzleien festzustellenden Missstand: Natürlich mussten Sachstandsanfragen nach der Rechtsprechung des BGH nicht beantwortet werden. Auch gab es sicherlich bei manchen Gläubigern (noch verbreiteter in bestimmten Anwaltsbüros) die Unsitte, unreflektiert in regelmäßigen Abständen bei dem Verwalter nach dem Stand der Sache anzufragen, obwohl Änderungen nicht absehbar waren. Dagegen stand ein Faktum: Das Insolvenzverfahren findet gerade im wirtschaftlichen Interesse der Gläubiger statt. Die Bereitstellung verfahrensspezifischer Informationen für die Gläubiger über einen Zugangscode (PIN) war deshalb aus Transparenzgründen geboten und auch jedem professionellen Büro zumutbar. Wenngleich die GOI in der aktuellen Fassung das Gläubigerinformationssystem nicht mehr ausdrücklich erwähnen, so hat die Ursprungsfassung der GOI doch maßgeblich zur Normierung des 2020 eingeführten § 5 Abs. 5 InsO beigetragen. 58 Gegenüber dem Gericht und den weiteren Verfahrensorganen sehen die GOI im Hinblick auf das Transparenz- und Kommunikationsgebot rechtzeitige, ausführliche und transparente Informationen vor, die die Beteiligten in die Lage versetzen, jederzeit die ihnen gesetzlich zugewiesenen Entscheidungen treffen zu können. 1.2.6 Behandlung von Masseverbindlichkeiten 59 Eine Betriebsfortführung ohne das Vertrauen des geschäftlichen Umfelds ist nicht möglich. Es liegt im ureigenen Interesse des Insolvenzverwalters, gerade jene Gläubiger als besonders schützenswert anzusehen, die durch Leistungen an die Insolvenzmasse eine Fortführung des Betriebs erst ermöglichen. Die GOI sehen deshalb nicht nur eine sorgfältige Liquiditätsplanung vor. Sie verweisen auch auf das Erfordernis, zum Schutz der Gläubiger ggf. gerichtliche Einzelermächtigungen einzuholen. Zusätzlich soll sich der Verwalter bemühen, Zahlungszusagen adäquat abzusichern. Zu denken ist hier bspw. an eine (zulässige) Vereinbarung von Sicherheiten an Neuforderungen. Persönliche Garantieübernahmen eines Verwalters sind mit solchen „adäquaten Absicherungen“ nicht gemeint. 1.2.7 Rechnungswesen und Abschlüsse 60 Nach den GOI müssen Insolvenzverwalter im Interesse der Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit die Standardkontenrahmen in der Fassung verwenden, die zum Zeitpunkt der Einleitung des jeweiligen Insolvenzverfahrens von dem Fachausschuss SKR-InsO in Kraft gesetzt ist. Die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchhaltung sind zu beachten und vor allem die in vielen Kanzleien immer noch übliche Methode sog. Radierbuchungen ist zu unterlassen. 61 Weiterhin sind Geschäftsvorfälle auf den Konten regelmäßig innerhalb von zehn Arbeitstagen buchhalterisch zu verarbeiten. In der GOI-Arbeitsgruppe war diese Regelung lange diskutiert worden. Die Extrempositionen lagen bei drei Tagen einerseits und jahres- oder quartalsmäßigem Verbuchen andererseits. Selbst bei den abschließenden Formulierungsdiskussionen wurden immer noch Stimmen laut, die Zehn-Tages-Frist sei nicht praxisgerecht. – Richtigerweise ist zu differenzieren: Liegen dem professionell eingerichteten Verwalterbüro alle für die Buchung erforderlichen Belege innerhalb der Frist vor, sollte das Verwalterbüro auch in der Lage sein, die Verbuchungen fristgemäß vorzunehmen. Dabei kommt dem Verwalterbüro schon zugute, dass der Beginn der Zehn-Tages-Frist nach den Motiven/Erläuterungen der GOI-Arbeitsgruppe erst mit dem 4. Tag ab dem Datum des Kontoauszugs beginnt. Wie immer im Leben, kann allerdings Unmögliches nicht verlangt werden. Können Geschäftsvorfälle wegen fehlender Belege nicht verbucht werden, so stellt dies einen Ent-
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Runkel/Fliegner
Betriebsfortführung und Grundsätze ordnungsgemäßer Verwaltung
§5
schuldigungsgrund i. S. der PrüfO dar. Allerdings wird auf eine Dokumentation der jeweiligen Unzulänglichkeiten bei der Belegbeschaffung zu achten sein (GOI PrüfO Nr. 47). Die GOI halten die Pflicht fest, Steuererklärungen und Jahresabschlüsse grundsätzlich auf 62 Kosten der Masse erstellen zu müssen. Hierdurch wird nicht zuletzt die schon zur Haftungsvermeidung gebotene, aber häufig übersehene Geltendmachung von Verlustvorträgen gefördert. Gleichwohl tragen die GOI der schon bisher in der Praxis verbreiteten Einsicht Rechnung, dass die Erfüllung der steuerlichen Pflichten nicht zu einem unverhältnismäßigen Verbrauch von Massemitteln führen soll. Die GOI heben daher – auch i. S. des Kommunikationsgebots – den Versuch einer „Verständigung mit der Finanzverwaltung“ hervor. Der Verwalter hat im Interesse optimaler Verfahrensergebnisse (Quoten) ein ganz besonderes Bemühen an den Tag zu legen. 1.2.8 Eigenverwaltung und Insolvenzplan Im Fall der Eigenverwaltung muss der (vorläufige) Sachwalter dafür Sorge tragen,
63
„[…] dass er ungehinderten Zugang zu sämtlichen Geschäftsunterlagen und -daten des Schuldners erhält, und über die eingegangenen Verbindlichkeiten (III. 13), die Betriebsfortführung (III. 14), die aktuellen Ergebnisrechnungen und Planrechnungen, die Auftragslage, die Ausübung der Wahlrechte nach §§ 103 ff. InsO, die Personalentwicklung sowie Kosteneinsparungen und die Vermögensverwertung (III. 16, 17) regelmäßig informiert wird (Grundsatz Nr. 67 [GOI PrüfO]).“
Damit machen die GOI dem (vorläufigen) Sachwalter ganz konkrete, die Kommunikation 64 zum Schuldnerunternehmen prägende Vorgaben zur Herstellung einer für die Bewältigung seiner Aufgaben (§§ 274, 275 InsO) ausreichenden Informationsgrundlage. Umgekehrt, wenngleich nicht explizit geregelt, muss konsequenterweise auch der Vertreter der eigenverwaltenden Schuldnerin diese Unterlagen und Informationen erstellen, laufend überprüfen und fortschreiben. Die GOI betonen im Übrigen den Willen zur konstruktiven Begleitung von Eigenverwal- 65 tungen. Ebenso wird die Objektivität und Unabhängigkeit des (vorläufigen) Sachwalters durch Regelungen zur Offenbarungspflicht von Vorkontakten und das Verbot von Vorabsprachen in den Mittelpunkt gestellt. Zudem regeln die GOI bestimmte Kommunikationspflichten, insbesondere bei der Nachteilsfeststellung (§ 274 Abs. 3 InsO) und bei der Übernahme der Kassenführung. 2.
Regelung zur Auslaufproduktion
Kann der Verwalter eine weitere Betriebsfortführung nicht gewährleisten, so sehen die GOI 66 für die dann anstehende Auslaufproduktion eine gesonderte Regelung vor. Unter Auslaufproduktion wird nach den Erwägungen der GOI-Arbeitsgruppe sowohl die ausschließliche Verwendung der vorgefundenen RHBs (ohne Zukäufe) verstanden als auch die bloße Abarbeitung/Fertigstellung einzelner Aufträge. Die Anforderungen an die Einnahme-/Ausgabe-Planung sind nach Auffassung der GOI- 67 Arbeitsgruppe reduziert, da lediglich bestands- oder einzelfallauftragsbezogen geplant werden muss. Auch in diesem Kontext liegt der Wert der GOI letztendlich in der Tatsache, dass die ohne- 68 hin aus Haftungsgründen geforderten zukunftsorientierten Planungen sowie die ihnen zugrunde liegenden Überlegungen auch rein tatsächlich stets und zeitnah dokumentiert werden. Da die Implementierung der GOI mit einer Zertifizierungsverpflichtung verzahnt ist und die PrüfO zur GOI die Vorlage der Planrechnung verlangt, sind entsprechende Dokumentationen bei jedem Audit vorzulegen (GOI PrüfO Nr. 58).
Runkel/Fliegner
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§6 Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur durch ESUG, Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen und StaRUG Flöther/Gelbrich
Übersicht I.
Begriff der Sanierungs- und Fortführungskultur .................................... 1 1. Sanierung ...................................................... 1 2. Fortführung.................................................. 5 3. Sanierungs- und Fortführungskultur .......... 6 II. Entwicklung in Deutschland..................... 7 1. Fehlende Sanierungen .................................. 7 2. Gründe für die Seltenheit von (echten) Sanierungen ................................................ 13 III. Änderungen durch das ESUG................. 16 1. Steigerung der Attraktivität des Eigenverwaltungsverfahrens ............... 19 2. Steigerung der Attraktivität des Insolvenzplanverfahrens...................... 24 3. Verbesserte Quote in ESUG-Verfahren .......................................................... 26 4. ESUG – Der Weg zu einer neuen Sanierungskultur?....................................... 27 4.1 Vermeidung ungeeigneter Anträge auf Eigenverwaltung ....... 28 4.2 Anforderungen an den Insolvenzantrag ................. 32 4.3 Anforderungen an die Person des Sachwalters .............................. 35 5. Zwischenfazit ............................................. 36
IV. Änderungen durch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen ......................... 37 1. Gruppen-Gerichtsstand ............................. 38 2. Förderung der Zusammenarbeit der Beteiligten ............................................ 39 3. Einheitsverwalter........................................ 41 4. Koordinationsverfahren............................. 42 5. Zwischenfazit ............................................. 43 V. Änderungen durch das StaRUG ............. 44 1. Frühwarnsysteme ....................................... 45 2. Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen............................................... 46 2.1 Restrukturierungsplan................... 47 2.2 Gerichtliche Planabstimmung (§ 29 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG) und Vorprüfung von für die Bestätigung des Plans erheblichen Fragen (§ 29 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG) ......... 49 2.3 Stabilisierungsanordnung.............. 50 2.4 Restrukturierungsbeauftragter ..... 51 3. Sanierungsmoderation ............................... 52 4. Zwischenfazit ............................................. 53 VI. Fazit und Ausblick.................................... 54
Literatur: BAKinso, Entschließung der BAKinso-Jahrestagung 2014 am 21.11.2014 – Reformbedarf bei den „ESUG“-Regelungen aus insolvenzgerichtlicher Sicht, abrufbar unter https://www.bak-inso.de/ dokumente-stellungnahmen/entschließungen/ (Abrufdatum: 3.3.2023); Bitter/Röder, Insolvenz und Sanierung in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise – Ergebnisse einer Befragung von Unternehmensinsolvenzverwaltern, ZInsO 2009, 1283; Brocke, Mitwirkungs- und Kooperationspflichten von Anteilsinhabern und Gläubigern, Berlin 2020; BCG, Vier Jahre ESUG: In der Realität angekommen, abrufbar unter https://www.bcg.com/de-de/four-years-of-esug (Abrufdatum: 3.3.2023); BCG, 5 Jahre ESUG: Wesentliche Ziele erreicht, abrufbar unter https://www.bcg.com/de-de/5-jahre-esug-wesentlicheziele-erreicht (Abrufdatum: 3.3.2023); BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, abrufbar unter https://www.bcg.com/de-de/six-years-of-esug-breakthrough-achieved (Abrufdatum: 3.3.2023); Flöther, Die aktuelle Reform des Insolvenzrechts durch das ESUG – Mehr Schein als Sein?, ZIP 2012, 1833; Grau/Pohlmann/Daunz, Erste Praxiserfahrungen mit dem StaRUG, NZI 2021, 522; Gravenbrucher Kreis, ESUG: Erfahrungen, Probleme, Änderungsnotwendigkeiten – Thesenpapier, Stand: 10/2015, ZIP 2015, 2159; Haghani/Bizenberg/Blatz/Seagon, ESUG-Studie 2014/15 – Polarisierung der Meinungen, in: Ebke/Seagon/Blatz, Unternehmensrestrukturierung und Unternehmensinsolvenz – national, international, europäisch, 2015, S. 73; Hofmann, Der Restrukturierungsplan im künftigen deutschen Restrukturierungsverfahren – Restrukturierungs- vs. Insolvenzplan?, NZI Beilage z. Heft 16 – 17/2019, S. 22; Huber, Unternehmenskrise und die besonderen Anforderungen der Rechtsprechung für eine Kreditgewährung, NZI 2015, 447; Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./Thole, Evaluierung Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7.12.2011, abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/101018 _Gesamtbericht_Evaluierung_ESUG.pdf;jsessionid=AB60599B79E8D7BED24CADC30F329D65. 1_cid334?__blob=publicationFile&v=2 (Abrufdatum: 3.3.2023); Kilger, Die Reformbedürftigkeit des Konkurs- und Vergleichsrechts, ZRP 1976, 190; Kilger, Der Konkurs des Konkurses, KTS 1975,
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§6
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
142; Klöhn/Franke, Grund- und Gegenwartsfragen des Sanierungsrechts – Ein Beitrag zu der europäischen Restrukturierungsrichtlinie und dem deutschen SanInsFoG, ZEuP 2022, 44; Kluth, Auf der Suche nach dem verlorenen Partner – die merkwürdige Unternehmensveräußerung im Insolvenzplan, ZInsO 2002, 1115; Madaus, Das Konzerninsolvenzrecht – die Ziele des Gesetzgebers, NZI Beilage z. Heft 8/2018, S. 4; Neuhof, Sanierungsrisiken der Banken: Die Vor-Sanierungsphase, NJW 1998, 3225; Roland Berger GmbH, Fünf Jahre ESUG, abrufbar unter https://www.rolandberger.com/de/Insights/ Publications/F%C3%BCnf-Jahre-ESUG.html (Abrufdatum: 3.3.2023); Roland Berger GmbH, ESUGStudie 2016, abrufbar unter https://www.rolandberger.com/de/Media/Insolvenzrecht-ESUG-Studie2016.html (Abrufdatum: 3.3.2023); Schmidt, K., Organverantwortlichkeit und Sanierung im Insolvenzrecht der Unternehmen, ZIP 1980, 328; Uhlenbruck, Zur Krise des Insolvenzrechts, NJW 1975, 897.
I.
Begriff der Sanierungs- und Fortführungskultur
1.
Sanierung
1 Der Begriff Sanierung wird weder in der InsO noch im Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG)1) definiert. Allerdings findet sich im Steuerrecht eine gesetzliche Regelung (§ 8c Abs. 1a Satz 2 KStG): „Sanierung ist eine Maßnahme, die darauf gerichtet ist, die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu verhindern oder zu beseitigen und zugleich die wesentlichen Betriebsstrukturen zu erhalten.“ Dieser Begriff aus dem Steuerrecht beinhaltet zwei maßgebliche Punkte für die Bestimmung des Sanierungsbegriffs: x Zum einen muss eine Krisensituation vorliegen, in der Insolvenzgründe bereits eingetreten sind oder noch einzutreten drohen und x es müssen Maßnahmen vorgenommen werden, die die Krise bekämpfen sollen, um den Geschäftsbetrieb zu erhalten. 2 Krise bedeutet in diesem Sinne das Drohen oder Vorliegen eines Insolvenzszenarios.2) Offen bleibt lediglich, wie nah bzw. fern das drohende Insolvenzszenario liegen muss. Da Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens nach § 29 Abs. 1 StaRUG das Vorliegen der drohenden Zahlungsunfähigkeit ist, dürfte dies zumindest für die Inanspruchnahme formeller Sanierungsinstrumente die zeitliche Grenze sein. Von diesem Zeitpunkt an, bis zu dem, an dem eine Zerschlagung des Unternehmens unausweichlich ist,3) kann von einer Krise gesprochen werden. Werden in diesem Zeitraum Maßnahmen zum Erhalt des schuldnerischen Unternehmens ergriffen, dürfte es sich regelmäßig um Sanierungsbemühungen handeln. 3 In der Rechtsprechung wird der Begriff Sanierung überwiegend haftungsrechtlich verwendet.4) Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass eine gewisse Sanierungschance bestehen muss, aber auch, dass eine gewisse Nähe zum Insolvenzverfahren gegeben sein muss. Dabei hat der BGH in seiner Rechtsprechung offengelassen, ob für die sog. Insolvenzverschleppungshaftung drohende Zahlungsunfähigkeit vorliegen muss oder auch schon eine frühere Sanierungsbedürftigkeit, also ein früheres Krisenstadium ausreichend ist.5) Ursache hat diese Rechtsprechung darin, dass das Wort Krise in der Betriebswirtschaft wesentlich weiter gefasst wird als im Insolvenzrecht und unter Krise z. B. auch eine „strategische Krise“ oder eine „Erfolgskrise“ verstanden wird.6) ___________ 1) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 2) Zum Auseinanderfallen des betriebswirtschaftlichen Wortes Krise und der Definition in der Rechtswissenschaft Huber, NZI 2015, 447, 448. 3) Brocke, Mitwirkungs- und Kooperationspflichten von Anteilsinhabern und Gläubigern, S. 23. 4) Vgl. ausführlich zum Sanierungsbegriff des BGH Schönfelder in: Flöther, StaRUG, Anh. B Rz. 5 ff. 5) BGH, Urt. v. 14.4.2016 – XI ZR 305/14, ZIP 2016, 1058, 1062. 6) S. hierzu ausführlich Huber, NZI 2015, 447, 448.
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Flöther/Gelbrich
Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur
§6
Mit Blick auf die Regelungen im StaRUG kann zumindest festgehalten werden, dass unab- 4 hängig von der Auslegung des Begriffs Krise, der per se kein insolvenzrechtlicher, sondern ein betriebswirtschaftlicher ist, die drohende Zahlungsunfähigkeit vom Gesetzgeber als Eingangsvoraussetzung für bestimmte Restrukturierungs-/Sanierungsmaßnahmen verstanden wird. Der Gesetzgeber geht also zumindest ab „drohender Zahlungsunfähigkeit“ davon aus, dass eine Sanierungslage vorliegt. Ob schon vorherige Krisensituationen unter den Begriff Sanierung fallen oder nicht, ist fraglich,7) erscheint aber für die vorliegend zu beantwortende Frage, ob wir uns auf dem Weg zu einer Sanierungs- und Fortführungskultur befinden, auch nicht entscheidend. 2.
Fortführung
Fortführung ist die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs trotz (vorläufiger) Insolvenz. 5 Sie steht im Gegensatz zur Betriebsstillegung. Abzugrenzen ist die Betriebsfortführung darüber hinaus von der Aus- oder Auslaufproduktion, die eine Vorbereitung der Stilllegung und damit keine Betriebsfortführung ist.8) Fortführung umfasst alle Rechtsgeschäfte, die mit der Aufrechterhaltung der Produktion oder der sonstigen aktiven Geschäftstätigkeit bzw. der Geschäfte des Schuldners verbunden sind (z. B. Beschaffung von Geldmitteln für die Produktion).9) Im vorläufigen Insolvenzverfahren ist das Unternehmen grundsätzlich fortzuführen, sofern nicht das Insolvenzgericht einer Betriebsstilllegung zustimmt (§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO). Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens richtet sich die Frage nach der Fortführung am Gläubigerinteresse aus. Bis zum Berichtstermin benötigt der Insolvenzverwalter gemäß § 158 Abs. 1 InsO zur Betriebsschließung die Zustimmung eines Gläubigerausschusses, sofern ein solcher bestellt ist. In der Gläubigerversammlung entscheidet dann diese gemäß § 157 InsO über den weiteren Fortgang und die Frage der Fortführung oder Stilllegung. Trotz des Einflusses der Gläubiger hat der Insolvenzverwalter im Grunde das Unternehmen stillzulegen, wenn eine Fortführung des Unternehmens die zukünftige Insolvenzmasse erheblich schmälert.10) 3.
Sanierungs- und Fortführungskultur
Unter Sanierungs- und Fortführungskultur wäre demnach der Ansatz zu verstehen der 6 gewährleistet, dass Unternehmen im Zeitraum zwischen spätestens (siehe hierzu unter Rz. 1 ff.) drohender Zahlungsunfähigkeit und Aussichtslosigkeit der Fortführung, also in der Zeit des Vorliegens von Insolvenzgründen bzw. einer Insolvenz, einen „Turnaround“ fördert und gutheißt. Die Insolvenz müsste demnach positiv und als Möglichkeit verstanden werden, mithilfe von verschiedenen gesetzlich angebotenen Maßnahmen die Insolvenzgründe bzw. die vorgelagerte Krise zu beseitigen. II.
Entwicklung in Deutschland
1.
Fehlende Sanierungen
Die Insolvenz wurde im krassen Gegensatz dazu in Deutschland lange Zeit als Abwick- 7 lungsinstrument für Unternehmen betrachtet.11) Unternehmenssanierung und -fortführung führten im Zusammenhang mit Insolvenzen ein Schattendasein. Diese Trennung von Insolvenz und Scheitern auf der einen Seite und der Sanierung als allenfalls außergericht___________ 7) 8) 9) 10) 11)
Ausführlich zu dieser Frage u. a. Huber, NZI 2015, 447, 448; Neuhof, NJW 1998, 3225, 3229. Riedel in: MünchKomm-InsO, § 1 InsVV Rz. 36. Frege/Keller/Riedel, Hdb. InsR, Teil 2 Rz. 435. Frege/Keller/Riedel, Hdb. InsR, Teil 2 Rz. 437. Uhlenbruck, NJW 1975, 897; vgl. hierzu krit. Kilger, KTS, 1975, 142; Kilger, ZRP 1976, 190.
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§6
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
liche und vorinsolvenzliche Möglichkeit auf der anderen Seite hat in Deutschland lange Tradition,12) die schwer zu durchbrechen ist. Zwar gab es schon in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Teil die Einsicht, dass die Insolvenz in ihrer praktizierten Form häufig zur Wertvernichtung führt und nicht immer ein sinnvoller Weg zur Konkursbewältigung ist.13) Die Beschäftigung mit diesen Themen führte aber nicht zu praktischen Änderungen. Auch die 1935 in Kraft getretene Vergleichsordnung (VglO)14), die in ihrem § 1 als Grundsatz vorsah, dass der Konkurs nach Maßgabe der VerglO mit einem gerichtlichen Vergleichsverfahren abgewendet werden kann, kam äußerst selten zur Anwendung.15) Zwar hatten Vergleichsverfahren kurz nach Einführung des Gesetzes noch 30 % der Insolvenzverfahren ausgemacht, in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts machten sie dann aber nur noch unter 1 % der Verfahren aus.16) Die Vergleichsverfahren waren also zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Zudem diente der Vergleich nach der VerglO der Abwendung des Konkurses (§ 1 VerglO) und nicht einer Sanierung im Insolvenzverfahren. Auch an dieser Stelle zeigt sich wieder die Trennung von Insolvenz und Sanierung. In der wissenschaftlichen Diskussion waren Unternehmenssanierung, Betriebsfortführung u. Ä. aber weiterhin Thema. Zunehmend wurde auch die Verbindung von Insolvenzrecht und Sanierung in Betracht gezogen.17) Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle das Gutachten von Karsten Schmidt für den 54. Deutschen Juristentag im Jahr 1982 mit dem Thema „Möglichkeiten der Sanierung von Unternehmen durch Maßnahmen im Unternehmens-, Arbeits-, Sozial- und Insolvenzrecht“, in dem er die Sanierung als Regelfall des Insolvenzverfahrens anstelle von Zerschlagung vorschlägt. Auf Gesetzesebene ersetzte die InsO im Jahr 1999 die Vergleichs- und Konkursordnung (KO) und führte Sanierung und Insolvenz im Gesetz zusammen. 8 § 1 Satz 1 der am 1.1.1999 in Kraft getretenen InsO lautet: „Das Insolvenzverfahren dient dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen wird.“
9 Nach dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers bestand somit schon vor den hier untersuchten Gesetzesänderungen die Möglichkeit, ein Unternehmen im Insolvenzverfahren zu sanieren. Auch andere Vorschriften der InsO unterstützten diesen Sanierungsgedanken. So statuierte § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO bereits vor der Gesetzesreform die Fortführungspflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters und nach §§ 157, 158 InsO haben und hatten allein die Gläubiger zu entscheiden, ob das Unternehmen des Schuldners stillgelegt oder fortgeführt wird. Auch schon vor ESUG18), Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen19) und StaRUG kannte die InsO also das Insolvenzplanverfahren und die Eigenverwaltung als Sanierungsinstrumente. Beide sind dem US-amerikanischen Insolvenzrecht entlehnt. Während das Insolvenzplanverfahren dem ___________ 12) 13) 14) 15)
16) 17) 18) 19)
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Ähnlich auch Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 46. Jaeger, Lehrbuch des deutschen Konkursrechts, S. 216. Vergleichsordnung (VglO), v. 26.2.1935, RGBl. I 1935, 321, ber. RGBl. I 1935, 356. Angele, Insolvenzen 1999 bis 2001 nach neuem Insolvenzrecht, S. 1, abrufbar unter: https://www. destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2002/06/insolvenzen-1999-2001-062002.pdf? __blob=publicationFile (Abrufdatum: 3.3.2023). Angele, Insolvenzen 1999 bis 2001 nach neuem Insolvenzrecht, S. 1; Stürner in: MünchKomm-InsO, Einl. Rz. 33. Vgl. hierzu auch Uhlenbruck-Pape, InsO, § 1 Rz. 1. Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866.
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Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur
Chapter 11-Verfahren nachempfunden ist, entspricht das Eigenverwaltungsverfahren überwiegend der Debtor-in-Possession-Regelung. Bei einem Blick auf bekannte Insolvenzverfahren, die zu dieser Zeit geführt wurden, wie 10 bspw. der manroland AG, des Anton Schlecker e. K., der Q-Cells AG, der Nürburgring GmbH oder der neckermann.de GmbH, konnte man den Eindruck gewinnen, dass die 1999 eingeführten Änderungen der InsO zu einem regelrechten „Sanierungshype“ geführt haben. Bereits vor dem ESUG hieß es häufig: Das Unternehmen wolle sich sanieren – zum Teil sogar im Eigenverwaltungsverfahren. Bekannte Tages- und Wirtschaftszeitungen, aber auch die Fachpresse sprangen auf diese „Sanierungswelle“ auf.20) Im Fokus der Presse standen aber überwiegend Großverfahren, wie die genannten Beispiele zeigen. Ein Blick auf die tatsächlichen Zahlen zeigt, dass Insolvenzplan und Eigenverwaltung eher ein Schattendasein führten. Nur in unter 1 % aller Insolvenzen wurde die Eigenverwaltung angeordnet oder ein Insolvenzplanverfahren durchgeführt (siehe die nachfolgende Übersicht, Zahlen für die Jahre 2010 und 2011 liegen leider nicht vor). Die bisher einzigen „echten“ Sanierungsinstrumente der InsO – die Eigenverwaltung und der Insolvenzplan – genossen somit in den ersten 13 Jahren seit ihrer Einführung einen absoluten Exotenstatus. Übersicht: Insolvenzplanverfahren/Eigenverwaltungen zwischen 2005 bis 2009 Jahr
Verfahren
2005
39 213
200
0,51
2006
36 843
206
0,56
2007
29 160
238
0,82
2008
29 291
257
0,88
2009
32 687
302
0,92
Jahr
Verfahren
2005
39 213
173
0,44
2006
36 843
147
0,4
2007
29 160
147
0,5
2008
29 291
160
0,55
2009
32 687
157
0,48
11
Insolvenzpläne Absolut
Anteil in %
Angeordnete Eigenverwaltungen Absolut
Anteil in %
Quelle: https://www.destatis.de und http://www.ifm-bonn.org/
Die wohl häufigste Form der Sanierung war die übertragende Sanierung,21) die Veräußerung 12 des Anlage- und Umlaufvermögens in seiner Sachgesamtheit an einen Dritten, der sodann den Geschäftsbetrieb des Schuldners fortführt. Da das Vermögen des Schuldners dabei dennoch durch den Insolvenzverwalter verwertet und das insolvente Unternehmen abgewickelt wird, handelt es sich bei der übertragenden Sanierung letztlich um eine Sonderform der Zerschlagung und damit eine Liquidation im Gewand der Sanierung.22) Für den Großteil der insolventen Unternehmen blieb es indes bei dem Insolvenzrecht in seiner herkömmlichen ___________ 20) Vgl. hierzu ausführlich Flöther, ZIP 2012, 1833 ff. 21) Geprägt wurde der Begriff „übertragende Sanierung“ von K. Schmidt, ZIP 1980, 328, 336. 22) Kluth, ZInsO 2002, 1115, 1122.
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Bedeutung. Sie wurden im Verfahren der Gesamtvollstreckung zerschlagen. Das bedeutet nichts anderes als Vollliquidation unter Verwertung des gesamten Schuldnervermögens. 2.
Gründe für die Seltenheit von (echten) Sanierungen
13 Vor den Gesetzesänderungen durch ESUG, Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen und SanInsFoG23) blieben viele Sanierungsversuche trotz der dargestellten Sanierungsmöglichkeiten ohne Erfolg. Insbesondere die mangelnde Einsicht der Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens und das „Auf-die-lange-Bank-schieben“ der erforderlichen Restrukturierung durch das Management führten dazu, dass viele Unternehmen nicht überlebten. Die Gründe für den regelmäßig viel zu späten Beginn der Sanierung lagen in der Unfähigkeit und der Unkenntnis der Schuldner bzw. ihrer Organe und deren Berater. Eine Studie des Zentrums für Insolvenz und Sanierung in Mannheim, für die zahlreiche Insolvenzverwalter befragt wurden,24) zeigte: Im Durchschnitt erfolgte der Eintritt der materiellen Insolvenz des späteren Schuldners mehr als zehn Monate vor Stellung des Insolvenzantrages. Gründe für die verspätete Insolvenzantragstellung waren die Hoffnung, dass es nach jahrelangen Erfolgen irgendwie von selbst wieder aufwärts geht, die Angst vor Bloßstellung im Bekanntenkreis und in der Branche, die fälschliche Einstufung der Situation des Unternehmens als Krise, aber nicht als echte Insolvenz, sowie das fehlende Vertrauen in das Insolvenzverfahren.25) Unternehmen, die sich bereits zu einem Zeitpunkt tief in der wirtschaftlichen Krise (Ergebnis- oder gar schon Liquiditätskrise) befanden, der weit vor der Stellung des Insolvenzantrages liegt, waren in der Regel einfach nicht mehr zu retten. Dies ließ Verwaltern und Gerichten häufig keine Wahl, sodass das Insolvenzverfahren nur noch als klassisches Marktbereinigungsverfahren durchlaufen werden konnte. 14 Hinzu kamen in der Vergangenheit sicherlich auch Hemmungen der Insolvenzverwalter und Insolvenzgerichte, Planverfahren durchzuführen und Eigenverwaltungen anzuordnen. Trotzdem gab es bereits vor dem ESUG erfolgreiche Eigenverwaltungs- bzw. Insolvenzplanverfahren, beispielhaft seien nur Herlitz, Senator und SinnLeffers genannt. 15 Der (europäische) Gesetzgeber war mit dieser Situation unzufrieden und wollte mit einer Reihe von Gesetzesänderungen die Chancen für Sanierungen in der Insolvenz erhöhen. Entwickelt wurde daher ein Paket mit mehreren Gesetzesänderungen ESUG, Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen und SanInsFoG, die jeweils die Unternehmensfortführung und Sanierung von Unternehmen fördern sollten.26) III.
Änderungen durch das ESUG
16 Mit dem zum 1.3.2012 in Kraft getretenen ESUG27) versuchte der Gesetzgeber die Attraktivität der Sanierungsinstrumente zu steigern und die Fortführung von sanierungsfähigen Unternehmen zu erleichtern.28) Doch auch nach diesen Änderungen blieb der große „Sanierungsboom“ aus. 17 Ob tatsächlich ein Mentalitätswechsel stattgefunden hat, die Ziele des ESUG-Gesetzgebers erreicht wurden und eine echte „Sanierungs- und Fortführungskultur“ geschaffen ___________ 23) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 24) Bitter/Röder, ZInsO 2009, 1283 ff. 25) Bitter/Röder, ZInsO 2009, 1283. 26) RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 1; Allg. Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 16; RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 1. 27) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 28) RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 2.
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wurde, lässt sich mit Zahlen schwer nachweisen. Allerdings gibt es zahlreiche Thesenpapiere und eine regelmäßig erscheinende Studie der Roland Berger GmbH29) (ESUG-Studie) sowie die Studien der Boston Consulting Group (BCG)30), zum Thema ESUG, aus denen sich zumindest Indizien dafür ergeben können, ob eine Veränderung der Sanierungskultur erfolgt ist. Zudem hat die Bundesregierung eine Evaluierung des ESUG (ESUG-Evaluation) in Auftrag gegeben, in der die ersten Erfahrungen mit dem ESUG aus den Jahren 2012 bis 2017 zusammengetragen und ausgewertet wurden.31) Außerdem werden vom Statistischen Bundesamt Zahlen über die Häufigkeit der Nutzung von Eigenverwaltungsverfahren und mittlerweile auch der Insolvenzplanverfahren veröffentlicht. Allgemein lässt sich aus der ESUG-Evaluation und aus der ESUG-Studie eine positive Be- 18 wertung der Ergebnisse des ESUG feststellen. Insgesamt sehen ca. 90 % der Befragten der ESUG-Studie ihre Erwartungen an das ESUG als voll oder zumindest teilweise erfüllt an.32) Auch in der ESUG-Evaluation ergibt sich insgesamt ein überwiegend gutes Gesamtbild. Eine Ausnahme bilden bei dieser Befragung die Richter und Rechtspfleger, die dem ESUG eher skeptisch gegenüberstehen.33) 1.
Steigerung der Attraktivität des Eigenverwaltungsverfahrens
Die Eigenverwaltung ist nach Einführung des ESUG tatsächlich häufiger angeordnet worden 19 als in der Zeit davor. Dies zeigt sich zum einen daran, dass in der BCG-Studie festgestellt wurde, dass eine wesentlich größere Zahl der Studienteilnehmer Erfahrungen mit Eigenverwaltungsverfahren gemacht hat.34) Zudem zeigen auch die vom Statistischen Bundesamt erhobenen Werte, dass die absoluten Zahlen der angeordneten Eigenverwaltungen zugenommen haben. Waren es in den Jahren 2005 bis 2009 noch etwa 160 (durchschnittlich etwa 0,5 %)35) angeordnete Eigenverwaltungen im Jahr (siehe Übersicht bei Rz. 11), waren es im Jahr 2012 346 (1,22 %), im Jahr 2013 420 (1,6 %) und im Jahr 2014 277 (1,15 %) angeordnete Eigenverwaltungen. Auch in der BCG-Studie zeigte sich eine Steigerung des Anteils der angeordneten Eigenverwaltungen.36) Bestätigt wird dies aufgrund der Ergebnisse der ESUG-Evaluation, in der eine Steigerung der Eigenverwaltungsverfahren um 1 – 2 % in Bezug auf die Insolvenzverfahren von Personen- und Kapitalgesellschaften festgestellt wurde.37) Insgesamt kann also festgestellt werden, dass das ESUG zu einer Steigerung von Sanierungen in Eigenverwaltung geführt und das Sanierungsinstrument durchaus an Attraktivität gewonnen hat, auch wenn die Zunahme der Eigenverwaltungsverfahren nicht erheblich war. Allerdings ist die Zahl der Verfahren, in denen bereits mit Eröffnung oder später im Verfah- 20 rensverlauf in ein Regelinsolvenzverfahren gewechselt wurde, seit Einführung des ESUG ___________ 29) Roland Berger GmbH, Fünf Jahre ESUG; Roland Berger GmbH, ESUG-Studie 2016. 30) BCG, Vier Jahre ESUG: In der Realität angekommen; BCG, 5 Jahre ESUG: Wesentliche Ziele erreicht; BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht. 31) Bericht von Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung. 32) Vgl. hierzu auch Haghani/Bizenberg/Blatz/Seagon in: Ebke/Seagon/Blatz, Unternehmensrestrukturierung und Unternehmensinsolvenz, S. 73, 74. 33) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 38 ff. und S. 50. 34) BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, S. 6. 35) Die Prozentsätze beziehen sich auf die Gesamtheit der erhobenen Unternehmensinsolvenzverfahren. 36) Die BCG-Studie kommt sogar zu einer Quote von über 2 % angeordneter Eigenverwaltung, gerechnet auf Insolvenzverfahren von Personen- und Kapitalgesellschaften. Darin liegt auch der Unterschied in der prozentualen Quote, denn die Statistik des Statistischen Bundesamtes erfasst neben Personen- und Kapitalgesellschaften auch noch Einzelunternehmen, freie Berufe und Kleingewerbe u. Ä. 37) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 8.
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relativ hoch.38) Mit Blick darauf, dass die Anträge auf die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung angestiegen sind, muss es aber denklogisch auch so sein, dass die Zahl der Anträge ansteigt, die sich für ein Eigenverwaltungsverfahren nicht eignet. Zudem sind insbesondere die sog. Profigläubiger kritischer im Umgang mit der Eigenverwaltung geworden. Allerdings ist diesem zunächst negativ anmutenden Ergebnis auch zu entnehmen, dass die Gläubiger ihre Möglichkeit zur Mitwirkung am Verfahrensverlauf mittlerweile sehr aktiv nutzen. 21 Darüber hinaus ist auch der Anteil der Verfahren, die im Verlauf des Verfahrens vom Eigenverwaltungsverfahren in die Regelinsolvenz wechselten, relativ hoch.39) In der BCG-Studie wird als häufigste Ursache das Scheitern eines vorgelegten Insolvenzplanes genannt.40) Nach den Erfahrungen in der Praxis dürften hier aber auch erfolgreiche übertragende Sanierungen zum häufigeren Wechsel in das Regelinsolvenzverfahren geführt haben. Denn nach Abschluss eines erfolgreichen M&A-Prozesses (in Form eines Asset Deals) wird in der Praxis häufig auch ein Wechsel ins Regelinsolvenzverfahren durchgeführt, um die Kosten zu senken. Damit bedeutet ein Wechsel in das Regelinsolvenzverfahren nicht immer zwangsläufig das Scheitern der Eigenverwaltung. 22 Auffällig ist, dass das Schutzschirmverfahren als besondere Form des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens nur extrem selten zum Einsatz kommt. Aus der BCG-Studie ergibt sich, dass im Schnitt nicht einmal zehn Schutzschirmverfahren im Quartal beantragt werden.41) Auch die Erkenntnisse der ESUG-Evaluation weisen darauf hin, dass das Schutzschirmverfahren nicht häufig zur Anwendung kommt.42) Aufgrund der weiteren Konkurrenz durch den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen dürfte die Zahl zukünftig noch geringer werden.43) 23 Grundsätzlich ist dennoch zu sagen, dass die Attraktivität des Eigenverwaltungsverfahrens insbesondere für große und mittelgroße Unternehmen tatsächlich zugenommen hat und die Beteiligten den Umgang mit Eigenverwaltungsverfahren geübt haben und nunmehr auch bereit sind einzuschreiten, wenn das Verfahren für die Eigenverwaltung nicht geeignet ist. 2.
Steigerung der Attraktivität des Insolvenzplanverfahrens
24 Ob die Attraktivität des Insolvenzplanverfahrens gesteigert wurde, lässt sich schwer sagen. Zwar veröffentlicht das Statistische Bundesamt mittlerweile auch die Anzahl der eingereichten Insolvenzpläne (siehe nachfolgende Tabelle); die Zahlen zeigen aber, dass der Prozentsatz der Verfahren in denen ein Insolvenzplan eingereicht wurde, äußerst gering ist und bei unter 1 % liegt. Das Insolvenzplanverfahren fristet also weiterhin ein wenig beachtetes Dasein und ist eben nicht für jedes Verfahren geeignet. Zudem ergibt sich aus der ESUGEvaluation, dass der praktische Anwendungsbereich von Insolvenzplanverfahren erheblich erweitert wurde und dies in der Praxis Zuspruch findet. Allerdings haben die empirischen Untersuchungen auch ergeben, dass der Debt Equity Swap kaum zum Einsatz kommt.44) ___________ 38) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 9; BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, S. 9. 39) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 9; BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, S. 9. 40) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 6; BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, S. 9. 41) BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, S. 10. 42) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 6 und S. 9. 43) So auch Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 80. 44) Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der Anwendung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582.
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Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur Übersicht: Eingereichte Insolvenzpläne zwischen 2013 und 2021 Jahr
Eröffnete Verfahren
2013
133 673
135
0,1
2014
125 924
198
0,16
2015
117 547
217
0,18
2016
112 444
259
0,23
2017
104 766
350
0,33
2018
98 979
277
0,28
2019
93 527
385
0,41
2020
66 224
374
0,56
2021
112 627
433
0,38
Vorgelegte Insolvenzpläne Absolut
3.
25
Anteil in %
Verbesserte Quote in ESUG-Verfahren
Ausweislich der BCG-Studie sind die Quoten in den Sanierungsverfahren im Vergleich zum 26 allgemeinen Durchschnitt (3 % bis 5 %) mit 11 % wesentlich höher.45) Bei Betrachtung der hohen Quote ist aber zu berücksichtigen, dass in der Praxis in Sanierungsverfahren in Eigenverwaltung besonders häufig Geld zugeführt werden muss, z. B. durch Massekredite.46) 4.
ESUG – Der Weg zu einer neuen Sanierungskultur?
Festzuhalten ist, dass durch das ESUG der erhoffte Mentalitätswechsel hin zu einer neuen 27 Sanierungskultur ausblieb.47) Allerdings kann auch festgestellt werden, dass die Eigenverwaltung wesentlich öfter zum Einsatz kommt und durch die Möglichkeit der Durchführung eines Schutzschirmverfahrens nach § 270d (zuvor § 270b)48) InsO oder eines vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens gemäß § 270b (zuvor § 270a) InsO auch wesentlich besser vorbereitet werden kann. Auch hinsichtlich des Sanierungsinstrumentes Planverfahren ist in der Praxis eine Verbesserung zu verspüren. Insbesondere die Regelung zum Debt Equity Swap hat zu einer Verbesserung der Rahmenbedingung von Insolvenzplanverfahren geführt. Mit dem ESUG wurde daher zumindest eine gute Grundlage für einen Mentalitätswechsel hin zu einer Sanierungskultur geschaffen. Ein solcher kann jedoch – wie es in der Natur eines Mentalitätswechsels liegt – nicht innerhalb weniger Jahre erreicht werden. Vielmehr wird es noch einige Zeit dauern, bis die weit verbreitete Verbindung von Insolvenz mit Scheitern einen Wandel erfahren wird und das sog. „I-Wort“ entstigmatisiert wird. Kurz gesagt: Der Weg zu einer echten Sanierungskultur ist noch lang. 4.1
Vermeidung ungeeigneter Anträge auf Eigenverwaltung
Bereits bei den zur Antragstellung getroffenen Regelungen hat sich aus den praktischen 28 Erfahrungen Nachbesserungsbedarf ergeben. Wie bereits dargestellt (siehe hierzu unter Rz. 21 ff.), werden zahlreiche Verfahren als Eigenverwaltungsverfahren eröffnet, und es kommt später zu einem Wechsel in ein Regelinsolvenzverfahren. Dies hat neben einer Ver___________ 45) BCG, Drei Jahre ESUG, S. 10. 46) Zudem erfolgen in Sanierungsverfahren besonders häufig Forderungsverzichte, vgl. BCG, Drei Jahre ESUG, S. 10. 47) Vgl. hierzu auch die Ergebnisse der Befragung, dargestellt bei Haghani/Bizenberg/Blatz/Seagon in: Ebke/ Seagon/Blatz, Unternehmensrestrukturierung und Unternehmensinsolvenz, S. 73, 81. 48) Die Nummerierung der Vorschriften hat sich durch das SanInsFoG geändert.
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unsicherung der Gläubiger im betreffenden Verfahren und einem Vertrauensverlust bei Kunden und Lieferanten und somit einer Erschwerung der Unternehmensfortführung auch häufig steigende Kosten zulasten der Gläubigerbefriedigung zur Folge. Zudem lässt es auch das Vertrauen von Gläubigern und der Öffentlichkeit in das Sanierungsinstrument Eigenverwaltung als solches schwinden. 29 Es sollte daher zwingend vor Anordnung der Eigenverwaltung darauf geachtet werden, dass der Schuldner auch tatsächlich geeignet ist, ein Eigenverwaltungsverfahren durchzuführen. Natürlich lässt sich aufgrund des Zeitdrucks in der Praxis nicht immer vermeiden, dass bestimmte Tatsachen, die den Schuldner als unzuverlässig erscheinen lassen, erst später festgestellt werden können. Dennoch sollte – soweit möglich – ein objektives Instrument zur Vermeidung ungeeigneter Anträge auf Eigenverwaltung eingeführt werden. Der Gravenbrucher Kreis forderte daher vor Einführung des SanInsFoG u. a. zu prüfen, ob das vorinsolvenzliche Verhalten des Schuldners ein Mindestmaß an Zuverlässigkeit und Mitwirkungsbereitschaft erfüllt. Konkret wurde vorgeschlagen, die Anforderungen an die Antragstellung, um eine Versicherung des Schuldners zu erweitern, in der erklärt wird, dass die folgenden Ausschlusskriterien beim Schuldner bzw. bei seinen organschaftlichen Vertretern nicht festgestellt werden können: x
fortlaufende und nachhaltige Verletzung der Buchführungs- und Bilanzierungspflichten,
x
fortlaufende und nachhaltige Verletzung der Steuererklärungspflichten,
x
erhebliche Lohn- und Gehaltsrückstände (inkl. rückständiger Sozialversicherungsbeiträge),
x
mangelnde Erfahrung des Schuldners bzw. seiner organschaftlichen Vertreter mit dem Instrument der Eigenverwaltung,
x
offensichtliche Verletzung von Insolvenzantragspflichten nach Maßgabe von § 15a InsO.
30 Zusätzlich zu dieser Gesetzesänderung sollten nach Ansicht des Gravenbrucher Kreises auch die den Antrag vorbereitenden Sanierungsberater zunehmend für diese Problematik sensibilisiert werden und kritisch prüfen, ob eine Eigenverwaltung tatsächlich das richtige Sanierungsinstrument für den betreffenden Mandanten ist.49) 31 Die i. R. des SanInsFoG erschwerten Zugangsbedingungen für die Eigenverwaltung in § 270a InsO und insbesondere die geforderte Eigenverwaltungsplanung, die der Schuldner dem Antrag auf Eigenverwaltung beizufügen hat (§ 270a Abs. 1 InsO), sind insoweit ein Schritt in die richtige Richtung, in der die Vorschläge aus der Praxis zum Teil aufgegriffen wurden. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Veränderungen in der Praxis auswirken. 4.2
Anforderungen an den Insolvenzantrag
32 Zum einen sollten darüber hinaus die Hürden für einen Antrag nach § 13 InsO abgeschwächt werden, damit ein Eigenantrag auf Eigenverwaltung nicht aufgrund von Formvorschriften scheitert. Denkbar wäre hier die Arbeit mit Vordrucken aber auch die Erleichterung von Zulässigkeitshürden durch bessere Information der Schuldner.50) 33 Zum anderen sollte regelmäßig auch eine genauere Überprüfung der Richtigkeit der Angaben insbesondere der Gläubigerverzeichnisse erfolgen. Diese Angaben erfüllen keinen Selbstzweck, sondern dienen dazu, dass in Eigenverwaltung tatsächlich nur Verfahren eröffnet werden, bei denen eine positive Zusammenarbeit mit den Hauptgläubigern erfolgt. ___________ 49) Thesenpapier des Gravenbrucher Kreises, Stand: 10/2015, S. 3, abgedr. ZIP 2015, 2159 ff.; ähnlich auch BAKinso, Entschließung der BAKinso-Jahrestagung 2014 am 21.11.2014, Nr. 4.1. 50) In der Entschließung der BAKinso wird z. B. die Arbeit mit einem Antragsvordruck vorgeschlagen, s. BAKinso, Entschließung der BAKinso-Jahrestagung 2014 am 21.11.2014, Nr. 1.
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In der Praxis wird jedoch berichtet, dass einige Schuldner geneigt sind, ungeliebte Gläubiger außen vor zu lassen, um einen „Friends-and-Family“-Gläubigerausschuss zu installieren oder die Fälligstellung von Forderungen zu vermeiden. Es sollte daher eine Sanktionsmöglichkeit für bewusste Falschangaben in den nach § 13 InsO beizufügenden Verzeichnissen eingeführt werden.51) Besonders entscheidend für eine erfolgreiche Sanierung in Zusammenarbeit mit sämtlichen 34 Gläubigern und unter Berücksichtigung der Interessen sämtlicher Gläubiger ist eine paritätische Zusammensetzung des Gläubigerausschusses.52) 4.3
Anforderungen an die Person des Sachwalters
Für den Fall, dass vom Vorschlagsrecht nach § 56a InsO Gebrauch gemacht wird, sollten 35 die Gerichte stärker darauf achten, dass die vorgeschlagene Person tatsächlich unabhängig und für das entsprechende Verfahren als Sachwalter aufgrund seiner Kenntnisse und Befähigungen geeignet ist. Dies setzt ebenfalls voraus, dass der Vorschlag mit den Hauptgläubigern abgestimmt ist und durch einen paritätisch besetzten Gläubigerausschuss getroffen wurde.53) Ob dafür tatsächlich der Vorschlag von drei möglichen Sachwaltern aus verschiedenen Kanzleien gegenüber den Gerichten zu fordern ist,54) erscheint fraglich. Insbesondere wäre auch dadurch nicht gewährleistet, dass die entsprechenden Personen tatsächlich über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten hinsichtlich des konkreten Verfahrens verfügen. 5.
Zwischenfazit
Unter Berücksichtigung der praktischen Erfahrungen und der sich daraus ergebenden Ver- 36 besserungsmöglichkeiten haben die Änderungen durch das ESUG einen Grundstein für einen Mentalitätswechsel gelegt und die Unternehmenssanierung als Alternative zur Zerschlagung zumindest in das Bewusstsein der Bevölkerung gebracht. IV.
Änderungen durch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
Das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen wurde nicht primär 37 zur Förderung von Unternehmenssanierungen eingeführt, sondern allgemein zur erleichterten und besser abgestimmten Abwicklung von Konzerninsolvenzen.55) Gerade für die Sanierung eines Konzerns ist die abgestimmte Abwicklung von Insolvenzverfahren allerdings notwendig, sodass auch durch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen Instrumente eingeführt wurden, die im speziellen Fall der Konzerninsolvenz einer Sanierung zuträglich sind. 1.
Gruppen-Gerichtsstand
§§ 3a ff. InsO sehen einen Gruppengerichtsstand vor, der auf Antrag eines Schuldners der 38 Unternehmensgruppe eingerichtet werden kann (siehe hierzu ausführlich Fritz/Hermann, § 22 Rz. 155). Unter Einhaltung der weiteren in § 3a InsO genannten Voraussetzungen erklärt sich das Gericht auch für die Gruppenfolgeverfahren zuständig. Eine solche gebün___________ 51) Vgl. zu den vorgeschlagenen konkreten Gesetzesänderungen Thesenpapier des Gravenbrucher Kreises, Stand: 10/2015, S. 6 ff., abgedr. ZIP 2015, 2159 ff. 52) Thesenpapier des Gravenbrucher Kreises, Stand: 10/2015, S. 5, abgedr. ZIP 2015, 2159 ff.; BAKinso, Entschließung der BAKinso-Jahrestagung 2014 am 21.11.2014, Nr. 2. 53) BAKinso, Entschließung der BAKinso-Jahrestagung 2014 am 21.11.2014, Nr. 3. 54) So der Vorschlag in: BAKinso, Entschließung der BAKinso-Jahrestagung 2014 am 21.11.2014, Nr. 3. 55) RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 2.
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delte Zuständigkeit des Gerichts für sämtliche Konzerngesellschaften ist gerade bei einer Unternehmensfortführung und -sanierung von Bedeutung, da damit eine zügigere Kommunikation möglich ist und Reibungsverluste bei der Abstimmung vermieden werden können. 2.
Förderung der Zusammenarbeit der Beteiligten
39 In § 269a InsO wird die Pflicht zur gegenseitigen Unterrichtung und Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter geregelt, die sich im Grunde schon aus § 1 InsO und dem Grundsatz der Massemehrung ergibt. § 269b InsO statuiert eine Pflicht zur Zusammenarbeit der Gerichte, insbesondere zum Informationsaustausch. Der Informationsaustausch und die Abstimmung zwischen Verwaltern und Gerichten ist besonders i. R. einer Sanierung unerlässlich. Vor allem, wenn der Geschäftsbetrieb auf verschiedene Gesellschaften verteilt ist und eine enge Verzahnung zwischen den Gesellschaften vorliegt, ist eine erfolgreiche Konzernsanierung nicht ohne eine solche Zusammenarbeit denkbar bzw. dürften dann erhebliche Reibungsverluste entstehen. 40 § 269c InsO sieht die Zusammenarbeit der Gläubigerausschüsse und die Möglichkeit zur Einsetzung eines Gruppengläubigerausschusses vor. Auch eine Förderung des Austauschs und der Kommunikation zwischen den Gläubigerausschüssen insbesondere hinsichtlich Sanierungsmaßnahmen erscheint durchaus förderlich für Konzernsanierungen. 3.
Einheitsverwalter
41 Das Idealbild für eine Konzernsanierung ist der Einheitsverwalter für alle Konzerngesellschaften. Dies ergibt sich aus § 56b InsO aber auch aus § 3d Abs. 3 InsO. Ein solcher einheitlicher Verwalter ist insbesondere i. R. der Sanierung ein großer Vorteil. Zwar kann eine Sanierung auch mit verschiedenen Verwaltern funktionieren, wenn bei der Abwicklung keine Abstimmungsschwierigkeiten bestehen und einer einheitlichen Verwertungstaktik gefolgt wird. Bei der Sanierung ist es aber tatsächlich häufig unumgänglich einen Einheitsverwalter zu bestellen. Sanierung bedeutet für den Insolvenzverwalter die Führung des täglichen Geschäftsbetriebs in Konzernen, in denen die einzelnen Gesellschaften vor Insolvenzeröffnung gar nicht als einzelne wahrgenommen wurden und in denen die täglichen Abläufe darauf ausgerichtet sind, dass der Konzern ein einziges ganzes Unternehmen ist. In solchen Konzernstrukturen kann eine Sanierung nur erfolgreich sein, wenn sie ohne große Abstimmungsschwierigkeiten durchgeführt wird, da häufig kurzfristige und auch pragmatische Entscheidungen gefordert sind. Bedürfte eine alltägliche Entscheidung über einen Vertragsabschluss der Zustimmung zahlreicher Verwalter, wäre die Reaktionsmöglichkeit des Konzerns äußerst eingeschränkt. 4.
Koordinationsverfahren
42 Eine weitere Möglichkeit die vom Gesetzgeber für Konzerninsolvenzen vorgesehen wurde, ist das Koordinationsverfahren (§§ 269d – 269i InsO). Es soll über die in §§ 269a–269c InsO geregelten Vorschriften zur Kooperation hinaus die Abstimmung zwischen den Einzelverfahren mit verschiedenen Insolvenzverwaltern verbessern, ohne die Selbstständigkeit der Einzelverfahren in Frage zu stellen.56) Es handelt sich mithin um eine Art „gerichtlich beaufsichtigte Mediation“.57) Ziel ist es, die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine engere Koordinierung der Einzelverfahren zu schaffen.58) Auch dies kann im Einzelfall einer ___________ 56) RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 2. 57) Madaus, NZI Beilage z. Heft 8/2018, S. 4, 5. 58) Allg. Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 22.
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Sanierung zuträglich sein, da so gemeinsame Entscheidungen über Sanierungsmaßnahmen erleichtert werden bzw. ein Rahmen für die Abstimmung hinsichtlich solcher Maßnahmen geschaffen wird. 5.
Zwischenfazit
Das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen ist zwar nicht aus- 43 schließlich für die Sanierung von Konzernen, sondern auch für deren abgestimmte Zerschlagung eingeführt wurden. Es bietet aber zahlreiche Instrumente und Möglichkeiten, die eine Sanierung erheblich vereinfachen. Zwar hatte sich die Praxis auch vorher in Konzerninsolvenzverfahren häufig mit eigenen Mitteln einen Konzerngerichtsstand und einen Einheitsverwalter „organisiert“. Die gesetzliche Festschreibung dieser Verfahrensmöglichkeiten und die damit verbundene bessere Planbarkeit von Konzerninsolvenzen sind für Sanierungen von Konzernen aber tatsächlich eine Verbesserung. V.
Änderungen durch das StaRUG
Kernstück des SanInsFoG ist das StaRUG59), mit welchem aufgrund der Restrukturierungs- 44 richtlinie60) ein Rechtsrahmen für eine insolvenzabwendende Sanierung geschaffen wurde.61) Bereits an dieser Stelle zeigt sich jedoch, dass es sich auch bei diesen Vorschriften um solche handelt, die eine außerinsolvenzliche Sanierung fördern sollen und eben nicht um solche, die die Betriebsfortführung oder Restrukturierung in der Insolvenz fördern. Es geht also wie schon bei der VerglO um die außerinsolvenzliche Sanierung. Dennoch würde eine Gleichstellung mit der VerglO dem StaRUG nicht gerecht werden. Das StaRUG schließt in geeigneten Fällen die Lücke zwischen dem förmlichen Insolvenzverfahren und den schon bisher nach allgemeinem Recht bestehenden Möglichkeiten, sich außerhalb des Insolvenzverfahrens mit den Gläubigern zu einigen,62) indem es diese in ein geordnetes und zum Teil gerichtliches Verfahren bringt. Dafür hat der Gesetzgeber folgende Instrumente vorgesehen: 1.
Frühwarnsysteme
Das StaRUG führt mit § 1 StaRUG (rechtsformübergreifende Pflicht der Geschäftsleitung 45 zur Überwachung über Entwicklungen, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden könnten) und § 101 (Informationen zu Frühwarnsystemen durch BMJ) sowie § 102 StaRUG (Hinweis- und Warnpflichten von Prüfern und Beratern) verschiedene Instrumentarien zur früheren Erkennung von Unternehmenskrisen und drohenden Insolvenzen ein. Da die frühere Erkennung von wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine der wesentlichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Sanierung ist, ist ein frühzeitiges Eingreifen durchaus hilfreich und zunehmender gesetzlicher Druck auf die Entscheidungsträger und Berater ein wichtiger Schritt in Richtung Sanierungs- und Fortführungskultur.
___________ 59) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 60) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 61) RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 1. 62) Grau/Pohlmann/Radunz, NZI 2021, 522.
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Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen
46 Mit Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO, siehe hierzu ausführlich Uhlenbruck, § 1 Rz. 17 ff.) besteht für den Schuldner nunmehr die Möglichkeit, den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen in Anspruch zu nehmen, § 29 StaRUG. Formelle Voraussetzung hierfür ist eine Anzeige beim zuständigen Restrukturierungsgericht durch den Schuldner (§ 31 Abs. 1 StaRUG). Mit Anzeige werden dem Schuldner verschiedene vorinsolvenzliche Sanierungswerkzeuge an die Hand gegeben. Positiv für eine Sanierung ist, dass Bekanntmachungen im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen nur auf Antrag des Schuldners erfolgen (§ 84 Abs. 1 Satz 1 StaRUG). Dies ermöglicht eine „stille" Sanierung und ist damit ebenfalls ein Schritt in Richtung Sanierungs- und Fortführungskultur. 2.1
Restrukturierungsplan
47 Das StaRUG gibt dem Schuldner als Hauptwerkzeug die Möglichkeit einen Restrukturierungsplan gemäß §§ 2 ff. StaRUG vorzulegen. Es ist zu unterscheiden zwischen dem gerichtlich bestätigten Plan und dem Plan ohne gerichtliche Beteiligung. Ein Plan ohne gerichtliche Planbestätigung braucht die Zustimmung sämtlicher Gläubiger (§ 18 StaRUG) bzw. gilt er nur für diejenigen, die ihm zugestimmt haben. Es handelt sich im Grunde um nichts anderes als einen mehrseitigen materiell-rechtlichen Vertrag. Das StaRUG bringt insoweit für Sanierungen keinen Mehrwert, da solche Verträge schon vor Einführung des Gesetzes problemlos geschlossen werden konnten. 48 Allerdings sieht das Gesetz auch die Möglichkeit vor, dass der Restrukturierungsplan gerichtlich bestätigt wird (§ 29 Abs. 2 Nr. 4 und § 63 StaRUG). Eine solche Bestätigung setzt gemäß § 29 Abs. 1 StaRUG das Vorliegen der drohenden Zahlungsunfähigkeit voraus,63) sodass es sich beim Restrukturierungsplan um eine Sanierungsmaßnahme im hier dargestellten Sinne handelt (siehe hierzu Rz. 1 ff.). Im Rahmen eines solchen gerichtlichen Bestätigungsplanes besteht die Möglichkeit zur Überstimmung von Planbetroffenen, die nicht bereit sind, dem Restrukturierungsplan zuzustimmen. Die Abstimmung erfolgt in Gruppen, sodass einmal eine Überstimmung in der Gruppe selbst erfolgen kann, denn es genügt die Zustimmung von ¾ der Stimmrechte aus der jeweiligen Gruppe (§ 25 Abs. 1 StaRUG). Zum anderen sieht das Gesetz einen „Cross-Class Cram-down“ (§§ 26 ff. StaRUG) vor, in dem auch ganze nicht zustimmende Gruppen überstimmt werden können. Diese Möglichkeit ist mit Blick auf eine Sanierung äußerst positiv zu bewerten, bietet sie doch die Möglichkeit, insbesondere Akkordstörer zu überstimmen oder diese schon im Vorfeld mit der Androhung einer Überstimmung im Restrukturierungsplan zur Unterstützung der Sanierung zu bewegen.64) 2.2
Gerichtliche Planabstimmung (§ 29 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG) und Vorprüfung von für die Bestätigung des Plans erheblichen Fragen (§ 29 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG)
49 Das Gesetz sieht in § 29 StaRUG zusätzlich gerichtliche Unterstützung bei der Planabstimmung und bei der Vorprüfung des Plans vor. Mit Blick auf eine Sanierung dürfte dies keine wesentlichen Auswirkungen haben, es bietet dem schuldnerischen Unternehmen allenfalls mehr Sicherheit. 2.3
Stabilisierungsanordnung
50 Eine äußerst förderliche Maßnahme zur Stabilisierung des Geschäftsbetriebs und zur Sicherung der Liquidität des Unternehmens ist die Möglichkeit eine Stabilisierungsanordnung ___________ 63) A. A. Thole, NZI 2021, 433, 436; Skauradszun, NZI 2022, 31, 33 (Urteilsanm. zu AG München). 64) Noch zur Restrukturierungsrichtlinie Hofmann, NZI Beilage z. Heft 16 – 17/2019, S. 22, 26.
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Flöther/Gelbrich
Auf dem Weg zur Sanierungs- und Fortführungskultur
§6
(Vollstreckungs- und Verwertungssperre) nach §§ 49 ff. StaRUG zu beantragen. Eine solche Anordnung schützt zweifelsohne den Geschäftsbetrieb und ist damit einer Sanierung zuträglich. 2.4
Restrukturierungsbeauftragter
Das Gesetz sieht zudem die Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten vor, der dem 51 Schutz verhandlungsschwacher Gläubiger sowie der Vermittlung zwischen den Beteiligten dient.65) Die Bestellung kann fakultativ (§§ 77 – 79 StaRUG) oder von Amts wegen erfolgen (§§ 73 – 76 StaRUG). Einer Sanierung kann dies unter Umständen dann zuträglich sein, wenn sonst Kommunikationsprobleme bestünden. Zu beachten sind die aufgrund der dem Restrukturierungsbeauftragten zustehenden Vergütung zusätzlich entstehenden Kosten. 3.
Sanierungsmoderation
Unabhängig vom Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen kann der Schuldner nach 52 §§ 94 ff. StaRUG eine Sanierungsmoderation beantragen. Ziel dieser Moderation ist ein konsensual geschlossener Sanierungsvergleich, eine Überstimmung von Störern ist in diesem Rahmen nicht möglich. Diese Änderung dürfte für Sanierungsfälle wenige Neuerungen bringen, war doch schon vorher die Beauftragung eines Mediators oder eines anderen Beraters möglich. 4.
Zwischenfazit
Zwar sind StaRUG-Verfahren eher eine Randerscheinung. Im ersten Jahr nach Einführung 53 des Gesetzes gab es nur 22 bei den Restrukturierungsgerichten bekannte Fälle,66) sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass das StaRUG Sanierungen in Deutschland zum großen Durchbruch verholfen hat. In Praxis und Wissenschaft wird allerdings davon ausgegangen, dass das StaRUG auf Akkordstörer eine Art abschreckende Wirkung hat und damit schon im Vorfeld Sanierungslösungen herbeigeführt werden können, die sonst gestört worden wären. Zudem zeigt die Bereitstellung solcher Instrumente zur vorinsolvenzlichen Sanierung das Bestreben des Gesetzgebers ein Umdenken voranzutreiben hin von Insolvenz = Zerschlagung zu einem sanierungs- und fortführungsfreundlichen Umfeld. Auch die Förderung der Früherkennung von Krisen ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung, da die optimale Sanierung frühzeitig, schnell und leise erfolgt. VI.
Fazit und Ausblick
Die aufgeführten Gesetzesänderungen (ESUG, Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung 54 von Konzerninsolvenzen und StaRUG) zeigen, dass der Gesetzgeber gewillt ist, den schuldnerischen Unternehmen zahlreiche Sanierungsinstrumente an die Hand zu geben und Sanierungen zu unterstützen. Dennoch verbleibt es in der Praxis dabei, dass weiterhin ein großer Teil schuldnerischer Unternehmen einer Betriebsstilllegung zugeführt wird. Dies erscheint aber insoweit nicht dramatisch, als der Gesetzgeber die Sanierung zwar fördern möchte, oberstes Ziel in der Insolvenz aber nach § 1 InsO weiterhin die bestmögliche Gläubigerbefriedigung bleibt und eine Sanierung unabhängig davon, ob die Sanierung nun Insolvenzweck ist oder nicht,67) sich diesem Zweck unterordnen muss und nur erfolgen kann, wenn der Hauptzweck, die bestmögliche Gläubigerbefriedigung erreicht wird. Im Rahmen dieser Möglichkeit hat sich viel getan in den letzten Jahren. Es wurden vom Ge___________ 65) Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 169 f. 66) INDat-Report 01/2022, 7 ff. 67) Vgl. zu diesem Streit ausführlich Ganter/Bruns in: MünchKomm-InsO, § 1 Rz. 85 ff.
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§6
Teil I Grundsätze der Betriebsfortführung
setzgeber zahlreiche sanierungsfreundliche Gesetzesänderungen vorgenommen und es scheint auch in der Bevölkerung zunehmend ein Umdenken weg von Insolvenz = Zerschlagung hin zu der Möglichkeit einer Unternehmenssanierung zu geben. Wichtig wäre, dass eine Mentalitätsänderung dahingehend stattfindet, dass bei absehbarer Krise schnell und frühzeitig reagiert werden muss. Ob die Gesetzesänderungen hier ein Umdenken fördern können, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist mit den vorgestellten Gesetzesänderungen ein erster Schritt in die richtige Richtung getan.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
§7 Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung Weniger
Übersicht I. Die Entscheidungssituation....................... 1 II. Analyse der Unternehmenskrise (Ursachenanalyse)....................................... 9 1. Krisenstadium............................................... 9 2. Methoden der Krisenanalyse ..................... 20 III. Ermittlung von Sanierungsmaßnahmen ............................................... 26 1. Finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen ................................................ 28
2.
Leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen ................................................ 39 2.1 Einkauf und Beschaffung .............. 41 2.2 Produktion..................................... 46 2.3 Vertrieb .......................................... 51 3. Planung der Sanierungsmaßnahmen ......... 61 IV. Sanierungskonzept und Planungsrechnung .................................................... 62 V. Umsetzung und Controlling................... 67 VI. Zusammenfassung .................................... 75
Literatur: Porter, Wettbewerbsvorteile, 2014.
I.
Die Entscheidungssituation
Die Übernahme von großen und mittleren Insolvenzverfahren als Insolvenz- oder Sach- 1 verwalter bzw. als eigenverwaltender Schuldner (im Folgendem Eigenverwalter) bedeutet immer auch die Übernahme unternehmerischer Verantwortung. Innerhalb kürzester Zeit müssen in den Verfahren Entscheidungen getroffen werden, deren Tragweite nicht immer vollständig transparent ist, deren wirtschaftliche Dimension aber häufig weitreichend ist. Teilweise übersteigen sie auch die aktuell verfügbaren Mittel, über die man im Verfahren zu Beginn verfügt. Die Beispiele hierfür sind mannigfaltig: Bei einer Druckerei-Insolvenz stehen am Tag der Antragstellung Farblieferungen für die Pressen an. Der Fahrer ist angewiesen, nur dann zu entladen, wenn vom vorläufigen Insolvenzverwalter eine Zahlungszusage für mehrere zehntausend Euro abgegeben wird. Ob und in welchem Umfang die Farbe benötigt wird, weiß der vorläufige Insolvenzverwalter zu diesem Zeitpunkt nicht, da er erst vor ca. einer Stunde vom Gericht bestellt wurde. Die freie Liquidität reicht für die Bezahlung nicht aus. Ohne die Lieferung steht die Produktion wegen umfangreicher Nachrüstarbeiten für mindestens drei Wochen still. Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Unternehmensfortführung 2 sind in erster Linie liquiditätsorientiert. Entscheidungsmaßstab ist die Frage, ob eine Verfügung (z. B. Bestellungen, Produktionsorder, Annahme eines Auftrages etc.) zu einem Einnahmen-Überschuss führt oder nicht. Führt dies zu mehr Liquidität und damit zu einer Mehrung der Insolvenzmasse, dann wird diese Verfügung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeführt. Führt dies zu weniger Liquidität, unterbleibt voraussichtlich die Verfügung. Diese stark auf die Liquidität abgestellte Betrachtungsweise findet sich wieder in der Regelung zur Eigenverwaltungsplanung. In § 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO ist vorgeschrieben, dass für die Dauer von sechs Monaten ein Finanzplan für den Geschäftsbetrieb aufzustellen ist, aus dem sich die Deckung der Kosten des Verfahrens ergibt. Die konkreten Maßstäbe für diese Entscheidungen unterscheiden sich erheblich je nach 3 Verfahrensstadium und Verfahrensart. Es ist zum einen zu unterscheiden zwischen dem vorläufigen Insolvenzverfahren und dem eröffneten Insolvenzverfahren. Bestimmte Leistungsinanspruchnahmen (z. B. Arbeitsleistungen der Mitarbeiter) führen im AntragsverWeniger
113
§7
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
fahren nicht unmittelbar bzw. nicht in voller Höhe zu Auszahlungsverpflichtungen. Nach Verfahrenseröffnung sind sie bei Leistungsinanspruchnahmen in vollem Umfang zu zahlen. 4 Daneben ist zum anderen zu klären, in welchem spezifischen Stadium sich das Verfahren befindet. Ist i. R. des vorläufigen Verfahrens die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO bereits auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergegangen (sog. „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter), sind andere Maßstäbe anzusetzen, als ohne diese Anordnung. Im Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO gestaltet sich die Entscheidungssituation wieder völlig anders. Da das § 270d-Verfahren gerade auf die Sanierung des insolventen Unternehmens abzielt,1) wird hier unter der Voraussetzung, dass die angestrebte Sanierung nicht aussichtslos ist (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO), keine Einstellung des Geschäftsbetriebes erfolgen. Auch nach Verfahrenseröffnung kann es unterschiedliche Stadien geben. Liegt z. B. die Anzeige einer Masseunzulänglichkeit vor, ist mit bestimmten Leistungsinanspruchnahmen anders zu verfahren, als ohne eine solche Anzeige. 5 Neben der kurzfristigen Betrachtung der Liquidität ist aber auch der Aspekt der nachhaltigen Wettbewerbs- und Renditefähigkeit des Unternehmens zu beachten. In aller Regel wird der Geschäftsbetrieb nur dann veräußerbar bzw. im Wege einer erhaltenden Sanierung (Insolvenzplanverfahren) dauerhaft fortführbar sein, wenn das Unternehmen rentabel arbeitet.2) Hier geht es darum, ob das Unternehmen nachhaltig in der Lage ist, eine im Marktmaßstab angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu erwirtschaften: x
Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Unternehmensfortführung im Insolvenzverfahren sind daher immer kurzfristig anhand der Liquidität zu ermitteln. Maßstab ist hier die Frage, ob ein Einnahmenüberschuss erzielt werden kann oder nicht.
x
Mittel- bzw. langfristig ist eine Ertragsbetrachtung anzustellen. Die Renditeerwartung richtet sich dabei nach den marktspezifischen Besonderheiten.
6 Letztlich ist ein Fortführungskonzept zu erarbeiten, welches auf Basis einer Ursachenund Potentialanalyse Maßnahmen definiert, mit denen die zuvor definierten Ziele (Einnahmenüberschuss, Erwirtschaftung von Erträgen zur Massemehrung) erreicht werden können.3) 7 In Ausnahmefällen kann eine Fortführung des Unternehmens trotz drohender Masseunzulänglichkeit oder Verluste gerechtfertigt sein. Ein solcher Ausnahmefall liegt bspw. vor, wenn eine realistische Chance besteht, dass der Geschäftsbetrieb durch einen Investor übernommen wird und der dafür zu zahlende Kaufpreis insgesamt zu einer Massemehrung führt. Auch drohende Schadensersatzforderungen von Kunden aufgrund von Lieferausfällen können dazu führen, dass eine Fortführung einer Einstellung vorzuziehen ist, wenn dadurch die Masse geringer belastet wird. 8 Die betriebswirtschaftliche Abbildung erfolgt in Form von (integrierten) Planungsrechnungen (Cashflow-Rechnung sowie einer Gewinn- und Verlust-Rechnung und Bilanzplanung). Grundlagen für diese Planungsrechnungen bilden eine Analyse des Krisenstadiums (Ursachenanalyse der Insolvenz) und die Erarbeitung von leistungs- und finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen. Mithilfe der integrierten Planungsrechnung kann eine Potenzialanalyse für das sanierte Unternehmen vorgenommen werden. Ferner ist ein Instrumentarium zu schaffen, das eine laufende Plan-/Ist-Abweichung in Bezug auf die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen und auf die vorzunehmenden Maßnahmen darstellt. ___________ 1) Kübler/Prütting/Bork-Pape, InsO, § 270b Rz. 17. 2) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 22 Rz. 267. 3) Haarmeyer/Frind, Insolvenzrecht, Rz. 111.
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Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung II.
Analyse der Unternehmenskrise (Ursachenanalyse)
1.
Krisenstadium
§7
Ausgangspunkt der betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlage für eine Unterneh- 9 mensfortführung und der Erstellung eines Fortführungskonzeptes ist die Analyse des konkreten Krisenstadiums. Dabei ist zunächst der Begriff der Unternehmenskrise zu klären: x
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist die Unternehmenskrise definiert als eine Situation, die für das Unternehmen existenzbedrohend ist und die von einer dynamischen Ergebnis- und Liquiditätsambivalenz gekennzeichnet ist. Das Ausmaß der Krise kann anhand von diversen Kennzahlen (Ergebnis-, Kapital- oder Liquiditätskennzahlen) im Verhältnis zu relevanten Benchmark-Zahlen ermittelt werden.
x
In rechtlicher Hinsicht gibt es verschiedene Vorschriften, die sich auf eine Unternehmenskrise beziehen. Hierunter fällt z. B. der Verzehr des hälftigen Stamm- bzw. Grundkapitals (§ 49 Abs. 3 GmbHG), die Unterbilanz, d. h. das bilanzielle Eigenkapital deckt nicht mehr das Stammkapital (§ 30 Abs. 1 GmbHG), sowie bestandsgefährdende Tatsachen und Risiken (§ 321 Abs. 1 HGB).
x
Insolvenzrechtlich konkretisiert sich der Krisenbegriff beim Vorliegen der Insolvenzauslösetatbestände gemäß §§ 17 und 19 InsO, der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit und/oder der Überschuldung. In der Entscheidungssituation der Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren wird jedenfalls eine der beiden Krisenarten vorliegen.
Unternehmenskrisen verlaufen nicht linear, sondern sind von einer Entwicklungsdynamik 10 gekennzeichnet. Gleichwohl ist es für die Erarbeitung eines nachhaltigen Sanierungskonzepts erforderlich, dass die genauen Krisenursachen und das Krisenstadium des Unternehmens analysiert werden. Der Sanierungsstandard S 6 des IDW mit Stand vom 16.5.20184) unterscheidet sechs Krisenstadien, die eine idealtypische Abfolge darstellen.5) Hiernach wird unterschieden zwischen: x
Stakeholderkrise,
x
Strategiekrise,
x
Produkt- und Absatzkrise,
x
Erfolgskrise,
x
Liquiditätskrise,
x
Insolvenzreife.
Aufgrund der dynamischen Entwicklung von Unternehmenskrisen durchläuft ein Unter- 11 nehmen typischerweise nicht jedes Krisenstadium, bevor die Insolvenzreife eintritt. Im Einzelfall ist zu analysieren, welche konkreten Krisengründe und Krisenursachen bzw. Krisenstadien gegeben sind.
___________ 4) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2019, derzeit liegt der Entwurf einer Neufasssung eines IDW S 6 „Anforderungen an Sanierungskonzepte“, mit Stand vom 27.9.2022 vor, der noch nicht verabschiedet ist. 5) Vgl. auch Niemann in: Bork/Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, Kap. 28 Rz. 11 ff.
Weniger
115
§7
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
12 Der idealtypische Ablauf der Krisenphasen ist auf der einen Seite durch eine zunehmende Erkennbarkeit gekennzeichnet. Spiegelbildlich hierzu reduziert sich aber der Handlungsspielraum für das Management erheblich. Dieser Zusammenhang ist in der folgenden Grafik dargestellt: 13 Abb. 1
Indikatoren
Stakeholderkrise
Strategische Krise
Produkt-/ Absatzkrise
Verluste von relativen Marktanteilen
Erfolgskrise
Liquiditätskrise
Erfolgsfaktoren Starker des Unternehmens Gewinnrückgang sind nicht mehr in bzw. erste der ursprünglichen Verluste Form vorhanden
Ernsthafte Gefährdung der Stagnierende oder Konflikte zwischen Erfolgspotenziale rückläufige und Verlust von Nachfrage nach InteressenWettbewerbsHauptumsatz-/ gruppen des Unternehmens fähigkeit Erfolgsträger
Gefahr der Zahlungsunfähigkeit
Insolvenz Zahlungsunfähigkeit Überschuldung
Zeit
Betriebsergebnis
Zunehmende Erkennbarkeit und Handlungsdruck
Abnehmender Handlungsspielraum
Quelle: Eigene Darstellung.
14 Die Stakeholderkrise beschreibt ein über das übliche Maß an Interessenkonflikten hinausgehendes Spannungsverhältnis zwischen den Unternehmens-Beteiligten. Hierzu zählen die Gesellschafter, Organe der Gesellschaft (Aufsichtsrat, Beirat), Management und Arbeitnehmer. Ferner zählen dazu auch Außenstehende wie Kreditgeber, Finanzierer, Lieferanten, sonstige Gläubiger oder öffentliche Stellen6). Es liegt im Wesen der Stakeholderkrise, dass sie weder intern noch extern unmittelbar erkannt wird.7) Im Rahmen von Insolvenzverfahren konkretisieren sich allerdings häufig die bereits in der Stakeholderkrise angelegten Spannungen (missglückte Unternehmensnachfolge, Konflikte zwischen Gesellschaftern etc.). 15 Eine Strategiekrise liegt vor, wenn die Erfolgspotenziale des Unternehmens ernsthaft gefährdet oder bereits aufgebraucht sind bzw. keine neuen Potenziale geschaffen wurden. Das Unternehmen ist zumindest perspektivisch nicht mehr wettbewerbsfähig, da es Marktentwicklungen übersehen bzw. falsch eingeschätzt hat.8) 16 Die Produkt- und Absatzkrise ist durch stagnierende bzw. rückläufige Nachfrage nach den Hauptumsatzträgern des Unternehmens gekennzeichnet.9) Die Gründe liegen in qualitativ nicht ausreichenden Marketing- oder Vertriebskonzepten, Sortimentsschwächen, Schwächen in der Produkt- und Servicequalität, mangelnder Liefertreue, Fehler in der Preispolitik sowie einer mangelhaften oder fehlenden Vertriebssteuerung. ___________ 6) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 65, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 7) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 67, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 8) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 70, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 9) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 73, IDW Life 8/2018, S. 813 ff.
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Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung
§7
Eine Erfolgskrise tritt ein, wenn das Unternehmen nachhaltig Verluste erwirtschaftet, die 17 zu einem Verzehr des Eigenkapitals führen.10) Aber auch bei einer im Vergleich zum Wettbewerb deutlich geringeren Ertragsmarge liegt eine Erfolgskrise vor, da Ertragspotenziale nicht optimal ausgeschöpft werden. Die Erfolgskrise ist regelmäßig eine Folge der Produktund Absatzkrise, sofern diese nicht überwunden werden kann. Bei der Liquiditätskrise besteht die akute Gefahr der Zahlungsunfähigkeit des Unterneh- 18 mens.11) Das Unternehmen erwirtschaftet eine liquide Unterdeckung und kommt aktuell bzw. auf Sicht nicht mehr den laufenden Zahlungsverpflichtungen nach. Häufig wird die Liquiditätskrise durch eine ungünstige Finanzierungsstruktur verstärkt, da keine fristenkongruente Finanzierung vorliegt oder die Gesellschaft mit nur einer sehr geringen Eigenkapitalquote wirtschaftet. Selten wird die Liquiditätskrise durch externe Begebenheiten ausgelöst, wie z. B. einem größeren Zahlungsausfall durch die Insolvenz eines Kunden. Die Insolvenzreife liegt vor, wenn das Unternehmen zahlungsunfähig und/oder überschul- 19 det ist.12) Dieses Krisenstadium liegt definitionsgemäß vor, wenn eine Betriebsfortführung im Verfahren zu organisieren ist. 2.
Methoden der Krisenanalyse
Zur Ermittlung, welches konkrete Krisenstadium im Unternehmen vorliegt, gibt es ver- 20 schiedene Methoden, um eine genaue Analyse vornehmen zu können. Im Rahmen der Betriebsfortführung wird es sich regelmäßig anbieten, solche Methoden zu wählen, die in kurzer Zeit valide Ergebnisse liefern. Zunächst kann anhand von Kennzahlen eine Positionierung des Krisenstadiums vorgenom- 21 men werden.13) Im Vordergrund stehen dabei nicht die Kennzahlen zur Liquidität. Vielmehr ist eine Analyse der leistungswirtschaftlichen Kennzahlen (Working-Capital, Material-, Personal- und sonstige Aufwands-Quoten) erforderlich. Auch die Ermittlung von durchschnittlichen Zahlungszielen bei Lieferanten und Kunden, der Lagerdauer und der Kapitalbindungsdauer lassen wertvolle Rückschlüsse zu, wo das Unternehmen steht und welche konkreten Krisenarten vorliegen. Neben der Analyse der beschriebenen „weichen“ Faktoren zur Einordnung des Unternehmens in eine Krisenphase, bieten „harte“ Kennzahlen weitere Möglichkeiten zur Bestimmung der Krisenursachen. Insbesondere sind hier auch branchenspezifische Kennzahlen von hoher Bedeutung Bei der Strukturierung der dauerhaften Fortführungslösung, entweder im Wege einer über- 22 tragenden Sanierung (Asset Deal) oder erhaltenden Sanierung im Insolvenzplanverfahren, ist die optimale Finanzierungsstruktur anhand von Kennzahlen (Eigenkapitalquote, Fremdkapitalquote, Kapitalrentabilität etc.) zu ermitteln. An dieser Stelle kommt den Kennzahlen zur Liquiditätsanalyse eine wesentliche Bedeutung zu. Eine weitere Methode zur Krisenanalyse ist die sog. Stärken-Schwächen-Chancen-Risiken- 23 Analyse (sog. „SWOT“-Analyse; nach dem Englischen Strengths, Weaknesses, Opportunities and Threats). Dabei wird nach der internen Analyseebene (Stärken-Schwächen) und nach der externen Analyseebene (Chancen-Risiken) unterschieden. Die SWOT-Analyse wurde als Instrument der strategischen Planung entwickelt. Sie dient aber auch dazu, eine ___________ 10) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 74, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 11) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 77, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 12) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 79, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 13) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 29.
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§7
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Positionsbestimmung von Unternehmen und Organisationen vorzunehmen. Gerade in Sanierungssituationen bietet es sich an, anhand der Stärken des Unternehmens eine Entscheidung zu treffen, sodass Chancen (Möglichkeiten) realisiert werden können.14) Typischerweise wird man i. R. einer Betriebsfortführung eine solche SWOT-Analyse im engsten Führungskreis, einschließlich der Leistungsträger aus der zweiten Ebene, erstellen. Damit lassen sich wertvolle Rückschlüsse auf das aktuelle Krisenstadium gewinnen, um die strategische Stoßrichtung für eine Sanierung zu ermitteln. 24 Abb. 2
Externe Analyse
SWOT-Analyse
Interne Analyse Strenghts = Stärken
Weaknesses = Schwächen
Opportunities = Chancen
SO-Strategie: Stärken nutzen Chancen nutzen
WO-Strategie: Schwächen abbauen Chancen nutzen
Threats = Risiken
ST-Strategie: Stärken nutzen Risiken vorbeugen
WT-Strategie: Schwächen abbauen Risiken vorbeugen
Quelle: Eigene Darstellung
25 Die ABC-Analyse ist ein betriebswirtschaftliches Mittel zur Planung und Entscheidungsfindung15) und unterteilt Objekte in drei Klassen von A-, B- und C-Objekten. Diese Objekte werden nach Werten sortiert und den Klassen zugeordnet, um sie danach in einem Paretodiagramm darzustellen. Mithilfe der Anordnung kann man sich ein grobes Bild der Ist-Situation verschaffen, um daraus die weitere Vorgehensweise abzuleiten. Die ABC-Analyse ist ein vergleichsweise einfach einzusetzendes Tool und kann daher in Krisensituationen schnell bei der Entscheidungsfindung helfen. Einsatzfelder sind z. B. die Clusterung der umsatzstärksten Produkte oder Filialen. III.
Ermittlung von Sanierungsmaßnahmen
26 Ausgehend von der Analyse des Krisenstadiums mithilfe von geeigneten Analysemethoden müssen Maßnahmen ermittelt werden, wie das Unternehmen wieder zu einer nachhaltigen Rendite- und Wettbewerbsfähigkeit geführt werden kann.16) Diese Phase wird in der vorliegenden Betrachtung auch als Potenzialanalyse verstanden. Das Ergebnis der Analyse liefert einen detaillierten Überblick über die betriebswirtschaftlichen Strukturen, einschließlich der Abbildung der Ertragsquellen und der Kostenstruktur. Auf der Grundlage sind nunmehr Maßnahmen zu entwickeln, wie das Unternehmen i. R. der Betriebsfortführung mit einem Liquiditätsüberschuss betrieben bzw. wie eine nachhaltige Wettbewerbs- und Renditefähigkeit erreicht werden kann (Fortführungskonzept). ___________ 14) Gabler Wirtschaftslexikon, abrufbar unter wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/swot-analyse-52664 (Abrufdatum: 9.12.2022). 15) Gabler Wirtschaftslexikon, abrufbar unter wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/abc-analyse-28775 (Abrufdatum: 9.12.2022). 16) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 101, IDW Life 8/2018, S. 813 ff.
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Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung
§7
Die vielfältigen Ansätze der Sanierungsmaßnahmen können dabei im Wesentlichen in 27 zwei Grundformen eingeteilt werden: x zum einen in finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen17) und x zum anderen in leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen18) einschließlich arbeitsrechtlicher Maßnahmen. 1.
Finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen
Die finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen beschreiben sämtliche Ansätze, die zu einer Stärkung der Kapitalausstattung des Unternehmens führen. Hierbei kann man zwischen Maßnahmen zur Stärkung der Innenfinanzierung und zur Stärkung der Außenfinanzierung unterscheiden.19) Die Innenfinanzierung ist eine Finanzierung durch die Einbehaltung von Einnahmenüberschüssen.20) Hierzu müssen zum einen dem Unternehmen liquide Mittel aus dem innerbetrieblichen Umsatz- und Leistungserstellungsprozess zufließen und zum anderen steht dem Mittelzufluss kein oder ein geringerer auszahlungswirksamer Aufwand gegenüber. Bei einer Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren gibt es eine Reihe von Maßnahmen der Innenfinanzierung, die ohne einen spezifischen Bezug zur unternehmerischen Wertschöpfung realisiert werden. Der Insolvenzverwalter wird langfristig angelegte Festgelder oder Wertpapiere auflösen oder nicht betriebsnotwendiges Vermögen (Grundstücke, Immobiliarvermögen oder sonstiges Umlaufvermögen) liquidieren. Bei der Erarbeitung von finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen, die sich auf die Fortführung der Betriebstätigkeit beziehen, wird es im Wesentlichen um eine Optimierung des Working-Capital gehen. Dies umfasst eine gezielte Reduzierung des Umlaufvermögens und damit des darin gebundenen Kapitals durch eine Optimierung des Vorratsbestands an Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen sowie der Halbfertig- und Fertigwaren. Mithilfe von ABC-Analysen lässt sich eine Optimierung des Warenbestands ermitteln. Im Rahmen der Betriebsfortführung wird es zunächst um eine Aufrechterhaltung der Lieferbeziehung gehen, da typischerweise die Warenlieferanten Forderungsverluste in Folge der Insolvenzantragstellung realisiert haben. Es ist die Aufgabe des (vorläufigen) Verwalters bzw. Eigenverwalters, neues Vertrauen zu schaffen, um die Chance für eine zukünftige Lieferbeziehung aufrechtzuerhalten. Durch die Einrichtung von Konsignationslägern und die zugehörige Beistellung von Material kann in der Zukunft die Kapitalbindung für das schuldnerische Unternehmen reduziert werden. Parallel hierzu ist ein konsequentes Bestandsmanagement zu etablieren, welches die Warenbeschaffung an den tatsächlichen Bedarfen orientiert und eine Reduzierung des durchschnittlichen Kapitalbedarfs zur Folge hat. Typischerweise werden die Bestellvorgänge an den konkreten Bedarfen orientiert. Eine weitere Komponente der Working-Capital-Optimierung ist die gezielte Verlängerung von Zahlungszielen bei den Lieferanten. Dies wird typischerweise i. R. der Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren aus den vorgenannten Gründen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sein. Weiterer Ansatzpunkt für finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen durch eine Working-Capital-Optimierung ist die Reduzierung der Forderungsbestände.21) Hier können mit den Kunden i. R. der Betriebsfortführung verkürzte Zahlungsziele vereinbart werden, ___________ Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 217 ff. Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 153 ff. Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 217 ff. Gabler Wirtschaftslexikon, abrufbar unter wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/innenfinanzierung-41134 (Abrufdatum: 9.12.2022). 21) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 230 ff. 17) 18) 19) 20)
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um die Kapital- und damit Liquiditätslage zu verbessern. Weiterer Ansatz ist ein konsequenter Abbau des Altforderungsbestands. Unter Außenfinanzierung fasst man alle Finanzierungsvorgänge zusammen, bei denen dem Unternehmen Mittel von außen zugeführt werden, d. h. die nicht aus dem Leistungserstellungsprozess des Unternehmens stammen. Die Bereitstellung von Eigenkapital ist i. R. der Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren bei einer kurzfristigen Betrachtung untypisch. Allerdings kommt bei der Strukturierung einer dauerhaften Betriebsfortführung dieser Maßnahme eine erhebliche Bedeutung zu. Dabei erfordern die beiden Optionen der Fortführung, sei es als übertragende oder als erhaltende Sanierung, in unterschiedlichen Ausprägungsformen in aller Regel die Bereitstellung von Eigenkapital. Bei der Strukturierung der Übernahmefinanzierung spielt neben der Eigenkapitalkomponente auch die optimale Bereitstellung von Fremdkapital eine Rolle. Hier wird der Erwerber sämtliche Möglichkeiten der Bereitstellung von Fremdmitteln (Darlehen, Anleihen, Kontokorrentkredite etc.) einbeziehen. Auch die Einbindung von eigenkapitalähnlichen Finanzierungsformen (Mezzanine, Genussscheine etc.) treten hier auf. Bei einer Sanierung im Wege eines Insolvenzplanverfahrens werden die Gläubiger eine ausreichende Kapitalisierung des Unternehmens erwarten, die nicht nur durch einen Verzicht der Gläubiger finanziert wird. Neben der Bereitstellung neuer, „frischer“ Liquidität durch Eigen- oder Fremdmittel spielt im Insolvenzverfahren auch die Finanzierung durch die Reduzierung des bestehenden Fremdkapitals eine zentrale Rolle. Gerade das Insolvenzverfahren dient dazu, eine kollektive Haftung zu realisieren. Dies geht mit einem Forderungsverlust der Gläubiger einher. Im Hinblick auf die Finanzierung der Betriebsfortführung wird entweder der (vorläufige) (Eigen-)Verwalter oder der Erwerber, der das Unternehmen dauerhaft fortführt, versuchen, einen möglichst hohen Beitrag beim Forderungsverzicht der bisherigen Gläubiger zu realisieren. Dies konkretisiert sich deutlich bei der Sanierung mittels eines Insolvenzplans, da eine geringe Quote bei den Altverbindlichkeiten unmittelbar zu einer geringeren Finanzierungslast des Unternehmens nach Planannahme führt. Aber auch bei der Übernahme einer bestehenden Finanzierungsstruktur konkretisiert sich dies durch eine unmittelbare Verhandlung zwischen der (typischerweise) finanzierenden Bank und dem Erwerber. Häufig wird dabei die Einbindung eines Besserungsscheins vereinbart, bei dem eine Nachzahlung an das Eintreten bestimmter ertrags- oder liquiditätsrelevanter Kennzahlen gebunden wird. Statt einem Forderungsverzicht kann auch eine Umwandlung der Forderung in Eigenkapital (Debt Equity Swap) als Sanierungsmaßnahme in Betracht kommen. Mit dem durch das ESUG eingeführten § 225a InsO wird diese Maßnahme ausdrücklich als Option in Insolvenzplanverfahren genannt. Neben der positiven bilanziellen Auswirkung, die aufgrund der Verbesserung des Verschuldungsgrades sogar bis zur Beseitigung einer Überschuldung reichen kann, wirkt sich ein Debt Equity Swap durch entfallende Zins- und Tilgungspflichten auch regelmäßig positiv auf die Liquidität aus.22) Weitere finanzwirtschaftliche Sanierungsinstrumente sind die Einbeziehung von Sonderformen der Finanzierung wie Leasing23) oder Factoring24). Hier ist im Einzelfall zu prüfen, ob und in welcher Form diese Mittel eingesetzt werden können. 2.
Leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen
39 Einen breiten Raum nehmen die leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen ein. Hierbei geht es um eine Strukturverbesserung des Unternehmens. Das Ziel ist es, nach einer ___________ 22) Kübler/Prütting/Bork-Spahlinger, InsO, § 225a Rz. 9. 23) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 239. 24) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 241.
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§7
Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung
Schwachstellenanalyse und einer Aufdeckung der Krisenursachen mittels der leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen die Ertrags- und Finanzkraft des Unternehmens zu stärken. Die Ansätze für diese Maßnahmen lassen sich entlang der Wertschöpfungskette des Unternehmens bilden. Abb. 3
40
Unterstützende Aktivitäten
in Gew
Unternehmensinfrastruktur Personalwirtschaft
nsp e
ann
Forschung & Entwicklung Einkauf
Ge
Ausgangslogistik
Marketing und Vertrieb
Kundenservice
ne
pan
Produktion
win ns
Eingangslogistik
Primäre Aktivitäten Bildquelle: Porter, Wettbewerbsvorteile, S. 64.
2.1
Einkauf und Beschaffung
Die leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen im Bereich des Einkaufs und der Be- 41 schaffung sind darauf gerichtet, günstiger einzukaufen. Dabei muss sichergestellt sein, dass die erforderlichen Materialien in der ausreichenden Menge und Qualität und zum richtigen Zeitpunkt bereitgestellt werden. Maßgröße für eine Optimierung im Bereich Einkauf und Beschaffung ist im Wesentlichen die Materialaufwandsquote. Diese ist definiert als das Verhältnis zwischen dem Materialaufwand und der Gesamtleistung. Reziprok hierzu ergibt sich die Rohertragsquote als das Verhältnis zwischen Gesamtleistung minus Materialaufwand geteilt durch Gesamtleistung. Typische leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen im Bereich des Einkaufs und der 42 Beschaffung sind die Volumenbündelung und Reduktion der Anzahl der Lieferanten, um dadurch Skaleneffekte bzw. bessere Preise zu erzielen. Zudem reduziert sich typischerweise der Verwaltungsaufwand durch eine Komplexitätsreduzierung.25) Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Verbesserung von Einkaufskonditionen. Ein erster An- 43 satzpunkt ist der Vergleich von Preisen und Zahlungsbedingungen zwischen verschiedenen Produktionsstandorten bzw. Tochtergesellschaften. In einem weiteren Schritt können Drittangebote von Fremdlieferanten eingeholt werden. Im Rahmen der Betriebsfortführung im Insolvenz(antrags)verfahren können aufgrund der Erfüllungswahl des Insolvenzverwalters gemäß § 103 InsO bestehende Kontrakte ab Verfahrenseröffnung jederzeit gelöst werden. Allerdings ist hier zu beachten, dass die Substitution von einzelnen Lieferanten typischerweise einen zeitlichen Vorlauf erfordert. Auch hier ist im Einzelfall abzustimmen, ob der Wechsel des Lieferanten eine geeignete Maßnahme ist. Weiterer Ansatzpunkt im Bereich Einkauf und Beschaffung ist die Prüfung einer grund- 44 sätzlichen Substitution von Materialien durch günstigere Drittprodukte. Allerdings ist ___________ 25) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 179.
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§7
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
hier auf die konkrete Materialspezifikation zu achten, sodass die qualitativen Anforderungen weiterhin erfüllt werden.26) Schließlich können einzelne Produktbereiche, die im Unternehmen nicht oder nicht kostendeckend gefertigt werden können, an Drittfirmen outgesourct werden. Dies ist sowohl auf zentrale Dienstleistungen, wie z. B. die Buchhaltung, als auch auf einzelne Wertschöpfungsstufen im Fertigungsprozess anwendbar. 45 Im Rahmen der Betriebsfortführung im Insolvenzantragsverfahren wird dies typischerweise kein geeignetes Mittel sein, da aufgrund der Regelungen zum Insolvenzgeld erhebliche Einsparungen bei der Eigenfertigung realisiert werden können. Zur dauerhaften Sicherung der Rentabilität kann es hier im Einzelfall jedoch geboten sein, Teilbereiche outzusourcen. 2.2
Produktion
46 Im Bereich der Produktion gibt es ein breites Einsatzgebiet für leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen. Ansatzpunkte können sein: x
die Senkung der Materialeinsatzquote,
x
die Steigerung der Anlageneffizienz,
x
die Reduktion der Durchlaufzeiten von Material- und Vorratsbeständen oder
x
ein effizienterer Einsatz von vorhandenen Maschinen und Personal durch eine verbesserte Ressourcenplanung und -steuerung.27)
47 Typischerweise erfordert die Optimierung der Produktion das Hinzuziehen von Produktionsexperten, um z. B. Ausschussquoten zu reduzieren bzw. konstruktionsbedingte oder prozessbedingte Mehrverbräuche in den Griff zu bekommen. 48 Im Bereich der Produktion lässt sich eine Reihe von Kennzahlen ermitteln, die standortbzw. filialbezogene Vergleiche ermöglichen. Die Kennzahl für die Leistungsfähigkeit in der Produktion ist die Produktivität, also das Verhältnis zwischen Output und Input. Beispiele: Die Arbeitsproduktivität, also das Verhältnis zwischen Ausbringungsmenge und geleisteter Arbeitszeit in Stunden: Diese Kennzahl ist im produzierenden Gewerbe, aber auch in anderen Bereichen gängig, wie z. B. dem Handel. Ferner gibt es die Maschinen- oder Anlagenproduktivität als das Verhältnis zwischen der Ausbringungsmenge und der eingesetzten Maschinen bzw. Anlagen und Zeit oder die Flächenproduktivität als das Verhältnis zwischen dem Umsatz oder Ertrag und der eingesetzten Fläche. Letztere finden hauptsächlich im Einzelhandel, aber auch in Bereichen wie der Landwirtschaft Anwendung. 49 Eine zentrale Aufgabe der Produktportfolioanalyse i. R. der Erarbeitung von leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen ist die Schaffung von Transparenz in Bezug auf die Produktrentabilität. Auf dieser Grundlage lassen sich auch bestimmte Stadien im Produktlebenszyklus von Produkten oder Produktionslinien darstellen. Hieraus ergeben sich Rückschlüsse auf die strategische Positionierung des Unternehmens. 50 Diese Rückschlüsse sind erforderlich, um ein langfristiges Sanierungskonzept für das schuldnerische Unternehmen zu erarbeiten. Erst dann, wenn eine dauerhafte Renditefähigkeit des Unternehmens mittels geeigneter Sanierungsmaßnahmen darstellbar ist, bestehen Chancen, dass der Insolvenzverwalter den Geschäftsbetrieb verkaufen bzw. im Wege eines Insolvenzplanverfahrens sanieren kann. ___________ 26) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 182 f. 27) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 184.
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Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung 2.3
§7
Vertrieb
Im Bereich der leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen im Vertrieb lassen sich kurz- und mittel- bzw. langfristige Ansätze unterscheiden. Typischerweise wird der (vorläufige) Insolvenzverwalter im Insolvenz(antrags)verfahren alle Möglichkeiten zur kurzfristigen Vertriebssteigerung ausschöpfen. Erforderlich ist in einem zweiten Schritt aber auch eine langfristige Absicherung der Vertriebsstrategie. In kurzfristiger Hinsicht muss die Kundenkommunikation verbessert werden, um damit auch das Kundenvertrauen wiederherzustellen. Aufgrund der Insolvenzantragstellung sind typischerweise gerade die Kunden unsicher und zeigen dies in einem zurückhaltenden Bestellverhalten. Hier kann der (vorläufige) Verwalter durch die Einhaltung von Liefer- und Qualitätszusagen verlorengegangenes Vertrauen wiederherstellen. Wichtig ist hier eine offene und rechtzeitige Kommunikation. Die bestehenden Chancen aber auch Risiken in der weiteren Zusammenarbeit müssen offen kommuniziert werden. Unter Liquiditätsgesichtspunkten kann das Working-Capital optimiert werden, indem eine beschleunigte Rechnungslegung bzw. eine Verkürzung von Zahlungszielen vereinbart wird. Ein weiteres Mittel ist auch die Vereinbarung von Anzahlungen bzw. das Beistellen von Material. Durch einen beschleunigten Abbau von Fertigerzeugnissen, Sonderverkäufen und sonstigen Rabatt- oder Werbeaktionen können zudem Liquiditätspotenziale erschlossen werden.28) In langfristiger Hinsicht ist typischerweise eine Neuausrichtung der Vertriebsstrategie erforderlich. Hier hilft das Instrument der ABC-Analyse, um zu ermitteln, welche Kunden für die zukünftige Positionierung des Unternehmens relevant sind. Hierbei steht weniger das Umsatzvolumen, als vielmehr die Erwirtschaftung von besonders hohen Deckungsbeiträgen im Vordergrund. Leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen zur Optimierung der Unternehmensinfrastruktur setzen bei den Sachkosten an. Diese umfassen, neben dem betrieblichen Overhead und der Verwaltung, den gesamten Organisationsbereich des Unternehmens. Entscheidend ist hier die Frage, was benötigt wird, um den operativen Betrieb zu erhalten. In diesem Zusammenhang kommen sämtliche Sachkosten auf den Prüfstand. Im Rahmen des Insolvenzverfahrens besteht die Möglichkeit, sich sämtlicher vertraglichen Verpflichtungen zu entledigen, die nicht mit der Kernwertschöpfungstätigkeit im Unternehmen im Zusammenhang stehen. Solch weitreichende Ansätze zur leistungswirtschaftlichen Optimierung des Unternehmens bestehen außerhalb eines Insolvenzverfahrens nicht bzw. nicht in diesem Umfang. Im Bereich der Raumkosten ist zu klären, welche Räume tatsächlich für die Betriebsfortführung benötigt werden. Sonstige Flächen werden abgemietet. Hier stellt sich auch die Frage, ob durch eine Verringerung der vom Unternehmen genutzten Räume bzw. durch eine dichtere Besetzung bestimmter Räumlichkeiten die Flächenrentabilität erhöht werden kann. Sofern eine Fortführung zu den bisherigen Mietkonditionen betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll ist, ist auch der Umzug in Räume mit niedrigeren Raumkosten pro Quadratmeter zu prüfen. In Einzelfällen können aber auch befristete Mietkürzungen in Form eines Sanierungsbeitrags des Vermieters vereinbart werden. Der Fuhrpark des Unternehmens steht auf dem Prüfstand. Nicht benötigte Fahrzeuge werden verkauft bzw. dem Leasinggeber zurückgegeben. Eine interne Optimierung kann durch die Einführung von Poolfahrzeugen erreicht werden. Gleiches gilt für sämtliche sonstigen betrieblichen Aufwendungen, wie der x Energieverbrauch, ___________ 28) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 122 f.
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§7
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
x
der Bereich Werbung und Marketing,
x
Kommunikationsaufwendungen,
x
Mitgliedschaften,
x
Versicherungen und
x
sonstige Verbrauchsmaterialien.
59 Im Bereich der Kapitalkosten ist zu prüfen, wie eine optimale Unternehmensfinanzierung gestaltet werden kann. Dies hängt maßgeblich auch von der Frage ab, in welcher Form die Fortführung des Unternehmens organisiert werden soll (übertragende oder erhaltende Sanierung). 60 Ein breites Feld der leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen sind die Personalaufwendungen. Im Kern ist zu prüfen, welche Kapazitäten für die zukünftige Leistungserstellung erforderlich sind. Im Rahmen dieser Personalplanung ist anhand von Benchmarking-Zahlen (intern und extern) zu ermitteln, wie die optimale Personalstruktur aussehen soll.29) Die Personalanpassung im Insolvenzverfahren erfolgt dabei grundsätzlich nach den gleichen Regeln, wie i. R. eines außergerichtlichen Sanierungsprozesses. Allerdings gibt es durch die verkürzte Kündigungsfrist gemäß § 113 InsO bzw. durch die Begrenzung des Sozialplanvolumens gemäß § 123 Abs. 1 InsO erhebliche Erleichterungen gegenüber der außergerichtlichen Sanierung. 3.
Planung der Sanierungsmaßnahmen
61 Sämtliche Sanierungsmaßnahmen (finanzwirtschaftliche und leistungswirtschaftliche) sind im Einzelnen zu identifizieren und auf ihre Liquiditäts- und GuV-Relevanz hin zu prüfen. Ferner sind die Verantwortlichkeiten für die Umsetzung einschließlich der zeitlichen Komponente festzulegen. Die Sanierungsmaßnahmen bilden das Rückgrat des nachfolgend zu erstellenden Sanierungskonzepts, das den Fahrplan für die Restrukturierung aufzeigt. Nur wenn im Wege einer wertenden Gesamtschau aller identifizierten Sanierungsmaßnahmen eine positive Liquiditäts- und Ertragssituation dargestellt werden kann, ist eine Betriebsfortführung zu befürworten. Diese Potenzialanalyse ist vom (vorläufigen) Insolvenzverwalter, Sachwalter oder Eigenverwalter durchzuführen. IV.
Sanierungskonzept und Planungsrechnung
62 Das Sanierungskonzept zeigt auf, mit welchen Maßnahmen und Effekten das Unternehmen zu einer nachhaltigen Rendite und Wettbewerbsfähigkeit geführt werden kann. Das Konzept ist damit Grundlage für jede nachvollziehbare und schlüssige Darstellung der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens. 63 Grundsätzlich gibt es verschiedene formale Anforderungen, die ein Sanierungskonzept zu erfüllen hat. In der Praxis hat sich vor allem der Standard 6 (IDW S 6) durchgesetzt. Bei der Erarbeitung betriebswirtschaftlicher Entscheidungsgrundlagen für eine Unternehmensfortführung kann ein standardisiertes Sanierungsgutachten nach formellen Kriterien allenfalls ein Anhaltspunkt für den Aufbau des Gutachtens sein. 64 Allerdings bietet es sich hinsichtlich des Inhalts und Umfangs des Konzepts an, sich an solchen Standards zu orientieren. Das Anwendungsgebiet ist dabei in dreierlei Hinsicht zu sehen: x
Zum einen dient ein Sanierungskonzept als Entscheidungsgrundlage für den (vorläufigen) Insolvenzverwalter, ob eine Betriebsfortführung sinnvoll ist.
___________ 29) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 127.
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Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen für eine Fortführung
§7
x
Zum zweiten bietet sich das Sanierungskonzept als Argumentationsgrundlage i. R. eines Verkaufsprozesses an, um den angesetzten Firmenwert zu rechtfertigen.
x
Schließlich ist das Sanierungskonzept bei einer erhaltenden Sanierung erforderlich, um die Anforderungen des darstellenden Teils des Insolvenzplans zu erfüllen.
Gemäß dem IDW Standard ist es erforderlich, dass im Sanierungskonzept wesentliche 65 Unternehmensdaten aufgenommen werden sowie die für die Krise verantwortlichen Ursachen und deren Auswirkungen erläutert werden. Auf relevante Einflussfaktoren – rechtlicher als auch ökonomischer Natur – ist ebenfalls einzugehen. Auf Grundlage einer „systematischen Lagebeurteilung“ sind dann die Sanierungsmaßnahmen (finanz- und leistungswirtschaftliche) aufzuführen, welche sich am Leitbild des sanierten Unternehmens zu orientieren haben. Schließlich werden die Auswirkungen der Sanierungsmaßnahmen i. R. einer integrierten Liquiditäts-, Ertrags- und Vermögensplanung abgebildet.30) Diese integrierte Unternehmensplanung muss dabei die insolvenzbedingten Effekte im Einzelnen aufführen. Ferner sind die GuV-relevanten, liquiditäts- und bilanzrelevanten finanz- und leistungswirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen in der integrierten Unternehmensplanung abzubilden. Bei der Planungserstellung bietet es sich an, sämtliche Planungsannahmen im Detail zu dokumentieren und rechentechnisch mit der integrierten Unternehmensplanung zu verknüpfen. Vor der Planungserstellung sollten sich zunächst der Planungsgegenstand (Marktumfeld, 66 Branche, Unternehmensgruppe, Geschäftsmodell) sowie der Planungszweck (z. B. Prüfung der Fortführungsfähigkeit des Unternehmens) vergegenwärtigt werden. An diesem sollten der Aufbau und die Darstellung der Planung ausgerichtet sein.31) Eine gesetzliche Vorschrift, wie das Planungswerk zu strukturieren ist, gibt es nicht. Typischer Planungshorizont ist ein Zeitraum von drei bis fünf Jahren. Dies hängt im Wesentlichen vom Unternehmensgegenstand ab. Unternehmen, die z. B. im Projektgeschäft mit langjährigen Entwicklungsund Produktionslaufzeiten zu tun haben, werden in der Regel einen längeren Planungshorizont haben. Die Tragfähigkeit und Stimmigkeit des Sanierungskonzepts ist auch anhand der Entwicklung geeigneter Kennzahlen im Planungszeitraum zu plausibilisieren.32) V.
Umsetzung und Controlling
Die Umsetzung des Sanierungskonzepts i. R. der Betriebsfortführung erfordert ein konse- 67 quentes Projektmanagement, das mit einer klaren Aufbauorganisation und klaren Verantwortlichkeiten die Grundlage für die Umsetzung schafft. In der Konzeptionierungsphase erfolgt dabei ein Top-down-Ansatz, bei dem die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen unter Einbeziehung des Eigenverwalters und der Führungskräfte des Unternehmens gemeinsam mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter erarbeitet werden. Neben der Ausarbeitung eines umfassenden Sanierungskonzepts benötigt insbesondere der 68 vorläufige Insolvenz- bzw. Eigenverwalter oder Sachwalter eine cashflow-basierte Planungsrechnung. Darin sind die zu erwartenden Überschüsse aus der unmittelbaren Betriebstätigkeit den zu erwartenden Auszahlungen gegenüberzustellen. Sofern ein liquider Überschuss erzielt wird, ist die Betriebsfortführung sinnvoll, um die Masse zu mehren. Die Umsetzung der Maßnahmen erfolgt in der Implementierungsphase in Form eines 69 Bottom-up-Ansatzes. ___________ 30) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 2, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 31) Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, S. 272 f. 32) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Nr. 131, IDW Life 8/2018, S. 813 ff.
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§7
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
70 Unter Einbindung der Mitarbeiter werden die Maßnahmenpakete in Einzelmaßnahmen zerlegt und mit konkreten Verantwortlichkeiten und Deadlines hinterlegt. Ein typisches Arbeitsinstrument ist hierbei ein Workshop. 71 Die detaillierten Maßnahmenpläne dienen als Grundlage für das spätere Sanierungscontrolling. Das Controlling wird in aller Regel in die Bereiche x
Maßnahmencontrolling und
x
Ergebniscontrolling
unterschieden. 72 Aufgabe des Sanierungscontrollings ist es, ggf. Planabweichungen möglichst frühzeitig zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Typische Abweichungen können sein: Terminverzug, Budgetüberschreitung oder Ergebnisabweichung. Die Aufgaben des Sanierungscontrollings gehen über die reine Kontrolle weit hinaus. Frühzeitig und regelmäßig soll ein Plan-Ist-Abgleich erfolgen, um Ursachen von x
Planabweichungen zu analysieren,
x
Gegenmaßnahmen zu initiieren und
x
die Verantwortlichen zu informieren.
73 Neben dem Maßnahmencontrolling spielt das Ergebniscontrolling, d. h. die Überprüfung, ob die angestrebten Ergebniseffekte erreicht werden, eine zentrale Rolle. Das Sanierungscontrolling vereint die beiden Elemente des Maßnahmen- und Ergebniscontrollings und soll die (geplante) positive Entwicklung des Unternehmens gezielt begleiten und steuern. 74 Zur Unterstützung der Umsetzung des Sanierungskonzepts gibt es verschiedene Ansätze i. R. von Insolvenzverfahren. Typischerweise wird der (vorläufige) Insolvenzverwalter auf die bestehenden Managementstrukturen aufsetzen. Allerdings gibt es im Einzelfall Situationen, in denen eine externe Unterstützung erforderlich ist. Diese kann entweder durch einen Berater oder einen Restrukturierungsverantwortlichen (Chief Restructuring Officer, CRO) erfolgen. Der CRO bringt die benötigten persönlichen Eigenschaften und die fachliche Kompetenz mit und hat die Aufgabe, die Sanierung maßgeblich zu gestalten und voranzutreiben. Seine Tätigkeit im Unternehmen ist immer zeitlich befristet, hat einen klaren Fokus auf die Sanierung und er hat typischerweise Weisungsbefugnis. VI.
Zusammenfassung
75 Die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen zur Unternehmensfortführung im Insolvenz(antrags)verfahren sind bei einer kurzfristigen Betrachtung liquiditätsorientiert, mittel- bzw. langfristig sind sie ertragsorientiert. Das Ziel ist dabei, ein nachhaltig renditeund wettbewerbsfähiges Unternehmen zu erhalten. 76 Basis für die Entscheidungsfindung, ob bzw. in welcher Form der Betrieb fortgeführt werden kann, ist eine detaillierte Krisenanalyse einschließlich des konkreten Krisenstadiums (Ursachenanalyse). Auf dieser Grundlage werden finanz- und leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen erarbeitet. Die sich daraus ergebenden Effekte werden in Form eines Sanierungskonzepts dargestellt, das die Unternehmensentwicklung in Form einer integrierten Liquiditäts-, GuV- und Bilanzplanung abbildet. Dieses Konzept dient auch als Grundlage für das Controlling der weiteren Betriebsfortführung.
126
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§8 Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung unter Einbeziehung externen Rats F. Kebekus/B. Kebekus
Übersicht I. Vorbemerkung ............................................ 1 II. Einbeziehung externen Rats...................... 4 1. Anwaltlicher Sanierungsberater .................. 5 1.1 Vermeidung von Interessenkonflikten......................................... 6 1.2 Aufgabenfeld.................................... 8 1.3 Haftung .......................................... 10 2. Chief Restructuring Officer...................... 12 2.1 Berufsrechtliche Vorgaben beim anwaltlichen CRO................ 13 2.2 Aufgabenfeld und Bestellung........ 14 2.3 Haftung .......................................... 16 3. Generalhandlungsbevollmächtigter .......... 17 3.1 Aufgabenfeld und Bestellung........ 18 3.2 Haftung .......................................... 23 III. Anforderungen an die Unternehmensfortführung................................................ 28 1. Vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung ....................................................... 31 1.1 Entwicklung eines Sanierungskonzepts......................................... 32 1.1.1 Inhalt des Sanierungskonzepts ..... 34 1.1.2 Umsetzung durch die Geschäftsleitung............................................. 38 1.2 Liquiditätsmanagement in der Liquiditätskrise........................ 41 1.2.1 Fortlaufende Prüfung der Insolvenzeröffnungsgründe .................. 42 1.2.1.1 Zahlungsunfähigkeit (§ 17 Abs. 2 InsO) ........................ 43 1.2.1.2 Überschuldung (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO).............. 46 1.2.2 Liquiditätsplanung......................... 49 1.2.3 Liquiditätsgenerierende und -sichernde Maßnahmen................. 51 1.3 Auseinandersetzung mit Verfahrensoptionen............................. 56
1.3.1 1.3.2 1.3.3
2.
Restrukturierungsverfahren.......... 61 Schutzschirmverfahren.................. 69 Auswahl des richtigen Verfahrens...................................... 76 Fortführung nach Eintritt der materiellen Insolvenz........................... 78 2.1 Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 1 InsO)....................... 79 2.1.1 Antragsfrist.................................... 82 2.1.2 Insolvenzverschleppungshaftung ... 83 2.1.3 Behebung des Eröffnungsgrundes oder Insolvenzantragstellung ....... 88 2.2 Zahlungsverbot (§ 15b InsO)....... 94 2.2.1 Rechtslage ...................................... 95 2.2.1.1 Weites Verständnis des Zahlungsbegriffs ..................... 99 2.2.1.2 Ausgleich von Masseschmälerungen durch Gegenleistungen ........ 102 2.2.1.3 Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang.............................. 104 2.2.1.4 Darlegungs- und Beweislast........ 105 2.2.2 Übergang in die Notgeschäftsführung......................................... 106 2.2.2.1 Freigabe von Zahlungen.............. 108 2.2.2.2 Etablierung eines Dokumentations- und MonitoringSystems ........................................ 110 2.2.2.3 Einrichtung eines Guthabenkontos ................ 112 2.2.2.4 Absehen von Risikogeschäften .... 114 2.3 Strafrechtliche Risiken ................ 115 2.4 Anfechtungsrisiken ..................... 118 2.4.1 Rückgriff auf das Bargeschäftsprivileg.......................................... 119 2.4.2 Abstimmung mit Zahlungsverbot ........................................... 124
Literatur: Altmeppen, Die fortgesetzten Irrtümer über die Zahlungsverbote, ZIP 2021, 1; Altmeppen, Was bleibt von den masseschmälernden Zahlungen?, ZIP 2015, 949; Altmeppen, Probleme der Konkursverschleppungshaftung, ZIP 1997, 1173; Balthasar, Allgemeine Zugangsvoraussetzungen zu den Restrukturierungsinstrumenten, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 18; Bayer/Schmidt. J., Die Insolvenzantragspflicht der Geschäftsführung nach §§ 92 Abs. 2 AktG, 64 Abs. 1 GmbH, AG 2005, 644; Bea/Dressler, Business Judgment Rule versus Gläubigerschutz? – Praktische Erwägungen zur Organhaftung im Kontext des StaRUG, NZI 2021, 67; Bea/Fischer, Aktuelle Fragestellungen bei der Gestaltung der anwaltlichen Beratung in der Eigenverwaltung, NZI 2019, 15; Bitter, Geschäftsleiterhaftung in der Insolvenz – Alles neu durch SanInsFoG und StaRUG?, ZIP 2021, 321; Bitter, Neues Zahlungsverbot in § 15b InsO-E und Streichung des § 64 GmbHG, GmbHR 2020, 1157; Bitter/Baschnagel, Haftung von Geschäftsführern und Gesellschaftern in der Insolvenz ihrer GmbH, ZInsO 2018, 557 (Teil 1),
F. Kebekus/B. Kebekus
127
§8
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
ZInsO 2010, 1561 (Teil 2); Bork, Erstreckung der §§ 103 ff. InsO auf die präventive Restrukturierung?, ZRI 2020, 457; Bork, Pflichten der Geschäftsführung in Krise und Sanierung, ZIP 2011, 101; Brand, „Sanieren oder Ausscheiden“ in der Aktiengesellschaft, KTS 2011, 481; Brandes/Rabenau, Früherkennung und Bewältigung bestandsgefährdender Risiken im Unternehmen, ZIP 2021, 2374; Brinkmann, Die Solvenzsicherungspflicht der Geschäftsleiter, KTS 2021, 303; Brinkmann, Die Haftung der Geschäftsleiter in der Krise nach dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG), ZIP 2020, 2361; Brinkmann, Der strategische Eigenantrag – Missbrauch oder kunstgerechte Handhabung des Insolvenzverfahrens?, ZIP 2014, 197; Brinkmann/Schmitz-Justen, D&ODeckungsschutz bei Verstoß gegen insolvenzrechtliche Zahlungsverbote, ZIP 2021, 24; Brockdorff/ Heintze/Rolle, „Change of Control“ im Planinsolvenzverfahren – verbesserte Chancen für Gesellschafter und Investoren durch das ESUG, BB 2014, 1859; Brünkmans, Geschäftsleiterpflichten & Geschäftsleiterhaftung nach dem StaRUG und SanInsFoG – Nachtrag zu ZInsO 2021 S. 1, ZInsO 2021, 125; de Bruyn/Ehmke, StaRUG & InsO: Sanierungswerkzeuge des Restrukturierungs- und Insolvenzverfahrens, NZG 2021, 661; Casper, Die Haftung für masseschmälernde Zahlungen nach § 64 Satz 1 GmbHG: Hat der BGH den Stein der Weisen gefunden?, ZIP 2016, 793; Cranshaw/Portisch, Paradigmen des Unternehmensstabilisierungs- und restrukturierungsgesetzes (StaRUG) nach dem Regierungsentwurf aus Gläubigersicht, ZInsO 2020, 2561 (Teil I); Cyrus/Köllner, Strafbarkeitsrisiken des (anwaltlichen) Sanierungsberaters, NZI 2016, 288; Dittmer, Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit von Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 2013; Döge, Sanieren oder Ausscheiden aus der GmbH, ZIP 2018, 1220; Eidenmüller, Strategische Insolvenz: Möglichkeiten, Grenzen, Rechtsvergleichung, ZIP 2014, 1197; Erbe, Das Eigenverwaltungsverfahren nach der Gesetzesreform, NZI 2021, 753; Fehrenbach, Die Beteiligung der Gesellschafter beim Eigenantrag der Gesellschaft auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, ZIP 2020, 2370; Fiedler, D&O-Versicherungsschutz und Organhaftung für Zahlungen, die nach Insolvenzreife geleistet werden, ZIP 2020, 2112; Fischer, Fortbestehensprognose und Sanierung, NZI 2016, 665; Fuhrmann/Heinen/Schilz, Die gesellschaftsrechtlichen Aspekte des StaRUG, NZG 2021, 684; Fuhrmann/Heinen/Schilz, Gesetzliche Beurteilungs- und Ermessensspielräume als „spezialgesetzliche Business Judgement Rule“, NZG 2020, 1368; Gehrlein, Neuregelung und Konzentration der Zahlungsverbote in § 15b InsO-E, DB 2020, 2393; Gehrlein, Sorgfaltsmaßstab der Organ- und Insolvenzverwalterhaftung – Anwendbarkeit der Business Judgement Rule, NZG 2020, 801; Geißler, Die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) in der Entscheidungsverantwortung des GmbH-Geschäftsführers, ZInsO 2013, 919; Gessner, Insolvenzanträge des GmbH-Geschäftsführers bei drohender Zahlungsunfähigkeit entgegen dem Gesellschafterwillen?, NZI 2018, 185; Graewe/Annweiler, Beratungs- und Überwachungspflichten des Kontrollorgans in der Unternehmenskrise, NZI 2020, 662; Habersack/ Foerster, Austauschgeschäfte der insolvenzreifen Gesellschaft, ZHR 178 (2014) 387; Hammes, Keine Eigenverwaltung ohne Berater?, NZI 2017, 233; Henkel, Die Voraussetzungen für die Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung, ZIP 2015, 562; Hofmann, Vertragsbeendigung nach §§ 49 ff. StaRUG-E – praktisches Sanierungstool oder untaugliches Ungetüm?, NZI 2020, 871; Hölzle, Der Insolvenzantrag als Sanierungsoption – auch gegen den Willen von Gesellschaftern?, ZIP 2013, 1846; Horstkotte, Was ist eigentlich ein „Geschäftsleiter“?, ZInsO 2019, 2329; Hüffer, Bewertungsprobleme in der Überschuldungsbilanz, in Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 1047; Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./ Thole, Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7.12.2011, ZInsO 2018, 2402; Jaffé, Die Eigenverwaltung im System des Restrukturierungsrechts, ZHR 175 (2011) 38; Jakobs/Kruth, § 15 InsO – neue Haftungsmaßstäbe bei Insolvenzreife, aber keine Entwarnung für Geschäftsleiter, DStR 2021, 2534; Jungk, Die Rechtsprechung des BGH zum Anwaltshaftungsrecht, NJW 2021, 3630; Jungmann, Die Ausrichtung der Pflichten von Gesellschaftsorganen and den Interessen der Residualberechtigten, ZRI 2021, 209; Kayser, Beraterhaftung für falsche oder unterlassene Auskünfte zur Insolvenzreife, ZIP 2014, 597; Kebekus, B., Die Gegenleistung in der Insolvenz, 2021; Kilger, Über die Möglichkeit der Geschäftsfortführung insolventer Unternehmen unter dem geltenden Recht und nach dem Diskussionsentwurf einer Insolvenzordnung, KTS 1989, 495; Klöhn/Franke, Grund- und Gegenwartsfragen des Sanierungsrechts – Ein Beitrag zu der europäischen Restrukturierungsrichtlinie und dem deutschen SanInsFoG, ZEuP 2022, 44; Köllner/Cyrus, Aktuelle strafrechtliche Fragen in Krise und Insolvenz, NZI 2015, 545; Korch, Restrukturierungshaftung der Geschäftsleiter nach dem StaRUG, GmbHR 2021, 793; Korch, Restrukturierungsgesellschaftsrecht – Zur Überformung des Gesellschaftsrechts durch den StaRUG-Regierungsentwurf, NZG 2020, 1299; Korch, Sanierungsverantwortung von Geschäftsleitern – Krisenpflichten im Lichte des Art. 19 der Restrukturierungsrichtlinie, ZGR 2019, 1050; Krieger, Wie viele Rechtsberater braucht ein Geschäftsleiter?, ZGR 2012, 496; Kruth, Die Qual der Vorauswahl – Feststellung der persönlichen und fachlichen Eignung durch das Insolvenzgericht, DStR 2017, 669; Kruth/Jakobs, Geschäftsführung von Krisenunternehmen – Haftungsrisiken vor und nach Insolvenzantragstellung auf Basis aktueller Rechtsprechung, DStR 2019, 999; Kuntz, Geschäftsleiterhaftung bei drohender Zahlungsunfähigkeit nach StaRUG, ZIP 2021, 597; Kuss, Rechtliche Aspekte der Sanierung für die Unternehmensleitung und den Sanierungsberater, WPg 2009, 326; Lang/Muschalle, Suhrkamp-Verlag – Rechtsmissbräuchlichkeit eines rechtmäßig eingeleiteten Insolvenzverfahrens?, NZI 2013, 953; Leinekugel/Skauradszun, Geschäftsführerhaftung bei eigenmächtig gestelltem Insolvenzantrag wegen bloß drohender Zahlungsunfähigkeit – Das Spannungsfeld zwischen Sanierungspflicht und Insolvenzantragspflicht, GmbHR 2011, 1121; Lüke, Eröffnung strategischer
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
§8
Insolvenzen und gesellschaftsrechtliche Konflikte, KTS 2019, 261; Madaus, Schutzschirme für streitende Gesellschafter? Die Lehren aus dem Suhrkamp-Verfahren für die Auslegung des neuen Insolvenzrechts, ZIP 2014, 500; Mulert/Steiner, Gesellschaftsrechtlich zulässige Regelungen im Insolvenz- und Restrukturierungsplan, NZG 2021, 673; Müller, H.-F., Geschäftsführerhaftung für Zahlungen auf debitorische Konten, NZG 2015, 1021; Müller, H.-F., Massekürzung und Massezufluss im Regime der Zahlungsverbote, DB 2015, 723; Müller, H.-F., Beraterhaftung für Insolvenzverschleppungsschäden, ZInsO 2013, 2181; Nickert/Wieczorek, Das Problem mit dem going concern bei Start-ups in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft (& Co. KG), DStR 2022, 791; Nimwegen/Rajan, Warum Unternehmen gerade jetzt einen Chief Restructuring Officer (CRO) brauchen, ZInsO 2020, 1178; Poertzgen, „Insolvenzverschleppung in Zeiten des COVInsAG“, StaRUG und SanInsFoG, ZInsO 2020, 2509; Poertzgen, Quo vadis § 64 GmbHG?, ZInsO 2016, 1182; Poertzgen, Der 3-Wochen-Zeitraum der Antragspflicht (§ 15 InsO), ZInsO 2008, 944; Saenger/Koch, Cash Pooling und Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, GmbHR 2010, 113; Sander, Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Zahlungsverbot, in Festschrift für Alfred Bergmann, 2018, S. 583; Schäfer, Zur Einbeziehung der Gesellschafter in ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren nach dem Regierungsentwurf eines „StaRUG“, ZIP 2020, 2164; Schäfer, Suhrkamp und die Folgen – Konsequenzen aus dem vorläufigen Abschluss des Suhrkamp-Insolvenzverfahrens, ZIP 2015, 1208; Schirrmacher/Schneider, Zum Schutzbereich der Insolvenzantragspflicht – oder: BGHZ 126, 181 konsequent zu Ende gedacht, ZIP 2018, 2463; Schmidt, K., Insolvenzverschleppungsrisiken: kein Fall für die D&O-Versicherung, ZHR 183 (2019) 2; Schmidt, K., Ersatzpflicht bei „verbotenen Zahlungen“ aus insolventen Gesellschaften: Ist der haftungsrechtliche Kampfhund zähmbar?, NZG 2015, 129; Schmidt, K., Debitorisches Bankkonto und Insolvenzverschleppungshaftung: Ist Geben seliger denn Nehmen?, ZIP 2008, 1401; Scholz, Die Krisenpflichten von Geschäftsleitern nach Inkrafttreten des StaRUG, ZIP 2021, 219; Seibt/Bulgrin, Entwurf zum Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG) – Kritische Analyse aus gesellschaftsrechtlicher Sicht, DB 2020, 2226; Skauradszun, Grundfragen zum StaRUG – Ziele, Rechtsnatur, Rechtfertigung, Schutzmechanismen“, KTS 2021, 1; Skauradszun/Spahlinger/Tresselt, Insolvenzpläne auf dem Prüfstand, DZWIR 2015, 539; Strohn, Haftungsbegrenzung im Dunstkreis der Insolvenzverschleppung de lege lata – de lege ferenda, in: Festschrift für Gerhard Pape, 2019, S. 385; Strohn, Beratung der Geschäftsleitung durch Spezialisten als Ausweg aus der Haftung?, ZHR 176 (2012) 137; Strohn, Organhaftung im Vorfeld der Insolvenz, NZG 2011, 1161; Thole, Die Geschäftsleiterhaftung im StaRUG und nach § 15b InsO n. F., BB 2021, 1347; Thole, Der Entwurf des Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetzes (StaRUG-RefE), ZIP 2020, 1985; Thole, Problemfälle des Anwaltsrechts im Insolvenzverfahren und bei der Restrukturierung, NZI 2017, 737; Thole, Der Richtlinienvorschlag zum präventiven Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 101; Thole, Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht im Insolvenzverfahren, ZIP 2013, 1937; Tresselt/Schlott, Krisen-Compliance und insolvenzrechtliche Fortführungsprognose, KSzW 2017, 192; Uhlenbruck/Leibner, Die Sanierung von Krisenunternehmen als Herausforderung für die Beraterpraxis, KTS 2004, 505, Vallender, Konzernsanierung durch Aufrechterhaltung der (faktischen) Leitungsmacht mittels Eigenverwaltung, NZI 2020, 761; Wandt/Herold, Der Generalbevollmächtigte von AG und GmbH, NZG 2020, 201; Weber, Analoge Anwendung der Haftungsnormen aus §§ 61, 61 InsO auf die Geschäftsleiter von eigenverwalteten Schuldnern, NZI 2018, 553; Wertenbruch, Gesellschafterbeschluss für Insolvenzantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit, DB 2013, 1592; Wiedemann, Auswirkungen des SanInsFoG auf Haftung und Versicherungsdeckung, ZInsO 2021, 288; Wilkens, Der präventive Restrukturierungsrahmen – Eine Bestandsaufnahme aus Sicht der Finanzgläubiger, WM 2021, 573; Windel, Zur persönlichen Haftung von Organträgern für Insolvenzverschleppungsschäden, KTS 1991, 477; Wittmann/Lücke, Das Unternehmen in der Krise: Haftungsrisiken im Zusammenhang mit Patronatserklärungen, DB 2022, 781; Wollring/Quitzau, Die Initiierung der präventiven Restrukturierung in der Praxis – Grundlagen, Besonderheiten und Stolpersteine, ZRI 2021, 785.
I.
Vorbemerkung
Die Geschäftsleiter sind verpflichtet, fortlaufend alle Entwicklungen zu überwachen, die 1 den Fortbestand der juristischen Person gefährden können, und erforderlichenfalls geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen.1) Sie müssen auf Krisen reagieren und versuchen, sie – wenn möglich – zu bewältigen.2) In der vorgerückten, potenziell existenzbedrohenden Krise sehen sie sich indes nicht selten mit bislang unbekannten Herausforderungen konfrontiert.3) Ob etwa eine außergerichtliche Sanierung der Unternehmung noch Erfolg ___________ 1)
2) 3)
BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 199 = NJW 1994, 2220, 2224. Klarstellend nun zur Krisenfrüherkennung § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 StaRUG. Dazu Thole, ZIP 2020, 1985, 1986; Korch, ZGR 2019, 1050, 1081. § 91 Abs. 2 AktG verpflichtet den Vorstand der AG insoweit zur Einrichtung eines eigenen Überwachungssystems. Vgl. Jungmann, ZRI 2021, 209, 214 – Krisenmanagementpflicht. S. auch Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 6.
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§8
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
verspricht oder zweckmäßigerweise auf ein gerichtliches Restrukturierungs- oder Insolvenzverfahren zurückzugreifen ist, hängt maßgeblich vom Stadium der Krise, der operativen Lage des Unternehmens, den Finanzierungsmöglichkeiten und der Bereitschaft der Gläubiger, ihrerseits Beiträge zur Sanierung zu leisten, ab. Mit der sich vertiefenden Krise steigen zugleich die Anforderungen an die Unternehmensfortführung. Gläubigerinteressen rücken in den Vordergrund,4) Haftungsrisiken nehmen zu.5) 2 In dieser Gemengelage ist es in der Regel zweckmäßig, spätestens im Eigenverwaltungsverfahren zudem notwendig (§ 270a Abs. 1 Nr. 4 InsO), externen insolvenz- und restrukturierungsrechtlichen Rat hinzuziehen, wenn die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse im Unternehmen nicht hinreichend vorhanden sind.6) In der Praxis wird dann üblicherweise ein (anwaltlicher) Sanierungsberater (siehe Rz. 5 ff.) mandatiert, in der fortgeschrittenen Krise (ggf. zusätzlich) ein Chief Restructuring Officer (CRO) (siehe Rz. 12 ff.) oder ein Generalhandlungsbevollmächtigter bestellt (siehe Rz. 17 ff.). Unabhängig von seiner konkreten Rolle kommt dem hinzugezogenen Fachmann eine besondere und entsprechend haftungsbewehrte Verantwortung bei der Unterstützung der Geschäftsleitung in der Unternehmensfortführung zu. 3 Welche Maßnahmen zu ergreifen, welcher Rat der Schuldnerin zu erteilen ist, folgt unterdessen aus der konkreten Situation des Unternehmens und variiert von Fall zu Fall.7) Gleichwohl zeigen sich im Verlauf jeder Unternehmenskrise einige wiederkehrende, im Folgenden näher beleuchtete Fragestellungen und Probleme (siehe Rz. 28 ff.). Dabei beschränkt sich dieser Beitrag auf die zentralen Anforderungen, denen sich die Geschäftsleitung des angeschlagenen Unternehmens und deren Berater bis hin zur Insolvenzantragstellung ausgesetzt sehen. II.
Einbeziehung externen Rats
4 Die Mandatierung eines anwaltlichen Sanierungsberaters unterliegt keinen Besonderheiten. Bei der Bestellung eines CRO oder eines Generalhandlungsbevollmächtigten gilt es dagegen, gesellschafts- und registerrechtliche Vorgaben zu beachten (siehe Rz. 14, 18 f.). Die Einflussnahmemöglichkeiten, der Pflichtenkreis und die Haftung des hinzugezogenen Fachmanns variieren je nach Art seiner Einbindung (siehe Rz. 8 ff.). 1.
Anwaltlicher Sanierungsberater
5 Sanierungsberater werden typischerweise in einem frühen Krisenstadium beauftragt. In größeren oder allgemein komplexeren Sanierungsfällen bedarf es nicht selten unterschiedlicher Expertise, sodass sowohl Unternehmens- und Steuerberater bzw. Wirtschaftsprüfer als auch Anwälte arbeitsteilig zusammenwirken.8) Während bei Ersteren betriebswirtschaftliche Fragestellungen im Vordergrund stehen, wird der anwaltliche Sanierungsberater vor
___________ 4) 5) 6)
7) 8)
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Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 105; Morgen-Janjuah/Tangermann, StaRUG, § 32 Rz. 32. Kruth/Jakobs, DStR 2019, 999. Theoretisch kann sich der Schuldner die erforderliche Expertise auch selbst verschaffen, ohne auf einen fachkundigen Berater oder Generalhandlungsbevollmächtigen zurückgreifen zu müssen, dazu Kübler/ Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 270a Rz. 23; Kern in: MünchKomm-InsO, § 270 Rz. 64 ff. IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 1, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. Vgl. Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 99.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
§8
allem rechtsberatend tätig. Seine konkreten Aufgaben und Pflichten ergeben sich aus dem zugrunde liegenden Beratungsmandat.9) 1.1
Vermeidung von Interessenkonflikten
Der anwaltliche Sanierungsberater kann für die Gesellschaft selbst, den Gesellschafterkreis, 6 Teile davon oder auch für andere Stakeholder tätig werden. Ihn treffen die herkömmlichen berufsrechtlichen Pflichten. Eine Mandatierung durch die Gesellschaft oder andere Beteiligte scheidet deshalb aus Konfliktgründen in der Regel aus, wenn der Anwalt selbst oder seine Sozietät10) bereits von einem anderen Beteiligten mandatiert worden ist oder einen anderen Beteiligten in derselben Rechtssache bereits vertreten oder beraten hat, und zwar unabhängig davon, ob das Mandat mittlerweile beendet oder niedergelegt ist (§ 43a Abs. 4 Satz 1 und 2 BRAO, § 356 StGB).11) Das Verbot setzt in beiden Fällen einen aktuell oder nach wie vor vorhandenen Interessenwiderstreit voraus.12) Zumindest die Sozietätserstreckung entfällt jedoch, wenn die betroffenen Mandanten der Tätigkeit des nicht vorbefassten Anwalts zustimmen und geeignete Vorkehrungen („Chinese Walls“) die Einhaltung der Verschwiegenheit sicherstellen (§ 43a Abs. 4 Satz 4 und 5 BRAO, § 3 Abs. 4 BORA).13) Ein zwischenzeitlicher Austritt oder Sozietätswechsel des vorbefassten Anwalts ändert dagegen nichts am fortwährenden Tätigkeitsverbot seiner (vormaligen) Sozietät (§ 43a Abs. 4 Satz 3 BRAO). Im Übrigen ist der Anwalt gemäß § 43a Abs. 2 BRAO auch allgemein zur Verschwiegen- 7 heit verpflichtet. Er muss den Mandanten jedoch darauf hinweisen, unter Umständen – insbesondere im Insolvenzfall vom dann dispositionsbefugten Insolvenzverwalter – von seiner Verschwiegenheitspflicht entbunden und damit zur Preisgabe von Informationen verpflichtet zu werden.14) 1.2
Aufgabenfeld
Wird der Sanierungsberater von der Gesellschaft selbst mandatiert, umfasst sein Auftrag 8 regelmäßig die Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens, der Ursachen seiner Krise, etwaiger außergerichtlicher und gerichtlicher Sanierungsaussichten sowie (fortlaufend) des (Nicht-)Vorliegens der Insolvenzeröffnungsgründe (§§ 17 – 19 InsO).15) Ziel ist es, die Geschäftsleitung bei der Identifikation und Umsetzung möglicher Sanierungs___________ 9) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 19, BGHZ 193, 297 = NZI 2012, 853, dazu EWiR 2012, 509 (Westermann) – zur Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich eines Prüfungsmandats; dazu Kayser, ZIP 2014, 597, 601; ebenso H.-F. Müller, ZInsO 2013, 2181, 2182. 10) Kritisch zur Sozietätserstreckung Kleine-Cosack, BRAO, § 3 Rz. 21 ff. Nicht mehr von der Sozietätserstreckung erfasst ist dagegen nunmehr die reine Bürogemeinschaft, vgl. § 3 Abs. 3 Satz 1 BORA, dazu Begr. RegE BRAO-Reform, BT-Drucks. 19/27670, S. 163. 11) Allgemein Thole, NZI 2017, 737, 738 f. Verstößt der Anwalt gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, ist der Anwaltsvertrag nichtig, und zwar unabhängig davon, ob der Anwalt zum Zeitpunkt der Übernahme der Mandate Kenntnis von dem Interessenkonflikt hatte oder nicht, vgl. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 241/14, Rz. 7 ff., NJW 2016, 2561, dazu EWiR 2016, 495 (Henssler); BGH, Urt. v. 10.1.2019 – IX ZR 89/18, Rz. 24, NJW 2019, 1147, dazu EWiR 2019, 467 (Deckenbrock); zur vorangegangenen Sicherheitentreuhand, die in der Regel kein Tätigkeitsverbot begründen dürfte: BGH, Urt. v. 17.9.2020 – III ZR 283/18, Rz. 14, BGHZ 227, 49 = NZG 2020, 1423. 12) Begr. RegE BRAO-Reform, BT-Drucks. 19/27670, S. 162. 13) BVerfG, Beschl. v. 3.7.2003 – BvR 238/01, BVerfGE 108, 150, 161; Begr. RegE BRAO-Reform, BT-Drucks. 19/27670, S. 164. Das gilt allerdings nicht für den vorbefassten Anwalt selbst. Ob die Mandanten sich mit seiner (widerstreitenden) Tätigkeit einverstanden erklären oder nicht, ist unerheblich, vgl. Henssler/Prütting-Henssler, BRAO, § 43a Rz. 202. 14) Vgl. Henssler/Prütting-Henssler, BRAO, § 43a Rz. 64; Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 105; ferner Uhlenbruck/Leibner, KTS 2004, 505, 520. 15) S. auch Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 109 ff.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
optionen zu unterstützen, ihre Erfolgsaussichten einzuordnen und auf darüberhinausgehenden Handlungsbedarf hinzuweisen. Dem vorgelagert ist häufig die Einholung oder eigenhändige Erstellung eines IDW S 6-Gutachtens zur Beurteilung der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens.16) Sanierungsfähig ist die Gesellschaft insoweit, wenn etwaige organisatorische, finanzielle oder rechtliche Sanierungsmaßnahmen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dazu führen werden, dass die Gesellschaft aus eigener Kraft wieder profitabel am Markt agieren kann, und bis dahin hinreichend durchfinanziert ist.17) 9 Daneben wird vom Sanierungsberater zunehmend eine Abgrenzung der unterschiedlichen Möglichkeiten, die ein StaRUG-Verfahren auf der einen und ein Schutzschirm- bzw. Insolvenzverfahren auf der anderen Seite bieten, erwartet (siehe Rz. 56 ff.). Ist die Gesellschaft bereits materiell insolvent, hat er die Antragsverpflichteten zur Antragstellung aufzufordern und über die haftungsrechtlichen Folgen eines nicht oder nicht rechtzeitig gestellten Insolvenzantrags zu belehren.18) Aufklärungs- und Erläuterungspflichten treffen ihn zudem hinsichtlich des mit Insolvenzreife eingreifenden, haftungsbewehrten Zahlungsverbots in § 15b InsO, möglicher Verstöße gegen Kapitalerhaltungsvorschriften, gesellschaftsrechtlicher Anzeige- und Einberufungspflichten sowie möglicher Anfechtungsrisiken.19) Soweit sich ein gesondertes Liquiditätsmanagement oder Monitoring-System oder der Übergang in die Notgeschäftsführung aufdrängen (siehe Rz. 106 ff.), ist er verpflichtet, ihre Einführung anzuregen,20) wenngleich die konkrete Umsetzung bei der Geschäftsleitung verbleibt. Zur geordneten Vorbereitung eines gerichtlichen Verfahrens kann der Sanierungsberater mit der Ausarbeitung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. der Anzeige eines Restrukturierungsvorhabens befasst werden. 1.3
Haftung
10 Anders als der CRO wird der anwaltliche Sanierungsberater nicht Organ der Gesellschaft. Damit haftet er grundsätzlich nur nach den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen für anwaltliche Falsch- oder Schlechtberatung nach den §§ 675, 611, 280 Abs. 1 BGB. Das ändert nichts daran, dass sich seine persönliche Haftung gleichermaßen auf sämtliche Schäden erstrecken kann, die nach Aufnahme der Beratungstätigkeit durch die pflichtwidrige Fortführung des Geschäftsbetriebs, insbesondere durch die Vornahme verbotener Zahlungen, entstehen.21) Nicht zu unterschätzen ist die mögliche Haftung gegenüber Dritten: ___________ 16) Vom Sanierungskonzept umfasst sein müssen auch die Krisenursachen und Krisenstadien, vgl. BGH, Urt. v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, NJW 1998, 1561, 1564; IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 61, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 17) Kreplin in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 9 Rz. 92; IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 18, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff.; grundlegend BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 36, 43, BGHZ 210, 249 = NZI 2016, 636, dazu EWiR 2016, 403 (Jacoby); BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, Rz. 14, BGHZ 165, 106 = NZI 2006, 604, dazu EWiR 2006, 525 (Westpfahl). 18) BGH, Urt. v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, NZI 2001, 81, 82 – für die Genossenschaft. Auch der mit der Ausarbeitung eines Sanierungskonzepts betraute Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer hat insoweit unverzüglich auf eine erkannte Insolvenzreife hinzuweisen, vgl. IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 14, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 19) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 115 f. 20) Eine Hinweispflicht besteht insoweit – auch über den konkreten Mandatsgegenstand hinaus –, wenn die Notwendigkeit der Notgeschäftsführung für den anwaltlichen Berater offenkundig, d. h. für einen durchschnittlichen Berater auf den ersten Blick ersichtlich ist und sich bei ordnungsgemäßer Bearbeitung seines Mandats aufdrängt, vgl. allgemein und mit m. w. N. BGH, Urt. v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, Rz. 12, 15, NJW 2018, 2476, dazu EWiR 2019, 17 (Röhm); Jungk, NJW 2021, 3630 Rz. 13. 21) Grundlegend BGH, Urt. v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, NZI 2001, 81; Eckhardt in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 9 Rz. 191.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
§8
Geschäftsleiter können in den Schutzbereich des Beratungsvertrags einbezogen werden22) und den Berater deshalb etwa bei eigener Inanspruchnahme in Regress nehmen; Gläubiger können sich auf eine mitunter in Anspruch genommene besondere Vertrauensstellung des Beraters, z. B. im Zuge stattgefundener Sanierungsverhandlungen, berufen (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB).23) Besonders haftungsträchtig sind die Fälle, in denen der Sanierungsberater die Insolvenz- 11 reife der Gesellschaft schuldhaft verkannt oder die Geschäftsleitung zumindest nicht (rechtzeitig) auf diese hingewiesen hat. Denn auch wenn es sich bei den Geschäftsleitern von (größeren) Kapitalgesellschaften um wirtschaftlich und zu einem gewissen Grad auch rechtlich erfahrene Entscheidungsträger handeln mag, muss der Sanierungsberater von ihrer Belehrungsbedürftigkeit, allen voran über die Insolvenzantragspflicht und die daran anknüpfenden rechtlichen Implikationen, ausgehen.24) Dass die Mandantschaft ausnahmsweise nicht belehrungsbedürftig gewesen sei, hat er im Haftungsprozess dementsprechend darzulegen und zu beweisen.25) Im Übrigen gilt die Vermutung beratungskonformen Verhaltens. Es ist mithin anzunehmen, dass die Geschäftsleiter bei ordnungsgemäßer Belehrung über ihre Pflichten beratungsgemäß gehandelt hätten,26) die Pflichtverletzung des Beraters also auch kausal für den gesamten oder zumindest einen Teil des entstandenen Schadens war. 2.
Chief Restructuring Officer
Das Feld der Chief Restructuring Officer ist überwiegend durch Interimsmanager und 12 Sanierungsexperten mit betriebswirtschaftlichem Hintergrund besetzt. 2.1
Berufsrechtliche Vorgaben beim anwaltlichen CRO
Auch Anwälte können jedoch als CRO vorübergehend in die Organstellung wechseln und 13 in dieser Funktion die Sanierung begleiten und maßgeblich verantworten.27) In diesem Fall sind die berufsrechtlichen Beschränkungen der §§ 43a, 45 BRAO, 3 BORA zu beachten (siehe dazu oben Rz. 6).28) Es kann sich deshalb für den außerhalb seines klassischen Anwaltsberufs tätig werdenden CRO ein Tätigkeitsverbot ergeben, wenn er in derselben Rechtssache i. R. seiner anwaltlichen Tätigkeit bereits im widerstreitenden Interesse einen anderen Mandanten als die Gesellschaft beraten oder vertreten hat, § 43a Abs. 6 BRAO (anwaltliche Vorbefassung).29) Umgekehrt darf er nach Vorbefassung als CRO auch keine anderweitigen im widerstreitenden Interesse stehenden Beratungsmandate mehr annehmen, § 45 Abs. 1 Nr. 3 BRAO. Das gilt nach der BRAO-Reform nunmehr unabhängig davon, ob seine Tätigkeit als CRO der Gesellschaft bereits beendet ist oder nicht (anwaltliche ___________ 22) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, BGHZ 193, 297 = NZI 2012, 853, dazu EWiR 2012, 509 (Westermann). 23) S. auch Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 128 ff. 24) BGH, Urt. v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, NZI 2001, 81; BGH, Urt. v. 20.3.2008 – IX ZR 238/06, Rz. 13, ZIP 2008, 1778, dazu EWiR 2009, 321 (Baumert); BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 37, BGHZ 193, 297 = NZI 2012, 853, dazu EWiR 2012, 509 (Westermann). 25) BGH, Urt. v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, NZI 2001, 81; BGH, Urt. v. 20.3.2008 – IX ZR 238/06, Rz. 13, ZIP 2008, 1778, dazu EWiR 2009, 321 (Baumert). 26) Insofern handelt es sich um einen Anwendungsfall des Anscheinsbeweises, den der Berater durch den Nachweis von Tatsachen entkräften kann, die für ein atypisches Mandantenverhalten sprechen, vgl. BGH, Urt. v. 30.9.1993 – IX ZR 73/93, BGHZ 123, 311 = NJW 1993, 3259; BGH, Urt. v. 29.3.1990 – IX ZR 24/88, NJW 1990, 2127, 2128 m. w. N.; Kleine-Cosack, BRAO, Vor §§ 51, 52 Rz. 92. 27) Vgl. Thole, NZI 2017, 737, 739. 28) Eingehend zudem Bea/Fischer, NZI 2019, 15, 16 ff. 29) Begr. RegE BRAO-Reform, BT-Drucks. 19/27670, S. 166.
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§8
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Nachbefassung).30) Beide Tätigkeitsverbote bestehen grundsätzlich auch dann, wenn nicht der Anwalt selbst, sondern ein anderes Mitglied seiner Sozietät die vormalige Beratung oder Vertretung übernommen oder als CRO tätig geworden ist (Sozietätserstreckung); zum Entfallen der Sozietätserstreckung siehe oben Rz. 6. 2.2
Aufgabenfeld und Bestellung
14 Der Chief Restructuring bzw. Insolvency Officer wird als zeitweise eingesetzter Manager selbst Teil der Geschäftsleitung und übernimmt die Verantwortung für die Umsetzung der beabsichtigten Restrukturierungs- und Sanierungsmaßnahmen.31) Er kann dem CEO zur Seite gestellt werden, ihn aber auch vorübergehend vollständig ersetzen.32) Seine Bestellung richtet sich nach dem einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Statut, in der AG mithin nach § 84 AktG, in der GmbH nach den §§ 6 Abs. 2, 35 ff. GmbHG. Sie ist zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§ 39 GmbHG, § 81 AktG).33) 15 Welche Rolle der CRO i. R. des Sanierungsvorhabens einnehmen soll, entscheidet das Bestellungsorgan. Angesichts der mit ihm verbundenen, auch öffentlich wahrnehmbaren Signalwirkung kommt er üblicherweise erst in einem fortgeschrittenen Krisenstadium, nachdem erste Sanierungsbemühungen bereits gescheitert sind, zum Einsatz – nicht selten auf ausdrückliche Aufforderung der involvierten Banken.34) Seine Aufgabe besteht typischerweise darin, eine drohende Insolvenz abzuwenden; gleichwohl kann er auch ein Schutzschirmoder Eigenverwaltungsverfahren federführend begleiten.35) Besondere gesetzliche Anforderungen an die Qualifikation des CRO bestehen grundsätzlich nicht. Lediglich, wenn im Eigenverwaltungsverfahren durch seine Einsetzung sichergestellt werden soll, dass die Schuldnerin ihre insolvenzrechtlichen Pflichten erfüllt (§ 270a Abs. 1 Nr. 4 InsO), muss er über die hierfür erforderliche Fachkenntnis verfügen.36) 2.3
Haftung
16 Den CRO treffen dieselben Pflichten und Haftungsrisiken wie die herkömmlichen Geschäftsleiter. Zur eigenen Haftungsvermeidung sollte der CRO, wenn nötig, auf fachkundigen, insolvenzrechtlichen Rat zurückgreifen, insbesondere, wenn er selbst eher betriebswirtschaftlich qualifiziert ist. Als Organwalter hat er – abseits seiner insolvenzrechtlichen Verpflichtungen – zudem für sämtliche anderen Defizite und Entwicklungen im Unternehmen, etwa im Bereich der Umweltverträglichkeit, etwaiger Brandschutzvorrichtungen, der Arbeitssicherheit im Allgemeinen und des Datenschutzes einzustehen.37) Er ist deshalb gut beraten, sich vor Übernahme des CRO-Mandats ein umfassendes Bild über die Haftungsrisiken zu verschaffen und sich an dieser Stelle durch den Abschluss einer entsprechenden D&OVersicherung abzusichern.38)
___________ 30) Anders nämlich noch § 45 Abs. 1 Nr. 4 BRAO a. F., s. dazu Begr. RegE BRAO-Reform, BT-Drucks. 19/ 27670, S. 166. 31) Graewe/Annweiler, NZI 2020, 662, 668; Nimwegen/Rajan, ZInsO 2020, 1178. 32) Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 38 Rz. 33 ff. 33) Mulert/Steiner, NZG 2021, 673, 680. 34) Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 38 Rz. 3, 20 – bei akut drohender Insolvenz. 35) Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 38 Rz. 8. 36) Vgl. Erbe, NZI 2021, 753, 756. 37) Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 38 Rz. 54. 38) Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 38 Rz. 53.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung 3.
§8
Generalhandlungsbevollmächtigter
In den letzten Jahren hat neben der Position des anwaltlichen Sanierungsberaters und des 17 CRO insbesondere die Funktion des Generalbevollmächtigten bzw. Generalhandlungsbevollmächtigten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Vor allem in größeren Verfahren wurde die auf Schuldnerseite erforderliche insolvenzrechtliche Expertise häufiger von Generalhandlungsbevollmächtigten bereitgestellt. 3.1
Aufgabenfeld und Bestellung
Die mediale Berichterstattung spricht oftmals vom „Generalbevollmächtigten“, obwohl es 18 sich tatsächlich um einen „Generalhandlungsbevollmächtigten“ handelt. Die Generalvollmacht geht inhaltlich über den Umfang einer Generalhandlungsvollmacht hinaus.39) Der Generalbevollmächtigte wird im Gegensatz zum Generalhandlungsbevollmächtigten zur Vornahme sämtlicher Rechtsgeschäfte für die Gesellschaft ermächtigt,40) während Letzterer nach § 54 HGB nur zur Vornahme der gewöhnlich mit dem Gewerbe einhergehenden Geschäfte und Rechtshandlungen befugt ist. Die Handlungsvollmacht kann auch durch eine juristische Person erteilt werden und wird im Restrukturierungskontext in der Regel auf die insolvenzrechtlichen Tätigkeitsbereiche beschränkt. Für die GmbH hat der BGH früh41) Bedenken gegen die Zulässigkeit einer Generalvoll- 19 macht geäußert; mitunter komme sie einer unzulässigen, pauschalen Übertragung organschaftlicher Befugnisse auf einen Nichtorganträger gleich. Zumindest für die AG hält die h. M. eine Generalvollmacht heute indessen für unproblematisch, jedenfalls solange sie vom Vorstand widerrufen werden kann.42) In der insolvenzrechtlichen Restrukturierung wird allerdings schon allein wegen der mit ihr einhergehenden Haftungsrisiken (siehe dazu Rz. 23 ff.) kaum auf die Generalvollmacht zurückgegriffen. Der Generalhandlungsbevollmächtigte wird zumeist entweder unmittelbar vor Einleitung 20 eines gerichtlichen Sanierungsverfahrens oder kurz nach Antragstellung vom Vertretungsorgan der sanierungsbedürftigen Gesellschaft bestellt. Durch die Einbeziehung externer insolvenzrechtlicher Expertise soll den Anforderungen des § 270a Abs. 1 Nr. 4 InsO Genüge getan werden. Zur Anordnung einer Eigenverwaltung muss die Schuldnerin schließlich mit Antragstellung darstellen, welche Vorkehrungen sie getroffen hat, um sicherzustellen, dass sie ihre insolvenzrechtlichen Pflichten im Laufe des Verfahrens erfüllen kann. Die hierzu erforderliche insolvenzrechtliche Kompetenz kann durch die Bestellung eines Insolvenzrechtsexperten als Generalhandlungsbevollmächtigten nachgewiesen werden.43) Die Aufgaben des Generalhandlungsbevollmächtigten richten sich nach seiner Mandats- 21 vereinbarung und den (ggf. zusätzlichen) Bestimmungen der erteilten Handlungsvollmacht. Sie hängen wesentlich vom Zeitpunkt seiner Bestellung ab. Vor Einleitung eines Eigenverwaltungs-/Schutzschirmverfahrens fallen insbesondere die Überprüfung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen und ggf. die Erstellung des Insolvenzantrags in seinen Aufgabenbereich. Daneben liegt es in dieser Phase regelmäßig am Generalhandlungsbevollmächtigten, Vorgespräche mit dem zuständigen Insolvenzgericht, potenziellen Mitgliedern ___________ 39) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 114. 40) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 114. 41) BGH, Urt. v. 12.12.1960 – II ZR 255/59, BGHZ 34, 27, 31 = NJW 1961, 506, 507; BGH, Urt. v. 18.10.1976 – II ZR 9/75, NJW 1977, 199, 200. 42) Spindler in: MünchKomm-AktG, § 78 Rz. 114 m. w. N.; Koch, AktG, § 78 Rz. 10; Habersack/Foerster in: Großkomm-AktG, § 78 Rz. 81. 43) Vallender, NZI 2020, 761, 764, spricht sich dagegen dafür aus, dass der Insolvenzrechtsexperte selbst Organträger werden müsse, die Erteilung einer Generalhandlungsvollmacht mithin nicht ausreiche.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
eines präsumtiven Gläubigerausschusses sowie anderen Stakeholdern (Arbeitnehmervertretern, Kunden, Lieferanten etc.) zu führen. Nach Einleitung des Insolvenzverfahrens liegt der Schwerpunkt seiner Tätigkeit in der Organisation einer etwaigen Betriebsfortführung nach insolvenzrechtlichen Kriterien und dem Aufsetzen eines möglichen M&A-Prozesses, in der Zusammenarbeit mit dem gerichtlich bestellten Sachwalter sowie in der Kommunikation mit dem Insolvenzgericht und einem eventuell eingesetzten Gläubigerausschuss. 22 Darüber hinaus hat der Generalhandlungsbevollmächtigte üblicherweise – gemeinsam mit der weiterhin im Amt befindlichen Geschäftsleitung – die Sanierungsmöglichkeiten des Unternehmens zu prüfen und ggf. umzusetzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl der Umfang der Handlungsvollmacht als auch die tatsächliche Tätigkeit des Generalhandlungsbevollmächtigten nicht die Grenze zur Generalvollmacht überschreiten. Andernfalls läuft er Gefahr, als dann faktischer Organwalter theoretisch über §§ 60, 61 InsO in Haftung genommen zu werden (näher dazu siehe Rz. 24 ff.). 3.2
Haftung
23 Welchem Haftungsregime der Generalhandlungsbevollmächtigte unterfällt, muss sich danach richten, auf welcher rechtlichen Grundlage er tätig wird. Zumeist ist das ein (anwaltlicher) Geschäftsbesorgungsvertrag nach § 675 BGB. Den Vertrag mit dem Bevollmächtigten schließt die Gesellschaft. Parallel kann auch ein weiterer Geschäftsbesorgungsvertrag mit seiner Sozietät abgeschlossen werden, sofern diese Beratungsleistungen erbringen soll, die nicht bereits Gegenstand des Mandats des Generalhandlungsbevollmächtigten sind. Generalhandlungsbevollmächtigter und Sozietät haften dann ausschließlich nach den entsprechenden bürgerlich-rechtlichen Vorschriften bei Verletzung des Geschäftsbesorgungsvertrags (siehe oben Rz. 10 f.). Anders als ggf. ein Generalbevollmächtigter wird der Generalhandlungsbevollmächtigte weder tatsächlich Geschäftsleiter noch verdrängt er diese faktisch in ihrer Organstellung. Damit unterliegt er auch nicht der weitergehenden Geschäftsleiterhaftung. 24 In einem Urteil vom 26.4.2018 hat der BGH unterdessen entschieden, dass ein Sanierungsgeschäftsführer als Mitglied des Vertretungsorgans im Eigenverwaltungsverfahren gegenüber außenstehenden Gläubigern gemäß §§ 60, 61 InsO analog wie ein Insolvenzverwalter haftet,44) und damit das bis dahin geltende Haftungsregime spürbar verschärft. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung zu der seither vermehrt aufgeworfenen Frage,45) ob die §§ 60, 61 InsO darüber hinaus auch auf Nichtorgane wie Generalbevollmächtigte und Generalhandlungsbevollmächtigte analog anzuwenden sind, verhalten wird. Sie dürfte die Gerichte in absehbarer Zeit beschäftigen.46) 25 Eine analoge Anwendung der §§ 60, 61 InsO setzt dabei voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke aufweist und das infrage kommende Haftungssubjekt in seiner Funktion mit der Stellung und Verantwortung eines Insolvenzverwalters so weit vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vergleichbare Interessenlage).47) Das kann nachgerade allenfalls für den Generalbevollmächtigten gelten. Schließlich übernimmt er in der Gesellschaft im Innen- wie Außenverhältnis wesentliche Entscheidungs- und ___________ 44) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, BGHZ 218, 290 = NZI 2018, 519, dazu EWiR 2018, 339 (Thole). 45) Thole, EWiR 2018, 339 (Urteilsanm.); Weber, NZI 2018, 553, 555; Horstkotte, ZInsO 2018, 2329; Bea/Fischer, NZI 2019, 15, 21. 46) Thole, EWiR 2018, 339, 340 (Urteilsanm.); Vallender, NZI 2020, 761, 764. 47) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 14, BGHZ 218, 290 = NZI 2018, 519, dazu EWiR 2018, 339 (Thole); BGH, Urt.- v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, Rz. 32, BGHZ 184, 101 = NZI 2010, 339; BGH, Urt. v. 14.12.2016 – VIII ZR 232/15, Rz. 33, BGHZ 213, 136 = NJW 2017, 547.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
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Leitungsbefugnisse und fungiert deshalb ohnehin bereits mehr oder weniger als (faktischer) Geschäftsleiter. Anders dagegen der Generalhandlungsbevollmächtigte: Seine Tätigkeiten sind üblicher- 26 weise klar definiert und eng umrissen. Beschränkt auf insolvenzrechtliche Themen wird er nur in einem von mehreren Aufgabenfelder der Geschäftsleitung tätig. Sein hervorgehobener Einfluss folgt aus seiner insolvenzrechtlichen Expertise. Hierauf darf und muss sich die Geschäftsleitung verlassen können, auch wenn sie durch die Rolle des Generalhandlungsbevollmächtigten letztlich nicht ihren Befugnissen beschränkt wird. Der Generalhandlungsbevollmächtigte ähnelt daher mehr einem mit eigenen Befugnissen ausgestatteten, aber eben dennoch hauptsächlich unterstützend tätig werdenden anwaltlichen Berater als einem Sanierungsgeschäftsführer oder gar Insolvenzverwalter, der in leitender Rolle für die Unternehmensführung verantwortlich zeichnet. Es dürfte deshalb bereits an einer vergleichbaren Interessenlage fehlen. Aber auch eine planwidrige Regelungslücke drängt sich keineswegs auf. Trotz Kenntnis 27 der jüngeren Rechtsprechung des BGH zum Sanierungsgeschäftsführer hat der Gesetzgeber i. R des SanInsFoG schließlich davon abgesehen, das Haftungsregime der §§ 60, 61 InsO auf Generalbevollmächtigte und Generalhandlungsbevollmächtigte zu erstrecken. Zumal die Geschäftsleiter bereits den außenstehenden Gläubigern haften, bedarf es zu ihrem Schutz nicht zwingend einer zusätzlich auf den Generalhandlungsbevollmächtigten erstreckten Außenhaftung. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser bei entsprechender Pflichtverletzung im Innenverhältnis verpflichtet sein kann, die Geschäftsleiter von ihrer Außenhaftung freizustellen.48) III.
Anforderungen an die Unternehmensfortführung
Der Eintritt der materiellen Insolvenz und die Inanspruchnahme eines gerichtlichen Ver- 28 fahrens, sei es im Wege eines Insolvenz- oder eines Restrukturierungsverfahrens nach dem StaRUG, stellen jeweils eine Zäsur in der Krise der Gesellschaft dar,49) die sich auf die Maßstäbe der Unternehmensfortführung auswirkt. Im Rahmen dieses Beitrags ist zwischen der Fortführung des noch nicht insolvenzreifen Unternehmens (siehe Rz. 31 ff.) und der Phase nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft (siehe Rz. 78 ff.) zu unterscheiden. Die Betriebsfortführung im (vorläufigen) Insolvenzverfahren bleibt außer Betracht. Im Zuge der Krise sehen sich die meisten Unternehmen einer Vielzahl von Krisenursachen 29 und Herausforderungen ausgesetzt. Je nach Krisenstadium50) ergeben sich dabei unterschiedlich strenge Anforderungen an die Unternehmensfortführung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Stadien der Krise verlaufen mitunter fließend. Vor Aufnahme ihrer Tätigkeit müssen sich der Sanierungsberater, der CRO oder Generalhandlungsbevollmächtigte daher zwingend darüber informieren, in welcher wirtschaftlichen und rechtlichen Lage, also in welchem Stadium der Krise die Gesellschaft sich befindet. Ein nur grober Überblick reicht insoweit nicht aus; gibt die finanzielle Situation der Gesellschaft auch nur entfernt Anhaltspunkte für eine mögliche materielle Insolvenz, sind die Insolvenzgründe im Detail zu prüfen.51) Mit Insolvenzreife stehen schließlich der unverzügliche Übergang in die sog. Not___________ 48) S. auch Weber, NZI 2018, 553, 555. 49) Für das Restrukturierungsverfahren so auch Jungmann, ZRI 2021, 209, 212. 50) Im Folgenden wird die Unterteilung des IDW S 6-Standards aufgegriffen, der zwischen der Stakeholderkrise, der Strategiekrise, der Produkt- und Absatzkrise, der Erfolgskrise, der Liquiditätskrise und schließlich der Insolvenzlage unterscheidet. S. dazu IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 31 f., 62, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 51) Vgl. auch Eckhardt in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 9 Rz. 191.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
geschäftsführung und die Beseitigung des Eröffnungsgrundes bzw. alternativ die Insolvenzantragstellung binnen drei Wochen bei Zahlungsunfähigkeit, sechs Wochen bei Überschuldung (§ 15a Abs. 1 Satz 2 InsO) im Vordergrund. 30 Maßstab der Unternehmensfortführung ist stets die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG).52) Ein allgemeiner vorinsolvenzlicher Shift of Duties zugunsten der Gesellschaftsgläubiger, wie er ursprünglich im Regierungsentwurf zum StaRUG vorgesehen war, hat sich nicht durchgesetzt.53) 1.
Vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
31 Bereits in der frühen Phase einer reinen Strategie- und Erfolgskrise ist es ratsam, ein Sanierungskonzept auszuarbeiten, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen und sich zugleich mit den Vor- und Nachteilen einer möglichen (Finanz-)Restrukturierung im Restrukturierungs- oder Schutzschirmverfahren auseinanderzusetzen. Verdichtet sich die Strategieund Erfolgskrise zur Liquiditätskrise, bedarf es weitreichenderer Einschnitte wie z. B. der Implementierung eines konsequenten Liquiditätsmanagements und der fortlaufenden Überwachung der Insolvenzeröffnungsgründe. 1.1
Entwicklung eines Sanierungskonzepts
32 Die Strategiekrise zeichnet sich durch eine einsetzende Rentabilitätsschwäche und den zunehmenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens aus.54) Da in der strategischen Krise oftmals noch operative Überschüsse erwirtschaftet werden können,55) ist der Handlungsdruck für die Geschäftsleitung vergleichsweise gering.56) Unbemerkt kann sie sich jedoch schnell zur Erfolgs- und Liquiditätskrise ausweiten und etwaige Wettbewerbsnachteile des Unternehmens auf längere Sicht manifestieren. Werden die Krisenanzeichen dagegen rechtzeitig erkannt, ihre Ursachen gefunden und entschieden angegangen, kann das Unternehmen häufig wieder in die Erfolgsspur zurückkehren. Entscheidend ist, dass nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen der Krise behoben werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Krise nicht nur vorübergehend, sondern nachhaltig überwunden wird.57) 33 Hierin liegt das Ziel eines Sanierungskonzepts, das als Leitfaden58) durch die weitere Restrukturierung führen soll. In der Sache geht es vor allem um betriebswirtschaftliche Fragestellungen, die die Positionierung des Unternehmens im Markt, verpasste Anpassungen an ein geändertes Marktumfeld und die Herausforderungen der Digitalisierung, Ineffizienzen in der Produktion, im Einkauf oder Betrieb, Fehlinvestments im In- und Ausland, überhastete Expansionen oder sonstige Altlasten betreffen. Der Grund der Krise kann allerdings auch ___________ 52) Kruth/Jakobs, DStR 2019, 999. Über § 116 Satz 1 AktG gilt das auch für Aufsichts- und Beiräte, vgl. Bea/Dressler, NZI 2021, 67, 68. 53) Jungmann, ZRI 2021, 209, 211; Morgen-Demisch/Schwencke, StaRUG, § 43 Rz. 44; Brünkmans, ZInsO 2021, 125, 126 f.; Koch, AktG, § 92 Rz. 22. 54) Sinz in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 1.5 ff. 55) Graewe/Annweiler, NZI 2020, 662, 664; Sinz in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 1.5; Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 3. Aufl. 2012, Rz. 1.1.2.2. 56) Thiele/Sopp in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 16 Rz. 5; Niemann in: Bork/ Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, Kap. 28 Rz. 13, 22; Brandes/Rabenau, ZIP 2021, 2374, 2376. 57) BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 40, BGHZ 210, 249 = NZI 2016, 636, dazu EWiR 2016, 403 (Jacoby); Sinz in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 1.3; IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 62, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 58) Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 5 Rz. 27.
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in Meinungsverschiedenheiten zwischen unterschiedlichen Stakeholdern des Unternehmens, etwa zwischen der Geschäftsleitung und (einzelnen) Gesellschaftern, liegen (Stakeholderkrise).59) Die Krise ist Anlass dazu, derartige strukturelle Defizite – wenn nötig unter Zuhilfenahme externer Berater – aufzudecken. 1.1.1 Inhalt des Sanierungskonzepts Auf der Grundlage einer systematischen Lagebeurteilung anhand aller wesentlichen Unter- 34 nehmensdaten, innerbetrieblichen Wirkungszusammenhängen und rechtlichen wie ökonomischen Einflussfaktoren soll das Sanierungskonzept geeignete und vor allem realisierbare Restrukturierungsmaßnahmen beschreiben.60) Welcher Kurs hierbei im Einzelfall einzuschlagen ist, ergibt sich aus dem Leitbild des sanierten Unternehmens, d. h. aus dem, was das Unternehmen mithilfe der Restrukturierung beabsichtigt zu werden.61) Neben der Analyse der Krisenursachen und der Darstellung des Leitbildes und der Sanierungsmaßnahmen hat das Konzept – unabhängig von der Größe des Unternehmens – zwingend eine integrierte Vermögens-, Finanz- und Ertragsplanung zu enthalten, in der die Auswirkungen der möglichen Sanierungsmaßnahmen bereits berücksichtigt werden.62) Die Art der zu ergreifenden Maßnahmen hängt maßgeblich davon ab, in welchem Stadium 35 der Krise sich das Unternehmen befindet.63) Im vorinsolvenzlichen Bereich, in dem es (noch) nicht um die schnellstmögliche Beseitigung der Insolvenzgründe geht, ist auf leistungswirtschaftlicher Ebene vordergründig ein nachhaltiges Kostensenkungs- und Effizienzsteigerungsprogramm vonnöten.64) Als Reaktion auf die Krise kommen u. a. Maßnahmen in der Produktion, im Einkauf, im Vertrieb und im Personalbereich in Betracht.65) Im finanzwirtschaftlichen Bereich sind Kapitalerhöhungen, oftmals mit vorangehender Kapitalherabsetzung,66) Prolongationen oder Finanzierungszusagen durch die Gesellschafter zu erwägen.67) Gegebenenfalls ist auf einen Überbrückungskredit zurückzugreifen, um das Unternehmen für die Dauer der Sanierung durchzufinanzieren. Von politischer Seite bestand in den vergangenen Jahren zudem zunehmend Bereitschaft, (auch umfangreiche) Krisendarlehen durch Landesbürgschaften o. Ä. abzusichern. Liegen die Krisenursachen überwiegend in einem Gesellschafterstreit begründet, kann es 36 sinnvoll sein, einen restrukturierungserfahrenen Anwalt oder Berater bei Gesprächen der konfligierenden Interessengruppen als Moderator einzubinden. Auch eine doppelnützige Treuhandlösung, bei der die zerstrittenen oder unkooperativen Gesellschafter ihre Anteile ___________ 59) Steffan in: Oppenländer/Trölitzsch, Praxishdb. GmbH-Geschäftsführung, § 37 Rz. 37. Gleichwohl ist die Stakeholderkrise, wenn sie überhaupt auftritt, nicht zwingend der Strategiekrise vorgelagert, sondern kann auch in anderen Stadien der Krise (zusätzlich) auftreten, vgl. Buth/Hermanns in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 8 Rz. 22. 60) IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 5, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 61) Eingehend Hermanns in: Beck’sches Hdb. Rechnungslegung, B 769 Rz. 29 ff. 62) BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 35, BGHZ 210, 249 = NZI 2016, 636, dazu EWiR 2016, 403 (Jacoby); OLG Celle, Urt. v. 8.10.2015 – 16 U 17/15, Rz. 23, ZInsO 2015, 2444; IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 11, 40 ff., Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 63) IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 68, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 64) IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 68, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 65) Bork, ZIP 2011, 101, 107; Drenckhan, Gläubigerschutz in der Krise der GmbH, S. 71. 66) Eingehend dazu Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 16; Schluck-Amend in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 5.45. 67) Bork, ZIP 2011, 101, 107; Drenckhan, Gläubigerschutz in der Krise der GmbH (2006), S. 71.
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an einen Treuhänder übertragen, ist in den letzten Jahren vermehrt zum Einsatz gekommen. Sie kann verhindern, dass sich ein Gesellschafterstreit negativ auf das operative Geschäft des Unternehmens auswirkt oder die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen behindert. 37 Die ins Konzept zu integrierende Vermögens-, Finanz- und Ertragsplanung baut unterdessen auf der – unter Berücksichtigung der dargestellten Sanierungsmaßnahmen prognostizierten – Gewinn- und Verlustrechnung und der Plan-Bilanz des Unternehmens auf.68) Sie sollte mindestens das laufende und das kommende Planjahr,69) vorzugsweise die nächsten 24 Monate (§ 18 Abs. 2 Satz 2 InsO) monatsgenau abbilden. Insbesondere die Liquiditätsplanung des Unternehmens sollte auch nach Erstellung des Sanierungskonzepts für die Dauer der Umsetzung revolvierend fortgeführt werden.70) Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das Unternehmen nicht in der Lage sein könnte, die innerhalb der nächsten 24 Monate bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen, könnte es nämlich zwischenzeitlich drohend zahlungsunfähig geworden sein (§ 18 Abs. 2 InsO). Das weist nicht nur frühzeitig auf neuen, zusätzlichen Finanzierungsbedarf hin, sondern eröffnet zugleich den Zugang zu den Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens (§ 29 Abs. 1 StaRUG) und zum Schutzschirmverfahren (§ 270d InsO). 1.1.2 Umsetzung durch die Geschäftsleitung 38 Zugleich schafft ein sachgerecht ausgearbeitetes Sanierungskonzept die notwendige Entlastung für die mit seiner Umsetzung befasste Geschäftsleitung. Nach der in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG statuierten Business Judgement Rule, die auch auf den GmbH-Geschäftsführer Anwendung findet,71) fehlt es nämlich von vorneherein an einer ggf. schadensersatzbegründenden Pflichtverletzung des Geschäftsleiters, wenn er bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Das Sanierungskonzept liefert insoweit die Informationsgrundlage, auf Basis derer die Geschäftsleiter i. R. des ihnen eingeräumten unternehmerischen Ermessens die dargestellten Sanierungsmaßnahmen ergreifen.72) Eingeschränkt wird ihr Handlungs- und Beurteilungsspielraum bekanntlich durch die Legalitätsplicht, die Orientierung am Wohl der Gesellschaft und etwaig bestehende ComplianceVorgaben.73) 39 Bei unmittelbar drohender Insolvenz führt die Legalitätspflicht dazu, dass die Maßnahmen zur Insolvenzvermeidung zur Pflichtaufgabe mit Entscheidungsspielraum werden.74) Die Geschäftsleiter sind schließlich verpflichtet, aktiv gegenzusteuern (§ 1 Abs. 1 Satz 2 ___________ 68) IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 78, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 69) IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 78, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 70) S. a. Bea/Dressler, NZI 2021, 67, 70. 71) Allg. M. seit BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = NJW 2003, 358, 359, dazu EWiR 2003, 225 (Schimmer); zuletzt OLG München, Beschl. v. 8.2.2018 – 23 U 2913/17, Rz. 19, GmbHR 2018, 518; OLG Brandenburg, Urt. v. 7.2.2018 – 7 U 132/16, Rz. 41, GmbHR 2018, 578; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 2.6.2017 – 25 U 107/13, Rz. 45, ZInsO 2018, 64; Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/ 5092, S. 12; Gehrlein, NZG 2020, 801, 802; Fuhrmann/Heinen/Schilz, NZG 2020, 1368. 72) Keinen eigenen Entscheidungsspielraum haben die Geschäftsleiter dagegen bei gesellschaftsrechtlichen Grundentscheidungen, die gleichermaßen Bestandteil eines Sanierungskonzepts sein können, zu ihrer Umsetzung dann aber der Zustimmung der Gesellschafter bedürfen. 73) Vgl. auch Bea/Dressler, NZI 2021, 67, 68. 74) Brinkmann, KTS 2021, 303, 312 f.; Koch, AktG, § 92 Rz. 20; im Ergebnis ähnlich Kuntz, ZIP 2021, 597, 607 f.; für analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG unterdessen Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2229; mit Blick auf den RegE zum StaRUG noch für eine entsprechende Anwendung der Business Judgement Rule Korch, NZG 2020, 1299, 1302.
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StaRUG).75) Ihr Ermessenspielraum beschränkt sich deshalb dann darauf, welche – nicht mehr aber, ob überhaupt – entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.76) Auch hier geht es aber nicht um Insolvenzvermeidung „um jeden Preis“. Maßgeblich sind die Interessen der Gesellschaft und ihrer Gesellschafter. Mit dem Eintritt der Insolvenzreife ist der Geschäftsleiter dagegen nicht mehr auf das Gesellschafts-, sondern auf das Interesse der Gläubiger verpflichtet, die nunmehr das Residualrisiko tragen; auf die Business Judgement Rule kann er sich jetzt erst recht nicht mehr berufen.77) Da es zum Pflichtenprogramm des Insolvenzverwalters gehört, auch „vorinsolvenzliche“ Sorgfaltspflichtverstöße der Geschäftsleitung zu verfolgen, ist die Krisengeschäftsführung eng an den Vorgaben zur sorgfaltsgemäßen Ermessensausübung auszurichten und auch deshalb auf ein sachgerechtes Sanierungskonzept zu stützen. Letzteres darf dabei für sich genommen weder inhaltsleer sein noch allein der formalen 40 Absicherung der Geschäftsleitung dienen.78) Der anwaltliche Berater hat hierauf hinzuweisen und ein bestehendes Konzept bei etwaigen Zweifeln auf seine Plausibilität hin zu kontrollieren. Dasselbe gilt für den CRO und den Generalhandlungsbevollmächtigten, der erst in einem späteren Krisenstadium hinzugezogen wird und ein bereits ausgearbeitetes Sanierungskonzept vorfindet. Besonders Acht zu geben ist darüber hinaus auf eine ausreichende Dokumentation der Entscheidungsfindung. Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Einhaltung des Sorgfaltsmaßstabs nach § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bzw. der Voraussetzungen der Business Judgement Rule trifft schließlich grundsätzlich den Geschäftsleiter.79) 1.2
Liquiditätsmanagement in der Liquiditätskrise
Erhöhte Anforderungen bestehen in der Liquiditätskrise, in der der Bestand des Unter- 41 nehmens wegen mangelnder liquider Mittel bereits akut gefährdet ist.80) Liquiditätsengpässe können zum einen zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen (§ 17 Abs. 2 InsO). Sie können zum anderen aber auch schon zeitlich vorgelagert die positive Fortführungsprognose entfallen lassen, wenn nämlich nicht mehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (> 50 %)81) davon ausgegangen werden kann, dass die Gesellschaft in den kommenden zwölf Monaten, d. h. mittelfristig ihre fälligen Verbindlichkeiten begleichen kann.82) In der vorgerückten Krise sind Unternehmen im Regelfall bereits rechnerisch überschuldet,83) sodass mit Entfall der positiven Fortführungsprognose auch die insolvenzrechtliche Überschuldung eintritt (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO). ___________ 75) Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2229 – Sanierungspflicht; Brinkmann, KTS 2021, 303, 313; Koch, AktG, § 92 Rz. 20; grundlegend zur Abgrenzung von der Business Judgement Rule Kuntz, ZIP 2021, 597, 607 ff. 76) Brinkmann, KTS 2021, 303, 313; Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2229; Korch, GmbHR 2021, 793, 795; Kuntz, ZIP 2021, 597, 609; allgemein auch Thole, BB 2021, 1347, 1351; Koch, AktG, § 92 Rz. 20. 77) Bork/Schäfer-Klöhn, GmbHG, § 43 Rz. 5, 36. 78) Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 93 AktG Rz. 92 m. w. N.; allgemein BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, Rz. 11, NZG 2008, 751; bestätigend BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, Rz. 30, BGHZ 197, 304 = NZG 2013, 1021, dazu EWiR 2013, 775 (Weipert). 79) S. nur BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, Rz. 22, 28 m. w. N., BGHZ 197, 304 = NZG 2013, 1021, dazu EWiR 2013, 775 (Weipert); BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280, 284 f. = NZG 2003, 81, 82 f. m. w. N., dazu EWiR 2003, 225 (Schimmer); OLG Brandenburg, Urt. v. 7.2.2018 – 7 U 132/16, GmbHR 2018, 578, 579; OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472, 2474; Bork/Schäfer-Klöhn, GmbHG, § 43 Rz. 71 f.; Hölters/Weber-Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rz. 25. 80) Baetge/Hater/Schmidt in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 2 Rz. 34. 81) Vgl. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 228 f. m. w. N.; Schröder in: HambKomm-InsO, § 19 Rz. 23. 82) Graf-Schlicker-Bremen, InsO, § 19 Rz. 17. 83) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 29; Blersch/Goetsch/HaasHumberg in: BK-InsO, § 19 Rz. 10.
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1.2.1 Fortlaufende Prüfung der Insolvenzeröffnungsgründe 42 Angesichts der möglichen oder unmittelbar drohenden Zahlungsunfähigkeit muss sich die Geschäftsleitung in der Liquiditätskrise nicht mehr nur monatsgenau, sondern fortlaufend, falls nötig täglich, der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft vergewissern.84) Sofern sich die Gesellschaft als rechnerisch überschuldet erweist, was im Einzelfall zu prüfen ist, gilt dies auch für die Beobachtung der mitunter schwerer zu erkennenden Überschuldung nach § 19 Abs. 1 Satz 2 InsO. Die insoweit maßgebende Fortführungsprognose ist nichts anderes als eine auf zwölf Monate erstreckte mittelfristige Zahlungsfähigkeitsprognose.85) 1.2.1.1
Zahlungsunfähigkeit (§ 17 Abs. 2 InsO)
43 Die Gesellschaft ist zahlungsunfähig, wenn sie im Prüfungszeitpunkt weniger als 90 % der fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten begleichen kann und auch nicht in der Lage ist, sich innerhalb von drei Wochen die zur Begleichung der fälligen Forderungen benötigten finanziellen Mittel zu beschaffen, um die Liquiditätslücke auf unter 10 % zurückzuführen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 InsO).86) Die Betrachtung kann in Ausnahmefällen auf mehr als drei Wochen erstreckt werden, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke jedenfalls demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt und ein weiteres Zuwarten den Gläubigern zuzumuten ist.87) Auch dann soll es sich nur um eine Zahlungsstockung, und nicht um Zahlungsunfähigkeit handeln.88) Umgekehrt ist die Gesellschaft allerdings auch bereits dann zahlungsunfähig, wenn die Liquiditätslücke zwar im Prüfungszeitpunkt noch weniger als 10 % beträgt, diese Schwelle aber in absehbarer Zeit erreichen wird.89) 44 In der Insolvenz nachrangige Verbindlichkeiten, insbesondere auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens, sind grundsätzlich genauso in die Liquiditätsbilanz einzustellen wie die übrigen fälligen Beträge (§ 19 Abs. 2 Satz 2 InsO).90) Anders verhält es sich, wenn die Forderung ausdrücklich oder konkludent gestundet91) oder ein qualifizierter Rangrücktritt mit vorinsolvenzlicher Durchsetzungssperre92) vereinbart wurde. Außer Acht bleiben Ansprüche von Gesellschaftern, deren Erfüllung einen Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften von § 30 Abs. 1 GmbHG, § 57 AktG oder – als „Zünglein an der Waage“ – ___________ 84) Allgemein auch Graewe/Annweiler, NZI 2020, 662, 664 f. 85) Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, § 19 Rz. 73; Blersch/Goetsch/Haas-Humberg in: BK-InsO, § 19 Rz. 18; Schröder in: HambKomm-InsO, § 19 Rz. 12, 20. 86) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rz. 32, BGHZ 217, 129, 139 = NJW 2018, 1089, dazu EWiR 2018, 179 (Schmidt); BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134, 138 ff. = NJW 2005, 3062, dazu EWiR 2005, 767 (Bruns); BGH, Urt. v. 21.6.2007 – IX ZR 231/04, Rz. 37, NZI 2007, 517. 87) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, LS 3, BGHZ 163, 134 = NJW 2005, 3062, dazu EWiR 2005, 767 (Bruns); LG Aachen, Urt. v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, ZRI 2021, 598, 601; Schröder in: HambKommInsO, § 17 Rz. 4. 88) IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 14 ff., Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff.; Braun-Salm-Hoogstraeten, InsO, § 17 Rz. 10 f. 89) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, LS 2, BGHZ 163, 134 = NJW 2005, 3062, dazu EWiR 2005, 767 (Bruns); Schröder in: HambKomm-InsO, § 17 Rz. 4. 90) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, Rz. 10 ff., BGHZ 195, 42 = NZG 2012, 1379, dazu EWiR 2013, 75 (Bork); Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 17 Rz. 24; Schröder in: HambKomm-InsO, § 17 Rz. 13; K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 17 Rz. 10. 91) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning/Gutheil, InsO, § 17 Rz. 35; Eilenberger in: MünchKomm-InsO, § 17 Rz. 7b. 92) BGH, Urt. v. 24.2.2022 – IX ZR 250/20, Rz. 32, ZRI 2022, 280 = NZI 2022, 425, dazu EWiR 2022, 341 (Undritz); ferner BGH, Beschl. v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, Rz. 18, BGHZ 173, 286 = NZI 2007, 579, dazu EWiR 2007, 665 (Schröder); Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 17 Rz. 24; K. Schmidt-K. Schmidt/ Herchen, InsO, § 17 Rz. 10; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 17 Rz. 147; Schröder in: HambKomm-InsO, § 17 Rz. 14.
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gegen das eng gefasste93) Auszahlungsverbot des § 15b Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 InsO begründen würde.94) Weil die Geschäftsleiter eine hierauf gerichtete Zahlung verweigern dürfen,95) ist der Anspruch nicht durchsetzbar bzw. fällig und deshalb i. R. des § 17 InsO nicht als Zahlungsverbindlichkeit zu berücksichtigen.96) Für die Geschäftsleitung und ihre Berater ergibt sich damit nach h. M. folgende Prüfung:97) 45 Zunächst ist die mögliche Liquiditätslücke am Prüfungsstichtag zu ermitteln. Beträgt diese mehr als 10 %, ist anschließend zu prüfen, ob die Liquiditätslücke innerhalb der nächsten drei Wochen auf unter 10 % zurückgeführt werden kann. Hierzu sind die verfügbaren Zahlungsmittel (Aktiva I) sowie die in den nächsten drei Wochen liquidierbaren Mittel (Aktiva II) den fälligen, ernsthaft eingeforderten (Passiva I) und den in den nächsten drei Wochen fällig und ernsthaft eingefordert werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II) in einer Liquiditätsbilanz gegenüberzustellen.98) Ein präzises Monitoring der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft erfordert mithin eine dynamische, fortlaufend anzupassende stichtagsbezogene Liquiditätsbilanz mitsamt Finanzplanung, mindestens für die jeweils nächsten drei Wochen.99) 1.2.1.2
Überschuldung (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO)
Neben der stichtagsbezogenen Liquiditätsbilanz bedarf es zwingend einer fortlaufenden, 46 dokumentierten Überwachung der Fortführungsprognose des Unternehmens.100) Sie entscheidet maßgeblich darüber, ob die – unter Heranziehung von Liquidationswerten – in der Regel bereits rechnerisch überschuldete Gesellschaft auch insolvenzrechtlich überschuldet ist (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO). Das ist der Fall, wenn die Schuldnerin entweder nicht mehr gewillt ist, das Unternehmen fortzuführen, oder – praktisch relevanter – voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die mittelfristig zur Fortführung des Unternehmens erforderliche Finanzkraft aufrechtzuerhalten,101) d. h. zumindest in den nächsten zwölf Monaten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zahlungsfähig zu sein (negative Fortführungsprognose).102) Gerade nach gescheiterten Refinanzierungsverhandlungen, die sich erst in einigen Monaten 47 auswirken, ohne kurzfristig die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens zu gefährden, wird der Handlungsdruck in den Führungsebenen oftmals intuitiv als noch nicht allzu akut empfunden. Mit Entfall der positiven Fortführungsprognose sind die Geschäftsleiter jedoch gleichermaßen zur unverzüglichen Insolvenzantragstellung verpflichtet. Ihnen bleiben maximal sechs Wochen, um die Überschuldung, etwa durch Abschluss einer ausreichenden Anschlussfinanzierung, zu beseitigen (§ 15a Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 InsO). ___________ 93) S. zum kleinen Anwendungsbereich des § 15b Abs. 5 InsO Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 99. 94) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 17 Rz. 93 f.; Dittmer, Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit von Gesellschaften mit beschränkter Haftung, S. 199 f.; K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 17 Rz. 10; differenzierend Schröder in: HambKomm-InsO, § 17 Rz. 13. 95) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, Rz. 18, BGHZ 195, 42 = NZG 2012, 1379, dazu EWiR 2013, 75 (Bork); Habersack in: Großkomm-GmbHG, § 30 Rz. 115; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 17 Rz. 94; Ekkenga in: MünchKomm-GmbHG, § 30 Rz. 275. 96) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 17 Rz. 94 m. w. N.; K. Schmidt-K. Schmid/Herchen, InsO, § 17 Rz. 10; differenzierend Schröder in: HambKomm-InsO, § 17 Rz. 13 f. 97) Braun-Salm-Hoogstraeten, InsO, § 17 Rz. 8 ff. 98) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rz. 33, BGHZ 217, 130 = NZI 2018, 204 m. Anm. Ampferl/Kilper, NZI 2018, 191, 193, dazu auch EWiR 2018, 179 (Schmidt). 99) Braun-Salm-Hoogstraeten, InsO, § 17 Rz. 12. 100) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 29. 101) BGH, Urt. v. 23.1.2018 – II ZR 246/15, Rz. 23 m. w. N., NZI 2018, 407, dazu EWiR 2018, 425 (Wackerbarth). 102) Nickert/Wieczorek, DStR 2022, 791, 792; d’Avoine in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 33 Rz. 30.
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48 Das Haftungsrisiko für Geschäftsleiter wie Berater, die die Überschuldung verkennen, ist beachtlich: Bedenkt man, dass das Zahlungsverbot nach § 15b InsO (siehe dazu Rz. 94 ff.), ab Eintritt der Überschuldung greift, droht die Inhaftungnahme für sämtliche masseschmälernden Zahlungen in einem Zeitraum von bis zu zwölf Monaten.103) Es ist deshalb besonders wichtig, fortlaufend zu prüfen und ausreichend zu dokumentieren, ob und warum objektiv davon ausgegangen werden darf, dass die Ertrags- und Finanzkraft des Unternehmens i. R. des erforderlichen schlüssigen und realisierbaren Unternehmenskonzepts ausreichen wird, um in den nächsten zwölf Monaten zahlungsfähig zu bleiben. Dabei liegt es im beiderseitigen Interesse, zu Beweiszwecken ausreichend zu dokumentieren, welche Informationen die Geschäftsleiter wann an den Berater übermittelt haben, umgekehrt wann und wie die Geschäftsleitung die angestellte Prognose plausibilisiert hat.104) In der Fortführungsprognose dürfen dabei, wenn sie plausibel sind und ihre Umsetzung überwiegend wahrscheinlich ist, auch Maßnahmen eines Sanierungs- oder Restrukturierungskonzepts berücksichtigt werden.105) Angesichts der üblichen Prognoseunsicherheiten kommt den Geschäftsleitern ein gewisser, rechtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum zugute.106) 1.2.2 Liquiditätsplanung 49 In größeren, gut geführten Unternehmen kann zur Überwachung und Prognose der kurzund mittelfristigen Zahlungsfähigkeit in der Regel auf entsprechende Finanzplanungsrechnungen zurückgegriffen werden, häufig über einen Zeitraum von zwölf Monaten oder mehr.107) Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Planungen in Not leidenden Unternehmen teilweise undurchsichtig oder überholt sind. Oftmals ist eine unzutreffende oder unzureichende Finanzplanung mit einer der Gründe dafür, dass die Gesellschaft sich überhaupt in einer Liquiditätskrise befindet.108) Die überwiegende Anzahl kleinerer und mittlerer Unternehmen verzichtet darüber hinaus von vorneherein – sei es aus Kostengründen oder mangels erforderlichen Knowhows – auf eine entsprechende Liquiditätsplanung; nicht selten zeigen sich die Beteiligten dann überrascht von der unerwarteten, angespannten Liquiditätslage.109) 50 In beiden Konstellationen liegt es am Sanierungsberater, CRO oder Generalhandlungsbevollmächtigten, unverzüglich auf die Missstände hinzuweisen und auf eine hinreichend genaue Erfassung der Liquiditätsentwicklung und der kurzfristig fälligen Verbindlichkeiten hinzuwirken. Sämtliche Zahlungsinformationen, Belege und übrigen erforderlichen Unterlagen sind zu diesem Zweck ordnungsgemäß zu erfassen und der Finanzbuchhaltung zugrunde zu legen. Sofern das Unternehmen selbst nicht über die hierfür erforderlichen Buchhaltungskapazitäten oder -fähigkeiten verfügt, ist die Liquiditätsplanung – wenn möglich – vom ___________ 103) Aufsehen erregte zuletzt etwa die vom LG Frankfurt/M. abgewiesene Klage auf Erstattung verbotener Zahlungen i. H. von über 19 Mio. € gegen die vormaligen Geschäftsführer und Aufsichtsräte des insolventen Neckermann-Konzerns (LG Frankfurt/M., Urt. v. 29.4.2021 – 2-21 O 182/17), dazu FD-InsR 2021, 438533. 104) Fehlt es bereits an einer rechnerischen Überschuldung der Gesellschaft, ist sicherzustellen, dass sich dieses Ergebnis hinreichend aus ordnungsgemäß geführten Büchern ergibt. Denn ist der Nachweis der rechnerischen Überschuldung dem beweisbelasteten Insolvenzverwalter wegen nicht ordnungsgemäßer Buchführung nicht möglich, gilt er nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung als erbracht, vgl. Theiselmann-Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 112. 105) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 197; Fischer, NZI 2016, 665, 668 ff.; Schröder in: HambKomm-InsO, § 19 Rz. 25. 106) BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 199 f. = NJW 1994, 2220, 2224; Fischer, NZI 2016, 665, 667 f.; Schröder in: HambKomm-InsO, § 19 Rz. 24. 107) Eilenberger in: MünchKomm-InsO, § 17 Rz. 10. 108) Sinz in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rz. 1.36 f. m. w. N. 109) Eilenberger in: MünchKomm-InsO, § 17 Rz. 10.
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§8
Berater selbst zu übernehmen oder an geeignete Dritte, etwa Wirtschaftsprüfungsgesellschaften oder Steuerberater, auszulagern. 1.2.3 Liquiditätsgenerierende und -sichernde Maßnahmen Neben der Überwachung der Liquiditätslage gilt es, Liquiditätsreserven zu heben und 51 zahlungsmittelgenerierende bzw. -sichernde Maßnahmen zu ergreifen (Liquiditätsmanagement).110) In Betracht kommen etwa x
das Factoring noch verbliebener Forderungen,
x
die Reduzierung von Forderungslaufzeiten,
x
Sale-and-Lease-back-Geschäfte,
x
Bareinlagen der Gesellschafter,
x
Stundungsvereinbarungen oder
x
die Ausweitung von (Lieferanten-)Krediten.111)
Im Konzernverbund kann Liquidität zudem aus einem von der Mutter- oder einer Schwester- 52 gesellschaft gehaltenen Cashpool gezogen werden, sofern die Gesellschaft hierauf zugreifen kann.112) Anlagevermögen, vor allem Immobilien können, wenn noch nicht geschehen, als Sicherheit für etwaige (Überbrückungs-)Kredite dienen und dadurch auch kurzfristig für Liquidität sorgen.113) Eine vorschnelle Veräußerung des Tafelsilbers des Unternehmens sollte dagegen möglichst vermieden und nur – und auch dann nur teilweise – in Betracht gezogen werden, wenn keine anderen Finanzierungsmöglichkeiten bestehen und die Zahlungsunfähigkeit deshalb unmittelbar droht oder bereits eingetreten ist. Parallel sollte das Gespräch mit den Gesellschaftern und zentralen Gläubigern gesucht 53 werden. Gerade die Gesellschafter oder ungesicherte Gläubiger, für die eine Insolvenz mit erheblichen wirtschaftlichen Einbußen einherginge, sind bei erfolgversprechendem Sanierungskonzept nicht selten bereit, einen qualifizierten Rangrücktritt zu erklären, mit dem sowohl eine Überschuldung i. S. des § 19 InsO vermieden114) als auch die akute Liquiditätslage entspannt werden kann. Aus der Vereinbarung muss hierzu jedoch hinreichend deutlich hervorgehen, dass die erfassten Ansprüche nicht durchsetzbar sein sollen, wenn die Gesellschaft zum Zeitpunkt des Leistungsverlangens zahlungsunfähig zu werden droht.115) Sofern ein Gesellschafter eine Patronatserklärung in Aussicht stellt, ist darauf zu achten, 54 dass sie eine Liquiditätsausstattungspflicht gegenüber der Schuldnerin selbst begründet, dieser auch tatsächlich nachgekommen wird und etwaige Rückforderungsansprüche im Rang
___________ 110) Bea/Dressler, NZI 2021, 67, 70. 111) S. auch Buth/Hermanns in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 12 Rz. 1. 112) K. Schmidt-K. Schmid/Herchen, InsO, § 17 Rz. 14; Braun-Salm-Hoogstraeten, InsO, § 17 Rz. 31; Saenger/Koch, GmbHR 2010, 113 ff. 113) S. auch K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 17 Rz. 14. 114) Buth/Hermanns in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 35; K. SchmidtK. Schmidt/Herchen, InsO, § 17 Rz. 10, § 19 Rz. 35. 115) BGH, Urt. v. 24.2.2022 – IX ZR 250/20, Rz. 31 f., ZRI 2022, 280 = NZI 2022, 425, dazu EWiR 2022, 341 (Undritz); BGH, Urt. v. 6.12.2018 – IX ZR 143/17, Rz. 36, BGHZ 220, 280 = NZI 2019, 509, dazu EWiR 2019, 307 (Lau); BGH, Urt. v. 12.12.2019 – IX ZR 77/19, Rz. 25, NZI 2020, 269, dazu EWiR 2020, 577 (Bernau).
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§8
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
zurücktreten (sog. harte Patronatserklärung)116).117) Die bloße Erklärung gegenüber den Gläubigern der Schuldnerin, für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft aufzukommen, stellt keine Liquidität bereit und beseitigt die Zahlungsunfähigkeit nicht.118) 55 Abgesehen davon können die GmbH-Gesellschafter gesellschaftsvertraglich (§ 26 GmbHG), Aktionäre auf schuldrechtlicher Ebene119) (beschränkt) zum Nachschießen von Kapital verpflichtet sein.120) In der GmbH wird die Nachschusspflicht durch einen mit einfacher Mehrheit gefassten Einforderungsbeschluss der Gesellschafterversammlung ausgelöst.121) In der AG ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer schuldrechtlich vereinbarten Nachschusspflicht vorliegen und ob und inwieweit der verpflichtete Aktionär zu Nachschüssen bereit und in der Lage ist. Sinnvolle und mehrheitlich angestrebte Sanierungsmaßnahmen dürfen die Gesellschafter aufgrund ihrer Treupflicht nicht aus eigennützigen Gründen verhindern („Girmes“).122) Bei einer erforderlichen Kapitalherabsetzung auf Null gilt dies – jedenfalls außerhalb der AG –123) auch dann, wenn der nicht zahlungsbereite Gesellschafter im Zuge der Sanierung aus der Gesellschaft ausscheidet („Sanieren oder Ausscheiden“).124) 1.3
Auseinandersetzung mit Verfahrensoptionen
56 Je weiter die Unternehmenskrise fortschreitet, desto wichtiger wird die Auseinandersetzung mit möglichen gerichtlichen Sanierungsstrategien in einem Restrukturierungs- oder Schutzschirmverfahren.125) Hat sich die Strategiekrise bereits zur Produkt- und Absatzund letztlich zur von Verlusten geprägten Erfolgskrise verdichtet, finanziert sich das Unternehmen nurmehr aus der Substanz. Spätestens wenn krisenbedingt die Hälfte des Grundbzw. Stammkapitals aufgezehrt ist, hat die Geschäftsleitung die Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung einzuberufen und ihr den Verlust anzuzeigen (§ 92 AktG, § 49 Abs. 3 GmbHG).126) Bei unverändert schlechter wirtschaftlicher Entwicklung und ohne zusätzliche Finanzierung droht meistens bald die Zahlungsunfähigkeit i. S. des § 18 Abs. 2 InsO. ___________ 116) Zur Abgrenzung von der sog. weichen Patronatserklärung, die lediglich eine unverbindliche Absichtserklärung des Patrons darstellt und deshalb keinen durchsetzbaren Anspruch der Schuldnerin begründet, Wittmann/Lücke, DB 2022, 781, 782. Auch eine weiche Patronatserklärung kann indessen i. R. der Fortführungsprognose berücksichtigt werden, weil es hierzu nicht zwingend einer rechtlich verbindlichen Finanzierungszusage bedarf, s. BGH, Urt. v. 13.7.2021 – II ZR 84/20, Rz. 78, BGHZ 230, 255 = ZRI 2021, 712, dazu EWiR 2021, 549 (Prütting). 117) BGH, Beschl. v. 19.9.2013 – IX ZR 232/12, Rz. 7, ZInsO 2013, 2055; BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, Rz. 21, NZI 2011, 536, dazu EWIR 2011, 575 (Hirte); KG Berlin, Urt. v. 28.4.2022 – 2 U 39/18, Rz. 30, ZRI 2022, 461 = NZI 2022, 573; Schröder in: HambKomm-InsO, § 19 Rz. 22; eingehend Uhlenbruck-Mock, InsO, § 17 Rz. 111 ff. 118) K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 17 Rz. 14. 119) In der Satzung der AG kann hingegen von vorneherein keine Nachschusspflicht der Aktionäre verankert werden, §§ 54, 55, 23 Abs. 5 AktG. 120) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 64; Döge, ZIP 2018, 1220, 1227. 121) Leuschner in: Großkomm-GmbHG, § 26 Rz. 39, 42. 122) BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136, 152 = NJW 1995, 1739, 1743. 123) Jungmann in: Münch-Hdb. GesR, § 53 Rz. 205; Die Übertragbarkeit der „Sanieren oder Ausscheiden“Rspr. auf die AG ist gleichwohl umstritten, bejahend etwa Brand, KTS 2011, 481, 503; a. A. Baums, Unternehmensfinanzierung, § 60 Rz. 25 ff. 124) BGH, Urt. v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, BGHZ 183, 1 = NZG 2009, 1347, dazu EWiR 2009, 739 (Armbrüster); BGH, Urt. v. 25.1.2011 – II ZR 122/09, NZG 2011, 510, dazu EWiR 2011, 417 (Binkowski); BGH, Beschl. v. 9.6.2015 – II ZR 227/14, ZIP 2015, 1882. Eingehend Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 42 ff. 125) Vgl. auch IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Rz. 70, Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 126) Die Verletzung der Anzeigepflicht ist zudem strafbewehrt in § 84 GmbHG, § 401 Abs. 1 AktG. Da es sich hierbei um Schutzgesetze i. S. des § 823 Abs. 2 BGB handelt, kann sich die Geschäftsleitung zugleich gegenüber Gesellschaft und Gesellschaftern schadensersatzpflichtig machen, vgl. Lutter/ Hommelhoff-Kleindiek, GmbHG, § 84 Rz. 2; Wittig in: MünchKomm-AktG, § 401 Rz. 7.
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Ein zuvor ausgearbeitetes Sanierungskonzept, das der Gesellschafterversammlung bzw. 57 dem Aufsichtsrat vorzulegen ist,127) kann Aufschluss geben über Art und Stadium der Krise und damit die Wahl des richtigen Sanierungsinstruments erleichtern. Resultiert die wirtschaftliche Schieflage des Unternehmens aus Problemen auf der Finanzierungsseite, kann dem vor allem mit der Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens nach dem StaRUG begegnet werden. Ziel des Verfahrens ist in der Regel ein anteiliger Forderungsverzicht der Gläubiger und dadurch eine Entlastung des Unternehmens beim Schuldendienst.128) Mithilfe der finanziellen Restrukturierung sollen die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens sichergestellt und das Eigenkapital gestärkt werden.129) Liegen die Gründe der Krise dagegen (zusätzlich) auf operativer, leistungswirtschaftlicher 58 Ebene, sind neben der mitunter bereits angestoßenen betriebswirtschaftlichen Sanierung die Chancen und Risiken einer Restrukturierung im Wege eines Schutzschirmverfahrens in Betracht zu ziehen. Im Fokus der operativen Restrukturierung stehen deshalb Maßnahmen zur Kostensenkung und Umsatzsteigerung,130) die im Schutzschirmverfahren durch weitere finanzwirtschaftliche Maßnahmen begleitet werden können. Da sowohl der Zugang zum Restrukturierungsrahmen (§ 29 Abs. 1 StaRUG) als auch das 59 Schutzschirmverfahren an das Vorliegen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 Abs. 2 InsO) anknüpfen, hat die Schuldnerin theoretisch die Wahl, für welches Verfahren sie sich entscheidet.131) In der Praxis scheitert ein frühzeitiger Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit erfahrungsgemäß jedoch häufig an der erforderlichen Zustimmung der Gesellschafter (siehe unten Rz. 74), die mit tiefergreifenden Einschnitten in ihre Gesellschafterrechte als im Restrukturierungsverfahren rechnen müssen.132) Ist die Gesellschaft bereits überschuldet i. S. des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO (siehe dazu 60 Rz. 46 ff.), bleibt ihr dagegen – neben dem klassischen Insolvenzverfahren (ggf. in Eigenverwaltung)133) – ohnehin nur noch der Weg ins Schutzschirmverfahren (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO).134) Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile im Vergleich zu einer außergerichtlichen Sanierung wie auch zueinander, die im Folgenden nur auszugsweise näher in den Blick genommen werden können. Vorteile des einen sind zumeist Nachteile des anderen Verfahrens. 1.3.1 Restrukturierungsverfahren Anders als ein Schutzschirmverfahren kann das StaRUG-Verfahren ohne negative Publi- 61 zität durchlaufen werden. Es ist nicht öffentlich, § 84 Abs. 1 Satz 1 StaRUG, es sei denn, ___________ 127) Kruth/Jakobs, DStR 2019, 999; eingehend zur Letztentscheidungsbefugnis der Gesellschafterversammlung Bork, ZIP 2011, 101, 106 ff. 128) Kraus/Simon in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 5 Rz. 13. 129) Vgl. Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 5. 130) Arnold/Spahlinger/Maske-Reiche in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 1, Kap. 1 Rz. 1; Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 5. 131) de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 662; Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 79; Morgen-Hirschberger/ Siepmann, StaRUG, § 29 Rz. 12. 132) Flöther-Hoffmann/Braun, StaRUG, § 29 Rz. 4. 133) Wilkens, WM 2021, 573, 575. 134) Schließlich muss das Gericht die Restrukturierungssache auf die Anzeige der Überschuldung hin grundsätzlich aufheben (§§ 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 3 StaRUG), womit der Schuldnerin im Umkehrschluss bei Vorliegen eines zwingenden Insolvenzgrundes von vorneherein der Zugang zum Restrukturierungsrahmen verwehrt sein muss, vgl. Flöther-Hoffmann/Braun, StaRUG, § 29 Rz. 2; ferner Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 137; grundlegend Thole, ZIP 2017, 101, 104; ferner Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 79.
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die Schuldnerin beantragt ausdrücklich öffentliche Bekanntmachungen.135) Da vor allem die Rechte der Arbeitnehmer Eingriffen durch den Restrukturierungsplan entzogen sind (§ 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG) und die Ansprüche und Rechte der Kreditgeber, Gesellschafter und übrigen Vertragspartner der Gesellschaft (§ 2 StaRUG) weniger im medialen Interesse stehen, dürfte die eingeschränkte Parteiöffentlichkeit in den meisten Fällen auch gewahrt werden können. 62 Gerade in größeren und grenzüberschreitenden Restrukturierungsverfahren hat ein öffentliches Verfahren aber auch Vorteile. So können in öffentlichen Restrukturierungssachen etwa auf die Zustellung einer Stabilisierungsanordnung an die (mitunter vielzähligen) Gläubiger verzichtet und dadurch Kosten und Zeit gespart werden (§ 51 Abs. 4 StaRUG).136) Vor allem aber erfährt nur das öffentliche Restrukturierungsverfahren EU-weite Anerkennung (Art. 2 Nr. 4 i. V. m. Anhang A EuInsVO).137) In börsennotierten Gesellschaften dürfte die Öffentlichkeit zudem faktisch schon dadurch hergestellt werden, dass die erfolgte Anzeige des Restrukturierungsvorhabens in aller Regel eine ad-hoc mitzuteilende Insiderinformation darstellt (Art. 17 Abs. 1, 7 Abs. 1 MMVO)138).139) Der Vorteil des Restrukturierungsverfahrens beschränkt sich dann darauf, nicht mit einer klassischen, stigmabehafteten Insolvenz konnotiert zu werden. 63 Bislang sind nur wenige StaRUG-Fälle bekannt geworden. Dem Vernehmen nach dürfte auch die Dunkelziffer still abgelaufener Verfahren nicht allzu hoch sein. Gerichte und Berater können deshalb mit Blick auf das Restrukturierungsverfahren bisher – wenn überhaupt – nur auf eingeschränkte Erfahrungswerte zurückgreifen. Die verhaltene Nachfrage nach dem StaRUG-Verfahren dürfte auch auf seine vorweggreifende, disziplinierende Wirkung zurückzuführen sein: Schließlich kann oftmals bereits die in Aussicht gestellte, realistische Möglichkeit eines Restrukturierungsverfahrens samt Cram-down opponierende Gläubiger zum Einlenken bewegen140) und dadurch der außergerichtlichen Sanierung zum Erfolg verhelfen.141) Auch deshalb kann eine alternative Sanierung im Restrukturierungs- oder Schutzschirmverfahren in stockenden außergerichtlichen Verhandlungen von der Geschäftsleitung oder ihrem Sanierungsberater durchaus offen adressiert werden, zumal das StaRUG auch bloß teilkollektive Maßnahmen, d. h. die Einbeziehung nur einzelner Gläubiger ermöglicht (§§ 4, 8 StaRUG).142) 64 Abgesichert werden können die Verhandlungen und das Planabstimmungsverfahren mit einer gerichtlichen Stabilisierungsanordnung nach § 49 StaRUG. Für einen Zeitraum von bis zu drei, mit Folgeanordnungen maximal acht Monaten (§ 53 Abs. 1 und 3 StaRUG), kann die Schuldnerin eine gerichtlich anzuordnende Vollstreckungs- und Verwertungssperre gegen einzelne, mehrere oder alle Gläubiger beantragen, die es ihr ermöglicht, das Betriebs___________ 135) Morgen-Abel/Herbst, StaRUG, § 84 Rz. 2 f. 136) Morgen-Abel/Herbst, StaRUG, § 84 Rz. 44. 137) Cranshaw/Portisch, ZInsO 2020, 2561, 2567; Morgen-Abel/Herbst, StaRUG, § 84 Rz. 6; FlötherNaumann, StaRUG, § 84 Rz. 2. 138) Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission (Marktmissbrauchsverordnung – MMVO), ABl. (EU) L 173/1 v. 12.6.2014. 139) S. auch Morgen-Abel/Herbst, StaRUG, § 84 Rz. 5. 140) Vgl. auch Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 79 f. 141) Das gleiche gilt für ein mögliches Schutzschirmverfahren, wenngleich die disziplinierende Wirkung maßgeblich davon abhängt, für wie realistisch die Gläubiger im Einzelfall den in Aussicht gestellten Gang ins Verfahren erachten. 142) Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 79.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
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vermögen vorläufig vor dem Zugriff der Gläubiger zu schützen. Das Gericht kann die Vollstreckungs- und Verwertungssperre zudem auf gruppeninterne Drittsicherheiten erstrecken (§ 49 Abs. 3 StaRUG). Darlehensverträge und anderweitige Kreditzusagen können dagegen auch bei bestehender Stabilisierungsanordnung wegen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse der Schuldnerin oder der Werthaltigkeit der gestellten Sicherheiten weiterhin gekündigt werden (§ 55 Abs. 3 StaRUG).143) Unterdessen können die erforderlichen Sanierungsbeiträge, die u. a. einen anteiligen Forderungsverzicht der Gläubiger, die Aufnahme weitgehend anfechtungsfester neuer Finanzierungen (§§ 89 ff. StaRUG) und Einschnitte in die Gesellschafterrechte umfassen können, im Restrukturierungsplan festgelegt und zur Abstimmung gestellt werden. Rege umstritten ist, ob die Anzeige des Restrukturierungsvorhabens der vorherigen Zu- 65 stimmung der Gesellschafter bedarf. Im StaRUG selbst ist ein Zustimmungserfordernis nicht vorgesehen.144) Einige Stimmen in der Literatur halten eine Zustimmung indes für erforderlich, da das Restrukturierungsverfahren ähnlich wie ein Schutzschirmverfahren mit Eingriffen in die Mitgliedschaft einhergehen könne,145) seine Einleitung jedenfalls eine außergewöhnliche Maßnahme146) bzw. eine Grundlagen- oder Strukturentscheidung147) darstelle oder das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Anteilseigentum einen entsprechenden Verfahrenseingangsschutz erfordere148). Andere halten eine Zustimmung zumindest dann für verzichtbar, wenn das Plankonzept keine Eingriffe in die Stellung der Gesellschafter vorsieht.149) Wiederum andere sehen die Rechte der Gesellschafter darin gewahrt, dass sie als eigene Pflicht- 66 gruppe eigenständig über den Restrukturierungsplan abstimmen (§§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 20 Abs. 5 Satz 1 StaRUG), aber in dieser Funktion eben gruppenübergreifend auch überstimmt werden können (Cram-down der Anteilseigner, §§ 26 f. StaRUG).150) Diese Besonderheit des Restrukturierungsverfahrens dürfe nicht durch ein Vorab-Zustimmungserfordernis und damit faktisch durch ein Veto-Recht der Gesellschafter ausgehebelt werden.151) Letztere seien durch das Schlechterstellungsverbot des § 64 Abs. 1 StaRUG ausreichend geschützt.152) Gegen die Einholung eines Hauptversammlungsbeschlusses werden in der Sache zu Recht praktische Einwände angeführt; schon wegen der mit der Durchführung einer Hauptversammlung verbundenen Publizität sowie dem zeitlichen, administrativen und finanziellen Aufwand153) könne sich ein Zustimmungserfordernis in der AG allein auf den Aufsichtsrat beziehen.154) Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe dafür, die Anzeige des Restrukturierungsvor- 67 habens nicht von einer Zustimmung der Gesellschafter bzw. des Aufsichtsrats abhängig zu ___________ 143) 144) 145) 146) 147) 148) 149) 150) 151) 152) 153)
154)
S. a. Andres in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 25 Rz. 5. Mulert/Steiner, NZG 2021, 673, 676; ferner Morgen-Demisch/Schwencke, StaRUG, § 43 Rz. 85. So etwa Fuhrmann/Heinen/Schilz, NZG 2021, 684, 688 – qualifizierter Mehrheitsbeschluss. Brünkmans, ZInsO 2021, 125, 127; Jungmann, ZRI 2021, 209, 223. Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2236; Morgen-Demisch/Schwencke, StaRUG, § 43 Rz. 91. In diese Richtung Scholz, ZIP 2021, 219, 228 f. Schäfer, ZIP 2020, 2164, 2168; Brinkmann, KTS 2021, 303, 316; kritisch insoweit Scholz, ZIP 2021, 219, 226. Mulert/Steiner, NZG 2021, 673, 677; ähnlich Scholz, ZIP 2021, 219, 227. Skaraudszun, KTS 2021, 1, 49; Mulert/Steiner, NZG 2021, 673, 677; in der Sache ein Zustimmungserfordernis ablehnend auch Wollring/Quitzau, ZRI 2021, 785, 789 f. Skaraudszun, KTS 2021, 1, 52 ff. Balthasar, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 18, 21 – HV-Beschluss vor Anzeige des Restrukturierungsvorhabens „faktisch unmöglich“; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370, 2374 f.; ferner Jungmann, ZRI 2021, 209, 223; Brünkmans, ZInsO 2021, 125, 127. Brinkmann, KTS 2021, 303, 317 ff.
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machen. Angesichts der nach wie vor mit dieser Frage verbundenen Unsicherheiten sollte jedoch zur Haftungsvermeidung, wenn möglich, vorsichtshalber ein entsprechender Beschluss eingeholt werden.155) Eine fehlende oder verweigerte Zustimmung hindert den Geschäftsleiter gleichwohl nicht daran, dass Restrukturierungsvorhaben im Außenverhältnis wirksam anzuzeigen.156) 68 Zugute kommt dem Restrukturierungsverfahren, dass es oftmals mit weniger Beteiligten auskommt und in der Regel billiger ist als ein Schutzschirm- oder herkömmliches Insolvenzverfahren.157) Wie viel billiger, hängt maßgeblich von der Höhe der Beraterhonorare im jeweiligen Verfahren und der in einem Insolvenzverfahren zu erwartenden Insolvenzmasse ab. Eine sachgerechte Auseinandersetzung mit den Verfahrensoptionen erfordert daher eine hinreichende Kostenschätzung durch die Sanierungsberater bzw. den CRO. 1.3.2 Schutzschirmverfahren 69 Als Gesamtverfahren bezieht das Schutzschirmverfahren sämtliche Gläubiger und Stakeholder und damit auch die Arbeitnehmer mit ein.158) Forderungen des Pensionssicherungsvereins (PSVaG) können anders als im StaRUG-Verfahren159) als Insolvenzforderungen im Insolvenzplan gestaltet werden. Gerade in Unternehmen mit erheblichen Pensionsverpflichtungen kann die Sanierung im Schutzschirmverfahren mithin die Passivseite spürbar entlasten und mit der einhergehenden höheren Eigenkapitalquote die künftigen Finanzierungsbedingungen verbessern. 70 Neben den finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen, die der Schuldnerin auch im Schutzschirmverfahren zur Verfügung stehen, kann sie auf operativer Ebene wählen, ob und wenn ja, welche noch nicht vollständig erfüllten Verträge sie erfüllt, und sich dadurch vergleichsweise unproblematisch von nachteilhaften Dauerschuldverhältnissen und Verträgen im Allgemeinen loslösen (§ 103 Abs. 1 i. V. m. § 279 Satz 1 InsO). Mit Zustimmung des Sachwalters kann die eigenverwaltende Schuldnerin zudem Betriebsvereinbarungen (§ 120 i. V. m. § 279 Satz 3 InsO) kündigen, Betriebsänderungen durchführen und Arbeitsverhältnisse, notfalls auch ohne Interessenausgleich mit dem Betriebsrat (§ 125 InsO), kündigen (§§ 122, 126 i. V. m. § 279 Satz 3 InsO). 71 Ein weiterer wichtiger Baustein, auf den das Unternehmen nur im (vorläufigen) Insolvenzverfahren zugreifen kann, ist das in den §§ 165 ff. SGB III geregelte Insolvenzgeld.160) Durch die zeitweilige Verlagerung der Personalkostenlast auf die Bundesagentur für Arbeit kann so kurzfristig zusätzliche Liquidität für die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen geschaffen werden.161) Da die auf die Bundesagentur übergehenden Arbeitsentgeltansprüche (§ 169 Satz 1 SGB III) anschließend nur als Insolvenzforderungen zur Tabelle angemeldet werden können (§ 55 Abs. 3 InsO), sind sie nur i. H. der Insolvenzquote zu befriedigen.162) Mit Zustimmung der Agentur für Arbeit (§ 170 Abs. 4 SGB III) kann das Insolvenzgeld durch Banken vorfinanziert werden163) und damit bereits im Eröffnungs- oder Schutz___________ 155) Morgen-Demisch/Schwencke, StaRUG, § 43 Rz. 93; Brinkmann, KTS 2021, 303, 316. 156) Wollring/Quitzau, ZRI 2021, 785, 789; Morgen-Demisch/Schwencke, StaRUG, § 43 Rz. 93. 157) Ein Restrukturierungsbeauftragter, der vor allem eine beaufsichtigende und prüfende Rolle einnimmt und in der Regel auf Stundenbasis vergütet wird, wird z. B. nur in den Fällen des § 73 StaRUG bestellt. 158) Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 79. 159) Andres in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 25 Rz. 6. 160) Kübler/Prütting/Bork-Blankenburg, InsO, § 22 Rz. 211. 161) Vgl. schon Kilger, KTS 1989, 495, 503; eingehend zudem Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 22 Rz. 178. 162) Plagemann in: Bork/Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, Kap. 22 Rz. 158. 163) Kübler/Prütting/Bork-Blankenburg, InsO, § 22 Rz. 219.
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schirmverfahren zur Verfügung stehen. Im Schutzschirmverfahren ist jedoch zu beachten, dass das Insolvenzgeld nur dann gewährt wird, wenn es auch tatsächlich zum Eintritt des Insolvenzereignisses kommt, § 165 Abs. 1 SGB III.164) Diese wirkungsvollen Instrumente zur Wiederherstellung der operativen Wettbewerbs- 72 fähigkeit des Unternehmens sind allein dem Insolvenzverfahren vorbehalten.165) Vergleichbare Möglichkeiten, einseitig nachteilhafte Verträge abzustoßen, Überkapazitäten abzubauen und verlustträchtige Betriebsteile einzustellen, sind für das StaRUG-Verfahren zwar diskutiert, letztlich aber nicht Gesetz geworden.166) Anders als im Restrukturierungsverfahren kann im Schutzschirmverfahren zudem das (potentiell rentable) Betriebsvermögen im Wege eines Asset Deals an einen (neuen) Investor veräußert werden, während die Altverbindlichkeiten bei der Schuldnerin verbleiben. Dadurch wird dem Unternehmen gleichermaßen ein strategischer und finanzieller Neuanfang ermöglicht. Für die (ungesicherten) Insolvenzgläubiger geht diese Form der Sanierung indes mit nicht 73 unerheblichen Einschnitten einher. Schließlich beläuft sich die Insolvenzquote auch im frühzeitig eingeleiteten Schutzschirmverfahren meistens nur auf einen Bruchteil der angemeldeten Forderungen. Angesichts der Insolvenz können Kunden und Lieferanten – alte wie neue – vor (weiteren) Geschäften mit der Schuldnerin zurückschrecken oder ihre Konditionen an das als höher empfundene Ausfallrisiko anpassen; das Unternehmensimage allgemein kann leiden (sog. Insolvenzschäden).167) Zudem ist ein Insolvenzverfahren für Geschäftsleitung und Gesellschafter nach wie vor 74 häufig mit dem Stigma des (mitunter persönlichen) Scheiterns verbunden.168) Gesellschafter sind überdies dem Risiko ausgesetzt, ihren Einfluss zu verlieren oder nach dem Insolvenzverfahren gar ganz ohne Unternehmen dazustehen (§ 225a Abs. 3 InsO).169) Bestehende Gesellschafterstrukturen können in der Regel nur mit signifikanten Sanierungsbeiträgen der Altgesellschafter aufrechterhalten werden. Da die Schuldnerin bei nur drohender Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag stellen darf, aber nicht muss, hat die Geschäftsleitung deshalb vor Antragstellung im Innenverhältnis auch das Einverständnis der Gesellschafter der GmbH oder des Aufsichtsrats der AG einzuholen.170) Die Hauptversammlung kann (§ 119 Abs. 2 AktG), muss aber nicht gefragt werden;171) anders verhält es sich nur, wenn sich der Vorstand über die verweigerte Zustimmung des Aufsichtsrats hinwegsetzen will, § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG.172) Im Außenverhältnis ist der Antrag auch ohne eingeholte
___________ 164) Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 22 Rz. 179. 165) S. a. Klöhn/Franke, ZEuP 2022, 44, 79 f. 166) So sah etwa auch der RegE SanInsFoG ursprünglich noch Regelungen zur Vertragsbeendigung vor (§§ 51 ff. StaRUG-E), vgl. RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181. Kritisch hierzu seinerzeit etwa Bork, ZRI 2020, 457; Hofmann, NZI 2020, 871; allgemein de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 667, 670. 167) de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 671. 168) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ZInsO 2018, 2402, 2403. 169) Thole, ZIP 2013, 1937, 1940. 170) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, NZI 2013, 542, 545, dazu EWiR 2013, 483 (Jakobs); Brinkmann, KTS 2021, 303, 316 – „ungewöhnliche Maßnahme; Brinkmann, ZIP 2014, 197, 205; Leinekugel/ Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1123 ff. – qualifizierte Mehrheit erforderlich; Schröder in: HambKommInsO, § 18 Rz. 23; Skauradszun/Spahlinger/Tresselt, DZWIR 2015, 539, 540; Schäfer, ZIP 2015, 1208, 1212; weitergehend für die AG Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1594 – stets Hauptversammlungsbeschluss mit Dreiviertelmehrheit erforderlich; a. A. Fehrenbach, ZIP 2020, 2370, 2377; Eidenmüller, ZIP 2014, 1197, 1203; Hölzle, ZIP 2013, 1846, 1851; abgestuft Gessner, NZI 2018, 185, 188 f. 171) Balthasar, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 18, 21 – HV-Beschluss vor Anzeige des Restrukturierungsvorhabens „faktisch unmöglich“; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370, 2374 f. 172) Brinkmann, KTS 2021, 303, 323; kritisch dazu Jungmann, ZRI 2021, 209, 223.
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Zustimmung wirksam und setzt das Verfahren in Gang.173) Allerdings haftet der Geschäftsleiter der Gesellschaft in diesem Fall für durch die Antragstellung entstandene Schäden, und zwar unabhängig davon, ob drohende Zahlungsunfähigkeit tatsächlich vorgelegen hat oder nicht.174) 75 Zur Vorbereitung des Schutzschirmverfahrens ist eine mit Gründen versehene Bescheinigung eines in Insolvenzsachen erfahrenen Steuerberaters, Wirtschaftsprüfers oder Rechtsanwalts oder einer Person mit vergleichbarer Qualifikation einzuholen, aus der sich ergibt, dass drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, aber keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt und die angestrebte Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO). In komplexeren (Konzern-)Sachverhalten kann eine solche Bescheinigung mitunter mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Sie sollte dementsprechend frühzeitig in Auftrag gegeben werden. Andernfalls ist nicht auszuschließen, dass das Unternehmen in der angespannten Liquiditätslage noch vor Eingang der Bescheinigung von der drohenden in die tatsächliche Zahlungsunfähigkeit kippt und ihm damit der Zugang zum Schutzschirm-, aber auch zum Restrukturierungsverfahren verwehrt bliebe. 1.3.3 Auswahl des richtigen Verfahrens 76 Mit dem vorinsolvenzlichen Restrukturierungsrahmen steht den Unternehmen ein zusätzliches Sanierungsinstrument zur Verfügung. Vom Sanierungsberater, CRO und ggf. Generalhandlungsbevollmächtigten wird erwartet, dass er sich umfassend mit den im jeweiligen Einzelfall einschlägigen Vor- und Nachteilen der Optionen einer gerichtlichen Sanierung auseinandersetzt. Auf dieser Grundlage können in Zusammenarbeit der Geschäftsleitung mögliche Sanierungsschritte und -ziele im jeweiligen Verfahren formuliert werden. 77 Ob und inwieweit damit Aussicht auf Erfolg besteht, hängt maßgeblich von den Interessen der beteiligten Stakeholder ab. Es kann daher zur Entscheidungsfindung beitragen, im Vorfeld nicht nur mit den Gesellschaftern, sondern auch mit zentralen Gläubigern und möglichen Finanzierern informative Gespräche zu führen. Insbesondere bei Unternehmen, deren Probleme erkennbar (auch) auf der leistungswirtschaftlichen Ebene liegen, stößt eine reine Finanzrestrukturierung z. B. schnell an ihre Grenzen, wenn Kreditgeber und Investoren ihre Beiträge absehbar von operativen Sanierungsfortschritten abhängig machen. Die Wahl des richtigen Verfahrens bzw. Instruments stellt insoweit die Weichen für eine nachhaltige Sanierung175) und sollte nicht durch Behelfslösungen, die mitunter geringere Widerstände erwarten lassen, unnötig aufgeschoben werden. 2.
Fortführung nach Eintritt der materiellen Insolvenz
78 Ist die Gesellschaft bereits zahlungsunfähig oder überschuldet, muss das Sanierungsinteresse der Geschäftsleiter und Gesellschafter den Gläubigerinteressen weichen (§ 1 InsO).176) Auf eine Zustimmung der Gesellschafter zur Einleitung eines Verfahrens kommt es nicht ___________ 173) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, NZI 2013, 542, 545, dazu EWiR 2013, 483 (Jakobs); Lüke, KTS 2019, 261, 275; Brinkmann, ZIP 2014, 197, 205; Madaus, ZIP 2014, 500, 502; Brockdorff/ Heintze/Rolle, BB 2014, 1859, 1865; Lang/Muschalle, NZI 2013, 953, 955. 174) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, NZI 2013, 542, 543, dazu EWiR 2013, 483 (Jakobs); Schröder in: HambKomm-InsO, § 18 Rz. 23; K. Schmidt-K. Schmidt, InsO, § 18 Rz. 31; Geißler, ZInsO 2013, 919, 922; Lang/Muschalle, NZI 2013, 953, 955; Leinekugel/Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1124; ferner Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 72 f. 175) Vgl. auch de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 672. 176) Die Sanierung des Unternehmens bleibt zwar gleichermaßen Verfahrenszweck, dient aber dem übergeordneten Primärzweck der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung, vgl. nur Uhlenbruck-Ganter/Bruns, InsO, § 1 Rz. 85 m. w. N. zum Streitstand.
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mehr an.177) Die Geschäftsleiter sind vielmehr nach §§ 15a, 15b InsO verpflichtet, unverzüglich Insolvenzantrag zu stellen und ab sofort grundsätzlich sämtliche masseschmälernden Zahlungen zu unterlassen. Sowohl die Insolvenzantragspflicht als auch das Zahlungsverbot zielen insoweit darauf ab, mit dem Eintritt der materiellen Insolvenz „die Pflichtenstellung der Organe des Schuldners zugunsten der Gläubigergesamtheit zu aktivieren“.178) Die materielle Insolvenz intensiviert und verschiebt mithin die Pflichten der Geschäftsleiter. Dadurch wirkt sie sich zugleich unmittelbar auf die Unternehmensfortführung bzw. die Beratungs- und Tätigkeitsschwerpunkte des Sanierungsberaters, CROs und Generalhandlungsbevollmächtigten aus. Schuldnerische Rechtshandlungen unterliegen einem erhöhten Anfechtungsrisiko (§§ 129 ff. InsO). 2.1
Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 1 InsO)
Die antragsverpflichteten Organwalter haben spätestens drei Wochen nach Eintritt der 79 Zahlungsunfähigkeit bzw. sechs Wochen nach Eintritt der Überschuldung Insolvenzantrag zu stellen, § 15a Abs. 1 InsO. Die Antragspflicht und -berechtigung trifft nicht das Vertretungsorgan, sondern jedes einzelne, ggf. nur faktische179) seiner Mitglieder.180) Da der CRO üblicherweise Mitglied der Geschäftsleitung wird,181) muss er den Antrag notfalls also auch allein stellen.182) Der Generalhandlungsbevollmächtigte ist dagegen mangels organschaftlicher Stellung weder antragsverpflichtet noch grundsätzlich -berechtigt.183) Das gilt erst recht für den Sanierungsberater. Beide können allerdings in besonders gelagerten Fällen als faktische Geschäftsleiter angesehen werden, wenn ihnen eine überragende Stellung in der Unternehmensführung zukommt, sie zentrale Geschäftsführungsaufgaben übernehmen und dadurch den formellen Organwaltern faktisch über- oder zumindest gleichstehen.184) Bei der drei- bzw. sechswöchigen Antragsfrist handelt es sich um eine Höchstfrist,185) d. h. 80 eine maximale zeitliche Grenze für außergerichtliche Sanierungsbemühungen,186) die weder ___________ 177) Vgl. Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 53. 178) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 30, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385, dazu EWiR 2022, 274 (Freudenberg). 179) „Faktisches Leitungsorgan ist, wer mit Wissen und Wollen der Gesellschaft bzw. im Einverständnis der Gesellschafter nach dem Gesamterscheinungsbild des Auftretens die Geschicke der Gesellschaft – über die interne Einwirkung auf die satzungsmäßige Geschäftsführung hinaus – maßgeblich durch eigenes Handeln im Außenverhältnis, das die Tätigkeit des rechtlichen Geschäftsführungsorgans nachhaltig prägt, in die Hand genommen hat“; s. Klöhn in: MünchKomm-InsO, § 15a Rz 76 m. Verweis u. a. auf BGH, Urt. v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61, 69 f. = NJW 2002, 1803, 1805, dazu EWiR 2002, 679 (Blöse); BGH, Urt. v. 21.3.1988 – II ZR 194/87, BGHZ 104, 44, 48 = DNotZ 1988, 793, 794; BGH, Beschl. v. 11.2.2008 – II ZR 291/06, NZG 2008, 468, 469, dazu EWiR 2009, 237 (Kleinschmidt); ferner BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – 4 StR 323/14, NJW 2015, 712, dazu EWiR 2015, 337 (Priebe). 180) So der Wortlaut des § 15a Abs. 1 InsO; vgl. BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 61/92 (jetzt II ZR 81/94), NJW 1994, 2149, 2150; Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 15a Rz. 26 f.; Klöhn in: MünchKommInsO, § 15a Rz. 70. Anders verhält es sich bei nur drohender Zahlungsunfähigkeit: Das einzelne Mitglied des Vertretungsorgans kann den Antrag hier nur dann ohne Mitwirkung der übrigen Mitglieder stellen, wenn es zur Vertretung der juristischen Person berechtigt ist (§ 18 Abs. 3 InsO). 181) S. auch Graewe/Annweiler, NZI 2020, 662, 668; Nimwegen/Rajan, ZInsO 2020, 1178. 182) Klöhn in: MünchKomm-InsO, § 15a Rz. 70; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 75; Spindler in: MünchKomm-AktG, § 92 Rz. 83. 183) Wandt/Herold, NZG 2020, 201, 207; seine Handlungsvollmacht kann allerdings auf das Stellen des Insolvenzantrags erstreckt werden. 184) Cyrus/Köllner, NZI 2016, 288, 289 u. a. m. Verweis auf BGH, Urt. v. 28.6.1966 – 1 StR 414/65, BGHSt 21, 101 = NJW 1966, 2225; mit weiteren Abgrenzungskriterien Cyrus/Köllner, NZI 2015, 545, 546. 185) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96, 108 = NJW 1979, 1823, 1826, 1827; BGH, Beschl. v. 30.7.2003 – 5 StR 221/03, BGHSt 48, 307, 309 = NZG 2004, 42, 43, dazu EWiR 2004, 453 (Berger); Altmeppen, GmbHG, vor § 64 Rz. 81; Bitter, ZInsO 2010, 1561, 1572; Poertzgen, ZInsO 2008, 944, 946. 186) Scholz-Bitter, GmbHG, § 64 Rz. 286.
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durch Vergleichsgespräche noch durch andere – sei es auch erfolgversprechende – Sanierungsvorbereitungen gehemmt werden kann.187) Kann eine Sanierung innerhalb der Frist nicht (mehr) erwartet werden, ist der Eröffnungsantrag unverzüglich, also bereits vor Ablauf der Höchstfrist zu stellen.188) 81 Ein präventives Restrukturierungsverfahren kann nach Eintritt der materiellen Insolvenz nicht mehr angestrengt, sondern allenfalls fortgesetzt werden (§§ 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 3 StaRUG).189) Seine Instrumente stehen dem Schuldner grundsätzlich erst dann wieder (erstmalig) zur Verfügung, wenn er die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit zumindest temporär beseitigt hat. 2.1.1 Antragsfrist 82 Die Antragsfrist beginnt nach dem Wortlaut der Vorschrift mit dem objektiven Eintritt des Insolvenzgrundes und nicht erst mit der Kenntnis oder böswilligen bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis des Antragsverpflichteten von der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft.190) Allein zur Beseitigung der Überschuldung stehen der Geschäftsleitung und ihren Beratern seit Inkrafttreten des SanInsFoG am 1.1.2021 sechs statt der zuvor drei Wochen zur Verfügung.191) Die Verlängerung soll es dem noch nicht zahlungsunfähigen Schuldner ermöglichen, laufende außergerichtliche Sanierungsbemühungen erfolgreich abzuschließen oder ggf. eine Sanierung auf der Grundlage eines Eigenverwaltungsverfahrens ordentlich und gewissenhaft vorzubereiten.192) 2.1.2 Insolvenzverschleppungshaftung 83 Für Schäden, die einzelnen Gläubigern durch eine verspätete Antragstellung entstehen, haften die antragsverpflichteten Organwalter, also auch ein etwaig bestellter CRO, gesamtschuldnerisch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO, § 840 Abs. 1 BGB (Insolvenzverschleppung).193) Mit dem Einwand, die materielle Insolvenz der Gesellschaft nicht erkannt zu haben oder nicht habe erkennen zu können, wird der einzelne Geschäftsleiter im Haftungsprozess nur in Ausnahmefällen Erfolg haben. Zwar verlangt die Insolvenz___________ 187) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 193; Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 15a Rz. 59. 188) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96, 111 = NJW 1979, 1823, 1827; BGH, Beschl. v. 17.7.2008 – IX ZB 225/07, Rz. 10, NZI 2008, 557, dazu EWiR 2008, 723 (Voß); BGH, Versäumnisurt. v. 24.1.2012 – II ZR 119/10, Rz. 11, NZI 2012, 413, dazu EWiR 2012, 523 (Podewils); Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 193; Strohn, NZG 2011, 1161, 1162; Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/ Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 87. 189) S. Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 137; Flöther-Hoffmann/Braun, StaRUG, § 29 Rz. 2. 190) Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 15a Rz. 63; Klöhn in: MünchKomm-InsO, § 15a Rz. 119; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 15a Rz. 14. In diese Richtung deutet auch die Begr. RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 87, 144, die gleichermaßen auf den Eintritt des Insolvenzgrundes und nicht auf dessen Kenntnis Bezug nimmt. Auf Erkennbarkeit abstellend dagegen BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184, 185 = NJW 2000, 668, dazu EWiR 2000, 295 (Noack); BGH, Beschl. v. 17.7.2008 – IX ZB 225/07, Rz. 10, NZI 2008, 557, dazu EWiR 2008, 723 (Voß); Bayer/J. Schmidt, AG 2005, 644, 648 ff.; Hüffer in: FS Wiedemann, S. 1047, 1048; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 83; H.-F. Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 74; für positive Kenntnis vom Insolvenzgrund vormals noch BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96, 110 f. = NJW 1979, 1823, 1827; BGH, Beschl. v. 30.7.2003 – 5 StR 221/03, BGHSt 48, 307, 309 = NZG 2004, 42, 43, dazu EWiR 2004, 453 (Berger). 191) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 193. 192) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 193. 193) K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 36.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
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verschleppungshaftung nach einem Verschulden des Geschäftsleiters.194) Bei einer objektiven Versäumung der Antragsfrist werden die Erkennbarkeit der Insolvenz und damit das Verschulden jedoch vermutet.195) Da der Geschäftsleiter die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft fortlaufend zu überwachen und eine Insolvenz grundsätzlich zu erkennen hat (Insolvenzerkennungspflicht),196) wird es ihm regelmäßig nicht gelingen, darzulegen und zu beweisen, dass er nicht zumindest fahrlässige Unkenntnis von der Insolvenzreife der Gesellschaft hatte. Die Beratung durch Dritte kann, muss den Geschäftsleiter aber nicht entlasten – inwieweit er sich auf den plausibel erscheinen müssenden197) Rat eines Beraters verlassen darf, ist Tatfrage.198) Versäumt es der Berater oder hinzugezogene Fachmann, die Geschäftsleitung auf die mate- 84 rielle Insolvenz hinzuweisen,199) oder erklärt er fälschlicherweise, die Gesellschaft sei noch nicht insolvent,200) haftet auch er grundsätzlich sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber den Geschäftsleitern, die in der Regel in den Schutzbereich des Beratungsvertrags einbezogen sind und damit eigene vertragliche Regressansprüche geltend machen können.201) Unmittelbar gegenüber den Gläubigern haften kann der Berater als Teilnehmer des Insolvenzverschleppungsdelikts gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO, § 830 Abs. 2 BGB, wenn er weiß, dass der Antragsverpflichtete gezielt die Insolvenz verschleppt, und ihm hierzu dennoch Hilfe leistet oder zumindest bewusst die Augen vor der Insolvenzverschleppung verschließt.202) Neugläubiger können i. R. der Insolvenzverschleppungshaftung ihren gesamten Kontra- 85 hierungsschaden ersetzt verlangen, Altgläubiger jedoch nur den Quotenschaden, d. h. die Differenz zu derjenigen Quote, die sie bei rechtzeitiger Antragstellung erwarten durften.203) In der Praxis spielt die Insolvenzverschleppungshaftung gleichwohl nur noch eine unter- 86 geordnete Rolle. Nach einem Urteil des BGH aus dem Jahr 1998204) soll der Insolvenzverwalter nämlich nur den Quotenschaden der Altgläubiger, nicht aber den Quoten- oder sonstigen Schaden der erst nach Insolvenzreife hinzugekommenen Neugläubiger geltend machen können. Die damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Altund Neugläubigern und der fiktiven Quotenberechnung haben dazu geführt, dass sich die ___________ 194) S. etwa BGH, Urt. 5.2.2007 – II ZR 234/05, Rz. 8, BGHZ 171, 46 = NZG 2007, 347, dazu EWiR 2007, 305 (Haas); Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 15a Rz. 111. 195) BGH, Urt. v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, Rz. 8, BGHZ 171, 46 = NZG 2007, 347, dazu EWiR 2007, 305 (Haas); BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, Rz. 15, NJW 2007, 2118, dazu EWiR 2007, 495 (Henkel); BGH, Urt. v. 14.5.2012 – II ZR 130/10, Rz. 11, NZG 2012, 864; Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 15a Rz. 111; K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 45. 196) Vgl. BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 199 = NJW 1994, 2220, 2224; Klöhn in: MünchKomm-InsO, § 15a Rz. 173; Fleischer in: BeckOGK-AktR, § 92 AktG Rz. 33, 83 – Beobachtungspflicht. 197) Kritisch zur Plausibilitätskontrolle Krieger, ZGR 2012, 496, 502. 198) BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, Rz. 14 ff., NJW 2007, 2118, dazu EWiR 2007, 495 (Henkel); BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, Rz. 18, NZG 2011, 1271, dazu EWiR 2011, 793 (Vetter); s. a. Strohn, ZHR 176 (2012) 137 ff.; K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 36. 199) BGH, Beschl. v. 6.2.2014 – IX ZR 53/13, NZI 2014, 308, dazu EWiR 2014, 385 (Zilkens). 200) BGH, Urt. v. 6.6.2013 –IX ZR 204/12, NZI 2013, 793, dazu EWiR 2013, 573 (Gräfe). 201) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, BGHZ 193, 297 = NZI 2012, 853, dazu EWiR 2012, 509 (Westermann); Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 127. 202) Klöhn in: MünchKomm-InsO, § 15a Rz. 277; Kleindiek in: HK-InsO, § 15a Rz. 29. Möglich, aber seltener, ist daneben eine Haftung gegenüber den Gläubigern aus § 826 BGB, §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB bei Inanspruchnahme besonderen Vertrauens, bspw. i. R. vorangegangener Verhandlungen, oder aus §§ 280 Abs. 1, 328 Abs. 1 BGB, wenn der Beratungsvertrag direkt als echter Vertrag zugunsten Dritter ausgestaltet wurde, vgl. Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 128 ff. 203) S. nur Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 15a Rz. 40; K. Schmidt-K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 37 ff., jeweils m. w. N. 204) BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 = NZI 1998, 38.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Insolvenzverwalter von der Verschleppungsklage aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO ab- und stattdessen dem Zahlungsverbot aus § 15b InsO (vormals § 64 GmbHG) zugewendet haben.205) Mittelbar wirkt sich dieser Schwenk zum Zahlungsverbot auch auf die Haftung der Berater aus. 87 Bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Verschleppung der Insolvenz droht den Geschäftsleitern zudem Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO), wenngleich die Strafverfolgungsbehörden Insolvenzstraftaten in der Vergangenheit nicht immer mit letzter Härte verfolgt haben.206) Auch die Berater der Geschäftsleitung können sich als Anstifter oder Gehilfen strafbar machen, wenn sie von einer notwendigen Antragstellung abraten oder die Geschäftsleitung wider besseres Wissen bei der Fortführung des materiell insolventen Unternehmens unterstützen (psychische Beihilfe).207) 2.1.3 Behebung des Eröffnungsgrundes oder Insolvenzantragstellung 88 Nach Eintritt der materiellen Insolvenz muss die Geschäftsleitung entweder Insolvenzantrag stellen oder aber das ihr verbleibende Zeitfenster von maximal drei bzw. sechs Wochen nutzen, um erfolgversprechende außergerichtliche Sanierungsverhandlungen mit Gläubigern und/oder Gesellschaftern fortzuführen und den Insolvenzeröffnungsgrund in diesem Zuge wieder zu beseitigen.208) Auch dann ist allerdings für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen vorsichtshalber ein Insolvenzantrag – und ggf. zusätzlich ein Insolvenzplan – vorzubereiten. Liegt bei Eintritt der materiellen Insolvenz überhaupt noch kein Sanierungskonzept vor und sind noch keine Verhandlungen aufgenommen worden, ist es für ihren erfolgreichen Abschluss innerhalb des (kurzen) Antragszeitraums in der Regel zu spät. 89 Allgemein ist der Insolvenzantrag rechtzeitig209) und richtig vorbereitet zu stellen. Nach § 15a Abs. 4 – 6 InsO ist schließlich nicht nur die nicht oder nicht rechtzeitige, sondern auch die nicht richtige Antragstellung strafbar, wenn der Antrag rechtskräftig als unzulässig zurückgewiesen wird.210) § 270a InsO gibt seit dem 1.1.2021 vor, welche Unterlagen einem professionell gestellten Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung (mindestens) beizufügen sind.211) Die Anforderungen an einen Antrag auf Eröffnung eines Regelinsolvenzverfahrens sind unterdessen etwas geringer.212) Zumindest soweit eine Betriebsfortführung im Verfahren beabsichtigt ist, sollte man sich aber gleichermaßen an den Anforderungen des § 270a Abs. 1 Nr. 1 – 3, Abs. 2 InsO orientieren. Insbesondere der Finanzplan, ein Sanierungskonzept und eine Darstellung des Stands der Verhandlungen mit Gläubigern können die Fortführung durch den Insolvenzverwalter erheblich vereinfachen und etwaige Reibungsverluste beim Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis reduzieren. Gemäß § 4 InsO, § 130d ZPO ist in beiden Fällen darauf zu achten, dass der Antrag elektronisch einzureichen ist, sofern er von einem Anwalt gestellt wird. Andernfalls kann er als unzulässig zurückgewiesen werden.213) ___________ 205) S. auch Kübler/Prütting/Bork-Steffek, InsO, § 15a Rz. 92; B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 220 f.; Strohn in: FS Pape, S. 385, 386; K. Schmidt, NZG 2015, 129, 130; K. Schmidt, ZHR 183 (2019) 2, 4. 206) Vgl. Jaffé, ZHR 175 (2011) 38, 53; Schirrmacher/Schneider, ZIP 2018, 2463, 2465. 207) Cyrus/Köllner, NZI 2016, 288 f. 208) Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 87. 209) Klöhn in: MünchKomm-InsO, § 15a Rz. 7. 210) Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 88; eingehend Kleindiek in: HK-InsO, § 15a Rz. 16 f. 211) Denkhaus in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3, A. I. Rz. 3. 212) Zu den Anforderungen im Detail Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 88 ff. 213) Vgl. auch AG Hamburg, Beschl. v. 21.2.2022 – 67 hIN 29/22, Rz. 7, NZI 2022, 382 – allerdings in Bezug auf den Antrag einer Behörde.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
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Zugleich kann mit Stellung des Insolvenzantrags Einfluss genommen werden auf die für die 90 weitere gerichtliche Unternehmenssanierung weichenstellende Bestellung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters214) bzw. Sachwalters. Im Schutzschirmverfahren ist das Gericht an einen Vorschlag des Schuldners für die Person des vorläufigen Sachwalters gebunden, wenn nicht die vorgeschlagene Person für die Übernahme des Amtes offensichtlich nicht geeignet ist (§ 270d Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO). Es können, müssen aber nicht mehrere Personen vorgeschlagen werden. Bei einem Antrag auf Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung ist das Gericht dagegen grundsätzlich nur an einen einstimmigen Beschluss des vorläufigen Gläubigerausschusses zur Person eines vorläufigen Sachwalters gebunden (§§ 274 Abs. 1, 56a Abs. 2 Satz 1 InsO).215) Dasselbe gilt für die Bestellung eines (vorläufigen) Insolvenzverwalters im Regelinsolvenzverfahren. Nicht-einstimmige Mehrheitsbeschlüsse binden das Gericht zwar nicht, dürften aber regelmäßig als entsprechende Anregung zur Auswahl des Insolvenz- bzw. Sachwalters verstanden werden und sollten deshalb gleichermaßen den Antragsunterlagen beigefügt werden.216) Das heißt nicht, dass einzelne Gerichte einen fehlenden einstimmigen Beschluss in der Vergangenheit nicht zum Anlass genommen hätten, eine Person zum Insolvenzverwalter zu bestellen, die in dieser Form von den Gläubigern bislang überhaupt nicht ins Auge gefasst worden war. Um bereits vor Antragstellung den Beschluss eines „präsumtiven vorläufigen Gläubiger- 91 ausschusses“ zur Bestellung des vorläufigen Verwalters herbeizuführen, ist rechtzeitig eine Auswahl der hierfür in Betracht kommenden Gläubiger zu treffen. Sinnvollerweise sollte vorab Kontakt aufgenommen werden zu den in § 67 Abs. 2 InsO genannten Gläubigergruppen, um zu ermitteln, inwieweit etwaige Vertreter überhaupt dazu bereit wären, in einem vorläufigen Gläubigerausschuss mitzuwirken. Rechtlich gesehen kommt dem „präsumtiven vorläufigen Gläubigerausschuss“ zwar keine eigenständige Bedeutung zu.217) Die Alternative, zunächst den (oftmals personenidentischen) vorläufigen Gläubigerausschuss einzusetzen, um sodann einen einstimmigen Beschluss zur Verwalterbestellung zu erwirken, stellt sich jedoch als übermäßig formalistisch dar und wird deshalb kaum praktiziert. Neben den organschaftlichen Vertretern der Gesellschaft kann auch der Generalhandlungs- 92 bevollmächtigte den Insolvenzantrag stellen, sofern die Insolvenzantragstellung von seiner Handlungsvollmacht umfasst ist. Letztere ist dem Insolvenzantrag dann beizulegen. Vor allem in größeren Verfahren ist es oftmals sinnvoll, im Vorfeld der Antragstellung nicht 93 nur zu den Gläubigervertretern, sondern auch zum zuständigen Insolvenzgericht Kontakt aufzunehmen. Die meisten Insolvenzgerichte sind bereit, ein solches Vorgespräch zu führen.218) Thematisiert werden können die Darstellung der Insolvenzeröffnungsgründe, ein etwaiges Fortführungs- und Sanierungskonzept sowie die mögliche Besetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses und in Betracht kommende Sach- oder Insolvenzverwalter. Ein Vorgespräch gibt der antragstellenden Schuldnerin oftmals die Möglichkeit, etwaige Anmerkungen und Nachfragen des Gerichts bereits bei der Antragstellung zu berücksichtigen, wodurch mitunter zeitaufwendige Nachbesserungen vermieden werden können. Bei Konzerninsolvenzen sollte das Gericht zudem im Vorfeld über einen Gruppen-Gerichts___________ 214) Mit Blick auf den Insolvenzverwalter mitunter auch als „Schicksalsfrage eines jeden Insolvenzverfahrens“ bezeichnet, so sinngemäß erstmals Jaeger, KO, 6./7. Aufl. 1939, § 78 Anm. 7, aufgegriffen u. a. von Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 56 Rz. 1; Kruth, DStR 2017, 669. 215) Auch hier kann das Gericht vom Vorschlag jedoch abweichen, wenn die vorgeschlagene Person für die Übernahme des Amtes nicht geeignet ist (§ 56a Abs. 2 Satz 1 InsO). 216) S. a. Braun-Riggert, InsO, § 270b Rz. 18. 217) Vgl. Hammes, NZI 2017, 233 (dort. Fn. 6). 218) Vallender, NZI 2020, 761, 766.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
stand i. S. des § 3a InsO und das Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen informiert werden. 2.2
Zahlungsverbot (§ 15b InsO)
94 Die Inanspruchnahme wegen verbotener Zahlungen stellt sich für die Geschäftsleiter angeschlagener Unternehmen wie auch für deren Berater als mittlerweile größtes Haftungsrisiko dar.219) Auf Verstöße gegen das Zahlungsverbot gestützte Klagen erwiesen sich in den letzten Jahren als effizientes und häufig eingesetztes Mittel zur Auffüllung der Insolvenzmasse.220) Je nach Zeitraum und Größe des Unternehmens kann die Haftung ein erhebliches Ausmaß annehmen. Pflichtvergessenen Geschäftsleitern droht deshalb bei nicht mehr abzuwendender Insolvenz eine spätere, oftmals weit über ihre persönliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinausgehende Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter (siehe Rz. 95 ff.).221) Immerhin hat der BGH zugunsten der Geschäftsleiter (und letztlich auch der Insolvenzgläubiger) entschieden, dass die herkömmlichen Bedingungen einer D&OVersicherung auch die Einstandspflicht für eine Inanspruchnahme aus § 15b InsO bzw. § 64 GmbHG a. F. umfassen.222) Das Zahlungsverbot wirkt sich unmittelbar auf die Fortführung des Unternehmens aus: Mit Eintritt der materiellen Insolvenz hat die Geschäftsleitung in die sog. Notgeschäftsführung überzugehen, die eine strikte Prüfung und Dokumentation ausgehender Zahlungen beinhaltet (siehe Rz. 106 ff.). 2.2.1 Rechtslage 95 Ab Eintritt der materiellen Insolvenz der Gesellschaft dürfen grundsätzlich keine masseschmälernden Zahlungen für diese mehr vorgenommen werden (§ 15b Abs. 1 Satz 1 InsO). Nichtsdestotrotz veranlasste, nicht-privilegierte Zahlungen sind der Gesellschaft grundsätzlich in voller Höhe zu erstatten (§ 15b Abs. 4 Satz 1 InsO).223) Es handelt sich um eine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft, die in der Insolvenz vom Verwalter durchgesetzt wird.224) Sie greift zudem früher – nämlich ab Insolvenzreife und nicht erst mit Verstreichen der Insolvenzantragsfrist – und endet auch erst später als die Insolvenzverschleppungshaftung – nämlich erst mit Übergang der Verfügungsbefugnis auf den (vorläufigen starken) Insolvenzverwalter oder zumindest der Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts des vorläufigen Verwalters225).226) 96 Die Geschäftsleiter können sich jedoch durch den Nachweis exkulpieren, dass die Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar ___________ 219) Haas/Kolmann/Kurz in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 90 Rz. 218 – signifikantes Haftungsrisiko. 220) H.-F. Müller, DB 2015, 723; H.-F. Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 8; Bitter/Baschnagel, ZInsO 2018, 557, 573; Poertzgen, ZInsO 2016, 1182, 1183. 221) Die Inanspruchnahme kann dabei bis hin zur „Kahlpfändung“ des Geschäftsleiters reichen, vgl. K. Schmidt, ZIP 2008, 1401, 1405. Geschäftsleiter empfinden sie dementsprechend als größte Gefahr ihrer Tätigkeit, s. Lehmann/Rettig, NZI 2018, 758, 762 (Anm. zu OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.7.2018 – 1-4 U 93/16). 222) „Schadensersatzanspruch im Sinne der Versicherungsbedingungen“, vgl. BGH, Urt. v. 18.11.2020 – IV ZR 217/19, Rz. 10 ff, 22 ff., BGHZ 227, 279 = NZI 2021, 41 – zu § 64 GmbHG a. F., dazu EWiR 2021, 7 (Bei der Kellen); Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 5; Brinkmann/Schmitz-Justen, ZIP 2021, 24 f; Wiedemann, ZInsO 2021, 288 ff.; anders noch OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.7.2018 – I-4 U 93/16, Rz. 69 ff., NZI 2018, 758, dazu EWiR 2018, 553 (Schneider); OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 7.8.2019 – 3 U 6/19, Rz. 6, BeckRS 2019, 51227. 223) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 64 ff.; Braun-Weber/Dömmecke, InsO, § 15b Rz. 41. 224) Casper in: GroßKomm-GmbHG, § 64 Rz. 177; Wicke, GmbHG, § 64 Rz. 19; Kübler/Prütting/BorkBork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 73. 225) So nun auch § 15b Abs. 2 Satz 3 InsO. 226) B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 226 f.
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gewesen seien (§ 15b Abs. 1 Satz 2 InsO). Das soll vor allem für solche Zahlungen der Fall sein, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang, insbesondere zur Aufrechterhaltung des Betriebs erfolgen, solange Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags betrieben werden und der jeweilige Antragszeitraum des § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO noch nicht abgelaufen ist (§ 15b Abs. 2 Satz 1 und 2 InsO). § 15b InsO erlaubt damit – in engen Grenzen – auch nach Eintritt der materiellen Insolvenz die zeitweise Fortführung des Unternehmens zur Verfolgung erfolgversprechender Sanierungsmaßnahmen oder zur Vorbereitung eines geordneten Insolvenzverfahrens. Zahlungen auf fällige Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis der Gesellschaft fallen 97 nicht hierunter. Sie begründen auch keine rechtfertigende Pflichtenkollision mehr; § 15b Abs. 8 InsO löst den vormaligen Widerspruch zwischen Steuerabführungs- und Massesicherungspflicht im Zeitraum bis zur Antragstellung zugunsten der Massesicherungspflicht auf.227) Rechtsfolgenseitig steht es den in Anspruch genommenen Geschäftsleitern frei, einen gerin- 98 geren Gesamtgläubigerschaden nachzuweisen, als ihn die Summe der verbotenen Zahlungen vermuten ließe (§ 15b Abs. 4 Satz 2 InsO).228) 2.2.1.1
Weites Verständnis des Zahlungsbegriffs
Der Zahlungsbegriff des § 15b InsO ist weit zu verstehen.229) Neben herkömmlichen Geld- 99 leistungen umfasst er – anders als der Begriff vermuten ließe – sämtliche Leistungen, durch die der Gesellschaft Vermögenswerte entzogen werden, bspw. also auch Produktlieferungen oder Dienstleistungen, Übereignungen von Vermögensbestandteilen, die Übertragung von Rechten oder Aufrechnungen.230) Lässt es die Geschäftsleitung zu, dass Kunden Rechnungen auf ein debitorisches Gesellschaftskonto begleichen, liegt hierin eine grundsätzlich verbotene Zahlung an die kontoführende Bank.231) Dasselbe gilt für Zahlungen von einem debitorischen Gesellschaftskonto, wenn die kontoführende Bank besser besichert ist als der befriedigte Gläubiger.232) Auch Zahlungen in einen Cashpool des insgesamt in der Krise begriffenen Konzerns sind 100 in der Regel verboten, wenn sie für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs nicht zwingend erforderlich sind und sie nicht durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch ausgeglichen werden.233) Das gilt i. Ü. auch schon vor Eintritt der materiellen Insolvenz, ___________ 227) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 56. 228) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 195; Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 15b Rz. 28; Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 64 ff.; Braun-Weber/Dömmecke, InsO, § 15b Rz. 44; Casper in: GroßKomm-GmbHG, § 64 Rz. 171; kritisch insoweit Bitter, ZIP 2021, 321, 329. 229) BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184, 186 = NJW 2000, 668, dazu EWiR 2000, 295 (Noack); BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, Rz. 12, NJW 2009, 1598, dazu EWiR 2009, 645 (Wilkens); Saenger/Inhester-Kolmann, GmbHG, § 64 Rz. 25; differenzierend Casper in: GroßKommGmbHG, § 64 Rz. 171. 230) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 16. 231) BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 31, ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek); BGH, Versäumnisurt. v. 14.6.2016 – II ZR 77/15, Rz. 9, ZInsO 2016, 1934, dazu EWiR 2017, 105 (Spliedt); BGH, Urt. v. 8.12.2015 – II ZR 68/14, Rz. 10, NJW 2016, 1092, dazu EWiR 2016, 263 (Wackerbarth); BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 11, BGHZ 206, 52 = NZG 2015, 998, dazu EWiR 2015, 565 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 3.6.2014 – II ZR 100/13, Rz. 15 f., NZI 2014, 813, dazu EWiR 2014, 675 (Wertenbruch); BGH, Urt. v. 26.3.2007 – II ZR 310/05, Rz. 12, NZI 2007, 418; Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 21; kritisch Casper, ZIP 2016, 793, 798 f. 232) H.-F. Müller, NZG 2015, 1021, 1022. 233) Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 128; implizit auch Ekkenga in: MünchKomm-GmbHG, § 30 Rz. 275.
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wenn die Zahlung zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen musste; schließlich geht die Einbindung in den Cashpool (zumindest mittelbar) mit Zahlungen an Mutter- und Schwestergesellschaften einher (§ 15b Abs. 5 Satz 1 InsO).234) Ebenso verhält es sich bei der Bestellung von Sicherheiten für Verbindlichkeiten der Mutter- oder einer Schwestergesellschaft, wenn bereits im Bestellungszeitpunkt mit der Inanspruchnahme und der daraus resultierenden Zahlungsunfähigkeit gerechnet werden muss.235) 101 Die Begründung einer Verbindlichkeit stellt dagegen für sich genommen noch keine Zahlung dar, weil sie nicht die Insolvenzmasse insgesamt, sondern allenfalls die Quotenerwartung der Gläubiger schmälert.236) Vor einer Verwässerung der Insolvenzquote schützt die Gläubiger die Insolvenzverschleppungshaftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO, nicht aber § 15b InsO.237) Auch Pfändungen von Gesellschaftsvermögen durch Gläubiger begründen keine verbotene Zahlung, da sie nicht vom Geschäftsleiter veranlasst werden.238) 2.2.1.2
Ausgleich von Masseschmälerungen durch Gegenleistungen
102 Dagegen fehlt es von vorneherein am masseschmälernden Charakter der Zahlung, wenn und soweit dem Gesellschaftsvermögen im Gegenzug eine verwertbare Gegenleistung zugeflossen ist.239) Dem BGH zufolge kommt es dabei nicht darauf an, ob die Gegenleistung bei Eröffnung eines potenziellen Insolvenzverfahrens noch im Gesellschaftsvermögen vorhanden oder zwischenzeitlich schon wieder verbraucht wurde, untergegangen oder in sonstiger Weise aus dem Vermögen ausgeschieden ist.240) Wohl aber ist es erforderlich, dass sie in unmittelbarem wirtschaftlichen, nicht notwendigerweise zeitlichen Zusammenhang mit dem Mittelabfluss dem Gesellschaftsvermögen zufließt und durch die Gläubiger verwertet werden kann.241) Vorleistungen des anderen Teils können allerdings nicht in Abzug gebracht werden.242) Die mit der Zahlung eintretende Masseschmälerung wird nur durch eine Zug um Zug oder erst anschließende Gegenleistung kompensiert.243) Schließlich zielt das Zahlungsverbot darauf ab, das im Zeitpunkt des Eintritts der materiellen In___________ 234) Denkhaus in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3, A. I. Rz. 34. 235) Krieger in: Münch-Hdb. GesR, § 70 Rz. 63. 236) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 17, BGHZ 203, 218 = NZG 2015, 149, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt); BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, Rz. 13, NZG 2017, 1034; Kübler/Prütting/BorkBork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 17. 237) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 17. 238) BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, Rz. 14, NJW 2009, 1598, dazu EWiR 2009, 645 (Wilkens); OLG München, Urt. v. 19.1.2011 – 7 U 4342/10, NZG 2011, 465. 239) BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 33 f., ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 11, BGHZ 203, 218 = NZG 2015, 149, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt); BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, Rz. 20, NZG 2017, 1034; Fiedler, ZIP 2020, 2112, 2114 f.; H.-F. Müller, DB 2015, 723, 724. 240) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 11 ff., BGHZ 203, 218 = NZG 2015, 149, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt); BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, Rz. 18, NZG 2017, 1034; BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 34, ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek); ferner B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 254 ff. 241) BGH, Urt. v. 11.2.2020 – II ZR 427/18, Rz. 32, ZRI 2020, 268 = NZG 2020, 517, dazu EWiR 2020, 263 (Nolting); Braun-Weber/Dömmecke, InsO, § 15b Rz. 16; Jakobs/Kruth, DStR 2021, 2534, 2535 f.; Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 22 m. w. N. 242) BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 44 ff., ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek); kritisch dazu Altmeppen, ZIP 2021, 1 ff. 243) Sander in: FS Bergmann, S. 583, 600 f.; Koch, AktG, § 92 Rz. 42; Casper, ZIP 2016, 793, 796; offenlassend für Zug-um-Zug-Leistungen unterdessen noch BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 46, ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek).
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
§8
solvenz vorhandene Gesellschaftsvermögen im Interesse der Gläubiger zu schützen.244) Zugleich soll es verhindern, dass die Geschäftsleitung in diesem vorgerückten Stadium ungehindert Insolvenzforderungen einzelner Gläubiger befriedigt.245) Offengelassen hat der BGH bislang, ob eine Forderung, die die Schuldnerin erwirbt, die 103 zahlungsbedingte Masseschmälerung gleichermaßen kompensieren kann.246) Entgegenhalten wird dem, dass der ausgleichende Vermögenswert noch nicht endgültig zugeflossen sei.247) Der Erwerb und die Durchsetzbarkeit der Forderung seien vielmehr nur logische Durchgangsschritte auf dem Weg zum Massezufluss.248) Richtigerweise muss jedoch auch eine Forderung Berücksichtigung finden, zumindest wenn sie vollwertig, durchsetzbar und auf Geld gerichtet ist.249) Bilanziell handelt es sich in diesem Fall um einen gleichwertigen Aktivtausch, bei dem die erlangte Forderung für die Masse ohne zusätzlichen Aufwand verwertet werden kann. Abseits davon sollte es dem Insolvenzverwalter freistehen, ob er die nicht vollwertige oder nicht auf Geld gerichtete Forderung gegen den Dritten durchsetzt oder – gegen Abtretung der Forderung – den Geschäftsleiter auf Erstattung in Anspruch nimmt.250) 2.2.1.3
Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang
Auch für sich genommen masseschmälernde Zahlungen können wie gesehen unter den 104 Voraussetzungen des § 15b Abs. 2 Satz 1 und 2 InsO erlaubt sein. Zu den Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang gehören grundsätzlich all diejenigen Vorgänge, mit denen eine zur Aufrechterhaltung des Betriebs objektiv erforderliche Gegenleistung abgegolten wird,251) unabhängig davon, ob Letztere die Aktivmasse erhöht oder nicht. Die neu gefasste Vorschrift lockert den strengen Maßstab, den die Rechtsprechung an die Notgeschäftsführung angelegt hat. Erlaubt sind deshalb nunmehr ausdrücklich auch Zahlungen auf bislang nicht privilegierte Dienstleistungen.252) Daneben erfasst sind Lohnzahlungen an Arbeitnehmer, die für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs benötigt werden, die Begleichung von Strom-, Wasser- und Gasrechnungen sowie allgemein Zahlungen an die Lieferanten notwendiger Produktionsmittel.253) Die Begleichung von Altforderungen kann dagegen nur ausnahmsweise zur Aufrechterhaltung des Betriebs erforderlich sein, und zwar ___________ 244) BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 43, 45, ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, Rz. 15, NZG 2016, 550, dazu EWiR 2016, 329 (Seidel). 245) BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 43, 47, ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek); OLG München, Urt. v. 22.6.2017 – 23 U 3769/16, Rz. 52, NZG 2017, 1437, dazu EWiR 2017, 753 (Kleindiek); Bitter/Baschnagel, ZInsO 2018, 557, 586. 246) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 16, BGHZ 203, 218 = NZG 2015, 149, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt). 247) OLG München, Urt. v. 22.6.2017 – 23 U 3769/16, Rz. 42, NZG 2017, 1437, dazu EWiR 2017, 753 (Kleindiek); H.-F. Müller, DB 2015, 723, 725; Arnold in: Henssler/Strohn, GesR, § 64 GmbHG Rz. 20c; Bitter/Baschnagel, ZInsO 2018, 557, 587; Habersack/Foerster, ZHR 178 (2014) 387, 415; einordnend H.-F. Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 175. 248) Vgl. auch Casper, ZIP 2016, 793, 797. 249) Ähnlich Lutter/Hommelhoff-Kleindiek, GmbHG, § 64 Rz. 20 – „so gut wie Bargeld“; wohl auch H.-F. Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 175; ferner Casper, ZIP 2016, 793, 797; weitergehend für Berücksichtigung jeder Forderung Altmeppen, ZIP 2015, 949, 951; in diese Richtung auch Sander in: FS Bergmann, S. 583, 600. 250) B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 278 f.; in diese Richtung auch schon Habersack/ Foerster, ZHR 178 (2014) 387, 415. 251) Braun-Weber/Dömmecke, InsO, § 15b Rz. 26. 252) Vgl. Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 194. 253) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 43.
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§8
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
wenn andernfalls die (faktische) Kündigung einer für die Gesellschaft unabdingbaren Geschäftsbeziehung durch den begünstigten Gläubiger droht.254) 2.2.1.4
Darlegungs- und Beweislast
105 Die Darlegungs- und Beweislast, dass die infrage stehende Zahlung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar war255) oder durch eine zugeflossene Gegenleistung (teilweise) kompensiert wurde,256) trifft den Geschäftsleiter. Soweit es ihm nicht gelingt, die kompensierende Wirkung der einzelnen Gegenleistungen darzulegen, steht es ihm frei, zumindest einen insgesamt geringeren Gläubigerschaden nachzuweisen, als ihn die Summe der verbotenen Zahlungen vermuten ließe.257) Seine Ausgleichspflicht beschränkt sich in diesem Fall auf ebendiesen Schaden (§ 15b Abs. 4 Satz 2 InsO).258) 2.2.2 Übergang in die Notgeschäftsführung 106 Um den rechtlichen Vorgaben bei der Fortführung des im Grunde insolvenzreifen Unternehmens gerecht zu werden, bedarf es einer umfangreichen Krisen-Compliance.259) Die Geschäftsleitung ist verpflichtet, das Unternehmen so zu organisieren und zu beaufsichtigen, dass aus ihm heraus, einschließlich der Geschäftsleitung selbst, keine Gesetze verletzt werden.260) Im eigenen Interesse geht es um Haftungsvermeidung;261) im Interesse der Gläubiger um den Erhalt des haftenden Gesellschaftsvermögens. Mit Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ist deshalb unmittelbar zur sog. – wenn auch durch § 15b InsO nun etwas großzügiger gefassten – Notgeschäftsführung überzugehen. Sämtliche Zahlungen sind also vor Veranlassung darauf zu überprüfen, ob sie zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs oder aus sonstigen Gründen zwingend erforderlich und deshalb mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind. Entscheidend ist, ob ein objektiver, rational denkender Gläubiger der Zahlung zur vorläufigen Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs zugestimmt hätte.262) Zahlungen, die diesen Anforderungen nicht genügen, haben auch dann zu unterbleiben, wenn sich die Gesellschaft dadurch vertragsbrüchig macht. 107 Zugleich soll die Notgeschäftsführung aber auch die notwendige Handlungsfähigkeit sicherstellen, um kurzfristig erfolgversprechende Sanierungsmaßnahmen im Antragszeitraum weiterverfolgen zu können. Gerade wenn das Unternehmen diesen riskanteren Weg der außergerichtlichen Sanierung wählt, haben Berater, CRO und Generalhandlungsbevollmächtigter mit Aufnahme ihrer Tätigkeit zu prüfen, ob eine ausreichende D&O-Versicherung abgeschlossen und die fälligen Prämien gezahlt wurden. ___________ 254) Bitter, ZIP 2021, 321, 326; Braun-Weber/Dömmecke, InsO, § 15b Rz. 26. 255) BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 246, 275 = NZG 2001, 361, dazu EWiR 2001, 329 (Priester). 256) BGH, Urt. v. 18.3.1974 – II ZR 2/72, NJW 1974, 1088, 1089; OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.6.1999 – 6 U 65/97, NZG 1999, 1066, 1067; Sander in: FS Bergmann, S. 583, 591; Windel, KTS 1991, 477, 486. 257) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 69; Bitter, ZIP 2021, 321, 329; Bitter, GmbHR 2020, 1157, 1158; Brinkmann, ZIP 2020, 2361, 2367; Gehrlein, DB 2020, 2393, 2397 f.; Poertzgen, ZInsO 2020, 2509, 2516. 258) Kübler/Prütting/Bork-Bork/B. Kebekus, InsO, § 15b Rz. 69. 259) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 2, 4; Tresselt/Schlott, KSzW 2017, 192. 260) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345, 346 – für den Vorstand der AG, dazu EWiR 2014, 175 (Hahn); allg. Leinekugel in: Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbHGeschäftsführung, § 18 Rz. 16. 261) S. auch Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 4. 262) Bitter, ZIP 2021, 321, 326.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung 2.2.2.1
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Freigabe von Zahlungen
Zur Haftungsvermeidung sollten grundsätzlich sämtliche relevanten Vorgänge vor Freigabe 108 der Zahlung auf einen möglichen Verstoß gegen das Zahlungsverbot überprüft werden. In komplexeren, größeren Unternehmen kann das einer umfangreicheren Vorbereitung bedürfen. Es empfiehlt sich die Zuständigkeit für die Freigabe von Zahlungen beim insolvenzrechtsversierten Generalhandlungsbevollmächtigten bzw. der Geschäftsleitung (CRO) oder dem anwaltlichen Berater zu bündeln.263) Fortlaufend anfallende Zahlungen sollten systematisiert, klassifiziert und en bloc zur Freigabe vorgelegt werden. Erteilte Lastschriften sind zu widerrufen.264) Typischerweise für den Geschäftsbetrieb erforderliche Zahlungen, wie etwa Löhne und 109 Gehälter oder Zahlungen für den Bezug von Energie, Telekommunikationsleistungen oder zentraler Produktionsmittel,265) können als solche gelistet und damit zeitnah ohne nähere Einzelprüfung freigegeben werden. Umgekehrt können auch per se verbotene Zahlungen gelistet und dadurch das Risiko verringert werden, dass etwa gegenüber besonders nachdrücklich auftretenden Gläubigern unzulässigerweise Insolvenzforderungen beglichen werden. 2.2.2.2
Etablierung eines Dokumentations- und Monitoring-Systems
Sämtliche Zahlungs- und Prüfungsvorgänge sind ausreichend zu dokumentieren. Im Fall 110 einer möglichen späteren Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter liegt es am Geschäftsleiter, nachzuweisen, dass die nach Eintritt der materiellen Insolvenz veranlassten Zahlungen keinen Verstoß gegen das Verbot darstellen (§ 15b Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 InsO). Zu diesem Zweck ist ein Monitoring-System zu etablieren, in dem alle Zahlungsfreigaben, Zahlungsempfänger sowie Mittelab- und -zuflüsse mit Datum, Freigabe und Höhe vermerkt werden. Angesichts einer möglichen Kompensation der eingetretenen Masseschmälerung ist jeder Zahlung ihre im Gegenzug ggf. zugeflossene Gegenleistung zuzuordnen. Unterlagen, die die gleichwertige Verwertbarkeit der Gegenleistung, das Datum ihres Zuflusses und ihren wirtschaftlichen Zusammenhang mit der infrage stehenden Zahlung belegen, sind zu Beweiszwecken aufzubewahren.266) Zugleich kann dadurch sichergestellt werden, dass, soweit möglich, nur noch solche Forde- 111 rungen beglichen werden, für die die korrespondierende Gegenleistung noch nicht ins Gesellschaftsvermögen gelangt ist. Allerdings darf das Vorleistungsrisiko nicht außer Acht gelassen werden. Dass (nur) die Zug um Zug oder zeitlich nachfolgende Gegenleistung die Masseschmälerung ausgleichen kann (siehe dazu Rz. 102), nützt dem haftenden Geschäftsleiter wenig, wenn sie letztlich gar nicht oder nur teilweise zufließt.267) 2.2.2.3
Einrichtung eines Guthabenkontos
Zumindest eingehende Zahlungen dürfen mit Eintritt der materiellen Insolvenz nur noch 112 auf ein kreditorisch geführtes Konto der Gesellschaft erfolgen. Zahlungseingänge auf einem ___________ 263) Ähnlich Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 38. 264) Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 118. 265) S. auch Denkhaus in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3, A. I. Rz. 31. 266) Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 134. 267) Aus diesem Grund erkennt der BGH im Vorleistungskriterium zu Recht keinen Fehlanreiz, mit zunehmendem Risiko in Vorkasse zu treten. Außerdem sollten dem Geschäftsleiter durch die Berücksichtigung eines Masseausgleichs ohnehin keine zusätzlichen Handlungsbefugnisse eingeräumt werden, s. BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rz. 47, ZRI 2021, 29 = NZG 2021, 66, dazu EWiR 2021, 133 (Kleindiek).
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debitorischen Konto stellen nämlich verbotene Zahlungen an die Bank dar.268) Dasselbe gilt für Zahlungen von einem debitorischen Konto, wenn die kontoführende Bank besser gesichert ist als der Zahlungsempfänger und noch über freie Sicherheiten verfügt, die sie zur abgesonderten Befriedigung nach §§ 50 f. InsO berechtigen.269) 113 Sofern die Gesellschaft nicht bereits über ein Guthabenkonto bei einer Bank verfügt, die selbst bislang nicht Gläubigerin der Gesellschaft ist, ist deshalb ein solches Konto zur Zahlungsabwicklung einzurichten und fortlaufend im Soll zu halten.270) Kunden und Vertragspartner sind aufzufordern, ausstehende Zahlungen ab sofort nur noch auf dieses Konto vorzunehmen.271) Auch abgetretene Forderungen können, solange der (Global-)Zessionar die Einziehungsermächtigung nicht widerrufen hat, auf das neue Konto eingezogen werden.272) 2.2.2.4
Absehen von Risikogeschäften
114 Von riskanten Austauschgeschäften sollte unterdessen abgesehen werden. Das gilt vor allem in Konzernsachverhalten, wenn sich der jeweilige Vertragspartner als verbundene Gesellschaft seinerseits in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet. Zahlungen in ein konzernweites Cashpool-System sind deshalb bei fragwürdiger Bonität der Clearingstelle bzw. Muttergesellschaft genauso zu unterlassen wie die Bestellung von (Dritt-)Sicherheiten, Garantieübernahmen oder direkte Kreditvergaben.273) Bei Austauschgeschäften mit Dritten muss sich die Geschäftsleitung der vorleistenden Gesellschaft ein Bild davon machen, ob davon ausgegangen werden kann, dass der Vertragspartner seinerseits rechtzeitig und vollumfänglich leistet. Bei etwaigen Zweifeln sollte sie nicht vorschnell auf den Zufluss der (versprochenen) kompensierenden Gegenleistung vertrauen. Wenn sie trotz materieller Insolvenz mit erheblichem Risiko behaftete Geschäfte eingeht, kann sie sich schließlich auch kaum darauf berufen, die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters hinreichend beachtet zu haben (§ 15b Abs. 1 Satz 2 InsO). 2.3
Strafrechtliche Risiken
115 Die strafrechtlichen Risiken der vorinsolvenzlichen Unternehmensfortführung enden nicht bei § 15a Abs. 4 und 5 InsO, der die nicht, nicht rechtzeitige oder nicht richtige274) Insolvenzantragstellung unter Strafe stellt. Beachtung verdient insbesondere § 263 StGB. Zur Verwirklichung eines Eingehungsbetrugs reicht es aus, dass Leistungen eines ungesicherten Vertragspartners in Anspruch genommen werden, obwohl sich die Geschäftsleiter darüber im Klaren waren, dass die Leistung nicht oder aller Voraussicht nach nicht in voller Höhe ___________ 268) BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, Rz. 39 m. w. N., NZG 2016, 658, dazu EWiR 2016, 587 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 11, BGHZ 206, 52 = NZG 2015, 998, dazu EWiR 2015, 565 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 26.3.2007 – II ZR 310/05, Rz. 12, NZI 2007, 418. 269) BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 32, BGHZ 206, 52 = NZG 2015, 998, dazu EWiR 2015, 565 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, Rz. 26, NZG 2011, 303, dazu EWiR 2011, 257 (Giedinghagen). 270) Denkhaus in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3, A. I. Rz. 33. 271) BGH, Urt. v. 26.3.2007 – II ZR 310/05, Rz. 12, NZI 2007, 418; BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184, 188 = NJW 2000, 668, 669, dazu EWiR 2000, 295 (Noack); OLG Brandenburg, Urt. v. 12.1.2016 – 6 U 123/13, ZIP 2016, 923, 926, dazu EWiR 2016, 493 (Eichner). 272) Denkhaus in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3, A. I. Rz. 33. 273) Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 128. 274) Die nicht richtige Antragstellung ist indessen nur strafbar, wenn der Antrag rechtskräftig als unzulässig zurückgewiesen wurde (§ 15a Abs. 6 InsO).
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
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bezahlt werden kann,275) dem Vertragspartner die Zahlungsbereitschaft und -fähigkeit aber vorgespiegelt haben.276) Diesem Risiko kann durch eigene Vor- oder zumindest Zug-umZug-Leistungen, ausreichende Besicherungen des Vertragspartners oder dessen Aufklärung über die angespannte wirtschaftliche Lage entgegengewirkt werden.277) Abgesehen von den wirtschaftlichen und psychischen Belastungen, die mit einem oftmals 116 langwierigen Ermittlungsverfahren für betroffene Geschäftsleiter einhergehen,278) kann sich eine Verurteilung auch direkt auf die Karriere auswirken. Personen, die sich u. a. einer vorsätzlichen Insolvenzverschleppung strafbar gemacht haben oder wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurden, sind für die Dauer von fünf Jahren ab Rechtskraft des Urteils von der Übernahme eines Geschäftsführer- oder Vorstandsposten ausgeschlossen (§ 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 GmbHG, § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AktG).279) Relevant werden können zudem der Bankrott nach § 283 StGB, die Verletzung von Buch- 117 führungspflichten oder der Verlustanzeigepflicht (§ 283b StGB, § 84 GmbHG, § 401 AktG), die strafbare Gläubigerbegünstigung (§ 283c StGB) sowie allgemein die Vorschriften zum Kapitalanlage- oder Kreditbetrug (§§ 264a, 265b StGB), zur Untreue (§ 266 StGB) und zum Vorenthalten von Arbeitnehmer-Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB). Sanierungsberater, die bewusst die Augen vor einem strafbaren Verhalten der Geschäftsleitung verschließen oder dieses gar aktiv fördern, können sich mitunter als Täter, Anstifter oder Gehilfen strafbar machen.280) Das gilt erst recht für den CRO oder Generalhandlungsbevollmächtigten, der in verantwortlicher Position im Unternehmen tätig wird. Eine Eigenverwaltung ist in Kriminalinsolvenzen in der Regel ausgeschlossen (§ 270e Abs. 1 Nr. 1 InsO).281) 2.4
Anfechtungsrisiken
Gläubigerbenachteiligende Handlungen sind nach Eintritt der materiellen Insolvenz zu- 118 nehmend anfechtbar (§§ 130 bis 132 InsO). Rechtskundige Geschäftspartner, insbesondere Banken, schrecken in diesem Krisenstadium wegen der erheblichen Anfechtungsrisiken nicht selten vor weiteren Austauschgeschäften oder Finanzierungen zurück. Umso wichtiger ist es, auf anfechtungsfeste Konstellationen umzustellen, um den Geschäftsbetrieb in dieser kritischen Phase weiterhin aufrechterhalten zu können. 2.4.1 Rückgriff auf das Bargeschäftsprivileg Hierzu ist in erster Linie auf das Bargeschäftsprivileg in § 142 InsO zurückzugreifen. Da 119 der unmittelbare und gleichwertige Leistungsaustausch per Saldo betrachtet lediglich eine Vermögensumschichtung zur Folge hat,282) soll der Vertragspartner darauf vertrauen dürfen, dass die schuldnerische Erfüllungshandlung später nicht mehr angefochten wird.283) ___________ 275) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 40. 276) Im Detail Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 164 ff. 277) S. auch Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 40. 278) Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 156; Kuss, WPg 2009, 326, 329. 279) Tresselt/Lochmann in: HambKomm-RestruktR, Anh. 1, Abschn. 2 Rz. 41; Theiselmann in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Abschn. 3, Kap. 13 Rz. 159 ff. 280) Eingehend Pelz in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 37 Rz. 235 ff.; Cyrus/Köllner, NZI 2016, 288 ff. 281) Vgl. Henkel, ZIP 2015, 562, 566. 282) BAG, Urt. v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, Rz. 48, BAGE 147, 172 = NZI 2014, 372, dazu EWiR 2014, 291 (Huber); K. Schmidt-Ganter/Weinland, InsO, § 142 Rz. 4; Dauernheim/Blank in: FK-InsO, § 142 Rz. 1. 283) B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 53.
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§8
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Anders verhält es sich nur dann, wenn der andere Teil nicht schutzwürdig ist, weil die Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung (§ 133 Abs. 1 bis 3 InsO) vorliegen und er die Unlauterkeit des schuldnerischen Handelns erkannt hat. 120 Der Gesellschaft räumt die Ausnahmevorschrift des § 142 InsO den erforderlichen Handlungsspielraum ein, um auch nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zumindest teilweise weiter am Geschäftsverkehr teilnehmen und erfolgversprechende Sanierungsoptionen verfolgen zu können.284) Im Vergleich zu einem gleichermaßen anfechtungsausschließenden Ausgleich der Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) befreit § 142 Abs. 1 InsO von den Erfordernissen der fortwährenden haftungsrechtlichen Äquivalenz der ausgetauschten Leistungen und der strengen zeitlichen Abfolge des Austauschs285) und sorgt insoweit für mehr Rechtssicherheit bei den Beteiligten. In ihren engen zeitlichen Grenzen erlaubt die Vorschrift selbst die Bezahlung bereits erbrachter Leistungen und damit ein vorübergehendes Kreditieren des Gläubigers.286) 121 Auch die Vergütung des Sanierungsberaters oder Generalhandlungsbevollmächtigten kann über § 142 InsO anfechtungsfest abgewickelt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die erbrachten (Berater-)Leistungen einen praktischen Nutzen für die Schuldnerin haben bzw. ihr Vermögen anreichern und in angemessener Höhe vergütet werden.287) Die ausgetauschten Leistungen müssen insoweit gleichwertig, nicht aber zwingend gleichwertig verwertbar sein.288) Auch ernsthafte Bemühungen um eine letztlich gescheiterte außergerichtliche Sanierung können demnach in angemessener Höhe anfechtungsfest vergütet werden, wenn sie ernsthaft verfolgt wurden und nicht von vorneherein aussichtslos waren.289) Erweist sich die gezahlte Vergütung hingegen als unangemessen hoch, droht sie ggf. in voller Höhe angefochten zu werden.290) 122 Soweit die erbrachte Gegenleistung (wertmäßig) noch im Schuldnervermögen vorhanden ist, kann der Anfechtungsgegner sie rechtsfolgenseitig aus der Masse herausverlangen und – bei isolierter Anfechtung des Erfüllungsgeschäfts – den darüber hinausgehenden Wert seiner wiederauflebenden Erfüllungsforderung zur Insolvenztabelle anmelden (§ 144 InsO).291) Der großzügigere Drei-Monats-Rahmen des § 142 Abs. 2 Satz 2 InsO dürfte mangels Arbeitnehmerstellung des Empfängers allerdings weder auf den Sanierungsberater noch auf den Generalhandlungsbevollmächtigten (analog) Anwendung finden. 123 Relevant wird das Bargeschäftsprivileg daneben u. a. bei der Sicherheitenbestellung. So kann die Ausreichung eines neuen Darlehens an den Schuldner die Gegenleistung für die ___________ 284) BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, Rz. 15 m. w. N., NZG 2017, 1034; Kirchhof/Piekenbrock in: MünchKomm-InsO, § 142 Rz. 2 m. w. N. 285) Die gläubigerbenachteiligende Wirkung einer schuldnerischen Rechtshandlung kann schließlich nur durch eine Zug um Zug oder zeitlich nachfolgend zufließende Gegenleistung entfallen, vgl. Kirchhof/ Piekenbrock in: MünchKomm-InsO, § 142 Rz. 2. 286) BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, Rz. 39, BGHZ 167, 190 = NZI 2006, 469, dazu EWiR 2007, 117 (Pape); Thole, Gläubigerschutz, S. 376. 287) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 47, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385, dazu EWiR 2022, 274 (Freudenberg); BGH, Urt. v. 6.12.2007 – IX ZR 113/06, Rz. 24 f., NZI 2008, 173, dazu EWiR 2008, 409 (Freudenberg). 288) Nicht erforderlich ist dagegen, dass die Leistungen auch gleichwertig verwertbar sind, vgl. B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 92 m. w. N. 289) BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 47, ZRI 2022, 267 = NZI 2022, 385, dazu EWiR 2022, 274 (Freudenberg); BGH, Urt. v. 6.12.2007 – IX ZR 113/06, Rz. 23, NZI 2008, 173, dazu EWiR 2008, 409 (Freudenberg). 290) In BGH, Urt. v. 11.6.1980 – VIII ZR 62/79, BGHZ 77, 250 = NJW 1980, 1962, hat der BGH die Anfechtung eines überhöhten Beraterhonorars wohlgemerkt auf die benachteiligende Wertdifferenz beschränkt. 291) B. Kebekus, Die Gegenleistung in der Insolvenz, S. 167 ff., 180 f., 190.
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Anforderungen an die vorinsolvenzliche Unternehmensfortführung
§8
eingeräumten Sicherheiten, das Freiwerden werthaltiger Sicherheiten die Gegenleistung für die Rückführung des Darlehens darstellen.292) 2.4.2 Abstimmung mit Zahlungsverbot Aus Geschäftsleitersicht sind die Möglichkeiten, die das Bargeschäftsprivileg bietet, mit 124 Vorsicht zu genießen. Einer entsprechenden Anwendung der Regelungen des § 142 InsO auf die Geschäftsleiterhaftung wegen verbotener Zahlungen hat der BGH mangels vergleichbarer Interessenlage zu Recht eine Absage erteilt.293) Die Erstattungspflicht bei Verstoß gegen das Zahlungsverbot greift damit unabhängig davon ein, ob die Zahlung dem Bargeschäftsprivileg unterfallen ist oder nicht. Anfechtungsfeste Leistung und privilegierte Zahlung gehen mithin nicht zwingend Hand in Hand. Ein allzu großzügiger Rückgriff auf § 142 InsO kann sich für die Geschäftsleiter damit als 125 doppelt gefährlich erweisen. Schließlich droht ihnen nicht nur die eigene Inanspruchnahme nach § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO. Ist die Zahlung anfechtungsfest erfolgt, können sie sich im Nachhinein auch nicht mehr mit einem abzutretenden Anfechtungsanspruch (§ 255 BGB analog)294) an den Anfechtungsgegner wenden. Auch und gerade im Zusammenhang mit Bargeschäften nach Eintritt der materiellen Insolvenz ist es daher Aufgabe der Sanierungsberater wie auch eines CRO oder Generalhandlungsbevollmächtigten, sicherzustellen, dass sämtliche Zahlungen entweder schon nicht masseschmälernd sind oder zumindest den Anforderungen des nunmehr großzügiger gefassten § 15b Abs. 2 InsO genügen.
___________ 292) Kübler/Prütting/Bork-Bartels, InsO, § 142 Rz. 35 f. 293) BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, Rz. 12, NZG 2017, 1034. 294) Altmeppen, ZIP 1997, 1173, 11781; Altmeppen, ZIP 2001, 240, 242; Arnold in: Henssler/Strohn, GesR, § 64 GmbHG Rz. 35; H.-F. Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 216 m. w. N.; H.-F. Müller, DB 2015, 723, 727; ohne Verweis auf § 255 BGB analog: BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, Rz. 49 m. w. N., NZG 2016, 658, dazu EWiR 2016, 587 (Kleindiek).
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§9 Die Finanzierung der Betriebsfortführung Pluta
Übersicht I. 1.
Theoretische Grundlagen .......................... 1 Betriebsfortführung und Unternehmensfinanzierung......................... 1 2. Regel- und Insolvenzplanverfahren ............ 2 3. Systematisierung der Finanzierungsformen........................................................... 4 4. Umfang der Darstellung .............................. 8 II. Liquiditätsplanung...................................... 9 III. Finanzierung durch Verwertung ............ 17 1. Überblick .................................................... 17 2. Verwertung unbelasteter Gegenstände ..... 20 3. Verwertung belasteter Gegenstände ......... 26 4. Insbesondere: Forderungseinzug .............. 30 IV. Finanzierung durch Eigenkapital ........... 36 1. Überblick .................................................... 36 2. Kapitalerhöhung/Nachschüsse ................. 39 2.1 Grundlagen .................................... 39 2.2 Durchführung................................ 40 2.3 Vorteile und Risiken...................... 46 2.4 Personengesellschaften ................. 48 3. Kapitalschnitt ............................................. 49 3.1 Grundlagen .................................... 49
3.2 Durchführung................................ 50 3.3 Vorteile und Risiken...................... 53 3.4 Personengesellschaften ................. 54 4. Debt Equity Swap ...................................... 55 4.1 Grundlagen .................................... 55 4.2 Durchführung................................ 56 4.3 Vorteile und Risiken...................... 59 4.4 Personengesellschaften ................. 65 V. Finanzierung durch Fremdkapital.......... 66 1. Überblick.................................................... 66 2. Langfristige Kreditfinanzierung ................ 67 2.1 Massedarlehen................................ 67 2.2 Gesellschafterdarlehen .................. 83 3. Kurzfristige Kreditfinanzierung................ 85 3.1 Handelskredit ................................ 85 3.2 Kontokorrentkredit....................... 86 4. Kreditsubstitute ......................................... 88 4.1 Factoring ........................................ 89 4.2 Leasing ........................................... 95 5. Fortführungsvereinbarungen .................... 98 VI. Finanzierung durch die öffentliche Hand ......................................................... 102
Literatur: Altmeppen, Zur Rechtsstellung der Gläubiger im Konkurs gestern und heute, in: Festschrift für Peter Hommelhoff, 2012, S. 1; Ampferl, Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter in der Unternehmensinsolvenz, 2002; Andres/Hees, Weiterveräußerung von Vorbehaltsware im Insolvenzeröffnungsverfahren trotz Erlaubnis, NZI 2011, 881; Arnold, The Handbook of Corporate Finance, 2005; Bauer/Dimmling, Endlich im Gesetz(entwurf): Der Debt-Equity-Swap, NZI 2011, 517; Beyer, Die handels- und steuerrechtliche Behandlung eines Debt-Equity-Swap mit Genussrechten bei Kapitalgesellschaften, DStR 2012, 2199; Born, Aktuelle Steuerfragen im Zusammenhang mit Debt-Equity-SwapTransaktionen, BB 2009, 1730; Braun/Frank, Der Kreditrahmen gem. § 264 InsO als Finanzierungsinstrument des Sanierungsplans, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., 2009, S. 859; Braun/ Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz – Grundlagen, Gestaltungsmöglichkeiten, Sanierung mit der Insolvenzordnung, 1997 (zit. Unternehmensinsolvenz); Brugugnone, Insolvenzbedingte Vereinbarungen im Lichte des § 103 InsO, NZI 2012, 638; Decher/Voland, Kapitalschnitt und Bezugsrechtsausschluss im Insolvenzplan – Kalte Enteignung oder Konsequenz des ESUG, ZIP 2013, 103; Drukarczyk/Lobe, Finanzierung, 11. Aufl., 2014; Ehricke, Grundprobleme staatlicher Beihilfen an ein Unternehmen in der Krise im EG-Recht, WM Beilage 3/2001; Eilers, Der Debt Equity Swap – Eine Sanierungsmaßnahme für unternehmerische Krisensituationen, GWR 2009, 3; Engert, Die Haftung für drittschädigende Kreditgewährung, 2005; Ferran, Principles of Corporate Finance, 2008; Fink, Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung in der Unternehmensinsolvenz, 1998 (zit. Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung); Fischer, Haftungsrisiken für Insolvenzverwalter bei unterlassener Inanspruchnahme gewerblicher Prozessfinanzierung, NZI 2014, 241; Flitsch, Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens – Großer Wurf oder Stückwerk?, BB 2006, 1805; Fritze/Heithecker, Insolvenzplansanierung und EUBeihilfenrecht, EuZW 2010, 817; Ganter, Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungs- und Schutzschirmverfahren, NZI 2012, 433; Ganter, Betriebsfortführung durch den vorläufigen Verwalter trotz Globalzession?, NZI 2010, 551; Ganter, Sicherungsmaßnahmen gegenüber Aus- und Absonderungsberechtigten im Insolvenzeröffnungsverfahren, NZI 2007, 549; Gehrlein, Banken – vom Kreditgeber zum Gesellschafter – neue Haftungsfallen? (Debt-Equity-Swap nach ESUG), NZI 2012, 257; v. Gerkan/ Hommelhoff, Handbuch des Kapitalersatzrechts, 2. Aufl., 2002; Grub, Die Fortführungsvereinbarung in der Insolvenz, in: Festschrift für Klaus Hubert Görg, 2010, S. 201; Haarmeyer/Pape, Das Ende des zu allen Rechtshandlungen ermächtigten „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters, ZInsO 2002, 845; Hess/Fechner/Huber, Finanzierungsoptionen für ein Kreditinstitut im Insolvenzeröffnungsverfahren – unter besonderer Berücksichtigung der unechten Massekredite, NZI 2014, 439; Hill, Gläu-
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
bigerinteresse versus Kundeninteresse bei Fortführungsvereinbarungen in Insolvenzverfahren von Automobilzulieferern – Fortführungsvereinbarungen in einem Insolvenzverfahren aus der Automobilbranche, ZInsO 2014, 1513; Hess/Fechner/Freund/Körner, Sanierungshandbuch, 3. Aufl., 1998; Kirchhof, Masseverwertung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter, ZInsO 1999, 436; Jaffé, Massedarlehen: Defizite der Rechtslage in Deutschland und ein vergleichender Blick in die USA, in: Festschrift für Klaus Hubert Görg, 2010, S. 233; Knebel/Schmidt, Gestaltungen zur Eigenkapital-Optimierung vor dem Hintergrund der Finanzkrise, BB 2009, 430; Koenig/Pickartz, Stolpersteine in Brüssel umgehen: Genehmigungsfähige staatliche Umstrukturierungsbeihilfen müssen gut vorbereitet sein, BB 2001, 633; Krieger, Beschlusskontrolle bei Kapitalherabsetzungen, ZGR 2000, 885; Kuder, Besitzlose Mobiliarsicherheiten im Insolvenzantragsverfahren nach dem geänderten § 21 InsO, ZIP 2007, 1690; Kuntz, Die Kapitalerhöhung in der Insolvenz, DStR 2006, 519; Laroche, Einzelermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter, NZI 2010, 965; Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität in Insolvenzverfahren, 2010 (zit.: Planung und Beschaffung von Liquidität); Lwowski/Wunderlich, Insolvenzanfechtung von Kapitalherabsetzungs- und Umwandlungsmaßnahmen, NZI 2008, 595; Lwowski/Wunderlich, Insolvenzanfechtung von Kapitalerhöhungsmaßnahmen, NZI 2008, 129; Möhlenkamp, Beihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten – Die neuen Leitlinien der EUKommission im System des europäischen Beihilfenrechts, ZIP Beilage z. 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Befugnisse und Funktionen); Prütting/Stickelbrock, Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters – aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung, ZIP 2002, 1608; Redeker, Kontrollerwerb an Krisengesellschaften: Chancen und Risiken des Debt-Equity-Swap, BB 2007, 673; Reger/Stenzel, Der Kapitalschnitt auf null als Mittel zur Sanierung von Unternehmen – Gesellschaftsrechtliche, börsenzulassungsrechtliche und kapitalmarktrechtliche Konsequenzen, NZG 2009, 1210; Römermann, Ein Jahr ESUG. Eine Bestandsaufnahme aus dem Blickwinkel der GmbH-Beratung, GmbHR 2013, 337; Runge, Covenants in Kreditverträgen: Grenzen der Einflussnahme von Kreditinstituten, 2010; Schaaf/ Mushardt, Das Schicksal des Wahlrechts nach § 103 InsO bei Fortführungsvereinbarungen, BB 2013, 2056; Schmidt, K., Debt-to-Equity-Swap bei der (GmbH & Co.-)Kommanditgesellschaft, ZGR 2012, 566; Schmidt, K., Die sanierende Kapitalerhöhung im Recht der Aktiengesellschaft, GmbH und Personengesellschaft, ZGR 1982, 519; Schönfelder, Die Besicherung von Massekrediten im Insolvenzeröffnungsverfahren, WM 2007, 1489; Schluck-Amend/Seibold, Fortführungsvereinbarungen als Mittel der Unternehmensfortführung in der Insolvenz, ZIP 2010, 62; Seitz/Berne, Die Panazee gegen COVID-19: Das EU-Beihilferecht, EuZW 2020, 591; Sinz, Leasing und Factoring im Insolvenzverfahren, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 3. 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I.
Theoretische Grundlagen
1.
Betriebsfortführung und Unternehmensfinanzierung
1 Die Finanzierung der Betriebsfortführung in der Insolvenz ist eine spezielle Form der Unternehmensfinanzierung. Sie ist Unternehmensfinanzierung, weil sie der Finanzierung eines am Markt tätigen Unternehmens dient. Um eine spezielle Form der Unternehmensfinanzierung handelt es sich, weil die Insolvenz des Unternehmens zu besonderen tatsächlichen und rechtlichen Problemlagen führt, die gelöst werden müssen. Die Einordnung der Finanzierung der Betriebsfortführung als besondere Form der Unternehmensfinanzie170
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
rung ist von doppeltem Erkenntniswert: Zum einen eröffnet dieser Verständniszugang den Zugriff auf den theoretischen Unterbau, den die Betriebswirtschaftslehre für die Unternehmensfinanzierung geschaffen hat und noch schafft. Zum anderen sensibilisiert er dafür, dass herkömmliche Finanzierungsmodelle nicht unverändert auf die Situation der Insolvenz übertragen werden können, sondern dass sie im rechtlichen Detail der Abstimmung auf diese besondere Situation bedürfen. 2.
Regel- und Insolvenzplanverfahren
Die Finanzierung eines Betriebs ist im Kontext dieses Handbuches die Finanzierung eines 2 Unternehmens, über das ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Dieses Insolvenzverfahren kann die Gestalt eines Regel- oder eines Insolvenzplanverfahrens annehmen. Ob das eine oder das andere der Fall ist, hat auf die in Betracht kommenden Finanzierungsmöglichkeiten maßgeblichen Einfluss: Liegt ein Regelinsolvenzverfahren vor, so stellt sich die Frage der Finanzierung der Betriebsfortführung nur dann, wenn der Betrieb überhaupt fortgeführt werden soll. Das ist keineswegs immer, sondern nur dann der Fall, wenn die Veräußerung des Betriebs oder eines Teils hiervon im Wege der übertragenden Sanierung geplant ist. Wo dies nicht der Fall ist, ist das Regelinsolvenzverfahren ein reines Liquidationsverfahren, i. R. dessen Fragen der Betriebsfortführung oder ihrer Finanzierung regelmäßig keine Bedeutung erlangen. Anders im Insolvenzplanverfahren: Das Insolvenzplanverfahren ist auf die Erhaltung sowohl des Unternehmens als auch des Unternehmensträgers ausgerichtet, weshalb die Finanzierung eine seiner zentralen Fragen ist. Dem hat auch der Gesetzgeber Rechnung getragen: Die Vorschriften über das Insolvenzplanverfahren enthalten anders als diejenigen über das Regelinsolvenzverfahren Spezialvorschriften über die Finanzierung des fortzuführenden Unternehmens. Das eröffnete Insolvenzverfahren – sei es Regel- oder Planverfahren – ist nicht der einzige 3 Hintergrund, vor dem sich die Frage nach der Finanzierung der Betriebsfortführung stellt: Sie stellt sich auch schon im vorläufigen Insolvenzverfahren. Die Finanzierung der Betriebsfortführung wird in diesem Kapitel im Hinblick auf das eröffnete Insolvenzverfahren entwickelt. Das vorläufige Insolvenzverfahren findet nur dort Erwähnung, wo sich Unterschiede in der Implementierung eines Finanzierungsinstruments ergeben. Gleiches gilt für die Eigenverwaltung (einschließlich des Schutzschirmverfahrens), die kein eigener Verfahrenstyp, sondern eine Modalität der Durchführung von Regel- oder Insolvenzplanverfahren ist. 3.
Systematisierung der Finanzierungsformen
Die Finanzierung eines insolventen Unternehmens unterscheidet zwischen Innen- und 4 Außenfinanzierung. Die für die Fortführungsentscheidung relevante Innenfinanzierung besteht aus der Erzielung (positiver) liquiditätswirksamer Ergebnisse, sowie der verfahrensadäquaten Planung des Working Capital (Forderungen abzgl. Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen sowie Vorräte). Diese Innenfinanzierung gilt es zu stabilisieren. Aus zwei Gründen gestaltet sich das schwierig: x
Erstens: Die für die Fortführungsentscheidung im Insolvenzverfahren relevante Innenfinanzierung ist zunächst die Erzielung positiver liquiditätswirksamer Ergebnisse maßgeblich (Cashflow), da liquide Mittel, insbesondere Guthaben auf kreditorisch geführten Konten des Schuldners bei Banken, welche keine Insolvenzgläubiger sind, oftmals nicht bestehen. Gläubigerbanken entziehen in zulässiger Weise aufgrund des AGB-Pfandrechts gemäß Nr. 14 AGB-Banken bzw. Nr. 21 AGB-Sparkassen andernfalls bei Antragstellung die bei ihnen bestehende Liquidität dem Zugriff. Ein insolventes Unternehmen wird in der Regel aber bei Antragstellung nicht mehr über eine tragfähige Innenfinanzierung
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung verfügen, auf die der (vorläufige) Insolvenzverwalter zurückgreifen kann. Vielmehr ist gerade das Fehlen einer tragfähigen Innenfinanzierung in unheilvollem Verbund mit einer zu geringen Eigenkapitalquote die am häufigsten anzutreffende Insolvenzursache: Der betriebliche Umsatzprozess bildet kein Kapital mehr, sondern verbraucht es nur noch.1) Ziel muss es daher sein, mit entsprechenden Restrukturierungsmaßnahmen im Insolvenzverfahren diesen Prozess umzukehren. Für den Fall der Eigenverwaltung ist dies bereits bei Stellung des Antrags zu dokumentieren („Konzept“ gemäß § 270a Abs. 1 Nr. 2 InsO bzw. „Bescheinigung“ gemäß § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO).
x
Zweitens: Selbst wenn das Unternehmen aus dem betrieblichen Umsatzprozess noch Liquidität schöpfen kann, so resultiert die für das Insolvenzverfahren relevante Innenfinanzierung letztlich aus der Liquidität, die dem Unternehmen von seinen Kunden zufließt. Die insolvenzrechtliche Praxis zeigt indes, dass Forderungen gegen Kunden praktisch immer zur Sicherheit an Fremdkapitalgeber abgetreten sind. Sie stehen deshalb zur Finanzierung der Betriebsfortführung nur nach Abschluss eines sog. („unechten“) Massekredits mit entsprechender Besicherung der Neuforderungen zur Verfügung.2) Hierauf wird später – im Abschnitt über den Forderungseinzug – zurückzukommen sein. Darüber hinaus bestehen seitens der Lieferanten, der Vermieter oder Fremdkapitalgeber meist Rechte an den Waren/Rohstoffen und ggf. auch an den Surrogaten wie Forderungen. Das Konzept der Fortführung muss die Abgrenzung der verschiedenen Rechte und die für die Fortführung des Betriebs relevanten Verträge in Einklang bringen. Aus diesem Grund ist die Analyse der Bestandssituation als Grundlage der weiteren Planung unerlässlich.
5 Im Rahmen der Außenfinanzierung kann die Eigenfinanzierung von der Fremdfinanzierung unterschieden werden.3) Mit diesen Oberbegriffen korrespondieren auf der Ebene des Unternehmens die Begriffe Eigenkapital und Fremdkapital. Eigenfinanzierung ist die Finanzierung durch Eigenkapital, Fremdfinanzierung diejenige durch Fremdkapital. Eigenund Fremdkapital entsprechen den in § 266 Abs. 3 A. bzw. C. HGB ausgewiesenen Positionen. Während die Darstellung der Instrumente der Fremdfinanzierung weitestgehend ohne rechtsformspezifische Differenzierungen auskommt (mit der wichtigen Ausnahme des Rechts der Gesellschafterdarlehen), ist dies bei der Eigenfinanzierung anders: Die Art der Eigenfinanzierung unterscheidet sich je nachdem, ob Unternehmensträger eine natürliche Person, eine Personengesellschaft oder eine Kapitalgesellschaft ist. Die Darstellung der Eigenfinanzierung wird hier aus Raumgründen exemplarisch anhand der Kapitalgesellschaften deutschen Rechts – GmbH und AG – entwickelt.4) Den Personengesellschaften ist jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem die sie jeweils betreffenden Besonderheiten komprimiert dargestellt sind. Unternehmensträger anderer Rechtsformen finden nur Erwähnung, wo dies zum besseren Verständnis erforderlich ist.
___________ 1) 2) 3) 4)
172
Voigt-Salus in: Mohrbutter/Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 23 Rz. 24. Vgl. Voigt-Salus in: Mohrbutter/Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 23 Rz. 183. Damit folgen wir Drukarczyk/Lobe, Finanzierung, S. 31 f.; Zantow/Dinauer/Schäffler, Finanzwirtschaft des Unternehmens, S. 43. Eine vollständige rechtsformspezifische Darstellung der Eigenfinanzierung findet sich bei Zantow/ Dinauer/Schäffler, Finanzwirtschaft des Unternehmens, S. 60 – 115, oder Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 75 – 195. Monografische Abhandlungen zur Finanzierung der Betriebsfortführung sind Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität in Insolvenzverfahren und Fink, Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung in der Unternehmensinsolvenz.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
Eigen- und Fremdfinanzierung weisen eine Reihe von Charakteristika auf, die sich wie 6 folgt systematisieren lassen:5) x
Eigenkapital zeichnet sich aus durch das Risiko des Totalverlusts in der Insolvenz (vgl. § 199 InsO), die Vermittlung von Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen, den unmittelbaren Zugang zu Informationen über die Gesellschaft, die Beteiligung am Unternehmenswert und die Beteiligung am Gewinn des Unternehmens. Das Paradigma des Eigenkapitalgebers ist der Gesellschafter.
x
Fremdkapital ist gekennzeichnet durch die quotale Beteiligung an der Insolvenzmasse, das Fehlen von Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen, den fehlenden Zugang zu Informationen über die Gesellschaft, das Fehlen einer Beteiligung am Unternehmenswert und die feste Verzinsung. Das Paradigma des Fremdkapitalgebers ist der Darlehensgeber. Die Forderung des Darlehensgebers ist regelmäßig besichert, was den fehlenden Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen und den fehlenden Zugang zu Informationen über die Gesellschaft ausgleichen soll.
Der Gewinnanteil des Gesellschafters und die Verzinsung des Darlehensgebers unterliegen 7 unterschiedlicher Besteuerung. Schließlich ist zu beachten, dass Eigen- und Fremdfinanzierung nicht beziehungslos nebeneinander stehen: Je größer die Eigenkapitalquote ist, desto geringer sind die Kosten der Aufnahme von Fremdkapital. Diese Charakteristika sind die wesentlichen Parameter der Finanzierungsentscheidung.6) Sie werden bei der Gegenüberstellung von Risiken und Vorteilen bestimmter Finanzierungsinstrumente später in diesem Kapitel nicht mehr eigens erwähnt, denn dort geht es nur noch um die spezifischen Vorteile und Risiken eines bestimmten Finanzierungsinstruments. Sie müssen aber stets mitbedacht werden. 4.
Umfang der Darstellung
Dieses Kapital enthält im Folgenden eine Skizze der von jedem Insolvenzverwalter zu leis- 8 tenden Liquiditätsplanung. Es enthält sodann eine nach Verwertungsmaßnahmen, Eigenund schließlich Fremdfinanzierung geordnete Darstellung der Instrumente, von denen ein Insolvenzverwalter Gebrauch machen kann, wenn er – wie R.-D. Mönning in der ersten Auflage dieses Buches schrieb – bei Amtsantritt leere Kassen vorfindet.7) Den Schluss des Kapitels bildet ein Überblick über die Möglichkeiten, die Betriebsfortführung aus öffentlichen Finanzierungshilfen zu bestreiten. Dieses Kapitel enthält keine steuerliche Beurteilung der einzelnen Finanzierungsinstrumente; insofern muss der Leser auf speziellere Publikationen verwiesen werden, die, wenn sie von besonderer Bedeutung, Sachnähe oder Prägnanz sind, im Fußnotenapparat ausgewiesen sind. Ferner enthält dieses Kapitel keine Darstellung des Insolvenzgelds. Diese wichtige Finanzierungsquelle wird dem Grundsatz möglichst geschlossener Darstellung Rechnung tragend im Kapitel über die arbeitsrechtlichen Aspekte der Betriebsfortführung ausführlich behandelt (siehe dazu Dreschers, § 25). ___________ 5)
6) 7)
Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 371 f. Die folgende Systematisierung bedarf in zweierlei Hinsicht der Erläuterung. Erstens: Die dargestellten Merkmale müssen nicht alle gemeinsam und nicht alle in maximaler Ausprägung vorliegen; sie stellen ein bewegliches System dar, das Mischformen zwischen Fremd- und Eigenkapital (sog. „Mezzanine“) zulässt (dazu Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 173 – 179). Zweitens: Darlehensgeber streben danach, ihre Rechtsstellung namentlich in puncto Entscheidungsbefugnis und Informationszugang vertraglich an die eines Gesellschafters anzunähern (monografisch Runge, Covenants in Kreditverträgen: Grenzen der Einflussnahme von Kreditinstituten). Geschieht dies im Übermaß, ist die Anwendung der §§ 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, 135 InsO die Folge. Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 373-376. R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 314.
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Die Insolvenzanfechtung8) und der Lastschriftwiderruf9) schließlich, die, werden sie schnell und erfolgreich durchgeführt, ebenfalls der Finanzierung der Betriebsfortführung dienen können,10) finden nur in Form dieses Hinweises Erwähnung. Zur Frage der Betriebsfortführung bei Masseunzulänglichkeit siehe von Websky;11) mit der speziellen Frage der Prozessfinanzierung beschäftigt sich Fischer.12) II.
Liquiditätsplanung
9 Unternehmen sind auch außerhalb eines Insolvenzverfahrens zur (Liquiditäts-)Planung verpflichtet. § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG verpflichtet den Vorstand einer AG dem Aufsichtsrat über die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung zu berichten. Gerade auch die Erfüllung der gesetzlichen Pflichten (§§ 15a, 15b InsO, § 43 GmbHG) bedingt die Implementierung einer an das jeweilige Unternehmen angepassten Planung, deren Anforderungen mit zunehmender Vertiefung der Krise steigen. Es ist heute unbestritten, dass zur Betriebsfortführung im vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahren die Erstellung einer Liquiditätsplanung gehört.13) Sofern ein Antrag auf Anordnung einer Eigenverwaltung geplant ist, hat der Schuldner diesem Antrag bereits eine Eigenverwaltungsplanung gemäß § 270a Abs. 1 Nr. 1 – 5 InsO beizufügen. Die Planung ist zudem unabdingbare Voraussetzung dafür, dass der vorläufige Sachwalter seine Zustimmung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten oder sonstigen Verpflichtungen – gleich, ob gemäß § 275 Abs. 2 InsO oder gemäß § 277 Abs. 1, Abs. 2 InsO – erteilt. 10 Eine sorgfältig erarbeitete und tragfähige Liquiditätsplanung erleichtert die Verhandlungen mit potentiellen Eigen- oder Fremdkapitalgebern,14) namentlich im Zusammenhang mit Sanierungsplänen.15) Die Erstellung, laufende Überprüfung und Aktualisierung einer Liquiditätsplanung ist i. Ü. eine insolvenzspezifische Sorgfaltspflicht i. S. der §§ 60 Abs. 1 Satz 1, 61 Satz 1 InsO.16) Ihre Verletzung kann mithin zur persönlichen Haftung des Insolvenzverwalters führen. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur dann, wenn vom Insolvenzverwalter begründete Masseverbindlichkeiten nicht bedient werden können.17) Missachtet der Verwalter seine Verpflichtung zur Erstellung einer Liquiditätsplanung, so soll ihm das Insolvenzgericht nach teilweise vertretener Ansicht die Betriebsfortführung im Wege einer ___________ 8) 9) 10) 11) 12) 13)
14) 15) 16)
17)
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R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 1033 ff. Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität, S. 150 – 154. R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, S. 250 ff. v. Websky, ZInsO 2014, 1468. Fischer, NZI 2014, 241. Braun-Böhm, InsO, § 22 Rz. 45; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 100; Voigt-Salus in: Mohrbutter/ Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 23 Rz. 166; Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199, 211; die Prüfung einer Liquiditätsplanung gehört schon allein aus Gründen der Haftungsvermeidung auch zu den Aufgaben eines schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters, vgl. Frind in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 A. III. 5. b), Rz. 73, 85. Voigt-Salus in: Mohrbutter/Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 23 Rz. 180 ff. v. Websky in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. VIII. 4. a), Rz. 33. BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 43/08, ZIP 2004, 1107; ausführlich zu dieser Entscheidung und den daraus abzuleitenden Anforderungen an die Liquiditätsplanung Gerbers in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 100 – 108; s. ferner OLG Karlsruhe, Urt. v. 4.2.2005 – 12 U 227/04, VersR 2005, 1681; OLG Celle, Urt. v. 25.2.2003 – 16 U 204/02, ZIP 2003, 587; Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität, S. 39 – 43; zur Möglichkeit der Entlastung durch einen Liquiditätsplan BGH, Urt. v. 17.12.2004 – IX ZR 185/03, ZIP 2005, 311, und LG Dortmund, Urt. v. 21.10.2010 – 2 O 10/10, ZIP 2010, 2413 (LS). Fink, Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung, Rz. 283 f.; s. Darstellung des Meinungsstandes der Haftung i. R. der Eigenverwaltung: Kübler/Prütting/Bork-Lüke, InsO, § 60 InsO Rz. 73 – 78.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
aufsichtlichen Maßnahme untersagen;18) richtiger erscheint jedoch, dass ihn das Gericht zunächst einmal dazu anhält, seiner Planungsverpflichtung nachzukommen. Die Liquiditätsplanung für das (vorläufige und eröffnete) Insolvenzverfahren sollte alle 11 relevanten Geschäftsvorfälle abbilden. In der Regel ist das sichergestellt, wenn die Liquiditätsplanung auf Basis einer integrierten Planung (Ertrags-, Bilanz- und Liquiditätsplanung) abgeleitet wird (sog. „indirekte“ Cashflow-Planung).19) Integrierte Planungen werden in der Regel auf Monatsbasis erstellt und dienen der Überwachung und Steuerung der Betriebsfortführung.20) Vereinfacht kann auch eine aus einer Ergebnisplanung abgeleitete Liquiditätsplanung erstellt werden (sog. „direkte Cashflow-Planung“).21) Diese wird in der Regel auf Wochenbasis erstellt. In der Praxis hat es sich bewährt, Liquiditätseffekte aus der Veränderung wesentlicher Bilanzpositionen, die das Working Capital betreffen (Vorräte, Forderungen aus Lieferungen und Leistungen [unterteilt in Alt- und Neuforderungseinzug], Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen [nach Insolvenzantrag]) unterhalb der Planung aufzunehmen. Dies sorgt für Transparenz, insbesondere für spätere Soll-/IstVergleiche des Liquiditätszu- und -abflusses in einem den Anforderungen des Betriebes gerecht werdenden Intervall.22) Der Planungshorizont reicht aus Sicht des vorläufigen Insolvenzverwalters bis zum Zeit- 12 punkt der geplanten Eröffnung des Insolvenzverfahrens, wobei Besonderheiten – wie etwa die Insolvenzgeldvorfinanzierung und Veränderung von Zahlungszielen – zu berücksichtigen sind.23) Wie weit der Planungshorizont des endgültigen Insolvenzverwalters reicht, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig: Bei Umsetzung eines Insolvenzplans kann der Planungshorizont ausnahmsweise ein Jahr oder sogar mehrere Jahre umfassen.24) Sollen die Gläubiger aus den Erträgen des vom Schuldner oder von einem Dritten fortgeführten Unternehmens befriedigt werden, so ist nach § 229 InsO dem Insolvenzplan ein entsprechender Ergebnis- und Finanzplan zwingend beizufügen. In der Praxis wird hierfür eine integrierte Unternehmensplanung (integrierte Ergebnis-, Bilanz- und Liquiditätsplanung) erforderlich sein.25) Die Anforderungen an die Eigenverwaltungsplanung gemäß § 270a Abs. 1 InsO umfassen 13 darüber hinaus: einen Finanzplan, der den Zeitraum von sechs Monaten abdeckt und eine fundierte Darstellung der Finanzierungsquellen enthält, durch welche die Fortführung des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs und die Deckung der Kosten des Verfahrens in diesem Zeitraum sichergestellt werden soll (Nr. 1); ___________ x
18) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 22 Rz. 67. 19) Mazur in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 1, B. II. 3., Rz. 64 ff., Teil 3 B. VI. 1., Rz. 1 ff.; allgemein auch Leitfaden des Instituts der Unternehmensberater IdU im Bundesverband Deutscher Unternehmensberater BDU e. V, Grundsätze ordnungsgemäßer Planung (GoP), S. 20 ff., abrufbar unter https://www.bdu.de/media/3706/gop-grundsaetze-ordnungsgemaesserplanung.pdf (Abrufdatum: 18.11.2022). 20) Mazur in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. VI. 1., Rz. 3 ff.; Funk in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 36 Rz. 75 ff. 21) Mazur in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. VI. 4., Rz. 15 ff.; Funk in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 36 Rz. 70 ff. 22) Mazur in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 1, B. II. 3. Rz. 64 ff., Teil 3 B. VI. 1., Rz. 1 ff.; Funk in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 36 Rz. 103 ff. 23) Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität, S. 61.; Mazur in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 1, B. II. 3., Rz. 64 ff., Teil 3 B. VI. 1., Rz. 1 ff. 24) Harmann in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 13 Rz. 27 ff.; Gerbers in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 104; Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität, S. 49 ff., 61. 25) Harmann in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 13 Rz. 27.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
x
ein Konzept für die Durchführung des Insolvenzverfahrens, welches auf Grundlage einer Darstellung von Art, Ausmaß und Ursachen der Krise das Ziel der Eigenverwaltung und die Maßnahmen beschreibt, welche zur Erreichung des Ziels in Aussicht genommen werden (Nr. 2);
x
eine Darstellung des Stands von Verhandlungen mit Gläubigern, den am Schuldner beteiligten Personen und Dritten zu den in Aussicht genommenen Maßnahmen (Nr. 3).
x
Im Übrigen muss die Fähigkeit sichergestellt sein, insolvenzrechtliche Pflichten zu erfüllen (Nr. 4), sowie
x
eine Vergleichsrechnung bezogen auf Mehr-/Minderkosten der Eigenverwaltung im Vergleich zur Regelinsolvenz (Nr. 5).
14 Im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren hat der Schuldner zudem dem Gericht und dem vorläufigen Sachwalter unverzüglich wesentliche Änderungen mitzuteilen, welche die Eigenverwaltungsplanung betreffen (§ 270c Abs. 2 InsO). Im Vergleich zum Regelinsolvenzverfahren ist dies ein deutlich erhöhter Maßstab im Zeitpunkt des Antrags. Dadurch soll sichergestellt werden, dass beantragte Eigenverwaltungen eine realistische Erfolgschance haben und für die Gläubigerinteressen nicht nachteilig sind.26) 15 Die Planung ist originär oder derivativ aus anderen geprüften Teil- oder Vorplänen, wie z. B. einer Ertragsplanung, zu bilden. Der Verwalter kann extrapolierende, kausale und pragmatische Prognosemethoden anwenden,27) sofern keine Methode isoliert Gegenstand der Planungsprognose ist. Bei der Quantifizierung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Prognoseansätzen – sie muss mehr als 50 % betragen – sind alternative Szenarien zu erstellen. Bei der Erstellung der Liquiditätsplanung hat der Insolvenzverwalter mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob Masseverbindlichkeiten bei Fälligkeit erfüllt werden können. Zur Absicherung der Zahlungsfähigkeit sollte eine Liquiditätsreserve vorgehalten werden. Über die Erstellung einer Bilanz- und Ertragsplanung kann eine integrierte Rechnung aufgebaut werden, die eine Kontrolle und Plausibilisierung der Liquiditätsplanung ermöglicht. 16 Der Insolvenzverwalter kann die Liquiditätsplanung selbst erstellen oder die Aufgabe an qualifizierte eigene Mitarbeiter oder externe Fachkräfte delegieren.28) Für eigene Mitarbeiter haftet der Verwalter nach § 278 BGB. Für externe Mitarbeiter wird die Haftung auf das Auswahlverschulden begrenzt. Setzt der Verwalter Mitarbeiter des Schuldners ein, so findet die Haftungserleichterung des § 60 Abs. 2 InsO Anwendung. Eine ungeprüfte Übernahme von Daten oder Plänen des Schuldnerunternehmens ist aber nicht exkulpationsfähig. III.
Finanzierung durch Verwertung
1.
Überblick
17 Das Primärinstrument der Finanzierung der Betriebsfortführung ist die Verwertung der Insolvenzmasse, im Wesentlichen also der Verkauf von nicht betriebsnotwendigem Anlage- und Umlaufvermögen und der Einzug von Forderungen. Zur Verwertung der Insolvenzmasse gehört auch der Verkauf von im betrieblichen Prozess erzeugten Waren und Dienstleistungen. Systematisch handelt es sich um Maßnahmen der Innenfinanzierung. 18 Bei der Darstellung ist zwischen der Verwertung unbelasteter und der Verwertung belasteter Gegenstände zu unterscheiden, wobei belastete Gegenstände solche sind, an denen ___________ 26) Kübler/Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 270a Rz. 15. 27) Gerbers in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 107; Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität, S. 62. 28) Funk in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 36 Rz. 53 (dort Fn. 35).
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung
Dritten Absonderungsrechte i. S. der §§ 49 f. InsO zustehen. Nicht gemeint ist der Fall, dass Dritten an den betreffenden Gegenständen Aussonderungsrechte i. S. des § 47 InsO zustehen. Gegenstände, die einem Aussonderungsrecht unterliegen, sind nicht Bestandteil der Insolvenzmasse. Sie dürfen nicht durch den Insolvenzverwalter verwertet werden. Geschieht dies doch, ist ein Ersatzaussonderungsanspruch nach § 48 InsO die Folge und, kann dieser nicht erfüllt werden, die persönliche Haftung des Verwalters nach § 61 InsO.29) Ferner ist zwischen der Situation des eröffneten und des vorläufigen Insolvenzverfahrens 19 zu unterscheiden. Dem Forderungseinzug durch den Insolvenzverwalter ist aufgrund der sehr ausdifferenzierten Rechtsprechung ein eigener Abschnitt gewidmet. Nicht Gegenstand der Darstellung ist die Frage, wie bestimmte Gegenstände zu verwerten sind. Hierüber geben speziellere Veröffentlichungen Auskunft.30) 2.
Verwertung unbelasteter Gegenstände
Primärquelle der Finanzierung der Betriebsfortführung ist die Verwertung unbelasteter 20 Gegenstände des Schuldnervermögens. Im eröffneten Insolvenzverfahren ist die Verwertung der Insolvenzmasse nach § 159 InsO die vornehmste Pflicht des Insolvenzverwalters und steht der Verwertungserlös zur Finanzierung der Betriebsfortführung ungeschmälert zur Verfügung. Komplizierter ist die Lage im vorläufigen Insolvenzverfahren: Der vorläufige Insolvenz- 21 verwalter ist ohne Zustimmung des Insolvenzgerichts nicht verwertungsbefugt.31) Das gilt unabhängig davon, ob es sich um einen „starken“ oder einen „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter handelt. Das Verwertungsverbot ergibt sich zum einen aus einem Umkehrschluss zu § 159 InsO, der das Verwertungsrecht dem Insolvenzverwalter zuweist, indem er für deren Beginn auf den Zeitpunkt des Berichtstermins abstellt: Der aber findet erst im eröffneten Verfahren statt. Zum anderen ergibt es sich aus der dogmatischen Konzeption der vorläufigen Insolvenzverwaltung: Sie ist eine Sicherungsmaßnahme. Das folgt aus § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 InsO, wonach der vorläufige Insolvenzverwalter die Aufgabe hat, das Vermögen des Schuldners zu sichern und zu erhalten, um die Verfahrenseröffnung zu ermöglichen und das folgende Verfahren vorzubereiten.32) Da im Antragsverfahren die Eröffnung des Verfahrens aber noch nicht feststeht, müssen nicht nur die Gläubiger, sondern muss auch der Schuldner vor Vermögenseinbußen geschützt werden.33) Eine Verwertung in diesem Verfahrensstadium würde diesem schuldnerbezogenen Schutzzweck zuwiderlaufen. Wenn es nun aber einerseits die Aufgabe des vorläufigen Insolvenzverwalters ist, den Betrieb 22 des Schuldners fortzuführen, er andererseits aber nicht dazu befugt ist, die für die Fortführung des Betriebs notwendige Liquidität aus der Verwertung des Vermögens des Schuldners zu generieren, dann wird klar, dass in der Konzeption der vorläufigen Insolvenzverwaltung ein Spannungsverhältnis angelegt ist, das der Auflösung bedarf. Der BGH sucht zur Lösung beizutragen, indem er der Praxis erlaubt, den Begriff der Verwertung nach § 159 InsO i. S. der endgültigen Umwandlung des Schuldnervermögens in Geld zum Zwecke der Gläu___________ 29) Ganter in: MünchKomm-InsO, § 48 Rz. 64. 30) Hörmann/Hansen in: Mohrbutter/Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 24 Rz. 47 ff. 31) BGH, Urt. v. 14.12.2000 – IX ZB 105/00, ZIP 2001, 296; BGH, Urt. v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, ZIP 2003, 632; BGH, Urt. v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, ZIP 2004, 42; BGH, Urt. v. 23.9.2004 – IX ZR 25/03, ZIP 2005, 40; BGH, Beschl. v. 12.1.2006 – IX ZB 127/04, Rz. 15 ff., ZIP 2006, 672 (Verwertungshandlung mit Zustimmung des Gerichts). 32) Pohlmann, Befugnisse und Funktionen, Rz. 388 und 390; Kirchhof in: HK-InsO, § 21 Rz. 2; zur Möglichkeit des vorläufigen Insolvenzverwalters, eine verjährungsbedrohte Forderung in eigenem Namen einzuziehen, s. BGH, Urt. v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, ZIP 2012, 737 = NZI 2012, 365. 33) Wegener in: FK-InsO, § 159 Rz. 3.
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
bigerbefriedigung von der dem vorläufigen Verwalter i. R. einer Fortführung gebotenen kaufmännischen Verwaltungstätigkeit als Teil laufender Umsatzgeschäfte zu unterscheiden.34) In der Literatur wurde der Satz geprägt, das für den vorläufigen Insolvenzverwalter geltende Verwertungsverbot erfasse nur Verwertungshandlungen im technischen Sinne.35) Gemeint ist in beiden Fällen dasselbe, nämlich, dass dem vorläufigen Verwalter solche Veräußerungen von Anlage- und Umlaufvermögen erlaubt sein müssen, die sich bei wertender Betrachtung nicht als Maßnahme der Verwertung i. S. der Liquidation des schuldnerischen Unternehmens, sondern als Maßnahme der Betriebsfortführung darstellen. 23 So sinnvoll das Bemühen ist, das in der Konzeption der vorläufigen Insolvenzverwaltung angelegte Spannungsverhältnis durch begriffliche Abgrenzungsarbeit aufzulösen, so klar ist auch, dass allein das Hantieren mit Begriffen das Problem nicht löst, sondern verschärft. Immerhin können allerdings die in der Literatur präsentierten Formulierungen Anhaltspunkte dafür liefern, was noch erlaubte Verwaltungsmaßnahme und was schon verbotene Verwertung ist: Ampferl schreibt, zulässig seien zunächst alle Veräußerungen, die i. R. des „gewöhnlichen Geschäftsbetriebs“ stattfinden (also z. B. Verkäufe von Lagerware oder von nicht mehr im Betrieb benötigtem Anlagevermögen). Außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs seien dagegen nur „kaufmännisch vernünftige Veräußerungen“ zulässig.36) Solche sollen vorliegen, wenn sie entweder der Beschaffung dringend benötigter Liquidität dienen37) oder der Betrieb auch ohne den verkauften Gegenstand aufrechterhalten werden kann38). Kirchhof schlägt für die Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Verwertungstätigkeit eine Orientierung an den Grundsätzen der Bruchteils- und Erbengemeinschaft vor.39) Nach Becker soll die subjektive Sicht des Verwalters entscheidend sein, also ob dieser selbst die Maßnahme als Bewirtschaftungsmaßnahme mit dem Nebeneffekt eines Erlöses oder als Maßnahme allein mit dem Zweck der Erlöserzielung ansieht.40) Anders argumentiert Reischl, nach dem es darauf ankommen soll, ob durch die konkrete Maßnahme in die „betriebsnotwendige Substanz“ eingegriffen wird.41) Nach Haarmeyer darf der vorläufige Insolvenzverwalter alle Handlungen vornehmen, „die in einem Schuldnerunternehmen vergleichbaren Umfangs anfallen würden“ und die „ein ordentlicher Kaufmann unter den jeweils gegebenen Umständen zur Unternehmensfortführung vornehmen würde“, also etwa Rohstoffe verarbeiten, Fertigprodukte verkaufen und Forderungen aus dem Erlös zur Masse einziehen.42) Die solchermaßen erlaubte Verwaltung des Schuldnervermögens umfasse ferner dessen Einsatz zur Absicherung nötiger Kredite und eine vermehrte, aber kaufmännisch vertretbare Veräußerung von Umlaufvermögen.43) 24 Über diesen Ansatz hinausgehend würden wir auch die Veräußerung von Teilen des Anlagevermögens für zulässig halten, sofern dem ein schlüssiges betriebswirtschaftliches Konzept über die Verkleinerung des Betriebs (z. B. einer Verminderung der Produktionskapazitäten) oder eine Änderung seines Schwerpunktes (z. B. Einstellung eines verlustbringenden Produktionszweigs oder Aufgabe eines Werkes) zu Grunde liegt. Derartige Veräußerungen ___________ 34) 35) 36) 37) 38) 39) 40) 41) 42) 43)
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BGH, Urt. v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, ZIP 2003, 632. Ampferl, Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter, Rz. 493 f. Ampferl, Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter, Rz. 498, 502 f. Ampferl, Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter, Rz. 509. Ampferl, Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter, Rz. 498. Kirchhof, ZInsO 1999, 436. Becker, InsR, Rz. 1326. Reischl, InsR, Rz. 156. Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, § 22 Rz. 76. Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, § 22 Rz. 76.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung
bedürfen allerdings als Teil einer grundlegenderen betriebswirtschaftlichen Entscheidung der Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses. Eine Ausnahme vom Verwertungsverbot ist mit der h. M. schließlich dann zu machen, 25 wenn entweder Einvernehmen über die Verwertung mit allen Beteiligten besteht, also sowohl mit dem Schuldner als auch mit den Gläubigern und dem Insolvenzgericht, oder wenn nur der Beteiligte und allein Betroffene einer Verwertung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter zustimmt.44) Dies folgt unmittelbar aus der doppelten Zweckbindung des Eröffnungsverfahrens, nämlich der Bestandsschutzgarantie und der Werterhaltungskomponente des Sicherungszwecks. Während die Bestandsschutzgarantie dazu dient, dem Schuldner für den Fall der Nichteröffnung des Verfahrens seine Vermögenswerte für eine Fortsetzung des Betriebes nach Möglichkeit zu erhalten, schützt die Werterhaltungskomponente die Gläubiger davor, i. R. des Eröffnungsverfahrens in ihren Befriedigungsaussichten durch nicht optimale oder unzulässige Handlungen des vorläufigen Insolvenzverwalters verletzt zu werden.45) 3.
Verwertung belasteter Gegenstände
Die Verwertungsbefugnis des Insolvenzverwalters erstreckt sich im eröffneten Insolvenz- 26 verfahren gemäß §§ 165 – 172 InsO auch auf Gegenstände, an denen ein Absonderungsrecht besteht. Vom Erlös der Verwertung einer beweglichen Sache oder einer Forderung darf der Verwalter gemäß §§ 170 Abs. 1 Satz 1, 171 InsO grundsätzlich 4 % Feststellungs- und 5 %46) Verwertungskosten einbehalten, und diese stehen in vollem Umfang zur Finanzierung für die Betriebsfortführung zur Verfügung. Für die Eigenverwaltung gilt abweichend davon, dass keine Feststellungskosten und lediglich die tatsächlichen Verwertungskosten berechnet werden können (§ 282 Abs. 1 InsO).47) Der übrige Verwertungserlös steht für die Finanzierung der Betriebsfortführung dagegen nur in sehr engen Grenzen zur Verfügung, denn er ist gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 InsO unverzüglich an den absonderungsberechtigten Gläubiger auszukehren. Nun heißt unverzüglich nicht sofort, sondern nur ohne schuldhaftes Zögern. Gleichwohl ist zu empfehlen, den Erlös aus der Verwertung von Absonderungsgut grundsätzlich nicht zur Finanzierung der Betriebsfortführung einzusetzen, denn geht der Erlös verloren, kann die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters die Folge sein.48) Schließlich ist der Schutz des Gläubigers durch die Verzinsung nach § 169 InsO zu berück- 27 sichtigen. Möglich ist dennoch eine Finanzierung durch den revolvierenden Einsatz von Sicherheitenerlösen, wenn die durch die Betriebsfortführung entstehenden neuen Sicherheiten i. S. eines Bargeschäfts (§ 142 InsO) an die Stelle der Altsicherheiten treten (sog. „unechter Massekredit“).49) Wiederum komplizierter ist die Lage im vorläufigen Insolvenzverfahren. Grundsätzlich 28 gilt für belastete Gegenstände insofern nichts anderes als für unbelastete Gegenstände: Ein vorläufiger Insolvenzverwalter ist zur Verwertung grundsätzlich nicht befugt (siehe oben Rz. 21 f.). Insbesondere verleiht eine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO dem vorläufigen Insolvenzverwalter keine Verwertungsbefugnis. Nach dieser Vorschrift kann das Insolvenzgericht zwar anordnen, dass Gegenstände, die im Falle der Eröffnung des ___________ 44) Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, § 22 Rz. 78. 45) Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, § 22 Rz. 78. 46) Lagen die tatsächlich entstandenen, für die Verwertung erforderlichen Kosten erheblich niedriger oder erheblich höher, so sind gemäß § 171 Abs. 2 Satz 2 InsO diese Kosten anzusetzen. 47) Kübler/Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 282 Rz. 7. 48) BGH, Urt. v. 2.12.1993 – IX ZR 241/92, ZIP 1994, 140, dazu EWiR 1994, 229 (Stadler); Andres/Hees, NZI 2011, 881, 884; Gundlach in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 266 – 269. 49) Pechartscheck/Zupancic in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 19 Rz. 34.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Verfahrens von § 166 InsO erfasst würden, vom Gläubiger nicht verwertet oder eingezogen werden dürfen, und dass solche Gegenstände zur Fortführung des Unternehmens des Schuldners eingesetzt werden können, soweit sie hierfür von erheblicher Bedeutung sind. Nach ganz h. M. verleiht eine solche Anordnung dem Insolvenzverwalter aber lediglich das Recht zur Nutzung, nicht das Recht zur Verwertung.50) Will der vorläufige Insolvenzverwalter eingezogene Forderungen zur Finanzierung einer Betriebsfortführung einsetzen, bedarf es dazu einer Verwertungsvereinbarung mit dem Sicherungsgläubiger.51) 29 Wie im Falle unbelasteter Gegenstände, so kann auch im Falle belasteter Gegenstände die Situation eintreten, dass der vorläufige Insolvenzverwalter ausnahmsweise zur Verwertung berechtigt ist. Ein denkbarer Fall ist der, dass einem mit einem Absonderungsrecht belasteten Gegenstand Verderb droht. Ist dem so, steht der Verwertungserlös zur Finanzierung der Betriebsfortführung nicht zur Verfügung, weil er unverzüglich an den Sicherungsgläubiger auszukehren ist. § 170 Abs. 1 Satz 1 InsO betreffend die Feststellungs- und Verwertungspauschale ist auch nicht analog anwendbar. Anderes gilt nur i. R. des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO.52) 4.
Insbesondere: Forderungseinzug
30 Für den Einzug von Forderungen gilt grundsätzlich das soeben zur Verwertung von unbelasteten und belasteten Gegenständen der Insolvenzmasse Ausgeführte. Im Detail weist der Einzug von verpfändeten oder zur Sicherheit abgetretenen Forderungen jedoch einige Besonderheiten auf, die eine gesonderte Darstellung rechtfertigen. Darum geht es nun. 31 Im eröffneten Insolvenzverfahren ist beim Einzug von verpfändeten oder zur Sicherheit abgetretenen Forderungen zu unterscheiden: x
Forderungen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, werden vorbehaltlich der Insolvenzanfechtung von einer vor Insolvenzeröffnung vereinbarten Sicherungsabtretung oder einem vor Insolvenzeröffnung vereinbarten Forderungspfandrecht erfasst. Geht es um eine Forderungsabtretung, so steht das Verwertungsrecht gemäß § 166 Abs. 2 InsO dem Insolvenzverwalter zu. Der Erlös aus dem Einzug der Forderung steht dem Insolvenzverwalter wegen der Verpflichtung zur unverzüglichen Herausgabe nach § 170 Abs. 1 Satz 2 InsO wiederum nur in engen Grenzen zur Finanzierung der Betriebsfortführung zur Verfügung (siehe unten Rz. 33). Geht es um ein Forderungspfandrecht, so steht das Verwertungsrecht nach h. M. nicht dem Insolvenzverwalter, sondern dem Pfandgläubiger zu;53) der Erlös aus der Verwertung der Sicherheit steht zur Finanzierung der Betriebsfortführung in diesem Fall überhaupt nicht zur Verfügung.
x
Forderungen, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen, werden von einer vor Eröffnung des Insolvenzerfahrens vereinbarten Sicherungszession nicht erfasst
___________ 50) Kübler/Prütting/Bork-Jacoby/Blankenburg, InsO, § 21 Rz. 205 f.; Kirchhof in: HK-InsO, § 21 Rz. 30 a. E. 51) Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, § 22 Rz. 82; Kirchhof in: HK-InsO, § 21 Rz. 3; Nerlich/RömermannR.-D. Mönning, InsO, § 21 Rz. 226; Schröder in: HambKomm-InsO, § 21 Rz. 69d a. E.; Vuia in: Gottwald/ Haas, InsR-Hdb., § 14 Rz. 103 f. 52) BGH, Urt. v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, ZIP 2004, 42; BGH, Urt. v. 23.9.2004 – IX ZR 25/03, ZIP 2005, 40; Büchler in: HambKomm-InsO, § 170 Rz. 12. 53) OLG Jena, Urt. v. 5.4.2005 – 5 U 529/04, ZInsO 2005, 550, 552; LG Tübingen, Urt. v. 17.11.2000 – 4 0 233/00, NZI 2001, 263, 264; AG Karlsruhe, Urt. v. 7.2.2008 – 12 C 490/07, ZIP 2009, 143 m. w. N.; Nerlich/Römermann-Becker, InsO, § 166 Rz. 38; Braun-Dithmar, InsO, § 166 Rz. 15; Kübler/Prütting/ Bork-Flöther, InsO, § 166 Rz. 21; Landfermann in: HK-InsO, § 166 Rz. 27; Lwowski/Tetzlaff in: MünchKomm-InsO, § 166 Rz. 45; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 166 Rz. 30; Wegener in: FK-InsO, § 166 Rz. 9.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
(§ 91 Abs. 1 InsO).54) Anders ist nur zu entscheiden, wenn der Insolvenzverwalter selbst eine neue Sicherungszession vornimmt, etwa um ein Massedarlehen zu besichern (siehe dazu unten Rz. 75 ff.). Tritt dann der Sicherungsfall ein, steht der Erlös aus dem Forderungseinzug dem Sicherungszessionar zu. In allen genannten Fällen gilt, dass Insolvenzverwalter und gesicherter Gläubiger selbstverständlich eine Verwertungsvereinbarung anderen Inhalts schließen können. Was den Forderungseinzug im vorläufigen Insolvenzverfahren angeht, so können hinsicht- 32 lich des Einzugs verpfändeter oder zur Sicherheit abgetretener Forderungen zwei Konstellationen voneinander unterschieden werden: Möglich ist einerseits, dass der Sicherungsgläubiger die dem Schuldner im Sicherungsvertrag 33 erteilte Einziehungsermächtigung nach Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung widerruft. In diesem Fall ist weiter zu unterscheiden: x
Hat das Gericht eine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO getroffen, so kann der Insolvenzverwalter die Forderung einziehen.55) Wie aus dem Verweis auf §§ 170, 171 InsO folgt, muss er den Erlös allerdings unverzüglich unter Abzug seiner Kostenpauschale an den Sicherungsgläubiger herausgeben.56) Nach dem Willen des Gesetzgebers dürfen Erlöse aus dem Forderungseinzug auf der Grundlage einer Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO nicht zur Finanzierung der Betriebsfortführung verwendet werden.57) Geschieht dies doch, droht die persönliche Haftung des Verwalters.58) Der Einsatz von Erlösen zur Finanzierung der Betriebsfortführung ist bei einer Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO nur auf der Grundlage einer Verwertungsvereinbarung möglich.59)
x
Hat das Insolvenzgericht keine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO getroffen und zieht der vorläufige Insolvenzverwalter eine zur Sicherheit abgetretene oder verpfändete Forderung ein, so geschieht dies „unberechtigt“ i. S. des § 48 InsO und steht dem Sicherungszessionar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Ersatzabsonderungsrecht zu.60) In diesem Fall ist der vorläufige Insolvenzverwalter schlecht beraten, wenn er die aus dem Forderungseinzug erzielten Erlöse ohne Verwertungsvereinbarung mit dem Sicherungsgläubiger für die Finanzierung der Betriebsfortführung verbraucht und deshalb später nicht mehr in der Lage ist, das Ersatzabsonderungsrecht zu bedienen: Er haftet dann persönlich.
Denkbar ist ferner, dass der Sicherungszessionar die Einziehungsermächtigung nicht 34 widerruft. Auch hier ist zu unterscheiden: x
Liegt eine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO vor, so gilt das oben Gesagte entsprechend.
Liegt keine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO vor, so darf der Insolvenzverwalter die Forderung zwar einziehen. Allerdings muss er den Erlös nach einer ___________ x
54) BGH, Urt. v. 22.4.2010 – IX ZR 8/07, Rz. 9, NZI 2010, 682, 683 m. w. N. 55) A. A. AG Hamburg, Beschl. v. 2.5.2011 – 67 g IN 62/11, ZIP 2011, 1279; zust. K. Schmidt-Hölzle, InsO, § 21 Rz. 76 – Einziehungsrecht verbleibt beim Zessionar. 56) Kirchhof in: HK-InsO, § 21 Rz. 29; Kuder, ZIP 2007, 1690, 1695; Kübler/Prütting/Bork-Jacoby/ Blankenburg, InsO, § 21 Rz. 250; Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38e. 57) RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/3227, S. 16; UhlenbruckVallender, InsO, § 21 Rz. 38e. 58) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38e; Schröder in: HambKomm-InsO, § 21 Rz. 69j a. E. 59) Flitsch, BB 2006, 1805, 1806; K. Schmidt-Hölzle, InsO, § 21 Rz. 79; Schröder in: HambKomm-InsO, § 21 Rz. 69j m. w. N. 60) Henkel, NJW 2010, 2590 (Urteilsanm.); Frind in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 A. III. 5. d), Rz. 112 ff.
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2010 von der übrigen Masse separieren und unterscheidbar verwahren. Denn das an der zur Sicherheit abgetretenen Forderung bestehende Absonderungsrecht setzt sich kraft dinglicher Surrogation in entsprechender Anwendung des § 170 Abs. 1 Satz 2 InsO am Erlös fort.61) Zu beachten ist allerdings, dass der BGH die Globalzession in seiner Entscheidung ausdrücklich von dieser Regel ausnimmt.62) Mithin kann der vorläufige Insolvenzverwalter den Erlös aus dem Einzug globalzedierter Forderungen zur Betriebsfortführung einsetzen. Hintergrund dieser Besonderheit dürfte sein, dass der Sicherungszessionar bei der Globalzession durch die im laufenden Geschäftsbetrieb ständig neu entstehenden Forderungen fortlaufend gesichert ist. Der Globalzessionar erleidet durch die Betriebsfortführung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter deshalb keine Vermögenseinbuße. Allerdings dürfte die so erlangte Sicherheit des Globalzessionars eher flüchtig sein, da ihm nach Eröffnung wegen dieser später entstandenen Forderungen die Anfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO droht. Die Entscheidung des BGH ist nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Neben dogmatischen Einwänden wurde ihr entgegengehalten, sie schaffe ein Spannungsverhältnis zur gesetzlichen Fortführungsverpflichtung des vorläufigen Insolvenzverwalters und erschwere die Betriebsfortführung. Als Lösungsmöglichkeit wurde vorgeschlagen, der vorläufige Insolvenzverwalter solle mit dem Sicherungszessionar eine Verwertungsvereinbarung abschließen, nach der der Erlös aus dem Einzug der sog. Altforderungen für die Betriebsfortführung verwendet wird, dem Sicherungszessionar im Gegenzug der Erlös aus den nach Anordnung der vorläufigen Verwaltung erwirtschafteten sog. Neuforderungen zusteht, die ansonsten nach Anfechtung gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO in die freie Masse fallen würden. Unter diesen Voraussetzungen halten Ganter und Henkel i. R. einer Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO den Verbrauch des Erlöses aus den abgetretenen Forderungen für zulässig.63)
35 Ist in dem eingezogenen Betrag Umsatzsteuer enthalten, so handelt es sich bei der Forderung des Fiskus auf Zahlung von Umsatzsteuer nach der Rechtsprechung des BFH64) und § 55 Abs. 4 InsO um eine Masseverbindlichkeit. Zu beachten ist, dass auch der Zessionar gemäß § 13c Abs. 1 Satz 1 UStG als Gesamtschuldner für die Umsatzsteuer haftet. IV.
Finanzierung durch Eigenkapital
1.
Überblick
36 Unter dem Begriff der Eigenfinanzierung (auch Einlagen- oder Beteiligungsfinanzierung genannt) wird eine Reihe von Finanzierungsinstrumenten zusammengefasst, deren übereinstimmendes Charakteristikum ist, dass die vom Kapitalgeber hingegebenen Mittel Bestandteil des Eigenkapitals der Gesellschaft werden. Das Paradigma der Eigenfinanzierung ___________ 61) BGH, Urt. v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739 = NZI 2010, 339; a. A. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 6.12.2006 – 23 U 149/05, WM 2007, 1178. 62) Wörtlich heißt es in den Entscheidungsgründen (BGH, Urt. v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739 = NZI 2010, 339): „Zieht er kraft einer ihm vom Insolvenzgericht erteilten Ermächtigung Forderungen ein, die der Schuldner zur Sicherheit abgetreten hatte, hat er – abgesehen von dem Sonderfall einer Globalzession […] – den eingezogenen Betrag an den Sicherungsnehmer abzuführen oder ihn jedenfalls unterscheidbar zu verwahren […]“. 63) Ganter, NZI 2007, 549, 551 ff. Ganter hat diesen Gedanken nach dem Urteil v. 21.1.2010 (BGH, Urt. v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739 = NZI 2010, 339) noch einmal aufgegriffen (vgl. Ganter, NZI 2010, 551, 554). Ihm folgt Henkel, NZI 2010, 2590, 2591 (Urteilsanm.). A. A. UhlenbruckVallender, InsO, § 21 Rz. 38d; Kübler/Prütting/Bork-Jacoby/Blankenburg, InsO, § 21 Rz. 250; Schröder in: HambKomm-InsO, § 21 Rz. 69d, 69j. 64) BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, ZIP 2011, 782.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
ist die Finanzierung durch die Einlage des Gesellschafters (§ 266 Abs. 3 A. I. HGB). Diese Form der Finanzierung findet obligatorisch bei Gründung der Gesellschaft, später nur noch fakultativ im Wege der Kapitalerhöhung oder des Nachschusses statt. Zur Eigenfinanzierung rechnen ferner die Finanzierung durch Zuzahlungen in die freien Rücklagen65) (§ 266 Abs. 3 A. II. HGB), durch das Stehenlassen von Gewinnen66) (§ 266 Abs. 3 A. III. HGB) und eigenkapitalähnliche Mezzaninfinanzierungen wie die atypische stille Beteiligung (§ 230 HGB).67) Den drei zuletzt genannten Finanzierungsformen kommt im Bereich der Finanzierung der Betriebsfortführung praktisch keine nennenswerte Bedeutung zu. Die Eigenkapitalfinanzierung kann in Abhängigkeit von Rechtsform, Größe und Kapitalbedarf des Unternehmens am oder außerhalb des Kapitalmarktes stattfinden,68) wobei die Finanzierung der Betriebsfortführung eines insolventen Unternehmens in der Praxis typischerweise außerhalb des Kapitalmarkts erfolgt. Die Finanzierung des insolventen Unternehmens durch Eigenkapital kommt praktisch nur 37 in Betracht, wenn ein Sanierungskonzept vorliegt.69) Unter anderen Umständen wird ein potentieller Kapitalgeber nicht bereit sein, das mit der Hingabe von Eigenkapital verbundene Risiko des Totalverlusts zu tragen. Konkret kommt eine Finanzierung des insolventen Unternehmens durch Eigenkapital nur in Betracht, wenn es durch einen Insolvenzplan saniert werden soll. Im Falle der übertragenden Sanierung findet zwar auch eine Finanzierung durch Eigenkapital statt – aber nicht der insolventen, sondern der übernehmenden Gesellschaft: Das Akquisitionsvehikel wird mit Eigen- und Fremdkapital ausgestattet, übernimmt im Wege eines Asset Deals das Unternehmen des Schuldners und führt es fort. Weil es sich dabei aber um herkömmliche Akquisitionsfinanzierung ohne insolvenzrechtliche Besonderheiten handelt, ist sie hier nicht von Interesse.70) Im Rahmen eines Insolvenzplans dagegen bleibt der insolvente Unternehmensträger als solcher erhalten und muss mit Kapital und Liquidität ausgestattet werden. Das geschieht in der Regel durch eine Mischung aus Fremdund Eigenkapital. Vielfach werden die Fremdkapitalgeber es zu einer Bedingung ihrer Zustimmung zum Insolvenzplan machen, dass die Gesellschafter einen eigenen Sanierungsbeitrag in Form der Hingabe neuen Eigenkapitals leisten.71) Das StaRUG72) ermöglicht es Unternehmen nunmehr, ein vorinsolvenzliches Sanierungs- 38 verfahren durchzuführen. Das sog. präventive Restrukturierungsverfahren weist maßgebliche Parallelen zum Insolvenzplanverfahren auf. Im Restrukturierungsplan können wiederum Kapitalmaßnahmen, namentlich Kapitalerhöhung, Bezugsrechtsausschluss und Debt Equity Swap, vorgesehen werden, die durch eine gerichtliche Bestätigung des Restrukturierungsgerichts wirksam werden, vgl. §§ 2 Abs. 3, 7 Abs. 4 StaRUG.
___________ Knebel/Schmidt, BB 2009, 430, 431, auch zur steuerlichen Behandlung solcher Zahlungen. Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 504. Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 174. Eingehend Zantow/Dinauer/Schäffler, Finanzwirtschaft des Unternehmens, S. 60 – 115. H. F. Müller, ZGR 2004, 842, 843 f., Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 58, und Spindler/StilzServatius, AktG, § 182 Rz. 72 – für die Kapitalerhöhung; Vetter in: MünchKomm-GmbHG, Vorb. zu § 58 Rz. 86 a. E. – für den Debt Equity Swap; umfassend Pleister/Kindler, ZIP 2010, 503. 70) S. stattdessen Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 248 ff. 71) Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Ziemons, GmbHG, § 55 Rz. 25a. 72) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 65) 66) 67) 68) 69)
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
2.
Kapitalerhöhung/Nachschüsse
2.1
Grundlagen
39 Soll der insolvente Unternehmensträger im Wege eines Insolvenzplanverfahrens saniert werden, kommt eine Finanzierung der Betriebsfortführung durch Kapitalerhöhung (bei Kapitalgesellschaften) oder Nachschüsse (bei Personengesellschaften) in Betracht.73) Die Kapitalerhöhung bzw. die Leistung von Nachschüssen kann dabei während des vorläufigen74) oder des eröffneten Insolvenzverfahrens durchgeführt werden. Sie kann, muss aber nicht mit einer Änderung der Gesellschafterstruktur einhergehen. 2.2
Durchführung
40 Eine Kapitalerhöhung besteht aus zwei Akten: Dem Kapitalerhöhungsbeschluss und der Leistung der Einlage. Der Kapitalerhöhungsbeschluss75) muss als Satzungsänderung der Anforderungen der §§ 53 f. GmbHG, §§ 182 ff. AktG genügen. Er bedarf einer Mehrheit von 75 % der abgegebenen Stimmen, sofern nicht die Satzung andere Mehrheitserfordernisse vorsieht. Sofern neue Gesellschafter aufgenommen werden sollen, ist im Kapitalerhöhungsbeschluss das Bezugsrecht auszuschließen und der/die Übernahmeberechtigte/n zu bestimmen. Für die Bestimmung des/der Übernahmeberechtigten genügt die einfache Mehrheit. Allein durch den Kapitalerhöhungsbeschluss besteht noch keine Pflicht der Gesellschafter, eine neue Einlage zu übernehmen. Eine solche Verpflichtung wird erst durch Abschluss des Übernahmevertrages gemäß § 55 Abs. 1 GmbHG bzw. der Zeichnung der neuen Aktien gemäß § 185 AktG begründet. 41 Eine bei Insolvenzeröffnung bereits beschlossene Kapitalerhöhung (was auch den Fall des Beschlusses im vorläufigen Insolvenzverfahren erfasst) kann nach h. M. im eröffneten Insolvenzverfahren zu Ende geführt werden.76) Zwar werden GmbH und AG mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelöst (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG, § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG). Die Organstellung der Gesellschafterversammlung/Hauptversammlung bleibt davon nach h. M. jedoch unberührt. Wird die Kapitalerhöhung durchgeführt, fallen sowohl die Forderungen auf Leistung der Einlage als auch die Einlage selbst als Neuerwerb in die Insolvenzmasse und werden deshalb von der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters erfasst (§ 35 Abs. 1 i. V. m. § 80 Abs. 1 InsO).77) Dieser zieht die ausstehenden Einlagen ein. Eines Gesellschafterbeschlusses nach § 46 Nr. 2 GmbHG bedarf es dazu nicht.78) 42 Allerdings steht den Gesellschaftern nach h. M. das Recht zu, die Kapitalerhöhung durch gegenläufige Beschlussfassung abzubrechen und so die Entstehung der Verpflichtung zur ___________ 73) H. F. Müller, ZGR 2004, 842, 843 f.; Kuntz, DStR 2006, 519. 74) Im vorläufigen Insolvenzverfahren eher theoretischer Natur, da eine Einigung mit den Gläubigern noch nicht möglich war; denkbar ist es aber als Finanzhilfe zur Aufrechterhaltung von geplanten Verwertungschancen oder Insolvenzplänen zu einem späteren Zeitpunkt. 75) Muster: Pfisterer in: BeckFormb GmbH-Recht, Teil J., Muster I für die GmbH, und Siller-Bauer/Pfisterer in: Beck‘sche Online-Formulare Vertragsrecht, Abschn. 7.9.8.1.1 – für die AG. 76) Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 57 f.; Noack/Servatius/Haas-Zöllner, GmbHG, § 55 Rz. 5; Ulmer in: GroßKomm-GmbHG, § 55 Rz. 33 f.; Scholz-Priester, GmbHG, § 55 Rz. 31; Spindler/StilzServatius, AktG, § 182 Rz. 72; Koch, AktG, § 182 Rz. 32; Peifer in: MünchKomm-AktG, § 182 Rz. 78. Für den früheren Zwangsvergleich und eine AG bereits LG Heidelberg, Urt. v. 16.3.1988 – O 6/88 KfH II, ZIP 1988, 1257, 1257 f., dazu EWiR 1988, 945 (Timm). 77) KG Berlin, Urt. v. 19.7.1999 – 23 U 3401/97, NZG 2000, 103, 104; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 193; Eickmann in: HK-InsO, § 35 Rz. 18; Müsgen, MittRhNotK 1997, 409, 429; Reul/Heckschen/Wienberg, Insolvenzrecht in der Kautelarpraxis, Rz. 613 und die in Fn. 76 Genannten; a. A. Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 88 f. 78) Bork/Schäfer-Arnold/Born, GmbHG, § 55 Rz. 43.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
Leistung der Einlage zu verhindern.79) Zwar gehören die durch die Eintragung der Kapitalerhöhung im Handelsregister aufschiebend bedingten Forderungen auf Leistung der Einlage der Gesellschaft zur Insolvenzmasse.80) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt aber nicht dazu, dass die Gesellschafter gehindert wären, die von ihnen beschlossene Kapitalerhöhung wieder aufzuheben und damit einen endgültigen Bedingungsausfall herbeizuführen. Alternativ können sie den Geschäftsführer veranlassen, die Anmeldung der Kapitalerhöhung zurückzunehmen.81) Bis zur Eintragung der Kapitalerhöhung im Handelsregister unterliegt die Durchführung der Kapitalerhöhung mithin der Autonomie der Gesellschafter. Gesellschafter, die bei Übernahme der neuen Geschäftsanteile die prekäre Finanzlage der Gesellschaft nicht kannten, können vom Übernahmevertrag unter den Voraussetzungen des § 313 BGB zurücktreten.82) Sofern bereits Einzahlungen erfolgt sind, kann die Rückzahlung derselben lediglich aus § 812 Abs. 1 Satz Alt. 1 BGB als einfache Insolvenzforderungen geltend gemacht werden, es sei denn, die Einzahlung wurde aufschiebend bedingt auf den Zeitpunkt der Eintragung der Kapitalerhöhung im Handelsregister geleistet.83) Daneben kann eine Kapitalerhöhung nach ganz h. M. auch erst im eröffneten Insolvenz- 43 verfahren begonnen werden.84) Auch genehmigte Kapitalien können bei GmbH und AG im Insolvenzverfahren neu geschaffen werden.85) Zur Begründung wird ins Feld geführt, dass das Insolvenzverfahren seit Inkrafttreten der InsO nicht mehr nur auf die Liquidation, sondern auch auf die Sanierung des insolventen Unternehmens gerichtet sei, und dieser Zweck die Zulassung von Kapitalmaßnahmen als Sanierungsmaßnahmen erfordere.86) Dass die Kapitalmaßnahme explizit auf dieses Ziel gerichtet ist, ist aber keine Zulässigkeitsvoraussetzung.87) Auch in diesem Fall stellen sowohl die Forderungen auf Leistung der Einlage als auch die Einlagen selbst Bestandteile der Insolvenzmasse in Form von Neuerwerb dar und werden deshalb von der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters erfasst (§ 35 Abs. 1 i. V. m. § 80 Abs. 1 InsO), der die Einlage gegenüber den Gesellschaftern geltend macht.88) Eine Verpflichtung der Gesellschafter, an der Kapitalerhöhung teilzunehmen, besteht 44 grundsätzlich nicht, weder vor noch nach Insolvenzeröffnung. Im Einzelfall können sie aufgrund der sie treffenden gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht jedoch ausnahmsweise verpflichtet sein, an sanierenden Kapitalmaßnahmen mitzuwirken.89) Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn das Kapital zu Sanierungszwecken auf null herabgesetzt werden ___________ 79) Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 59. 80) Dennoch soll es nach Bork/Schäfer-Arnold/Born, GmbHG, § 55 Rz. 42, nicht möglich sein, den Abbruch der Kapitalerhöhung nach Maßgabe der §§ 129 ff. InsO anzufechten. Vorsichtiger Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 463. 81) Bork/Schäfer-Arnold/Born, GmbHG, § 55 Rz. 42. 82) Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 59. 83) Wellensiek/Schluck-Amend in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 23 Rz. 43. 84) S. die in Fn. 76 Genannten sowie Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt-Ziemons, GmbHG, § 55 Rz. 21 ff. 85) Reul/Heckschen/Wienberg, Insolvenzrecht in der Kautelarpraxis, Rz. 614; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 193. Die Ausnutzung eines vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschlossenen genehmigten Kapitals ist aber mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr möglich (Hirte in: GroßKommAktG, § 202 Rz. 205; Lutter in: KölnKomm-AktG, § 202 Rz. 17; Pleister/Kindler, ZIP 2010, 503, 504 f.). 86) Müsgen, MittRhNotK 1997, 409, 429; Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 57. 87) H.-F. Müller, ZGR 2004, 842, 843 f.; Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 58. 88) S. die in Fn. 76 Genannten. 89) BGH, Urt. v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, ZIP 2009, 2289 „Sanieren oder Ausscheiden“ – zur Publikumspersonengesellschaft; OLG Celle, Urt. v. 21.12.2005 – 9 U 96/05, ZIP 2006, 807 = NZG 2006, 225; OLG Celle, Urt. v. 17.8.2005 – 9 U 33/05, NZG 2006, 17; Vetter in: MünchKomm-GmbHG, Vorb. zu § 58 Rz. 8 – 85.
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
soll und jedem Gesellschafter freigestellt wird, sich entweder an einer anschließenden Kapitalerhöhung zu beteiligen oder aus der Gesellschaft auszuscheiden, soweit die Gesellschaft x
objektiv sanierungsbedürftig und
x
sanierungsfähig ist,
x
die sanierungsunwilligen Gesellschafter eine angemessene Abfindung orientiert am „wahren“ Wert der Gesellschaft (einschließlich der stillen Reserven) erhalten und
x
ein Ausscheiden ihnen auch im Übrigen nach Abwägung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls zumutbar ist.90)
45 Im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens kann eine Kapitalerhöhung auch gegen den Willen der Gesellschafter beschlossen werden (§§ 217, 225a Abs. 2 Satz 3, 245 Abs. 3 InsO).91) 2.3
Vorteile und Risiken
46 Die Kapitalerhöhung hat den Vorteil einer juristisch simplen Struktur, die zu geringen Kosten und geringer Fehleranfälligkeit führt. Zu den Risiken der Kapitalerhöhung gehört die Differenzhaftung: Werden Einlagen nicht oder nicht vollständig erbracht und scheitert die Sanierung, so wird der Insolvenzverwalter in einer Folgeinsolvenz den noch ausstehenden Teil der Einlagen zzgl. Zinsen einziehen. Dazu gehört auch der Fall, dass die Kapitalerhöhung nicht in bar, sondern mit Sacheinlagen erfolgt und sich herausstellt, dass die Sacheinlagen überbewertet wurden. Für diesen Anspruch haften die Mitgesellschafter nach § 24 GmbHG solidarisch. Ob § 254 Abs. 4 InsO auf die Kapitalerhöhung analoge Anwendung findet, wenn diese i. R. eines Insolvenzplans durchgeführt wird, ist unklar. Nachdem es sich bei § 254 Abs. 4 InsO der Sache nach um eine Ausnahme vom Grundsatz der Kapitalaufbringung handelt, spricht einiges dafür, die Vorschrift eng auszulegen und ihren Anwendungsbereich nicht über ihren wörtlichen Anwendungsbereich hinaus auszudehnen. 47 Ob Kapitalerhöhungen in einer Folgeinsolvenz der Insolvenzanfechtung unterliegen, ist umstritten, nach h. M. aber zu bejahen.92) Dabei muss allerdings bedacht werden, dass sich diese Frage regelmäßig nur im Zusammenhang mit der Insolvenz des an der Kapitalerhöhung teilnehmenden (Neu)Gesellschafters stellt, und auch hier nur, sofern eine Kapitalerhöhung gegen Einlage in Rede steht.93) Denn unabhängig davon, ob die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln oder aus Einlagen erfolgt, fehlt es auf Ebene der Gesellschaft an einer Benachteiligung der Insolvenzgläubiger (§ 129 Abs. 1 InsO). Das liegt auf der Hand, wenn es um eine Kapitalerhöhung gegen Einlagen geht, denn dann verbessert sich die Situation der Gläubiger. Aber auch die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln verschlechtert die Zugriffsmöglichkeiten der Gesellschaftsgläubiger regelmäßig nicht, denn es wird lediglich eine Eigenkapitalposition – Gewinnrücklage – in eine andere – gezeichnetes Kapital – umgewandelt. Das gilt auch unter Berücksichtigung der der Gesellschaft regelmäßig auferlegten Kosten der Kapitalerhöhung,94) zumal sich die hierin liegende Gläubigerbenachteiligung einfacher durch eine Insolvenzanfechtung der Zahlung dieser Kosten gegenüber dem Kostengläubiger als durch eine Anfechtung der Kapitalmaßnahme selbst wird neutralisieren lassen. ___________ 90) 91) 92) 93) 94)
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Lieder in: MünchKomm-GmbHG, § 55 Rz. 42. Bork/Schäfer-Arnold/Born, GmbHG, § 55 Rz. 44; ausführlich Stöber, ZInsO 2012, 1811. Nachweise zum Meinungsstand bei Lwowski/Wunderlich, NZI 2008, 129, 130 f. Lwowski/Wunderlich, NZI 2008, 129, 130 unter 2. Lwowski/Wunderlich, NZI 2008, 129, 130 unter 1.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung 2.4
Personengesellschaften
Auch die Fortführung des Betriebs einer insolventen Personengesellschaft kann durch 48 Erhöhung der Einlagen der Gesellschafter finanziert werden.95) Man spricht allerdings nicht von Kapitalerhöhung, sondern von der Leistung von Nachschüssen. Dazu sind die persönlich haftenden Gesellschafter einer Personengesellschaft grundsätzlich nicht verpflichtet (§ 707 BGB i. V. m. § 105 Abs. 3 HGB).96) Entsprechendes gilt für den Kommanditisten (§ 161 Abs. 2 HGB). Abweichendes kann jedoch im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden, und zwar auch und gerade für den Fall einer Insolvenz. Voraussetzung für die Geltendmachung eines solchen Anspruchs ist allerdings das Vorliegen eines entsprechenden Gesellschafterbeschlusses, ohne den dem Insolvenzverwalter die Einziehung der Nachschüsse nicht möglich ist.97) Analog dem zu den Kapitalgesellschaften Ausgeführten sind die Gesellschafter nicht gehindert, die Verpflichtung zur Leistung eines Nachschusses durch gegenläufige Beschlussfassung zu verhindern oder sich unter den Voraussetzungen des § 313 BGB von der vertraglichen Vereinbarung über den Nachschuss zu lösen. Im Einzelfall kann der Gesellschafter auch ohne gesellschaftsvertragliche Regelung aufgrund der ihn treffenden Treuepflicht dazu verpflichtet sein, einen Nachschuss zu leisten.98) 3.
Kapitalschnitt
3.1
Grundlagen
Auf einer Kombination von vereinfachter Kapitalherabsetzung und Kapitalerhöhung beruht 49 der sog. Kapitalschnitt.99) Beim Kapitalschnitt handelt es sich um eine Finanzierungsmaßnahme eigener Art, die Elemente der bilanziellen Restrukturierung mit solchen der Eigenkapitalfinanzierung verbindet.100) Ihr Hauptanwendungsgebiet ist die vorinsolvenzliche Sanierung; sie dient dort der Beseitigung der rechnerischen Überschuldung (§ 19 InsO) und der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit (§ 17 bzw. § 18 InsO).101) Sie ist darauf aber nicht beschränkt, sondern kann auch i. R. eines eröffneten Insolvenzverfahrens – namentlich eines Insolvenzplanverfahrens102) – durchgeführt werden.103) 3.2
Durchführung
Bei einem Kapitalschnitt wird zunächst eine vereinfachte Kapitalherabsetzung durchge- 50 führt. Die Voraussetzungen und die Durchführung einer vereinfachten (oder nominellen) Kapitalherabsetzung ergeben sich aus §§ 58a ff. GmbHG, §§ 229 ff. AktG. Das Charakteristikum der vereinfachten Kapitalherabsetzung ist, dass es nicht zur Auszahlung von Gesellschaftsmitteln an die Gesellschafter kommt.104) Bei der vereinfachten Kapitalherabsetzung wird lediglich das Stamm- bzw. Grundkapital an das noch vorhandene Reinvermögen der Gesellschaft angepasst. ___________ 95) K. Schmidt, ZGR 1982, 519; Wilde, NZG 2012, 215. 96) Kreplin in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 26 Rz. 155; Gottwald/Haas-Haas/Mock, InsRHdb., § 94 Rz. 53, beide m. w. N. 97) S. die in Fn. 96 Genannten. 98) S. die in Fn. 89 genannten Entscheidungen. 99) Näher Reger/Stenzel, NZG 2009, 1210. Muster: Pfisterer in: BeckFormb GmbH-Recht, Teil J., Muster IX. 100) Zu den steuerlichen Auswirkungen Kreplin in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 9 Rz. 24 und 25. 101) Stöber, ZInsO 2012, 1811, 1817 m. w. N. 102) Pleister/Kindler, ZIP 2010, 503, 505 – 510; Decher/Voland, ZIP 2013, 103. 103) BGH, Urt. v. 9.2.1998 – II ZR 278/96 (Sachsenmilch), NJW 1998, 2054, betraf den Fall einer vereinfachten Kapitalherabsetzung im Insolvenzverfahren. Der Entscheidung kann entnommen werden, dass der BGH einen Kapitalschnitt (zu dem es damals letztendlich nicht kam) in einem Insolvenzverfahren grundsätzlich für zulässig hält. Zu dieser Entscheidung Weber, DStR 2010, 702. 104) Zur steuerlichen Behandlung der zu Sanierungszwecken vorgenommenen Kapitalherabsetzung s. Deubert/ Förschle/Störk-Förschle/Heinz, Sonderbilanzen, Teil Q., Rz. 301 – 304.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
51 Eine vereinfachte Kapitalherabsetzung ist nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig: Sie ist nur zulässig zum Ausgleich von Wertminderungen, zur Deckung sonstiger Verluste oder zur Verschiebung von Kapital in die Kapitalrücklage. Dabei sind die Gewinnrücklage sowie derjenige Teil der gesetzlichen Rücklage und der Kapitalrücklage vorweg aufzulösen, um den diese zusammen über 10 % des nach der Herabsetzung verbleibenden Grundkapitals hinausgehen (§ 58a Abs. 2 Satz 1 GmbHG, § 229 Abs. 2 Satz 1 AktG). Auch darf kein Gewinnvortrag vorhanden sein (§ 58a Abs. 2 Satz 1 GmbHG, § 229 Abs. 2 Satz 2 AktG). Bei der AG müssen außerdem weniger Jahresüberschüsse in die gesetzliche Rücklage eingestellt werden (§ 150 Abs. 2 AktG), wodurch kurzfristig Ausschüttungen ermöglicht werden.105) Eine Kapitalherabsetzung kann unter die Grenze des gesetzlichen Mindeststammoder -grundkapitals i. H. von 25 000 bzw. 50 000 € (§ 5 Abs. 1 GmbHG, § 7 AktG) bis zu einem Stamm- oder Grundkapital i. H. von 0 € erfolgen, wenn zugleich das Stamm- oder Grundkapital mindestens wieder auf einen Betrag erhöht wird, der dem des Mindestkapitals entspricht (§ 58a Abs. 4 Satz 1 GmbHG, § 228 Abs. 1 AktG). 52 Nach der Kapitalherabsetzung erfolgt eine Kapitalerhöhung. Damit werden neue Geschäftsanteile bzw. Aktien geschaffen, die von den bisherigen Gesellschaftern oder Dritten gegen Leistung einer Einlage übernommen werden können. Soweit das Stamm- oder Grundkapital unter den Mindestnennbetrag herabgesetzt wurde, ist eine damit verbundene Kapitalerhöhung nur gegen Bareinlage zulässig. Insbesondere eine Sachkapitalerhöhung, eine bedingte Kapitalerhöhung, eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und die Ausnutzung genehmigten Kapitals scheiden aus.106) Wird allerdings die Mindestgrenze des § 5 Abs. 1 GmbHG, § 7 AktG durch eine Barkapitalerhöhung erreicht, sind darüber hinaus im selben Kapitalerhöhungsbeschluss auch Sacheinlagen festsetzbar.107) Das allgemeine Bezugsrecht der Altgesellschafter (gemäß oder analog108) § 186 Abs. 1 Satz 1 AktG) besteht auch bei einem Kapitalschnitt auf null, auch wenn sie für eine juristische Sekunde durch die Kapitalherabsetzung ihre Gesellschafterstellung verlieren.109) Das Bezugsrecht kann ausgeschlossen werden.110) 3.3
Vorteile und Risiken
53 Der Vorteil des Kapitalschnitts ist seine juristisch simple Struktur, die geringe Kosten und geringe Fehleranfälligkeit zur Folge hat. Weil der Kapitalschnitt eine Kapitalerhöhung enthält, ist er mit den diesem Finanzierungsinstrument immanenten Risiken verbunden, also dem Risiko der Differenzhaftung (§ 254 Abs. 4 InsO dürfte auch insoweit nicht analog anwendbar sein), siehe oben in Rz. 46, und dem Risiko der Insolvenzanfechtung in einer Folgeinsolvenz (siehe oben bei Rz. 47). Die Kapitalherabsetzung ist allerdings – anders als die Kapitalerhöhung – jedenfalls dann nicht mehr anfechtbar, wenn sie in das Handelsregister eingetragen ist.111) Ab diesem Zeitpunkt geht der Bestandsschutz der jeweiligen Maßnahmen im Interesse des Rechtsverkehrs dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung vor. Die Interessen der hiervon nachteilig betroffenen Insolvenzgläubiger werden durch die Vorschriften des Gesellschaftsrechts hinreichend geschützt.112) ___________ 105) 106) 107) 108) 109) 110) 111) 112)
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Reger/Stenzel, NZG 2009, 1210, 1211. Reger/Stenzel, NZG 2009, 1210, 1211; Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 228 Rz. 8. Oechsler in: MünchKomm-AktG, § 228 Rz. 7; Spindler/Stilz-Marsch-Barner, AktG, § 228 Rz. 5. Eine dem § 182 AktG entsprechende Regelung fehlt im Recht der GmbH; die Vorschrift wird nach h. M. (w. N. bei Seibt in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 2 Rz. 71 m. Rz. 159) dort analog angewendet. Krieger, ZGR 2000, 885, 898. Näher Reger/Stenzel, NZG 2009, 1210, 1211 unter b). A. A. Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 462. Näher Lwowski/Wunderlich, NZI 2008, 595, 598.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung 3.4
Personengesellschaften
Das Recht der Personengesellschaften kennt den Kapitalschnitt als solchen genauso wenig 54 wie es Kapitalherabsetzungen oder -erhöhungen kennt. Dennoch werden die Grundsätze des Kapitalschnitts sinngemäß auf Personengesellschaften übertragen.113) Dies geschieht, indem zunächst die Anpassung der Kapitalkonten der Gesellschafter an das Reinvermögen der Gesellschaft und sodann ein Nachschuss beschlossen werden. Der BGH hatte eine solche Sanierungsmaßnahme in seiner Entscheidung vom 19.10.2009114) zu beurteilen und hielt sie dort für zulässig. 4.
Debt Equity Swap
4.1
Grundlagen
Eine Weiterentwicklung des Kapitalschnitts ist der sog. Debt Equity Swap.115) Wie der Ka- 55 pitalschnitt, so ist auch der Debt Equity Swap eine Finanzierungsmaßnahme eigener Art, die Elemente der bilanziellen Restrukturierung und der Eigenkapitalfinanzierung verbindet.116) Daneben stellt der Debt Equity Swap ein Akquisitionsinstrument dar, mit dem Unternehmensbeteiligungen erworben werden können.117) Wie der Kapitalschnitt, so beruht auch der Debt Equity Swap typischerweise auf einer Kombination von vereinfachter Kapitalherabsetzung und Kapitalerhöhung.118) Anders als beim Kapitalschnitt ist das Hauptanwendungsgebiet des Debt Equity Swap tatsächlich aber das eröffnete Insolvenzverfahren. Dort dient er – typischerweise i. R. eines Insolvenzplanverfahrens119) – der Sanierung des Unternehmens.120) Aufgrund seiner Bedeutung hat er für das Insolvenzplanverfahren in § 225a Abs. 2 InsO und für die Reorganisation von Banken in § 9 KredReorgG eine – wenn auch fragmentarische – gesetzliche Regelung erfahren. 4.2
Durchführung
Ein Debt Equity Swap ist die Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital durch eine 56 Kombination von vereinfachter Kapitalherabsetzung und Sachkapitalerhöhung. Dieses Verständnis des Debt Equity Swap liegt auch § 225a Abs. 2 InsO zugrunde, der in Satz 3 ausdrücklich auf die Kombination der beiden Kapitalmaßnahmen verweist. Das Element der vereinfachten Kapitalherabsetzung dient beim Debt Equity Swap nicht nur der bilanziellen Neutralisierung aufgelaufener Verluste, sondern es dient – der Natur des Debt Equity Swap als Akquisitionsinstrument Rechnung tragend – der Vermeidung einer Verwässerung der Anteile der Altgesellschafter. Wegen der Voraussetzungen und Formalia der Durchführung der vereinfachten Kapitalherabsetzung wird auf die Ausführungen zum Kapitalschnitt verwiesen (siehe oben Rz. 50 ff.). Im Rahmen der anschließenden Sachkapitalerhöhung gegen Ausgabe neuer Anteile werden 57 Forderungen gegen die Gesellschaft im Wege der Sachkapitalerhöhung in die Gesellschaft ___________ K. Schmidt, JuS 2010, 162. BGH, Urt. v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, ZIP 2009, 2289. Muster: Meyer-Landrut, Formularbuch GmbH-Recht, Teil F. Zur steuerlichen Behandlung Born, BB 2009, 1730 und Beyer, DStR 2012, 2199. Zu diesem Aspekt Redeker, BB 2007, 673. Zu den Vorteilen des Debt Equity Swap als Akquisitionsinstrument gegenüber der übertragenden Sanierung Stöber, ZInsO 2012, 1811, 1817. 118) Alternativ können bereits bestehende Anteile von Altgesellschaftern erworben und als Gegenleistung Forderungen gegen die Gesellschaft erlassen werden. Zu Struktur des Debt Equity Swap Wansleben, WM 2012, 2083 (der selbst für ein anderes Verständnis plädiert), oder – kürzer – Eilers, GWR 2009, 3, sowie Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 7. 119) Dazu H. F. Müller, KTS 2012, 419, 441, und Pleister/Kindler, ZIP 2010, 503, 510 – 512. 120) Brünkmans in: Brünkmans/Thole, Hdb Insolvenzplan, § 32 Rz. 308 f.
113) 114) 115) 116) 117)
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
eingebracht (vgl. § 225a Abs. 2 Satz 3 InsO). Die Forderungen gegen die Gesellschaft erlöschen durch Konfusion. Die Bezugsrechte der Altgesellschafter werden typischerweise ausgeschlossen (vgl. erneut § 225a Abs. 2 Satz 3 InsO).121) Zur Durchführung des Debt Equity Swap sind mithin ein Sachkapitalerhöhungsbeschluss122) sowie ein Prüfungsbericht, in dem die Werthaltigkeit der Forderung nachgewiesen wird, erforderlich (§§ 5 Abs. 4, 19 Abs. 2 Satz 2, 56 GmbHG).123) Dabei ist als Wert der Betrag zu Grunde zu legen, den der Forderungsinhaber auf seine Forderung in der Liquidation oder i. R. eines Insolvenzverfahrens erhalten würde. Eine Einbringung der Forderung zum Nennwert kann daher nur erfolgen, wenn der Anspruch fällig, liquide und vollwertig ist. Da sich die GmbH aber in einer Krise befindet, wird der tatsächliche Wert der Forderung regelmäßig nicht mehr ihrem Nennwert entsprechen.124) 58 Soll der Debt Equity Swap i. R. des gestaltenden Teils eines Insolvenzplans beschlossen werden, ergeben sich hinsichtlich der Zuständigkeiten Abweichungen.125) Anders als sonst ist dann nämlich nicht mehr die Gesellschafterversammlung für den Beschluss über die Kapitalherabsetzung und -erhöhung zuständig, sondern die Beteiligtenversammlung, die über den Insolvenzplan abstimmt. Das hat zur Folge, dass gesonderte Beschlüsse der Haupt- oder Gesellschafterversammlung über Kapitalherabsetzung und -erhöhung nicht erforderlich sind.126) Der Debt Equity Swap kann i. R. eines Insolvenzplanverfahrens sogar gegen den Willen der Gesellschafter beschlossen werden.127) Die Handelsregistereintragung bleibt jedoch auch bei der Einbettung des Debt Equity Swap in einen Insolvenzplan erforderlich.128) Die Umwandlung von Forderungen in Anteile/Mitgliedschaftsrechte bedarf der Zustimmung des Gläubigers. § 230 Abs. 2 InsO verlangt diese Zustimmungserklärung als Anlage zum Plan.129) 4.3
Vorteile und Risiken
59 Die Vorteile des Debt Equity Swap sind, dass x
er die Eigenschaften eines Akquisitions- mit denen eines Sanierungsinstruments verbindet,
x
er den Rechtsträger erhält und
x
er zur Verbesserung der Eigenkapitalquote und damit zu einer Senkung der Finanzierungskosten führt.130)
60 Die Nachteile des Debt Equity Swap sind x
seine juristische Komplexität und
x
die hierdurch versursachten Kosten.
___________ 121) Ausführlich zum Bezugsrechtsausschluss H. F. Müller, KTS 2012, 419, 440. 122) Zur Verpflichtung der Altgesellschafter zur Mitwirkung an Debt Equity Swaps aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht Redeker, BB 2007, 673, 675 f. 123) Aus diesem Grund für ein Alternativmodell streitend Wansleben, WM 2012, 2083. 124) Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 333; zur Frage der Bewertung Altmeppen in: FS Hommelhoff, S. 10 – 16 m. w. N. sowie Römermann, GmbHR 2013, 337, 343 f. 125) Stöber, ZInsO 2012, 1811, 1817 f. 126) Stöber, ZInsO 2012, 1811, 1817 – für den Kapitalerhöhungsbeschluss. 127) Stöber, ZInsO 2012, 1811, 1818. 128) Stöber, ZInsO 2012, 1811, 1817 m. w. N. 129) Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 19. 130) Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 9.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung x
Ferner ist der Debt Equity Swap mit einer Reihe juristischer Risiken behaftet, die sich, scheitert die Sanierung, in einem Folgeinsolvenzverfahren verwirklichen.131) Dazu gehört zunächst – wie bei Kapitalerhöhung und Kapitalschnitt – die Differenzhaftung (auch in Form der Solidarhaftung nach § 24 GmbHG), die beim Debt Equity Swap namentlich dann droht, wenn die eingebrachten Forderungen zu hoch bewertet wurden.132) Der Gesetzgeber hat dieses Problem erkannt und es – allerdings nur für den Debt Equity Swap i. R. eines Insolvenzplans – in § 254 Abs. 4 InsO einer Lösung zugeführt. Nach dieser Vorschrift kann der Schuldner – und damit auch der Insolvenzverwalter in einem Folgeinsolvenzverfahren – nach der gerichtlichen Bestätigung des Plans keine Ansprüche gegen den bisherigen Gläubiger wegen einer Überbewertung der Forderungen im Plan geltend machen.133)
Der Anteilserwerb kann im Falle des Scheiterns der Sanierung i. R. der Folgeinsolvenz ferner 61 dazu führen, dass die verbleibenden Restforderungen nur noch als nachrangige Insolvenzforderungen i. S. des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO geltend gemacht und dass Rückzahlungen auf die Forderungen nach Maßgabe des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO angefochten werden können. Der ehemalige Fremdkapitalgeber ist ja nun Gesellschafter und unterliegt mit seinen verbleibenden Fremdkapitalforderungen dem für Gesellschafterdarlehen geltenden Rechtsregime.134) Abgesehen von diesem Sonderfall wird das Anfechtungsrisiko bei einem Debt Equity Swap 62 als gering angesehen: Thole hält im Regelfall schon das Vorliegen von Gläubigerbenachteiligung i. S. des § 129 Abs. 1 InsO für zweifelhaft.135) Wirsch136) hat dargelegt, dass es für eine Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO schon an den tatbestandlichen Voraussetzungen fehlt, und zwar unabhängig davon, ob die eingebrachten Forderungen vor Einbringung bereits den Charakter einer Forderung auf Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens i. S. des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO hatten. Bauer/Dimmling137) weisen darauf hin, dass der Debt Equity Swap nach Ansicht des Gesetzgebers dem Sanierungsprivileg des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO unterfällt. Für Debt Equity Swaps im Anwendungsbereich des KredReorgG ist die Anfechtung durch dessen § 9 Abs. 3 ausdrücklich ausgeschlossen worden. Bei einem Anteilserwerb von mindestens 30 % der Anteile an einer börsennotierten Aktien- 63 gesellschaft muss der Investor nach Maßgabe der §§ 35 ff. WpÜG den übrigen Aktionären ein Pflichtangebot zum Erwerb ihrer Aktien unterbreiten oder sich eine behördliche Befreiung erteilen lassen.138)
___________ 131) Als Alternativen zum Debt Equity Swap werden in der Literatur (neben Kapitalerhöhung und Kapitalschnitt) die atypische stille Beteiligung und die Ausgabe von Genussscheinen (Nerlich/Rhode in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 4 Rz. 250 und 251; zu diesen Instrumenten Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 313) genannt. 132) Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 11. 133) Kritisch Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 10, und Römermann, GmbHR 2013, 337, 344. Fraglich ist, ob hierdurch auch eine Insolvenzanfechtung ausgeschlossen wird, verneinend Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 466. 134) Gehrlein, NZI 2012, 257; H. F. Müller, KTS 2012, 419, 449. Dieses Risiko kann vermieden werden, wenn der Inferent seine sämtlichen Forderungen gegen die Gesellschaft in Eigenkapital umwandelt. 135) Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 470 f. 136) Wirsch, NZG 2010, 1131, 1132 ff.; ebenso H. F. Müller, KTS 2012, 419, 449. 137) Bauer/Dimmling, NZI 2011, 517, 519. Die Rolle des Sanierungsprivilegs bei Debt Equity Swaps behandelt ausführlich Gehrlein, NZI 2012, 257, 261. Ebenso Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 337. 138) Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 17 f.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
64 Hölzle hat mit überzeugenden Gründen dargelegt, dass eine Haftung unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Neugründung beim Debt Equity Swap nicht in Betracht kommt.139) 4.4
Personengesellschaften
65 Der Debt Equity Swap ist grundsätzlich auch bei Personengesellschaften denkbar. Auch § 225a InsO ist auf Personengesellschaften anwendbar.140) Risiken ergeben sich auch bei Personengesellschaften aus der Überbewertung des umgewandelten Fremdkapitals. Das Personengesellschaftsrecht kennt zwar keine Differenzhaftung nach dem Vorbild des Kapitalgesellschaftsrechts.141) Dennoch kann sich auch hier bei Scheitern der Sanierung in einer Folgeinsolvenz das Problem ergeben, dass die eingebrachten Forderungen zu hoch bewertet wurden und der Insolvenzverwalter deshalb den noch ausstehenden Teil der Einlage fordern kann. Erfolgt der Debt Equity Swap i. R. eines Insolvenzplans, ist allerdings § 254 Abs. 4 InsO analog142) anzuwenden. V.
Finanzierung durch Fremdkapital
1.
Überblick
66 Unter der Überschrift Fremdfinanzierung werden die Finanzierungsinstrumente zusammengefasst, die zu einer Erhöhung des Fremdkapitals der Gesellschaft führen (§ 266 Abs. 3 C. HGB). Das sind die Darlehen i. S. des § 488 BGB und die darlehensähnlichen Geschäfte. Bei den Darlehen werden üblicherweise die langfristigen Darlehen von den kurzfristigen Darlehen unterschieden, wobei die Grenze bei einer Laufzeit von einem Jahr verläuft. Darlehensähnliche Geschäfte sind das Factoring, das Leasing und die Verbriefung von Forderungen (sog. Asset Backed Securitization). Nicht alle dieser Finanzierungsformen spielen im Bereich der Finanzierung der Betriebsfortführung eine Rolle. Namentlich die kapitalmarktgebundenen Finanzierungsformen (wie die Anleihe, der Genussschein oder die Verbriefung von Forderungen) spielen hier keine Rolle, ganz ähnlich, wie dies schon im Bereich der Eigenfinanzierung zu beobachten war. Eine große Rolle spielen dagegen das Massedarlehen und das Gesellschafterdarlehen als Formen langfristiger und das Kontokorrentdarlehen sowie der Handelskredit als Form kurzfristiger Darlehensfinanzierung. Bei größeren Fortführungszeiträumen können diese Instrumente ergänzt werden durch die Kreditsubstitute des Factoring und des Leasing. 2.
Langfristige Kreditfinanzierung
2.1
Massedarlehen
67 Der Begriff des Massedarlehens ist kein Begriff der Gesetzessprache, sondern ein in Wissenschaft und Praxis verwendeter Kunstbegriff. Er bezeichnet üblicherweise das Darlehen
___________ 139) 140) 141) 142)
192
Hölzle in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 26 Rz. 101 ff. Eidenmüller in: MünchKomm-InsO, § 225a Rz. 70. Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 12. Braun-Braun/Frank, InsO, § 225a Rz. 13; Eidenmüller in: MünchKomm-InsO, § 225a Rz. 70; K. Schmidt, ZGR 2012, 566, 582 f.; Wertenbruch, ZIP 2013, 1693, 1699 f. Die Vorschrift schließt ihrem (auf Kapitalgesellschaften zugeschnittenen) Wortlaut nach nur Forderungen des Schuldners aus. Ansprüche, die sich aus einer Überbewertung der umgewandelten Forderungen ergeben, können bei Personengesellschaften aber nicht nur von dieser selbst (dem Schuldner), sondern im Wege der actio pro socio auch von Mitgesellschaftern geltend gemacht werden. Diesen Fall erfasst § 254 Abs. 4 InsO zwar nicht nach seinem Wortlaut, wohl aber nach seiner Ratio, weshalb er analog angewendet werden sollte.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung
einer Bank, dessen Zweck die Finanzierung der Betriebsfortführung während des vorläufigen oder eröffneten Insolvenzverfahrens ist.143) Wer Vertragspartner der Bank ist, hängt davon ab, in welcher Phase des Insolvenzverfahrens 68 das Darlehen gewährt wird. Wird es im eröffneten Insolvenzverfahren gewährt, ist Vertragspartner der Insolvenzverwalter. Der Schuldner selbst ist im eröffneten Verfahren nur dann Vertragspartner, wenn Eigenverwaltung (§ 270 InsO) angeordnet ist, wobei die Zustimmung des Sachwalters erforderlich ist (§ 275 Abs. 1 Satz 1 InsO). Wird das Massedarlehen – wie typischerweise – schon im vorläufigen Insolvenzverfahren gewährt, kommt es für die Frage des Vertragspartners darauf an, ob ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt wurde und wenn ja, mit welchen Befugnissen er ausgestattet wurde: Wurde kein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, ist Vertragspartner der Schuldner. Gleiches gilt im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren (§§ 270b, 270c InsO)144) und im Schutzschirmverfahren (§ 270d InsO),145) wobei in beiden Fällen die Zustimmung des vorläufigen Sachwalters erforderlich ist (§ 275 Abs. 1 Satz 1 InsO). Wurde ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und gleichzeitig ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 i. V. m. § 22 Abs. 2 InsO), so ist Vertragspartner ebenfalls der Schuldner; die Aufnahme des Darlehens bedarf zu ihrer Wirksamkeit dann allerdings der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters. Wurde ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und diesem die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übertragen (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 i. V. m. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO), ist Vertragspartner der vorläufige Insolvenzverwalter. Das Kernproblem des Massedarlehens ist die Sicherstellung des Rückzahlungsanspru- 69 ches.146) Das Problem liegt in den – typischen – Fällen klar zu Tage, in denen das Darlehen während des vorläufigen Insolvenzverfahrens gewährt wird. Liegt nicht ausnahmsweise der Fall der Übertragung der Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter vor (dann § 55 Abs. 2 InsO), ist der Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO,147) die nur mit der Insolvenzquote, schlimmstenfalls also gar nicht bedient wird. Die Praxis hat deshalb verschiedene Modelle entwickelt, wie der Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens gesichert werden kann. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Begründung der persönlichen Haftung des Verwalters und die Besicherung des Massedarlehens durch neue Real- oder Personalsicherheiten. Die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters kann über die Vorschrift des § 61 InsO 70 erschlossen werden. Kann eine Masseverbindlichkeit, die durch eine Rechtshandlung des Insolvenzverwalters begründet worden ist, aus der Insolvenzmasse nicht voll erfüllt werden, so ist der Verwalter dem Massegläubiger nach Satz 1 dieser Vorschrift zum Schadenersatz verpflichtet. Dies gilt nicht, wenn der Verwalter bei der Begründung der Verbindlichkeit nicht erkennen konnte, dass die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde. Daraus folgt, dass die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters jedenfalls dann in Betracht kommt, wenn ein während des eröffneten Insolvenzverfahrens aufgenommenes Massedarlehen nicht zurückbezahlt werden kann. Denn der Insolvenzverwalter begründet, nimmt er während des eröffneten Verfahrens ein solches Darlehen auf, eine Masseverbind___________ 143) So – mit Unterschieden im Detail – Hess/Fechner/Huber, NZI 2014, 439; Schönfelder, WM 2007, 1489, 1490. Muster: Voigt-Salus in: Mohrbutter/Ringstmeier/Meyer, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 22 Rz. 186; Haarmeyer/Pape/Stephan/Nickert, Formularbuch InsR, Muster 68; Bähr in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Kap. 18 Rz. 191; Strotmann/Tetzlaff, ZInsO 2011, 559, 560 f. 144) Trowski, WM 2014, 1257, 1260. 145) Dazu Oppermann/Smid, ZInsO 2012, 862; Wuschek, InsbürO 2012, 456, 459. 146) Strotmann/Tetzlaff, ZInsO 2011, 559 und Bähr in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Kap. 18 Rz. 156 – 190. 147) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 22 Rz. 221.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
lichkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Dasselbe gilt im vorläufigen Insolvenzverfahren, wenn das Massedarlehen von einem „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 i. V. m. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO) aufgenommen wird. Denn auch der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter begründet durch sein Handeln Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 2 InsO). 71 Bedenkt man nun, dass einerseits die Aufnahme eines Massedarlehens typischerweise bereits im vorläufigen Insolvenzverfahren erforderlich ist, dass andererseits die Bestellung eines „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters nach wie vor die Ausnahme ist,148) wird klar, dass § 61 InsO im Regelfall schon aus strukturellen Gründen nicht dazu geeignet ist, den Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens sicherzustellen. Denn ein „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 i. V. m. § 22 Abs. 2 InsO) begründet keine Masseverbindlichkeiten; § 55 Abs. 2 InsO ist nicht analog anwendbar.149) Die Praxis hat deshalb das Modell der sog. Einzelermächtigung geschaffen:150) Dabei wird dem „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter durch gerichtlichen Beschluss die Befugnis verliehen, selbst ein Massedarlehen aufzunehmen, wobei sich die Ermächtigung inhaltlich auf „einzelne, im Voraus genau festgelegte Verpflichtungen zu Lasten der späteren Insolvenzmasse“ beziehen muss.151) Dadurch wird der Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens in den Stand einer Masseverbindlichkeit erhoben.152) 72 Keine Strategie der Sicherstellung des Darlehensrückzahlungsanspruchs ist die Erklärung des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters, dass das Darlehen aus der Insolvenzmasse zurückgeführt werden wird (sog. Zahlungszusage). Zwar liegen zwei oberlandesgerichtliche Urteile vor, nach denen der Verstoß gegen eine solche Zahlungszusage die persönliche Haftung des Verwalters begründet: Das OLG Celle meint, dass die Aussage, die Zahlung durch das Insolvenzsonderkonto sei sichergestellt, einen Garantievertrag begründe;153) das OLG Schleswig ist der Ansicht, dass der vorläufige Verwalter sich in diesem Fall einer Haftung aus culpa in contrahendo aussetze.154) 73 Eine solche Zahlungszusage ist nach h. M. aber unzulässig, weil der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter die ihm durch die InsO verliehenen Kompetenzen überschreitet, wenn er eine solche Zusage gibt.155) Dass derartiges Verwalterhandeln nicht die Grundlage einer Strategie zur Sicherstellung des Anspruchs auf Rückzahlung eines Massedarlehens sein kann, bedarf keiner näheren Darlegung. 74 Im Eigenverwaltungsverfahren hat das Gericht gemäß § 270c Abs. 4 Satz 1 InsO auf Antrag anordnen, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründet; § 55 Abs. 2 InsO ist im Falle einer solchen Anordnung entsprechend anwendbar (§ 270c Abs. 4 S. 3 InsO). Durch die Aufnahme in den Finanzplan soll die jeweilige Masseverbindlichkeit identifizierbar ___________ 148) Schönfelder, WM 2007, 1489, 1490. 149) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, LS 2, ZIP 2002, 1625; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 55 Rz. 93 m. w. N. 150) Ausführlich – auch zu den Alternativen Treuhand und Anderkonto und zu Kriterien für die Entscheidungsfindung im Einzelfall – Ganter, NZI 2012, 433. Für die Erteilung einer Einzelermächtigung ist die Vorlage einer Liquiditätsplanung (s. hierzu oben Rz. 9 – 16) Voraussetzung, vgl. Borchardt in: Bieg/ Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. II. 2. b) ee), Rz. 15 ff. 151) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625, 1626. 152) Grundlegend BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625 m. Bespr. Prütting/Stickelbrock, ZIP 2002, 1608. S. ferner Laroche, NZI 2010, 965. 153) OLG Celle, Urt. v. 21.10.2003 – 16 U 95/03, NZI 2004, 89, dazu EWiR 2004, 445 (Undritz). 154) OLG Schleswig, Urt. v. 31.10.2003 – 1 U 42/03, NZI 2004, 92, dazu EWiR 2004, 393 (Undritz). 155) AG Hamburg, Beschl. v. 16.12.2002 – 67g IN 419/02 (UfA), NZI 2003, 153, 154 = ZIP 2003, 43; Undritz, NZI 2003, 136, 139; Pape, ZIP 2002, 2277, 2285 ff.; Haarmeyer/Pape, ZInsO 2002, 845, 848 f.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung
sein, insoweit liegen dann Einzelermächtigungen156) und keine Generalermächtigungen (wie zuvor § 270b Abs. 3 InsO a. F.) vor. Soll sich die Ermächtigung auf Verbindlichkeiten erstrecken, die im Finanzplan nicht berücksichtigt sind, bedarf dies einer besonderen Begründung (§ 270c Abs. 4 Satz 2 InsO). Das Organ der Eigenverwaltung haftet analog §§ 60, 61 InsO für begründete Masseverbindlichkeiten.157) Das Massedarlehen kann durch die Bestellung von Realsicherheiten am beweglichen und 75 unbeweglichen Vermögen des Schuldners gesichert werden, also durch Fahrnispfandrechte, Sicherungsübereignungen und -abtretungen oder Grundpfandrechte.158) Geschieht dies, steht dem Darlehensgeber in der späteren Insolvenz des Schuldners ein Absonderungsrecht i. S. der §§ 49 ff. InsO zu. Die Schwierigkeit der Besicherung eines Massedarlehens durch Realsicherheiten besteht darin, dass zum Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags das Vermögen des Schuldners in der Regel wertausschöpfend belastet ist – wäre dem anders, hätte er selbst noch Kredit bekommen und hätte kein Insolvenzantrag gestellt werden müssen. Faktisch steht zur Besicherung des Massedarlehens in der Regel deshalb nur die Wertschöpfung ab Insolvenzantrag zur Verfügung.159) Die mit der Bestellung von Realsicherheiten verbundenen rechtlichen Risiken sind mode- 76 rat.160) Denn eine Anfechtung der Bestellung von Realsicherheiten scheidet nach einer jüngeren Entscheidung des BGH nämlich bereits dann und deshalb aus, wenn bzw. weil die besicherte Verbindlichkeit – also der Anspruch auf Rückzahlung des Massedarlehens – den Rang einer Masseverbindlichkeit hat.161) Verwertet der Insolvenzverwalter die dem Absonderungsrecht unterliegenden Gegenstände, 77 so steht ihm die Feststellungs- und Verwertungspauschale nach § 171 InsO zu, im gesetzlichen Regelfall also 9 % des Verwertungserlöses (abweichend bei der Eigenverwaltung, § 282 Abs. 1 InsO). Ein sorgfältig formulierter Massedarlehensvertrag enthält deshalb Regelungen dazu, wem die Verwertung der Sicherheiten zusteht und, wird sie dem Insolvenzverwalter zugewiesen, welche Erlösbeteiligung der Insolvenzmasse insofern zusteht. Schließlich kommt die Bestellung von Personalsicherheiten in Betracht, also Bürgschaften, 78 Garantien und Schuldbeitritte. Als Sicherungsgeber kommen grundsätzlich alle Personen ausreichender Bonität in Betracht, mit Ausnahme des (vorläufigen) Insolvenzverwalters. Die Übernahme einer persönlichen Garantie bzw. einer persönlichen Bürgschaft des (vorläufigen) Insolvenzverwalters kommt nicht in Betracht, weil er Treuhänder fremden Vermögens ist. Er darf keinerlei Eigeninteresse haben; würde er eine persönliche Garantie oder Bürgschaft übernehmen, wäre er ab sofort in seinen Entscheidungen nicht mehr frei; er würde seine Entscheidungen unter Haftungsvermeidungsaspekten treffen.162) Zum anderen sagt bereits das bürgerliche Recht, dass der Insolvenzverwalter keinerlei Eigengeschäft mit der Insolvenzmasse vornehmen darf. § 450 Abs. 2 BGB verbietet Erwerbsgeschäfte mit der Insolvenzmasse. § 181 BGB verbietet ein Selbstkontrahieren. Die Übernahme einer Bürgschaft oder Garantie gegenüber dem Kreditinstitut geht jedoch mit dem gleichzeitigen Ab___________ 156) Begr RegE SanInsFoG z. § 270c InsO, BT-Drucks. 19/24181; Graf-Schlicker in: Graf-Schlicker, InsO, § 270c Rz. 22. 157) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, NZI 2018, 519. 158) Jaffé in: FS Görg, S. 233, 235 f., 237 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, S. 924. 159) Zur Abtretung von Anfechtungsansprüchen: Bähr in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Kap. 18 Rz. 173 f. 160) Vgl. dazu Wellensiek/Schluck-Amend in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 23 Rz. 57 ff. 161) BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 11, NZI 2014, 321, 322 = ZIP 2014, 584; Hess/Fechner/ Huber, NZI 2014, 439, 444. I. E. ebenso Jaffé in: FS Görg, S. 233, 235 – allerdings unter Hinweis auf § 142 InsO. 162) Uhlenbruck-Maus, InsO, 13. Aufl., 2010, § 22 Rz. 193 f.
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schluss eines Auftrages oder Geschäftsbesorgungsvertrags zwischen dem vorläufigen Insolvenzverwalter und dem Hauptschuldner, der Masse, einher.163) 79 Die Gesellschafter dürften wegen des aus § 135 Abs. 2 InsO folgenden Anfechtungsrisikos in einer Folgeinsolvenz nur dann als Sicherungsgeber in Betracht kommen, wenn sie in den Genuss entweder des Sanierungs- oder des Kleinbeteiligungsprivilegs kommen (§ 39 Abs. 4 Satz 2 bzw. Abs. 5 InsO). 80 Wird das Darlehen im vorläufigen Insolvenzverfahren gewährt, so wird seine Laufzeit typischerweise auf die prognostizierte Dauer des vorläufigen Insolvenzverfahrens – typischerweise drei Monate (§ 183 Abs. 1 SGB III) – begrenzt.164) Kommt es zur Verfahrenseröffnung, wäre entweder das Massedarlehen zurückzuführen oder aber eine Anschlussvereinbarung mit dem Insolvenzverwalter zu treffen. Wird die Verfahrenseröffnung mangels Masse abgelehnt, muss das Darlehen zurückgeführt oder die Sicherheiten verwertet werden. Neben allgemeinen verhaltens- oder erfolgsbedingten vertraglichen Kündigungstatbeständen, also z. B. die Erfüllung bestimmter wirtschaftlicher Voraussetzungen oder Planzahlen, ist vor allem darauf zu achten, auch drohende insolvenzspezifische Ereignisse zu erfassen. Dies bedeutet zum einen, dass ein Kündigungsrecht sowohl für die Fälle vorbehalten werden sollte, dass eine Ablehnung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse droht oder erfolgt, wie auch für die Fälle, dass die Einstellung des eröffneten Insolvenzverfahrens mangels Masse oder wegen Masseunzulänglichkeit droht oder erfolgt.165) 81 Bei der Aufnahme eines summenmäßig erheblichen Darlehens bedarf diese – ebenso wie dessen Besicherung – der Genehmigung des (vorläufigen) Gläubigerausschusses oder, sofern ein solcher nicht eingesetzt ist, der Genehmigung der Gläubigerversammlung (§ 160 InsO).166) Ein Verstoß hiergegen berührt indes die Wirksamkeit des Kreditvertrages nicht (§ 164 InsO), selbst wenn dies dem Kreditgeber bekannt war.167) Die Zustimmung des Gläubigerausschusses resp. der Gläubigerversammlung sollte zur aufschiebenden Bedingung für die Wirksamkeit des Darlehensvertrags gemacht werden. 82 Im gestaltenden Teil des Insolvenzplans kann gemäß § 264 InsO vorgesehen werden, dass die Insolvenzgläubiger nachrangig sind gegenüber Gläubigern mit Forderungen aus Darlehen und sonstigen Krediten,168) die der Schuldner oder die Übernahmegesellschaft während der Zeit der Überwachung aufnimmt oder die ein Massegläubiger in die Zeit der Überwachung hinein stehen lässt.169) In diesem Fall ist zugleich ein Gesamtbetrag für derartige Kredite festzulegen (Kreditrahmen). Dieser darf den Wert der Vermögensgegenstände nicht übersteigen, die in der Vermögensübersicht des Plans (§ 229 Satz 1 InsO) aufgeführt sind. Der Nachrang der Insolvenzgläubiger gemäß § 264 Abs. 1 InsO besteht nur gegenüber Gläubigern, mit denen vereinbart wird, dass und in welcher Höhe der von ihnen gewährte Kredit nach Hauptforderung, Zinsen und Kosten innerhalb des Kreditrahmens liegt, und gegenüber denen der Insolvenzverwalter diese Vereinbarung schriftlich bestätigt. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO bleibt unberührt. § 264 InsO stellt sicher, dass das planmäßig fortzuführende ___________ 163) 164) 165) 166)
Grüneberg-Sprau, BGB, Einf. § 764 Rz. 5. Schönfelder, WM 2007, 1489, 1490. Schönfelder, WM 2007, 1489, 1490. Fink, Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung, Rz. 266 f.; R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 1024; Bähr in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Kap. 18 Rz. 142. 167) Breuer, Insolvenzrechts-Formularbuch, Anm. zu Formular Nr. 15 Massekredit. 168) Das Tatbestandsmerkmal des „sonstigen Kredits“ ist weit auszulegen und umfasst alle Maßnahmen der Fremdkapitalfinanzierung mit Ausnahme der Gesellschafterdarlehen, die Eigenkapital darstellen, s. Frege/Nicht in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 27 Rz. 24 f. 169) Zu dieser Vorschrift Fink, Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung, Rz. 356 ff., und Frege/Nicht in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 27.
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Die Finanzierung der Betriebsfortführung
Unternehmen in die Lage versetzt wird, zur Deckung der Fortführungsverbindlichkeiten Kredite in Anspruch zu nehmen, ohne dass der Kreditgeber im Falle des Scheiterns der Sanierung einen Ausfall hinnehmen muss.170) 2.2
Gesellschafterdarlehen
Auch ein Darlehen der Gesellschafter des Schuldners an den Insolvenzverwalter kann zur 83 Finanzierung der Betriebsfortführung dienen.171) Die Hingabe eines Gesellschafterdarlehens kann für den Gesellschafter sinnvoll sein, wenn er so durch einen Beitrag zu einem Sanierungskonzept den Totalverlust seiner Einlage vermeiden kann. Zu den Vorteilen des Gesellschafterdarlehens gegenüber der Teilnahme an einer Kapitalerhöhung gehören die größere kautelarische Flexibilität, die schlichtere Struktur und, daraus folgend, geringere Kosten, fehlende Registerpublizität und die steuerliche Attraktivität für die Gesellschaft. Ein Gesellschafterdarlehen ist auch dann das Mittel der Wahl, wenn einzelne Gesellschafter überquotale Beiträge zur Krisenüberwindung erbringen möchten, ohne dass die Mitgesellschafter daran partizipieren. Zu den Nachteilen des Gesellschafterdarlehens gehört das aus §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO 84 sich ergebende Risiko des insolvenzrechtlichen Nachrangs und der Anfechtung im Falle einer Folgeinsolvenz.172) Risikomindernd wirkt § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO, wonach sanierungswillige Gläubiger, die zum Zwecke der Sanierung Anteile erwerben, von der Anwendung der §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO verschont werden (Sanierungsprivileg). Auch i. R. der Anfechtung nach § 133 InsO ist der sanierende Gläubiger nach ständiger Rechtsprechung des BGH i. R. eines „ernsthaften Sanierungsversuchs“ privilegiert.173) Zu den Risiken der Kreditgewährung in Krise und Insolvenz gehört schließlich dasjenige der Haftung aus § 826 BGB. Zu dieser Haftung kommt es, wenn der Darlehensgeber das Darlehen nur deshalb gewährt oder prolongiert, um seine eigene Position im Falle einer Folgeinsolvenz auf Kosten anderer Gläubiger zu verbessern.174) 3.
Kurzfristige Kreditfinanzierung
3.1
Handelskredit
Als die wichtigste Form der kurzfristigen Kreditfinanzierung wird international der Handels- 85 kredit angesehen.175) Seine Vorteile sind, dass es sich um eine kostengünstige und einfach zu erlangende Finanzierung handelt. Er steht grundsätzlich jeder Art von Unternehmen zur Verfügung.176) Von diesen Vorteilen wird regelmäßig auch i. R. der Betriebsfortführung in der Insolvenz profitiert. Unter dem Begriff des Handelskredits werden der Lieferantenkredit und erhaltene Kundenanzahlungen zusammengefasst: x
Unter Lieferantenkredit im engeren Sinn versteht man den Kredit, der vom Verkäufer einer Ware dem Käufer im Zusammenhang mit dem Warenabsatz gewährt wird.177) Wesentliches Merkmal des Lieferantenkredits ist seine enge Verbundenheit zum Warenabsatz. In Form des Lieferungskredits soll er den Zeitraum zwischen Beschaffung und Wiedergeldwerdung der Ware überbrücken. Die Tilgung erfolgt aus dem Umsatzerlös
___________ 170) R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 1024; Braun/Frank in: Kölner Schrift zur InsO, S. 859 ff. Rz. 17 – 19. 171) Fink, Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung, Rz. 320 ff. 172) Nicht jedoch in dem Insolvenzverfahren, in dem es gegeben wird, s. Parzinger, Fortführungsfinanzierung in der Insolvenz, S. 73. 173) BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137. 174) Ausführlich Engert, Die Haftung für drittschädigende Kreditgewährung. 175) Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 382. 176) Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 385. 177) Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 455.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung der kreditierten Ware. Geldmittel werden dem Kreditnehmer hierbei nicht zur Verfügung gestellt, sondern die Kreditierung liegt in der Stundung des Kaufpreises der Ware durch den Lieferanten. Daneben werden auch Einrichtungs- oder Ausstattungskredite, die der Lieferant seinen Abnehmern gewährt, zu den Lieferantenkrediten gezählt.178) Sie sind – insbesondere in der Situation der Betriebsfortführung in der Insolvenz – von untergeordneter Bedeutung und werden hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
x
Während beim Lieferantenkredit eine Kreditierung durch Zulieferer der Unternehmen erfolgt, treten beim Anzahlungskredit Abnehmer als Kreditgeber auf.179) Der Besteller einer Ware leistet hier im Voraus, d. h. vor Lieferung, teilweise oder vollständige Bezahlung. Die Anzahlung oder Vorauszahlung stellen für das produzierende Unternehmen eine Finanzierungshilfe dar. Ferner wird das Risiko verringert, dass der Auftraggeber die bestellte Ware nicht abnimmt oder keine Zahlung leistet. Anzahlungen können zinslos zur Verfügung gestellt werden, oder die Berücksichtigung der Kreditzinsen erfolgt durch einen unter dem normalen Barpreis liegenden Rechnungsbetrag.
3.2
Kontokorrentkredit
86 Der Kontokorrentkredit stellt eine klassische Form des kurzfristigen Kredits dar.180) Unter dem Begriff wird typischerweise der von einer Bank gewährte Kredit verstanden, der durch die Einräumung der Möglichkeit gewährt wird, ein Kontokorrentkonto (oder Girokonto) zu überziehen. Mit der Eröffnung eines Kontokorrentkontos ist freilich nicht automatisch eine Krediteinräumung verbunden. In der Regel setzt diese einen Kreditantrag und eine Kreditwürdigkeitsprüfung durch die Bank voraus. Die Zusage des Kredits erfolgt dann in Form einer vertraglich eingeräumten Kontokorrentkreditlinie. 87 Der Vorteil des Kontokorrentkredits ist, dass er, ist er erst einmal vereinbart, sofort und flexibel zur Verfügung steht.181) Er ist insbesondere geeignet für den Ausgleich von Liquiditätsschwankungen hingen in der Abwicklung des Zahlungsverkehrs,182) nie jedoch für die Finanzierung (gar langfristiger) Investitionen.183) Der Nachteil des Kontokorrentkredits ist, dass er verhältnismäßig teuer ist: Die Kosten für die Inanspruchnahme eines Kontokorrentkredits setzen sich zusammen aus den (verglichen mit Habenzinsen) hohen Sollzinsen, der Bereitstellungsprovision, der Überziehungsprovision (typischerweise 3 – 4 % p. a.), der Umsatzprovision und den Gebühren.184) Ein weiterer Nachteil ist, dass der Kontokorrentkredit typischerweise sehr kurzfristig kündbar ist.185) 4.
Kreditsubstitute
88 Neben den verschiedenen Formen des kurz- und langfristigen Kredits haben sich in den letzten Jahrzehnten Finanzierungsinstrumente herausgebildet, die Kredite substituieren können. Die wichtigsten Kreditsubstitute sind das Factoring und das Leasing. ___________ Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 456. Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 457. Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 457. Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 458. Zantow/Dinauer/Schäffler, Finanzwirtschaft des Unternehmens, S. 189. Vgl. Ferran, Principles of Corporate Finance, S. 319, wonach in Großbritannien viele Unternehmen den Kontokorrentkredit als Notfallkredit ansehen und gar nicht laufend in Anspruch nehmen. 183) Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 378. 184) Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 349–354; Zantow/Dinauer/Schäffler, Finanzwirtschaft des Unternehmens, S. 189. 185) Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 377. Das Problem tritt in Deutschland mit der aus Großbritannien bekannten Schärfe (wo grundsätzlich jederzeit sofortige Rückzahlung verlangt werden kann) nur in den Fällen der ungenehmigten Kontoüberziehung auf.
178) 179) 180) 181) 182)
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung 4.1
Factoring
Factoring ist der laufende Ankauf von Forderungen aus Lieferungen und Leistungen 89 durch einen Factor, der typischerweise vor Fälligkeit und unter Übernahme bestimmter Servicefunktionen und des Delkredererisikos erfolgt.186) Geschieht dies, spricht man von echtem Factoring187) und kommen dem Factoringvertrag drei Funktionen zu:188) x
Die Finanzierungsfunktion, die in der Schaffung sofort verfügbarer Liquidität besteht;
x
die Dienstleistungsfunktion, die in der Übernahme von Debitorenbuchhaltung, Inkasso- und Mahnwesen liegt;
x
und schließlich die Kreditsicherungsfunktion, die in der Übernahme des Ausfallrisikos durch den Factor liegt.
In juristischer Hinsicht können beim Factoring der Rahmenvertrag zwischen dem Factor 90 und dem Anschlusskunden sowie die Verträge über den Ankauf einzelner Forderungen unterschieden werden. Im Rahmen des vorläufigen Insolvenzverfahrens bleibt der Rahmenvertrag in seinem recht- 91 lichen Bestand grundsätzlich unberührt. Verträge über den Ankauf der einzelnen Forderungen können bei Bestellung eines „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters nur noch mit dessen Zustimmung, bei Bestellung eines „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters nur noch durch diesen geschlossen werden. Wird das Insolvenzverfahren eröffnet, so erlischt der Rahmenvertrag ipso iure (§§ 115, 92 116 InsO).189) Praktisch gesehen bedeutet dies, dass, will der Insolvenzverwalter Factoring für die Finanzierung der Betriebsfortführung nutzen, er den Zeitraum der vorläufigen Insolvenzverwaltung dazu nutzen sollte, mit dem Factor einen Anschlussvertrag zu verhandeln. Der Abschluss eines solchen im eröffneten Insolvenzverfahren ist von der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters gedeckt, wenn er sich i. R. des Insolvenzzwecks hält und der Betriebsfortführung dient. Ist der Abschluss des Anschlussvertrags von erheblicher Bedeutung für die Insolvenzmasse, ist die Zustimmung des Gläubigerausschusses oder, wo ein solcher nicht bestellt ist, der Gläubigerversammlung einzuholen (§ 160 Abs. 1 Satz 1 InsO). Die Weiterführung oder der Neuabschluss eines Factoringvertrags wird allerdings nur in Betracht kommen, wenn die Fortführung des Betriebs längerfristig angelegt ist, also z. B. zur Vorbereitung einer übertragenden Sanierung oder i. R. eines Insolvenzplans erfolgt. Das Factoring hat folgende Vorteile: Durch die Gewährung von Zahlungszielen erleidet 93 das fortzuführende Unternehmen an sich einen Liquiditätsverlust, so dass es zu Zahlungsengpässen und zum Verlust von Barzahlungsskonti kommen kann.190) Ein Unternehmen, das seinen Kunden Zahlungsziele einräumt, muss überdies Rechnungen schreiben, eine ___________ 186) Perridon/Steiner/Rathgeber, Finanzwirtschaft der Unternehmung, S. 485. 187) Von unechtem Factoring spricht man, wenn der Factor das Delkredererisiko des Forderungsschuldners nicht übernimmt (Grüneberg-Grüneberg, BGB, § 398 Rz. 39 f.). Unechtes Factoring birgt das juristische Risiko, dass die dem Factoring zugrunde liegende Zession nach Maßgabe der sog. Vertragsbruchtheorie nichtig ist (Grüneberg-Grüneberg, BGB, § 398 Rz. 40). Sie sind deshalb nicht besonders verbreitet. 188) Larenz-Canaris, Schuldrecht, S. 85. 189) Sinz in: Kölner Schrift zur InsO, Rz. 101 f. Nach der Gegenansicht findet § 103 Abs. 1 InsO auf das echte Factoring Anwendung, so dass der Insolvenzverwalter über die Fortsetzung oder Beendigung des Rahmenvertrags entscheiden kann; nur beim unechten Factoring führe die Insolvenz des Anschlusskunden nach §§ 115, 116 InsO zum Erlöschen des Rahmenvertrags. In der Praxis wird ohnehin regelmäßig ein fristloses Kündigungsrecht des Factors bei Insolvenz des Anschlusskunden vereinbart und ausgeübt, so dass der Meinungsstreit kaum je relevant wird. 190) Larenz-Canaris, Schuldrecht, S. 85.
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Debitorenbuchhaltung führen und Zahlungseingänge überwachen.191) Die Weiterführung oder der Neuabschluss eines Factoringvertrags kann wegen der Vermeidung dieser Nachteile sowohl liquiditätsschonend als auch kostensenkend192) wirkend. Als Vorteil wird in Abgrenzung zum Kontokorrent auch die Finanzierungssicherheit genannt, und zwar in Form typischerweise längerer Kündigungsfristen und starrer vertraglicher Konditionen.193) 94 Als Nachteil des Factoring wird der erhebliche organisatorische und finanzielle Aufwand genannt, der nach dem Ende eines längerfristigen Factoringvertrags getrieben werden muss, um die drei genannten Funktionen wieder unternehmensintern abzudecken. Ferner kann insbesondere das offene Factoring von Geschäftspartnern als Zeichen wirtschaftlicher Schwäche gedeutet werden.194) Beide Gesichtspunkte sind in der speziellen Situation der Betriebsfortführung in der Insolvenz aber von nachrangiger Bedeutung. Ein Nachteil, der bedacht werden sollte, ist dagegen stets der, dass das unechte Factoring als Kreditsubstitut den §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO unterfallen kann, wird der Vertrag mit einem Gesellschafter geschlossen.195) 4.2
Leasing
95 Rechtlich und steuerlich können mehrere Arten des Leasings unterschieden werden: x
Beim Finanzierungsleasing erwirbt der Leasinggeber nach Abschluss des Leasingvertrags den Leasinggegenstand und überlässt ihn dem Leasingnehmer gegen Zahlung der Leasingraten für eine bestimmte Zeit zur Nutzung. Der Leasingnehmer trägt die Gefahr des Untergangs und der Beschädigung.196) Ziel des Leasingebers ist, die Vollamortisation der Anschaffung des Leasinggegenstandes zu erreichen, indem der Leasingnehmer durch seine Zahlungen den Kaufpreis des Leasinggegenstands zzgl. aller Kosten, Zinsen, Kreditrisiko und Gewinn vergütet.197) Enthält der Leasingvertrag – wie typischerweise – eine Kaufoption, ähnelt er einem finanzierten Kaufvertrag, worin die Finanzierungsfunktion dieser Form des Leasings besonders deutlich zum Ausdruck kommt.
x
Das Sale-and-Lease-back-Geschäft ist eine Weiterentwicklung des Finanzierungsleasing. Dabei wird der Leasinggegenstand vom Leasinggeber nicht von einem Dritten, sondern vom Leasingnehmer erworben und diesem dann gegen Entgelt zur Nutzung überlassen. Neben die Finanzierungsfunktion in ihrer allgemeinen Ausprägung tritt der besondere Effekt, dass durch den Zufluss des Kaufpreises beim Leasingnehmer ein einmaliger Liquiditätseffekt geschaffen wird.
x
Das Operating Leasing schließlich zielt auf Amortisation der Kosten der Anschaffung des Leasinggegenstands durch mehrfaches Überlassen des Leasinggegenstands an verschiedene Leasingnehmer ab. Es handelt sich jeweils um Mietverträge.198)
96 Im Rahmen des vorläufigen Insolvenzverfahrens bleibt der Leasingvertrag in seinem rechtlichen Bestand grundsätzlich unberührt. Der Neuabschluss solcher Verträge kann in dieser ___________ 191) Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 334. 192) Gewiss muss bedacht werden, dass der Factor für die Übernahme der drei genannten Funktionen ein Entgelt verlangt. Dies liegt nach Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker (Unternehmensfinanzierung, S. 337) je nach Arbeitsaufwand zwischen 0,8 % bis 2,5 % des Forderungsumsatzes und kann sich mithin als kostengünstiger erweisen als der Unterhalt einer Debitorenbuchhaltung. 193) Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 392. 194) Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Unternehmensfinanzierung, S. 337. 195) Johlke/Schröder in: v. Gerkan/Hommelhoff, Hdb. Kapitalersatzrecht, Rz. 5.55 f. 196) Grüneberg-Weidenkaff, BGB, Einf. § 535 Rz. 37. 197) Grüneberg-Weidenkaff, BGB, Einf. § 535 Rz. 39 a. E. 198) Grüneberg-Weidenkaff, BGB, Einf. § 535 Rz. 40.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
Phase bei Bestellung eines „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters nur noch mit dessen Zustimmung, bei Bestellung eines „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters nur noch durch diesen stattfinden. Bestehen bei Insolvenzeröffnung ungekündigte199) Leasingverträge, so steht dem Insolvenzverwalter im Falle beweglicher Sachen das Wahlrecht des § 103 InsO zu Gebote. Im Falle unbeweglicher Sachen gilt § 108 InsO und besteht der Vertrag zunächst fort. War der Leasinggegenstand noch nicht überlassen, gilt § 109 Abs. 1 InsO und besteht ein beiderseitiges Rücktrittsrecht. Der Abschluss neuer Leasingverträge ist dann von der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters nach § 80 InsO gedeckt, wenn er sich i. R. des Insolvenzzwecks hält und der Betriebsfortführung dient. Ist der Neuabschluss eines Leasingvertrags von erheblicher Bedeutung für die Insolvenzmasse, ist die Zustimmung des Gläubigerausschusses oder, wo ein solcher nicht bestellt ist, der Gläubigerversammlung einzuholen (§ 160 Abs. 1 Satz 1 InsO). Ganz generell ist dabei zu beachten, dass die Weiterführung oder der Neuabschluss von Leasingverträgen wegen der typischerweise längeren Vertragsdauer200) nur in Betracht kommt, wenn sie Teil eines längerfristigen Sanierungskonzeptes – etwa i. R. eines Insolvenzplans – sind. Sowohl das Finanzierungsleasing als auch das Sale-and-Lease-back-Geschäft können Bau- 97 steine der Finanzierung der Betriebsfortführung sein. Zu ihren Vorteilen zählen ihre gute Verfügbarkeit, die Bequemlichkeit der Finanzierung, die Vertragsklarheit, die aus der Vereinbarung typischerweise starrer Konditionen folgende Finanzierungssicherheit und steuerliche Vorteile.201) Insbesondere das Sale-and-Lease-back-Geschäft ist i. R. der Finanzierung der Betriebsfortführung reizvoll: Der Insolvenzverwalter verkauft betriebsnotwendiges Anlagevermögen an eine Leasinggesellschaft, die es dem Insolvenzverwalter gegen Entgelt zur Nutzung überlässt. Dem Unternehmen fließen auf diese Weise liquide Mittel (der Kaufpreis) zu, ohne dass auf eine betriebliche Nutzung des veräußerten Gegenstands verzichtet werden muss.202) Ein solches Geschäft setzt allerdings voraus, dass der betreffende Gegenstand nicht mit einem Sicherungsrecht belastet ist (oder die Zustimmung des Sicherungsgebers vorliegt) und dass der Anspruch auf Zahlung der Leasingraten Masseverbindlichkeit ist. Ähnlich wie beim Massedarlehen kann dies dort, wo ein Insolvenzverfahren noch nicht eröffnet und kein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt ist, durch eine Einzelermächtigung des Insolvenzgerichts sichergestellt werden. Zu den Nachteilen des Leasing gehört das Risiko, dass es als Kreditsubstitut dem Regime der §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO unterfallen kann, wenn ein Gesellschafter der Leasinggeber ist.203) 5.
Fortführungsvereinbarungen
Unter Fortführungsvereinbarungen werden Verträge verstanden, mit denen sich der In- 98 solvenzverwalter verpflichtet, im beantragten und/oder eröffneten Insolvenzverfahren den Betrieb des Schuldners fortzuführen und den Vertragspartner weiterhin zu vereinbarten Konditionen zu beliefern, wobei der Vertragspartner einen etwaig aus der Betriebsfortfüh-
___________ 199) Für Leasingverträge gilt die Kündigungssperre des § 112 InsO, s. Grüneberg-Weidenkaff, BGB, Einf. § 535 Rz. 73. 200) Die Laufzeit eines typischen Finanzierungsleasingvertrags beträgt typischerweise 40 % bis 90 % der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer des Gegenstands, mithin in Abhängigkeit vom konkreten Gegenstand zwischen zwei und sieben Jahren, s. Grüneberg-Weidenkaff, BGB, Einf. § 535 Rz. 39. 201) Arnold, The Handbook of Corporate Finance, S. 395. 202) Lixfeld, Planung und Beschaffung von Liquidität, S. 154. 203) Johlke/Schröder in: v. Gerkan/Hommelhoff, Hdb. Kapitalersatzrecht, Rz. 5.71 und 5.73; Sinz in: Kölner Schrift zur InsO, Rz. 55 ff.
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§9
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
rung erzielten Verlust auszugleichen hat.204) Fortführungsvereinbarungen erweisen sich damit systematisch als ein Instrument der Fremdfinanzierung. 99 Typische Inhalte einer Fortführungsvereinbarung sind:205) x
die Verpflichtung des Vertragspartners, einen etwaig durch die Betriebsfortführung erzielten Verlust auszugleichen. Bei der Vereinbarung der Verlustübernahme werden jedoch nur solche Aufwendungen berücksichtigt, die während des Insolvenzverfahrens ausgabewirksam werden. Verbindlichkeiten, die Insolvenzforderungen sind oder werden, oder Abschreibungen auf das Anlagevermögen entfallen.
x
Änderungen bestehender vertraglicher Absprachen, wie z. B. Preiserhöhungen, die nach den Kalkulationen des (vorläufigen) Insolvenzverwalters erforderlich sind, um ein ausgeglichenes Ergebnis zu erzielen oder Beschränkung von Gewährleistungsregelungen, um zusätzliche finanzielle Belastungen zu vermeiden;
x
Zahlungspflichten des Vertragspartners, namentlich die Leistung von Abschlagszahlungen durch den Kunden, um die Zahlungsunfähigkeit des schuldnerischen Unternehmens herzustellen;
x
Verfahrenskostengarantien, mit der die Vergütung des Insolvenzverwalters, die Gerichtskosten und die Vergütung des Gläubigerausschusses in einer bestimmten Höhe garantiert werden;206)
x
Rückerstattungsverpflichtungen. Vereinbart wird, dass Leistungen des Vertragspartners im eröffneten Verfahren im Rang einer Masseverbindlichkeit erstattet werden müssen, wenn sie zur Betriebsfortführung nicht benötigt wurden oder werden, wenn aus der Betriebsfortführung Überschüsse erzielt werden oder wenn die Betriebsfortführung fehlschlägt.
x
Aufrechnungsverbote;
x
Haftungsausschluss des vorläufigen Insolvenzverwalters;
x
Informationsrechte;
x
Regelungen zur Laufzeit der Fortführungsvereinbarung (typischerweise sechs bis neun Monate) sowie
x
Kündigungsrechte.
100 Mit dem Abschluss einer Fortführungsvereinbarung ist für den Vertragspartner des Insolvenzverwalters eine Reihe von Risiken verbunden. So wird in der Literatur das Risiko genannt, dass der vorläufige Insolvenzverwalter dem Kunden kein oder kein lastenfreies Eigentum an Sachen überträgt, weil er über Gegenstände verfügt, an denen Dritte Sicherungsrechte haben. Dabei handelt es sich indessen nur um ein theoretisches Risiko, wenn diejenigen Mittel, die zur Ablösung etwaig bestehender Sicherungsrechte erforderlich sind, eingeplant und zum Gegenstand der Verlustausgleichspflicht oder von Zahlungsverpflichtungen gemacht werden. Ferner ist denkbar, dass eine Fortführungsvereinbarung, die von einem schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter abgeschlossen wurde, im eröffneten ___________ 204) Grub in: FS Görg, S. 201. Muster: Hill, ZInsO 2014, 642, dazu Hill, ZInsO 2014, 1513. Weiterführend Schluck-Amend/Seibold, ZIP 2010, 62; Haarmeyer/Wutzke/Förster, Hdb. vorl. Insolvenzverwaltung, § 12 Rz. 29 – 35; Paulus, ZInsO 2015, 2160. 205) Schluck-Amend/Seibold, ZIP 2010, 62 ff.; Henkel in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. II. 3. c) Rz. 35 ff. 206) Zur Frage, ob ein Automobilhersteller, der sich in einer Fortführungsvereinbarung für den Fall (partieller) Masseunzulänglichkeit gegenüber der Masse verpflichtet hat, für die Kosten des Insolvenzverfahrens (anteilig) einzustehen, gegen die Festsetzung der Vergütung des (vorläufigen) Verwalters beschwerdeberechtigt ist, BGH, Beschl. v. 20.12.2012 – IX ZB 19/10, ZIP 2013, 226 = ZInsO 2013, 238 (bejahend).
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
Verfahren vom Insolvenzverwalter angefochten oder gemäß § 103 InsO nicht erfüllt wird. Das Anfechtungsrisiko wird sich jedenfalls dann als gut beherrschbar erweisen, wenn der i. R. der Fortführungsvereinbarung Leistungsaustausch als Bargeschäft i. S. des § 142 InsO strukturiert wird. Das Risiko, dass der Insolvenzverwalter Nichterfüllung der Fortführungsvereinbarung wählt, ist in rechtlicher Hinsicht real.207) Schließlich besteht das Risiko, dass etwaige Rückzahlungsverpflichtungen nicht erfüllt werden. Insofern muss – wie beim Massedarlehen – zunächst dafür gesorgt werden, dass der Rückzahlungsanspruch Masseverbindlichkeit ist; dies geschieht – wie beim Massedarlehen – dadurch, dass eine Einzelermächtigung des Insolvenzgerichts beantragt wird.208) Geschieht dies, verbleibt das Risiko der Masseunzulänglichkeit, gegen das sich der Vertragspartner nur durch Real- oder Personalsicherheiten schützen kann. Nicht übersehen werden darf allerdings, dass das Risiko der Masseunzulänglichkeit bei mit einer sorgfältig erstellten Liquiditätsplanung unterlegten Fortführungsvereinbarungen ein theoretisches ist, denn diese sollen ja gerade dazu dienen, Masseunzulänglichkeit zu vermeiden. Ein Sonderproblem ist die Frage, wie sich ein Vertragspartner dagegen schützen kann, 101 dass der Insolvenzverwalter gegen etwaige Rückzahlungsansprüche aus der Fortführungsvereinbarung mit Anfechtungsansprüchen aufrechnet. Das kann einmal dadurch geschehen, dass Zahlungen des Vertragspartners auf einem Treuhandkonto von der übrigen Insolvenzmasse separiert werden. Das bewirkt, dass gegen den Anspruch auf Herausgabe des Treugutes nur noch mit Ansprüchen aus dem Treuhandverhältnis, aber nicht mit anderen Ansprüchen – wie Anfechtungsansprüchen – aufgerechnet werden kann. Alternativ kommt die Vereinbarung eines vertraglichen Aufrechnungsverbots in Betracht. VI.
Finanzierung durch die öffentliche Hand
Zur Sanierung von Unternehmen stehen bisweilen auch Finanzierungshilfen der öffentli- 102 chen Hand zur Verfügung.209) Systematisch handelt es sich um Maßnahmen der Außenfinanzierung, wobei sowohl (selten) Maßnahmen der Eigenfinanzierung als auch (fast ausschließlich) Maßnahmen der Fremdfinanzierung Anwendung finden. Typische Formen der Finanzierung durch die öffentliche Hand sind die Hingabe von Darlehen,210) die Gewährung von Investitionszulagen und die Bestellung von Sicherheiten für Bank- oder Lieferantenkredite.211) Wie stets, so gilt auch im Sondergebiet der Finanzierung durch die öffentliche Hand, dass nicht alle Finanzierungsformen für die Finanzierung der Betriebsfortführung in der Insolvenz in Betracht kommen. Hinzu kommt erschwerend, dass die meisten der angebotenen Finanzierungsprogramme langfristig angelegt sind, die Betriebsfortführung in der Insolvenz sich ihrer Natur nach aber auf einen eher kürzeren Zeitraum beschränkt. Tatsächlich dürften zur Finanzierung der Betriebsfortführung nur kurzfristige Darlehen und Bürgschaften der öffentlichen Hand in Betracht kommen.212) In der Regel schließen die Bürgschaftsrichtlinien zwar Bürgschaften zum Zwecke der Unternehmenssanierung aus und gestatten diese nur zur Förderung von Investitionen. Tatsächlich aber werden Bürgschaften gerade zu diesem Zweck gewährt; finanzielle Sanierungen sind gewöhnlich auch ___________ 207) S. Brugugnone, NZI 2012, 638, 640; dagegen Schaaf/Mushardt, BB 2013, 2056. 208) Grub in: FS Görg, S. 201, 205. 209) Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 16 Rz. 55; Ehricke, WM Beilage 3/2001; Hess/Fechner/Freund/Körner-Hess, Sanierungshandbuch, S. 468 ff.; R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 1082 ff.; Wellensiek/Schluck-Amend in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 23 Rz. 60.; ausführliche zu den Pandemiebedingten Programmen durch Bund und Länder: Hermanns/Erdmann in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 22. 210) Schimansky/Bunte/Lwowski-Peters, Bankrechts-Hdb., § 89. 211) Wellensiek/Schluck-Amend in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 23 Rz. 60. 212) Wellensiek/Schluck-Amend in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 23 Rz. 62.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
mit der Umsetzung investiver Maßnahmen verbunden. Es existieren verschiedene Bürgschaftsprogramme, die in der Regel alle eine maximale Besicherung i. H. von 80 % des Kreditbetrages erlauben.213) Ist der Abschluss des Darlehens- oder Bürgschaftsvertrags von erheblicher Bedeutung für die Insolvenzmasse, ist die Zustimmung des Gläubigerausschusses oder, wo ein solcher nicht bestellt ist, der Gläubigerversammlung einzuholen (§ 160 Abs. 1 Nr. 1 InsO). 103 Bei der Gewährung einer öffentlichen Finanzierungshilfe in der Krise des Unternehmens handelt es sich in der Regel um eine Beihilfe i. S. von Art. 107 AEUV. Solche Beihilfen sind mit dem Binnenmarkt grundsätzlich nicht vereinbar.214) Etwas anderes gilt gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV aber für Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. Unter diese Ausnahmevorschrift werden auch die sog. Rettungsbeihilfen215) subsumiert, wenn sie die Voraussetzungen der Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten216) erfüllen.217) Ein Unternehmen in Schwierigkeiten ist danach einerseits ein Unternehmen, hinsichtlich dessen die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Antrag eines Gläubigers erfüllt sind, bezogen auf Deutschland also Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vorliegen.218) Die drohende Zahlungsunfähigkeit führt dagegen nicht (mehr) per se dazu, dass das betroffene Unternehmen „in Schwierigkeiten“ i. S. der Leitlinien 2014 ist, weil die drohende Zahlungsunfähigkeit nach deutschem Recht nur den Schuldner selbst, nicht aber einen Gläubiger zur Antragstellung berechtigt.219) Daneben befindet sich ein Unternehmen aber auch dann in Schwierigkeiten, wenn ein Insolvenzverfahren bereits eröffnet ist.220) Mithin kann sowohl eine im vorläufigen als auch im eröffneten Insolvenzverfahren gewährte öffentliche Finanzierungshilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar sein. 104 Die Genehmigungsvoraussetzungen für eine Rettungsbeihilfe221) sind in Kapitel 3.3.1 der Leitlinie 2014 aufgezählt: x
Es muss sich um vorübergehende Liquiditätshilfen in Form von Darlehensbürgschaften oder Darlehen handeln.
x
Die Höhe der Vergütung, die ein begünstigtes Unternehmen für eine Rettungsbeihilfe zu zahlen hat, sollte der zugrunde liegenden Kreditwürdigkeit des jeweiligen Unternehmens unter Berücksichtigung der vorübergehenden Auswirkungen der Liquiditäts-
___________ 213) Wellensiek/Schluck-Amend in: Münch-AHB GmbH-Recht, § 23 Rz. 62. 214) Die Rechtsunsicherheit, ausgelöst durch die Auffassung der Europäischen Kommission, dass die Sanierungsklausel einen staatliche Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sei, hat der EuGH mit seiner Entscheidung vom 28.6.2018, abschließend beseitigt. EuGH, Urt. v. 28.6.2018 – Rs. C-203/16 P (Andres), ECLI:EU:C:2018:505. 215) Die dem europäischen Recht ebenfalls bekannte Umstrukturierungsbeihilfe ist im Unterschied zur Rettungsbeihilfe für die langfristige Sanierung des Unternehmens gedacht. Sie ist i. R. der Betriebsfortführung im vorläufigen oder eröffneten Insolvenzverfahren daher tendenziell weniger geeignet als die Rettungsbeihilfe. 216) Mitteilung der Kommission, Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014 (fortan zit. als Leitlinien 2014); dazu Möhlenkamp, ZIP Beilage z. Heft 44/2014, S1 (mit Abdruck der Leitlinien). 217) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 Rz. 228. 218) Leitlinien 2014 der Gemeinschaft, Rz. 20 lit. c. 219) Möhlenkamp, ZIP Beilage z. Heft 44/2014, S4. 220) Leitlinien 2014 der Gemeinschaft, Rz. 20 lit. c. 221) Zu praktischen Problemen und ihrer Lösung Koenig/Pickartz, BB 2001, 633.
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§9
Die Finanzierung der Betriebsfortführung
probleme und der staatlichen Unterstützung Rechnung tragen und dem begünstigten Unternehmen einen Anreiz bieten, die Beihilfe möglichst rasch zurückzuzahlen.222) x
Soweit nicht unter Tz. 55 lit. d der Leitlinien etwas anderes festgelegt ist, gilt für die Rückzahlung von Darlehen und die Laufzeit von Bürgschaften eine höchstens sechsmonatige Frist ab Auszahlung der ersten Rate an das begünstigte Unternehmen.
x
Die Mitgliedstaaten müssen sich verpflichten, der Kommission innerhalb von sechs Monaten nach Genehmigung der Rettungsbeihilfe oder, im Falle nicht angemeldeter Beihilfen, spätestens sechs Monate ab Auszahlung der ersten Rate an das begünstigte Unternehmen Folgendes zu übermitteln: x
einen Nachweis darüber, dass das Darlehen vollständig zurückgezahlt und/oder die Bürgschaft ausgelaufen ist, oder
x
sofern das begünstigte Unternehmen ein Unternehmen in Schwierigkeiten ist (und es nicht lediglich mit einem akuten Liquiditätsbedarf konfrontiert ist), einen Umstrukturierungsplan nach Abschn. 3.1.2 der Leitlinie 2014; bei Vorlage eines Umstrukturierungsplans verlängert sich die Genehmigung der Rettungsbeihilfe automatisch bis zum endgültigen Beschluss der Kommission über den Plan, es sei denn, die Kommission stellt fest, dass eine solche Verlängerung nicht gerechtfertigt ist oder im Hinblick auf Zeit oder Anwendungsbereich begrenzt werden sollte; sobald ein Umstrukturierungsplan, für den eine Beihilfe beantragt worden ist, erstellt ist und umgesetzt wird, gilt jede weitere Beihilfe als Umstrukturierungsbeihilfe, oder
x
einen Abwicklungsplan, in dem dargelegt und begründet wird, mit welchen Schritten die Abwicklung des begünstigten Unternehmens innerhalb einer angemessenen Frist ohne weitere Beihilfen erreicht werden soll.
x
Rettungsbeihilfen dürfen nicht für die Finanzierung struktureller Maßnahmen, wie bspw. den Erwerb wesentlicher Geschäftsbereiche oder Vermögenswerte verwendet werden, es sei denn, sie sind im Hinblick auf das Überleben des begünstigten Unternehmens während der Laufzeit der Rettungsbeihilfe erforderlich.
x
Der EuGH verlangt über die in der Leitlinie genannten Voraussetzungen hinaus zusätzlich, dass ein tragfähiges Finanzierungskonzept vorliegt.223)
Auch wenn eine Finanzierungshilfe unter die Leitlinie fällt, ist Voraussetzung ihrer Zuläs- 105 sigkeit allerdings, dass das Notifizierungsverfahren nach Art. 108 AEUV durchgeführt wird. Sofern die Rettungsbeihilfen die vorstehenden Voraussetzungen erfüllen, wird die Kommission gemäß Abschn. 7.1 der Leitlinie im sog. Vereinfachten Verfahren innerhalb eines Monats entscheiden, wenn x
die Rettungsbeihilfe auf den Betrag begrenzt ist, der sich aus der Formel in Anhang I ergibt, und höchstens 10 Mio. € beträgt;
x
die Beihilfe nicht in den unter Tz. 72 lit. b und lit. c der Leitlinie 2014 genannten Situationen gewährt wird, also x
wenn die Rettungsbeihilfe oder vorübergehende Umstrukturierungshilfe im Einklang mit diesen Leitlinien gewährt worden ist und im Anschluss keine Umstrukturierungsbeihilfe gewährt wurde, sofern zu dem Zeitpunkt – zu dem die Beihilfe auf der Grundlage dieser Leitlinien gewährt wurde – vernünftigerweise davon ausgegangen
___________ 222) Leitlinie 2014 der Gemeinschaft, Rz. 55, 56. 223) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 227; zur Bedeutung des Beihilfenrechts im Insolvenzplanverfahren Fritze/Heithecker, EuZW 2010, 817.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung werden konnte, dass das begünstigte Unternehmen langfristig rentabel sein würde, und x
neue Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfen frühestens nach fünf Jahren aufgrund unvorhersehbarer Umstände erforderlich werden, die das begünstigte Unternehmen nicht zu vertreten hat oder in außergewöhnlichen und unvorhersehbaren Fällen, die das begünstigte Unternehmen nicht zu vertreten hat.
106 Exkurs zu den Regelungen anlässlich der COVID-19-Pandemie:224) In jüngster Vergangenheit wurden insbesondere COVID-19-Beihilfen auf Art. 107 Abs. 2 AEUV gestützt. Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV gestattet Beihilfen „zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind“. Der Begriff umfasst auch epidemische Krankheiten. Ihre Grenzen findet die Katastrophenbeihilfe deshalb dort, wo die negativen Folgen nicht unmittelbar auf dem außergewöhnlichen Ereignis basieren, sondern die wirtschaftlichen Probleme – wie vielfach bei der COVID-19-Pandemie – auf zwischengeschaltete staatlich angeordnete Maßnahmen wie Betriebsschließungen zurückzuführen sind. Außerdem kann Art. 107 Abs. 2 AEUV keine Wiederaufbaumaßnahmen rechtfertigen.225) 107 Dänemark notifizierte als erster Mitgliedstaat eine Katastrophenbeihilfe i. S. von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV, um Schäden auf Grund des Pandemieausbruchs abgesagter Veranstaltungen zu kompensieren. Die Kommission genehmigte die Beihilfe umgehend. Auf diesem Beschluss aufbauend informierte die EU-Kommission die Mitgliedstaaten in Form einer ersten Mitteilung, wie sie die Katastrophenbeihilfen zu melden hätten, welche Unterlagen dafür notwendig seien und welche Verpflichtungen sie einzugehen hätten. In der Folge wurde von deutscher Seite auf Basis von Art. 107 Abs. 2 lit. b AEUV u. a. ein Darlehen für eine Fluggesellschaft genehmigt.226) 108 Nach Art. 107 Abs. 3 lit. b Alt. 2 AEUV können Beihilfen außerdem für zulässig erklärt werden, wenn sie der „Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats“ dienen. Dies ermöglicht gegenüber Art. 107 Abs. 2 AEUV eine Ermessensausnahme. 109 Zur Konkretisierung des Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV in Bezug auf die COVID-19-Pandemie hat die Kommission am 19.3.2020 einen (neuen), bis Dezember 2020 bereits viermal erweiterten befristeten Beihilferahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft („Befristeter Beihilferahmen“) beschlossen.227) Der Befristete Rahmen ist kein Rechtsakt, sondern nur eine unverbindliche Mitteilung der Kommission. Soll von den erfassten Instrumenten Gebrauch gemacht werden, müssen die Mitgliedstaaten selbst Beihilfenprogramme verabschieden, bei der Kommission notifizieren und genehmigen lassen.228)
___________ 224) Ausführlich zu den pandemiebedingten Programmen durch Bund und Länder: Hermanns/Erdmann in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 22. 225) Seitz/Berne, EuZW 2020, 591, 592 f. 226) Coronavirus Outbreak List of Member State Measures approved under Articles 107(2)b, 107(3)b and 107(3)c TFEU and under the State Aid Temporary Framework, abrufbar unter: https://competitionpolicy.ec.europa.eu/state-aid/coronavirus_en (Abrufdatum: 18.11.2022). 227) Mitteilung der Kommission, Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19 2020/C 91 I/01, ABl. (EU) C 91 I/1 v. 20.3.2020. 228) Soltész/Hoffs, NZKart 2020, 189, 190.
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§ 10 Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen i. R. des Regel- sowie Planinsolvenzverfahrens E. Mönning
Übersicht I. Einführung .................................................. 1 II. Vereinbarkeit von Finanzierungsleistungen der öffentlichen Hand mit dem EU-Beihilferecht (§§ 107 ff. AEUV) ....................................... 8 1. Prüfung der Beihilferelevanz einer Unterstützungsmaßnahme............... 13 1.1 Unternehmen................................. 15 1.2 Staatlichkeit der Mittel.................. 18 1.2.1 Staatliche Mittel............................. 19 1.2.2 Exkurs: Insolvenzgeld als staatliche Maßnahme................ 21 1.2.3 Zurechenbarkeit............................. 24 1.3 Begünstigung ................................. 26 1.3.1 Marktüblichkeit ............................. 27 1.3.2 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI) – nach AltmarkTrans............................................... 31 1.4 Selektivität...................................... 39 1.5 Potentielle Auswirkung auf Wettbewerb und zwischenstaatlichen Handel.......... 43 2. Genehmigungsfähige Finanzierungsund Unterstützungsmaßnahmen nach Art. 107 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV ......................................................... 49 2.1 Legalausnahmen gemäß Art. 107 Abs. 2 AEUV ............................................ 50 2.2 Ermessensausnahmen gemäß Art. 107 Abs. 3 AEUV ............................................ 52 3. Sonderfall der Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen...................... 54 3.1 Ausschluss anderer Freistellungstatbestände ............... 55 3.2 Zulässigkeit staatlicher Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfen nach den R&U-Leitlinien ............. 57 3.2.1 Anwendungsbereich der R&ULeitlinien bei Insolvenz oder Insolvenzreife des begünstigten Unternehmens ............................... 58
3.2.2
Exkurs: Rettungsbeihilfen zugunsten einer großen Unternehmensgruppen angehöriger Unternehmen – Konkretisierung der Gewährungsvoraussetzung anlässlich der Rechtssache T-665/20 (Rettungsbeihilfen für Condor) ................................... 61 3.2.3 Beihilfearten nach den R&ULeitlinien ........................................ 64 3.2.3.1 Rettungsbeihilfen .......................... 65 3.2.3.2 Umstrukturierungsbeihilfen ......... 70 3.2.3.3 Vorübergehende Umstrukturierungsbeihilfen – Sonderfall der Beihilfen für KMU in Schwierigkeiten ......................... 73 3.2.3.4 Grundsatz der einmaligen Beihilfe ........................................... 76 III. Beihilferelevanz eines Insolvenzplanverfahrens bei Beteiligung öffentlicher Gläubiger ................................................... 77 1. Beihilferelevanz des Sanierungsplans und des (teilweisen) Schuldenerlasses ...... 82 1.1 Staatlichkeit der Annahme des Insolvenz- oder Restrukturierungsplans ................. 83 1.2 Begünstigung ................................. 88 2. Anwendbarkeit der beihilferechtlichen Grundsätze auf Restrukturierungspläne nach dem Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (StaRUG) ....... 89 IV. Notifizierungsverfahren gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV.................. 90 1. Ablauf eines „regulären“ Notifizierungsverfahrens........................... 91 1.1 Vorabkontaktverfahren................. 92 1.2 Vorprüfverfahren........................... 93 1.3 Hauptprüfverfahren ...................... 95 2. Beschleunigte Verfahren für dringende oder unterkomplexe Fälle ........................ 100 2.1 Portfolioverfahren ....................... 101 2.2 Gestrafftes Verfahren ................. 102 2.3 Vereinfachtes Verfahren ............. 104 2.4 Sonderfall: Beschluss des Rates gemäß Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 und 4 AEUV.............. 106 V. Fazit .......................................................... 110
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§ 10
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Literatur: Mönning, R.-D./Schäfer/Schiller, Sanierung unter dem Schutzschirm – Strategische Insolvenz im Zeitraffer, BB Beilage z. Heft 25/2017, S. 1; Quardt/Hanke, Beihilfenrecht im Blick – Stolpersteine im Insolvenzplanverfahren, ZInsO 2022, 497; Soltész/Weiß, Staatliche Unterstützungsmaßnahmen in der Krise, ZInsO 2019, 749.
I.
Einführung
1 In jeder Not erklingt der Ruf nach staatlicher Hilfe. Das gilt auch für Krisenfälle und erst recht im Insolvenzverfahren, wenn Sanierungsoptionen verfolgt und zu ihrer Umsetzung Betriebe fortgeführt werden und es sodann gilt, die Finanzierung der Fortführung auch durch staatliche Hilfen in unterschiedlichster Ausformung zu gewährleisten. 2 Staatliche Hilfe ist zudem immer dann von kritischer Bedeutung, wenn der Staat bereits vor Eintritt des Krisenfalls in besonderer Beziehung zu einem Unternehmen stand. Denn zur Bewältigung kommunaler Pflichtaufgaben, insbesondere von Aufgaben i. R. der kommunalen Daseinsfürsorge, nutzen Städte und Gemeinden insolvenzfähige juristische Personen oder ebenfalls insolvenzfähige Personengesellschaften, mit denen sie vertragliche Vereinbarungen zur Erbringung von Leistungen schließen oder sich selbst als Gesellschafter an Gesellschaften beteiligen, die dann Leistungen für oder im Auftrag der Kommunen erbringen. Dabei handelt es sich oftmals um Einrichtungen im Freizeitbereich, im Bereich von Kultur und Sport, aber auch zur Erbringung von Versorgungsleistungen, bspw. im Bereich der Energieversorgung oder der Abfallentsorgung. Diese Gesellschaften, deren wirtschaftliche Verhältnisse nicht selten durch einen dauerhaft defizitären Betrieb gekennzeichnet sind, werden durch kommunale Leistungen bzw. staatlich gewährte Vergünstigungen gestützt. Dabei kann es sich um Zuschüsse in jeder Form, Verlustausgleichszahlungen, Bürgschaften, den Erlass von Forderungen oder auch die Subventionierung oder Reduzierung, teilweise sogar Aussetzung von Nutzungsentgelten für im Eigentum der Kommunen stehenden Einrichtungen, die von den Leistungserbringern genutzt werden, handeln. 3 Relevant werden staatliche Unterstützungsmaßnahmen aber insbesondere im Krisenstadium. Auch hier ist die öffentliche Hand, vertreten durch Städte und Gemeinden, Bundesländer und auch den Bund, oftmals erste Anlaufstelle, um mit Hilfe von Unterstützungsleistungen und Vergünstigungen die Krise zu bewältigen. Denn hier gilt es, nach Einleitung eines förmlichen Insolvenz- oder Restrukturierungsverfahrens die nachhaltige Sanierung des Schuldnerunternehmens – sei es durch Reorganisation, sei es durch übertragene Sanierung – verbunden mit der Fortführung des Geschäftsbetriebes zu gestalten. Dabei spielen dann zusätzlich zu den vorgenannten Vergünstigungen auch Liquiditätshilfen oder auch sog. Rettungshilfen eine bedeutende Rolle, mit denen die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes (jedenfalls temporär) gewährleistet werden soll. 4 Jede Form der Außen- bzw. der Fremdfinanzierung durch Kommunen, Städte, Bundesländer oder gar den Bund unterliegt jedoch grundsätzlich den Grenzen des EU-Beihilferechts nach Art. 107 ff. AEUV. Denn jede gewährte Vergünstigung aus staatlichen Mitteln wird aus der Sicht des Europäischen Rechts zunächst als nicht mit dem Binnenmarkt vereinbare Wettbewerbsverzerrung betrachtet. Jede Form staatlicher Beihilfe fällt daher zunächst grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Art. 107 Abs. 1 AEUV und unterliegt folglich dem Grundsatz des generellen Beihilfeverbots. 5 Bereits eingetretene, durch europarechtswidrige Unterstützungsmaßnahmen begründete Wettbewerbsverzerrungen werden durch Rückforderung rechtswidrig gewährter Subventionen sowie die Verhängung von Bußgeldern und die Forderung auf Schadenersatz zulasten des Beihilfeempfängers beseitigt.1) Leistungsempfänger kann daher auch der Insolvenzverwalter sein, wenn Rückforderungsansprüche aus vorinsolvenzlich gewährten Beihilfen als ___________ 1)
208
EuGH, Urt. v. 7.4.2022 – Rs. C-102/21, C–103/21 (Autonome Provinz Bozen), ECLI:EU:C:2022:272.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
Insolvenzforderungen zur Tabelle angemeldet werden müssen und durch die damit verbundene Einbeziehung in Abschlagsverteilungen und Schlussverteilungen das Ergebnis zulasten der übrigen Insolvenzgläubiger schmälern.2) Im Falle staatlicher Subventionierungen zwecks Unterstützung der Fortführung eines in- 6 solventen oder insolvenzreifen Unternehmens sollte deren Vereinbarkeit mit den gegenständlichen Normen des EU-Vertrags (Art. 107 – Art. 109 AEUV) durch den Insolvenzverwalter daher sorgfältig geprüft werden, um beihilferechtliche Rückforderungsansprüche und damit einhergehende Unsicherheiten für den Erfolg der Betriebsfortführung sowie persönliche Haftungsrisiken zu vermeiden. Nicht Gegenstand der vorliegenden Betrachtung sind gesetzlich geregelte Staatshilfen, wie 7 Corona-, Hochwasser- und Ukrainehilfen, Steuerbegünstigungen, öffentliches Beteiligungskapital sowie Exportversicherungen. II.
Vereinbarkeit von Finanzierungsleistungen der öffentlichen Hand mit dem EU-Beihilferecht (§§ 107 ff. AEUV)
Die Finanzierung einer Betriebsfortführung im Krisenfall kann regelmäßig nur durch (er- 8 gänzende) finanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand gelingen. Staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Unterstützungsleistungen gleich welcher Art (z. B. Gesellschafterdarlehen, Kommunalbürgschaften, Stundungen), mit denen die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs gewährleistet werden soll, können jedoch als staatliche Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV zu qualifizieren sein, die dann nach Art. 108 Abs. 3 AEUV bei der EU-Kommission zu notifizieren, also anzumelden und zu genehmigen sind. Denn für die Vergabe derartiger binnenmarktrelevanter Beihilfen gelten strenge Regeln des EU-Beihilferechts, welche in den Art. 107 bis 109 AEUV normiert sind. Das EU-Beihilferecht ist Bestandteil des EU Wettbewerbsrechts, welches den europäischen 9 Binnenmarkt vor Wettbewerbsverzerrungen durch unzulässige Subventionen der öffentlichen Hand zugunsten einzelner Unternehmen oder Wirtschaftszweige schützen soll. Denn Vergünstigungen aus staatlichen Mitteln stärken die Position des Zuwendungsempfängers und erschweren so den Wettbewerb für andere Marktteilnehmer. Nach Auffassung der EUKommission sind insbesondere in Bezug auf krisengeplagte Unternehmen Verzerrungseffekte zulasten des Binnenmarktes zu befürchten, da staatliche Unterstützungsmaßnahmen hier ein Ausscheiden aus dem Markt verhindern würden. Im Fall einer erfolgreichen Sanierung eines Unternehmens und dessen Verbleiben im Binnenmarkt blieben die wettbewerbsverzerrende Effekte einer Beihilfe potentiell erhalten, so dass das EU-Beihilferecht und daraus entstehende Rückforderungspflichten gerade auch auf Unternehmen zur Anwendung gelangt, die sich in einem gerichtlichen Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren befinden.3) In der Folge gilt gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV zunächst ein grundsätzliches Beihilfever- 10 bot. Eine staatliche Unterstützungsleistung kann aber im Einzelfall gewährt werden, wenn und soweit die konkrete Maßnahme mit dem EU-Beihilferahmen vereinbar ist, also entweder keine Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt oder unter einen der Ausnahmebe___________ 2) 3)
BGH, Urt. v. 9.2.2017 – I ZR 91/15, WM 2017, 1430 = EuZW 2017, 312; BGH, Urt. v. 20.1.2012 – I ZR 92/11, Rz. 51 ff., BGHZ 196, 254 = EuZW 2013, 753. Rz. 4 der Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten (R&U-Leitlinien), ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. Ebenso Bauer/ Nordmann in: Birnstiel/Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, Art. 107 AEUV Rz. 1574; Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 3 (mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 13.10.2011 – Rs. C-454/09 (Italienische Republik), Rz. 36, Slg. 2011, I-150 = ECLI:EU:C:2011:650; EuGH, Urt. v. 11.12.2012 – Rs. C-610/10 (Königreich Spanien), Rz. 104, ECLI:EU:C:2012:781).
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stände der Absätze 2 und 3 des Art. 107 AEUV subsumiert werden kann und entsprechend von der EU-Kommission als zulässige Finanzierungs- bzw. Unterstützungsmaßnahme genehmigt wurde. Es handelt sich folglich um ein grundsätzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. 11 Für den Insolvenzverwalter oder Sachwalter stellt sich daher zunächst die Frage, ob die von ihm zum Zwecke der (vorläufigen) Unternehmensfortführung gewünschte staatliche Unterstützung eine Beihilfe im beihilferechtlichen Sinne darstellt oder ob die staatlichen Hilfen mangels Erfüllung der in Art. 107 Abs. 1 AEUV normierten Kriterien keine Beihilferelevanz aufweisen und daher nicht notifizierungspflichtig nach Art. 108 Abs. 3 AEUV sind. Erst in einem zweiten Schritt und erst nach Bejahung einer Beihilferelevanz der gegenständlichen staatlichen Unterstützungsleistung ist ergänzend zu überlegen, ob die konkrete Beihilfe im Einklang mit den geltenden Vorschriften gewährt, also als zulässige Finanzierungs- und Unterstützungsmaßnahmen eingeordnet werden kann, da eine der verschiedenen, in Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV normierten Ausnahmetatbestände vorliegt. 12 Und letztendlich kommt es auch darauf an, ob die Hilfen in welcher Form auch immer sie gewährt werden, schnell, kurzfristig und mit vertretbarem Aufwand zum Tragen kommen, um die Fortführung bereits im Frühstadium abzusichern. 1.
Prüfung der Beihilferelevanz einer Unterstützungsmaßnahme
13 Art. 107 Abs. 1 AEUV normiert kumulativ zu erfüllende (Tatbestand-)Voraussetzungen, um staatliche Hilfen, mit denen die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs im Krisenfall unterstützt werden sollen als genehmigungspflichtige Beihilfen zu qualifizieren. So muss die konkrete Unterstützungsleistung x
aus staatlichen oder staatlich gewährten Mitteln
x
zugunsten eines bestimmten Unternehmens oder Produktionszweigs erfolgen und
x
diese Begünstigung aufgrund zumindest potentiell wettbewerbsverfälschender Wirkungen den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zumindest zu verfälschen bzw. zu beeinträchtigen drohen.
14 Bei der Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzungen bietet die Bekanntmachung der EU-Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV4) eine gute Anleitung, da die EU-Kommission in dieser Auslegungs- und Einordnungshilfen auf Grundlage der Rechtsprechung der Unionsgerichte zusammenfassend darlegt. 1.1
Unternehmen
15 Zunächst muss die auf ihre Beihilferelevanz zu überprüfende Unterstützungsleistung einem Unternehmen oder einem Produktionszweig zur Verfügung gestellt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Unternehmensbegriff weit auszulegen und umfasst entsprechend jede Einrichtung die (auch) einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, mithin Waren und oder Dienstleistungen anbietet. Bei der Beurteilung der Unternehmenseigenschaft kommt es dabei ausschließlich auf die Tätigkeit des Unternehmens an, nicht jedoch auf das Vorhandensein einer Gewinnerzielungsabsicht oder die Rechtsform und die Art der Finanzierung des Unternehmens, so dass zunächst etwa auch Anstalten des Öffentlichen Rechts unter den Unternehmensbegriff subsumiert werden können.5) ___________ 4) 5)
210
Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016. Ausführlich zum Unternehmensbegriff vgl. die Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 6 ff.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
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Grundsätzlich kann immer von einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Normsinne ausgegangen werden, wenn auch andere Marktteilnehmer Waren oder Dienstleistungen gleicher Art anbieten. Hingegen ist die Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit und damit die erforderliche Unternehmenseigenschaft zu verneinen, wenn und soweit ein ausschließlich hoheitliches Tätigwerden gegeben ist.6) Die Abgrenzung zwischen wirtschaftlicher und hoheitlicher Tätigkeit kann jedoch in 16 der Praxis mit Schwierigkeiten verbunden sein, wenn eine Multifunktionalität des insolvenzreifen Rechtsträgers vorliegt, also teilweise wirtschaftliche Aktivitäten, zum Teil aber auch hoheitliche Aufgaben erfüllt werden. Erkenntnisse bringen hier möglicherweise vertraglich geregelte Zuordnungen, etwa eine konkrete Zweckbestimmung im Darlehensvertrag. Für den (vorläufigen) Insolvenzverwalter bedeutet eine solche Multifunktionalität der Schuldnerin oder des Schuldners, dass eine Abgrenzung von wirtschaftlicher und hoheitlicher Tätigkeit i. R. einer Trennungsrechnung, mithin i. R. einer getrennten Buchführung erfolgen muss. Ziel ist es dabei, zu belegen, dass finanzielle Unterstützungsleistung, etwa konkret gewährte Liquiditätshilfen, ausschließlich zur Kostendeckung der hoheitlich genutzten Infrastruktur des Unternehmens dient, um idealiter bereits die Unternehmereigenschaft und somit auch die europarechtliche Beihilferelevanz und die damit einhergehende Notifizierungspflicht (Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3 AEUV) auszuschließen. Die EU-Kommission verneint die Unternehmenseigenschaft ganz überwiegend, wenn und 17 soweit der Subventionsempfänger im Bereich der sozialen Sicherheit, der Gesundheitsvorsorge, in Bildungswesen und Forschungstätigkeiten sowie Kultur und Erhaltung des kulturellen Erbes einschließlich des Naturschutzes tätig ist und dessen Aktivitäten, bspw. im Zusammenhang mit Museen, Bibliotheken, Theatern und Opernhäusern öffentlich finanziert werden. Die öffentliche Finanzierung von Einrichtung und Betrieb von Infrastruktur für hoheitliche oder rein soziale und gesundheitsvorsorgliche Zwecke sowie i. R. des öffentlichen Bildungssystems, unterliegen somit regelmäßig nicht dem europarechtlichen Beihilfeverbot nach Art. 107 Abs. 1 AEUV und sind somit auch nicht gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV genehmigungspflichtig.7) 1.2
Staatlichkeit der Mittel
Des Weiteren muss die konkrete Unterstützungsleistung nach dem Wortlaut des Art. 107 18 Abs. 1 AEUV eine staatliche Maßnahme oder jedenfalls eine Maßnahme aus staatlichen Mitteln darstellen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sollen auf diese Weise neben unmittelbar vom Staat gewährten Beihilfen auch lediglich mittelbare, durch staatlich benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtungen gewährte Unterstützungsmaßnahmen vom Beihilfebegriff umfasst werden. Diese sehr weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals wird aber zugleich durch die Unionsgerichte durch die Etablierung einer weiteren, kumulativ zu erfüllenden Voraussetzung beschränkt. So muss neben der staatlichen Herkunft der eingesetzten Mittel, diese bzw. die Unterstützungsentscheidung dem Staat zudem auch zugerechnet werden können.8)
___________ 6) 7) 8)
Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 17 ff. Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 199 ff. S. dazu Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 107 Abs. 1 AEUV Rz. 190.
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1.2.1 Staatliche Mittel 19 Auch wenn einzelne Meinungen in der Literatur ein Abrücken der EU-Kommission von einer weiten Auslegung des Beihilfebegriffs wahrzunehmen meinen, ist gegenwärtig weiterhin von einer weiten Begriffsauslegung auszugehen. Infolgedessen sind von dem europarechtlichen Beihilfebegriff sämtliche Beihilfeformen und Typen, mithin grundsätzlich alle Unterstützungsleistungen umfasst, die sich auf das staatliche Budget auf Bundes-, Landesoder kommunaler Ebene auswirken. Neben positiven Leistungen jeder Art, also Geld- und Sachleistungen, können insbesondere auch Maßnahmen, die Belastungen des Unternehmens vermindern, die diese aufgrund der zwingenden Verbundenheit mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zwangsläufig zu tragen hätten, beihilferelevant sein.9) Hier erfolgt also eine wirkungsbezogene Betrachtung und Einordnung der entlastenden Maßnahme im Einzelfall. 20 Die Typologie vorstellbarer Beihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten ist somit denkbar breit gefächert. Praxisrelevant sind dabei insbesondere x
Liquiditätshilfen in Gestalt zinsloser oder zinsgünstiger Darlehensgewährung (regelmäßig ohne marktübliche Sicherheiten),
x
Garantien und Bürgschaften (oft kommunale Ausfallbürgschaften als Besicherung der Finanzierung kommunaler Unternehmen),
x
Übernahme von Betriebskosten, Übernahme von Verlusten bzw. Verlustabdeckungszusagen, Forderungserlasse durch die öffentliche Hand (etwa Befreiung von (kommunalen) Lasten, Gebühren und Abgaben),
x
(miet-)entgeltfreie Gebrauchsüberlassung von Räumlichkeiten, wenn diese vom Staat oder aus (inner-)staatlichen Mitteln gewährt werden; diese unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Räumen und Plätzen wird dabei vor allem i. R. von Insolvenzverfahren von Sportvereinen relevant, wenn Städte Eigentümer von Stadien sind und diese von insolventen Sportvereinen genutzt werden.
1.2.2 Exkurs: Insolvenzgeld als staatliche Maßnahme 21 Zu berücksichtigen ist, dass grundsätzlich auch Verfahrenshandeln als Beihilfe definiert werden kann.10) Dies gilt jedoch nach der bisherigen Kommissionspraxis nicht für Verfahrenshandeln und Verfahrenswirkungen des Insolvenzverfahrens. Das Insolvenzverfahren als solches bzw. mit dem Insolvenzverfahren einhergehende Vorteile für den Schuldner, wie etwa die Restschuldbefreiung (§§ 286 ff. InsO) oder Liquiditätsvorteile durch Zahlung von Insolvenzgeld (§§ 165 – 172, §§ 175, 314, 316, 323, 324 und 327 SGB III), stellen nach h. M. keine staatliche Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV dar, auch wenn eine solche verfahrensbezogene Begünstigung nur unter bestimmten Voraussetzungen und entsprechend auch nicht unterschiedslos allen Schuldner gewährt wird.11) 22 Dies gilt unstreitig und entsprechend unkritisch für die Zahlung von Insolvenzgeld zwecks Entlastung eines insolventen Unternehmens, da es nicht staatlich gewährt, sondern durch eine Arbeitgeberumlage finanziert wird. Dasselbe gilt für die Möglichkeit der Insolvenzgeldvorfinanzierung und die damit einhergehende Entlastung des Unternehmens von der Erfüllung der Lohnkosten im Eröffnungsverfahren, obgleich diese auf der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nach § 170 Abs. 4 SGB III beruht. Denn Insolvenzgeld und ___________ 9) Eine umfassende Darstellung der Tatbestandsvoraussetzung und neuer Tendenzen in der Auslegung durch Kommission und Rspr. bieten u. a. Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 28, Rz. 31 ff.; Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 32 ff. 10) Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 11. 11) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 10.
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dessen Vorfinanzierung werden in ihrem Kern durch die EU-Insolvenzsicherungsrichtlinie 2008/94/EG12) gefordert. Folglich stellen die Bestimmungen über das Insolvenzgeld eine bloße Umsetzung von Gemeinschaftsrecht dar und sind dem deutschen Staat nicht zuzurechnen.13) Entsprechend sieht die EU-Kommission in den deutschen Regelungen zum Insolvenzgeld und zu dessen Vorfinanzierung keine staatliche Beihilfe. Beihilferechtlich problematisch könnte jedoch die mit § 55 Abs. 3 InsO eintretende faktische 23 Entwertung der auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangenen, ursprünglich als Masseverbindlichkeit anzusehende Arbeitnehmerforderungen auf eine bloße Insolvenzforderung sein, da das Unternehmen sodann dauerhaft von der Rückzahlung entlastet wird. Nach zuzustimmender Auffassung würde mit dieser Argumentation aber mittelbar doch wieder an die beihilferechtlich unbedenkliche Gewährung des Insolvenzgeldes angeknüpft und damit die eindeutige Rechtsprechung der Unionsgerichte sowie die Kommissionspraxis konterkariert. Im Ergebnis würde eine solche Auslegung eine Beihilferelevanz jeder Rangzuordnung von Forderungen in einem Insolvenzverfahren und damit wieder eine Beihilferelevanz des Insolvenzverfahrens als solchen und verbundener Verfahrenshandlungen entgegen dem objektivierten Willen von EU-Kommission und Unionsgerichten begründen.14) 1.2.3 Zurechenbarkeit Die konkrete Vorteilsgewährung muss dem Staat zudem in dem zu prüfenden Einzelfall 24 auch zurechenbar sein. Soweit eine Behörde dem Unternehmen einen Vorteil gewährt, wird die staatliche Zurechenbarkeit der Maßnahme unterstellt. Das gleiche gilt auch dann, wenn eine Behörde eine private oder öffentliche Einrichtung mit der Durchführung der unterstützenden Maßnahme beauftragt.15) Bei dem Vorliegen einer unmittelbaren Unterstützungsleistung durch ein staatliches Unternehmen muss die Zurechenbarkeit der Maßnahme hingegen geprüft werden. Denn die Unionsgerichte lassen die alleinige Tatsache, dass die Maßnahme von einem öffentlichen Unternehmen getroffen wurde oder das ausführende Unternehmen zumindest unter staatlicher Kontrolle steht, im Zweifelsfall nicht genügen. Vielmehr ist es erforderlich, dass der Staat oder eine staatliche Behörde an dem Erlass der konkreten Maßnahme, also der Entscheidung der Unterstützungsgewährung zugunsten des profitierenden Unternehmens beteiligt gewesen ist, diese im Ergebnis also veranlasst hat.16) Die Untersuchung der konkreten Zurechenbarkeit der Unterstützungsleistung eines öffentlichen oder gar privatrechtlich organisierten Unternehmens muss daher i. R. einer Einzelfallprüfung auf Grundlage von Indizien erfolgen. Als solche gelten insbesondere eine Eingliederung des privaten Unternehmens in die Struktur öffentlicher Verwaltung, organisationsrechtliche Faktoren – etwa entsprechende Bestimmung in Gesellschaftsvertrag oder der Unternehmenssatzung –, der Rechtstatus des hilfeleistenden Unternehmens oder auch der Umfang und die Intensität staatlicher Aufsicht über die konkrete Unternehmensfüh-
___________ 12) Richtlinie 2008/94/EG es Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. (EU) L 283/36 v. 28.12.2008. 13) Vgl. EU-Kommission, Staatliche Beihilfe NN 55/2009 – Deutschland, Angebliche staatliche Beihilfe durch Insolvenzgeld und seine Finanzierung, v. 19.11. 2009, (K(2009)8707 endgültig, Rz. 17, abrufbar unter https://ec.europa.eu/competition/state_aid/cases/233552/233552_1095452_13_2.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 14) Umfassend zum Thema Insolvenzgeld als Beihilfe Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 29. 15) Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 39. 16) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 498.
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rung.17) Im Kern geht es hier etwa um das Vorliegen oder Fehlen einer Kontrolle über die Mehrheit der Stimmrechte, die Mehrheit in den Verwaltungsgremien oder dem Aufsichtsrat oder in sonstigen Leitungsgremien. 25 Die Unterstützungsleistung muss also von einer öffentlichen Institution oder einer privaten Stelle gewährt werden, die unter staatlicher Kontrolle und Einfluss steht bzw. in dem konkreten Fall der Beihilfemaßnahme unter hinreichendem staatlichem Einfluss agiert, wie dies etwa regelmäßig bei privatrechtlich organisierten Kommunalgesellschaften der Fall ist. 1.3
Begünstigung
26 Die liquiditätsgewährende oder entlastende Unterstützungsleistung muss das Unternehmen aber auch begünstigen. Als Begünstigung im beihilferechtlichen Sinne gilt dabei jede wirtschaftliche Vorteilsgewährung ohne angemessene Gegenleistung. Auch diese Voraussetzung wird in der Praxis weit ausgelegt und geht folglich über den Begriff der Subvention hinaus. Einer Zuwendung steht dann keine marktgerechte Gegenleistung gegenüber, wenn das Unternehmen den konkreten Vorteil unter normalen Bedingungen nicht bekommen hätte, weil der Staat eine von den normalen Marktbedingungen abweichende Kondition bietet.18) 1.3.1 Marktüblichkeit 27 Zu fragen ist also, ob sich der Staat i. R. der Vorteilsgewährung wie ein marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsteilnehmer (Market Economy Operator Principle – MEOP) verhält. In der Praxis hat sich hier zur Ermittlung der Marktkonformität und somit des Beihilfencharakters der konkreten Maßnahme der sog. Market Economy Operator Test (MEOT) – auch als Private Investor Test (PIT) bezeichnet – etabliert, der allerdings keine Anwendung findet, wenn ein Handeln aus hoheitlichem Interesse oder zugunsten des Gemeinwohls vorliegt.19) Im Kern geht es also um einen fiktiven Dritt- oder Fremdvergleich, in dessen Rahmen ein Abgleich des Verhaltens der betroffenen staatlichen Stellen mit dem eines umsichtigen privaten Marktteilnehmers auf ex-ante-Tatsachen- und Informationsgrundlage erfolgt.20) Im Falle der Insolvenz des potentiell begünstigten Unternehmens wandelt sich der Private Investor Test regelmäßig zu einem Private Creditor Test (PCT) und somit der Frage, ob sich ein privater Gläubiger zumindest vergleichbar verhalten hätte.21) 28 Dabei ist der pari-passu-Gedanke maßgeblich, wonach ein marktübliches Agieren vorliegt, wenn und soweit die Maßnahme zu „gleichen Bedingungen“ von öffentlichen Stellen und privaten Wirtschaftsbeteiligten durchgeführt wird. Eine Marktüblichkeit wäre demnach etwa zu verneinen, wenn dem Unternehmen eine Bürgschaft oder Garantie der öffentlichen Hand
___________ 17) Zur Einordnung von Unterstützungshandlungen von Unternehmen, die unter staatlicher Kontrolle oder Einflussnahme stehen vgl. die Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 41 ff., 43. 18) Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 66 ff., 67. 19) Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 73 ff., 77. 20) Zur Notwendigkeit des Abstellens auf den Zeitpunkt der Investitions- oder Finanzierungsentscheidung vgl. auch Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 107 Abs. 1 AEUV Rz. 19. 21) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 11.
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gewährt wurde, welche das Unternehmen etwa aufgrund seiner Insolvenzreife üblicherweise nicht oder jedenfalls nur gegen Stellung von Sicherheiten erhalten hätte.22) Zur leichteren Bewertung, ob eine Einzelgarantie oder eine Garantieregelung mit dem 29 Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers im Einklang steht, hat die EU-Kommission – im Einklang bzw. in Umsetzung der Rechtsprechung der Unionsgerichte – eine sog. „Bürgschaftsmitteilung“23) veröffentlicht, in welcher verschiedene Voraussetzungen verschriftlicht sind, bei deren kumulativer Erfüllung eine staatliche Garantieübernahme mangels Vorliegen einer Begünstigung keine Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt.24) Gleichwohl sind diese Beurteilungshilfen im Falle von Fortführungsbemühungen zugunsten eines insolvenzreifen Unternehmens weitgehend ohne Belang, da die Bürgschaftsmitteilung und die darin normierte Privilegierung von Kommunalbürgschaften keine Anwendung auf solche Unternehmen findet, die sich „in Schwierigkeiten“ befinden,25) mithin bereits Gegenstand eines innerstaatlichen Insolvenzverfahrens sind oder jedenfalls die Voraussetzung für eine Verfahrenseröffnung erfüllen. Denn die EU-Kommission fürchtet hier unerwünschte Wettbewerbsverzerrungen, wenn und soweit Unternehmen auf diese Weise im Markt bleiben, anstatt notwendigerweise umstrukturiert oder aufgelöst zu werden. Darüber hinaus argumentiert die EU-Kommission, dass ein mit Zahlungsschwierigkeiten konfrontiertes Unternehmen aufgrund des entsprechend hohen Ausfallrisikos regelmäßig kein kreditwilliges Finanzinstitut finden könne und es dann zudem auch regelmäßig an der Marktüblichkeit der zu zahlenden Prämie mangeln würde. In der Folge gibt es für den Insolvenz- oder Sachwalter in der Praxis kaum Anwendungs- 30 möglichkeiten für die Bürgschaftsmitteilung, mit einer Ausnahme: Staatliche Garantien zugunsten insolvenzreifer kleiner und mittlerer Unternehmen (KMUs), die maximal drei Jahre vor Garantiegewährung gegründet wurden, fallen unter den Anwendungsbereich der Bürgschaftsmitteilung, auch wenn sie sich bereits im Stadium eines Insolvenzverfahrens befinden.26) 1.3.2 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI) – nach Altmark-Trans Ein weiterer Freistellungstatbestand, der bereits das Tatbestandsmerkmal der Begünsti- 31 gung entfallen lässt, gilt zugunsten von Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hand, die Unternehmen zur Wahrnehmung von Dienstleistung zur Verfügung gestellt werden, die in den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge fallen. Solche Leistungen zur Erbrin___________ 22) Ausführliche Kriterien zu Bewertung der Marktkonformität der begünstigenden Maßnahme enthält die Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 78 ff. Ebenfalls eine umfassende Besprechung bietet Calliess/RuffertCremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 12 ff. 23) Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Art. 87 und 88 des EG-Vertrags auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften v. 20.6.2008, ABl. (EU) C 155/10 v. 20.6.2008 (sog. Bürgschaftsmitteilung). 24) So darf etwa eine staatliche Garantie oder Garantieregelung im Regelfall höchstens 80 % des ausstehenden Kreditbetrages oder der sonstigen ausstehenden finanziellen Verpflichtung des Unternehmens abdecken und der Garantiegeber muss für die Garantie ein marktübliches Entgelt gezahlt haben. Eine Ausnahme von der Beschränkung auf 80 % gilt jedoch für staatliche Garantien zur Finanzierung von Unternehmen, deren Tätigkeit sich auf die Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) beschränkt, mit der sie ordnungsgemäß betraut wurden, jedoch nur für den Fall, dass die Garantie von der Behörde gegeben wird, die auch den Auftrag zur Dienstleistungserbringung erteilt hat (vgl. jeweils Nr. 3.2 lit. c und Nr. 3.4 lit. c der Bürgschaftsmitteilung, ABl. (EU) C 155/10 v. 20.6.2008). 25) Nr. 3.2 lit. a und Nr. 3.4 lit. a der Bürgschaftsmitteilung, ABl. (EU) C 155/10 v. 20.6.2008. 26) Nr. 3.2 lit. a und Nr. 3.4 lit. a der Bürgschaftsmitteilung, ABl. (EU) C 155/10 v. 20.6.2008.
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gung von Dienstleistungen von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse (DAWI) genießen unter bestimmten Voraussetzungen einen privilegierten Sonderstatus und sind in der Folge, mangels Beihilfeeigenschaft, von der Notifizierungspflicht nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV befreit.27) 32 Auf diese Weise soll der andernfalls auftretende Konflikt zwischen der praktischen Notwendigkeit der Finanzierung von Leistungen gerade im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge und dem im EU-Beihilferecht normierten Beihilfeverbot gelöst werden, da staatliche Dienstleistungen zur Daseinsvorsorge zunehmend an Einrichtungen des Privatsektors ausgelagert werden und viele dieser Dienstleistungen zumindest auch wirtschaftlicher Natur sind, also grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Art. 107 Abs. 1 AEUV fallen. Die Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger mit einem Zugang etwa zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch zu Sport-, Bewegungssowie Kulturangeboten ist fester Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge. Hohe Fixkosten und sozialpolitische Vorgaben, bspw. für die Festsetzung der Höhe von Eintrittsgeldern, machen Leistungen in diesen Bereichen jedoch häufig nicht kostendeckend. 33 In der Folge sollen staatliche Ausgleichszahlungen, die lediglich besondere Lasten aus der Betrauung eines Unternehmens mit Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse kompensieren (z. B. Defizitausgleiche, Kapital- und Sacheinlagen, Darlehen, Bürgschaften oder unentgeltliche Überlassung von Immobilien) keine Beihilferelevanz aufweisen. Dies gilt jedenfalls, wenn und soweit die konkrete finanzielle Unterstützungsleistung die tatsächlich entstehenden Kosten aus der Erbringung einer im öffentlichen Interesse angebotenen Dienstleistung nicht übersteigen, weil es dann bereits an einem wirtschaftlichen Vorteil und somit dem Tatbestandvoraussetzung einer Begünstigung mangelt.28) 34 Dieses sog. Nettomehrkosten-Prinzip sowie weitere für eine entsprechende Privilegierung von staatlichen Maßnahmen zu erfüllende Voraussetzungen hat der EuGH bereits im Jahr 2003 in einem Grundsatzurteil (Altmark-Trans) festgelegt.29) Diese Rechtsprechung hat die EU-Kommission seither mittels eines Legislativpakets zur EU-beihilferechtlichen
___________ 27) Umfassend zu den Voraussetzungen einer solchen Privilegierung von DAWI: Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und insbesondere auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, v. 29.4.2013, SWD(2013) 53 final/2, abrufbar unter https:// ec.europa.eu/competition/state_aid/overview/new_guide_eu_rules_procurement_de.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 28) Dazu auch Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 19. 29) EuGH, Urt. v. 24.7.2003 – Rs. C-280/00 (Altmark Trans), Slg. 2003, I-7747 = ECLI:EU:C:2003:415 (insbesondere Rz. 87 – 95).
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Bewertung von kommunalen Ausgleichszahlungen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (sog. „Almunia-Paket“) weiter konkretisiert.30) DAWI werden demnach definiert als Leistungen, die von den Behörden der Mitgliedstaaten 35 im eigenen Ermessen als im allgemeinen Interesse liegend eingestuft werden31) und daher spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen unterliegen. Ergänzend müssen die dem Allgemeinwohl dienenden Leistungen ohne staatliche Eingriffe am Markt überhaupt nicht oder in Bezug auf Qualität, Sicherheit, Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung oder universaler Zugang nur zu anderen Standards durchgeführt werden können.32) Der Begünstigungscharakter einer solchen DAWI ist auszuschließen, wenn vier kumulativ 36 zu erfüllende Voraussetzungen gegeben sind:33) x
So muss das begünstigte Unternehmen erstens tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut worden sein, wobei der Begriff der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung mit der DAWI-Definition identisch ist.34) Die Gemeinwohlverpflichtung muss dem leistungserbringenden Unternehmen also folglich im Wege eines Betrauungsakts, etwa in Form einer vertraglichen Verpflichtung, eines Verwaltungsakts oder auch einer Regelung im Gesellschaftsvertrag auferlegt worden sein.
x
Zweitens müssen die Parameter, anhand derer die Ausgleichszahlungen für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse berechnet werden, vor der Auszahlung objektiv und transparent aufgestellt worden sein.
x
Drittens darf der finanzielle Ausgleich nicht über das hinausgehen, was tatsächlich erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung zu decken (Nettomehrkosten-Prinzip bzw. Überkompensationsverbot). Dabei sind die durch die Tätigkeit erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtung zu berücksichtigen.
Schließlich ist viertens die Bestimmung der Höhe des Ausgleichs auf Grundlage einer Kostenanalyse zu bestimmen, welche bei einem durchschnittlichen, gut geführten Unter___________ x
30) Das „Alumnia-Paket“ wurde am 20.12.2011 und am 25.4.2012 von der Kommission angenommen und besteht aus verschiedenen Instrumenten: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Ein Qualitätsrahmen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Europa, v. 20.12.2011, KOM(2011) 900 endgültig, abrufbar unter https://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2009_2014/documents/com/com_com(2011)0900_/com_com(2011)0900_de.pdf; Beschluss der Kommission v. 20.12.2011 über die Anwendung von Art. 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, ABl. (EU) L 7/3 v. 11.1.2012 (sog. Freistellungsbeschluss); Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Beihilfevorschriften der Europäischen Union auf Ausgleichsleistungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, ABl. (EU) C 8/4 v. 11.1.2012; Mitteilung der Kommission, Rahmen der Europäischen Union für staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen (2011), ABl. (EU) C 8/15 v. 11.1.2012; Mitteilung der Kommission, Annahme des Inhalts eines Entwurfs für eine Verordnung der Kommission über Deminimis-Beihilfen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, ABl. (EU) C 8/23 v. 11.1.2012 (Abrufdatum jeweils: 3.3.2023). Die Regelungen des Alumnia-Pakets traten an die Stelle des sog. „Monti-Kroes-Pakets“ von 7/2005. 31) Zum weiten Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaten bei Beurteilung des Allgemeininteresses und dem nur eingeschränkten Prüfungsumfang der Kommission bzgl. des Vorliegens eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers vgl. Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 22. 32) Vgl. Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und insbesondere auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, v. 29.4.2013, SWD(2013) 53 final/2, S. 20, abrufbar unter https://ec.europa.eu/competition/state_aid/overview/new_guide _eu_rules_procurement_de.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 33) Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 20. 34) Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 22.
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nehmen anfallen würden. Die eine tatbestandliche Begünstigung ausschließende Marktangemessenheit der Unterstützungsleistung wird also auf Grundlager hypothetischer Nettomehrkosten berechnet.35) 37 Sollten die Altmark-Trans-Kriterien, deren Anwendung in der Praxis aufgrund der Unbestimmtheit der Voraussetzungen ohnehin mit Unsicherheiten verbunden sind, keine eindeutigen Ergebnisse im Hinblick auf eine Genehmigungsfreiheit der Beihilfe bringen, wäre üblicherweise zu überlegen, ob die staatliche Ausgleichszahlung für die DAWI unter den Anwendungsbereich der DAWI-De-minimis-Verordnung36) fallen könnte. Nach diesem, die allgemeine De-minimis-Verordnung ergänzenden Rechtsakt stellt eine sich über drei (Steuer-)Jahre erstreckende Finanzierung von Daseinsvorsorgemaßnahmen bis zu einem Höchstbetrag von insgesamt 500 000 € aufgrund ihres Charakters als „Bagatellbeihilfe“ keine Beihilfen i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV dar und ist somit von der Pflicht zur Durchführung einer Beihilfeprüfung ausgenommen. Jedoch findet die De-minimis-Verordnung für DAWI gemäß ErwG 11 und Art. 1 Abs. 2 lit. h der Verordnung ausdrücklich keine Anwendung auf „Unternehmen in Schwierigkeiten“, also solche Unternehmen die sich bereits in einem Insolvenzverfahren befinden oder jedenfalls die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach nationalem Recht erfüllen.37) 38 Anwendbar38) bleibt hingegen der Freistellungsbeschluss der EU-Kommission, nach dem staatliche Ausgleichszahlungen für DAWI von der Anmeldepflicht befreit sind, wenn die Ausgleichszahlungen je Dienstleistung zur Daseinsvorsorge weniger als 15 Mio. € brutto pro Jahr betragen.39) Zudem enthält der Beschluss einen Katalog abschließend aufgezählter Sozialdienstleistungsbereiche, die aufgrund ihres besonderen Charakters unabhängig von der Höhe der Ausgleichsleistung von der Anmeldepflicht und der Prüfung durch die EUKommission befreit sind.40) Diese Privilegierung gilt für sämtliche Sozialdienstleistungen sowie DAWI durch Krankenhäuser und Notdienste, die medizinische Versorgung leisten.41) ___________ 35) Umfassend zu den Ausschlusskriterien nach Altmark-Trans und den anzuwendenden Effizienzkriterien bzw. dem Benchmarking: Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf DAWI und insbesondere auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, v. 29.4.2013, SWD(2013) 53 final/2, abrufbar unter https://ec.europa.eu/competition/state_aid/overview/new_guide_eu_rules_procurement_de.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 36) Verordnung (EU) Nr. 360/2012 der Kommission v. 25.4.2012 über die Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen an Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen, ABl. (EU) L 114/8 v. 26.4.2012. 37) Zur Definition eines „Unternehmens in Schwierigkeiten“ vgl. Nr. 20 lit. c der Mitteilung der Kommission, Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten, v. 31.7.2014, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 38) Nr. 108 des Leitfadens zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf DAWI und insbesondere auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, v. 29.4.2013, SWD(2013) 53 final/2, abrufbar unter https://ec.europa.eu/ competition/state_aid/overview/new_guide_eu_rules_procurement_de.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 39) Beschluss der Kommission v. 20.12.2011 über die Anwendung von Art. 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von DAWI betraut sind, ABl. (EU) L 7/3 v. 11.1.2022 (sog. Freistellungsbeschluss). 40) Vgl. Art. 2 Abs. 1 des Freistellungsbeschlusses, ABl. (EU) L 7/3 v. 11.1.2022. 41) Für eine ausführliche Erläuterung, welche DAWI von der Begrifflichkeit der Sozialdienstleistungen umfasst sind vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c des Freistellungsbeschlusses, ABl. (EU) L 7/3 v. 11.1.2022, sowie Nr. 89 ff. des Leitfadens zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf DAWI und insbesondere auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, v. 29.4.2013, SWD(2013) 53 final/2, abrufbar unter https:// ec.europa.eu/competition/state_aid/overview/new_guide_eu_rules_procurement_de.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen 1.4
§ 10
Selektivität
Schließlich muss die Vorteilsgewährung nach Wortlaut des Art. 107 Abs. 1 AEUV auch ein 39 „bestimmtes Unternehmen“ oder einen „bestimmten Produktionszweig“ begünstigen, mithin selektive Wirkung entfalten und darf somit nicht als allgemeine wirtschaftspolitische Maßnahme unterschiedslos allen Unternehmen oder Produktionszweigen in einem EUMitgliedstaat zugutekommen. Eine generelle Entlastung sämtlicher Unternehmen aufgrund einer allgemeinen Maßnahme ist folglich nicht als Beihilfe anzusehen.42) Zur Bewertung dieses Tatbestandsmerkmal unterscheidet die EU-Kommission zwischen 40 de-jure- und de-facto-Selektivität in materieller und regionaler Hinsicht. De-jure-Selektivität ergibt sich unmittelbar aus den rechtlichen Kriterien für die Gewährung einer Maßnahme, die förmlich bestimmten Unternehmen – etwa aufgrund ihrer Größe oder Beschäftigtenzahl – vorbehalten ist. Aber auch wenn die Maßnahmenanwendung und die damit verbundenen Vorteile nach förmlichen Kriterien alle Unternehmen begünstigen sollten, kann die konkrete Maßnahme de facto so ausgestaltet sein, dass im Ergebnis nur einzelne Unternehmen bevorteilt werden. Eine solche Begrenzung der praktischen Wirkung der Maßnahmen führt dann wieder zu deren Selektivität. Eine vergleichbare (materielle) de-factoSelektivität kann ebenso aufgrund von Ermessensentscheidungen der Verwaltung begründet werden, wenn die Kriterien für die Gewährung einer allgemeinen Maßnahme so formuliert sind, dass der Verwaltung zwingend ein Ermessensspielraum im Einzelfall eröffnet wird. Eine regionale oder lokale Maßnahme, erfüllt zunächst grundsätzlich das Kriterium der 41 regionalen Selektivität. Gleichwohl muss in jedem Einzelfall das vom Mitgliedstaat oder der handelnden hoheitlichen Stelle festgelegte Bezugssystem Berücksichtigung finden, da in dessen Abhängigkeit nicht alle Maßnahmen, die nur für bestimmte Teile des Gebiets eines Mitgliedstaats gelten, automatisch „bestimmt“ i. S. von Art. 107 Abs. 1 AEUV sind.43) Bei staatlichen Unterstützungsmaßnahmen, die einem bestimmten in Schwierigkeiten be- 42 findlichen Unternehmen i. R. eines Insolvenz- oder Restrukturierungsverfahrens als Ad-hocMaßnahmen gewährt werden, ist der selektive Charakter jedoch in der Regel leicht zu begründen. Anders kann es sich möglicherweise nur gestalten, wenn der Mitgliedstaat bzw. seine Behörden mit den Ad-hoc-Maßnahmen auf ein generelles Marktversagen einwirken wollen und entsprechend ganze Branchen subventionieren. 1.5
Potentielle Auswirkung auf Wettbewerb und zwischenstaatlichen Handel
Die auf ihre Beihilferelevanz zu prüfende Maßnahme zur Unterstützung eines Unterneh- 43 mens oder Produktionszweigs muss sich schließlich zumindest potentiell auf den Wettbewerb sowie auf den zwischenstaatlichen Handel auswirken können. Dabei handelt es sich um zwei getrennte, jedoch kumulativ zu erfüllende Voraussetzungen, die in der Praxis seitens der EU-Kommission als derart miteinander verbunden betrachtet werden, dass regelmäßig eine gemeinsame Prüfung erfolgt.44) Eine Maßnahme wird dann als potentiell wettbewerbsverfälschend bewertet, wenn sie das 44 Potential aufweist den Leistungsempfänger im Verhältnis zu Konkurrenten zu stärken. Ungeachtet des konkreten Umfangs der Unterstützungsleistung, seien es Liquiditätshilfen ___________ 42) Vgl. dazu ausführlich die Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 117 ff. Ebenso Grabitz/Hilf/Nettesheimv. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 28. 43) Dazu sowie insgesamt zu Bezugssystemen ausführlich: Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 126 ff. 44) Ausführlich zum Tatbestandsmerkmal der potentiellen Wettbewerbsverzerrung: Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 185 ff.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
oder eine Lastenbefreiung, ist hierfür ausreichend, dass die prüfungsgegenständliche Beihilfe die Wettbewerbsstellung des Unternehmens stärkt. Eine mögliche Wettbewerbsbeeinträchtigung ist lediglich dann ausgeschlossen, wenn das begünstigte Unternehmen seine Dienstleitungen innerhalb eines rechtlichen Monopols anbietet, das jeglichen Wettbewerb von vorneherein ausschließt.45) Als regelmäßig wettbewerbsverzerrend gelten nach Rechtsprechung der Unionsgerichte insbesondere Betriebsbeihilfen, mit denen Unternehmen Kosten abgenommen werden, die diese i. R. ihrer geschäftlichen Tätigkeit üblicherweise zu tragen hätten.46) 45 Die konkrete Begünstigung ist zudem als geeignet zu betrachten eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels herbeizuführen, wenn die Unterstützungsmaßnahme – so gering diese auch sein mag – die Stellung eines Unternehmens gegenüber anderen Wettbewerbern im unionsinternen Handel stärkt bzw. zu stärken geeignet ist.47) Hiervon ist zunächst grundsätzlich auszugehen, wenn und soweit die durch das Unternehmen angebotenen Dienstleistung oder das angebotene Produkt zwischen Mitgliedstaaten handelbar ist. Entscheidend ist für das Merkmal der Zwischenstaatlichkeit nach Kommissionauffassung die Angebotsseite, also konkret, ob der Beihilfeempfänger in einem wettbewerbsoffenen Markt mit anderen Unternehmen ähnlicher Struktur in Konkurrenz tritt.48) Erforderlich ist dafür jedoch nicht, dass das begünstigte Unternehmen unmittelbar am grenzüberschreitenden Handel teilnimmt. Denn nach Kommissionsauffassung ist bereits hinreichend, dass die Subventionierung eines Unternehmens den Markteintritt anderer Unternehmen potentiell erschweren könnte. 46 Die Zwischenstaatlichkeit der Wirkungen der Maßnahme wird von der EU-Kommission gleichwohl regelmäßig verneint, wenn eine Begünstigung als reine lokale Förderung ausschließlich lokale Auswirkungen auf einem geographisch begrenzten Gebiet aufweist, also das Einzugsgebiet der Dienstleistung oder Waren nutzenden Kunden keinen anderen EUMitgliedstaat berührt. Um eine Einordnung solcher, nicht beihilferelevanter lokaler Fördermaßnahmen in der Praxis zu vereinfachen, hat die EU-Kommission in ihrer Bekanntmachung zum Begriff staatlicher Beihilfe exemplarische Fallgruppen dargelegt, in welchen im Regelfall von dem Fehlen einer Handelsbeeinträchtigung aufgrund des lokalen Charakters der Maßnahmen auszugehen ist. Genannt sind dort insbesondere die Förderung von Sportund Freizeiteinrichtungen sowie kulturellen Veranstaltungen und kulturelle Einrichtungen mit überwiegend lokalem Einzugsgebiet, von Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen, die die üblichen medizinischen Leistungen für die örtliche Bevölkerung erbringen oder auch Unterstützungsleistung für kleine Flughäfen oder Häfen, die überwiegend lokale Nutzer bedienen.49) 47 Das Merkmal der Zwischenstaatlichkeit wird zudem üblicherweise verneint, wenn in der Summe überschaubare staatliche Unterstützungsleistungen, sog. Bagatellbeihilfen gewährt ___________ 45) Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 188. 46) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 73 (mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 13.7.1988 – Rs. C-102/87 (Frankreich/Kommission), Rz. 19, Slg. 1988, I-4067 = ECLI:EU: C:1988:391; EuGH, Urt. v. 21.3.1991 – Rs. C-303/88 (Italien/Kommission), Rz. 27, Slg.1991, I-1433 = ECLI:EU:C:1991:136). 47) Zum Tatbestandsmerkmal der potentiellen Handelsbeeinträchtigung: Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 190 ff. 48) Vgl. Beschluss der Kommission, Staatliche Beihilfen SA.33045 (2013/NN) – Deutschland, Möglicherweise unzulässige Beihilfe zugunsten der Kristall Bäder AG, v. 23.7.2014, abrufbar unter https://ec.europa.eu/ competition/state_aid/cases/247490/247490_1580455_109_2.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 49) Vgl. Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 197.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
werden. In der De-minimis-Verordnungen50) sowie in der ergänzenden De-minimis-Verordnung für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI-Deminimis-Verordnung)51) sind finanzielle Schwellenwerte von 200 000 € bzw. 500 000 €52) festgelegt, bis zu denen Bagatellbeihilfen mangels Beeinträchtigungspotential als unbedenklich für den zwischenstaatlichen Handel und den Wettbewerb im Binnenmarkt gelten.53) Jedoch finden die Freistellungstatbestände für Bagatellbeihilfen ausdrücklich keine Anwendung, wenn und soweit sich die subventionierten Unternehmen „in Schwierigkeiten“ befinden, also nach nationalem Recht zumindest bereits eine Insolvenzreife aufweisen.54) In der Folge sind i. R. eines Insolvenzverfahrens auch solche staatlichen Unterstützungs- 48 leistungen, die in ihrem monetären Umfang begrenzt sind, potentiell beihilferelevant und somit grundsätzlich notifizierungspflichtig. 2.
Genehmigungsfähige Finanzierungs- und Unterstützungsmaßnahmen nach Art. 107 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV
Wenn die anlässlich oder zumindest i. R. eine Insolvenz- oder Restrukturierungsverfahren 49 gewährte Unterstützungsmaßnahme alle Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt, also eine Beihilfe i. S. des Unionsrecht darstellt, bleibt dem Verwalter nur noch zu prüfen, ob möglicherweise eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Beihilfeverbot vorliegt. Denn dem grundsätzlichen Beihilfenverbot in Art. 107 Abs. 1 sind in Art. 107 Abs. 2 sowie in Art. 107 Abs. 3 AEUV verschiedene Ausnahmeregelungen gegenübergestellt, deren Vorliegen jedoch von der EU-Kommission im Einzelfall geprüft werden muss, bevor die Beihilfe tatsächlich gewährt werden kann. Denn auch solche Beihilfen, die nach Art. 107 Abs. 2 aufgrund ihrer Sozialadäquanz als grundsätzlich mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten, unterliegen ebenso wie die lediglich potentiell mit dem Binnenmarkt vereinbaren Beihilfen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV dem Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV, solange keine Genehmigung durch die EU-Kommission vorliegt.
___________ 50) Verordnung (EU) Nr. 1407/2013 v. 18.12.2013 über die Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen, ABl. (EU) L 352/1 v. 24.12.2013; Geltungsdauer verlängert durch Verordnung (EU) 2020/972 v. 2.7.2020, ABl. (EU) L 215/3 v. 7.7.2020. 51) Verordnung (EU) Nr. 360/2012 der Kommission v. 25.4.2012 über die Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen an Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen, ABl. (EU) L 114/8 v. 26.4.2012. 52) Die Festlegung eines höheren Schwellenwerts zugunsten von DAWI wird in ErwG 4 der Verordnung insbesondere mit dem „vorwiegend lokalen Charakter“ solcher Dienstleistungen begründet, vgl. Calliess/ Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 28. 53) Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf DAWI und insbesondere auf Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, v. 29.4.2013, SWD(2013) 53 final/2, S. 38 f., abrufbar unter https://ec.europa.eu/ competition/state_aid/overview/new_guide_eu_rules_procurement_de.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). Ziel auch dieses Freistellungstatbestandes ist es, der Kommission zu ermöglichen, ihre Ressourcen auf die Prüfung rechtlich schwieriger und wirtschaftspolitisch bedeutender Fälle zu konzentrieren zu können, vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 232. 54) Für die Nichtanwendbarkeit der allgemeinen De-minimis-Verordnung vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. h der Verordnung Nr. 1407/2013, ABl. (EU) L 352/1 v. 24.12.2013. Ebenso ausdrücklich für die De-minimis-Verordnung für DAWI, vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. h der Verordnung (EU) Nr. 360/2012, ABl. (EU) L 114/8 v. 26.4.2012. Abweichend eine übrige Anwendbarkeit der De-minimis-Verordnung (mit Ausnahme einer Anwendbarkeit auf Darlehen und Garantien zugunsten eines insolventen Unternehmens) annehmend: Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 6 mit Verweis auf Soltész/Weiß, ZInsO 2019, 749, 751.
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§ 10 2.1
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung Legalausnahmen gemäß Art. 107 Abs. 2 AEUV
50 In Art. 107 Abs. 2 AEUV sind für abschließend aufgezählte Arten von Beihilfen Legalausnahmen vorgesehen, die als generell mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten und bei deren Vorliegen die EU-Kommission entsprechend zur Genehmigung der entsprechend materiell rechtmäßigen Beihilfemaßnahme verpflichtet ist. Hierzu gehören staatliche Beihilfen x
sozialer Art an einzelne Verbraucher (lit. c),
x
Katastrophenbeihilfen (lit. b) sowie
x
Beihilfen, die im Zusammenhang mit der Teilung Deutschlands (lit. c.), mithin der physischen oder verkehrstechnischen Isolierung einzelner Gebiete an der ehemaligen innerdeutschen Grenze stehen.
51 Aufgrund der abnehmenden Bedeutung von Art. 107 Abs. 2 lit. c AEUV sowie aufgrund der Tatsache, dass allgemeine sozialpolitische Maßnahmen i. S. von Art. 107 Abs. 2 lit. a AEUV häufig bereits nicht den Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen, ist in der Bewilligungspraxis lediglich der Freistellungstatbestand der Katastrophenhilfe von Relevanz, der jedoch ohne Belang in der insolvenzrechtlichen Praxis ist. Die in Art. 107 Abs. 2 AEUV normierten Ausnahmen sind somit für den Insolvenz- oder Sachwalter vernachlässigbar. 2.2
Ermessensausnahmen gemäß Art. 107 Abs. 3 AEUV
52 Art. 107 Abs. 3 AEUV regelt sog. Ermessensausnahmen, nach denen bestimmte, in fünf Kategorien gegliederte Beihilfen als potentiell mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten können. Hierzu zählen x
Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung strukturschwacher Gebiete (sog. Regionalbeihilfen) gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. a AEUV,
x
Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse (Gemeinschaftsinitiativen) oder zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. b AEUV,
x
Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. c,
x
Kulturbeihilfen gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. d AEUV sowie
x
sonstige durch einen Beschluss des Rates der EU bestimmte Beihilfen gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. e AEUV.
53 Die Entscheidung über die Vereinbarkeit einer Beihilfe mit Art. 107 Abs. 3 AEUV kommt nach Art. 108 Abs. 2 AEUV der EU-Kommission zu. Bei Überprüfung des Vorliegens einer der im Absatz 3 normierten Ermessensausnahmen hat die EU-Kommission einen umfassenden Beurteilungsspielraum.55) Um gleichwohl eine Vorhersehbarkeit der Entscheidungspraxis und damit auch mehr Transparenz und Rechtssicherheit für Beihilfeempfänger zu gewährleisten, hat die EU-Kommission auch diesbezüglich einige Auslegungsregeln in Gestalt von Leitlinien und Mitteilungen vorgelegt, die jedoch aufgrund ihres Charakters als Soft Law keine formale, gleichwohl aber eine faktische Bindungswirkung im Außenverhältnis begründen. Ziel aller sekundär- und tertiärrechtlichen Auslegungsregeln sowohl in Bezug auf horizontale Beihilfen, die i. R. eines bestimmten Förderziels alle Wirtschaftssektoren betreffen als auch auf sektorale, nur bestimmte Wirtschaftszweige betreffende Beihilfen ist es, neben mehr Anwendungstransparenz in Bezug auf die vielfältigen Freistellungstatbestände, insbesondere auch eine kohärente Entscheidungspraxis der EU-Kommis___________ 55) Bauer/Nordmann in: Birnstiel/Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, Art. 107 AEUV Rz. 1572 f.
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§ 10
sion mittels Selbstbindung zu gewährleisten, um auf diese Weise idealiter auch politischem Druck seitens der Mitgliedstaaten besser begegnen zu können.56) Zudem soll mithilfe klarer Auslegungshilfen für beihilfenrechtlich unproblematische und somit grundsätzlich genehmigungsfähige Arten staatlicher Zuwendungen eine Reduzierung oder zumindest Straffung der Notifizierungsverfahren gelingen, damit die EU-Kommission sich wettbewerbspolitisch bedeutsamen Beihilfefällen widmen kann. 3.
Sonderfall der Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen
In der Insolvenzpraxis von entscheidender Relevanz ist Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV, wonach 54 Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können, soweit diese die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten zuwiderlaufen. Da die Unionsgerichte wie auch die EU-Kommission Beihilfen zugunsten von in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindlicher Unternehmen grundsätzlich als potentiell erheblich wettbewerbsverzerrende Beihilfen bewerten, da auf diese Weise möglicherweise nicht überlebensfähige Unternehmen im Markt gehalten würden,57) hat die EU-Kommission spezifische „Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten“ (sog. „R&U-Leitlinien“)58) veröffentlicht, in denen zwingend zu erfüllende, strenge Voraussetzungen verschriftlicht sind, bei deren Vorliegen Unterstützungsleistungen auch zugunsten krisengeplagter Unternehmen möglich sind. Hierin liegt auch eine Anerkennung, dass die Notwendigkeit des Erhalts von Arbeitsplätzen und der Einhegung negativer Auswirkungen auf andere Unternehmen, Beihilfen jedenfalls zugunsten solcher Unternehmen rechtfertigen können, die eine Fortführungsprognose aufweisen. 3.1
Ausschluss anderer Freistellungstatbestände
Gleichwohl bleibt die Genehmigungsfähigkeit staatlicher Beihilfen in Gestalt von Rettungs- 55 und Sanierungsmaßnahmen limitiert, um mögliche wettbewerbsverzerrende Auswirkungen auf ein Minimum zu reduzieren und eine bestmögliche Wirksamkeit der Subventionierung zu erreichen.59) Diese Haltung der EU-Kommission kommt auch darin zum Ausdruck, dass Unternehmen in Schwierigkeiten keine anderen beihilferechtlichen Privilegierungen, wie etwa die der Bagatellbeihilfen, erhalten können. Entsprechend sind Unternehmen, die als Unternehmen in Schwierigkeiten nach Maßgabe der Leitlinien anzusehen sind auch von
___________ 56) Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 12; Bauer/Nordmann in: Birnstiel/ Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, Art. 107 AEUV Rz. 1572 f.; Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 107 Abs. 3 AEUV Rz. 2; Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 13. 57) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 13; Bauer/Nordmann in: Birnstiel/ Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht, Art. 107 AEUV Rz. 1574. 58) Mitteilung der Kommission, Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten, v. 31.7.2014, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 59) Dazu Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 14. Ähnlich auch Grabitz/ Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 231.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
der Gewährung der nach der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO)60) freigestellten Beihilfen – mit Ausnahme von Beihilfen zur Bewältigung der Folgen bestimmter Naturkatastrophen – ausgeschlossen.61) 56 Die Prüfung zugunsten insolventer oder insolvenzreifer Unternehmen gewährter Beihilfen i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV hat nach dem Willen der EU-Kommission und im Einklang mit der Rechtsprechung der Unionsgerichte somit ausschließlich nach den „R&ULeitlinien“ zu erfolgen. 3.2
Zulässigkeit staatlicher Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfen nach den R&U-Leitlinien
57 Auch die in einer Unternehmenskrise gewährte Beihilfe muss mit dem Binnenmarkt vereinbar sein. Für eine Zulässigkeit staatlicher Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfen ist somit objektiv darzulegen, dass die staatliche Beihilfemaßnahme die strengen Voraussetzungen der R&U-Leitlinien erfüllt und somit als genehmigungsfähige Beihilfe unter Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV fallen. Hierzu muss eine staatliche Beihilfe zugunsten eines „Unternehmens in Schwierigkeiten“ ausgereicht werden sollen. Also solche gelten Unternehmen, die nicht in der Lage sind, mit eigenen finanziellen Mitteln oder Fremdmitteln, die ihm von seinen Eigentümern, Anteilseignern oder Gläubigern zur Verfügung gestellt werden, Verluste aufzufangen und das Unternehmen kurz- oder mittelfristig so gut wie sicher wirtschaftlich untergehen wird, wenn der Staat nicht eingreift.62) 3.2.1 Anwendungsbereich der R&U-Leitlinien bei Insolvenz oder Insolvenzreife des begünstigten Unternehmens 58 Die R&U-Leitlinien enthalten erläuternde Legaldefinitionen des sachlichen Anwendungsbereichs der Leitlinien in deren Rz. 20.63) Demnach gelten u. a. solche Unternehmen als „Unternehmen in Schwierigkeiten“, die Gegenstand eines Insolvenzverfahrens64) sind
___________ 60) Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission v. 17.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. (EU) L 187/1 v. 26.6.2014; geändert durch Verordnung (EU) 2017/1084 der Kommission v. 14.6.2017 in Bezug auf Beihilfen für Hafen- und Flughafeninfrastrukturen, in Bezug auf Anmeldeschwellen für Beihilfen für Kultur und die Erhaltung des kulturellen Erbes und für Beihilfen für Sportinfrastrukturen und multifunktionale Freizeitinfrastrukturen sowie in Bezug auf regionale Betriebsbeihilferegelungen für Gebiete in äußerster Randlage und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 702/2014 in Bezug auf die Berechnung der beihilfefähigen Kosten, ABl. (EU) L 156/1 v. 20.6.2017, geändert und verlängert durch Verordnung (EU) 2020/972 v. 2.7.2020 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1407/2013 hinsichtlich ihrer Verlängerung und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 hinsichtlich ihrer Verlängerung und relevanter Anpassungen, ABl. (EU) L 215/3 v. 7.7.2020, über die Anwendung der Art. 92 und 93 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen. 61) Art. 1 Nr. 4 lit. c i. V. m. Art. 2 Nr. 18 Verordnung (EU) Nr. 651/2014, ABl. (EU) L 187/1 v. 26.6.2014. Zur Nichtanwendbarkeit der sog. Bürgschaftsmitteilung vgl. Rz. 3.2 lit. a, Rz. 3.4 lit. a der Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Art. 87 und 88 des EG-Vertrags auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften, v. 20.6.2008, ABl. (EU) C 155/10 v. 20.6.2008. Zur Nichtanwendbarkeit der De-minimis-Verordnung auf im Insolvenzverfahren befindliche oder insolvenzreife Unternehmen vgl. Art. 4 Abs. 3 lit. a, Art. 4 Abs. 6 lit. a der Verordnung (EU) Nr. 1407/2013, ABl. (EU) L 215/3 v. 7.7.2020. 62) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 236. 63) Ebenso findet sich eine entsprechende Legaldefinition in Art. 2 Nr. 18 Verordnung (EU) Nr. 651/2014, ABl. (EU) L 187/1 v. 26.6.2014. 64) Hingegen bewirkt eine Insolvenzeröffnung nach erfolgter Beihilfegewährung keine nachträgliche Rechtswidrigkeit einer zunächst legal gewährten Beihilfemaßnahme.
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oder zu deren Lasten im Zeitpunkt der Zuschussgewährung65) die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach dem jeweiligen nationalen Insolvenzrecht vorliegen. In der Folge werden auch alle vom nationalen Recht vorgesehenen Verfahren der Unternehmensinsolvenz erfasst, unabhängig davon, ob diese Verfahren durch die nationalen Verwaltungsbehörden und Gerichte von Amts wegen eröffnet oder auf Antrag des betroffenen Unternehmens eingeleitet werden.66) Entsprechend finden die Leitlinien insbesondere auf solche Beihilfemaßnahmen Anwendung, die zwecks einer Unternehmensfortführung i. R. eines Insolvenzverfahrens gewährt werden.67) Anwendbar sind die sektorenübergreifenden R&U-Leitlinien grundsätzlich auf Unter- 59 nehmen aller Wirtschaftszeige, mit Ausnahme des Steinkohlebergbaus und der Stahlindustrie.68) Ebenfalls von dem Anwendungsbereich ausgeschlossen sind zudem Finanzinstitute, für die eine gesonderte und vorrangig anwendbare Bankenmitteilung69) gilt, sowie neu gegründete Unternehmen, in den ersten drei Jahren nach Aufnahme der Geschäftstätigkeit.70) Diese letztgenannte Einschränkung des Anwendungsbereichs umfasst auch neue Unternehmen nach einem Asset Deal71) sowie auch KMU, wenn und soweit diese insolvenzreif i. S. von Rz. 20 lit. c der Leitlinien sind.72) Zudem gibt es sektorspezifische Regelungen für den Luftverkehr und eine eingeschränkte Anwendbarkeit im Fischerei- und Aquakultursektor.73) Ausnahmsweise können Rettungsbeihilfen sowie, im Falle von KMU und kleineren staat- 60 lichen Unternehmen, vorübergehende Umstrukturierungshilfen auch Unternehmen gewährt werden, die nicht in Schwierigkeiten i. S. der Rz. 20 der Leitlinie sind, die aber aufgrund außergewöhnlicher und unvorhersehbarer Umstände mit einem akuten Liquiditätsbedarf konfrontiert sind.74) 3.2.2 Exkurs: Rettungsbeihilfen zugunsten einer großen Unternehmensgruppen angehöriger Unternehmen – Konkretisierung der Gewährungsvoraussetzung anlässlich der Rechtssache T-665/20 (Rettungsbeihilfen für Condor) Gewisse Einschränkungen gelten schließlich auch für Unternehmen, die Bestandteil einer 61 Unternehmensgruppe sind.75) Die Rettungs- und Umstrukturierungsleitlinien finden hier gemäß der Rz. 22 nur Anwendung, wenn die Schwierigkeiten das beihilfeempfangende Unternehmen selbst betreffen, nicht auf eine willkürliche Kostenverteilung innerhalb der Gruppe zurückzuführen und die Schwierigkeiten so gravierend sind, dass sie von der Gruppe selbst nicht bewältigt werden können. Das Europäische Gericht (EuG) hat i. R. seines ___________ 65) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 6 (mit Verweis auf ablehnende Auffassung von de Weerth, NZI 2017, 687). 66) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 6. 67) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 235. Rz. 20 der R&U-Leitlinien sieht zudem weitere Fallgestaltungen vor, bei deren Vorliegen der sachliche Anwendungsbereich der Leitlinie eröffnet ist, wie etwa der Verlust der hälftigen Eigenmittel eines Unternehmens oder bestimmte Verschuldungskennzahlen. 68) Vgl. Rz. 18 der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 69) Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften für staatliche Beihilfen ab dem 1.8.2013 auf Maßnahmen zur Stützung von Banken im Kontext der Finanzkrise („Bankenmitteilung“), v. 30.7.2013, ABl. (EU) C-216/1 v. 30.7.2013 70) Vgl. Rz. 21 der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 71) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 14. 72) Vgl. Rz. 24 lit. b der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 73) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 235. 74) Vgl. Rz. 29 der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 75) Vgl. Rz. 22 der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. Dazu auch Thole in: Immenga/ Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 14.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Urteils vom 18.5.2022 in der Rechtssache T-665/2076), anlässlich der Klage der irischen Fluggesellschaft Ryanair gegen die Rechtmäßigkeit staatlicher Rettungsbeihilfen für die deutsche Fluggesellschaft Condor die Voraussetzung der Vereinbarkeit von Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen mit dem Binnenmarkt im Hinblick auf die in Rz. 22 der Leitlinie festgelegten Kriterien konkretisiert. 62 Demnach normierten die Leitlinien in Rz. 22 nur eine einzige Voraussetzung, wonach „die Schwierigkeiten eines Begünstigten (Unternehmens) als ihm spezifische Schwierigkeiten anzusehen sind, wenn sie nicht auf eine willkürliche Kostenverteilung innerhalb der Gruppe zurückzuführen […]“ seien.77) Denn Ziel sei hier lediglich, eine willkürliche Entledigung von eigenen Kosten, Schulden oder Verbindlichkeiten einer Unternehmensgruppe zulasten eines Unternehmens der Gruppe zu verhindern, um auf diese Weise nicht die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rettungsbeihilfe künstlich herbei zu führen. Intendiert sei hingegen ausdrücklich nicht, ein einer Unternehmensgruppe angehöriges Unternehmen, allein deshalb vom Geltungsbereich der Rettungsbeihilfen auszuschließen, weil seine Schwierigkeiten auf den Schwierigkeiten der restlichen Unternehmensgruppe oder einer anderen Gesellschaft der Unternehmensgruppe beruhten, sofern diese Schwierigkeiten nicht künstlich geschaffen oder innerhalb dieser Unternehmensgruppe willkürlich verteilt worden seien.78) 63 Entsprechend genüge etwa eine bloße Liquiditätsbündelung innerhalb einer Unternehmensgruppe – auch wenn sie im Ergebnis zum Nachteil des beihilfebedürftigen Unternehmens erfolge – nicht, um das Kriterium der „willkürlichen Kostenverteilung“ zu erfüllen. Denn eine solche Liquiditätsbündelung sei gängige und verbreitete Praxis von Unternehmensgruppen, die die Finanzierung der Unternehmensgruppe dadurch erleichtern solle, dass Gesellschaften dieser Gruppe Einsparungen bei Finanzierungskosten ermöglicht werden. Entsprechend müsse auch eine i. R. eines Beihilfeverfahrens beanstandete Liquiditätsbündelung für den Anschluss der Anwendbarkeit der Leitlinien ursächlich für die entstandenen Schwierigkeiten des beihilfebegehrenden Unternehmens sein und darüber hinaus zudem (nachweislich) aus willkürlichen Erwägungen erfolgen.79) 3.2.3 Beihilfearten nach den R&U-Leitlinien 64 Die R&U-Leitlinien unterscheiden drei Arten von Beihilfen: x
Rettungsbeihilfen,
x
Umstrukturierungsbeihilfen und
x
vorübergehende Umstrukturierungshilfen.
___________ 76) EuG, Urt. v. 18.5.2022 – Rs. T-577/20 (Ryanair DAC), ECLI:EU:T:2022:301 = EuZW 2022, 816. Gegenstand des Klageverfahrens war eine auf sechs Monate begrenzte deutsche Rettungsbeihilfe zugunsten der Condor Flugdienst GmbH in Form eines Darlehns i. H. von 380 Mio. €, zwecks Aufrechterhaltung des regulären Luftverkehrsbetriebs trotz Insolvenz der Fluggesellschaft. Vorausgegangen waren die Einstellung der Geschäftstätigkeit und die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Thomas Cook Group, die zu diesem Zeitpunkt 100 % der Anteile an der Fluggesellschaft Condor Flugdienst GmbH hielt. Gegen diese kurzfristigen Rettungsbeihilfen für die insolvente bzw. gegen den Genehmigungsbeschluss der Kommission [C(2019) 7429 final der Kommission v. 14.10.2019 über die staatliche Beihilfe SA.55394 (2019/N) – Deutschland – Rettungsbeihilfe für Condor (ABl. (EU) C 294/1, 3 v. 4.9.2020)] richtete sich die erfolglose Klage der Fluggesellschaft Ryanair. Die Kommission hatte die Rettungsbeihilfe als Maßnahme nach Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV und somit als mit dem Binnenmarkt vereinbar gewertet. 77) EuG, Urt. v. 18.5.2022 – Rs. T-577/20 (Ryanair DAC), Rz. 43 und 48, ECLI:EU:T:2022:301 = EuZW 2022, 816. 78) EuG, Urt. v. 18.5.2022 – Rs. T-577/20 (Ryanair DAC), Rz. 46, ECLI:EU:T:2022:301 = EuZW 2022, 816. 79) EuG, Urt. v. 18.5.2022 – Rs. T-577/20 (Ryanair DAC), Rz. 49, ECLI:EU:T:2022:301 = EuZW 2022, 816.
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Rettungsbeihilfen
Unternehmen in Schwierigkeiten können zunächst sog. Rettungsbeihilfen erhalten. Ret- 65 tungsbeihilfen sind dringende vorübergehende Liquiditätshilfen in Form von Darlehensbürgschaften oder Darlehen, die dem Beihilfeempfänger für einen zeitlich befristeten Zeitraum von maximal sechs Monaten gewährt werden können.80) Die Höhe der Beihilfe ist dabei auf den Betrag zu begrenzen, der für eine sechsmonatige Fortführung des begünstigten Unternehmens erforderlich ist.81) Eine solche temporäre Unterstützung soll dem zu sanierenden Unternehmen kurzfristig Zeit verschaffen, die bestehenden Probleme zu analysieren und einen Umstrukturierungs- oder Abwicklungsplan zu entwerfen, der der EU-Kommission nach Ablauf des Förderzeitraums vorzulegen ist.82) Sofern ein sofortiges Tätigwerden für das Überleben erforderlich ist, können in diesem Zeitraum ausnahmsweise auch bereits Maßnahmen struktureller Art, wie etwa die Aufgabe defizitärer Geschäftsbereiche, ergriffen werden.83) Die ausgereichten Darlehen müssen zudem spätestens sechs Monate ab Auszahlung der 66 ersten Rate zurückgezahlt bzw. die Laufzeit der Bürgschaft nach Ablauf der Sechs-MonatsFrist beendet werden, sofern der Mitgliedstaat nicht einen tragfähigen Umstrukturierungoder Liquidationsplan vorgelegt hat.84) In der Praxis mit besonderen Schwierigkeiten, zumindest aber einem größeren Begrün- 67 dungsaufwand verbunden, ist das mit der Beihilfegewährung einhergehende Erfordernis des Verfolgens eines Ziels von gemeinsamen (unionalen) Interesse. Als solches gilt nach Rz. 44 der R&U-Leitlinien das (wahrscheinliche) Auftreten schwerwiegender sozialer Härten oder eines schweren Marktversagens durch die Gefahr der Unterbrechung einer (kontinuierlichen) Erbringung eines wichtigen, nur schwer von einem anderen Wettbewerber zu übernehmenden Dienstes – etwa nationale Infrastrukturanbieter – (Rz. 44 lit. b) oder wesentlicher DAWI (Rz. 44 lit. d). Im Kern zielt diese Genehmigungsvoraussetzung damit weiterhin auf die Erwägung des Erhalts von Arbeitsplätzen (Rz. 44 lit. a). Das EuG hat anlässlich der streitgegenständlichen Prüfung der Rettungsbeihilfen für die 68 deutsche Fluggesellschaft Condor (Rechtssache T-665/20) die Anforderungen der Rz. 44 lit. b der R&U-Leitlinien in Bezug auf die Einordnung eines Dienstes als „wichtig“ näher erläutert.85) Demnach müsse das „wichtige Dienste“ erbringende Unternehmen nicht zwingend eine systemrelevante Rolle für die Wirtschaft des betreffenden Mitgliedstaates spielen und das Unternehmen ebenso nicht unbedingt mit der Erbringung wichtiger DAWI betraut sein, da beide Fälle von Rz. 44 lit. c und lit. d der Leitlinien gesondert erfasst und somit nicht Grundlage der Auslegung von lit. b seien. Auch sei der Geltungsbereich von Rz. 44 lit. b nicht auf Dienstleistungen beschränkt, die auf nationaler Ebene, mithin für die gesamte Wirtschaft eines Mitgliedstaates von Bedeutung sind. Somit kann also auch ein regional auf Gebiete des Mitgliedstaates beschränkter Dienst „wichtig“ i. S. der Leitlinien sein. Zudem hat das Unionsgericht noch einmal klargestellt, dass ein „wichtiger ___________ 80) Vgl. Rz. 26 und Rz. 55 ff. der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 81) Für eine Berechnungsformel vgl. den Anhang der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 82) Dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 238; Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 16. 83) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 16. 84) Für eine umfassende Darlegung der Genehmigungsvoraussetzungen, wie auch der Inhalte eines Umstrukturierungsplans vgl. bspw. Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 238 ff. 85) EuG, Urt. v. 18.5.2022 – Rs. T-577/20 (Ryanair DAC), Rz. 66 ff., ECLI:EU:T:2022:301 = EuZW 2022, 816.
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Dienst“ i. S. von Rz. 44 lit. b der Leitlinien nicht überhaupt nicht, sondern – dem Wortlaut des Buchstabens entsprechend – lediglich schwerlich ersetzbar sein muss.86) 69 Für die Gewährung von Rettungsbeihilfen ist dann kein Raum mehr, wenn ein Umstrukturierungs- oder Liquidationsplan für den ein Antrag auf Beihilfe vorliegt, erstellt ist oder durchgeführt wird. Ab dem Vorliegen eines derartigen Planes wird jede weitere Unterstützungsmaßnahme sodann als Umstrukturierungsbeihilfe betrachtet.87) 3.2.3.2
Umstrukturierungsbeihilfen
70 Umstrukturierungsbeihilfen sind dagegen dauerhaftere finanzielle Unterstützungsleistungen, die auf Grundlage eines zwingend durch einen externen Gutachter zu erstellenden „realistischen, kohärenten und weitreichenden“ Umstrukturierungsplans erfolgen.88) 71 Diese plangebundene Reorganisation des Beihilfeempfängers zielt auf einen langfristigen Erfolg in Gestalt der Wiederherstellung der Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Die Genehmigungsfähigkeit solcher Beihilfemaßnahmen ist entsprechend mit der Vorlage eines belastbaren Umstrukturierungsplans verbunden, in dem insbesondere die Krisenursachen sowie die avisierten Abhilfemaßnahmen und das erwartete Ergebnis der geplanten, maßgeblich unternehmensinternen Umstrukturierungsmaßnahmen anhand eines Basisszenarios sowie eines Worst-Case-Szenarios dargestellt werden müssen. Der Inhalt des Umstrukturierungsplans ist für das Unternehmen grundsätzlich bindend und muss entsprechend vollständig umgesetzt werden. Ein späteres Abweichen ohne Genehmigung der EU-Kommission begründet eine Missbräuchlichkeit der Umstrukturierungsbeihilfe und somit deren Rückforderbarkeit.89) 72 Zudem gelten weitere Genehmigungsvoraussetzungen. So werden Umstrukturierungsbeihilfen nur bei Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen durch in Relation zu Größe und Marktstellung des Unternehmens verhältnismäßige strukturelle Ausgleichsmaßnahmen – etwa in Gestalt der Veräußerung von (auch profitablen) Unternehmensteilen und Vermögensgegenständen, Kapazitätsabbau oder eine Beschränkung der Marktpräsenz – sowie gegen Leistung eines substantiellen Eigenbeitrags gewährt. Die Regelsätze für den Eigenbeitrag sind bei kleinen Unternehmen mindestens 25 %, bei mittleren mindestens 40 % und bei großen mindestens 50 %, wenn und soweit keine außergewöhnlichen Umstände oder das Vorliegens eines Härtefalls begründet werden kann.90) Zusätzlich steht es der EUKommission offen, den Beihilfeempfängern bestimmte Verhaltensregeln aufzuerlegen; etwa das Verbot, Unternehmensanteile zu erwerben oder die Untersagung bestimmter geschäftlicher Tätigkeiten. 3.2.3.3
Vorübergehende Umstrukturierungsbeihilfen – Sonderfall der Beihilfen für KMU in Schwierigkeiten
73 Vorübergehenden Umstrukturierungsbeihilfen sind für die Dauer von 18 Monaten gewährte Liquiditätshilfen in Gestalt von Darlehen und Darlehensbürgschaften, mit denen ___________ 86) Entsprechend argumentierte das Gericht, habe es sich bei dem potentiell zu ersetzenden Dienst der Fluggesellschaft Condor, die diese für Reiseveranstalter und unabhängige Reisebüros in Deutschland erbracht habe, in Gestalt der Rückholung von 200 000 bis 300 000 Condor-Fluggästen aus 50 bis 150 verschiedenen Zielorten um einen nicht kurzfristig von anderen miteinander im Wettbewerb stehenden Luftfahrtunternehmen übernehmbaren, entsprechend nur schwer ersetzbaren Dienst gehandelt, so dass der Marktaustritt Condors zu einem schweren Marktversagen hätte führen können. 87) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 241. 88) Vgl. Rz. 27 und Rz. 45 der R&U-Leitlinien, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 89) Vgl. Rz. 45 ff. der R&U-Leitlinien, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 90) Dazu etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 244.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
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die Umstrukturierung von KMU sowie kleineren staatlichen Unternehmen gefördert werden soll.91) Es handelt sich dabei um eine vereinfachte Form von Umstrukturierungsbeihilfe, die allerdings wie eine Rettungsbeihilfe ausgestaltet wird. Eine vorübergehende Umstrukturierungshilfe kann sich auch an eine Rettungsbeihilfe anschließen, wobei der Gesamtzeitraum seit Gewährung der Rettungsbeihilfe nicht mehr als 18 Monate betragen darf.92) Sollten KMU Rettungs- und/oder Umstrukturierungsbeihilfen gewährt werden, gelten eben- 74 falls weitere Sonderregelungen. So müssen KMU für den Erhalt einer Umstrukturierungsbeihilfe lediglich einen vereinfachten Umstrukturierungsplan vorlegen, der die Wiederherstellung der Rentabilität sowie die Vermeidung unzumutbarer Wettbewerbsverfälschungen ermöglicht. Der Höchstbetrag der gesamten Beihilfen, die demselben KMU für (kombinierte) Rettungsbeihilfe, Umstrukturierungsbeihilfe oder vorübergehende Umstrukturierungshilfe gewährt werden, ist auf 10 Mio. € beschränkt.93) Ungeachtet der Zuständigkeit der EU-Kommission für die Beihilfekontrolle, ist zugleich 75 jeder Mitgliedstaat für die Einhaltung der Beihilfevorschriften auf nationaler Ebene verantwortlich. Das in Deutschland entsprechend federführende94) BMWi hat daher eine von der EU-Kommission genehmigte Bundesrahmenregelung für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von KMU in Schwierigkeiten auf Basis der R&U-Leitlinien erlassen, die (ergänzende) Voraussetzungen für Rettungsbeihilfen, Umstrukturierungsbeihilfen und vorübergehende Umstrukturierungsbeihilfen vorsieht; im Übrigen aber weitgehend die Vorgaben der R&U-Leitlinien wiedergibt. Ziel dieser Rahmenregelung ist es, eine Vielzahl von Länderregelung zur Umsetzung der unionsseitigen Vorgaben zu vermeiden. Die Berücksichtigung der Bundesrahmenregelung bei Beihilfen zugunsten eines insolvenzreifen oder zumindest gefährdeten Unternehmens ist für den Verwalter von besonderer Relevanz, da Einzelförderungen, die sich inhaltlich i. R. der Bundesrahmenregelung bewegen, nicht separat notifiziert und von der EU-Kommission genehmigt werden müssen.95) 3.2.3.4
Grundsatz der einmaligen Beihilfe
Für alle Rettungs- und (vorübergehenden) Umstrukturierungsbeihilfen gilt der Grundsatz 76 der einmaligen Beihilfe. Unternehmen in Schwierigkeiten sollen demnach – bis auf wenige Ausnahmen, etwa im Falle unverschuldeter außergewöhnlicher und unvorhersehbarer Umstände – Beihilfen nur für einen einzigen Umstrukturierungsvorgang erhalten. Dieser Ausschluss einer mehrmaligen Gewährung einer Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilfe für eine Sperrzeit von zehn Jahren soll nach Auffassung der EU-Kommission das Setzen falscher Anreize etwa durch Förderung einer übermäßigen Risikobereitschaft von Unternehmen vermeiden helfen.96) III.
Beihilferelevanz eines Insolvenzplanverfahrens bei Beteiligung öffentlicher Gläubiger
Die (zumindest temporäre) Fortführung eines insolventen Unternehmens stellt eine not- 77 wendige Voraussetzung dar, um eine Sanierung der Schuldnerin oder des Schuldners durch___________ 91) Vgl. Rz. 28 und Rz. 114 der R&U-Leitlinien, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 92) Rz. 115 der R&U-Leitlinie, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. 93) Bzgl. Beihilfen für KMU s. Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 244 ff 94) Infolge der föderalen Struktur Deutschlands setzt sich diese Verantwortlichkeit in den Bundesländern fort. Daher sind neben den beihilferechtlichen EU-Vorschriften ggf. auch landesrechtliche Anzeigepflichten (z. B. § 86 GO NRW) zu beachten. 95) So ausdrücklich Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 18. 96) Rz. 70 ff. der R&U-Leitlinien, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014.
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§ 10
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
führen zu können. Ein wichtigstes, viel genutztes Reorganisationsinstrument ist hierbei der Insolvenzplan.97) Insolvenzverwalter und Schuldner können dem Insolvenzgericht einen Insolvenzplan vorlegen (§ 218 Abs. 1 Satz 1 InsO), der auf die Reorganisation des Insolvenzschuldners durch Beseitigung der Insolvenzgründe zielt. Zu diesem Zweck ist in einem Insolvenzplan ein zumindest teilweiser Forderungsverzicht der Gläubiger vorgesehen, um die Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzschuldners zu beseitigen. Die einzelnen Gläubiger leisten folglich eigene Sanierungsbeiträge, in der Hoffnung, auf diese Weise eine bestmögliche oder zumindest bessere Befriedigung aller Gläubiger, im Vergleich zu einer bloß quotenmäßigen Befriedigung i. R. einer Regelinsolvenz, zu erzielen. 78 Auch i. R. einer Planinsolvenz nach deutschem Recht sollte das EU-Beihilferecht und somit die Frage, ob der konkrete Insolvenzplan Regelungen enthalten könnte, die als offene oder versteckte Beihilfen zu bewerten sind, frühzeitig Eingang in die Überlegungen und Abwägungen eines Insolvenzverwalters finden, wenn und soweit der gemäß § 218 Abs. 1 InsO dem Insolvenzgericht vorzulegende Insolvenzplan – wie regelmäßig der Fall – einen (teilweisen) Schuldenerlass zulasten auch öffentlicher oder zumindest öffentlich kontrollierter Gläubiger vorsieht.98) So lässt sich etwa aus dem Gläubigerverzeichnis bereits i. R. der Vorarbeiten zum Entwurf eines Insolvenzplans ermitteln, ob staatliche Institutionen als Gläubiger am Insolvenzverfahren teilnehmen und somit deren Planzustimmung relevant werden könnte. 79 Dies ist regelmäßig zu bejahen, da ganz überwiegend von einer Verfahrensbeteiligung jedenfalls des Finanzamts oder auch der Bundesagentur für Arbeit auszugehen ist. Beschäftigt das Unternehmen Mitarbeiter, ist die Arbeitsverwaltung in der Form der Bundesagentur für Arbeit immer als Gläubiger beteiligt, gleiches gilt für die Finanzverwaltung, aber auch für kommunale Behörden, Landes- und Bundesbehörden. Diese werden häufig mit ihren meist ungesicherten Forderungen in die Gruppe der nicht nachrangigen Gläubiger eingeordnet oder bilden, wenn die Forderungen der öffentlichen Hand einen besonderen Schwerpunkt bilden, eine eigene Gruppe. 80 Insoweit stellt sich auch für den Insolvenzverwalter die Frage, ob aufgrund der konkreten Plangestaltung eine staatliche Zurechenbarkeit des Insolvenzplans gegeben ist. Denn aufgrund der nach BGH-Rechtsprechung99) bestehenden unmittelbaren Wirkung des Durchführungsverbots des Art. 108 Abs. 3 AEUV im deutschen Recht, welches zur Nichtigkeit des der Beihilfe zugrunde liegenden Rechtsgeschäftes führt,100) ist auch durch das Insolvenzgericht i. R. der Planbestätigung gemäß § 248 InsO von Amts wegen zu prüfen, ob der angenommene Insolvenzplan und der darin gläubigermehrheitlich konsentierte Schuldenerlass eine notifizierungspflichtige Beihilfe i. S. der Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3 AEUV darstellt. Sollte das Insolvenzgericht i. R. dieser zwingend vorzunehmenden Prüfung das Vorliegen einer EU-rechtlichen Beihilferelevanz bejahen und die sodann gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV erforderliche Genehmigung der EU-Kommission nicht vorliegen, wäre der gesamte Insolvenzplan nichtig101) und die avisierte Sanierung bzw. Fortführung des krisengeplagten Unternehmens entsprechend gefährdet. ___________ 97) Der Insolvenzplan wird rechtlich als Rechtsinstitut eigener Art gewertet, auf das vertragsrechtliche Grundsätze nicht anzuwenden sind (BGH, Urt. v. 6.10.2005 – IX ZR 36/02, NZI 2006, 100). 98) Dazu jüngst umfassend Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497 ff. 99) BGH, Urt. v. 4.4.2003 – V ZR 314/02, EuZW 2003, 444; BGH, Urt. v. 10.2.2011 – I ZR 136/09, Rz. 17, ZIP 2011, 732. 100) BGH, Urt. v. 20.1.2004 – XI ZR 53/03, bundesgerichtshof.de, S. 9. 101) Zu den Gründen des Ausschlusses einer Teilnichtigkeit eines Insolvenzplans vgl. Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 501.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
Um eine nachträgliche Nichtigkeit des Insolvenz- oder Restrukturierungsplans zu vermei- 81 den, ist im Falle bestehender Zweifel hinsichtlich der Beihilfebelastung des konkreten Insolvenzplans schon aus Gründen der Rechtssicherheit eine (vorsorgliche) Notifizierung des Insolvenz- oder Restrukturierungsplans bei der EU-Kommission gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV zu überlegen.102) Allerdings ist ein solches Notifizierungsverfahren mit zeitlichem Aufwand und entsprechenden Verfahrensverzögerungen verbunden, da das schuldnerische Unternehmen bis zum Vorliegen der Kommissionsentscheidung (Art. 108 Abs. 1 Satz 3 AEUV) zunächst ohne Sanierungshilfen fortgeführt werden muss. Da die EU-Kommission zudem strenge Voraussetzungen an Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen knüpft, sollte zunächst eine kritische Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV i. R. der Ausarbeitung eines ersten Planentwurfs erfolgen, um im Idealfall eine Beihilferelevanz von vorneherein ausschließen zu können. 1.
Beihilferelevanz des Sanierungsplans und des (teilweisen) Schuldenerlasses
Sorgfältig zu prüfen ist daher zunächst, ob die Annahme des Insolvenz- oder Restruktu- 82 rierungsplans und des darin enthaltenen (teilweise) Schuldenerlasses aufgrund der verfahrens(mit)bestimmenden Beteiligung staatlicher Gläubiger x
eine dem Staat zurechenbare Maßnahme darstellt,
x
die dem Insolvenzschuldner zugleich eine selektive Begünstigung gewährt, die er ohne staatliches Eingreifen nicht erhalten hätte und
x
die zumindest potentiell geeignet ist, den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu verzerren,103)
oder ob es, idealiter, an mindestens einem dieser kumulativ zu erfüllenden Tatbestandsmerkmale mangelt und die beihilferechtliche Notifizierungspflicht nach Art. 108 Abs. 3 Satz 1 AEUV somit entfällt. 1.1
Staatlichkeit der Annahme des Insolvenz- oder Restrukturierungsplans
Das EuG hat jüngst in der Rechtssache Olchtim104) dargelegt, wann ein Insolvenzplan eine 83 staatliche Beihilfe zugunsten des Insolvenzschuldner darstellen bzw. eine notifizierungspflichtige Beihilfe i. S. der Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3 AEUV umfassen kann. Ungeachtet der auch hier erforderlichen Prüfung aller sechs kumulativ zu erfüllenden Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 InsO, fokussierte sich die Prüfung des EuG im Wesentlichen auf die Fragen der Staatlichkeit sowie der staatlichen Zurechenbarkeit des im Insolvenzplan vorgesehenen (teilweisen) Schuldenerlasses als streitgegenständliche potentiell begünstigende und somit entsprechend beihilferelevante Maßnahme. Im Rahmen eines zweistufigen Prüfungsaufbaus prüfte der EuG dabei zunächst die Staat- 84 lichkeit sowie die Zurechenbarkeit der einzelnen Zustimmungserklärungen. Dabei ist zu prüfen, ob das Votum einzelner Gruppen dem Staat zuzurechnen ist. Dafür sind die Mehrheitsverhältnisse nach Kopf- und Summenmehrheit in den Gruppen zu betrachten. Im Falle einer unmittelbaren Beteiligung staatlicher Behörden, wie etwa Ministerien, oder anderer direkt dem Staat zurechenbarer öffentlicher Stellen, wird dabei die Staatlichkeit der entsprechenden planzustimmenden Voten unterstellt. Bei der ergänzend erforderlichen Prüfung der staatlichen Zurechenbarkeit der individuellen Zustimmungserklärung macht ___________ 102) So auch Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 501 (mit Verweis auf Leitlinien zur Rettung und Umstrukturierung). 103) EuGH, Urt. v. 21.10.2020 – Rs. C-556/19, Rz. 18, ECLI:EU:C:2020:844; Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497 ff. 104) EuG, Urt. v. 15.12.2021 – Rs. T-565/19 (Olchtim/Kommission), ECLI:EU:T:2021:904.
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Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
der EuG erneut deutlich, dass er hier nicht lediglich die bloße Tatsache genügen lasse, dass die prüfungsgegenständliche Zustimmungserklärung von einem öffentlichen oder unter staatlicher Kontrolle stehenden privaten105) Unternehmen vorgenommen wurde. Die staatliche Zurechenbarkeit folge bei privaten Gläubigern auch nicht aus einer bloßen Mehrheitsbeteiligung des Staates. Vielmehr sei eine beihilferechtlich relevante Zurechenbarkeit nur zu bejahen, wenn und soweit der Staat auch tatsächlich am Erlass der konkreten Maßnahme, vorliegend also an der Abgabe eines planzustimmenden Votums, beteiligt gewesen ist.106) Die Untersuchung der konkreten Zurechenbarkeit erfolgt auch hier i. R. einer Einzelfallprüfung auf Grundlage des üblichen Indizienkatalogs (z. B. Eingliederung in Struktur öffentlicher Verwaltung, Art und Ausübung der Tätigkeit, Rechtstatus des Unternehmens; Intensität staatlicher Aufsicht über Unternehmensführung) für jeden einzelnen Gläubiger.107) 85 Sodann prüfte der EuG die staatliche Zurechenbarkeit des Insolvenzplans als solchen, aufgrund staatliche zurechenbarer Mehrheitsverhältnisse. Zu hinterfragen ist dabei folglich, ob die Zustimmung zum Insolvenzplan insgesamt, mithin als Resultat einer Gemeinschaftsentscheidung, aus staatlichen Mitteln erfolgt und zugleich dem Staat zugerechnet werden kann. Hier ist die Staatlichkeit der Mittel sowie eine staatliche Zurechenbarkeit im Hinblick auf die für die Billigung des Plans erforderlichen Mehrheitsverhältnisse anzunehmen, wenn alle dem Staat i. R. des ersten Prüfungsschrittes zurechenbaren bzw. zugerechneten Stimmen, die erforderlichen Mehrheiten gemäß § 244 InsO begründen oder den Insolvenzplan blockieren können.108) Dabei dürfen laut EuG Stimmen von Gläubigern oder Gläubigergruppen nicht mitgerechnet werden, deren Zustimmung der Staat zwar als selbstverständlich voraussetzt, die dem Staat aber dennoch nicht zugerechnet werden können; wie etwa die der Arbeitnehmer.109) 86 Dies bedeutet im Ergebnis, dass eine staatliche Zurechenbarkeit für die konkrete Beschlussfassung über Insolvenzpläne nur dann im beihilferechtlichen Sinne gegeben ist, wenn der staatliche Einfluss entscheidend ist, die Annahme des Plans folglich ausschließlich oder zumindest maßgeblich durch das Votum staatlicher Stellen herbeigeführt wird. Es kommt also auf die Mehrheitsverhältnisse in dem jeweiligen Insolvenzverfahren an. Sowohl die Kopf- als auch die Summenmehrheit in den einzelnen Gruppen muss gewichtet werden, um festzustellen, ob entweder in den einzelnen, vom Planverfasser gebildeten Gruppen oder im Gesamtplan eine staatliche Zurechenbarkeit der positiven Gläubigerentscheidung unterstellt werden kann.110) Nur wenn die nach dem Insolvenzrecht für die Annahme des Plans erforderlichen Mehrheiten nach § 244 InsO durch staatliche Beiträge herbeigeführt werden, kann überhaupt von einer staatlichen Zurechenbarkeit gesprochen werden. Insofern kann bereits bei der Vorlage des Plans darauf geachtet werden, dass es keinen dominanten Einfluss staatlicher Stellen in Bezug auf die Mehrheitsverhältnisse gibt. 87 Der EuG hat in der Rechtssache Olchtim zudem klargestellt, dass die bloße Mitwirkung staatlicher Instanzen an einem Insolvenzverfahren, etwa die eines gerichtlich bestellten Insolvenzverwalters an der Aufstellung eines Insolvenzplans oder die finale Plangenehmi___________ 105) Zur Einordnung von Handlungen privater Unternehmen, die unter staatlicher Kontrolle oder Einflussnahme stehen vgl. die Bekanntmachung der Kommission zum Begriff staatlicher Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 41 ff. 106) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 498. 107) Vgl. Bekanntmachung der Kommission zum Begriff der staatlichen Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 InsO, EU, ABl. (EU) C 262/1 v. 19.7.2016, Rz. 41 ff. 108) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 498. 109) So ausdrücklich EuGH, Urt. v. 15.12.2021 – T-565/19 (Olchtim/Kommission), Rz. 206, ECLI:EU: T:2021:904. 110) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 499.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
gung des Insolvenzgerichts, keine staatliche Zurechenbarkeit des Insolvenzplans im beihilferechtlichen Sinne begründen, da die eigentliche Annahmeentscheidung gemäß dem nationalen Insolvenzrecht bei den Gläubigern verbleibt.111) Ein Verfahrensbeteiligung staatlicher Instanzen ist somit irrelevant, wenn und soweit solche staatlichen Instanzen lediglich vorbereitend oder verfahrensabschließend tätig werden. 1.2
Begünstigung
Sollten die notwendigen Voraussetzungen der Staatlichkeit der Maßnahme und der staat- 88 lichen Zurechenbarkeit gegeben sein, muss aber zugleich eine Begünstigung des Schuldners im beihilferechtlichen Sinne durch den im Insolvenzplan vereinbarten (Teil-)Schuldenerlass bejaht werden, um eine Notifizierungspflicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV auszulösen. Eine Begünstigung ist dabei gleichsam ausgeschlossen, wenn der Schuldner eine vergleichbare Maßnahme auch ohne staatliches Eingreifen erhalten hätte. So hierbei von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit des sog. Market Economy Operator Test (MEOT)112) auf einen Insolvenzplan ausgegangen werden kann,113) muss auch bei einem Schuldenerlass i. R. eines Insolvenzplanverfahrens untersucht werden, ob sich der Staat im Zeitpunkt der ihm zuzurechnenden Gläubigerentscheidung wie ein hypothetischer marktüblicher Wirtschaftsteilnehmer verhalten hat. Obgleich es sich bei der Planzustimmung um eine gemeinschaftliche Entscheidung der Gläubiger handelt, scheint der EuG hier zu einer Einzelbetrachtung der jeweiligen Gläubigerentscheidung zu tendieren.114) Bei dem Merkmal der Marktüblichkeit ist also auf die konkrete Situation des einzelnen Gläubigers abzustellen. Zu fragen ist demnach, ob ein fiktiver privater Gläubiger dem im Planentwurf vorgesehenen Forderungserlass vernünftigerweise zugestimmt hätte. Indizien für und gegen eine Marktüblichkeit sind dabei etwa Art, Umfang und die Existenz oder das Fehlen einer Besicherung der Forderung sowie insbesondere die individuelle Abwägung der Vor- und Nachteile einer Liquidation im Vergleich zu einer Fortführung des insolventen Unternehmens.115) 2.
Anwendbarkeit der beihilferechtlichen Grundsätze auf Restrukturierungspläne nach dem Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (StaRUG)
Diese für Insolvenzplanverfahren aufgestellten Grundsätze sind auch auf Restrukturie- 89 rungspläne nach dem StaRUG116) übertragbar.117) Denn der Restrukturierungsplan unterliegt in Bezug auf seine Annahme ebenso wie der Insolvenzplan Mehrheitsentscheidungen der Gläubiger. Gleiches gilt für die Gruppenbildung und das Abstimmungsverfahren. Auch Restrukturierungspläne können daher nur dann zu einer staatlichen Zurechenbarkeit der Zustimmungsentscheidung führen, wenn die Gläubigerentscheidung durch unmittelbar dem Staat zuzurechnende öffentliche Stellen bewirkt wurde. ___________ 111) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 498 f. 112) Zu den Voraussetzungen der Anwendbarkeit des MEOT – insbesondere kein ausschließlich hoheitliches Handeln des Staates – s. oben Rz. 27 ff. 113) So ausdrücklich Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 500. Der EuG hatte die Prüfung der Anwendbarkeit und die Anwendung des MEOT in der Rs. Olchtim nur im Zusammenhang mit zeitlich vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattgefundenen Maßnahmen überprüft. 114) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 499 f. 115) Thole in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Art. 107 Rz. 11. 116) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 117) Quardt/Hanke, ZInsO 2022, 497, 499.
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§ 10 IV.
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung Notifizierungsverfahren gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV
90 Art. 108 Abs. 3 AEUV regelt den Ablauf des Verfahrens der Beihilfekontrolle für „neue Beihilfen“ durch die EU-Kommission. Die primärrechtliche Regelung wird dabei ergänzt durch eine Beihilfeverfahrensordnung Nr. 2015/1589118) (BeihilfeVerfO), die im Wesentlichen die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte präzisiert.119) Zudem hat die EUKommission eine Durchführungsverordnung zur BeihilfeVerfO erlassen, die konkretisierende Regelungen zu Form, Inhalt und anderen Einzelheiten sowie über die Fristberechnung in Beihilfeverfahren normiert, erlassen.120) Darüber hinaus existiert ein neuer Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren.121) 1.
Ablauf eines „regulären“ Notifizierungsverfahrens
91 Der zugehörige Mitgliedstaat122) eines staatliche Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV potentiell in Anspruch nehmenden Unternehmens, muss die Beihilfe vor ihrer Gewährung vollständig notifizieren,123) um eine Präventivkontrolle der EU-Kommission, mithin eine finale Kommissionsentscheidung zu ermöglichen. Untergeordnete staatliche Stellen, Bundesländer oder Gebietskörperschaften sind hingegen, selbst bei innerstaatlicher Zuständigkeit für das mit einer Beihilfe geförderte Sachgebiet, ebenso wenig zur Notifizierung berechtigt, wie das beihilfeempfangende Unternehmen.124) Beihilfeempfänger sind gleichwohl gemäß Art. 1 lit. h BeihilfeVerfO Beteiligte des Beihilfeverfahrens i. S. des Art. 108 Abs. 2 AEUV, haben dort jedoch eine untergeordnete Verfahrensstellung gegenüber den Mitgliedstaaten und dienen der EU-Kommission dort im Wesentlichen als Informationsquelle.125) 1.1
Vorabkontaktverfahren
92 Das Notifizierungsverfahren beginnt grundsätzlich mit einer formellen Vorprüfung des Beihilfeanliegens durch die EU-Kommission. In komplexen Fällen – etwa bei Vorliegen einer Umstrukturierungsbeihilfe126) – kann aber bereits vor der förmlichen Anmeldung einer ___________ 118) Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (BeihilfeVerfO), ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. 119) Darüber hinaus existiert ein neuer Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, v. 19.7.2018, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. 120) Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission v. 21.4.2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 93 des EG-Vertrags, ABl. (EU) L 140/1 v. 30.4.2004. 121) Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, v. 19.7.2018, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. Der Verhaltenskodex ersetzt den im Jahr 2009 angenommenen Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren (Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, ABl. (EU) C 136/13 v. 16.6.2009) und beinhaltet die Mitteilung für ein vereinfachtes Verfahren aus dem Jahr 2009 (Mitteilung der Kommission über ein vereinfachtes Verfahren für die Würdigung bestimmter Kategorien staatlicher Beihilfen, ABl. (EU) C 136/3 v. 16.6.2009. 122) In Deutschland erfolgt die Unterrichtung, die Erstanmeldung von Beihilfen, die Begleitung der Notifizierungsverfahren sowie – nach Genehmigung der Beihilfemaßnahmen – die Vermittlung zwischen der Europäischen Kommission und den verschiedenen nationalen Beihilfegebern über die BReg, konkret durch das – jedenfalls im Regelfall – federführende BMWi. Vgl. Kurzinformation des BTag, Fachbereich Europa – Zur Zuständigkeit für die Notifizierung einer Beihilfe nach Art. 108 Abs. 3 AEUV, Deutscher Bundestag, PE 6 – 3000 – 119/20 v. 4.1.2021). 123) Für die Voraussetzungen einer vollständigen Notifizierung s. Art. 4 Abs. 5 und Art. 5 BeihilfeVerfO (Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015). 124) Rusche in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2016, Nr. 1 zu Art. 2 Verordnung Nr. 2015/1589, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. 125) Kurzinformation des BTag, Fachbereich Europa – Zur Zuständigkeit für die Notifizierung einer Beihilfe nach Art. 108 Abs. 3 AEUV, Deutscher Bundestag, PE 6 – 3000 – 119/20 v. 4.1.2021, S. 2. 126) Ausdrückliche beispielhafte Nennung einer Umstrukturierungsbeihilfe in Nr. 15 des Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, v. 19.7.2018, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
Beihilfe ein sog. Vorabkontakt zur EU-Kommission auf Ersuchen des Mitgliedstaates hergestellt werden. Der Vorabkontakt dient dabei im Wesentlichen als Möglichkeit zur informellen und vertraulichen127) Erörterung der rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte einer geplanten Maßnahme. Entsprechend sollte der Beihilfeempfänger bereits in diesem Verfahrensstadium einbezogen werden.128) Zudem nimmt die EU-Kommission hierbei idealiter eine erste Einschätzung vor, ob die prüfgegenständliche Beihilfemaßnahme für die Anwendung des gestrafften Verfahrens in Frage kommen könnte.129) Der zeitliche Ablauf der Vorabkontakte wird im Wesentlichen durch die Komplexität des jeweiligen Falls bestimmt, soll aber im Regelfall maximal sechs Monate in Anspruch nehmen.130) 1.2
Vorprüfverfahren
Das innerhalb von maximal zwei Monaten abzuschließende Vorprüfverfahren dient dazu, 93 der EU-Kommission eine erste Meinungsbildung über die teilweise oder vollständige Vereinbarkeit der angemeldeten Beihilfen mit dem EU-Beihilferecht zu ermöglichen. Das Vorprüfverfahren wird gemäß Art. 4 Abs. 2 bis 4 BeihilfeVerfO per Beschluss durch die Einleitung des Hauptprüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV, die Feststellung des Nichtvorliegens einer Beihilfe mangels Beihilfeeigenschaft der notifizierten Unterstützungsmaßnahme oder durch einen Vereinbarkeitsbeschluss der EU-Kommission abgeschlossen.131) Erklärt die EU-Kommission eine Beihilfe i. R. einer solchen vorläufigen Prüfung für mit dem Binnenmarkt vereinbar (sog. Unbedenklichkeitsbeschluss), können andere Mitgliedstaaten sowie der Rat gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV, Konkurrenten des Beihilfebegünstigten gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV dagegen Klage erheben.132) Auch die staatlichen Rettungsbeihilfen für die deutsche Fluggesellschaft Condor gegen 94 die sich die erfolglose Klage der irischen Fluggesellschaft Ryanair richtete (Rechtssache T-665/20), wurden – ohne die Einleitung eines förmlichen (Haupt-)Prüfverfahrens – durch einen Unbedenklichkeitsbeschluss der EU-Kommission133) i. R. des Vorprüfverfahrens mangels Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Rettungsbeihilfe mit dem Binnenmarkt genehmigt. 1.3
Hauptprüfverfahren
Die Behandlung komplexer Fälle erfolgt i. R. eines förmlichen (Haupt-)Prüfverfahrens, 95 das – wenn möglich – innerhalb von zwei Monaten nach formaler Notifizierung durch einen zu begründenden134) Eröffnungsbeschluss der EU-Kommission eingeleitet wird. Ein Hauptprüfungsverfahren ist nach Art. 108 Abs. 2 i. V. m. Abs. 3 AEUV zudem einzuleiten, wenn die EU-Kommission nach Abschluss des Vorprüfverfahrens zur Auffassung gelangt ist bzw. konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die gewünschte Beihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist.135) Der Eröffnungsbeschluss ist dabei zugleich mit einer Aufforderung zur Stellungnahme 96 an den Mitgliedstaat binnen einer Äußerungsfrist von „normalerweise höchstens einem ___________ 127) Vgl. Ziff. 22 des Verhaltenskodex, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. Zudem ist die Kommission nach Art. 30 der Verfahrensverordnung bei allen Beihilfeverfahren an das Berufsgeheimnis gebunden. 128) So auch die Kommissionsempfehlung; vgl. Ziff. 18 des Verhaltenskodex, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. 129) Ziff. 9 ff. Verhaltenskodex, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. 130) Ziff. 16 Verhaltenskodex, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. 131) Vgl. dazu auch Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 10. 132) Vgl. dazu auch Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 18. 133) Kommission [C(2019) 7429 final der Kommission v. 14.10.2019 über die staatliche Beihilfe SA.55394 (2019/N) – Deutschland – Rettungsbeihilfe für Condor (ABl. (EU) C 294/1, 3 v. 4.9.2020. 134) Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BeihilfeVerfO, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. 135) Vgl. dazu auch Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 20.
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§ 10
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Monat“ verbunden.136) Ebenfalls binnen Monatsfrist nach Veröffentlichung des Eröffnungsbeschluss zur Stellungnahme berechtigt sind das begünstigte Unternehmen, andere Mitgliedstaaten sowie grundsätzlich alle von der Beihilfe potentiell unmittelbar Betroffenen, etwa konkurrierende Unternehmen.137) 97 Die EU-Kommission beendet das Hauptprüfverfahren durch begründeten Beschluss; entweder mit einer Untersagung der Beihilfe, mit einem – ggf. mit Bedingungen und Auflagen versehenen – Vereinbarkeitsbeschluss oder mit der Feststellung fehlender Beihilferelevanz der zu prüfenden staatlichen Unterstützungsmaßnahme.138) 98 Die EU-Kommission bemüht sich um eine zeitnahe, möglichst innerhalb von 18 Monaten nach Einleitung des Prüfverfahrens vorzunehmende Vorlage des abschließenden Beschlusses.139) Nach Ablauf dieser Zeitspanne erlässt die EU-Kommission auf Wunsch des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb von zwei Monaten einen Beschluss.140) 99 Wenn und soweit es i. R. des Notifizierungsverfahrens gelungen ist, die Bedenken der Kommission hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Beihilfe mit dem Binnenmarkt auszuräumen, ergeht ein Vereinbarkeitsbeschluss, also eine Genehmigung der Beihilfe. Damit endet die Sperrwirkung der Notifizierung und die Beihilfe kann dem Unternehmen gewährt werden. Sollte die EU-Kommission das Hauptverfahren hingegen durch Erlass eines Unvereinbarkeitsbeschlusses nach Art. 108 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 AEUV beenden, können insbesondere der Mitgliedstaat gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV sowie regelmäßig das potentiell beihilfeberechtigte Unternehmen gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV Anfechtungsklage zum EuGH erheben.141) Im Falle der Beihilfegenehmigung durch Vereinbarkeitsbeschluss sind neben den Mitgliedstaaten hingegen üblicherweise auch unmittelbar durch die Wirkungen der Beihilfe betroffene Konkurrenten des Beihilfebegünstigte zur Klageerhebung berechtigt.142) 2.
Beschleunigte Verfahren für dringende oder unterkomplexe Fälle
100 Um Fällen besonderer Dringlichkeit einer Beihilfegewährung etwa aufgrund eines akuten Marktversagens oder des Bestehens rechtfertigender außergewöhnlicher Umstände begegnen zu können, existieren verschiedene Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung. Auch „Unternehmen in Schwierigkeiten“, also insolvenzreifen oder bereits insolventen Unternehmen kann unter bestimmten Umständen eine Rettungsbeihilfe in limitierter Höhe in einem sog. „vereinfachten Verfahren“ gewährt werden. 2.1
Portfolioverfahren
101 Die Mitgliedstaaten können die EU-Kommissionsdienststellen zweimal jährlich ersuchen, Fälle, die sie als prioritär erachten, innerhalb besser vorhersehbarer Fristen zu behandeln. Denn das hierfür vorgesehene Portfolioverfahren, in dessen Rahmen Mitgliedstaaten eine Priorisierung einzelner angemeldeten Beihilfemaßnahmen im Rahmen ihres Portfolios vornehmen können, ermöglicht eine Verständigung mit der EU-Kommission auf die vorrangige Behandlung einer konkreten Beihilfesache. Ebenfalls Bestandteil einer solchen Verständigung ist die (voraussichtliche) Dauer der beihilferechtlichen Prüfung durch die Kommissions___________ 136) 137) 138) 139) 140)
Art. 6 Abs. 1 Satz 2, 3 BeihilfeVerfO, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. Vgl. dazu auch Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 21. Vgl. dazu Art. 7 Abs. 4 und Art. 9 BeihilfeVerfO, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. Art. 9 Abs. 6 der BeihilfeVerfO, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. Art. 9 Abs. 7 Satz 1 BeihilfeVerfO, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. Vgl. dazu auch Calliess/RuffertCremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 22. 141) Dazu ausführlich Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 23. 142) Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 24.
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E. Mönning
Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
dienststellen nach Anmeldung der Beihilfe. Die EU-Kommission ist gehalten, die Entscheidung innerhalb des vereinbarten Zeitrahmens zu treffen, wenn ihr dafür alle notwendigen Informationen vorliegen. Eine entsprechende einvernehmliche Planung der Beihilfesache zur bestmöglichen Gewährleistung einer umgehenden und vorhersehbaren Entscheidungsfindung kann dabei entweder am Ende der Voranmeldephase oder auch zu Beginn des förmlichen (Haupt-)Prüfverfahrens erfolgen.143) 2.2
Gestrafftes Verfahren
Nach Art. 4 der BeihilfeVerfO können unkomplizierte Beihilfefälle unter bestimmten 102 Voraussetzungen im Rahmen eines gestrafften Verfahrens beschleunigt behandelt werden; jedoch nur, wenn zuvor bereits Meinungsaustausche zwischen Mitgliedstaat und Kommissionsdienststellen i. R. des Vorabkontaktverfahrens stattgefunden haben. Als unkompliziert gelten dabei insbesondere solche Beihilfemaßnahmen, die eine hinreichende Vergleichbarkeit mit Maßnahmen aufweisen, die Gegenstand früherer positiver Beschlüsse (Vereinbarkeitsbeschlüssen) waren. Ziel des gestrafften Verfahren ist es, wenn möglich, einen verfahrensabschließenden Kurz- 103 beschluss innerhalb von 25 (Arbeits-)Tagen ab dem Tag der förmlichen Beihilfenotifizierung zu erlassen, der entweder die fehlende Beihilferelevanz der Maßnahme – mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 107 Abs. 1 AEUV – oder das Fehlen von Einwänden gegen die Beihilfegewährung feststellt.144) 2.3
Vereinfachtes Verfahren
Für das Verfahren der Notifizierung der Beihilfe an „Unternehmen in Schwierigkeiten“ 104 i. S. der R&U-Leitlinien gelten grundsätzlich die allgemeinen, bereits oben, siehe Rz. 91 ff., dargestellten Verfahrensregeln. Der Ablauf des Notifizierungsverfahrens folgt entsprechend der BeihilfeVerfO (Verordnung (EU) Nr. 2015/1589). Jedoch existiert ein beschleunigtes Verfahren für Rettungsbeihilfen zugunsten insolvenzreifer Unternehmen sowie zugunsten von Unternehmen, deren Eigenmittel in der in Rz. 20 der R&U-Leitlinie genannten Weise aufgezehrt sind, wenn die Rettungsbeihilfe zudem der Höhe nach am verlustbedingten Liquiditätsbedarf begrenzt ist und der Betrag von 10 Mio. € nicht überschritten wird. Sofern die Rettungsbeihilfen im Übrigen die Voraussetzungen der R&U-Leitlinien erfüllen, 105 wird die EU-Kommission sodann im sog. vereinfachten Verfahren innerhalb eines Monats über die Gewährung der Rettungsbeihilfe entscheiden.145) 2.4
Sonderfall: Beschluss des Rates gemäß Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 und 4 AEUV
Auf Antrag des betreffenden Mitgliedstaats kann der Rat nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 106 Satz 1 AEUV einstimmig entscheiden, dass eine geplante Beihilfe in außergewöhnlichen Fällen abweichend von Art. 107 AEUV und den Kriterien der auf Grundlage von Art. 109 AEUV erlassenen Freistellungstatbestände (insbesondere Gruppenfreistellungsverordnung) gleichwohl als mit dem Binnenmarkt vereinbar gilt. Ein bereits eingeleitetes formales Notifizierungsprüfverfahren wird durch den Antrag zunächst ausgesetzt.146) Auf diese Weise soll die Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten bei Vorliegen erheblicher wirtschaftlicher Schwierigkeiten (regional- oder sektorspezifischer Natur) gewahrt bleiben, wenn im Falle ___________ 143) Vgl. zum „gestrafften Verfahren“ Ziff. 23 des Verhaltenskodex, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. 144) Ziff. 37 ff. Verhaltenskodex, ABl. (EU) C 253/14 v. 19.7.2018. 145) Vgl. Rz. 121 der R&U-Leitlinien ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014. S. zum vereinfachten Verfahren auch Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 6. 146) Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 27.
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§ 10
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
strikter Anwendung der von der EU-Kommission zu berücksichtigenden Genehmigungsregeln ein unterstützendes Agieren verhindert würde. Der Rat hat bei dieser Entscheidung nach Rechtsprechung der Unionsgerichte ein weites Beurteilungsermessen.147) 107 Bei dieser primärvertraglich eingeräumten Möglichkeit des Rates handelt es sich jedoch um eine eng auszulegende Ausnahmebestimmung sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Als außergewöhnlich gelten daher insbesondere nicht solche Umstände, die sich bereits aus den zulässige Finanzierungs- und Unterstützungsmaßnahmen nach Art. 107 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV oder den Gruppenfreistellungsverordnungen ergeben.148) Bislang hat der Rat wohl insbesondere im Bereich der Landwirtschaft – mangels Veröffentlichungspflicht der Ratsentscheidungen ist hier keine belastbare Aussage möglich – von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.149) 108 Darüber hinaus darf eine solche Ratsentscheidung lediglich eine temporäre, vorübergehende Genehmigung der Beihilfe bewirken, um die Kommissionskompetenz zur Beihilfenkontrolle nicht dauerhaft zu unterlaufen. Der Rat ist somit auch bei Auftreten außergewöhnlicher Schwierigkeiten nur für eine gewisse Zeit zur Ermöglichung von Notfallfinanzierungsmaßnahmen berechtigt.150) Aus dem primärvertraglich angeordneten Aussetzen eines bereits eingeleiteten förmlichen Prüfverfahren im Rahmen der ordentlichen Beihilfekontrolle gemäß Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 2 AEUV hat der Gerichtshof geschlossen, dass die Kompetenz des Rates jedenfalls dann endet, wenn die EU-Kommission das formelle Prüfverfahren bereits mit einer Unvereinbarkeitsentscheidung abgeschlossen hat. Entsprechend ist ein Antrag des Mitgliedstaates auf Erlass eines Ratsbeschlusses nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 1 AEUV ausgeschlossen, wenn das förmliche Prüfverfahren bereits durch Kommissionsbeschluss beendet worden ist.151) 109 Nach Antragstellung des Mitgliedstaates und der ggf. damit verbundenen Aussetzung des förmlichen Beihilfekontrollverfahrens, muss der Rat gemäß Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 4 AEUV innerhalb von drei Monaten eine Entscheidung über die Genehmigung der Beihilfe fällen. Nach Fristablauf lebt andernfalls die normale Kompetenz der EU-Kommission wieder auf.152) V.
Fazit
110 Das Thema der europarechtlichen Beihilferelevanz staatlicher Subventionierungen, die zum Zwecke der Unterstützung der Betriebsfortführung eines insolventen oder insolvenzreifen Unternehmens gewährt werden soll, ist für den Insolvenz- oder Sachwalter in einer Vielzahl von Verfahren von Relevanz. Die vor einem Ersuchen um staatliche Beihilfe zwingend zu beantwortete Frage lautet dabei zunächst, ob eine solche liquiditätssichernde Subvention vor deren tatsächlicher Gewährung förmlich bei der EU-Kommission anzumelden, also zu notifizieren ist. Denn ein förmliches Beihilfekontrollverfahren ist, selbst wenn es als beschleunigtes Verfahren geführt würde, mit zeitlichem Aufwand verbunden. Dies ist misslich, da das insolvente Unternehmen bis zum Abschluss des Notifizierungsverfahrens aufgrund der Sperrwirkung des Prüfverfahrens zunächst ohne staatliche Subventionierung fortgeführt werden muss, obgleich eine schnelle und kurzfristige Hilfsgewährung regelmäßig entscheidend ist, um die Betriebsfortführung zu ermöglichen oder zumindest abzusichern. ___________ 147) 148) 149) 150) 151) 152)
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Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 108 AEUV Rz. 32. Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 108 AEUV Rz. 32. Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 108 AEUV Rz. 27. Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 108 AEUV Rz. 32. Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 108 AEUV Rz. 33 f. Bartosch, EU-BeihilfenR, Art. 108 AEUV Rz. 34.
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Europarechtliche Beihilferelevanz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen
§ 10
Ohne entsprechende Vorüberlegung besteht bei Inanspruchnahme einer staatlichen Beihilfe 111 zwecks Betriebsfortführung die Gefahr einer beihilfewidrigen Subventionierung aufgrund fehlender Notifizierung der Beihilfe trotz des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3 AEUV. Folge eines solchen Unterlassens wäre nicht nur die Pflicht zur Rückzahlung der sodann rechtswidrig gewährten Beihilfe mit entsprechenden Folgen für eine bis dahin möglicherweise erfolgreiche Betriebsfortführung; im schlechtesten Fall würden zudem persönliche Haftungsrisiken begründet. Entsprechend sollte das Thema EUBeihilfenrecht in keinem Fall unterschätzt werden, um keine bösen Überraschungen zu erleben. Gleichwohl ist die Beihilfeproblematik aber nicht das Schreckgespenst, als das sie manchmal 112 skizziert wird. Bei Berücksichtigung der wichtigsten Grundsätze, ist es sehr wohl möglich staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, um eine Betriebsfortführung zu gestalten. Idealiter führt eine sorgfältige Prüfung der Beihilferelevanz der geplanten Unterstützungsmaßnahme zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Hilfe eben nicht um eine Beihilfe i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV handelt und somit keine europarechtlichen Vorgaben in den Überlegungen des Insolvenzverwalters Berücksichtigung finden müssen. Darüber hinaus bieten auch die verschiedenen Privilegierungstatbestände, soweit diese auf insolvente Unternehmen Anwendung finden, sowie die explizit auf Unternehmen in Schwierigkeiten zugeschnittenen Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen Möglichkeiten, eine staatliche Subventionierung rechtssicher zu gestalten. Dies gilt insbesondere zugunsten krisengeplagter KMU sowie Unternehmen, die DAWI leisten. Problematisch bleiben die mit Rettungs- und Sanierungsbeihilfen verbundenen Zeitvor- 113 gaben im Hinblick etwa auf die zeitliche Befristung einer Subventionierung im Falle einer Rettungsbeihilfe oder auf die zeitlichen Vorgaben für die Vorlage eines Sanierungsplans. Entsprechend stellen etwa auf sechs Monate befristete Rettungsbeihilfen regelmäßig nur dann eine realisierbare Liquiditätshilfe dar, wenn sie in ein ebenfalls auf Schnelligkeit ausgelegtes und zwingend mit realistischen Sanierungsaussichten zu verbindendes Schutzschirmverfahren gemäß § 270 d InsO153) eingebettet sind. Im Rahmen eines „normalen“ Insolvenzverfahren sind die zeitlichen Vorgaben hingegen regelmäßig unmöglich einzuhalten. Möglichkeiten zur zeitlichen Flexibilisierung sowie sogar zu einer eigentlich „beihilfewidri- 114 gen“ Subventionierung existieren zudem dann, wenn es sich um politisch bedeutsame Großverfahren handelt und entsprechend eine unmittelbare politische Einflussnahme erfolgt. Jedoch sind Beihilfegewährungen i. R. eines Großverfahren, bei denen Entscheidungen zur Vereinbarkeit einer Subventionierung mit dem europäischen Binnenmarkt regelmäßig aufgrund des Vorhandenseins eines entsprechenden politischen Willens und nach unmittelbarer politischer Einflussnahme durch Minister oder Staats- und Regierungschefs positiv beschieden werden, ein beihilferechtlicher Sonderfall, der nicht auf den Großteil der Insolvenzverfahren übertragen werden kann.
___________ 153) Das Schutzschirmverfahren ist ein Insolvenzverfahren besonderer Art. Es wird in Eigenverwaltung ausschließlich zum Zwecke der Sanierung durchgeführt und ist ein absoluter Schnellläufer. Schon nach drei Monaten muss das Unternehmen einen Insolvenzplan vorlegen, der dann spätestens nach weiteren drei Monaten zur Abstimmung gestellt wird. Das Schutzschirmverfahren darf nur eingeleitet werden, wenn mit dem Antrag eine Bescheinigung vorgelegt wird, dass Sanierungsaussichten bestehen und das Unternehmen noch nicht zahlungsunfähig ist. Der Eintritt der der Zahlungsunfähigkeit im Laufe des eröffneten Verfahrens ist unschädlich und hat auch keine praktischen Auswirkungen auf das Insolvenzverfahren. Die Zahlungsunfähigkeit führt zu einer Anzeigepflicht, aber nicht zu einer nachträglichen Beseitigung der Verfahrensvoraussetzung. Vgl. umfassend zum Schutzschirmverfahren R.-D. Mönning/Schäfer/ Schiller, Sanierung unter dem Schutzschirm – Strategische Insolvenz im Zeitraffer, BB Beilage z. Heft 25/2017, S. 1 ff.
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§ 11 Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren R.-D. Mönning
Übersicht I. 1. 2.
II.
1. 2.
Funktion des Eröffnungsverfahrens...... 1 Allgemeines................................................ 1 Verfahrensziele und Zulässigkeit der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren .................................................. 16 2.1 Liquidation als Verfahrensziel ... 16 2.2 Betriebsfortführung und übertragende Sanierung ..................... 20 2.3 Übertragende Sanierung mit Insolvenzplan .............................. 23 2.4 Betriebsfortführung zwecks Reorganisation im Regelverfahren mit Insolvenzplan............ 28 2.5 Betriebsfortführung und Reorganisation in Eigenverwaltung (§§ 270, 270a ff. InsO) ...... 36 2.6 Betriebsfortführung zur Reorganisation in Eigenverwaltung und zur Vorbereitung einer Sanierung (Schutzschirmverfahren, § 270d InsO) ............. 46 2.7 Ergebnis....................................... 53 Rechtliche Voraussetzungen der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren ................................................. 55 Steuerungsfunktion des Insolvenzantrags ...................................................... 55 Weichenstellung durch Entscheidungen des Insolvenzgerichts im Eröffnungsverfahren, Vorgespräche ............... 65 2.1 Die vorläufigen Maßnahmen im Einzelnen ............................... 66 2.1.1 Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters........................ 66 2.1.2 Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses ................. 70 2.1.3 Anordnung eines allgemeinen Vollstreckungsverbotes .............. 85 2.1.4 Eingriffe in Grundrechte, Postkontrolle...................................... 87 2.1.5 Verwertungsstopp mit Nutzungsbefugnis bei Sonderrechten........ 96 2.2 Zweck/Mittel-Relation bei Betriebsfortführung.................. 102 2.2.1 Pflicht zur Anordnung vorläufiger Maßnahmen...................... 102 2.2.2 Art und Weise der Anordnung....115 2.2.3 Zeitpunkt der Anordnung........ 121 2.2.4 Rechtsbehelfe............................ 127
2.3 2.3.1
2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.2
2.3.3 2.3.3.1 2.3.3.2 2.3.4 2.3.5 2.3.6
2.3.7 2.3.8 2.4
2.4.1
2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5 2.5.1
R.-D. Mönning
Rechtsfolgen der gerichtlichen Anordnungen............................ 130 Gesetzliche Kompetenzzuweisung bei Anordnung eines Verfügungsverbots (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO)..................... 130 Sicherung des Vermögens ........ 135 Fortführungspflicht.................. 138 Prüfungspflicht ......................... 146 Richterliche Kompetenzzuweisung bei Anordnung eines allgemeinen Zustimmungsvorbehalts (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO)..................... 147 Einzelermächtigungen durch richterliche Anordnung ........... 155 Vorläufige Insolvenzverwaltung............................................ 155 Vorläufige Eigenverwaltung..... 157 Auswirkung des Vollstreckungsverbotes.................... 160 Folgen der Postkontrolle im Eröffnungsverfahren ........... 162 Verwertungsstopp und Nutzung von Gegenständen mit Aus- und Absonderungsrechten....................................... 165 Einbeziehung des vorläufigen Gläubigerausschusses ............... 170 Auswirkung auf grenzüberschreitende Verfahren .............. 176 Die Bedeutung der gerichtlichen Anordnungen für Betriebsfortführung und Verfahrensziele ............................... 183 Bindung des Gerichts an die mit der Antragstellung verfolgten Ziele .............................. 183 „Starker“ oder „schwacher“ vorläufiger Verwalter................ 199 Die Auswahl des vorläufigen Insolvenzverwalters .................. 202 Bindung an den mitgebrachten vorläufigen Sachwalter.............. 214 Gläubigerautonomie und Betriebsfortführung ...................... 219 Allgemeines............................... 219
241
§ 11
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung 2.5.2
3.
242
Gläubigerausschuss bestimmt Anforderungsprofil des vorläufigen Insolvenzverwalters ........ 222 2.5.3 Bindende Beschlüsse des Gläubigerausschusses zur Person .... 225 2.5.4 Auswirkungen des Abwahlrechtes des vorläufigen Gläubigerausschusses auf Betriebsfortführungen ........................... 231 2.5.5 Bindende Beschlüsse des vorläufigen Gläubigerausschusses zur Verfahrensart...................... 235 2.5.6 Mitwirkungsrechte des vorläufigen Gläubigerausschusses bei Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren ......................... 240 2.5.7 Besonders bedeutsame Rechtshandlungen................................ 247 2.5.8 Überprüfung des Geldverkehrs..................................... 249 2.5.9 Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses, Anzahl der Mitglieder .............. 253 2.6 Die Aufsicht des Insolvenzgerichts bei Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren .. 258 2.6.1 Beschränkung auf Rechtsaufsicht ........................................... 258 2.6.2 Anforderung von Berichten, Einsicht in Konten ................... 263 2.6.3 Zustimmung zur Stilllegung des Geschäftsbetriebes ............. 267 Der vorläufige Insolvenzverwalter/ vorläufige Sachwalter ............................ 276 3.1 Rechtsstellung des vorläufigen Insolvenzverwalters.................. 276 3.2 Rechtsstellung des vorläufigen Sachwalters ...................... 284 3.3 Anforderungsprofil bei Betriebsfortführung im Regelverfahren ................................... 293 3.4 Anforderungsprofil bei Eigenverwaltung................................. 298 3.5 Qualitätsnachweise, Zertifikate.......................................... 303 3.5.1 DIN EN ISO 9001 – 2008 ....... 306 3.5.2 GOI – Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzabwicklung .. 309 3.5.3 InsO-Excellence des Gravenbrucher Kreises ......................... 311 3.6 Netzwerk externer Dienstleister ......................................... 314 3.7 Organisation und Ausstattung ..................................... 321
3.8
III.
1.
2.
3.
Interessenkonflikte, Tätigkeitsverbote, Unabhängigkeit ... 324 3.9 Unabhängigkeit des mitgebrachten vorläufigen Sachwalters ....................................... 329 Wirtschaftliche und organisatorische Voraussetzungen der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren ...... 335 Analyse, Planung, Steuerung ................ 335 1.1 Ursachenanalyse ....................... 346 1.2 Potentialanalyse ........................ 350 1.3 Planrechnungen (Liquiditätsplanung, Ertragsplanung, Investitionsplanung) .................... 351 1.4 Soll/Ist-Vergleich ..................... 359 1.5 Form der Überwachung........... 361 1.6 Korrekturmaßnahmen/ Abbruch .................................... 362 1.6.1 Stilllegung im Regelverfahren ... 363 1.6.2 Abbruch in der vorläufigen Eigenverwaltung ....................... 364 1.6.3 Aussichtlosigkeit der Sanierung ...................................... 365 1.6.4 Abbruch im eröffneten Verfahren ........................................ 366 1.6.5 Risiken aufgrund abweichender Bewertung ................................. 372 Finanzierung der Betriebsfortführung ... 374 2.1 Finanzierungsnachweis in der Eigenverwaltung ....................... 374 2.2 Massekredite, Begründung von Masseverbindlichkeiten..... 379 2.3 Öffentlich-rechtliche Finanzierungshilfen.................. 385 2.4 Insolvenzgeldvorfinanzierung ... 391 2.5 Forderungseinzug..................... 396 2.6 Verwertung von Anlagegegenständen................. 402 2.7 Abbau von Warenlagern........... 403 2.8 Sonstige Finanzierungsmöglichkeiten................................... 405 2.8.1 Lastschriftwiderruf................... 405 2.8.2 Debitorenmanagement............. 406 2.8.3 Anfechtungs- und Schadensersatzansprüche ........................ 408 2.8.4 Ablehnung der Erfüllung ......... 409 Anforderungen an die Unternehmensführung .................................................. 410 3.1 Führungsbedingungen in der Unternehmenskrise .................. 410 3.2 Führungsstil, Lenkungsausschüsse....................................... 420 3.3 Auswechseln von Führungspersonal ..................................... 429
R.-D. Mönning
§ 11
Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren 3.4
4.
5. 6. IV.
1.
Unternehmensführung bei Eigenverwaltung, Kompetenzverteilung, Kassenführung ....... 434 3.5 Besonderheiten beim Schutzschirmverfahren ........................ 444 3.6 Äußere Einflüsse auf die Unternehmensführung, soziale Netzwerke .................... 451 3.7 Mitarbeiterführung in der Krise ................................ 453 3.8 Großverfahren, Einbeziehung der Aufsichtsorgane, Weisungen................................. 454 Verhaltensregeln.................................... 462 4.1 Informationsbeschaffung ......... 462 4.2 Zugang....................................... 463 4.3 Büroräume................................. 465 4.4 Betriebsrundgang...................... 467 4.5 Nutzung von Einrichtungen .... 468 4.6 Präsenz ...................................... 470 4.7 Abwicklungsteam ..................... 474 4.8 Jour-Fixe ................................... 476 4.9 Veranstaltungen ........................ 477 4.10 Geschenke ................................. 478 4.11 Compliance ............................... 479 Betriebsfortführung im Konzern ......... 480 Verwaltung von Kleinverfahren............ 489 (Zwangs-)Maßnahmen zur Sicherung der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren...................... 492 Mitwirkungspflichten des Schuldners und seiner Organe (§ 20 Abs. 1 InsO) ... 492 1.1 Art und Umfang der Mitwirkung...................................... 492 1.2 Pflicht zur Mitarbeit, Vergütung........................................ 493
1.3 Mitarbeit bei Eigenverwaltung .....496 1.4 Zutrittsrecht.............................. 497 1.5 Pflicht zur Auskunftserteilung ....501 1.6 Durchsetzung der Pflichten..... 502 2. Absicherung der Betriebsfortführung gegen Ein- und Übergriffe von Gläubigern und Dritten ................................ 503 2.1 Mögliche Störpotentiale: Verbotene Eigenmacht, Faustrecht, Drohungen ..................... 503 2.2 Diebstähle und Sabotage .......... 505 2.3 Korruption ................................ 508 2.4 Zwangsweise Durchsetzung von Ansprüchen........................ 510 2.5 Nutzung von Gegenständen mit Aussonderungsrechten ...... 511 2.6 Nutzung und Einziehung/ Verwertung von Gegenständen mit Absonderungsrechten........ 515 2.7 Erfüllung von Verträgen, Lösungsklauseln........................ 518 2.8 Sicherung der Beschaffungsstrukturen.................................. 521 2.9 Sicherung des Standorts ........... 527 2.10 Sicherung des Wettbewerbs ..... 532 2.11 Konzessionen und Genehmigungen ....................................... 533 2.12 Altlasten .................................... 539 2.13 Belegschaft/Personalmaßnahmen/Fachkräftemangel ...... 540 V. Betriebsfortführung und Öffentlichkeit................................................... 553 VI. Übergang............................................... 557 VII. Fazit ....................................................... 562
Literatur: van d. Aa, Afkoelingsperiode in Faillissement, 2007; Ampferl/Kilper, Die Pflicht des Gläubigerausschusses zur Prüfung von Geldverkehr und -bestand; ZIP 2015, 553; Baetge/Hippel/ Sommerhoff, Anforderungen und Praxis der Prognoseberichterstattung, DB 2011, 365; Becker/ Bieckmann/Martin/Müller, Endgültige Verabschiedung des IDW S 11 zur Beurteilung der Insolvenzreife, KSI 2015, 164; Becker/Bieckmann/Martin/Müller, Der neue IDW S 11, KSI 2014, 197; Berger/ Frege, Business Judgment Rule bei Unternehmensfortführung in der Insolvenz – Haftungsprivileg für den Verwalter?, ZIP 2008, 204; Berger/Frege/Nicht, Unternehmerische Ermessensentscheidung im Insolvenzverfahren – Entscheidungsfindung, Kontrolle und persönliche Haftung, NZI 2010, 321; Beth, Die gerichtliche Prüfung der Voraussetzungen des Schutzschirmverfahrens nach § 270b InsO, ZInsO 2015, 369; Bierbach, Der präventive Restrukturierungsrahmen, DB Heft 4/2018, M 28; Blank, Zurückbehaltungsrecht des Arbeitnehmers an seiner Arbeitsleistung bei Betriebsfortführung durch den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter trotz Sicherstellung des Lohnanspruchs über das demnächst zu erwartende Insolvenzgeld (§ 273 BGB)?, ZInsO 2007, 426; Bley/Mohrbutter, Vergleichsordnung, 3. Aufl., 2020 (Reprint); Blöse/Kihm, Unternehmenskrisen, Ursachen – Sanierungskonzepte – Krisenvorsorge – Steuern, 2006; Bork, Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters ist nicht disponibel, ZIP 2013, 145; Bork, Verfolgungspflichten – Muss der Insolvenzverwalter alle Forderungen einziehen?, ZIP 2005, 1120; Bork, Zur Anwendung des § 181 BGB bei der Einrichtung eines Doppeltreuhandkontos, NZI 2005, 530; Boston Consulting Group (BCG), Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, 2018, abrufbar unter https://web-assets.bcg.com/img-src/Focus-ESUG-study_tcm9-190947.pdf (Abrufdatum: 8.11.2022); Boston Consulting Group (BCG), Drei Jahre ESUG, 2015, INDat-Report 05/2015, 9, abrufbar unter https://web-assets.bcg.com/img-src/Drei%20Jahre%20ESUG_tcm9-141099.pdf (Abrufdatum: 8.11.2022); Braun, Das Gegenteil der (Rechtsanwendungs-)Kunst ist gut gemeint!, NZI-
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243
§ 11
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
aktuell 2013, Heft 1–2, S. V; Brauweiler, Unternehmensführung heute, 2008; Brinkmann, Grenzüberschreitende Sanierung und europäisches Insolvenzrecht, KTS 2014, 381; Buchalik, Das Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO (inkl. Musteranträge), ZInsO 2012, 349; Buchalik/Kraus, Zur Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den eigenverwaltenden Schuldner im Verfahren nach § 270a InsO, ZInsO 2013, 815; Buchta/Ott, Business judgement rule in der Eigenverwaltung – Eine Betrachtung drei Jahre nach Inkrafttreten des ESUG, ZInsO 2015, 288; v. Buchwaldt, Die Insolvenz in der Eigenverwaltung – auf die richtige Vorbereitung kommt es an, BB 2015, 3017; Case, Ronald, The problem of Social Cost, in: Journal of law and economics 1960, Bd. 3, S. 1; Coase, The Problem of Social Cost, The Journal of Law & Economics (JLE) Vol. 3, 10/1960, 1; Cranshaw, Bemerkungen zur Vorfinanzierung von Insolvenzgeld, ZInsO 2013, 1493; Creditreform, Insolvenzen in Deutschland, Jahr 2015; Eidenmüller, Strategische Insolvenz: Möglichkeiten, Grenzen, Rechtsvergleichung, ZIP 2014, 1197; Euler/Hermes/ZIS Mannheim, Insolvenzen in Zeiten der Finanzkrise, Wirtschaft Konkret Nr. 107; Fachverband Sanierungsund Insolvenzberatung des BDU e. V., Grundlagen ordnungsgemäßer Restrukturierung und Sanierung (GoRS), KSI 2015, 170; Flöther/Wehner, Die Globalzession im Insolvenzeröffnungsverfahren, NZI 2010, 554; Frind, Plädoyer für eine europarechtskonforme nationale Beschränkung insolvenzbezogener Zuständigkeitsmanipulation, NZI 2019, 697; Frind, Bewertung des neuen IDW S 9 (Bescheinigung gem. § 270b InsO) aus gerichtlicher Sicht, ZInsO 2014, 2264; Frind, Haftungsgefahren für den vorläufigen Sachwalter in Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren – Eine Betrachtung aus insolvenzgerichtlicher Sicht, NZI 2014, 977; Frind, Der Aufgabenkreis des vorläufigen Sachwalters in der Eigenverwaltung – Eine Betrachtung aus insolvenzgerichtlicher Sicht, NZI 2014, 937; Graeber, Th./ Graeber, A., Die Beauftragung von Dienstleistern und deren Auswirkungen auf die Vergütung des Insolvenzverwalters, ZInsO 2013, 1284; Haarmeyer/Basinski/Hillebrand/Weber, Durchbruch in der insolvenzrechtlichen Rechnungslegung. Bericht über den aktuellen Stand der Forschungsgruppe „Schlussrechnung“ des Rheinland-Pfälzischen Zentrums für Insolvenzrecht und Sanierungspraxis (ZEFIS), ZInsO 2011, 1874; Flöther, Die aktuelle Reform des Insolvenzrechts durch das ESUG – Mehr Schein als Sein?, ZIP 2012, 1833; Förste, Ermächtigungen durch Sicherungsnehmer im Insolvenzeröffnungsverfahren, ZInsO 2020, 1273; Fölsing, Konzerninsolvenz: Gruppen-Gerichtsstand, Kooperation und Koordination, ZInsO 2013, 413; Frege/Nicht, Informationserteilung und Informationsverwendung im Insolvenzverfahren, InsVZ 2010, 407; Frind, Aktuelle Anwendungsprobleme beim „ESUG“ – Teil II, ZInsO 2013, 279; Frind, Anmerkungen zur Musterbescheinigung des IDW nach § 270 Abs. 1 S. 3 InsO, ZInsO 2012, 540; Frind, Die Praxis fragt, „ESUG“ antwortet nicht, ZInsO 2011, 2249; Frind, Hilfestellung zur Formulierung eines Anforderungsprofils an einen erfolgreichen Insolvenzverwalter: die fortgeschriebene Verfahrenskennzahlenauswertung, ZInsO 2011, 1913; Frind, Treuhandkonto – geeignete Umgehung der „Einzelermächtigung“?, ZInsO 2005, 1296; Frind, Neue Gefahren für Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters, ZInsO 2002, 745; Fritsche, Entwicklungstendenzen der Zustimmungsverwaltung nach §§ 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 2. Alternative, 22 Abs. 2 InsO im Insolvenzeröffnungsverfahren, DZWIR 2005, 265; Ganter, Die Rechtsprechung des BGH zum Insolvenzrecht im Jahr 2021, NZI 2022, 297; Ganter, Betriebsfortführung durch den vorläufigen Verwalter trotz Globalzession?, NZI 2010, 551; Ganter, Sicherungsmaßnahmen gegenüber Aus- und Absonderungsberechtigten im Insolvenzeröffnungsverfahren, NZI 2007, 549; Gravenbrucher Kreis, ESUG: Erfahrungen, Probleme, Änderungsnotwendigkeiten, ZIP 2015, 2159; Geroldinger, Verfahrenskoordination im europäischen Insolvenzrecht. Die Abstimmung von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren nach der EuInsVO, 2010; Graf-Schlicker, Die Entwicklung des ESUG und die Fortentwicklung des Insolvenzrechts, ZInsO 2013, 1765; Gundlach/Frenzel/Jahn, Die Kassenprüfung durch die Gläubigerausschussmitglieder, ZInsO 2009, 902; Gutheil/Zimmermann, Ausgewählte insolvenzrechtliche Probleme bei der Behandlung von Vertragshändlerverträgen, RAW 2016, 2; Haarmann/Vorwerk, Rechtliche Anforderungen an die Feststellung der positiven Fortbestehensprognose, BB 2015, 1603; Haarmeyer, Das fürsorgliche Insolvenzgericht oder Gläubigermitwirkung als Zahlenspiel?, ZInsO 2012, 1204; Haarmeyer, Die „gute“ Insolvenzverwaltung, ZInsO 2007, 169; Haarmeyer/Buchalik/Haase, Befragung der Insolvenzgerichte zu den §§ 270a und 270b InsO-Verfahren, ZInsO 2013, 26; Haghani, Krisenfrüherkennung im Unternehmen mittels Frühwarnsystem, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 15; Hauser/Höbart/ Hoffmann/u. a., Unternehmenskrise, 2009; Heeseler/Neu, Plädoyer für die Professionalisierung des Gläubigerausschusses, NZI 2012, 440; Heidrich/Gabriel, Ein Überblick über die gesetzlichen Änderungen und Neuerungen nach dem SanInsFoG und dem StaRUG, SanB 2020, 164; Heinrich, Wirtschaft im Umbruch: Neue Aufgaben für die Arbeits- und Insolvenzrechtspraxis, 2010; Henkel, Die Voraussetzungen für die Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung, ZIP 2015, 562; Hintzen, Insolvenz und Immobiliarzwangsvollstreckung, RPfl 1999, 256; Holzer/Kleine-Cosack/Prütting, Die Bestellung des Insolvenzverwalters, 2001; Hölzle, Der Insolvenzantrag als Sanierungsoption – auch gegen den Willen von Gesellschaftern?, ZIP 2013, 1846; Hölzle, Zur Disponibilität der Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters, ZIP 2013, 447; Hölzle, Gesellschaftsrechtliche Veränderungssperre im Schutzschirmverfahren, ZIP 2012, 2427; Hölzle, Insolvenzplan auf Initiative des vorläufigen Sachwalters im Schutzschirmverfahren – oder – wer erstellt und wer bezahlt den Insolvenzplan im Verfahren nach § 270b InsO?, ZIP 2012, 855; Hölzle/Jacoby, Nationales Forum Shopping im Insolvenzrecht, ZIP 2021, 337; Hölzle/Pink, Mezzanine-Programme und Gestaltungspotenzial der Sanierungseigenverwaltung im ESUG. Eine Bedarfsanalyse für das modernisierte Insolvenzplanverfahren auf empirischer Grundlage,
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R.-D. Mönning
Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren
§ 11
ZIP 2011, 360; Horstkotte, „Unabhängigkeit“ – the new battleground, ZInsO 2013, 160; Horstkotte, Effektiver Rechtsschutz im Verfahren über die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses, ZInsO 2012, 1930; Huber, Unwirksamkeit insolvenzbedingter Lösungsklauseln – Vertragspraxis, was nun?, ZIP 2013, 493; Huber, Großer Wurf oder viel Lärm um nichts?, ZInsO 2013, 1; Hunkemöller, „Richterlicher Hochmut“, INDat-Report 07/2012, S. 24; Hunoldt, Insolvenzgeld und Insolvenzgeldvorfinanzierung als Sanierungsinstrument, NZI 2015, 785; Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./Thole, ESUG-Evaluierung, 2019; Jungclaus/Keller, Die Änderungen der InsO durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011, NZI 2010, 808; Kirchhof, Probleme bei der Einbeziehung von Aussonderungsrechten in das Insolvenzeröffnungsverfahren, ZInsO 2007, 227; Kirchhof, Die mehrseitige Treuhand in der Insolvenz, in: Festschrift für Gerhard Kreft, 2004, S. 359; Kirchhof, Begründung von Masseverbindlichkeiten im vorläufigen Insolvenzverfahren, ZInsO 2004, 57; Kluth, Die „übertragende Sanierung” – Risiken und Nebenwirkungen einer Packungsbeilage zur Unternehmensveräußerung in der Insolvenz, NZI 2002, 1; Kremers/Hoffmann, Insolvenzrechtsreform führt zum Mentalitätswechsel, ZInsO 2013, 289; Kruth, Die Qual der Vorauswahl – Feststellung der persönlichen und fachlichen Eignung durch das Insolvenzgericht, DStR 2017, 669; Kübler/Rendels, Aspekte des M&A-Prozesses in der (vorläufigen) Eigenverwaltung, ZIP 2018, 1369; Kück, Erfolgsmessung im Insolvenzverfahren, ZInsO 2007, 637; Lambrecht/ Michelsen, Die Begründung von Masseverbindlichkeiten im Eröffnungsverfahren nach § 270a InsO – Ruf nach dem Gesetzgeber!, ZInsO 2015, 2520; Landfermann, Allgemeine Wirkung der Insolvenzeröffnung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2000, S. 159; Laroche, Einzelermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter, NZI 2010, 965; Laukemann, Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters, 2010; Lehmann/Rettig, Die Auswahl der Gläubigerausschussversicherung – von der Haftpflicht in die Haftung?, NZI 2015, 790; Lenger/Schmitz, Insolvenzrechtliche Lösungsklauseln in AGB – quo vadis?!, NZI 2015, 396; Lissner, Der Sonderinsolvenzverwalter – keine leichte Entscheidung gerichtlicher Aufsicht, ZInsO 2014, 768; v. Loeffelholz/Sanne, Die Bescheinigung nach § 270b InsO, NZI 2015, 583; Luttermann/Geißler, Rechtsbasis und Praxis einer Kultur der Unternehmenssanierung, ZInsO 2013, 1381; v. d. Meden, Mitversicherung von Richtern – Gefahr der Korruption in der Insolvenzverwaltung, Forderungs-Praktiker 2015, 164; Meyer, IDW S 11 – Neue Standards zur Beurteilung der Insolvenzreife, NWB 2015, 1930; Mock, Das neue Konzerninsolvenzrecht nach dem Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, DB 2017, 951; Moldenhauer/Herrmann/Wolf/Drescher, Das 1. Jahr ESUG, Beilage zu INDat-Report 03/2013, 3; Mönning, E., Internationales Staatensanierungsverwaltungsrecht, Tübingen, 2018; Mönning, R.-D., Der Schutzschirm: Strategische Insolvenz und Haftung, in: Festschrift für Bruno Kübler, 2015, S. 431; Mönning, R.-D., Der Zwang zur Kooperation: Kompetenzen in der Eigenverwaltung, in: Festschrift für Jobst Wellensiek, 2011, S. 641; Mönning, R.-D., Beteiligung der Gläubiger bei der Auswahl des Insolvenzverwalters, in: Festschrift für Klaus Hubert Görg, 2010, S. 291; Mönning, R.-D./Hage, Regulierung von Fortführungsverbindlichkeiten mittels Treuhandkonto auch bei Masseunzulänglichkeit, ZInsO 2005, 1185; Mönning, R.-D./Mönning, E., Europäische Restrukturierungsrichtlinie, RAW 2018, 27; Mönning, R.-D./Schäfer/Schiller, Sanierung unter dem Schutzschirm – strategische Insolvenz im Zeitraffer, BB Beilage z. Heft 25/2017, S. 1; Mönning, R.-D./Zimmermann, Die Einstellungsanträge des. Insolvenzverwalters gem. §§ 30d, 153b ZVG im eröffneten Insolvenzverfahren, NZI 2008, 134; Mückl, Effektive Bindung von Leistungs- und Know-how-Trägern in Krise und Insolvenz, ZIP 2012, 1642; Muschiol, Insolvenzgeldvorfinanzierung – unter besonderer Würdigung der Eigenverwaltung (§ 270a InsO) und des Schutzschirmverfahrens (§ 270b InsO), ZInsO 2016, 248; Nicht, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verwaltervorauswahl, NZI 2022, 360; Obermüller, Der Gläubigerausschuss nach dem ESUG, ZInsO 2012, 18; Obermüller/Kuder, SEPA-Lastschriften in der Insolvenz nach dem neuen Recht der Zahlungsdienste, ZIP 2010, 349; Obermüller, Auswirkungen der Insolvenzrechtsreform auf Kreditgeschäft und Kreditsicherheiten, Teil II, WM 1994, 1869; Oldiges, Die Haftung des Insolvenzverwalters unter der Business Judgement Rule, 2011; Pape, Insolvenzverwalter mit beschränkter Haftung Ade, ZInsO 2016, 428; Pape, Änderungen im Eröffnungsverfahren durch das Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, NZI 2007, 425; Pape, Ungeschriebene Kompetenzen der Gläubigerversammlung versus Verantwortlichkeit des Insolvenzverwalters, NZI 2006, 65; Pape, Einschränkung der Haftung des starlen vorläufigen Insolvenzverwalters analog § 61 InsO, ZInsO 2003, 1061; Pape/Schulz, Die Pflichten der Mitglieder des Gläubigerausschusses im eröffneten Verfahren, ZIP 2015, 1662; Pape/Uhlenbruck, 30 Jahre Insolvenzrechtsreform für die Katz?, ZIP 2005, 417; Paulus, Das Insolvenzrecht in den Zeiten der Cholera, ZIP 2022, 1129; Paulus, Das Insolvenzrecht in den Zeiten der Cholera, ZIP 2022, 1129; Paulus, Der Wandel von einem gläubigerzentrierten zu einem schuldnerzentrierten Sanierungsansatz unter dem StaRUG, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 9; Paulus, § 1 InsO und sein Insolvenzmodell, NZI 2015, 1001; Paulus, Staatenpleiten und Bankenpleiten: Eine gewollte Mesalliance, KTS 2013, 155; Paulus, Staateninsolvenzen: Gläubiger oder neutrale Instanz – Wer soll das schlingernde Schiff steuern?, Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaft (ZSE) 2012, 30; Paulus, Insolvenzverwalter und Gläubigerorgane, NZI 2008, 705; Paulus, Die Insolvenz als Sanierungschance – ein Plädoyer, ZGR 2005, 309; Paulus/Hörmann, Emotionale Kompetenz im Insolvenzverfahren, NZI 2013, 623; Priebe, Insolvenzgeld im Spiegel der Refinanzierung, ZInsO 2015, 2547; Proske, Zur Überarbeitung der Eigenverwaltung durch das SanInsFoG, ZRI 2020, 641; Quardt/Hanke, Beihilfenrecht im Blick, Stolpersteine im Insolvenzplanverfahren, ZInsO 2022, 497; Riewe, Kann das
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245
§ 11
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
StaRUG die Erwartungen erfüllen?, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 6; Rhode/Calic, Auswahlkriterien der Insolvenzgerichte – DIN EN ISO 9001:2000 als Qualitätsmerkmal, ZInsO 2006, 1247; Richter/Pluta, Bescheinigung zum Schutzschirmverfahren gem. § 270b InsO nach IDW ES 9 im Praxistest, BB 2012, 1591; Römermann, Zum Berufsbild des Insolvenzverwalters und zum Ausschluss juristischer Personen von der Bestellung zum Insolvenzverwalter, ZIP 2016, 328; Römermann, Die „Unabhängigkeit“ des Insolvenzverwalters: Endlich Schluss mit der uferlosen Auslegung!, ZInsO 2013, 218; Römermann/ Praß, Gesetzgeber, rette Dein ESUG, ZInsO 2013, 482; Römermann/Praß, Rechtsschutz bei Ablehnung eines vorläufigen Gläubigerausschusses, ZInsO 2012, 1923; Römermann/Praß, ESUG vs. BRAO, ZInsO 2011, 1576; Schelo, Der neue § 270b InsO – Wie stabil ist das Schutzschirmverfahren in der Praxis? Oder: Schutzschirmverfahren versus vorläufige Eigenverwaltung, ZIP 2012, 712; Schmidt, A./Hölzle, Der Verzicht auf die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters. Kein Schutz der Gläubiger vor sich selbst – ein Leitbild zur Anwendung der §§ 56, 56a InsO, ZIP 2012, 2238; Schmidt, K., Organverantwortlichkeit und Sanierung im Insolvenzrecht der Unternehmen, ZIP 1980, 328; Schmittmann, Präsidentenstellen an den obersten Bundesgerichten: Bestenauslese oder Beute der Politik?, BB 2022, I; Seagon, Die Regelungen der Richtlinie im Überblick, NZI Beilage z. Heft 5/2017, S. 12; Siemon, Wer lässt sich dadurch schmieren, ZInsO 2015, 1968; Siemon, Die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung des VID – des Guten zu viel! Eine kritische Auseinandersetzung mit den GOI und der Prüfungsordnung des VID, ZInsO 2013, 666; Smid, Vorabsprachen und Vorbefassung in der Insolvenz – Wann sind Transparenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Gefahr?, ZInsO 2022, 965; Smid, Honi soit qui mal y pense, ZInsO 2021, 981; Smid, Sicherungsrechte und vorläufige Insolvenzverwaltung, ZInsO 2019, 2554; Smid, Zum Beweisverfahren im Eröffnungsverfahren der §§ 270a, 270b InsO und im eröffneten Eigenverwaltungsverfahren, ZInsO 2013, 209; Smid, Kritische Anmerkungen zu § 21 Abs. 2 Nr. 1a n. F., ZInsO 2012, 757; Sonius/Bergstermann/Liewald/Kehrel, Zur Entstehung von Unternehmenskrisen, KSI 2015, 197; Specovius/Uffmann, Interim Management in der Unternehmenskrise, ZIP 2016, 295; Spremann, Asymmetrische Information, ZfB 1990, 561; Steffan/Solmecke, Die Bescheinigung im Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO, WPg 2015, 269; Steffan/Solmecke, Die Bescheinigung als Eintrittskarte zum Schutzschirmverfahren – der IDW S 9, ZIP 2014, 2271; Ströhmann/ Längsfeld, Die Geschäftsführungsbefugnis in der GmbH im Rahmen der Eigenverwaltung, NZI 2013, 271; Thiele, Die Rechtsfigur des Sanierungsgeschäftsführers (Teil 1), ZInsO 2015, 877, (Teil 2) ZInsO 2015, 977 und (Teil 3) ZInsO 2015, 1083; Thole, Die Reform der Eigenverwaltung: Eine Umsetzung der ESUG-Evaluation?, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 90 ff.; Thole, Die Ersatzabsonderung bei Einziehung sicherungszedierter Kundenforderungen und beim verlängerten Eigentumsvorbehalt, ZIP 2019, 552; Thole, Interessenkonflikte im Insolvenzverfahren, AnwBl. 2019, 111; Thole, Der Richtlinienvorschlag zum präventiven Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 101; Uhlenbruck, Die Rechtsstellung des vorläufigen Insolvenzverwalters, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2000, S. 360; Uhlenbruck, Insolvenzgeschäftsführung und Sachwalterschaft in der Eigenverwaltung, in: Festschrift für Klaus Hubert Görg, 2010, S. 515; Uhlenbruck-Kommission, Empfehlungen der „UhlenbruckKommission“ zur Vorauswahl und Bestellung von InsolvenzverwalterInnen sowie Transparenz, Aufsicht und Kontrolle im Insolvenzverfahren, ZIP 2007, 1432; Uhlenbruck/Mönning, R.-D., Listing, Delisting und Bestellung von Insolvenzverwaltern, ZIP 2008, 157; Undritz, Ermächtigung und Kompetenz zur Begründung von Masseverbindlichkeiten beim Antrag des Schuldners auf Eigenverwaltung, BB 2012, 1551; Undritz, Restrukturierung in der Insolvenz, ZGR 2010, 201; Undritz, Der vorläufige „schwache“ Insolvenzverwalter als Sanierungsbremse?, NZI 2003, 136; Vallender, Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) – Änderungen des Insolvenzeröffnungsverfahrens, MDR 2012, 61; Vallender, Europaparlament gibt den Weg frei für eine neue Europäische Insolvenzordnung, ZIP 2015, 1513; Vallender, Weiterer Reformbedarf aus Sicht eines Insolvenzrichters, WPg 2011, 31; Vallender/Zipperer, Der vorbefasste Insolvenzverwalter – ein Zukunftsmodell? Erwiderung auf Schmidt/Hölzle, Der Verzicht auf die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters, ZIP 2012, 2238, ZIP 2013, 149; Verhoeven, Konzerne in der Insolvenz nach dem Regierungsentwurf zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen (RegE) – Ende gut, alles gut … und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende!, ZInsO 2014, 217; Wallner, Wann ist die Eigenverwaltung die richtige Verfahrensart?, ZIP 2015, 997; Wellensiek, Übertragende Sanierung, NZI 2002, 233; Werres, Gläubiger im Insolvenzeröffnungsverfahren – Massegläubiger oder Treuhandmodell?, ZInsO 2005, 1233; Wroblewski, Arbeitnehmervertreter im (vorläufigen) Gläubigerausschuss, ZInsO 2014, 115; Zabel/Pütz, Beurteilung der Insolvenzeröffnungsgründe nach IDW S 11, ZIP 2015, 912.
I.
Funktion des Eröffnungsverfahrens
1.
Allgemeines Wer sanieren und reorganisieren will, muss insolvente Betriebe fortführen.1)
___________ 1)
246
R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Kap. V.
R.-D. Mönning
Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren
§ 11
Dieser Leitsatz aus der 1. Auflage hat unverändert Gültigkeit. Und unverändert gilt auch, 1 dass die Voraussetzungen für die Fortführung eines Unternehmens, das der Schuldner betreibt, bereits in den ersten Tagen nach Zulassung des Insolvenzantrages geschaffen werden müssen. Geschäftsbetriebe, die bei Antragstellung bereits eingestellt sind oder unmittelbar danach zum Erliegen kommen, sind – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr zu reaktivieren. Eine Fortführung scheidet in diesen Fällen fast immer aus. Bislang gehörte die Fortführung eines insolventen Unternehmens zur Kernaufgabe zunächst 2 des vorläufigen Insolvenzverwalters und nach Eröffnung des Verfahrens des Insolvenzverwalters. Diese entschieden nach pflichtgemäßem Ermessen, ob die Voraussetzungen für eine Fortführung des Unternehmens gegeben waren und welche Verfahrensziele mit einer Fortführung verfolgt werden sollten. Mit Einführung des ESUG vom 7.12.2011, das am 1.3.2012 in Kraft getreten ist, haben sich die Gewichte verschoben. Fest steht, dass keine Reform das Insolvenzrecht so nachhaltig verändert hat, wie das ESUG.2) Dies wirkt sich auch unmittelbar auf die Fortführung von Unternehmen aus. Denn jetzt ist die Unternehmensfortführung ein zentraler Baustein innerhalb eines vor Einleitung des Insolvenzverfahrens entwickelten Sanierungskonzeptes, das mit Hilfe eines Insolvenzverfahrens umgesetzt werden soll. Aber die Baustelle Insolvenzrecht steht nie still. Auch das ESUG in seiner Urfassung ist schon 3 wieder Geschichte. Mit dem SanInsFoG3) wurde die auf Fortführung und Sanierung ausgerichtete Eigenverwaltung erheblich umgestaltet und ergänzt. Der Gesetzgeber wollte damit einerseits angenommene Fehlentwicklungen korrigieren und andererseits den im Jahre 2018 vorgelegten Ergebnissen der sog. ESUG-Evaluation Rechnung tragen.4) Mit der Reform wurde der Zugang zur Eigenverwaltung schärfer geregelt, Anordnungsgründe und Versagungsgründe wurden kombiniert, indem nunmehr bestimmte Voraussetzungen zwingend erfüllt sein müssen, um eine Eigenverwaltung anzuordnen.5) Neue zentrale Vorschrift der Eigenverwaltung ist § 270a InsO. Sie trägt der von den Gutachtern im Evaluationsbericht vorgetragenen Forderung Rechnung, die Eigenverwaltung nur für gut vorbereitete Verfahren zu öffnen, indem dem Schuldner jetzt auferlegt wird, einen Finanzplan vorzulegen, der einen Zeitraum von sechs Monaten umfasst und belastbar belegt, dass die Fortführung des gewöhnlichen Geschäftsbetriebes sowie die Deckung der Kosten des Verfahrens sichergestellt ist. Das Schutzschirmverfahren hat entgegen dem Vorschlag der Gutachter als Unterfall der 4 vorläufigen Eigenverwaltung überlebt. Denn das Verfahren hat im Zuge der COVID-19Pandemie seine Existenzberechtigung nachhaltig unter Beweis gestellt, indem mit seiner Hilfe Betriebe in öffentlichkeitswirksamen Verfahren fortgeführt und die jeweiligen Unternehmensträger am Ende mit Hilfe eines Insolvenzplans saniert wurden. Zwar bleibt es dabei, dass das jetzt in § 270d InsO geregelte Schutzschirmverfahren eigene Anordnungsvoraussetzungen vorschreibt, unklar aber ist, ob die für die Anordnung einer Eigenverwaltung generell verschärften Anforderungen auch auf das Schutzschirmverfahren anwendbar sind. Mit dem SanInsFoG wurde zugleich der Werkzeugkasten des Sanierungsrechts um ein ei- 5 genständiges Restrukturierungsverfahren in der Form des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens (StaRUG)6) erweitert. Vorausgegangen war die von der EU-Kommis___________ 2) 3) 4) 5) 6)
Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung; vgl. dazu den Bericht der Bundesregierung v. 10.10.2018, BT-Drucks. 19/4880. Thole, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 90 ff. Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
R.-D. Mönning
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§ 11
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
sion bereits am 12.3.2014 abgegebene Empfehlung zur frühzeitigen Umstrukturierung von finanziell angeschlagenen Unternehmen.7) Dazu legte die EU-Kommission am 22.11.2016 einen konkreten Richtlinienvorschlag vor, der zahlreiche Gestaltungsoptionen für die nationale Umsetzung enthielt.8) Beschleunigt wurde die Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie9) in nationales Recht durch die COVID-19-Pandemie. Hieraus leitete der Gesetzgeber die Notwendigkeit für ein spezielles Instrumentarium zur Krisenbewältigung ab, das ermöglichen sollte, im Frühstadium einer Unternehmenskrise die Fortführung von Unternehmen zu gewährleisten und erkannte Krisensymptome frühzeitig über einen Restrukturierungsplan zu bewältigen. Der im Herbst 2020 gestartete Gesetzgebungsprozess wurde mit großem Druck vorangetrieben, so dass das neue Instrumentarium zur Unternehmenssanierung bereits zum 1.1.2021 in Kraft treten konnte.10) Besonderes Merkmal des StaRUG ist dabei der Wandel von einem gläubigerzentrierten zu einem schuldnerzentrierten Sanierungsansatz. Nicht mehr die bestmögliche Befriedigung der an diesem Verfahren beteiligten Gläubiger steht im Vordergrund, sondern die Sanierung des Schuldners oder seines Unternehmensträgers.11) 6 Im ersten Jahr seit Inkrafttreten der Reform haben sich die mit ihr verbundenen Erwartungen nicht erfüllt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Sommer 2022) erscheint es aber als verfrüht, die Reform bereits als gescheitert zu bezeichnen, wie man es verfrüht mit dem Schutzschirmverfahren getan hat. Tatsächlich aber verfügt Deutschland nunmehr zur Krisenbewältigung über unterschiedliche Optionen, die es den Beteiligten nicht leicht machen, das in jedem Einzelfall geeignete Instrument zu identifizieren. So konkurriert das StaRUG mit dem Schutzschirmverfahren, wobei aber die Erfahrungen der vergangenen Jahre auch gezeigt haben, dass auch das Insolvenzverfahren als solches geeignet ist, die Fortführung von Betrieben im Krisenstadium zu gewährleisten und die Sanierung von Unternehmen erfolgreich zu gestalten. 7 Das in den §§ 11 – 34, 270a, 270b InsO und in § 270d InsO geregelte Eröffnungsverfahren definiert die Insolvenzfähigkeit von natürlichen und juristischen Personen sowie von Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, beschreibt die Anforderungen, die an einen zulässigen und begründeten Eröffnungsantrag zu stellen sind und enthält detaillierte Bestimmungen für den Verfahrensverlauf zwischen Antragstellung und gerichtlicher Entscheidung über den von einem Schuldner oder einem Gläubiger gestellten Insolvenzantrag.12) Der Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (StaRUG) kennt kein Eröffnungsverfahren. Ihm vorgeschaltet ist ein Verfahren zur Krisenfrüherkennung mittels Etablierung eines Frühwarnsystems, das die Geschäftsleiter in die Pflicht nimmt, die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens laufend zu prüfen, um mögliche Krisen frühzeitig zu erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Hierzu gibt es aber kein vorgeschriebenes, gesetzlich geregeltes Verfahren. Es bleibt den Geschäftsleitern überlassen, in ___________ 7) Empfehlung C(2014) 1500 der Kommission vom 12.3.2014 für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014H0135&from=EL (Abrufdatum: 18.11.2022). 8) Seagon, NZI Beilage z. Heft 5/2017, S. 12, S. 15; Thole, ZIP 2017, 101; R.-D. Mönning, RAW 2017, 74 ff.; R.-D. Mönning/E. Mönning, RAW 2018, 27 ff.; Bierbach, DB Heft 4/2018, M28–M29. 9) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 10) Riewe, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 6, 7. 11) Paulus, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 9, 10. 12) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, Vor § 11 Rz. 1.
248
R.-D. Mönning
Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren
§ 11
welcher Art und Weise sie geeignete Maßnahmen zur Früherkennung von Unternehmenskrisen umsetzen wollen.13) Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Erstauflage im Jahre 1997 war das Eröffnungsverfah- 8 ren in der Form einer Sequestration gesetzlich nicht geregelt. Aufgaben und Befugnisse des vom Gericht ernannten Sequesters wurden von der Rechtsprechung entwickelt und bestimmt.14) Zwangsläufig wiesen daher die Verfahrensabläufe regional erhebliche Unterschiede auf. Die Einstellung der Insolvenzgerichte und der von Ihnen ernannten Sequester, deren Verständnis von der Funktion eines Eröffnungsverfahrens und den Aufgaben eines Sequesters bestimmten die Abwicklung. Dies wirkte sich vor allem auch auf die Betriebsfortführung aus, für die es weder eine gesetzliche Grundlage noch allgemein anerkannte Rechts- und Verfahrensgrundsätze gab. Ob unmittelbar nach Antragstellung fortgeführt wurde oder nicht, blieb daher vielfach dem Zufall überlassen. Mit Einführung der InsO im Jahre 1999 erweiterten sich die Verfahrensziele um Reor- 9 ganisation und übertragene Sanierung, die nunmehr gleichberechtigt neben der Liquidation als fortbestehendem Verfahrenszweck stehen, auch wenn man den Begriff der übertragenen Sanierung in der InsO nicht findet.15) Gleichwohl sind der von Karsten Schmidt geprägte Begriff und die mit einer übertragenen Sanierung verfolgte Konzeption rechtspolitisch unumstritten und als Verfahrensziel der InsO allgemein anerkannt.16) Mit den Verfahrenszielen der Reorganisation und der übertragenen Sanierung verfolgt 10 die InsO eine nunmehr gesetzlich etablierte Sanierungsförderung mit zumindest ansatzweiser Beseitigung von Sanierungshemmnissen. Die grundsätzliche Frage, ob ein Unternehmen, das der Schuldner betreibt, fortführungsfähig und damit letztendlich auch sanierungsfähig ist, ist als Pflichtaufgabe vom gerichtlich beauftragten Sachverständigen im Eröffnungsverfahren zu klären (§ 22 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Die Durchführung einer Sanierung beginnt daher bereits im Eröffnungsverfahren. Es handelt sich um eine zentrale Aufgabe, die der vorläufige Insolvenzverwalter im Eröffnungsverfahren zu erfüllen hat.17) Seit Inkrafttreten der InsO ist vor allem das Eröffnungsverfahren immer wieder Gegen- 11 stand von Gesetzesänderungen geworden. Diese hatten vor allem das Ziel, in der Praxis erkannte Sanierungshemmnisse zu beseitigen, indem der Katalog der vorläufigen Maßnahmen, ehemals Sicherungsmaßnahmen, immer weiter aufgefächert und ausdifferenziert wurde. Einen zumindest vorläufigen Schlusspunkt setzt das ESUG, dessen Regelungen am 1.3.2012 in Kraft getreten sind. Ziel des ESUG ist es, die Sanierung von Unternehmen zu erleichtern,18) was wiederum voraussetzt, dass die jetzt eingeführten gesetzlichen Regelungen eine frühzeitige Insolvenzantragstellung bewirken.19) Die mit dem SanInsFoG verbundenen Änderungen haben an dieser Zielsetzung nichts geändert, sondern nur die Voraussetzungen für die Anordnung einer Eigenverwaltung präzisiert und verschärft. Tatsächlich konnte in der Zeit vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie konstatiert wer- 12 den, dass sich die Insolvenz in Eigenverwaltung zunehmend bei großen Unternehmen bewährt hat. Auf Basis einer Analyse von 1 513 Insolvenzverfahren seit Einführung des ___________ 13) Haghani, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 15, 16; Hölzle, Praxisleitfaden SanInsFoG, § 1 StaRUG Rz. 13. 14) BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 68/92, ZIP 1993, 48 = NJW 1193, 1206 (Baumaschinenfall); BGH, Urt. v. 25.3.1993 – IX ZR 164/92, ZIP 1993, 687 (Gummibärchenfall). 15) Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 12. 16) K. Schmidt, ZIP 1980, 328, 329; Wellensiek, NZI 2002, 233, 234; Kluth, NZI 2002, 1 ff.; Undritz, ZGR 2010, 201, 205; Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 11 f. m. w. N. 17) Uhlenbruck in: Kölner Schrift, S. 360 ff. Rz. 39 ff. 18) Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, § 13 Rz. 1. 19) Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 15 f.
R.-D. Mönning
249
§ 11
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
ESUG im Jahre 2012 wurden zwar immer noch nur 3 % aller Verfahren in Eigenverwaltung abgewickelt. Gewichtet man den Anteil der Eigenverwaltung nach der Größe der betroffenen Unternehmen ließ sich feststellen, dass 64 % der größten Insolvenzen in Eigenverwaltung betrieben wurden. Den lange Zeit ein Schattendasein fristenden, mit der InsO im Jahr 1999 eingeführten neuen Instrumenten – Insolvenzplan und Eigenverwaltung – wurde daher mit dem ESUG tatsächlich zum Durchbruch verholfen.20) Aus den statistischen Daten lässt sich aber auch der Schluss ableiten, wonach das klassische Regelverfahren der InsO immer mehr auf Liquidationsverfahren und die Verfahren natürlicher Personen als Schuldner reduziert wird. 13 Generell gilt, dass Unternehmen, die übertragen saniert oder reorganisiert werden sollen, ohne Unterbrechung fortgeführt werden. Die Weichen stellt das Eröffnungsverfahren. Auch wenn das Sanierungsziel in den allerseltensten Fällen bereits im Eröffnungsverfahren erreicht werden kann, entscheidet sich in dieser Phase, ob der Sanierungsansatz überhaupt verfolgt und im eröffneten Verfahren mit Aussicht auf Erfolg umgesetzt und realisiert werden kann.21) 14 Angesichts der unterschiedlichen Wege, die das Insolvenzrecht in seiner Gesamtheit nunmehr eröffnet, um das gesetzlich geförderte Ziel einer Sanierung von erhaltenswürdigen Unternehmen zu erreichen, spielt die sorgfältige Vorbereitung eines Insolvenzverfahrens und die frühzeitige und umfassende Abstimmung sowohl der Verfahrensziele als auch der damit verbundenen Maßnahmen nunmehr eine entscheidende Rolle. Dies gilt vor allem für Verfahren, die in Eigenverwaltung geführt werden, da diese von zusätzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängen, um bereits im Eröffnungsverfahren beurteilen zu können, ob das konkrete Verfahren für eine Abwicklung in Eigenverwaltung im Allgemeinen und für dessen spezielle Ausprägung in der Form eines Verfahrens zur Vorbereitung einer Sanierung (Schutzschirmverfahren) geeignet ist.22) Insbesondere gilt dies für das mit dem ESUG eingeführte Schutzschirmverfahren, mit dem die Möglichkeit eröffnet wird, die Insolvenzabwicklung als strategische Option zu planen und umzusetzen, indem ein freiwilliger, vom Schuldner sorgfältig vorbereiteter Insolvenzantrag gestellt wird, um ein bestimmtes wirtschaftliches Ziel, meist die Sicherung oder Wiederherstellung der Ertragskraft eines unmittelbar vor oder im Anfangsstadium einer Krise befindlichen Unternehmens zu erreichen.23) 15 Diese Zielsetzung kann aber seit dem 1.1.2021 auch mit dem StaRUG mit Hilfe eines Restrukturierungsplans zur nachhaltigen Beseitigung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit verfolgt werden, das damit insbesondere in Konkurrenz zu dem Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO tritt. In beiden Varianten wird die Fortführung des Geschäftsbetriebes als selbstverständlich unterstellt, so dass die Entscheidung zwischen den beiden Verfahrensarten nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt getroffen wird und getroffen werden muss, ob zur Ausschaltung von Störpotenzialen, die eine Betriebsfortführung erschweren oder verhindern können, eine zentrale Leitung und Lenkung durch einen vom Gesetz oder durch richterliche Anordnung mit notwendigen Kompetenzen ausgestatteten Verwalter erforderlich ist oder noch die Voraussetzungen für ein weitgehend gerichtsfreies Restrukturierungsverfahren vorliegen. ___________ 20) BCG, Sechs Jahre ESUG: Durchbruch erreicht, S. 4. 21) Paulus, NZI 2015, 1001 ff., der den Erhalt von Unternehmen und damit verbunden auch die Rettung von Arbeitsplätzen als vorrangiges Verfahrensziel aus dem Text von § 1 InsO ableitet; A. Schmidt in: HambKomm-InsO, § 1 Rz. 39. 22) v. Buchwaldt, BB 2015, 3017 ff. 23) R.-D. Mönning in: FS Kübler, S. 431 ff., 433; Eidenmüller, ZIP 2014, 1197 ff.
250
R.-D. Mönning
Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren
§ 11
2.
Verfahrensziele und Zulässigkeit der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren
2.1
Liquidation als Verfahrensziel
In der öffentlichen Wahrnehmung bestimmen Insolvenzverfahren mit mindestens regio- 16 naler, vielfach aber auch mit überregionaler und sogar internationaler Bedeutung mit vielen Beschäftigten das Bild. Der Insolvenzalltag sieht jedoch anders aus. Immer noch dominieren die Insolvenzverfahren von Betrieben, die keine oder weniger als fünf Mitarbeiter aufweisen und zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits eingestellt sind oder unmittelbar vor der Einstellung stehen, wobei dies in vielen Fällen nicht einmal eine willentliche Entscheidung der Inhaber ist, weil die Betriebe einfach wegen fehlender Ressourcen zum Erliegen kommen. Etwas künstlich am Leben zu erhalten, was keine (Über-)Lebensberechtigung hat, ist mit den Zielen der InsO unvereinbar. Eine Aufrechterhaltung derartiger Betriebe um jeden Preis und ohne Perspektive ist insolvenzrechtswidrig. Das Insolvenzverfahren ist kein Experimentierfeld. Erst recht gilt das für die Betriebsfortführung. Aber auch bei Unternehmen, die zum Zeitpunkt der Antragstellung noch am Markt und 17 damit werbend tätig sind, kann die geordnete Liquidation unter Führung eines Insolvenzverwalters die einzige sinnvolle Abwicklungsvariante darstellen, um dem insolvenzrechtlichen Ziel der gleichmäßigen aber auch bestmöglichen Befriedigung der am Verfahren beteiligten Gläubiger, gerecht zu werden. Ist das Verfahrensziel der Liquidation alternativlos, bleibt es gleichwohl Aufgabe des (vor- 18 läufigen) Insolvenzverwalters, die Folgen einer sofortigen Stilllegung mit den Ergebnissen einer temporären Betriebsfortführung zu vergleichen, die i. S. einer Ausproduktion dazu führen kann, ansonsten unverwertbare oder nur mit hohen Abschlägen verwertbare Vermögensgegenstände werthaltig zu machen, was insbesondere für die Fertigstellung von zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens halbfertigen Erzeugnissen gelten kann. Allerdings muss der vorläufige Insolvenzverwalter in diesem Fall im Eröffnungsverfahren besonderes Gewicht auf eine umfassende Potentialanalyse legen, da nicht alle fortführungsfördernden Maßnahmen, wie bspw. der Verwertungsstopp gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO oder auch die Möglichkeiten zur Insolvenzgeldvorfinanzierung (§§ 170 ff. SGB III) zur Verfügung stehen, wenn es keine mittelfristigen Fortführungsperspektiven gibt oder keine Aussicht besteht, dass eine Auslaufproduktion dazu führt, einen wesentlichen Teil der Arbeitsplätze zu erhalten. Zudem ist die Bereitschaft aller Stakeholder, sich zugunsten eines insolventen Unternehmens zu engagieren, dann wesentlich geringer, als in den Fällen, in denen ein aussichtsreicher Sanierungsversuch unternommen wird. Dennoch gilt: Betriebsfortführung und Liquidation schließen sich nicht aus, vielmehr kann 19 eine temporäre Betriebsfortführung eine notwendige Bedingung sein, um das Liquidationsergebnis zu verbessern.24) 2.2
Betriebsfortführung und übertragende Sanierung
Bei weiter Begriffsauslegung ist auch die Übertragung der dem Insolvenzbeschlag unter- 20 liegenden Vermögensgegenstände auf einen anderen Rechtsträger i. R. eines Kauf- und Übertragungsvertrages (Asset Deal) eine Sanierung, obwohl der zurückbleibende Rechtsträger liquidiert wird. Diese Form der Sanierung ist das eigentliche Erfolgsmodell der zurückliegenden Jahre und wurde bereits im Geltungsbereich der KO sowie der GesO vielfach erfolgreich praktiziert.25) ___________ 24) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 22 Rz. 63. 25) Dazu auch Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 11, 12.
R.-D. Mönning
251
§ 11
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
21 Da der insolvente Unternehmensträger nach Verkauf und Übertragung betriebsnotwendiger Vermögensgegenstände auf einen Erwerber im Zuge des weiterlaufenden Insolvenzverfahrens liquidiert wird, handelt es sich bei der übertragenden Sanierung tatsächlich und aus der Sicht des insolventen Unternehmens gesehen um eine Form der Liquidation, die allerdings bezogen auf das vom Rechtsträger abgetrennte Unternehmen zu dessen Erhaltung (Sanierung) führt. 22 Im Zuge des sog. Vier-Stufen-Modells26) erfolgt die Entscheidung hinsichtlich einer Betriebsfortführung mit dem Ziel einer übertragenden Sanierung auf der 3. Stufe. Es handelt sich dabei mindestens um eine mittel-, häufig auch längerfristige Betriebsfortführung, die auf das Ziel ausgerichtet ist, i. R. eines M&A-Prozesses in der Form eines beschränkten Bieterverfahrens ein Bestgebot in Bezug auf den Abschluss eines Kauf- und Übertragungsvertrages einzuwerben. Die mindestens mittelfristige Anlage einer Betriebsfortführung zum Zwecke der Durchführung einer übertragenden Sanierung ergibt sich bereits aus den gesetzlichen Zustimmungserfordernissen (§ 160 InsO), da der Abschluss eines Kauf- und Übertragungsvertrages sowie dessen Durchführung entweder der Zustimmung der Gläubigerversammlung (§§ 157, 160 InsO) oder eines Gläubigerausschusses, falls ein solcher bestellt ist, bedarf. Wird eine übertragende Sanierung angestrebt, müssen alle Planungstools zeitlich mindestens auf sechs Monate angelegt sein. Der Zeitrahmen umfasst die (maximale) Dauer des Eröffnungsverfahrens sowie den gesetzlichen Zeitrahmen von mindestens sechs Wochen bzw. maximal drei Monaten, der dem Insolvenzgericht zur Verfügung steht, um eine erste Gläubigerversammlung (Berichtstermin) zu terminieren (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 InsO). 2.3
Übertragende Sanierung mit Insolvenzplan
23 Ist Ziel einer im Eröffnungsverfahren begonnenen Betriebsfortführung eine übertragende Sanierung, so stellt sich häufig das Problem, die sachverständig bewerteten Vermögensgegenstände auch zu den veranschlagten Preisen zu verkaufen. Die Marktpreisfindung für die von der Veräußerung betroffenen Wirtschaftsgüter gelingt zwar häufig i. R. von Bieterverfahren, die im Auftrag des (vorläufigen) Insolvenzverwalters von erfahrenen M&ABeratern durchgeführt werden. Aus diesem Grunde sehen die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung (vgl. II. 2. Spiegelstrich 2 GOI) die Einschaltung von M&ABeratern zur Durchführung des Akquisitionsprozesses vor, um eine Bieterkonkurrenz aufzubauen, die eine optimale Kaufpreisfindung ermöglicht.27) Siehe dazu auch unten den Beitrag von Deichmann, § 33. 24 Bleiben dennoch Gebote hinter den Erwartungen zurück oder gibt es nur einen einzigen Bieter, kann die Kombination von übertragender Sanierung und Insolvenzplan eine auch von den Gläubigern akzeptierte Preisbildung gewährleisten. Insoweit lässt sich über einen Insolvenzplan regeln, dass die Insolvenzgläubiger im Zuge des Planverfahrens auf ihre Forderungen gegen den Insolvenzschuldner in der Höhe verzichten, wie ihnen über die von dem Erwerber zu zahlenden Kaufpreise befriedigt werden. Auch ist es denkbar, die übertragende Sanierung mit einer Reorganisation zu verbinden, indem die Insolvenzgläubiger im Insolvenzplan Forderungen, die über die durch den Kaufpreis ermöglichten Quoten hinausgehen, erlassen. Der bisherige, auf diese Weise reorganisierte Unternehmensträger hat dann die Möglichkeit, auch mit einem geänderten Unternehmensgegenstand ___________ 26) Zur Begriffsbildung s. R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 348, 349. 27) VID, Textsammlung zum Restrukturierungs- und Insolvenzrecht sowie den Grundsätzen ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung (GOI), 3. Aufl., 2021, S. 340; Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 30, 31.
252
R.-D. Mönning
Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren
§ 11
weiter werbend tätig zu sein.28) Die Kombination von Insolvenzplanverfahren und übertragender Sanierung hat auch dadurch an Bedeutung gewonnen, dass dieses sog. Dual-TrackVerfahren gefordert wird, um eine angestrebte Reorganisation, die mittels Insolvenzplan umgesetzt werden soll, in ihren Auswirkungen für die beteiligten Gläubiger nicht mit Liquidationswerten zu vergleichen, sondern mit den Werten, die im Zuge einer Veräußerung am Markt erzielt werden können.29) In diesen Fällen bleibt die vorgenannte Kombination ein theoretisches Modell, um die 25 vom Gesetz geforderte Gleichstellung, die sich tatsächlich zu einem Besserstellungsgebot entwickelt hat, zu belegen. Denn kein Gläubiger darf durch den Insolvenzplan schlechtergestellt werden, als er im Falle einer Liquidation stehen würde und die übertragende Sanierung stellt einen Unterfall der Liquidation, in der Form einer Gesamtliquidation durch Verwertung der betriebsnotwendigen Wirtschaftsgüter an einen Erwerber dar. Kommt es tatsächlich zu einer Kombination von Insolvenzplan und übertragender Sanie- 26 rung, muss ein längerer Zeitrahmen für die Betriebsfortführung eingeplant werden, sofern es nicht gelingt, den Abstimmungs- und Erörterungstermin mit dem Prüfungstermin zu verbinden (§ 236 InsO), wobei auch eine Verbindung mit dem Berichtstermin möglich ist.30) Im Regelfall ist jedoch die übertragende Sanierung i. V. m. einem Insolvenzplanverfahren 27 langwieriger, da der Auftrag zur Erarbeitung eines Insolvenzplans vielfach erst im Berichtstermin durch die Gläubigerversammlung als Ergebnis der Erörterung im Berichtstermin erteilt wird.31) Die integrierte Fortführungsplanung (Liquiditätsplanung, Ertragsplanung, Vermögensplanung) muss in derartigen Fällen sicherheitshalber auf einen Zeitraum bis zu einem Jahr ab Einleitung des Insolvenzverfahrens angelegt werden und steht damit vor den bekannten Problemen der Fortführungsfinanzierung, die auch durch das ESUG nicht gemildert wurden.32) 2.4
Betriebsfortführung zwecks Reorganisation im Regelverfahren mit Insolvenzplan
Bis zur Einführung des ESUG verharrte die Quote von Insolvenzplanverfahren bei 1 % 28 bezogen auf alle bis 2008 schlussgerechneten Unternehmensinsolvenzen.33) In 2011 lag die Anzahl der Planverfahren bezogen auf Unternehmensinsolvenzen bei 29 2 %.34) Mit zunehmender Akzeptanz des ESUG steigt die Zahl der Planverfahren kontinuierlich, aber immer noch langsam und bewegt sich nach wie vor im einstelligen Prozentbereich.35) ___________ 28) Ein Beispiel für die Variante übertragende Sanierung und Insolvenzplan zum Zwecke der Reorganisation des insolventen Unternehmensträgers bietet das Insolvenzverfahren Adessa Moden GmbH, deren Insolvenzplan von den beteiligten Gläubigern einstimmig angenommen wurde (Aufhebung des Insolvenzverfahrens AG Aachen, Beschl. v. 23.5.2012 – 91 IN 66/09). 29) Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 3. 30) Smid/Rattunde/Martini, Insolvenzplan, S. 641; Nerlich/Römermann-Braun, InsO, § 236 Rz. 4. 31) Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 27. 32) Zu diesem Problem Undritz in: Kübler, HRI, 3. Aufl., 2019, § 2 Rz. 33 – 38. 33) Die Quoten der Insolvenzgläubiger in Regel- und Insolvenzplanverfahren, eine Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung (IFM) v. 20.3.2012, abrufbar unter www.ifm-bonn.org/publikationen/ ifm-materialien/Publikationendeetail/?tx 1 Jahr) & kfr. Bankverbindlichkeiten
Saldo Finanzierungsbereich
c ratierliche Tilgung
b Tilgung Sicherungsrechte Lieferanten
a Quotenzahlung
2.
Spies
Abführung Umsatzsteuer
2.
Freie LIQUIDITÄT
Kreditlinie
Kontostand am Monatsende
LIQUIDITÄT - monatlich
Geldtransit (Separierung von Geldern für Warenentnahmen)
Saldo Umsatzsteuer
Erstattung Vorsteuer
1.
Umsatzsteuer
Saldo Kapitalbereich
Kapitaleinlagen
Kapitalentnahmen
1.
Kapitalbereich
S
2.
1.
Finanzierungsbereich
Investitionen
1.
Investiver Bereich
Kontostand am Monatsanfang (Beginn 01.01.13)
Firma Muster GmbH
PLAN Liquiditätsrechnung
Jan PLAN
Dez PLAN
PLAN
Feb
2013
Mrz PLAN
Apr PLAN
Mai PLAN
Jun PLAN
Jul PLAN
Aug PLAN
Sep PLAN
Okt PLAN
PLAN
Nov
2013
Dez PLAN
§ 17 Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
§ 17
Betriebsfortführung in Eigenverwaltung im Planverfahren/Schutzschirmverfahren 3.3
Plan-Bilanz
Abb. 17 – 20: Bilanz
199 2012
PLAN - Bilanz Firma Muster GmbH AKTIVA A.
Ingangsetzung Geschäftsbetrieb
B.
Anlagevermögen
I.
Immaterielle Vermögensgegenstände
1.
Konzessionen, gewerbl. Schutzrechte und ähnliche Rechte
2.
Geschäfts- oder Firmenwert
3.
geleistete Anzahlungen
II.
Sachanlagen
1.
Grundstücke, grundstücksgleiche Rechte und Bauten
2.
Techn. u. andere Anlagen, Maschinen
3.
Betriebs- und Geschäftsaustattung
4.
Geleistete Anzahlungen und Anlagen im Bau
III. 1. 2.
eröffnetes Verfahren EB 2011
per 30.06.12
Sep
Okt
Nov
Dez
IST
IST
vorl. IST 25.09.
vorl. IST
vorl. IST
PLAN
Finanzanlagen Anteile und Ausleihungen an z. k. verbundene Unternehmen Beteiligungen, Ausleihungen an Unternehmen mit denen ein Beteiligungsverhältnis besteht
3.
Wertpapiere des Anlagevermögens
4.
sonstige Ausleihungen (u.a. VU)
C.
Umlaufvermögen
I.
Vorräte
1.
Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe
2.
Unfertige Erzeugnisse, unfertige Leistungen
3.
Fertige Erzeugnisse und Waren
4.
Geleistete Anzahlungen auf Vorräte (Vorkassen)
II.
Forderungen und sonstige Vermögensgegenstände
1.
Forderungen aus Lieferungen und Leistungen
2.
Forderungen gegen Gesellschafter
3.
Forderungen gegen z.k. v. Unternehmen
4.
Sonstige Vermögensgegenstände
III.
Wertpapiere des Umlaufvermögens
1.
Wertpapiere des Umlaufvermögens
2.
eigene Anteile
3.
sonstige Wertpapapiere
IV.
Flüssige Mittel (Banken-KK, Kasse, Schecks, Wechsel)
1.
Kasse, Schecks, Wechsel
2.
Guthaben bei Kreditinstituten
a)
Kontokorrent
b)
Sonstiges Guthaben
D.
Rechnungsabgrenzungsposten
E.
Nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag
Σ
AKTIVA
Spies
683
§ 17
Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Firma Muster GmbH
eröffnetes Verfahren EB 2011
per 30.06.12
Sep
Okt
Nov
Dez
IST
vorl. IST 25.09.
vorl. IST
vorl. IST
PLAN
PASSIVA A.
Eigenkapital
I.
Variables Kapital
II.
Kapitalentnahmen
III.
Kapitaleinlagen
IV.
Jahresüberschuß/Jahresfehlbetrag Ausgewiesenes Eigenkapital
B.
Sonderposten
1.
Sonderposten mit Rücklageanteil
2.
Sonderposten Investitionszuschüsse
C.
Rückstellungen
1.
Rückstellung für Verfahrenskosten
2.
Rückstellung für ungewisse Vblk
3.
Sonstige Rückstellungen
D.
Verbindlichkeiten
1.
Verbindlichkeiten ggü Kreditinstituten a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
2.
Erhaltene Anzahlungen auf Bestellungen
3.
Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
4.
Verbindlichkeiten ggü Gesellschaftern a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
5.
Verbindlichkeiten gegenüber z. k. verbundene Unternehmen a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
6.
Verbindlichkeiten gegenüber Unternehmen, mit denen ein Beteiligungsverhältnis besteht a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
7.
Sonstige Verbindlichkeiten a) ~ Rahmen der sozialen Sicherheit b) ~ Steuern c) ~ Sonstiges andere Verbindlichkeiten ca) ~ mit einer RLZ kleiner 1 Jahr cb) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
E.
Rechnungsabgrenzungsposten
Σ
PASSIVA
684
Spies
PLAN - BILANZ
Finanzanlagen
III.
Spies
Kasse, Schecks, Wechsel
Guthaben bei Kreditinstituten
1.
2.
Rechnungsabgrenzungsposten
Nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag
AKTIVA
D.
E.
Σ
b) Sonstiges Guthaben
a) Kontokorrent
sonstige Wertpapapiere
IV.
eigene Anteile
Flüssige Mittel (Banken-KK, Kasse, Schecks, Wechsel)
2.
3.
Wertpapiere des Umlaufvermögens
1.
Forderungen gegen z.k. v. Unternehmen
Sonstige Vermögensgegenstände
3.
Wertpapiere des Umlaufvermögens
Forderungen gegen Gesellschafter
2.
4.
Forderungen aus Lieferungen und Leistungen
1.
III.
Geleistete Anzahlungen auf Vorräte
Forderungen und sonstige Vermögensgegenstände
3.
II.
2.
4.
Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe
Unfertige Erzeugnisse, unfertige Leistungen
Fertige Erzeugnisse und Waren
1.
sonstige Ausleihungen (u.a. VU)
Vorräte
I.
Wertpapiere des Anlagevermögens
Umlaufvermögen
4.
C.
3.
2.
Anteile und Ausleihungen an z. k. verbundene Unternehmen Beteiligungen, Ausleihungen an Unternehmen mit denen ein Beteiligungsverhältnis besteht
Geleistete Anzahlungen und Anlagen im Bau
4.
1.
Techn. u. andere Anlagen, Maschinen
Betriebs- und Geschäftsaustattung
3.
Grundstücke, grundstücksgleiche Rechte und Bauten
1.
2.
Geschäfts- oder Firmenwert
geleistete Anzahlungen
Sachanlagen
II.
1.
3.
Konzessionen, gewerbl. Schutzrechte und ähnliche Rechte
2.
Anlagevermögen
Immaterielle Vermögensgegenstände
I.
Ingangsetzung Geschäftsbetrieb
B.
A.
AKTIVA
Firma Muster GmbH Dez PLAN
Jan PLAN
PLAN
Feb PLAN
Mrz
eröffnetes Verfahren Apr PLAN
Mai PLAN
Jun PLAN
Jul PLAN
Aug PLAN
Sep PLAN
Okt PLAN
Nov PLAN
PLAN
Dez
2013
Betriebsfortführung in Eigenverwaltung im Planverfahren/Schutzschirmverfahren § 17
685
686
Kapitaleinlagen
Jahresüberschuß/Jahresfehlbetrag
IV.
Verbindlichkeiten
Verbindlichkeiten ggü Kreditinstituten
3.
D.
1.
Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen
3.
Spies
Verbindlichkeiten ggü Gesellschaftern
Verbindlichkeiten gegenüber z. k. verbundene Unternehmen
Verbindlichkeiten gegenüber Unternehmen, mit denen ein Beteiligungsverhältnis besteht
Sonstige Verbindlichkeiten
Rechnungsabgrenzungsposten
PASSIVA
E.
Σ
cb) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
ca) ~ mit einer RLZ kleiner 1 Jahr
c) ~ Sonstiges andere Verbindlichkeiten
b) ~ Steuern
a) ~ Rahmen der sozialen Sicherheit
7.
b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr
6.
b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr
5.
b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr
4.
b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr
Erhaltene Anzahlungen auf Bestellungen
2.
b) ~ mit RLZ größer 1 Jahr
a) ~ mit RLZ kleiner 1 Jahr
Rückstellung für ungewisse Insolvenzforderungen
Sonstige Rückstellungen
2.
Rückstellungen
Sonderposten Investitionszuschüsse
Rückstellung für Verfahrenskosten
2.
1.
Sonderposten mit Rücklageanteil
1.
C.
Sonderposten
B.
Ausgewiesenes Eigenkapital
Variables Kapital
III.
Eigenkapital
Kapitalentnahmen
I.
II.
A.
PASSIVA
Firma Muste GmbH Dez
Jan PLAN
PLAN
Mrz
eröffnetes Verfahren Feb PLAN
Apr PLAN
Mai PLAN
Jun PLAN
Jul PLAN
Aug PLAN
Sep PLAN
Okt PLAN
Nov PLAN
Dez PLAN
2013
§ 17 Teil II Voraussetzungen und wesentliche Eckpunkte der Fortführung
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung – Rechtsstellung, Zusammenarbeit und Kommunikation
§ 18 Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential Flitsch/Birnbreier
Übersicht I.
Einleitung: Die Rolle des Schuldners in der insolvenzrechtlichen Praxis............ 1 1. Der Schuldner als „Sanierungsfaktor“ ........ 2 1.1 Der Schuldner als KnowhowTräger ............................................... 3 1.2 Der Schuldner als Autoritätsperson............................................... 6 2. Der Schuldner als destabilisierender Faktor ........................................................... 9 2.1 Gefahr der Verdunkelung und Verfahrensverzögerung ................. 10 2.2 Gefahr der Einflussnahme auf den Investorenprozess ............ 14 II. Der schuldnerische Personenkreis.......... 16 III. Schuldnerische Gestaltungsmöglichkeiten i. R. des Insolvenzantrags............. 18 IV. Die Rechtsstellung des Schuldners im vorläufigen Insolvenzverfahren ........ 22 1. Auskunftspflichten im Antragsverfahren.... 22 2. Mitwirkungspflichten des Schuldners....... 24 3. Vorläufige Eigenverwaltung ...................... 26 3.1 Schutzschirmverfahren.................. 31 3.2 Rechtsstellung der Geschäftsleitungsorgane................................ 32 3.2.1 Vollumfängliche Beibehaltung der bisherigen Rechtsposition ...... 32 3.2.2 Verstärkung des sanierungs- und insolvenzrechtlichen Knowhows durch einen CRO als zusätzliches Organ oder Berater........................ 36 3.3 Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten.......... 37 3.3.1 Haftung für Masseverbindlichkeiten, die während des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens begründet wurden.......................... 38
3.3.2 3.3.3
Haftungsmasse .............................. 40 Persönliche Haftung der Geschäftsleitungsorgane, Haftungsmaßstab .......................... 43 V. Die Rechtsstellung des Schuldners im eröffneten Insolvenzverfahren .......... 44 1. Übergang des Verwaltungs- und Verfügungsrechts ....................................... 44 2. Auskunftspflicht des Schuldners im eröffneten Verfahren ............................ 47 3. Einsichtsrecht des Schuldners im eröffneten Verfahren ............................ 50 4. Rechte des Schuldners bei Betriebsstilllegung.................................................... 51 5. Eigenverwaltungsbefugnis, Insolvenzplaninitiative ............................................... 54 5.1 Befugnis zur Fortsetzung der Eigenverwaltung...................... 54 5.2 Vorlage eines Insolvenzplans........ 56 5.3 Widerspruchsmöglichkeiten gegen „Fremdinsolvenzplan“ (§ 247 InsO) .................................. 58 6. Restzuständigkeiten im höchstpersönlichen und insolvenzfreien Gesellschaftsbereich......................................................... 59 6.1 Insolvenzfreier Gesellschaftsbereich ............................................ 61 6.1.1 Registerrechtliche/börsenrechtliche Angelegenheiten ................... 61 6.1.2 Umfirmierung/Verkauf der „Handelsfirma“ ....................... 64 6.1.3 Organwechsel ................................ 65 6.1.4 Kapitalmaßnahmen........................ 69
Literatur: Frind, Das „Anforderungsprofil“ gem. § 56a InsO – Bedeutung und praktische Umsetzung, NZI 2012, 650; Grub, Die Stellung des Schuldners im Insolvenzverfahren, in: Kölner Schrift, 1997, S. 513; Harig/Höfer/Reus, Voraussetzungen und Ablauf eines Eigenverwaltungsverfahrens nach dem SanInsFoG, NZI 2021, 993; Hohnel, Selbstbelastungsfreiheit in der Insolvenz, NZI 2005, 152; Laroche, Der forderungslose Insolvenzantrag – Praxisanmerkungen zu § 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 InsO und zur geplanten Neuregelung des § 14 Abs. 1 InsO durch den Regierungsentwurf zur Reform des Anfechtungsrechts, ZInsO 2015, 2511; Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt, H./Thole, Evaluierung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011 (zit.: Jacoby/ Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung), abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/ Downloads/DE/News/Artikel/101018_Gesamtbericht_Evaluierung_ESUG.pdf (Abrufdatum: 2.11.2022); Oechsler, Der Aufsichtsrat in der Insolvenz, AG 2006, 606; Thiele, Die Rechtsfigur des Sanierungsgeschäftsführers, ZInsO 2015, 877; Uhlenbruck, Gesellschaftsrechtliche Defizite der Insolvenzordnung, in Festschrift für Hans-Jochem Lüer, 2008, S. 461; Uhlenbruck, Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Schuldners und seiner organschaftlichen Vertreter im Insolvenzverfahren, NZI 2002, 401; Wellensiek/
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§ 18
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
Flitsch, Das Verhältnis von insolvenzrechtlichem Verdrängungs- und insolvenzfreiem Gesellschaftsbereich, in: Festschrift für Gero Fischer, 2008, S. 579; Weyand, Flucht in den § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO – Straffreiheit durch Selbstbelastung?, ZInsO 2015, 1948.
I.
Einleitung: Die Rolle des Schuldners in der insolvenzrechtlichen Praxis
1 Die Tätigkeit der Geschäftsleitung eines schuldnerischen Unternehmens nach Einleitung eines Insolvenzverfahrens spielt in der öffentlichen Wahrnehmung regelmäßig eine untergeordnete Rolle. Vom Insolvenzverwalter wird erwartet, dass er seine Befugnisse in strikter Weise gegen die schuldnerische Geschäftsführung durchsetzt und auf etwaige Befindlichkeiten keine Rücksicht nimmt. In der Berichterstattung über größere Unternehmensinsolvenzen wird die schuldnerische Geschäftsleitung lediglich dann thematisiert, wenn es um mögliche insolvenzauslösende Faktoren oder Vermögensverschiebungen zu Lasten des Unternehmens geht. In dem (zugegebenermaßen erheblichen) Teil der Unternehmensinsolvenzen, die auf klassische Managementfehler, wie ein fehlendes Controlling, bestehende Finanzierungslücken oder ein unzureichendes Debitorenmanagement zurückzuführen sind,1) erscheint diese Wahrnehmung auch konsequent. 1.
Der Schuldner als „Sanierungsfaktor“
2 In einer Vielzahl erfolgreicher Restrukturierungsfälle haben schuldnerische Vorstände und Geschäftsführer demgegenüber – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – einen erheblichen Anteil an der Sanierung des jeweiligen schuldnerischen Unternehmens geleistet. Die Gründe für die Wichtigkeit des (Fort-)Bestehens einer effektiven Geschäftsführung nach Insolvenzantragstellung sind vielfältig; folgende Konstellationen spielen hierbei häufig eine Rolle: 1.1
Der Schuldner als Knowhow-Träger
3 In der gerichtlichen Praxis hat sich die Einsetzung eines „Branchen-Insolvenzverwalters“ mit entsprechenden, fachspezifischen Kenntnissen lediglich in Teilbereichen etabliert; im Regelfall hat der betreffende Insolvenzverwalter noch keine Vielzahl von Insolvenzen im betreffenden Wirtschaftszweig geleitet, um über eine fundierte branchenspezifische Erfahrung zu verfügen. Der Informationsbedarf des Insolvenzverwalters bei einer Betriebsfortführung geht daher regelmäßig über den Inhalt hinaus, der i. R. der in der InsO geregelten Auskunftspflichten vorgesehen ist. Vor diesem Hintergrund ist es von großem Vorteil, wenn auch nach Insolvenzantragstellung auf branchenspezifisches Know-how seitens der schuldnerischen Geschäftsleitung zurückgegriffen werden kann. Insofern ist es gerade für den Fall einer möglichen Betriebsfortführung unerlässlich, dass die Unternehmensleitung den Insolvenzverwalter auch über diverse sog. „Soft-Facts“ informiert.2) 4 Hierbei bezieht sich das „Kommunikations-Knowhow“ naturgemäß nicht nur auf die internen Betriebsstrukturen, sondern auch auf die Kommunikation mit den wesentlichen Lieferanten und Kunden des Unternehmens.3) Dies ist umso wichtiger, als die Kunden und Lieferanten durch die eingetretene Insolvenzsituation zum einen regelmäßig finan___________ 1) Vgl. hierzu Pressemitteilung zur Studie: Ursachen von Insolvenzen des Zentrums für Insolvenz und Sanierung an der Universität Mannheim e. V. (ZIS) v. 27.9.2006, abrufbar unter https://www.uni-mannheim.de/media/Einrichtungen/zis/Studien/pm_eh_studie_insolvenzgrande_27_09_06.pdf (Abrufdatum: 2.11.2022). 2) Informationen über solche weichen Faktoren (etwa bzgl. der allgemeinen Geschäftslage und Stimmung im Unternehmen) erhält der Insolvenzverwalter regelmäßig nur von der Unternehmensleitung bzw. von der zweiten Ebene im Unternehmen. Im Rahmen der insolvenzrechtlichen Auskunftspflichten kann hierbei selbstverständlich kein Rechtsanspruch darauf geltend gemacht werden. 3) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 20 Rz. 41.
690
Flitsch/Birnbreier
Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential
§ 18
ziellen Schaden erlitten haben und zum anderen auch psychologisch verunsichert sind, wie die künftige Geschäftsbeziehung weitergehen kann. Ein betriebsfortführender Insolvenzverwalter, der mit dem entsprechenden (d. h. vom Schuldner weitergegebenen) Knowhow ausgestattet ist, wird üblicherweise viel einfacher über die Fortsetzung der Vertragsverhältnisse zugunsten der Insolvenzmasse verhandeln können. Die Tatsache, dass die Geschäftsleitung den Sektor und den Markt besonders kennt, spielt 5 insbesondere auch für einen etwaigen Investorenprozess eine Rolle. Somit ist die schuldnerische Unternehmensleitung naturgemäß der erste Ansprechpartner, wenn es darum geht, strategische Investoren aus der betreffenden Branche für eine übertragende Sanierung zu gewinnen. Häufig handelt es sich bei den Interessenten um langjährige Mitbewerber oder Geschäftspartner, die mit der Geschäftsleitung gut bekannt sind. So hätten einzelne Investoren ohne die Initiative der schuldnerischen Geschäftsleitung unter Umständen nie den Kontakt zum Insolvenzverwalter gesucht oder gar einen Erwerb schuldnerischer Vermögenswerte in Erwägung gezogen. 1.2
Der Schuldner als Autoritätsperson
Weiterhin können Unternehmensleiter gegenüber den Angestellten in manchen Fällen 6 besser ihre Autorität durchsetzen als ein erst kürzlich bestellter und persönlich unbekannter Insolvenzverwalter. Infolge der Einleitung eines Insolvenzverfahrens ist der Erhalt der schuldnerischen Arbeitsplätze in Frage gestellt, was immer zu einer erheblichen Verunsicherung auf Seiten der Belegschaft führt. Der Insolvenzverwalter wird in diesem Zusammenhang oft als externer Störfaktor wahrgenommen, denn als möglicher Sanierer.4) Sofern die Geschäftsleitung im Insolvenzfall von der Belegschaft nicht als Hauptursache für die Insolvenz wahrgenommen wird,5) wird der Insolvenzverwalter diese regelmäßig als Autorität im (noch funktionierenden) Unternehmen benötigen, um in dem einen oder anderen Fall unliebsame Maßnahmen zu kommunizieren und ggf. durchzusetzen. Insoweit kann ein eingespieltes und grundsätzlich intaktes Verhältnis zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft, ggf. über Arbeitnehmervertreter wie Betriebsrat oder Gewerkschaft,6) positiv zu einer verhältnismäßigen Normalisierung des Geschäftsbetriebs beitragen. Besonders ausgeprägt ist die Rolle des Unternehmensleiters als Autoritätsperson etwa in 7 inhabergeführten Klein- und mittelständischen Unternehmen, die über einen langen Zeitraum wirtschaftlichen Erfolg hatten. Der hierin oft vorzufindende „Patriarch“, der sein kaufmännisches Können zwar über lange Zeit bewiesen, aber ggf. nicht rechtzeitig auf Marktveränderungen reagiert hat, wird von der Belegschaft meist weiterhin als glaubwürdiger eingestuft als der externe Verwalter, für den das betreffende Verfahren nur eines von vielen darstellt. Dem Insolvenzverwalter ist es daher auch nicht verwehrt, sich seinerseits in die vorgefundenen Unternehmensstrukturen einzufügen, sofern diese Strukturen nicht gerade die wesentliche Ursache für die Insolvenz bilden. Im Idealfall kann die schuldnerische Geschäftsleitung somit gleich in mehrfacher Hinsicht 8 Zeichen für eine optimale Betriebsfortführung setzen.
___________ 4) Dies ist häufig auf eine Verkomplizierung des internen Geschäftsablaufs durch die Implementierung von zusätzlichen Genehmigungs- und Kontrollmechanismen zurückzuführen. 5) Ob die Insolvenz im Einzelfall dann tatsächlich auf Managementfehlern beruht, spielt in diesen Fällen praktisch keine Rolle mehr, da der bei der Belegschaft eingetretene Vertrauensverlust letztendlich nicht mehr reparabel ist. 6) Zu einer effizienten Unternehmensleitung, die Grundlage jeder Betriebsfortführung ist, gehört es demnach auch, zu wissen, mit welchen Betriebsräten am besten in welcher Weise kommuniziert wird.
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§ 18 2.
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation Der Schuldner als destabilisierender Faktor
9 Gleichwohl lässt sich das zuvor gezeichnete Idealbild einer vorbehaltlosen und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Geschäftsleitung und Insolvenzverwalter in der Praxis nur in wenigen Fällen vorfinden. Häufiger dagegen werden seitens der Unternehmensleitung auch Interessen verfolgt, die dem Verfahrenszweck diametral entgegenstehen: 2.1
Gefahr der Verdunkelung und Verfahrensverzögerung
10 Als Grundlage für eine mögliche Betriebsfortführung muss der Insolvenzverwalter zunächst die wirtschaftliche Lage des schuldnerischen Unternehmens zutreffend ermitteln und auswerten. Hierbei sieht er sich häufig mit einer negativen Grundhaltung und Motivationslage seitens der Unternehmensleitung konfrontiert: 11 Zunächst gibt es dabei den – menschlich durchaus verständlichen – Fall, dass die Geschäftsleitung unrealistischen Vorstellungen über ihre Geschäftslage nachhängt und sich aufgrund des – von ihr ggf. (mit-)verursachten – geschäftlichen Misserfolges passiv verhält. Darin begründet, sind Vorstände und Geschäftsführer oft nur zögernd bereit, im Hinblick auf interne Ursachen, Auskunft und Unterstützung im Insolvenzverfahren zu leisten. 12 Noch weitaus gravierende Interessenkonflikte können sich allerdings dann ergeben, wenn ein Unternehmensleiter der Versuchung unterliegt, länger bestehende Unterdeckungen seitens des Unternehmens zu vertuschen oder gar Teile der Insolvenzmasse dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen. Denn wer bereits vorsätzlich Gläubiger benachteiligt oder die Insolvenz unter Verstoß gegen insolvenzstrafrechtliche Vorschriften herbeigeführt hat, will an einer Aufklärung nicht mitwirken, um sich nicht selbst zu belasten. 13 An der Einsichtsfähigkeit seitens der Geschäftsleitung fehlt es regelmäßig in den Verfahren, in denen die Einleitung auf einem Gläubigerantrag (§ 14 InsO) beruht. Oftmals sind der Antragstellung heftige Auseinandersetzungen zwischen schuldnerischer Geschäftsleitung und antragstellendem Gläubiger vorangegangen. Der sich nunmehr in diese „Schusslinie“ begebende Insolvenzverwalter muss i. S. der Gläubigergemeinschaft handeln und hierbei die Gefahr in Kauf nehmen, sich sowohl der Missgunst des Schuldners als auch derjenigen des antragstellenden Gläubigers auszusetzen. 2.2
Gefahr der Einflussnahme auf den Investorenprozess
14 Aus dem oben beschriebenen Näheverhältnis der Unternehmensleitung gegenüber einzelnen Investoren können auch negative Effekte für den Investorenprozess resultieren. Favorisiert die Geschäftsleitung etwa einen bestimmten, ihr nahestehenden Investor, so ist sie ggf. geneigt, erlangtes Sonderwissen an diesen weiterzugeben. Kennt der potentielle Erwerber über diesen Informationsweg, z. B. die gutachterlich ermittelten Fortführungsbzw. Zerschlagungswerte für das massezugehörige Vermögen, kann er die „absolute Schmerzgrenze“ seitens des Insolvenzverwalters gut einschätzen. In diesen Fällen wird der Verwalter einen höheren Kaufpreis, welcher dann der Gläubigergemeinschaft zugutekäme, von vornherein nicht erzielen können, wenn keine Gebote anderer Interessenten vorliegen. Umgekehrt kann sich die Geschäftsleitung im Einzelfall der Zusammenarbeit mit einem anderen Investor verweigern und den Verwalter hierdurch unter Druck setzen, den von ihr vorgegebenen Weg mitzugehen. 15 Somit ist das Störpotential seitens der Unternehmensleitung keinesfalls geringer als ihre Möglichkeiten zur positiven Einflussnahme.
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Flitsch/Birnbreier
Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential II.
§ 18
Der schuldnerische Personenkreis
Bevor auf die Rechtsstellung des Schuldners im Einzelnen eingegangen wird, soll geklärt 16 werden, welche Personen überhaupt als Adressaten der betreffenden Vorschriften in Betracht kommen. In den Fällen, in denen der Schuldner keine natürliche Person ist, muss also geklärt werden, welcher Personenkreis als Schuldner i. S. der insolvenzrechtlichen Vorschriften anzusehen ist. Da es sich bei den fortführungsrelevanten Unternehmensinsolvenzen regelmäßig um juristische Personen oder rechtsfähige Personengesellschaften handelt, sind unter dem Begriff „Schuldner“ im Wesentlichen x
Mitglieder der Vertretungsorgane, GmbH-Geschäftsführer, Vorstände von Aktiengesellschaften, Vereinen und Genossenschaften; Abwickler und Liquidatoren,
x
Mitglieder der Aufsichtsorgane: auch die eines fakultativen Aufsichtsgremiums,
x
vertretungsberechtigte persönlich haftende Gesellschafter des Schuldners wie OHGGesellschafter, Komplementäre, BGB-Gesellschafter
zu verstehen.7) Im Bereich der Auskunftspflichten werden die Angestellten des Schuldners den organschaft- 17 lichen Vertretern gleichgestellt (§ 101 Abs. 2 InsO). Daher wird auch auf das Verhältnis zwischen (vorläufigem) Insolvenzverwalter und den Angestellten des schuldnerischen Unternehmens noch näher einzugehen sein. III.
Schuldnerische Gestaltungsmöglichkeiten i. R. des Insolvenzantrags
Eine erste Möglichkeit, die Weichen in Richtung einer Betriebsfortführung zu stellen, hat 18 die Unternehmensleitung bereits i. R. der Insolvenzantragstellung. Die durch das „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“8) (ESUG) zum 1.3.2012 eingeführten Regelungen ermöglichen dem Schuldner weitergehende – zum Teil faktische – Einflussmöglichkeiten gegenüber der früheren Rechtslage. So hat der Schuldner zunächst bei Vorliegen entsprechender Finanzkennzahlen9) gemäß 19 §§ 21 Abs. 2 Nr. 1a, 22a InsO die Möglichkeit, die Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses mit vom ihm vorgegebener Besetzung zu beantragen. Schlägt dieser vorläufige Gläubigerausschuss sodann einstimmig einen bestimmten Verwalter vor, so darf das Gericht von diesem Vorschlag nur abweichen, wenn die vorgeschlagene Person für die Übernahme des Amtes nicht geeignet ist, § 56a Abs. 2 Satz 1 InsO. Die schuldnerische Geschäftsleitung hat somit zum einen die Möglichkeit, bestimmte 20 Gläubiger von vornherein aktiv in das Verfahren miteinzubeziehen. Hierunter können bspw. Repräsentanten von Lieferanten oder Kunden des Schuldnerunternehmens sein, die eine Fortsetzung der Zusammenarbeit über das Insolvenzverfahren hinaus anstreben. Zum anderen hat die Geschäftsleitung, sofern sie diesbezüglich Einigkeit mit sämtlichen 21 Mitgliedern des vorläufigen Gläubigerausschusses erzielt, die Möglichkeit, auf einen In___________ 7) Vgl. Herchen in: HambKomm-InsO, § 101 Rz. 3; Stephan in: MünchKomm-InsO, § 101 Rz. 15; Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 101 Rz. 3 ff. 8) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 9) Nach § 22a Abs. 1 InsO hat das Insolvenzgericht einen vorläufigen Gläubigerausschuss einzusetzen, wenn der Schuldner im vorangegangenen Geschäftsjahr mindestens zwei der drei nachstehenden Merkmale erfüllt hat: 1. mindestens 6 000 000 € Bilanzsumme nach Abzug eines auf der Aktivseite ausgewiesenen Fehlbetrags i. S. des § 268 Abs. 3 HGB; 2. mindestens 12 000 000 € Umsatzerlöse in den zwölf Monaten vor dem Abschlussstichtag; 3. im Jahresdurchschnitt mindestens fünfzig Arbeitnehmer.
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§ 18
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
solvenzverwalter hinwirken, der durch seine fachlichen und personellen Ressourcen die Gewähr dafür bietet, den schuldnerischen Betrieb fortführen zu können.10) IV.
Die Rechtsstellung des Schuldners im vorläufigen Insolvenzverfahren
1.
Auskunftspflichten im Antragsverfahren
22 Sofern ein zulässiger Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vorliegt, ist der Schuldner nach § 20 Abs. 1 InsO verpflichtet, dem Insolvenzgericht diejenigen Auskünfte zu erteilen, die zur Entscheidung über den Antrag erforderlich sind. Ist ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, so hat der Schuldner auch ihm alle für seine Tätigkeit erforderlichen Auskünfte zu erteilen und ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen (§ 22 Abs. 3 Satz 3 InsO).11) Bei der in § 20 InsO geregelten Auskunftspflicht handelt es sich um eine höchstpersönliche Pflicht, derer sich der Schuldner nicht durch Delegation auf einen Rechtsanwalt oder Steuerberater entziehen kann.12) Hierbei darf sich der Schuldner nicht lediglich darauf beschränken, sein präsentes Wissen mitzuteilen; er hat überdies Vorarbeiten zu erbringen, um eine sachdienliche Auskunft leisten zu können; insbesondere hat er die erforderlichen Unterlagen zusammenzustellen13) und auf Verlangen schriftliche Verzeichnisse und Übersichten vorzulegen.14) 23 Durch die Rechtsgrundlage in § 20 Abs. 1 InsO können das Insolvenzgericht bzw. der vorläufige Insolvenzverwalter die (öffentlich-rechtlichen) Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Schuldners im Eröffnungsverfahren ggf. auch zwangsweise durchsetzen.15) In der Praxis hat sich die Regelung gerade für diesen Verfahrensabschnitt daher als äußerst wichtig erwiesen. Die zutreffende Aufklärung der maßgebenden Sachverhalte im Antragsverfahren liefert regelmäßig die Grundlage dafür, dass das schuldnerische Unternehmen nach Verfahrenseröffnung erfolgreich fortgeführt werden kann. Regelmäßig soll eine übertragende Sanierung unmittelbar mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollzogen werden, weshalb die Zeit im Antragsverfahren knapp bemessen und wertvoll ist. Wenn es in diesem wichtigen Verfahrensstadium auf Seiten des Schuldners an dem Bewusstsein fehlt, die Lage des Unternehmens noch positiv beeinflussen zu können, kann sich die ultima ratio einer zwangsweisen Durchsetzung als verfahrensförderlich erweisen. 2.
Mitwirkungspflichten des Schuldners
24 Ebenfalls in § 20 Abs. 1 InsO ist geregelt, dass der Schuldner das Insolvenzgericht bzw. den vorläufigen Insolvenzverwalter zu unterstützen und bei der Vorbereitung der Entscheidung über den Insolvenzantrag mitzuwirken hat. Wie bereits aus dem Wortlaut deutlich wird, bezieht sich diese Mitwirkungspflicht lediglich auf die Ermittlung des Insolvenzgrundes, die der vorläufige Insolvenzverwalter als gerichtlich bestellter Sachverständiger vorzunehmen hat.16) Die Leitung des schuldnerischen Betriebs bleibt grundsätzlich ___________ 10) Zum Anforderungsprofil gemäß § 56a InsO s. Frind, NZI 2012, 650. 11) Vuia in: MünchKomm-InsO, § 20 Rz. 3. 12) Vgl. Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 20 Rz. 14a; Schmerbach in: FK-InsO, § 20 Rz. 17; Pechartschek in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 18 Rz. 8; s. BGH, Urt. v. 19.1.2006 – IX ZB 14/03, ZInsO 2006, 264. S. hierzu auch Uhlenbruck, NZI 2002, 401. 13) Vgl. BGH, Urt. v. 19.1.2006 – IX ZB 14/03, ZInsO 2006, 264, sofern die Einleitung des Insolvenzverfahrens auf einem Schuldnerantrag nach § 13 InsO beruht, wird das Auskunftsbegehren des vorläufigen Verwalters an den im Eröffnungsantrag gemachten Angaben anknüpfen. 14) Vgl. Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 20 Rz. 22; Braun-Böhm, InsO, § 20 Rz. 8. 15) Die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten aus § 20 InsO bestehen zwar grundsätzlich nur gegenüber dem Insolvenzgericht; das Gericht kann seine Auskunfts- und Mitwirkungsansprüche jedoch auch auf einen Sachverständigen als gerichtlichen Gehilfen gemäß § 4 InsO i. V. m. § 404a ZPO, § 5 InsO übertragen. 16) Vgl. dazu auch Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, § 20 Rz. 40.
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nach den allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen auch während des vorläufigen Insolvenzverfahrens beim Schuldner, sofern das Gericht diesem kein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt und den Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf einen starken vorläufigen Insolvenzverwalter anordnet (§ 22 Abs. 1 InsO).17) Somit hat die Geschäftsleitung nach wie vor die Initiativfunktion in Bezug auf die Unter- 25 nehmensfortführung im Antragsverfahren, und dem „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter bleibt lediglich die Möglichkeit, über den gerichtlich angeordneten Zustimmungsvorbehalt Vermögensabflüsse aus dem schuldnerischen Vermögen zu verhindern. Daraus wird deutlich, dass ein schwacher vorläufiger Verwalter sich regelmäßig nicht von vornherein konfrontativ gegenüber der Geschäftsleitung verhalten wird, da diese insbesondere im Antragsverfahren entscheidenden Einfluss auf die Betriebsfortführung nehmen kann. 3.
Vorläufige Eigenverwaltung
Die Eigenverwaltung hat seit der Reform der §§ 270 ff. InsO durch das ESUG im Jahr 2012 26 erheblich an Bedeutung gewonnen. Gerade komplexere Unternehmensinsolvenzen werden zwischenzeitlich überwiegend in Form von Eigenverwaltungsverfahren durchgeführt. Ungeachtet dieses praktischen Erfolgs des ESUG haben verschiedene Entwicklungen in jüngerer Vergangenheit zu neuerlichen Änderungen des Eigenverwaltungsrechts geführt: Wie im ESUG von vorherein angelegt, hat ein Team von renommierten Gutachtern das 27 Gesetz im Jahr 2018 einer umfassenden Evaluation18) unterzogen. Im Ergebnis haben die Gutachter das ESUG für gelungen erachtet und empfohlen, die neuen Regelungen beizubehalten, da sie sich in der Praxis weitgehend bewährt hätten. In einzelnen Punkten haben die Gutachter i. R. der ESUG-Evaluation aber einen gewissen Reformbedarf konstatiert, insbesondere mit Blick auf die vorläufige Eigenverwaltung und gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in Insolvenzplänen.19) Zusätzlich haben Rechtsentwicklungen auf europäischer Ebene Anlass zu Änderungen am bestehenden Eigenverwaltungsregime gegeben, wie insbesondere die Restrukturierungsrichtlinie,20) die sich mit der Vereinheitlichung von Möglichkeiten vorinsolvenzlicher Sanierungsverfahren und mit der europaweiten Schaffung von präventiven Restrukturierungsrahmen befasst. Schließlich haben auch die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie vorübergehende Anpassungen des fortzuentwickelnden und zu ergänzenden Sanierungs- und Insolvenzrechts an die durch die Krisenfolgen geprägte Sondersituation erforderlich gemacht. Das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren hat daraufhin durch das am 1.1.2021 in Kraft 28 getretene SanInsFoG21) wesentliche Änderungen erfahren. Vor dem Hintergrund der Pandemie war es Unternehmen jedoch möglich, für bis Ende 2021 beantragte Eigenverwaltungsverfahren die Anwendung der „alten“ Eigenverwaltungsvorschriften zu erwirken, sofern die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Schuldners auf die Pandemie zurückzuführen war. Die insolvenzrechtliche Praxis hat jedoch bereits im Jahr 2021 gezeigt, dass ___________ 17) In der Praxis werden jedoch regelmäßig vorläufige Insolvenzverwalter bestellt, ohne dass ihnen die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übertragen wird. 18) Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung. 19) Vgl. Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, Rz. 20, dort S. 302. 20) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 21) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256.
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§ 18
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
die Unternehmen und deren Berater in aller Regel dazu in der Lage waren, unabhängig von den Erleichterungen des COVInsAG, auch den neuen Anforderungen an Eigenverwaltungsverfahren zu entsprechen. Die Praxis hat sich nach Wahrnehmung der Verfasser somit äußerst schnell auf die neuen Regelungen eingestellt und war auch in vielen pandemiebedingten Fällen bereit, den neuen Regelungen in überobligatorischer Weise nachzukommen. Dies liegt vor allem darin begründet, dass in den §§ 270a ff. InsO nunmehr formelle Anforderungen statuiert sind, die sich in der insolvenzrechtlichen Praxis bereits vor der ausdrücklichen Kodifizierung i. R. des SanInsFoG etabliert hatten: 29 Stellt der Schuldner einen Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung hat er diesem nach § 270a Abs. 1 InsO eine umfangreiche Eigenverwaltungsplanung beizulegen. Der wohl wichtigste Aspekt der Planung ist ein umfängliches Konzept zur Durchführung des Insolvenzverfahrens.22) Das Konzept soll die Ziele der Eigenverwaltung und die Maßnahmen zu ihrer Zweckerreichung enthalten. Dazu ist eine Darstellung von Art, Ausmaß und Ursache der Krise vonnöten. Auf dem Konzept wiederum bauen die weiteren Bestandteile der Eigenverwaltungsplanung, wie bspw. die im Finanzplan veranschlagten Kosten auf.23) Überdies sind Darstellungen zu Verhandlungen mit Gläubigern, Vorkehrungen zur Sicherstellung insolvenzrechtlicher Pflichten und ein Kostenvergleich zum Regelinsolvenzverfahren notwendig. Daneben hat der Schuldner Erklärungen zu verschiedenen Sachverhalten, wie dem Verzug mit der Erfüllung von Verbindlichkeiten, vorangegangenen Verwertungsoder Vollstreckungssperren sowie die Einhaltung der Offenlegungspflichten, abzugeben.24) 30 Für die Erstellung können – und sollten aufgrund der Komplexität – externe Berater beauftragt werden.25) Ist die Eigenverwaltungsplanung vollständig und schlüssig und sind keine Umstände bekannt, aus denen sich ergibt, dass die Eigenverwaltung in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden Tatsachen beruht, so ordnet das Gericht die vorläufige Eigenverwaltung an und bestellt einen vorläufigen Sachverwalter (§ 270b Abs. 1 InsO). Wesentliche Änderungen der Eigenverwaltungsplanung hat der Schuldner dem Gericht und dem vorläufigen Sachwalter unverzüglich mitzuteilen, da ein Verstoß die Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung zur Folge hat.26) 3.1
Schutzschirmverfahren
31 Das in § 270d InsO normierte Schutzschirmverfahren stellt einen Sonderfall der vorläufigen Eigenverwaltung dar und ermöglicht dem Schuldner der frühzeitig einen Insolvenzantrag stellt, ein Insolvenzverfahren mit dem Ziel der Sanierung mittels Insolvenzplan.27) Bei der Antragsstellung ist notwendigerweise eine begründete Bescheinigung einer in Insolvenzsachen erfahrenen Person vorzulegen, die bescheinigt, dass der Schuldner nicht zahlungsunfähig oder überschuldet ist und die Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist. Durch die Vereinheitlichung der Anordnungsvoraussetzungen mit dem vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren hat das Schutzschirmverfahren jedoch erheblich an Bedeutung verloren.28) Wesentlicher Vorteil ist neben dem positiven Image29), das Vorschlagsrecht eines vorläufigen Sachwalters gemäß § 270d Abs. 2 Satz 2 InsO. ___________ 22) 23) 24) 25) 26) 27) 28) 29)
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Harig/Höfer/Reus, NZI 2021, 993, 994. Harig/Höfer/Reus, NZI 2021, 993, 994. Vgl. Kreutz/Ellers in: BeckOK-InsR, § 270a InsO Rz. 21. Harder in: Kluth/Harder/Harig/Kunz, Das neue Restrukturierungsrecht, § 18 Rz. 16; Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 204. Vgl. Harder in: Kluth/Harder/Harig/Kunz, Das neue Restrukturierungsrecht, § 18 Rz. 71. Lambrecht in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 28 Rz. 1. Vgl. Braun-Riggert, InsO, § 270d Rz. 1. Vgl. Harder in: Kluth/Harder/Harig/Kunz, Das neue Restrukturierungsrecht, § 18 Rz. 104.
Flitsch/Birnbreier
Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential 3.2
§ 18
Rechtsstellung der Geschäftsleitungsorgane30)
3.2.1 Vollumfängliche Beibehaltung der bisherigen Rechtsposition Das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren ist eine besondere Art des vorläufigen Insol- 32 venzverfahrens. Der Schuldner kann weiterhin ohne Zustimmung eines Insolvenzverwalters die Insolvenzmasse verwalten und über sie verfügen. Er wird mithin nicht in seiner Verfügungsgewalt nach § 21 InsO eingeschränkt. Anstelle eines vorläufigen Insolvenzverwalters wird ein vorläufiger Sachwalter bestellt. Der vorläufige Sachwalter führt das schuldnerische Unternehmen nicht selbst fort, sondern hat nur dessen Fortführung durch den Schuldner zu überwachen.31) Darüber hinaus kann das Gericht anordnen, dass der vorläufige Sachwalter unterstützend tätig werden soll; etwa i. R. der Insolvenzgeldvorfinanzierung, der insolvenzrechtlichen Buchführung oder bei Verhandlungen mit Kunden und Lieferanten (§ 274 Abs. 2 Satz 2 InsO). Betriebsleitende Entscheidungen können deshalb in uneingeschränkter Weise für eine 33 Betriebsfortführung eigenständig durch die bisherige Geschäftsleitung getroffen werden. Dies gilt sowohl für strategische oder operative Entscheidungen als auch für arbeitsrechtliche Einzel- oder Kollektiventscheidungen. Da es sich bei der Betriebsfortführung durch die Geschäftsleitung im vorläufigen Eigen- 34 verwaltungsverfahren weiterhin um Tätigkeiten i. R. eines Insolvenzeröffnungsverfahrens handelt, sind von der Geschäftsleitung gleichwohl die sonstigen insolvenzrechtlichen Regularien zu beachten. Insbesondere gelten dieselben Haftungsansprüche nach § 15b Abs. 4 InsO. Auch bei einer Betriebsfortführung darf die Geschäftsleitung bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit keine Zahlungen mehr auf Altverbindlichkeiten leisten.32) Ebenfalls insolvenzrechtlich „eingeschränkt“ ist der Schuldner durch die zu beachtenden 35 Aus- und Absonderungsrechte, die bereits im vorläufigen Insolvenzverfahren ihre Geltung beanspruchen. Zwar kann sich die Geschäftsleitung während des Schutzschirmverfahrens auch auf die üblichen insolvenzrechtlichen Schutzmechanismen berufen (z. B. Kündigungssperren, aufschiebendes Erfüllungswahlrecht bis zum Berichtstermin bei Eigentumsvorbehaltsware etc.). Gleichwohl sind allerdings – analog zu einem vorläufigen Insolvenzverwalter – Sicherungsmaßnahmen in Form von Inventarisierung und Inventur zum Antragsstichtag vorzunehmen. 3.2.2 Verstärkung des sanierungs- und insolvenzrechtlichen Knowhows durch einen CRO als zusätzliches Organ oder Berater Damit die Geschäftsleitung des Schuldnerunternehmens die genannten insolvenzrechtlichen 36 Vorgaben während einer vorläufigen Eigenverwaltung beachtet und sich nicht selbst potentiellen Haftungsansprüche aussetzt, ist es üblich und sachgemäß, dass die bisherige Geschäftsleitung durch einen sog. „Chief Restructuring Officer“ (CRO) ergänzt wird.33) Hierbei handelt es sich üblicherweise um einen Insolvenzrechtsspezialisten, der auch bei allen Beteiligten Gläubigergruppen dafür sorgen kann, dass das nötige Vertrauen in die schuldnerische Eigenverwaltung beibehalten oder neu gewonnen wird.34) Die Implementierung eines CRO kann in unterschiedlicher Weise erfolgen. Entweder erfolgt dies i. R. ___________ 30) Vgl. dazu eine Übersicht über sämtliche Rechte und Pflichten des eigenverwaltenden Schuldners, Ellers in: BeckOK-InsR, § 270 InsO Rz. 13. 31) BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, NZI 2016, 796 Rz. 66; Plaßmeier/Ellers in: BeckOK-InsR, § 274 InsO Rz. 21. 32) Vgl. dazu auch Koch/Jung in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 5 Rz. 73. 33) S. zur Rolle eines CRO in der Unternehmenskrise ausführlich Simon/Kraus in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 38; Thiele, ZInsO 2015, 877. 34) S. dazu auch Hofmann in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 4 Rz. 186.
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§ 18
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
eines Beraterstatus oder aber sogar durch den Eintritt in die formale Organstellung als zusätzlicher Restrukturierungs-Geschäftsführer. 3.3
Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten
37 Ausfluss der vorläufigen Eigenverwaltung ist es auch, dass der Schuldner durch seine bisherige (oder neu bestellte bzw. insolvenzrechtlich verstärkte) Geschäftsleitung Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 InsO begründen kann.35) Voraussetzung hierfür ist allerdings nach § 270c Abs. 4 Satz 1 InsO, dass der Schuldner dies ausdrücklich beantragt. Einen Anspruch hat der Schuldner – wie § 270c Abs. 4 Satz 2 InsO feststellt – nur zur Begründung von Masseverbindlichkeiten, welche im Finanzplan (siehe oben Rz. 29) berücksichtigt worden sind. Die Befugnis zur Begründung sonstiger Masseverbindlichkeiten steht im gerichtlichen Ermessen.36) Durch Ermächtigung des Schuldners zur Begründung von Masseverbindlichkeiten wird der Schuldner im Hinblick auf die Betriebsfortführung während des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens gestärkt. Er kann – gleich einem vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis37) – die Geschicke der Unternehmung autonom weiterlenken und die erforderlichen Maßnahmen in Form von Einkäufen, Warenentnahmen, Abschluss von sonstigen Dienstleistungsverträgen etc. treffen.38) 3.3.1 Haftung für Masseverbindlichkeiten, die während des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens begründet wurden 38 Die Masseverbindlichkeiten, die i. R. eines Beschlusses nach § 270c Abs. 4 Satz 1 InsO begründet wurden, gelten nach § 270c Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 55 Abs. 2 InsO auch im eröffneten Verfahren als Masseverbindlichkeiten. Hierin ausdrücklich eingeschlossen sind auch Verbindlichkeiten aus einem Dauerschuldverhältnis, soweit die Gegenleistung für das verwaltete Vermögen in Anspruch genommen wurde. Diese Ansprüche teilen – z. B. bei einer etwaigen Masseunzulänglichkeit nach Verfahrenseröffnung – damit das Schicksal der übrigen Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 InsO im eröffneten Insolvenzverfahren. Dies hat aus Sicht des Schuldners den sehr großen Vorteil, dass Verbindlichkeiten aus der Betriebsfortführung innerhalb der üblichen Zahlungsziele beglichen werden können und nicht etwa zwingend flächendeckend auf eine (oftmals ohnehin nachgefragte) Vorkasseregelung umgestellt werden muss.39) 39 Für Gläubiger, die während der vorläufigen Eigenverwaltung Forderungen mit Masseschuldcharakter generieren, empfiehlt sich deshalb nach wie vor die genauere Überprüfung dahingehend, ob Sicherungsrechte bereits bestehen (z. B. aufgrund von einfachen Eigentumsvorbehaltsrechten) oder ob zusätzliche Sicherungsinstrumente notwendig sind, für den Fall, dass im eröffneten Verfahren nicht genügend Insolvenzmasse vorhanden sein sollte. 3.3.2 Haftungsmasse 40 Als Haftungsmasse steht für den Gläubiger, der bei einer Betriebsfortführung während des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens gegenüber dem Schuldner Forderungen mit Masseschuldcharakter generiert hat, zunächst nur die (spätere) Insolvenzmasse zur Verfügung. Reicht diese bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht aus, um die fälligen Masseverbindlichkeiten vollumfänglich zu befriedigen, so werden die Geschäftsleitung bzw. ___________ 35) 36) 37) 38) 39)
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Vgl. dazu auch Koch/Jung in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 5 Rz. 102 ff. Braun-Riggert, InsO, § 270c Rz. 11. Vgl. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 270b a. F. Rz. 70. S. a. Fiebig in: HambKomm-InsO, § 270b Rz. 25 f. Vgl. Koch/Jung in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 5 Rz. 102 ff.
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Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential
§ 18
der Sachwalter bei einer Eigenverwaltung oder aber auch der Insolvenzverwalter bei einer Regelverfahrensabwicklung die Masseunzulänglichkeit nach § 208 InsO anzeigen. Der Gläubiger muss in einem solchen Fall dann auf eine entsprechende Masseschuldquote hoffen. Für den Gläubiger, welcher i. R. eines vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens neue Ver- 41 bindlichkeiten zu seinen Lasten begründen lässt, stellt sich damit die schwierige Situation, dass die Finanzverhältnisse seines Vertragspartners, der sich ja bereits in einem insolvenzrechtlichen Verfahren befindet, noch schwieriger einsehbar bzw. überprüfbar sind, als dies bereits zuvor außerhalb der Insolvenz war. Während die Finanzkraft bzw. die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Vertragspartners außerhalb der Insolvenz zumindest einigermaßen über branchenübliche Informationsdienste (Rating bei den Warenkreditversicherern, Auskünfte über Creditreform oder Schufa) greifbar ist, fehlen solche Anhaltspunkte nach Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung vollständig. Der Gläubiger weiß in dieser Situation nur, dass die Finanzmittel nicht für alle fällig werdenden Verbindlichkeiten ausgereicht haben. Wie stark oder wie schwach die finanzielle Leistungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Anordnung eines vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens ist bzw. sein wird, ist für ihn in keiner Weise mehr einsehbar. Zusätzlich riskant wird die Situation für ihn dadurch, dass er zwar generell davon ausgehen 42 kann, dass die freie Insolvenzmasse als Haftungsmasse für die neu generierten Verbindlichkeiten zur Verfügung steht. Nicht einsehbar ist allerdings die Sachlage dahingehend, welche Vermögensgegenstände überhaupt als „freie“ Insolvenzmasse zur Verfügung stehen und welche bereits vor Antragsstellung mit Sicherungsrechten zugunsten anderer Gläubiger belegt waren. Die Frage nach einer potentiellen persönlichen Haftung wird deshalb ebenfalls recht schnell virulent werden. 3.3.3 Persönliche Haftung der Geschäftsleitungsorgane, Haftungsmaßstab Der Sachwalter haftet grundsätzlich nicht für Masseverbindlichkeiten, die im Schutzschirm- 43 verfahren begründet wurden. Denn die Ermächtigung nach § 270c Abs. 4 InsO wird dem Schuldner erteilt, nicht dem Sachwalter. Vor der Neufassung des vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens durch das SanInsFoG gab es keine ausdrückliche Regelung zur Haftung der Geschäftsleitungsorgane.40) Nun normiert § 276a Abs. 2, 3 InsO, dass die Geschäftsleitungsorgane gleich eines Insolvenzverwalters im vorläufigen Regelverfahren haften. Sollten im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren begründete Masseverbindlichkeiten nicht beglichen werden können, sind die Geschäftsleitungsorgane einer Haftung nach §§ 60, 61 InsO unterworfen. V.
Die Rechtsstellung des Schuldners im eröffneten Insolvenzverfahren
1.
Übergang des Verwaltungs- und Verfügungsrechts
Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens verlieren der Schuldner bzw. die Geschäftsführungs- 44 organe einer Kapitalgesellschaft ihre Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis. Diese geht gemäß § 80 InsO auf den Insolvenzverwalter über. Sämtliche Maßnahmen i. R. einer Betriebsfortführung – mögen sie das reine Tagesgeschäft betreffen oder in ihrer Bedeutung darüber hinausgehen – sind fortan vom Insolvenzverwalter zu treffen.41) ___________ 40) Ellers in: BeckOK-InsR, § 276a InsO Rz. 54, 63. 41) Eine Ausnahme besteht hierbei gemäß § 35 Abs. 2 InsO im (bereits eröffneten) Insolvenzverfahren natürlicher Personen: Übt hier der Schuldner eine selbstständige Tätigkeit aus oder beabsichtigt er, demnächst eine solche Tätigkeit auszuüben, hat der Insolvenzverwalter ihm gegenüber zunächst zu erklären, ob Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können.
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§ 18
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
45 Dies bedeutet einerseits im operativen Geschäft, dass der Schuldner keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten mehr hat, wenn der Insolvenzverwalter i. R. einer angestrebten Sanierung die Betriebsfortführung dahingehend gestaltet, dass bspw. Produkte aus der Produktion genommen werden oder die Kundenstruktur bereinigt wird. Andererseits liegt es nach Verfahrenseröffnung auch in der ausschließlichen Entscheidungskompetenz des Insolvenzverwalters, arbeitsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen.42) Dies gilt in gleichem Maße für arbeitsrechtliche Einzelentscheidungen wie auch für Kollektivmaßnahmen, die ganze Arbeitnehmergruppen oder die gesamte Betriebsstruktur betreffen. 46 Für den Schuldner selbst verbleibt im eröffneten Insolvenzverfahren bei einer Betriebsfortführung lediglich der sog. insolvenzfreie Gesellschaftsbereich. Alle Aufgaben und Befugnisse, die dem sog. insolvenzrechtlichen Verdrängungsbereich zuzuordnen sind, unterstehen der ausschließlichen Verwaltungsbefugnis des Insolvenzverwalters. Trotz dieser weitgehenden Verdrängung seiner Befugnisse durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist der Schuldner in mehrfacher Hinsicht verpflichtet, aktiv am Insolvenzverfahren mitzuwirken. Umgekehrt ist er nicht auf bloße „Duldung“ beschränkt, sondern hat die Möglichkeit, das Insolvenzverfahren aktiv durch vielfältige Gestaltungsbefugnisse zu beeinflussen.43) 2.
Auskunftspflicht des Schuldners im eröffneten Verfahren
47 Nach § 97 Abs. 1 InsO ist der Schuldner verpflichtet, dem Insolvenzgericht, dem Insolvenzverwalter, dem Gläubigerausschuss und auf Anordnung des Gerichts der Gläubigerversammlung über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse Auskunft zu geben. Hierbei hat der Schuldner auch diejenigen Tatsachen zu offenbaren, die geeignet sind, eine Verfolgung wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit herbeizuführen. Jedoch darf eine Auskunft, die der Schuldner gemäß seiner Verpflichtung nach Satz 1 erteilt, in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten gegen den Schuldner oder einen in § 52 Abs. 1 StPO bezeichneten Angehörigen des Schuldners nur mit Zustimmung des Schuldners verwendet werden. 48 Präzisiert werden Inhalt und Umfang der Mitwirkungspflichten in § 97 Abs. 3 InsO: Der Schuldner ist verpflichtet, sich auf Anordnung des Gerichts jederzeit zur Verfügung zu stellen, um seine Auskunfts- und Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Er hat alle Handlungen zu unterlassen, die der Erfüllung dieser Pflichten zuwiderlaufen. Die Auskunftspflicht besteht nicht nur für den Schuldner selbst, sondern auch insbesondere für die gesetzlichen Vertreter wie Geschäftsführer, Vorstände oder Liquidatoren.44) Der Schuldner hat dem Insolvenzverwalter Auskünfte zu den Vermögensverhältnissen, dem Gläubigerund Schuldnerverzeichnis und den Ursachen der Krise zu geben, ebenso wie zu Anfechtungslagen, Auslandsvermögen und Sachverhalten, die unmittelbar oder mittelbar die Insolvenzmasse betreffen.45) In zeitlicher Hinsicht umfasst die Auskunftspflicht neben den vor der Insolvenzantragstellung liegenden Umständen auch alle während des Verfahrens neu hinzutretenden Umstände.46) 49 Damit zusammenhängend sind vom Schuldner auch eigenschädliche Umstände zu offenbaren, selbst wenn sie ihn einer Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit aussetzen (§ 97 Abs. 1 Satz 2 InsO). Zwar dürfen die entsprechenden Angaben nicht ohne seine Zustimmung in einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen ihn oder ___________ 42) 43) 44) 45) 46)
700
App in: FK-InsO, § 80 Rz. 15. Pechartschek in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 18 Rz. 5. Grub in: Kölner Schrift zur InsO, S. 513, 527 Rz. 44. Pechartschek in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 18 Rz. 6; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 97 Rz. 7. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 97 Rz. 7; Kramer in: BeckOK-InsR, § 97 InsO Rz. 20.
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Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential
§ 18
seine nahen Angehörigen verwendet werden (§ 97 Abs. 1 Satz 2 InsO). Voll verwertbar sind die vom Schuldner offenbarten Umstände dagegen im Hinblick auf eine zivilrechtliche Haftung.47) Ergeben sich aus den Auskünften des Schuldners Anzeichen oder Beweise für eine verspätete Insolvenzantragstellung, so hat der Insolvenzverwalter regelmäßig Ansprüche gegen die Unternehmensleitung, etwa nach § 15b InsO durchzusetzen. Allerdings hat der BGH zwischenzeitlich entschieden, dass die Organe nicht verpflichtet sind, über ihre eigenen Vermögensverhältnisse und die Realisierbarkeit etwaiger gegen ihn gerichteter Ansprüche Angaben zu machen.48) 3.
Einsichtsrecht des Schuldners im eröffneten Verfahren
Mit den unter Rz. 47 dargestellten Auskunftspflichten der schuldnerischen Unternehmens- 50 leitung korrespondieren keine entsprechenden Rechte, ihrerseits Auskunft über verfahrenserhebliche Informationen vom Insolvenzverwalter zu erhalten. Ob der Insolvenzverwalter somit im Einzelfall Auskunft erteilt, ist seinem pflichtgemäßen Ermessen vorbehalten.49) Der Schuldner ist für den Fall, dass der Insolvenzverwalter seine Informationen nicht freiwillig mit ihm teilt, grundsätzlich auf die Einsicht in die Insolvenzakte angewiesen.50) Insoweit kommt dem Insolvenzverwalter indes regelmäßig ein beträchtlicher Informationsvorsprung zugute, da er (innerhalb der gesetzlichen Grenzen) bestimmen kann, wann welche Information Eingang in die Insolvenzakte findet. Beispiel: Will der Schuldner sich bspw. umfänglich über Verhandlungen im Zuge eines Asset Deals informieren und insoweit ggf. gestaltend mitwirken, ist er hierzu regelmäßig auf die Zustimmung seitens des Insolvenzverwalters angewiesen. Wie eingangs bereits beschrieben, liegt häufig ein Näheverhältnis zwischen der schuldnerischen Unternehmensleitung und der Interessenten- bzw. Erwerberseite vor. In derartig gelagerten Fällen werden Schuldnervertreter regelmäßig versuchen, über diesen Weg Informationen über den Verkaufsprozess zu erhalten. Die Verwalterpraxis sichert dieses Risiko regelmäßig durch entsprechende (ggf. bereits vorvertraglich vereinbarte) Verschwiegenheitsklauseln ab. 4.
Rechte des Schuldners bei Betriebsstilllegung
Nach dem gesetzlichen Leitbild hat der Insolvenzverwalter das schuldnerische Unternehmen 51 bis mindestens zum Berichtstermin fortzuführen. Ist ihm dies aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich, so hat der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 158 Abs. 1 InsO die Zustimmung des Gläubigerausschusses einzuholen. Das Insolvenzgericht untersagt allerdings auch auf Antrag des Schuldners und nach Anhörung des Insolvenzverwalters die Stilllegung oder Veräußerung, wenn diese ohne eine erhebliche Verminderung der Insolvenzmasse bis zum Berichtstermin aufgeschoben werden kann (§ 158 Abs. 2 Satz 2 InsO). Der Schuldner kann deshalb i. S. einer Betriebsfortführung des Unternehmens bei wirt- 52 schaftlicher Vertretbarkeit Gegenmaßnahmen gegen eine Stilllegung einleiten. Er muss, um Erfolgsaussichten zu haben, seinen Untersagungsantrag nach § 158 Abs. 2 Satz 2 InsO ___________ 47) Vgl. hierzu Hohnel, NZI 2005, 152; Uhlenbruck, NZI 2002, 401, 403 f. 48) BGH, Beschl. v. 5.3.2015 – IX ZB 62/14, ZInsO 2015, 740 ff = ZIP 2015, 791, vgl. hierzu Laroche, ZInsO 2015, 2511; Weyand, ZInsO 2015, 1948. 49) In der Regel reichen hierbei die dargelegten Anhörungs-, Anwesenheits- und Einsichtsrechte aus; s. Pechartschek in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 18 Rz. 18. 50) Das Recht zur Einsicht in Gerichtsakten ergibt sich aus § 4 InsO i. V. m. § 299 ZPO. Dem Schuldner wird regelmäßig bereits im Antragsverfahren Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle des Gerichts gewährt.
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
allerdings ausreichend begründen und darlegen, weshalb keine wesentliche Verminderung der Insolvenzmasse durch die Betriebsfortführung zu befürchten ist.51) 53 Gleiches gilt für die Situation im vorläufigen Insolvenzverfahren. Die InsO geht davon aus, dass der Schuldner selbst bzw. dessen Organe die Fortführung des Unternehmens betreiben. Für den vorläufigen Insolvenzverwalter, dem die vollumfängliche Verwaltungsund Verfügungsbefugnis übertragen wurde, regelt § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO ausdrücklich, dass er das Unternehmen, das der Schuldner betreibt, bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens fortzuführen hat. Eine Stilllegung kann auch der vorläufige Insolvenzverwalter nur dann betreiben, wenn das Insolvenzgericht einer solchen ausdrücklich zustimmt, um eine erhebliche Verminderung des Vermögens zu vermeiden (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO). 5.
Eigenverwaltungsbefugnis, Insolvenzplaninitiative
5.1
Befugnis zur Fortsetzung der Eigenverwaltung
54 Im Anschluss an ein Verfahren in vorläufiger Eigenverwaltung führt der Insolvenzschuldner die Eigenverwaltung ebenfalls – sofern keine wesentlichen Nachteile für die Gläubiger zu erwarten sind und das Verfahren deshalb nach § 270e InsO aufgehoben werden muss – im eröffneten Verfahren fort. In diesem Zusammenhang werden dann sämtliche Entscheidungen, die für eine erfolgreiche Betriebsfortführung getroffen werden müssen, vom Schuldner selbst unter Aufsicht des gerichtlich bestellten Sachwalters getroffen (zu den Einzelheiten der Eigenverwaltung siehe oben Spies, § 17). 55 Aber auch dann, wenn keine Eigenverwaltung im Insolvenzverfahren stattfindet, sondern die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf einen Insolvenzverwalter übergegangen ist, verbleiben dem Schuldner, der an einer Betriebsfortführung interessiert ist, mehrere Möglichkeiten, aktiv auf das Insolvenzverfahren Einfluss zu nehmen: 5.2
Vorlage eines Insolvenzplans
56 Nach § 218 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Schuldner neben dem Insolvenzverwalter gleichberechtigt dazu befugt, einen Insolvenzplan vorzulegen.52) Die Vorlage des Insolvenzplans durch den Schuldner erfolgt völlig autonom. Die Regelung in § 218 Abs. 3 InsO, wonach bei der Aufstellung des Plans durch den Verwalter der Gläubigerausschuss, der Betriebsrat, der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten und schuldnerberatend mitwirken, greift nicht (auch nicht teilweise) bei einem Eigeninsolvenzplan, der durch den Schuldner aufgestellt wird. Wird also der Insolvenzverwalter nicht tätig, so bleibt es dem Schuldner unbenommen, zur Betriebsfortführung auf mittelfristiger Ebene einen Insolvenzplan selbst zu erstellen bzw. in Auftrag zu geben. Eine Kostentragung bzw. -erstattung durch die Insolvenzmasse erfolgt hierbei allerdings auch nicht.53) 57 Weiterhin kann der Schuldner i. S. einer Betriebsfortführung und Rettung der Unternehmenseinheit gemäß § 233 Satz 1 InsO die Aussetzung der Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse beantragen, wenn durch eine solche die Durchführung eines vorgelegten ___________ 51) Decker in: HambKomm-InsO, § 158 Rz. 9, weist ausdrücklich darauf hin, dass die gesetzliche Regelung zwar diese Darlegung durch den Schuldner nicht zwingend verlangt, gleichwohl aber die Erfolgsaussichten nur dann gegeben sein werden, wenn dem Insolvenzgericht entsprechende Informationen zur Verfügung gestellt werden. Denn der Insolvenzverwalter, der anzuhören ist, wird seine Entscheidung zur Betriebseinstellung ebenfalls entsprechend begründen. 52) S. dazu näher Jaffé in: FK-InsO, § 218 Rz. 6 ff. 53) Jaffé in: FK-InsO, § 218 Rz. 22.
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Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential
§ 18
Insolvenzplans gefährdet würde.54) Dies bedeutet, dass auch der Schuldner – neben dem Insolvenzverwalter – gerichtliche Maßnahmen ergreifen kann, um die Betriebsfortführung (auch wenn er nicht in Eigenverwaltung handelt) sicherzustellen. 5.3
Widerspruchsmöglichkeiten gegen „Fremdinsolvenzplan“ (§ 247 InsO)
Der Schuldner kann nach dem gesetzgeberischen Leitbild einem Insolvenzplan, der nicht 58 durch ihn selbst, sondern durch den Insolvenzverwalter erstellt wurde, nach § 247 Abs. 1 widersprechen. Allerdings gilt die Zustimmung als erteilt, wenn der Schuldner nicht spätestens im Abstimmungstermin schriftlich widerspricht. Zudem verhindert die InsO in § 247 Abs. 2 InsO den rechtsmissbräuchlichen Widerspruch bereits dadurch, dass der Widerspruch als unbeachtlich angesehen wird, wenn der Schuldner durch den Plan voraussichtlich nicht schlechtergestellt wird und kein Gläubiger durch den Plan mehr erhält als ihm nominal zusteht. 6.
Restzuständigkeiten im höchstpersönlichen und insolvenzfreien Gesellschaftsbereich
Die Entscheidungskompetenz der schuldnerischen Unternehmensleitung wird jedoch nur 59 insoweit durch die insolvenzrechtlichen Vorgaben beschränkt, als die Verfahrensziele es gebieten; daher besteht neben dem insolvenzrechtlichen Verdrängungsbereich ein insolvenzfreier Bereich, innerhalb dessen der Schuldner uneingeschränkt entscheidungsbefugt bleibt: Nicht übertragbare Rechte Zunächst bleibt der Schuldner weiterhin Eigentümer der massezugehörigen Sachen und 60 Rechte und wird auch aus höchstpersönlichen, nicht übertragbaren Rechtsmachtstellungen nicht verdrängt.55) Dies gilt bspw. für Persönlichkeitsrechte und daraus resultierende Abwehrmaßnahmen. Gleiches gilt etwa für die kassenärztliche Zulassung eines insolventen Vertragsarztes.56) 6.1
Insolvenzfreier Gesellschaftsbereich
6.1.1 Registerrechtliche/börsenrechtliche Angelegenheiten Um die Kapitalmarktfähigkeit börsennotierter Gesellschaften zu erhalten, hat der Gesetz- 61 geber nicht davon abgesehen, den Vorstand einer börsennotierten AG bereits während des vorläufigen Insolvenzverfahrens oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von seinen Mitteilungspflichten nach dem WpHG zu entbinden. Vielmehr gelten diese auch während des vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahrens weiter fort.57) Dies mag in den Fällen, in denen eine Betriebsfortführung u. U. auch davon abhängen wird, dass frisches Kapital durch die Aktionärsseite zugeführt wird, durchaus Sinn machen. Eine Verlagerung von Zuständigkeiten hat i. R. der gesetzgeberischen Regelung hier jedoch 62 nicht stattgefunden.58) Dies bedeutet, dass der Schuldner bzw. seine Organe und nicht der Insolvenzverwalter zuständige Person i. S. des WpHG bleiben. Der Insolvenzverwalter (sogar bereits der vorläufige) muss dem Schuldner jedoch die erforderlichen finanziellen ___________ 54) Braun-Braun/Frank, InsO, § 233 Rz. 8, weisen zutreffend darauf hin, dass ein Aussetzungsantrag praktisch nur in den Fällen relevant werden wird, in denen der Schuldner selbst einen Insolvenzantrag vorgelegt hat. 55) Braun-Kroth, InsO, § 80 Rz. 11. 56) Vgl. Braun-Kroth, InsO, § 80 Rz. 11 m. w. N. 57) BVerwG, Urt. v. 13.4.2005 – 6 C 4.04, BVerwGE 123, 203, 206 ff. = NZI 2005, 510. 58) Vgl. Mock in: Gottwald/Haas, InsR-HdB, § 91 Rz. 113.
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
Mittel zur Verfügung stellen, damit die gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt werden können (vgl. § 24 Abs. 1 WpHG).59) 63 Bei börsennotierten Gesellschaften kann damit festgehalten werden, dass die bisherigen Organe nach Verfahrenseröffnung auch i. R. eines Regelinsolvenzverfahrens keineswegs ihre Aufgaben und Funktionen voll umfänglich verloren haben. Gerade im Hinblick auf kapitalmarktrechtliche Vorgaben muss auch während einer Betriebsfortführung gewährleistet bleiben, dass funktionierende und ordnungsgemäß besetzte Organgremien vorhanden sind. 6.1.2 Umfirmierung/Verkauf der „Handelsfirma“ 64 Kann die Betriebsfortführung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht innerhalb der bisherigen unternehmerischen Einheit, respektive der bisherigen Rechtsträger erfolgen, sondern muss im Zuge einer übertragenden Sanierung der Betrieb übertragen und innerhalb eines neuen Rechtsträgers fortgeführt werden, so kann es erforderlich sein, die bisherige Firma mitzuveräußern und den alten Rechtsträger ggf. umzufirmieren. Diese Vorgehensweise einer Veräußerung nebst Umfirmierung der alten (Abwicklungs-)Gesellschaft ist eine Vorgehensweise, die vom Unternehmenserwerber in der Praxis oft gefordert wird. Gerade um dem Grundsatz der Firmenklarheit Rechnung zu tragen, wird regelmäßig verlangt, die alte Firma aufzugeben. Die Firmenveräußerung, aber auch die Firmenänderung i. R. des Unternehmensverkaufs, fällt damit nicht mehr in die Hände des bisherigen Schuldners (oder seiner Gesellschafter), sondern obliegt dem Insolvenzverwalter. In diesem Bereich wird demnach der gesellschaftsrechtliche Zuständigkeitsbereich deutlich zugunsten des Insolvenzverwalters zurückgedrängt. 6.1.3 Organwechsel 65 Nicht vom insolvenzrechtlichen Verdrängungsbereich überlagert wird der Kompetenzbereich des Schuldners, welcher sich auf die gesellschaftsrechtliche Bestellung oder Abberufung von Organen bezieht.60) Bei Gesellschaftsorganen wird zwischen x
der dienst-/arbeitsrechtlichen Vertragsbeziehung einerseits und
x
der gesellschaftsrechtlichen Organbestellung
unterschieden. 66 Die dienstvertragliche Vereinbarung, in welcher neben der Vergütung des Geschäftsführers oder Vorstandes auch die sonstigen Rechte und Pflichten gegenüber der Gesellschaft geregelt sind, unterfällt – da sie vermögensrechtlich geprägten Charakter hat – dem insolvenzrechtlichen Verdrängungsbereich. Es obliegt damit dem Insolvenzverwalter, über die Fortsetzung oder Beendigung des Dienstvertrages zu entscheiden. 67 Anders hingegen verhält es sich bei der formalen gesellschaftsrechtlichen Organbestellung. Da diese Ausfluss der Gesellschafterrechte ist, kann der Insolvenzverwalter weder Organe abberufen noch neu bestellen.61) Zu einer Änderung im Handelsregister ist daher ebenfalls nur der Geschäftsführer/Vorstand eines Unternehmens antragsbefugt. 68 Eine Aufweichung dieser Trennlinie hat der Gesetzgeber nunmehr bei der Eigenverwaltung und vorläufigen Eigenverwaltung vorgenommen. Durch die Regelung des § 276a InsO ist ___________ 59) S. hierzu krit.: Wellensiek/Flitsch in: FS Fischer, S. 579, 599 Schwark/Zimmer-v. Hein, KapitalrechtsmarktKomm., § 24 WpHG Rz. 6. 60) Dazu ausführlich Wellensiek/Flitsch in: FS Fischer, S. 579, 586 f. 61) Nerlich/Römermann-Wittkowski/Kruth, InsO, § 80 Rz. 34; Göb in: Mohrbutter/Ringstmeier, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 27 Rz. 82.
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Flitsch/Birnbreier
Der Schuldner – Rechte, Pflichten, Konfliktpotential
§ 18
es den Gesellschaftern nicht mehr ohne weiteres möglich, einen unliebsam gewordenen Geschäftsführer als Organ abzuberufen und somit über den Hebel des Organtausches Einfluss auf die weitere Entwicklung des Insolvenzverfahrens zu nehmen.62) 6.1.4 Kapitalmaßnahmen Ebenfalls in den Bereich der insolvenzfreien Gesellschaftssphäre fallen Kapitalmaßnahmen 69 während des Insolvenzverfahrens. Um eine mittel- und langfristige Betriebsfortführung gewährleisten zu können, kann es erforderlich sein, dass während des Insolvenzverfahrens Kapitalmaßnahmen umgesetzt werden. So können bspw. Kapitalerhöhungen bereits während des Insolvenzverfahrens erfolgen. Das insolvenzrechtliche Regime hindert die Gesellschafter (GmbH-Anteilsinhaber oder Aktionäre) nicht daran, diese Kapitalerhöhung zu beschließen und umzusetzen. Gleiches gilt für die Kapitalherabsetzung (Kapitalschnitt), um denjenigen Gesellschaftern, die frisches Kapital zuführen auch entsprechend geänderte Mehrheitsverhältnisse zuweisen zu können. In diesem Kontext wird oftmals die Frage erörtert, wer die Kosten solcher Gesellschafter- 70 versammlungen zu tragen hat.63) Von größerer praktischer Relevanz ist diese Fragestellung allerdings nur im Hinblick auf (u. U. börsennotierte) AGs.64) Die Versammlung von GmbHGesellschaftern wird überwiegend nicht sehr kostenintensiv erfolgen müssen. Bei Kapitalmaßnahmen, die durch eine Hauptversammlung einer AG beschlossen werden, ist danach zu unterscheiden, welche Maßnahmen auf der Hauptversammlung beschlossen werden sollen. Handelt es sich um Maßnahmen, die der Sanierung und damit der Ermöglichung der Betriebsfortführung dienen, wird der Insolvenzverwalter keine Bedenken haben, die für eine Hauptversammlung anfallenden Kosten aus der Insolvenzmasse zu begleichen.65) Rein faktisch würde sonst eine Sanierung, die auch einen Beitrag seitens der Gesellschafter benötigt, bereits daran scheitern, dass neben dem insolvenzbefangenen Vermögen naturgemäß kein weiteres insolvenzfreies Gesellschaftsvermögen mehr vorhanden ist. Letztlich müsste ansonsten die Hauptversammlung durch die Gesellschafterkreise „gesponsert“ werden, was insbesondere einer börsennotierten Gesellschaft regelmäßig rein faktisch nicht möglich.
___________ 62) 63) 64) 65)
Vgl. Kübler/Prütting/Bork-Pape, InsO, § 276a Rz. 28 ff.; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker, InsO, § 276a Rz. 6. S. hierzu auch Uhlenbruck in: FS Lüer, S. 461, 471 f. Vgl. Wellensiek/Flitsch in: FS Fischer, S. 579, 588. Wenngleich auch durch die Einberufung einer Hauptversammlung nicht automatisch Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 InsO generiert werden; vgl. Oechsler, AG 2006, 606, 611; Homann in: Mohrbutter/ Ringstmeier, Hdb. Insolvenzverwaltung, § 26 Rz. 152; Wellensiek/Flitsch in: FS Fischer, S. 579, 588.
Flitsch/Birnbreier
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§ 19 Kommunikation in der Unternehmenskrise Voskuhl
Übersicht I. 1.
Einführung .................................................. 1 Unternehmenskommunikation allgemein ....................................................... 7 2. Kommunikation im Sonderfall Insolvenz .................................................... 13 3. Kommunikation bei ESUG-Verfahren und StaRUG ............................................... 17 II. Kommunikationsverantwortliche – Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Öffentlichkeit sowie Unternehmensführung und Belegschaft........................................................... 30 1. Organisation der Abteilung Unternehmenskommunikation................. 31 2. Aufgaben und Funktionen von Pressesprechern .................................................... 36 3. Exkurs: Arbeitsweise von Journalisten ..... 39 4. Zusammenarbeit von Pressesprecher, Insolvenzverwaltung, Restrukturierungsbeauftragten und Geschäftsführung ........ 46 III. Das Handwerkszeug von Pressesprechern in der Insolvenz....................... 49 1. Interne Kommunikation............................ 53 1.1 Das Informationsschreiben für Mitarbeiter ............................... 55 1.2 Intranet/Mitarbeiterportal ............ 56 1.3 Mitarbeiterversammlung ............... 60 1.4 Zeitschrift/Newsletter .................. 61 1.5 Sonderfall: Berichterstattung für Lokaljournalisten..................... 62 2. Externe Kommunikation ........................... 63 2.1 Presseverteiler................................ 64 2.2 Pressemitteilung ............................ 66 2.3 Pressekonferenz............................. 71 2.4 Hintergrundgespräch .................... 74 2.5 Das Wortlautinterview in Print-Produkten ........................ 75
2.6
Das Interview für Hörfunk und Fernsehen ............................... 76 3. Social Media in der Unternehmenskommunikation.......................................... 80 3.1 Soziale Netzwerke und Unternehmenskommunikation .............. 82 3.2 Soziale Netzwerke und Pressearbeit ................................... 86 3.3 Social Media in der Restrukturierung von Unternehmen und Organisationen .............................. 90 3.4 Aktive Kommunikation in der Krise – das richtige Maß an Transparenz finden................... 98 3.5 Aktive Kommunikation in der Krise – wie, wo und mit wem?.... 100 3.6 Fazit.............................................. 103 IV. Ablauf der Krisenkommunikation während einer Restrukturierung .......... 104 1. Aktion: Chronologischer Ablauf ............ 105 2. Reaktion: Kommunikative Handlungsoptionen auf mögliche Störfaktoren ....... 115 3. Umgang mit unfairer Berichterstattung ... 116 4. Die wichtigsten Regeln für die Krisenund Insolvenzkommunikation ................ 117 V. Exkurs: Die Medien in Deutschland .... 118 1. Medien in Deutschland und ihre Glaubwürdigkeit ............................... 118 2. Printmedien .............................................. 123 2.1 Auflagen im Vergleich................. 124 2.2 Lokale Tageszeitungen: Häufig unterschätzt – aber meistgenutzte Informationsquelle ........................................... 128 2.3 Fachzeitschriften ......................... 130 3. Rundfunk und Fernsehen........................ 131 4. Internet ..................................................... 133
Literatur: Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Bd. 1, 1999: Grundlagen der Kommunikationswissenschaft; Moss, Der Newsroom in der Unternehmenskommunikation – Wie sich Themen effizient steuern lassen, 2016; Plauschinat/Klaus, Web-Monitoring – Methodik zur Beobachtung von Social Media für die Meinungsanalyse, in: Scherfer/Volpers (Hrsg.): Methoden der Webwissenschaften – Ein Handbuch, Bd. 1: Anwendungsbezogene Methoden, 2013; Ramelsberger/Rossié, Medientraining kompakt: 150 konkrete Tipps für den Umgang mit Journalisten von Presse, Nachrichtenagenturen, Hörfunk und Fernsehen, 2011; Rommerskirchen/Roslon, Einführung in die moderne Unternehmenskommunikation, Grundlagen, Theorien und Praxis, 2020; Schick, Interne Unternehmenskommunikation: Strategien entwickeln, Strukturen schaffen, Prozesse steuern, 5. Aufl., 2014; Stumpp et.al, Social Media Handbuch, 4. Aufl., 2021; Watzlawick/Beavin Bavelas/Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 11. Aufl., 2007; Zerfaß/Piwinger/Röttger, Handbuch Unternehmenskommunikation. 3. Aufl., 2022.
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§ 19 I.
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation Einführung
1 Ein Unternehmen in der Krise verursacht bei den Beteiligten Verunsicherung. Dies zeigt sich häufig durch Ängste, etwa vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem möglichen finanziellen Schaden etwa bei Lieferanten oder Anleihezeichnern, aber auch vor dem Imageschaden von Geschäftsführern oder – vor allem bei Familienunternehmen – der Gesellschafter. Ein Unternehmen in der Krise steht aber auch vor Veränderungen, wenn es wieder in die Erfolgsspur gebracht werden soll. Wer verändern will, muss die Beteiligten von der Notwendigkeit von Anpassungen überzeugen und sie während der Restrukturierungsphase mitnehmen. 2 Unabhängig von der Wahl aus der Palette der Restrukturierungsmöglichkeiten, gibt es in jedem Verfahren verschiedene Zielgruppen, die unterschiedliche Interessen verfolgen, auf Informationen warten und eingebunden werden möchten. Auf den folgenden Seiten wird dargestellt, was die Verantwortlichen in einer Restrukturierung hinsichtlich der Kommunikation gegenüber den Zielgruppen, insbesondere den Beschäftigten und Medien beachten sollten und wie geeignete Kommunikationsmaßnahmen die Chance auf eine erfolgreiche Sanierung erhöhen können. 3 Krisenkommunikation hat keinen Inselstatus, sondern ist Bestandteil der strategischen Unternehmenskommunikation und nutzt deren Struktur. Zum besseren Verständnis wird deshalb im Folgenden ein ganzheitliches Bild aufgezeigt. Dazu zählen die wesentlichen Formen und Hintergründe der Unternehmenskommunikation1), die verschiedenen Instrumente der internen und externen Kommunikation sowie Arbeitsweisen von Journalisten. Kenntnisse über die Medienwelt in Deutschland helfen, um in der gebotenen Eile Krisenkommunikation realistisch gestalten und umsetzen zu können. 4 In einem Abschnitt wird explizit ein Augenmerk auf den Bereich Social Media (Stichwort Web 2.0) geworfen (siehe Rz. 80 ff.), denn über Facebook, Twitter, LinkedIn und Co. laufen seit längerer Zeit auch viele Kommunikationsaktivitäten zahlreicher Unternehmen. Diese Aktivitäten aber sind vor allem auf das Marketing ausgerichtet oder dienen dem Aufbau eines positiven Images und der Reputation. In der Unternehmenskrise aber, insbesondere in einer komplexen Restrukturierung, müssen die Verantwortlichen sehr genau hinschauen, ob und wie sie die in Frage kommende Social Media-Kanäle bedienen, denn hier gelten andere Gesetze. Zwar muss Social Media bei ungerechtfertigten Vorwürfen oder gar Verleumdungen auch juristische Grundsätze beachten. Mit Social Media aber gehen die Unternehmen in einen nur schwer kontrollierbaren direkten Dialog mit den Usern, in der eherne Grundsätze, die es bspw. im Journalismus gibt, kaum eine Rolle spielen. 5 An dieser Stelle sei daraufhin gewiesen, dass sich die kommenden Ausführungen vor allem auf die Krisenkommunikation beziehen, die durch wirtschaftliche Schwierigkeiten in einem Unternehmen bzw. einer Organisation ausgelöst werden und eine Restrukturierung etwa über ein Insolvenzverfahren, über ESUG oder über das StaRUG notwendig machen. Gestaltung und Umsetzung einer Krisenkommunikation z. B. bei einem Chemieunfall, bei Störungen im Prozess der Lebensmittelindustrie oder bei Rückrufrufaktionen schadhafter Produkte, wird an einigen Punkten sicher anders ausfallen müssen. 6 Noch ein Hinweis: Kommunikation bedeutet Sprache und Sprache verändert sich. Derzeit wird in Deutschland viel und kontrovers über das Für und Wider vom Gendern in der ___________ 1) Zum Begriff der Unternehmenskommunikation gilt es die Bereiche Werbung und Marketing abzugrenzen, wobei es an verschiedenen Stellen Überschneidungen gibt. Werbung ist ein kurzfristiges Mittel mit dem Zweck, Bedürfnisse zu wecken, den Geschmack der Kunden zu beeinflussen, (neue) Produkte bekannt zu machen sowie Absatz und Marktanteil der Produkte zu erhöhen. Das Marketing ist demgegenüber eine mittel- bis langfristige Strategie für Produkte oder Marken eines Unternehmens.
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
§ 19
deutschen Sprache diskutiert. Immer mehr Medien – sowohl im Print als auch im Hörfunk und TV – übernehmen mittlerweile Formen zum Gendern in ihren Beiträgen. Der Duden hat bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Empfehlung ausgesprochen. Für die Kommunikation gilt es grundsätzlich, sich an der Zielgruppe zu orientieren, denn der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Wer sich in der Unternehmenskommunikation für eine nicht angemessene Sprachform entscheidet, macht sich womöglich angreifbar, so dass die eigentliche Information in den Hintergrund treten könnte. Im Folgenden wurde versucht, möglichst neutrale Sprachformen zu nutzen. Nicht immer ist das aus Gründen der Lesbarkeit möglich. Wenn nur eine Sprachform verwendet wird, sind damit ausdrücklich alle Geschlechter gemeint. 1.
Unternehmenskommunikation allgemein
Über Aufgaben und Funktion der Kommunikation allgemein aber auch der Unterneh- 7 menskommunikation im Besonderen gibt es eine Vielzahl von Zitaten, die regelmäßig bemüht werden. Vielleicht aber ist keines so passend wie das des österreichischen Kommunikationswissenschaftlers und Philosophen Paul Watzlawick (1921 – 2007). Er schrieb: „Man kann nicht nicht kommunizieren, denn jede Kommunikation (nicht nur mit Worten) ist Verhalten und genauso wie man sich nicht nicht verhalten kann, kann man nicht nicht kommunizieren.“2)
Unabhängig davon, wie der Mensch sich verhält, kommuniziert er folglich immer. Auf die 8 Unternehmenskommunikation angewandt heißt das: Kommuniziert die Unternehmensleitung nicht mit den Beschäftigten und der Öffentlichkeit, ist auch das eine klare Aussage, die sehr wahrscheinlich als geringe Wertschätzung oder auch als Unsicherheit und Schwäche interpretiert wird. Als Definition für Kommunikation hat der Münsteraner Kommunikationswissenschaftler 9 Klaus Merten bereits Ende der siebziger Jahre mehr als 160 Definitionen analysiert, denn die Wissenschaft der Kommunikation ist interdisziplinär und umfasst u. a. biologische, soziologische und psychologische Aspekte.3) Grundsätzlich geht es in der Kommunikation um die Übertragung von Nachrichten zwischen einem Sender und mindestens einem Empfänger. Als Kommunikationsweg gelten hierbei sowohl die Sprache (inklusive Schriftform) als auch die nonverbale Kommunikation wie Mimik und Gestik. Beide Wege haben Einfluss auf Wahrnehmung und Bewertung der Information bei den Empfängern. Unternehmenskommunikation, im Fachjargon auch Corporate Communications genannt, 10 ist ein Teil der Unternehmensführung, mit der die Reputation und das Image des Unternehmens geprägt werden soll.4) Als Führungsinstrument gibt die Unternehmenskommunikation den Beschäftigten zudem Orientierung, diszipliniert und motiviert. Im Idealfall werden durch strategische Maßnahmen die einzelnen Stakeholder wie Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und Geldgeber regelmäßig informiert, um mit dieser Transparenz Vertrauen und Glaubwürdigkeit in das Unternehmen zu festigen. Wenn die Fluktuation qualifizierter Mitarbeiter gering ist, die Kunden zufrieden sind und auch die Finanzierung des Unternehmens geräuschlos funktioniert, hat in der Regel auch die Kommunikation sehr gut funktioniert und ihren Teil zum positiven Gesamtbild des Unternehmens beigetragen. ___________ 2) Vgl. Watzlawick/Beavin Bavelas/Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 3) Vgl. Mast, Unternehmenskommunikation, S. 10; Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Bd. 1 Grundlagen der Kommunikationswissenschaft. 4) Das Image (i. S. von Unternehmensimage) bezieht sich auf den Gesamteindruck eines Unternehmens oder einer Organisation. Es ist vergleichbar mit einer Momentaufnahme und daher ein kurzfristiges Bild. Die Reputation (i. S. von Unternehmensreputation) repräsentiert das gesamte Bild eines Unternehmens bzw. einer Organisation, wie es von seinen Stakeholdern wahrgenommen wird.
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§ 19
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
11 Mit Hilfe der geeigneten Kommunikationsmaßnahmen gilt es, die Unternehmensstrategie mit umzusetzen und zu verbreiten. Einen großen Stellenwert hat dabei das Selbstverständnis des Unternehmens (Corporate Identity), denn mit diesem Leitbild sollen sich die Beschäftigten identifizieren und es am Arbeitsplatz sowohl intern als auch im ständigen Kontakt mit Kunden, Lieferanten und Multiplikatoren extern leben. Ist diese Unternehmenskultur in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl intern als auch extern kongruent, hat das Unternehmen einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit erreicht. 12 Die Kommunikation in der Krise, einer Organisation (Unternehmen, Verein) nimmt eine Sonderstellung im Bereich der Unternehmenskommunikation ein. In der Umsetzung sind verschiedene Punkte zu beachten, um während dieser Unternehmenskrise nicht nur handlungs-, sondern auch sprachfähig zu bleiben. 2.
Kommunikation im Sonderfall Insolvenz
13 Die Unternehmensinsolvenz – sowohl im Fremd- als auch in Eigenverwaltung – ist für alle Beteiligten mit großen Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Die verschiedenen Interessengruppen suchen nach Informationen und Antworten auf die für sie wesentlichen Fragen: x
Was ist passiert?
x
Wie geht es weiter?
x
Bekomme ich mein Geld/meine Lieferung?
x
Wer hat Schuld?
14 Diese Fragen müssen beantwortet werden, denn fehlende Informationen bieten Raum für Spekulationen, die mangels glaubwürdiger Alternativen schnell als Tatsache betrachtet werden. Durch die Implementierung von gezielten Kommunikationsmaßnahmen haben Unternehmen bzw. die Verantwortlichen in einem Insolvenzverfahren die Chance, die Deutungshoheit über ihre Themen zu behalten und auf diese Weise ihre Perspektive darzustellen. Ziel ist es, den Spekulanten nicht das Feld zu überlassen. Eine Herausforderung liegt sicherlich darin, dass es gerade am Anfang eines Insolvenzverfahrens für viele offene Fragen noch keine passenden Antworten gibt. Die Aufmerksamkeit bei Beschäftigten und Medien aber ist hoch. 15 Bei Unternehmen in der Krise sind verschiedene Störungen auch in der Kommunikation die Regel. Der tatsächliche Insolvenzantrag, als schwerste Form der Unternehmenskrise, kommt zumindest für die internen Beteiligten meist nicht überraschend, denn sie haben zuvor möglicherweise bereits eine Krisenhistorie mit Sanierungsgesprächen, Gehaltsverzichten und Kündigungswellen hinter sich. Nach außen kann das anders aussehen, denn erfahrungsgemäß haben sich die Verantwortlichen in den Wochen und Monaten vor dem Insolvenzantrag bemüht, den Begriff Insolvenz vor allem bei Gesprächen mit Lieferanten und Kunden zu vermeiden. Mit zunehmender Schwere der Krise wurden dann womöglich auch Informationen für die Beschäftigten auf das Nötigste beschränkt, auf Anfragen von Journalisten wurde oft gar nicht reagiert. 16 Spätestens mit dem Insolvenzantrag ist klar, dass das Unternehmen in der Existenz bedroht ist. Der Vertrauensverlust in der öffentlichen Wahrnehmung ist vor allem bei den Geschädigten groß. Aber genau diese Stimmung ist es, die (vorläufigen) Insolvenzverwaltern, Restrukturierungsbeauftragten und auch Sachwaltern Chancen eröffnet. Sie stehen nicht für die Vergangenheit, sind neu im Unternehmen und gelten als jemand, der unbeeinflusst von außen einen Blick auf die Situation wirft. Sehen sie realistische Sanierungschancen, können sie die Aussichten auf eine erfolgreiche Sanierung mit Hilfe verschiedener Kommunikationsinstrumente steigern. Ein Insolvenzverfahren ist zwar grundsätzlich kein öf710
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
§ 19
fentliches Verfahren und selbstverständlich sollten wesentliche Beteiligte nicht nur über die Öffentlichkeit Neuigkeiten zum Verfahren erhalten. Aber mit größtmöglicher Transparenz und der regelmäßigen Aufklärung bspw. über die Abläufe und Regularien eines Insolvenzverfahren, können (vorläufige) Insolvenzverwalter verlorengegangenes Vertrauen in das Unternehmen zurückgewinnen, die Belegschaft motivieren und halten, Lieferanten und Kunden trotz Schadens zur weiteren Zusammenarbeit bewegen und potenziellen Investoren ein Unternehmensimage präsentieren, das trotz Insolvenz den Umständen entsprechend positiv ist. 3.
Kommunikation bei ESUG-Verfahren und StaRUG
Mit Einführung des ESUG stellt sich natürlich auch hinsichtlich einer professionellen 17 Kommunikation die Frage, welche Änderungen sich dadurch im Umgang mit den verschiedenen Stakeholdergruppen ergeben. Auf den ersten Blick bleiben die Kommunikationsanforderungen auch unter den neuen 18 Sanierungsmöglichkeiten konstant. Denn Restrukturierungen in einem Unternehmen sollten auch unter ESUG – unabhängig davon, ob eine Eigenverwaltung oder ein Schutzschirmverfahren eingeleitet wurde – aktiv kommuniziert werden, will man die Beschäftigten mitnehmen und Vertrauen bei Kunden und Lieferanten schaffen. Ist das Unternehmen auch für die breitere Öffentlichkeit interessant – etwa durch eine bekannte Marke, durch die Anzahl der Beschäftigten oder weil es anderweitig relevant für eine Region ist –, greifen auch Journalisten die Themen auf. Auf den zweiten Blick aber tauchen dann doch einige relevante Veränderungen auf, die 19 auch auf die Kommunikationsstrategie durchgreifen: Zeitpunkt: Ein ESUG-Verfahren wird in der Regel frühzeitiger und intensiver vorbereitet 20 als ein fremdverwaltetes Insolvenzverfahren. Dieser Zeit- und Planungsvorsprung sollte insbesondere bei öffentlichkeitswirksamen Fällen auch für die interne und externe Kommunikation genutzt werden. Mitarbeiterschreiben, Informationsveranstaltung, Pressemitteilung sowie Anschreiben an Kunden und Lieferanten, persönliche Ansprache wichtiger Beteiligter – alles kann inhaltlich und in zeitlicher Abfolge genau aufeinander abgestimmt werden, wenn auch die Kommunikation frühzeitig bedacht wird und die Verantwortlichen entsprechend eingebunden werden. Inhalt: Der Sanierungscharakter eines ESUG-Verfahrens kann noch deutlicher in den Vor- 21 dergrund gestellt werden und es besteht sicherlich ein größerer Aufklärungsbedarf hinsichtlich des formellen Ablaufs eines ESUG-Verfahrens, Während Wirtschaftsredakteure der überregionalen Medien mittlerweile zumindest die Grundsätze der Begriffe wie ESUG, Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren kennen, kann dies bei Redakteuren der Lokalmedien schon anders aussehen, da diese nicht so häufig mit Insolvenzverfahren betraut sind. Insbesondere der Begriff Schutzschirmverfahren ist für Journalisten sicherlich erklärungsbedürftig. Dabei sollte man sehr genau abwägen, ob man frühzeitig darauf verweist, dass dies eine Variante innerhalb der Insolvenzordnung ist oder ob der Begriff Insolvenz vermieden werden soll. Hier gilt es zu bedenken, dass mit dem Insolvenzgeld und mit der Verfahrenseröffnung der Begriff Insolvenz fällt, was dann bei Journalisten auch heute noch schnell in einen negativen Kontext mit dem Tenor „[…] jetzt doch Pleite […]“ gestellt werden kann, wenn sie zuvor über den Gesamt-Zusammenhang nicht informiert wurden. Wahrnehmung: Wer auf der einen Seite aufwertet, wertet häufig zwangsläufig auf der 22 anderen Seite ab. So zumindest kann es von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Soll heißen: Wenn bei ESUG-Verfahren die guten Sanierungschancen als eine der zentralen Botschaften in den Vordergrund gestellt werden, besteht natürlich die Gefahr, dass in der Öffentlichkeit das Fremdverfahren von vornherein als zweite Wahl empfunden wird, in Voskuhl
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
der eine Sanierung eher unwahrscheinlich und die Liquidation des Unternehmens meist vorgezeichnet ist. Dieses Image trifft dann natürlich auch Verfahren in Eigenverwaltung, die aufgrund der Umstände in ein Fremdverfahren übergehen. Erleichtert wird die Sanierung im Fremdverfahren durch diese Wahrnehmung der „Klassengesellschaft“ sicherlich nicht. 23 Hier kann auch bei Fremdverwaltungen letztlich nur größtmögliche Transparenz helfen und die Bereitschaft, den Journalisten sowohl den formalen Ablauf des Verfahrens aufzuzeigen als auch – soweit möglich – die grundsätzlichen Beweggründe für den jeweils eingeschlagenen Weg. 24 Mit dem zum 1.1.2021 eingeführten Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG)5), hat der Gesetzgeber Kriterien vorgegeben, mit dem die Restrukturierung eines Unternehmens außerhalb eines Insolvenzverfahren möglich ist. Die Anmeldung eines solchen Verfahrens muss in der Regel nicht veröffentlicht werden, es sei denn, das Unternehmen unterliegt z. B. Ad-hoc-Pflichten. Informationen werden in der Regel nur an die Kreise gegeben, die direkt am Verfahren beteiligt sind. 25 So meldete Ende April 2021 eine Sozietät aus Hamburg in einer Pressemitteilung, dass sie in enger Zusammenarbeit mit dem vom Insolvenzgericht bestellten Restrukturierungsbeauftragten, für ein Hamburger Logistikunternehmen den ersten rechtskräftig bestätigten Restrukturierungsplan nach dem neuen Recht erstellt und damit eine drohende Insolvenz abgewendet hat. In dem neunwöchigen Verfahren waren – wie vom Gesetz vorgesehen – neben dem Gericht und dem Restrukturierungsbeauftragten nur die von den Restrukturierungsmaßnahmen konkret betroffenen Gläubiger eingebunden. So konnte nach eigener Darstellung die präventive Restrukturierung lautlos und ohne Irritationen am Markt verlaufen. Der Name des Unternehmens wurde nicht genannt. 26 Die eterna Mode Holding GmbH dagegen informierte als Emittentin einer Anleihe im August 2021 in einer Ad-hoc-Meldung, dass sie ein StaRUG-Verfahren eingeleitet hat und in einer weiteren Meldung im September, dass die Gläubiger dem Restrukturierungsplan zugestimmt haben. 27 Die Pressemitteilung über das Logistikunternehmen ist sicher nicht als Teil einer Krisenkommunikation zu verstehen, sondern als Erfolgsmeldung einer Sozietät. Es verdeutlicht aber, dass StaRUG-Verfahren meist nicht über die Öffentlichkeit laufen. Das Beispiel eterna wiederum zeigt, dass es auch Ausnahmen gibt. 28 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein StaRUG-Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden kann, ist im Gegensatz zu einem Fremd- oder ESUG-Verfahren, sicherlich höher, da es keine durch das Verfahren vorgegebenen Veröffentlichungspflichten gibt und der Verfahrensablauf auch deutlich kürzer angelegt ist. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch StaRUG-Verfahren in der Öffentlichkeit oder in der Belegschaft bekannt werden. Je größer das Unternehmen, je bekannter die Marke oder die dahinterstehenden Persönlichkeiten oder je frustrierter Gläubiger sind, desto eher muss damit gerechnet werden, dass Einzelheiten bekannt werden. Natürlich mag es auch in einigen Fällen strategische Gründe geben, um Belegschaft und breitere Öffentlichkeit über die Einleitung und den aktuellen Stand eines StaRUG-Verfahrens zu informieren. 29 Wer es aufgrund der Situation und Bekanntheit des Unternehmens für eher wahrscheinlich hält, dass Einzelheiten nach außen dringen, kann entsprechend aktiv werden und von sich ___________ 5) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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aus nach innen und außen kommunizieren. Wer trotzdem aus guten Gründen zurückhaltend bleiben möchte, sollte sich aber auf den Fall vorbereiten, dass etwas nach außen dringt, damit er im Fall der Fälle schnell reagieren kann. Eine kurze Mitarbeiterinformation, eine entsprechende Pressemitteilung mit Ansprechpartnern und ein Fragen-Antworten-Katalog zur aktuellen Situation sollten vorliegen und bei Bedarf kurzfristig angepasst werden, um schnell sprachfähig zu sein. II.
Kommunikationsverantwortliche – Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Öffentlichkeit sowie Unternehmensführung und Belegschaft
Kommunikation ist Chefsache. Während im Unternehmensalltag die jeweiligen Unter- 30 nehmensbereiche für externe und interne Kommunikation über die verschiedenen Kanäle abgestimmte Informationen verteilen, Anfragen beantworten sowie Informationsmaterialien erstellen, gibt es Anlässe, bei denen sich die Verantwortlichen des Unternehmens direkt an ihre Mitarbeiter und weitere Stakeholder wenden. Dies kann z. B. eine Mitarbeiterversammlung bei anstehenden internen Veränderungen sein, die turnusmäßige Bilanzpressekonferenz oder die Pressekonferenz, auf der neue Produkte vorgestellt werden. Aber auch in diesen Momenten sind die Bereiche aus der Kommunikationsabteilung aktiv gewesen und haben ausführliche Sprachregelungen abgestimmt, Reden geschrieben, Pressemitteilungen vorbereitet und die Führung gezielt auf mögliche Fragen der Mitarbeiter oder Journalisten vorbereitet. Zum besseren Verständnis über die Abläufe und Strukturen in den entsprechenden Unternehmensbereichen werden hier die Organisation einer Kommunikationsabteilung sowie die Aufgaben des Unternehmenssprechers, im folgendem „Pressesprecher“ genannt, beschrieben und in den Kontext der Funktion von (vorläufigen) Insolvenzverwaltern bzw. Sachwaltern und Restrukturierer gestellt. 1.
Organisation der Abteilung Unternehmenskommunikation
Die Abteilung Kommunikation in einem Unternehmen ist in der Regel auf Größe, Marken- 31 wert und tatsächliche Bedürfnisse angepasst. Vor allem große Unternehmen mit mehreren Niederlassungen haben Bedarf an interner Kommunikation, Unternehmen mit bekannten Marken im B2C-Bereich einen hohen Bedarf an externer Kommunikation, börsennotierte Unternehmen haben zudem gesetzliche Veröffentlichungspflichten (Stichwort Investor Relations). Entsprechend komplex können die verantwortlichen Kommunikationsabteilungen organisiert sein. In mittelgroßen und großen Unternehmen verfügt jeder Bereich in der Regel über min- 32 destens eine Führungsperson (Abteilungsleiter) mit mehreren Teammitgliedern (Projektleiter, Referenten, Assistenten). Über allen stehen in der Regel die Leiter Unternehmenskommunikation, die im direkten Kontakt mit der Unternehmensspitze stehen. In der Praxis werden die einzelnen Bereiche unterschiedlich in das Organigramm eines Unternehmens eingeordnet, denn scharfe Abgrenzungen auf Basis des definierten Verantwortungsbereiches sind nicht immer möglich. So haben Maßnahmen des Bereichs Finanzkommunikation immer auch Einfluss auf die externe Kommunikation, vereinbarte Sprachregelungen der externen Kommunikation immer auch Einfluss auf den Bereich interne Kommunikation. Entscheidend ist es deshalb, dass es eine übergeordnete Führungsinstanz gibt, die bei allen wesentlichen Kommunikationsmaßnahmen eingeschaltet ist und überwacht, dass Sprachregelungen und Darstellungen zwischen den Bereichen abgestimmt und abgeglichen sind und sich nicht widersprechen.
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33 Diese Aufgaben obliegen in vielen Unternehmen den Pressesprechern.6) Sie sind das Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten, Bindeglied zwischen Unternehmensführung und Medien und Bindeglied zwischen den einzelnen Bereichen der Abteilung Kommunikation. Was bei großen international tätigen Unternehmen durchaus einen immensen organisatorischen Aufwand bedeuten kann, ist in der Praxis vieler mittelständischer Unternehmen in Deutschland meist weniger komplex. Hier gibt es in der Regel Kommunikationsverantwortliche, die neben der Pressesprecherfunktion auch die interne Kommunikation verantworten und vielleicht zudem noch das Marketing inklusive Werbung abdecken. Was mit Blick auf die Unternehmensgröße und den Aufwand an Kommunikation durchaus verständlich sein kann, bietet aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben aber auch Konfliktpotenzial: Pressesprecher haben die Aufgabe, die Medien sachlich und umfassend zu informieren. Nutzen sie diese Position, um auch reine Werbebotschaften über die Journalisten zu spielen, werden sie meist durchschaut und können schnell an Glaubwürdigkeit verlieren. 34 Insbesondere bei großen Unternehmen mit viel Kommunikationsbedarf setzt sich seit einigen Jahren eine neue Form der Organisation durch, der Newsroom. Dabei geht es um integrierte Kommunikation, bei der alle internen und externen Publikationen innerhalb eines Unternehmens aufeinander abgestimmt werden. Ziel dabei ist es, Mitarbeitern aus allen Kommunikationsbereichen (PR, IR, Marketing, Vertrieb, IT, HR) an einen Tisch zu bringen, um crossmedial einheitlich und umfassend zu kommunizieren und Prozesse effizient zu gestalten. 35 Mit dem Newsroom reagieren die Unternehmen auf die neuen Anforderungen durch die digitale Kommunikation, die immer schneller, interaktiver und transparenter in den vielfältigen Kanälen reagieren und agieren muss. Diese gestiegene Komplexität erfordert neue Strukturen mit interdisziplinären Teams, die sich aufeinander abstimmen. Bei dieser Struktur werden Themen und Kanäle getrennt. Der Fokus liegt zunächst auf dem Content, der nach innen und/oder außen kommuniziert werden soll. Erst dann wird über die in Frage kommenden Zielgruppen und die Kanäle entschieden.7) 2.
Aufgaben und Funktionen von Pressesprechern
36 Pressesprecher sind vom Unternehmen beauftragte Dienstleister für die Medien. Sie sind deren Ansprechpartner und müssen dabei auf Augenhöhe mit den Journalisten umgehen können und deren Ansprüche kennen. Entsprechend müssen sie die Arbeit von Redaktionen und das Handwerkswerkszeug von Journalisten sehr gut kennen. 37 Die Hauptaufgabengebiete von Pressesprechern sind die Entwicklung der Kommunikationsstrategie (in enger Abstimmung mit der Unternehmensführung), die Beratung der Führungsgremien, die regelmäßige Analyse der Unternehmensdarstellung in den Medien (Monitoring), die interne Kommunikation sowie der Evaluation der eingesetzten Maßnahmen. Gemäß den Leitlinien der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG)8) müssen Kommunikationsverantwortliche in der Funktion von Pressesprechern folgende persönliche Voraussetzungen erfüllen: x
Loyal sein: Die Interessen der Arbeitgeber vertreten und internes Wissen auch nach Ablauf des Arbeitsvertrages vertraulich behandeln.
___________ 6) Obwohl es in mittelgroßen und großen Unternehmen Unterschiede im Verantwortungsbereich gibt, wird in dieser Beschreibung nachfolgend der Einfachheit halber der Kommunikationsverantwortliche mit dem Begriff „Pressesprecher“ gleichgesetzt. 7) Vgl. Moss, Der Newsroom in der Unternehmenskommunikation. 8) Vgl. Deutscher Kommunikationskodex, abrufbar unter https://dprg.de/html/download/Deutscher_Kommunikationskodex.pdf (Abrufdatum: 9.12.2022).
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
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x
Unbestechlich sein: Keine versteckten Vorteile annehmen und auch keine Erfolgsgarantien für Medienberichterstattungen verlangen oder akzeptieren (Compliance).
x
Integer arbeiten: Geistiges Eigentum anderer achten.
x
Wahrhaftige Auskünfte erteilen: Rechtzeitig, angemessen und vollständig informieren.
x
Nachprüfbare Auskünfte erteilen: Quellen müssen offengelegt werden.
x
Informiert sein: Ein fundiertes Allgemeinwissen haben.
Pressesprecher können nur so gut sein, wie es die Unternehmensführung und Verwalter 38 zulassen, denn sie benötigen alle notwendigen Informationen, um sie verantwortungsvoll beraten zu können. Sie benötigen daher den direkten und regelmäßigen Kontakt zur Unternehmensspitze. 3.
Exkurs: Arbeitsweise von Journalisten
Journalisten beschäftigen sich hauptberuflich mit der Verbreitung und Veröffentlichung 39 von Informationen, Meinungen und Unterhaltung durch Massenmedien.9) Sie arbeiten für unterschiedliche Medien, in der Öffentlichkeitsarbeit sowie für Nachrichtenagenturen oder Pressebüros von Wirtschaftsunternehmen, Behörden oder Organisationen oder auch im Online-Journalismus. Grundsätzlich wird zwischen freien und angestellten Journalisten unterschieden. Von den 45 000 festangestellten Journalisten (nur diese werden auch als Redakteure bezeichnet) in Deutschland arbeiten ein Drittel bei Tageszeitungen und ein Viertel beim Rundfunk. Der Rest verteilt sich auf Zeitschriften, Online-Dienste und auf Mitarbeitern in Pressestellen und Agenturen. Der britische Publizist Hugh Carleton Greene (1910 – 1987) sagte einmal:
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„Nennen Sie mir ein Land, in dem Journalisten und Politiker sich vertragen, und ich sage Ihnen, da ist keine Demokratie“.
Aus diesem Anspruch heraus werden die Medien oftmals auch als vierte Gewalt in unserem 41 Staat bezeichnet, denn eine ihrer Aufgaben ist die Kontrolle des Staates, aber auch von gesellschaftlichen Prozessen und von Unternehmen. Geht es bspw. um Arbeitsplätze oder die Interessen von Aktionären besteht meist ein hohes öffentliches Interesse. Durch Art. 5 GG wird der Pressefreiheit in Deutschland eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Dazu zählen sowohl das Zeugnisverweigerungsrecht, um Quellen zu schützen, als auch bestimmte Pressegesetze der Länder, nach denen Ämter und Behörden bei allgemeinem Interesse gegenüber Journalisten auskunftspflichtig sind. Journalisten machen sich aus Prinzip keine Sache zu eigen, nicht einmal eine gute, sagt 42 einmal der deutsche Journalist Hanns Joachim Friedrichs. Ein Mindestmaß kritischer Distanz zum Thema (und der eigenen Rolle) ist auch bei sog. Herzblut-Themen geboten. Journalisten verarbeiten Informationen aus der Recherche sowie aus Pressemitteilungen, Agenturmaterial oder Pressekonferenzen. Dabei suchen sie möglichst vielfältige Informationen, die ein bestimmtes Thema aus unterschiedlichen und widerstreitenden Blickwinkeln beleuchten, um so eine ausgewogene Berichterstattung zu ermöglichen. Im Idealfall sollte jede Information, die in journalistische Arbeit einfließt, durch Recherche abgesichert werden. In der Praxis bedeutet dies im Regelfall einen zu großen Aufwand. Journalistische Recherche benutzt viele Werkzeuge: u. a. Archive, Datenbanken, persönliche Gespräche (Interviews) mit Betroffenen, Fachleuten und Augenzeugen, offizielles Pressematerial, Anfragen bei Pressestellen, Anträge auf der Grundlage von Informationsfreiheitsgesetzen, Fachliteratur oder das Internet. ___________ 9) Definition des Deutschen Journalisten-Verbandes (www.djv.de).
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43 Für Journalisten gibt es einen Berufsethos, dem zumindest ein Gutteil der dort arbeitenden Menschen folgt. Diese praktischen Regeln zeichnen einen qualifizierten Journalismus aus. Zum Beispiel: x
Eine Quelle allein ergibt noch keine Nachricht.
x
Für eine Nachricht braucht es mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen.
x
Bei Konflikten sind die Positionen beider Seiten darzustellen.
44 Viele Redaktionen haben sich heute zusätzlich eigene Regeln für ihre Mitarbeiter gegeben. Diese haben z. B. die Wahrung der Unabhängigkeit von Unternehmen oder andere Personen zum Inhalt. Daraus folgt auch, dass heutzutage die meisten Journalisten eine Einladung zu einer von Unternehmensseite bezahlten Pressereise ablehnen werden. Entweder die Journalisten bleiben dieser komplett fern, oder die Redaktion wird die Kosten dafür selbst tragen wollen. Einem Gefälligkeitsjournalismus soll damit der Riegel vorgeschoben werden.10) In einigen Redaktionen gehen diese Regeln sogar soweit, dass es selbst bei sehr speziellen und komplexen Sachverhalten nicht gestattet ist, dass der Redakteur den kompletten Text von externen Informationsgebern vor der Veröffentlichung auf inhaltliche Ungenauigkeiten gegenlesen lässt. Lediglich Zitate dürfen abgestimmt werden, wenn dieses zuvor vereinbart wurde. 45 Journalisten wählen ihre Themen nach deren Relevanz für die jeweiligen Leser, Zuhörer oder Zuschauer sowie dem Neuigkeitswert, Besonderheit etc. aus. Die Relevanz von Themen variiert je nach Medium, Leser und Region. So wird die Bild-Zeitung anders über ein Thema berichten als Frankfurter Allgemeine Zeitung, Handelsblatt oder ein Fachmedium wie bspw. die Absatzwirtschaft oder die Immobilien-Zeitung. Eines bleibt allerdings immer gleich: Der Nachrichtenwert, also, wie bedeutend, überraschend oder ungewöhnlich eine Nachricht ist, entscheidet darüber, ob sie berichtenswert ist, in welchem Umfang und in welcher Aufmachung diese erscheint. 4.
Zusammenarbeit von Pressesprecher, Insolvenzverwaltung, Restrukturierungsbeauftragten und Geschäftsführung
46 Was im Unternehmensalltag gilt, gilt im Krisenfall ganz besonders: Es kann nur eine Stimme geben, die nach draußen spricht (Stichwort: One Voice Policy). Im Fall der Insolvenz sind dies meist(vorläufige) Insolvenzverwalter oder Sprecher der Eigenverwaltung. Wenn der Insolvenzantrag in Eigenverwaltung gestellt wurde, kann es Sinn machen, wenn vom Gericht bestellte, – vorläufige – Sachwalter oder der Restrukturierungsbeauftragte nach draußen sprechen und nicht die Geschäftsführung. Das Für und Wider sollte frühzeitig zwischen den Beteiligten diskutiert werden11). Zu berücksichtigen sind dabei Aspekte wie: x
Wem wird Schuld für die Krise gegeben?
x
Seit wann ist die Geschäftsführung im Unternehmen?
x
Wie sind die Verhältnisse zu den Medien?
x
Wird die Geschäftsführung möglicherweise auch nach überstandener Insolvenz in der Führung bleiben?
47 Hat das Unternehmen eine für die Öffentlichkeit relevante Größe, ist die Marke bekannt oder gibt es sonstige – etwa durch im Unternehmen bekannte Persönlichkeiten – Gründe, ___________ 10) Analog zum Thema Compliance, innerhalb dessen sich Unternehmen zur Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien auch im Umgang mit der Presse verpflichtet haben. 11) S. auch: Feldmann, „Wer spricht in der Eigenverwaltung“, Unternehmeredition online v. 15.6.2016, abrufbar unter https://www.unternehmeredition.de/wissen/restrukturierung/wer-spricht-in-der-eigenverwaltung/ (Abrufdatum: 9.12.2022).
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die das öffentliche Interesse auf das Unternehmen ziehen, macht es für die Verantwortlichen Sinn, eigenen Pressesprecher einzusetzen, die für die Sanierer sprechen. Neben den üblichen Kenntnissen sollten diese Sprecher Erfahrung mit Krisen und speziellen Sachverstand z. B. über den Ablauf eines Insolvenzverfahrens haben, was Pressesprecher in einem Unternehmen in der Regel nicht haben. Die in der Krise geführten Unternehmen profitieren durch eigene Pressesprecher aufgrund ihrer: x
Medienerfahrung: Sie kennen die Mechanismen der Medien, wissen, welche Informationen die Journalisten benötigen, durchschauen die Tricks der Journalisten und können entsprechend darauf reagieren.
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Kontrolle: Sie gleichen alle Informationen ab, die nach draußen und in die Belegschaft gehen.
x
Nachhaltigkeit: Sie halten nach, welche Informationen bereits nach draußen gegangen sind, wie sie zum aktuellen Stand passen und wie sie der Öffentlichkeit erklärbar sind.
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Vorausschau: Sie bereiten für die Unternehmensführung Interviews vor, können die Wirkung von Äußerungen in der Öffentlichkeit abschätzen und übernehmen die Abstimmung von Zitaten.
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Erreichbarkeit: Die Medien haben ständige Ansprechpartner, um kurzfristig notwendige Informationen zu erhalten.
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Schnelligkeit: Durch ihre Kenntnisse über Restrukturierungen und Insolvenzverfahren könne sie viele Presseanfragen direkt beantworten.
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Vertrauensarbeit: Durch einen ständigen und vertrauensvollen Kontakt zu Journalisten, erhalten auch Pressesprecher Informationen – z. B. aktuelle Gerüchte – auf die die Verwalter dann frühzeitig reagieren können.
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Beobachtung: Sie sind Frühwarnsystem und können häufig als erste erkennen, wenn von außen Störfeuer drohen.
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Schutzfunktion: Sie stehen zwischen Medien und Unternehmensführung. Anfragen und Kritik der Journalisten landen grundsätzlich zunächst bei ihnen. Während von der Unternehmensführung auf direkte Fragen sofort Antworten erwartet werden, können sich Pressesprecher erst mal ein wenig Zeit verschaffen, um intern Antworten abzustimmen bevor sie nach draußen gehen. Sollten Journalisten die Antworten für unzureichend halten, stehen eher Presssprecher in der Kritik und nicht die Unternehmensführung.
Pressesprecher sollten sowohl die interne Kommunikation verantworten als auch den 48 Kontakt zu den Medien halten. Beide Zielgruppen haben zwar in Teilen unterschiedlichen Informationsbedarf, aber die grundsätzlichen Aussagen müssen gleich sein. Wer hier unachtsam ist und sich z. B. etwas unklar oder gar widersprüchlich ausdrückt, schafft sowohl in der Belegschaft als auch in der Öffentlichkeit schnell Unruhe und verliert an Glaubwürdigkeit. Zum einen ist eine Presseberichterstattung vor Ort immer auch eine Berichterstattung, die von der Belegschaft sehr genau wahrgenommen wird. Zum anderen haben Lokaljournalisten häufig einen guten Draht ins Unternehmen. Informationen, die dort verbreitet werden, gelangen deshalb auch regelmäßig in die Zeitung. Für die Glaubwürdigkeit des Unternehmens in der Krise müssen die Informationen deshalb regelmäßig abgeglichen werden. Diese Abstimmungsprozesse sind letztlich für alle Informationen zwingend geboten, die nach draußen gehen, und gelten auch für Kunden- und Lieferantenschreiben. Pressesprecher sind dabei nicht nur Mittler der Information, sondern sollten ein situationsabhängiges Gespür besitzen, wann es notwendig ist, dass jemand aus der Unternehmensführung (vorläufige Insolvenzverwalter, CRO Geschäftsführung) selbst nach draußen tritt. Voskuhl
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Die alte Regel, nach der Pressesprecher bei schlechten Nachrichten und die Unternehmensleitung bei guten Nachrichten nach draußen treten, gilt nicht immer. Denn neues Vertrauen schafft nur, wer auch den Mut hat, schlechte Nachrichten zu verkünden. III.
Das Handwerkszeug von Pressesprechern in der Insolvenz
49 Was im normalen Arbeitsalltag von Pressesprechern gilt, hat vor allem in der Krise eine große Bedeutung: Sie müssen muss sprachfähig und immer auf dem aktuellen Stand des laufenden Restrukturierungsverfahrens sein. Geben sie bei Presseanfragen Antworten, die längst von der Realität überholt wurden, verlieren sie – und damit auch die Unternehmensführung oder (vorläufige) Insolvenzverwaltung bzw. Eigenverwaltung – an Glaubwürdigkeit. 50 Eines ihrer wichtigsten Werkzeuge sind umfassende Fragen- und Antwortenkataloge (Q&A), die für sie Sprachschlüssel nach außen wie innen sind. In diesem Katalog werden mögliche Fragen der Journalisten antizipiert und die Antworten mit allen relevanten Beteiligten im Unternehmen abgestimmt. Diese Kataloge sind Grundlage der Arbeit von Pressesprechern, müssen regelmäßig aktualisiert werden und finden in allen weiteren Kommunikationsmaßnahmen Verwendung. 51 Bei einer Insolvenz haben es die Verantwortlichen mit verschiedenen Interessengruppen mit unterschiedlichen Ansprüchen zu tun. Grundsätzlich unterscheidet man in x
Interne Zielgruppen (Leitende Angestellte, Arbeitnehmer und deren Familien, Betriebsrat, Gesellschafter) und
x
externe Zielgruppen (Lieferanten, Kunden, Politik und Verwaltung, Kreditgeber, Medien).
52 Jede einzelne Gruppe verfolgt insbesondere in der Krise partikulare Interessen und hat ein spezielles Informationsbedürfnis, das es zu befriedigen gilt. Der Werkzeugkasten der Kommunikation bietet hier zahlreiche Instrumente für die zielgruppengerechte Ansprache. 1.
Interne Kommunikation12)
53 Eine zentrale Zielgruppe sind die Arbeitnehmer des kriselnden Unternehmens. Insbesondere bei Bekanntwerden eines Insolvenzantrags ist die Unsicherheit in der Belegschaft groß. Häufig hat das Unternehmen eine mehr oder weniger lange Krisenhistorie hinter sich. Um die Arbeitsmotivation, die Produktions- und Servicequalität auf dem erforderlichen Level halten zu können und keine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Krankmeldungen zu provozieren, sollten die Beschäftigten frühzeitig einbezogen und regelmäßig informiert werden. Hat das Unternehmen realistische Sanierungschancen, kann durch entsprechende Kommunikationsmaßnahmen die Chance gesteigert werden, qualifizierte Beschäftigte oder gar ganze Teams zu halten und damit ein Ausbluten des Unternehmens zu verhindern. 54 Folgende Instrumente können Restrukturierungsverantwortliche/(vorläufige) Insolvenzverwalter in Abstimmung mit den internen Kommunikationsverantwortlichen für die Kommunikation nutzen. Wichtig dabei ist es zunächst zu schauen, welche Kommunikationswege gab es bisher im Unternehmen – sind also etabliert –, reichen diese aus oder muss man neue Wege installieren. 1.1
Das Informationsschreiben für Mitarbeiter
55 Das Mitarbeiterinformationsschreiben ist ein wichtiger Informationskanal, mit dem die Unternehmensleitung und der Betriebsrat relevante unternehmensbezogene Nachrichten an die Belegschaft verteilt. Diese werden in gedruckter Form an zentrale Informationspunkte ___________ 12) Ausführlich zur internen Kommunikation in Unternehmen s. Schick, Interne Unternehmenskommunikation: Strategien entwickeln, Strukturen schaffen, Prozesse steuern.
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§ 19
innerhalb des Unternehmens („Schwarzes Brett“) ausgehängt oder über Multiplikatoren (z. B. Abteilungsleiter) an die Beschäftigten gegeben. Zur gleichen Zeit kann das Schreiben über einen firmeninternen E-Mail-Verteiler an die Postfächer der Beschäftigten gesendet werden. Im Falle einer Insolvenz sollten die Beschäftigten auf diese Weise in regelmäßigen Abständen über den Verlauf des Verfahrens über die wesentlichen sie tangierenden Themen wie Insolvenzgeld, Sanierungsplan und Investorenprozess informiert werden sowie zur Aufrechthaltung des Arbeitseinsatzes für das Unternehmen motiviert werden. 1.2
Intranet/Mitarbeiterportal
Neben der üblichen Verteilung von Informationsschreiben per Hauspost oder per Aushang 56 bietet die IT-Lösung Intranet einen effizienten Kommunikationskanal. Das Intranet ist ein netzwerkbasiertes Portal, mit dem man unkompliziert und ohne große zeitliche Verzögerungen alle relevanten Nachrichten an die Beschäftigten verteilt. In mittelgroßen Unternehmen und Konzernen ist dieses wichtige Medium der internen Unternehmenskommunikation weit verbreitet. Aber auch immer mehr kleinere Unternehmen greifen inzwischen darauf zurück. Das Intranet ist passwortgeschützt, um Außenstehenden, wie z. B. Journalisten, den Zugang zu verwehren, jedoch sollte man immer einkalkulieren, dass extern Interessierte durch ihre Kontakte trotzdem Zugang erhalten können. Grundsätzlich wird das Intranet dazu verwendet, betriebsinterne Informationen wie Ab- 57 sprachen, Unternehmensregeln, Dokumente und Formulare sowie Verfahrens- und Arbeitsablaufanweisungen der Belegschaft zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise wird die Informationsversorgung der Beschäftigten verbessert, betriebsinterne Vorgänge automatisiert und Informationsströme beschleunigt. In der Praxis verantworten Marketing, interne Kommunikation/Human Ressources (HR, Personalwesen) sowie die IT-Abteilung den Betrieb und die Pflege des Intranets. Für die Insolvenz eignet sich das Intranet je nach Größenordnung des Unternehmens 58 hervorragend für die Vermittlung von Informationen und Botschaften. Die Belegschaft findet dort alle insolvenzrelevanten Informationen: x
Mitarbeiterschreiben sowie Pressemitteilung zum Insolvenzantrag und zur Bestellung der vorläufigen Insolvenzverwalter/Sachwalter,
x
die Beitrittserklärung zur Insolvenzgeldvorfinanzierung,
x
die wesentlichen Fragen und Antworten zur Insolvenz, zum Geschäftsbetrieb sowie zum Insolvenzgeld.
Das Einstellen neuer Nachrichten, Mitarbeiterinformationen und Formularen kann gleich- 59 zeitig mit einer kurzen E-Mail-Information gekoppelt werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Aktivierung eines Tools (E-Mail-Responsetool), mit dessen Hilfe die Belegschaft insolvenzbezogene und geschäftsrelevante Fragen direkt an die Verantwortlichen richten kann. Die Fragen werden zentral gesammelt und zur Beantwortung an die entsprechenden Verantwortlichen weitergeleitet. Die Antwort erfolgt schließlich entweder personalisiert auf direktem Wege an die Fragesteller oder in Form der Erweiterung des über das Intranet zugänglichen Fragen- und Antwortenkatalogs. Die Verantwortung des Intranets ist in der Regel – wie oben beschrieben – nicht pauschal definiert. Im Insolvenzfall sollten Pressesprecher, die die gesamte Verfahrenskommunikation koordinieren und Zugang zu allen wesentlichen Beteiligten hat, das Intranet mit verantworten. Beispiel: Führendes Systemhaus in der Insolvenz Ein führendes deutsches Systemhaus mit mehr als 1 000 Beschäftigten an bundesweit zwölf Standorten hatte wegen drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenz angemeldet. Der Plan: Übertragende Sanierung. Kommunikative Herausforderung war die Tatsache, dass die Mitarbeiter Voskuhl
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bundesweit verstreut waren und an jedem größeren Standort ein eigener Betriebsrat existierte. Die Unsicherheiten im Unternehmen waren groß, Fragen zahlreich. Um die Informationen über den Verfahrensablauf zu verteilen, konnte auf das bereits bestehende Intranet zurückgegriffen werden. Zum einem wurde ein Fragen- und Antwortenkatalog erarbeitet, der alle wesentlichen Fragen zur Insolvenz beantwortete. Die Betriebsräte sammelten zusätzliche Fragen und leiteten diese an den auf Insolvenzkommunikation spezialisierten externen Kommunikationsverantwortlichen weiter. Nach Abstimmung der Antworten durch das Team des (vorläufigen) Insolvenzverwalters, stellte der Verantwortliche diesen aktualisierten Katalog ohne großen zeitlichen Verlust ins Intranet. Alle Mitarbeiter erhielten zudem alle zwei Wochen kurze IntranetNachrichten zum aktuellen Verfahrensstand. Als Ergebnis konnte auf diese Weise die Unruhe im Unternehmen signifikant reduziert werden. Gleichzeitig haben sich die Kündigungen vor allem die der wichtigen Vertriebsmitarbeiter auf einem niedrigen Niveau gehalten. 1.3
Mitarbeiterversammlung
60 Die Mitarbeiterversammlung ist ein weiteres wichtiges Instrument, um die Belegschaft zum Stand der Restrukturierung/des Insolvenzverfahrens zu informieren. Sie wird in enger Abstimmung mit, bzw. durch den Betriebsrat einberufen und findet in der Regel im Unternehmen statt. Idealerweise wird die Versammlung so terminiert, dass bei Schichtdienst alle Arbeitsschichten anwesend sein können. Je nach Größe des Unternehmens ist es erforderlich, Versammlungen an allen wesentlichen Standorten abzuhalten (Stichwort Roadshow). Gegebenenfalls, soweit die technische Ausrüstung vorhanden ist, bieten sich auch Übertragungen in Form einer Videokonferenz an. (Vorläufige) Insolvenzverwalter informieren hier meist bei gravierenden Neuigkeiten wie: kurz nach Insolvenzantrag zum Status quo sowie zur Vorstellung der nächsten Schritte, bei notwendigen Personalanpassungen oder bei Einigung mit einem Investor. Neben ihrem eigenen Vortrag stehen sie hier auch den Beschäftigten Rede und Antwort und sollten sich auf die möglichen Fragen gut vorbereiten. 1.4
Zeitschrift/Newsletter
61 Viele Unternehmen setzen für ihre Mitarbeiterkommunikation seit langem eigene Zeitschriften oder zumindest Newsletter ein, die regelmäßig produziert und verteilt werden. Vorteil dieser Print-Medien ist es, dass sie im Allgemeinen eine Wertigkeit und damit auch den Stellenwert der Beschäftigten im Unternehmen dokumentieren. Längere Geschichten und Themen mit ansprechendem Layout erscheinen lesenswert und die Beschäftigten erfahren auch aus anderen Abteilungen und von anderen Standorten, was im Unternehmen passiert. Nachteil in der Insolvenz ist es, dass die Produktion in der Regel kostenintensiv ist und einen zeitlichen Vorlauf benötigt. Während der Insolvenz aber müssen die Verwalter schnell reagieren und bei entsprechenden Entwicklungen innerhalb kürzester Zeit informieren. Dafür eignen sich Zeitschrift und Print-Newsletter eher nicht. Das muss aber nicht automatisch heißen, dass diese Medien direkt der Kostenersparnis zum Opfer fallen. Neben den finanziellen Aspekten können hier auch Fragen eine Rolle spielen wie: x
Welchen Stellenwert hat das Medium im Unternehmen?
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Welches (negative) Signal geht möglicherweise mit der Einstellung an die Belegschaft aus?
x
Alternativ lässt sich der Produktionsaufwand, etwa durch einen geringeren Magazinumfang oder eine Umstellung auf eine reine digitale PDF-Ausgabe, deutlich reduzieren und den Beschäftigten so signalisieren, dass es weitergeht.
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Sonderfall: Berichterstattung für Lokaljournalisten
Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass ein klassischer Bereich wie Lokalmedien hier 62 unter dem Kapitel interne Kommunikation aufgeführt wird, denn alle Handwerksmittel die unter Rz. 63 ff. (externe Kommunikation) aufgeführt sind, gelten natürlich auch für Lokaljournalisten. Aber: Berichte, die in den Lokalzeitungen veröffentlicht werden, OriginalTöne (O-Töne), die im Lokalradio laufen und Statements, die den lokalen Fernsehsendern gegeben werden, stoßen vor allem auch bei den Beschäftigten und deren Angehörigen vor Ort auf reges Interesse. Die Einbeziehung von Lokaljournalisten ist somit ein klassisches Instrument auch der internen Information. Wenn Gesagtes zum aktuellen Stand auf einer Betriebsversammlung in ähnlichen Worten auch in der Lokalzeitung steht, steigert dies in der Belegschaft nochmals die Glaubwürdigkeit. Auch deshalb sollten eine schriftliche Mitarbeiterinformation und eine zeitlich etwas verzögerte Pressemitteilung immer aufeinander abgestimmt sein. 2.
Externe Kommunikation
Zur Zielgruppe der externen Kommunikation zählen sowohl direkt Beteiligte am Insolvenz- 63 verfahren wie Lieferanten, Banken und Kunden13) als auch (Lokal-)Politik und die breite Öffentlichkeit. Das Informationsbedürfnis zumindest der wesentlichen Beteiligten wird meist direkt in bilateralen Gesprächen befriedigt. Ähnlich der Funktion der Lokaljournalisten bei der Beschäftigteninformation können bei der externen Kommunikation die Medien mit verschiedenen Maßnahmen als wichtiger Multiplikator in die externen Zielgruppen dienen. Im Folgenden werden die für die Medienkommunikation zur Verfügung stehenden Instrumente sowie die Arbeitsweisen und das Selbstverständnis von Journalisten vorgestellt. 2.1
Presseverteiler
Der Presseverteiler ist die Grundlage für den Versand von Pressemitteilungen und der 64 Ansprache der Medienvertreter. Er enthält die Kontaktdaten aller für das Unternehmen und das Geschäft wesentlichen Journalisten und Redaktionen. Zu berücksichtigen sind je nach Branche und Größe des Unternehmens Lokal-, Fach- sowie Wirtschaftsmedien inklusive Radio, TV und Online-Magazine. Zudem bietet es sich an, die Pressemitteilung auch an Multiplikatoren aus der Politik und Verwaltung wie z. B. die Industrie- und Handelskammer, Vertreter der Stadt, der Wirtschaftsförderung, Verbände sowie Amtsgerichte zu versenden. Der Verteiler sollte ständig aktualisiert werden, um bei Presseaussendung stets die richtigen Ansprechpartner zu erreichen. Entscheidend hierbei sind direkte Kontakte zu den Journalisten über die persönliche Redaktionsadresse. In manchen Situationen bietet es sich an, neben einen Basispresseverteiler auch fallspezifische Verteiler zu erstellen: z. B. ein regionaler Verteiler für den einzelnen Werkstandort, für die Produktpresse, für karrierebezogene Medien. Da der Versand von Pressemitteilungen heute ausschließlich per E-Mail durchgeführt wird, wird ein entsprechender E-Mail-Verteiler vorgehalten, über den der ___________ 13) Bei der Kundenkommunikation sollten die Verantwortlichen aus den Bereichen Marketing und Werbung – soweit vorhanden – stets ihre Inhalte mit dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter und seinem Kommunikator abstimmen. Andernfalls kann es zu bösen Überraschungen wie beim Versandhändler Neckermann kommen: Auf der Website wurde mit der eigenen Insolvenz und Sprüchen wie z. B. „Sie haben momentan wenig Geld in der Kasse? Wir wissen, wie sich das anfühlt.“ und „Insolvent. Na und? Sie wollen schließlich kein Geld bei uns bestellen, sondern Waren.“ geworben. Aus der Sicht eines Werbers mag dies eine kreative Marketingidee gewesen sein, doch verkennt sie die eigentliche Ernsthaftigkeit der Situation. Eine Insolvenz sollte nicht in der Werbung thematisiert werden, sondern Bestandteil einer seriösen, strukturierten Kommunikationsarbeit sein (zu diesem Negativbeispiel s. a. WirtschaftsWoche v. 1.8.2012, abrufbar unter http://www.wiwo.de/erfolg/management/krisenkommunikation-neckermann-witzelt-ueberseine-insolvenz/6949260.html [Abrufdatum: 9.12.2022]).
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Presseversand erfolgt. Um die Privatsphäre (Datenschutz) der Empfänger dieser Mailings zu bewahren und sie vor Adressen-Sammlern zu schützen, ist unbedingt darauf zu achten, dass die Adressaten über das E-Mail-Header-Feld „BCC“ angeschrieben werden. 65 Im Falle einer Unternehmenskrise wird auf den bestehenden Basisverteiler des Unternehmens zurückgegriffen, der schließlich mit verfahrensrelevanten und persönlichen Kontakten der (vorläufigen) Insolvenzverwalter oder der Restrukturierungsbeauftragten ergänzt wird. Im Laufe des Verfahrens wird dieser ständig aktualisiert und erweitert. Pressemitteilungen sollten nicht nach dem Gießkannenprinzip per Mail verschickt werden, sondern es sollte genau geschaut werden, für wen diese Meldung relevant sein könnte. Nur diese Gruppe sollte in den Verteiler aufgenommen werden. Redakteure erhalten tagtäglich eine Vielzahl von Pressemitteilungen. Sollte eine Pressemitteilung für sie nicht relevant sein, sind sie deshalb dankbar, wenn sie diese gar nicht erst bekommen. 2.2
Pressemitteilung
66 Die Pressemitteilung (PM), auch Presseinformation oder Presseerklärung, ist das wohl am häufigsten genutzte Mittel, um die Medien über Ereignisse, Produkte, Stellungnahmen und Veranstaltungen zu informieren. Auf diesem Weg kann eine gewünschte Aussage per Mailing zielgerichtet an möglichst viele Redaktionen verteilt werden. Gleichzeitig können über Aushang und über die Website weitere Empfänger erreicht werden. Neben der aktuellen Information ist die PM ein sehr gutes Medium, den Kontakt zu den Medien aufrechtzuerhalten und sich regelmäßig in Erinnerung zu rufen. Auf diese Weise lässt sich ein gutes Verhältnis zu den Redaktionen aufbauen, von dem das Unternehmen in einer Krisensituation profitiert. PM werden meist nicht 1:1 übernommen, sondern sind ein Hinweis auf ein Thema. Journalisten haben im Übrigen keinerlei Verpflichtung eine Pressemitteilung zu verarbeiten und zu veröffentlichen. Sie ist lediglich ein Informationsangebot an die Redaktionen. Allerdings gilt: Je professioneller sie strukturiert und geschrieben ist, desto eher greifen Journalisten auf die Informationen zurück und verwendet sie für ihre Berichterstattung. 67 Vom Stil her gleicht eine effiziente Pressemitteilung einer Nachricht und ist damit eine der wesentlichen journalistischen Darstellungsformen. Es handelt sich dabei um die kompakte Darstellung eines Ereignisses, das für Leser, Radiohörer oder Fernsehzuschauer interessant und wichtig ist. Die Nachricht gibt Antwort auf alle für das Thema relevanten journalistischen W-Fragen: x
Wer?
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Was?
x
Wann?
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Wo?
x
Wie?
x
Warum?
x
Woher/welche Quelle?
68 Die ausführlichere Nachricht heißt Bericht und beleuchtet zusätzlich die Hintergründe der Nachricht. Nachrichten und Berichte zu schreiben, ist journalistischer Alltag. Die Auswahl der Themen erfolgt nach dem Nachrichtenwert, der sich zusammensetzt aus der Aktualität und aus dem Wissens-, Unterhaltungs- und Nutzwert. Für den Aufbau der Nachricht gilt das Grundprinzip: Das Wichtigste, der Kern, kommt zuerst. Auf den Kern folgen die anderen Bausteine: Einzelheiten, Quelle, Hintergrund. Wann eine Nachricht von Redak-
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teuren auch tatsächlich genommen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen u. a.: x
Ist diese News tatsächlich aktuell?
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Passt die News in die derzeitige Themenlage des Blattes?
x
Ist die News relevant für die Leser?
x
Ist das Thema einfach darstellbar?
x
Ist diese News wichtiger als andere, die über den Ticker kommen?
Bei der Beurteilung des tatsächlichen News-Faktors gilt: Die Nachricht muss vom Ad- 69 ressaten als wichtig wahrgenommen und nicht vom Absender. Die für eine Pressemitteilung relevanten Themen in der Insolvenz werden bei Rz. 105 ff. beschrieben. Neben den dort aufgeführten Anlässen für den möglichen Einsatz der Pressemitteilung wird die Pressemitteilung auch als Kommunikationsinstrument für die Reaktion auf mögliche Störfaktoren eingesetzt (siehe Rz. 115 ff.). Die Mitteilung dient auch zur Ergänzung bspw. bei Pressekonferenzen und sollte zudem auf der Unternehmenswebsite veröffentlicht werden. Dort können dann alle Interessierten die Mitteilung direkt lesen und sind nicht auf die Filterung der Redaktionen angewiesen. Dies ist vor allem dann hilfreich, wenn Journalisten die ursprüngliche Meldung nicht korrekt wiedergeben oder den Nachrichtenwert der Meldung für ihre Leser als zu gering einschätzen beziehungsweise andere Meldungen, die in der Redaktion eingingen, für wichtiger erachten und sie deshalb nicht aufnehmen. Hilfreich für Journalisten ist es, wenn in der Pressemitteilung nach der eigentlichen Mel- 70 dung noch ein kurzer historischer Ablauf zum bisherigen Verfahren aufgeführt ist. Dies hilft sowohl Journalisten, die das Verfahren von Beginn an begleiten, als auch Journalisten, die neu über das Verfahren berichten, bei der Einordnung der Meldung. Außerdem sollte bei jeder Mitteilung für mögliche Rückfragen mit Kontaktdaten aufgeführt sein. Wichtig: Vor dem Versand einer Pressemitteilung mit entsprechenden News immer erst die Belegschaft über die News informieren. Die PM kann nach dem Versand auch ins Intranet oder ggf. ans schwarze Brett gehangen werden. 2.3
Pressekonferenz
Die Pressekonferenz als Mittel der Unternehmenskommunikation ist eine Möglichkeit, 71 komplexe Themen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Anders als bei der Pressemitteilung ist die Pressekonferenz eine Gelegenheit, in einen persönlichen Dialog mit den Medien zu treten und auf diese Weise Hintergründe zu erläutern und bestimmte Aspekte zu diskutieren. Auf einer Pressekonferenz kann nach außen auch Geschlossenheit demonstriert werden. Sei es innerhalb der Geschäftsführung/des Vorstands oder auch zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat. Journalisten können direkt im Anschluss auf die vorbereiteten Statements des Unternehmens reagieren und (kritische) Fragen stellen. Auf diese möglichen Fragen sollte man sich unbedingt vorbereiten, denn es können neben dem eigentlichen Thema z. B. durch Indiskretionen nach außen auch Umstände thematisiert werden, die aus Unternehmenssicht grundsätzlich noch gar nicht spruchreif und für das Unternehmen aus diesem Grund kritisch sind. Die Durchführung einer physischen Pressekonferenz ist zu empfehlen, wenn viele Adres- 72 saten schnell und zur gleichen Zeit informiert werden müssen. Eine Einladung macht aber nur dann einen Sinn, wenn es einen wirklichen Anlass dafür gibt und den Redakteuren inhaltlich relevante Neuigkeiten geboten werden können (z. B. Jahresbericht und Bilanzpräsentationen, Abschluss von M&A-Transaktionen, Hintergründe eines großen Werksunfalls). Es ist zu berücksichtigen, dass insbesondere physische Pressekonferenzen einen erheblichen Zeitaufwand für alle Beteiligten bedeuten. Unternehmensvertreter sind für Voskuhl
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Beginn das Informationsbedürfnis der Medien und man musste schnell reagieren. Nach Abgabe des Insolvenzantrags und der Bestellung eines vorläufigen Sachwalters durch das Amtsgericht wurden am selben Tag noch die Medien kurz über eine erste Pressemitteilung informiert und für den nächsten Tag zu einer Pressekonferenz eingeladen. Der Presseraum im Stadion war voll: zahlreiche Fernsehkameras, Fotoapparate, Mikrofone richteten sich auf die Verantwortlichen, darunter der vorläufige Sachwalter, der Gutachter, der die Insolvenzreife des Clubs feststellte und später vom Verein zum Sanierungsbeauftragen berufen wurde, ein Mitglied des Aufsichtsrates, ein Verantwortlicher aus dem Bereich Sport sowie der Pressesprecher der Sanierer, der die Konferenz moderierte. Da dem Geschäftsführer des Vereins bereits einige Zeit vor Insolvenzantrag gekündigt wurde, hatte sich die Frage erübrigt, ob auch er auf das Podium geht. Die Herausforderung auf dieser ersten Pressekonferenz sowie in den zahlreichen Gesprächen der Wochen danach war es, den Sportjournalisten den Kontext von Wirtschaft, Sanierung, Insolvenzrecht und den Statuten des Deutschen Fußball Bundes zu vermitteln. Die Podiumsteilnehmer wurden mit einem zuvor abgestimmten Fragen-Antworten-Katalog auf die möglichen Fragen der Journalisten vorbereitet. So gelang es, einen Einklang in der Sprachregelung zu erreichen und keine Wiedersprüche zu erzeugen. Wichtig für alle Teilnehmer war auch hier der Hinweis, dass die Pressekonferenz nach dem offiziellen Ende und dem Verlassen des Podiums noch nicht vorbei ist. Im Gegenteil, jetzt kommt es für die Verantwortlichen darauf an, äußerst konzentriert zu bleiben, denn die Journalisten wollen vor ihren Mikrofonen und Kameras jetzt eigene Statements einholen, die ihre Kollegen (und Mitbewerber) nicht haben. Mit individuellen rhetorischen Mitteln versuchen sie dabei natürlich, doch noch Informationen zu erhalten, die man auf der eigentlichen Pressekonferenz nicht bekommen hat. Hier gilt es, sich an dem im Fragen-Antworten Katalog festgelegten Sprachgebrauch zu orientieren und sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. In den Wochen und Monaten nach der ersten Pressekonferenz verging kaum ein Tag, an dem Journalisten nicht mit neuen Gerüchten, Themen oder einfach nur Verständnisfragen auf den Verein zukamen. Für die kontrollierte Kommunikation war es hier wichtig, dass sie immer eine Person, die ihnen Fragen zu den Themen beantworten konnte, bei neuen relevanten Fakten Pressemitteilungen verschickte, Pressegespräche mit Verantwortlichen organisierte und vorbereitete. Bei entsprechenden Anlässen wurde auch wieder zu einer Pressekonferenz eingeladen. Dabei wurde aber sauber getrennt zwischen den üblichen Pressekonferenzen vor und nach den Spielen, an den von Seiten des Vereins nur Trainer und/oder sportlicher Direktor sowie auch einzelne Spieler teilnahmen und den Pressekonferenzen, auf denen es um die Themen Sanierung, Insolvenzverfahren und mögliche Perspektiven des Vereins ging. Für die breite Öffentlichkeit wie Fans und Sponsoren wurden Auszüge der Pressekonferenzen auch auf die Website des Vereins gestellt. Mit dieser Transparenz wurde zum einen Vertrauen aufgebaut und zum anderen wurden wesentliche Aussagen der Verantwortlichen direkt in die Zielgruppen transportiert. Um dem Verein möglichst lange alle Sanierungschancen zu erhalten, war es ein wesentliches Ziel der Sanierer, den Spielbetrieb der Mannschaft bis zum Saisonende im vorläufigen Verfahren zu gewährleisten – fast neun Monate. Andernfalls hätte es aufgrund der damals geltenden Statuten des DFB, den Ausschluss vom Spielbetrieb sowie ein Zwangsabstieg – möglicherweise sogar gleich um mehrere Ligen – gegeben. Dieses Ziel wurde erreicht und der Spielbetrieb konnte bis zum Ende der Saison aufrechterhalten werden. Pressekonferenzen der Sanierer waren in diesem Zeitraum aber eher die Ausnahme und wurden nur bei sehr gewichtigen Themen abgehalten.
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§ 19 2.4
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation Hintergrundgespräch
74 Während man sich in einer Pressemitteilung und einer Pressekonferenz an eine größere Runde von Journalisten und Redaktionen richtet, kann man für das Hintergrundgespräch eine Auswahl treffen und den Teilnehmerkreis eingrenzen, oftmals auch nur auf eine Person. Das Presse-/Hintergrundgespräch ist eine gute Möglichkeit, die Hintergründe zu einem bestimmten Thema (z. B. Jahresbilanz, Marktentwicklungen, Strategien) umfassend zu erläutern, komplexe Zusammenhänge darzustellen und über Tatsachen zu informieren. Dabei sollten dem Gegenüber unbedingt neue Informationen geboten werden. Ein solches Gespräch schafft eine Vertrauensbasis zwischen dem Unternehmensvertreter und den Medien. Das Hintergrundgrundgespräch ist ein vertrauliches Gespräch, in dem über den Tellerrand geschaut wird, sodass Journalisten einen guten Überblick erhalten. Man kann aber auch vereinbaren, dass daraus über bestimmte Sachverhalte berichten werden kann. Wichtig ist, dass vor dem Termin die Regeln für das Gespräch abgesprochen und festlegt werden, denn es gibt auch Journalisten, die an einem solchen Gespräch generell nur dann interessiert sind, wenn sie über alle Themen daraus berichten dürfen. Sind die Regeln aber zuvor abgestimmt, sind die Redakteure laut dem Pressekodex14), einer Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln für die journalistische Arbeit, verpflichtet, diese Absprachen zu berücksichtigen. Es ist gängige Praxis zu vereinbaren, dass mögliche Zitate aus diesem Gespräch vor Veröffentlichung zur Abstimmung und Freigabe vorgelegt werden und über bestimmte Aspekte nicht berichtet werden darf. Für ein derartiges Gespräch ist eine gute Vorbereitung erforderlich (Stichwort Fragen- und Antworten-Katalog), da auch mit kritischen Fragen zu rechnen ist. Im Übrigen werden Hintergrundgespräche auch geführt, wenn der Verantwortliche Informationen nach außen geben aber auf keinen Fall als Urheber der Informationen gelten möchte oder etwa darf. Beispiel: Hintergrundgespräch in einem Verfahren über die Vergütung eines Insolvenzverwalters Vor einigen Jahren ging ein Verfahren durch die bundesweiten Medien, bei dem ein Insolvenzverwalter eine sehr hohe Vergütung für ein vorläufiges Insolvenzverfahren erhalten hat, nachdem das zuständige AG diesen Antrag bewilligte. Einige Zeit später kam die Höhe der Vergütung an die Öffentlichkeit. Die mediale Aufregung war groß, die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Der Druck durch die Öffentlichkeit stieg – nicht nur auf den Insolvenzverwalter, sondern die gesamte Vergütungsordnung für Insolvenzverwalter wurde scharf kritisiert, das Image der Verwalter erlitt Schaden. Eine eingereichte Beschwerde gegen den Vergütungsbeschluss wurde vom LG zunächst zurückgewiesen. Erst auf Beschluss des BGH musste der Vergütungsanspruch neu geprüft werden. Bis dahin waren einige Jahre vergangen und die juristische Situation war sehr komplex, denn aufgrund des genehmigten Vergütungsanspruchs durch das AG und durch das LG musste der Insolvenzverwalter davon ausgehen, dass die ausbezahlte Vergütung auch rechtens ist. Das zuständige Gericht hat deshalb einen erfahrenen Insolvenzverwalter zum Sonderverwalter bestellt, der die verschiedenen Rechtsansprüche prüfen sollte. Das Verfahren wurde von den bundesweiten Medien weiter beobachtet. Nach eingehender Prüfung der Sachlage wollte der Sonderverwalter einen Vergleich erwirken, um langwierige und vor allem weitere teure Prozesse zu verhindern. Dies galt es nun neben den beiden Parteien auch der Öffentlichkeit zu vermitteln. Ein wesentliches Mittel der Kommunikation für den Sonderverwalter waren dabei zahlreiche Hintergrundgespräche mit verschiedenen Journalisten. Dabei ging es zum einen darum, die Sachlage und die Komplexität des Verfahrens darzulegen. Zum anderen war es aber auch sehr wichtig, Vertrauen aufzubauen. Der Sonderverwalter ___________ 14) Publizistische Grundsätze (Pressekodex) des Deutschen Presserats, Stand: 11.9.2019, abrufbar unter https://www.presserat.de/pressekodex.html/ (Abrufdatum: 9.12.2022).
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musste also bei entsprechenden Gegebenheiten „Gesicht“ zeigen und dabei seine Bewegründe erläutern. Zudem wurden alle Presseanfragen von einem Pressesprecher nach vorheriger interner Abstimmung beantwortet. Die Strategie ging auf: Nach Verkündung des von den Parteien erzielten Vergleichs wurde die Lösung auch in den Medien akzeptiert, in einigen Kommentaren die Rolle des Sonderverwalters sogar positiv herausgehoben. 2.5
Das Wortlautinterview in Print-Produkten
Das Wortlaut-Interview zählt zu den klassischen journalistischen Darstellungsformen. 75 Journalisten stellen Fragen, die Interviewten geben ihre Sicht der Dinge wieder. Das Interview ist somit immer auch eine persönliche Meinungswiedergabe. Mit ihren Fragen führen der Journalisten das Gespräch, geben die Themen vor und können so ihre Zielsetzung verfolgen. Darauf haben Interviewte in aller Regel keinen Einfluss. Aber sie kontrollieren die Antworten und sollten sich vor dem Gespräch klar machen, welche zentralen Botschaften sie in der Öffentlichkeit vermitteln wollen. Es ist üblich vor dem Interview mit den Journalisten das Thema einzugrenzen und zu vereinbaren, sich das aus dem Gespräch niedergeschriebene Interview vor der Veröffentlichung zur Freigabe vorlegen zu lassen. Hier können Befragte nochmal Einfluss auf ihre Antworten nehmen und sie bei Bedarf korrigieren. Dieses Einverständnis ist u. a. daraus gewachsen, da aus dem gesamten Gespräch meist nur Ausschnitte im Schriftinterview ausgewählt werden, was Einfluss auf die Gesamtaussage haben kann, und weil sich die Tonalitäten und Zwischentöne des gesprochenen Wortes nicht immer so einfach in das geschriebene Wort übersetzen lassen. Auch wenn die Befragten diese Einflussmöglichkeit haben, sollten sie sparsam damit umgehen und nicht das komplette Interview umdrehen. Das ist in der Regel für beide Seiten unbefriedigend und es kann dann durchaus passieren, dass Journalisten das Interview dann lieber gar nicht veröffentlichen. Es ist deshalb wichtig, dass sich Interviewte gut vorbereiten, wissen, wo mögliche Fangfragen lauern könnten, und sich keine Aussagen entlocken lassen, die sie nicht geschrieben sehen wollen. Hilfreich ist es, wenn man ein paar grundsätzliche Informationen zu seinem Gegenüber hat und besser einschätzen kann, wie die Journalisten in der Regel ihre Interviews führen, welche rhetorischen Mittel sie womöglich einsetzen und in welche Richtung sie das Gespräch leiten werden. 2.6
Das Interview für Hörfunk und Fernsehen15)
Redakteure von Fernsehen und Hörfunk denken in Bildern und O-Tönen. Das heißt neben 76 einem relevanten Thema denken sie stets darüber nach, wie sie ihre Story adäquat den Zuschauern und Hörern präsentieren können. In der Regel möchten also Fernsehredakteure mit Verantwortlichen vor der Kamera sprechen, Hörfunkredakteure führen Gespräche auch per Telefon und zeichnen diese für ihre Sendungen auf. Für ungeübte Gesprächspartner ist das Reden vor Mikrofon, gerade bei heiklen Themen, nicht einfach. Wer ungeübt ist, tritt hier gerne einmal ins Fettnäpfchen – diese werden von den Redakteuren mitunter auch mal bewusst aufgestellt. Grundsätzlich gilt: Wenn die Kamera läuft oder das Mikrofon angeschaltet ist, müssen die Interviewten extrem konzentriert sein, denn eine einmal gemachte Aufnahme kann im Zweifel später immer (gegen sie) verwendet werden. Solange das Gespräch nicht Live gesendet wurde, können O-Töne – etwa bei Versprechern – zwar nochmal neu aufgezeichnet werden, was meist auch problemlos von den Redakteuren gemacht wird. Aber es gibt auch Sendeformate, die es genau auf derartige Versprecher anlegen und sogar bestimmte Aussagen von den Interviewten provozieren möchten. Hier gilt es ruhig zu bleiben, selbst wenn einem die Frage zum x-ten Mal gestellt wird: Immer die gleiche ruhige ___________ 15) S. hierzu auch Ramelsberger/Rossié, Medientraining kompakt: 150 konkrete Tipps für den Umgang mit Journalisten von Presse, Nachrichtenagenturen, Hörfunk und Fernsehen.
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Antwort geben und sich nicht provozieren lassen, denn Kamera und Mikrofon nehmen alles auf. Sind die Redakteure tatsächlich an einer extremen Reaktion interessiert, werden sie sich genau die entsprechende Szene für den Beitrag aussuchen. 77 Im Hörfunk und Fernsehen gibt es verschiedene Reportage- und Magazinsendungen, in denen Themen durchaus allumfassend behandelt werden können. In der Regel sind es aber meist Nachrichtensendungen, die über Unternehmen und ihre Krisen berichten. Der Unterschied zu den Printmedien liegt vor allem darin, dass die Themen und Geschichten viel komprimierter dargestellt werden. So dauert der gesamte Beitrag meist nicht mehr als 2,5 Minuten, das darin enthaltene Interview mit einem der Verantwortlichen oftmals nicht länger als eine halbe Minute. Um in dieser kurzen Zeit das Wichtigste zum aktuellen Stand unterzubringen, bedarf es auf Seiten der Interviewten einer guten Vorbereitung und viel Übung. Die Befragten sollten sich im Vorfeld die Fragen geben lassen und gezielt Antworten vorbereiten (Stichwort Q&A). Die Antworten gilt es aber nicht auswendig zu lernen und bloß „aufzusagen“, denn das klingt wenig spannend und auch meist wenig glaubwürdig. Die Kunst ist es, die aktuell formulierte Frage des Journalisten aufzunehmen und mit den vorbereiteten Antworten zu einem lebendigen Statement zu verschmelzen. Dabei sollten u. a. folgende Aspekte beachtet werden: x
Eine einfache verständliche Sprache wählen und keine komplizierten (Fach-)Begriffe verwenden.
x
Kurze Sätze bilden, keine Verschachtelungen.
x
Wenige Informationen pro Satz präsentieren.
x
Zeichensetzungen für Sprechpausen nutzen.
x
Relevante Begriffe durchaus wiederholen, damit sie vom Hörer behalten werden.
x
Verben benutzen, sich aktiv ausdrücken und keine Konjunktivformen einsetzen.
78 Beim Fernsehinterview kommt neben dem sprachlichen auch noch der visuelle Eindruck hinzu, der beim Betrachter zu einem Gesamteindruck über die Interviewten führen. Um seriös und kompetent zu wirken, sollte die Kleidung nicht ablenken und dezent gewählt werden. Um das Bild möglichst ruhig zu halten, sollte auf kleingemusterte Kleidung verzichtet werden. Auch rein schwarze oder rein weiße Kleidung kann zu Verfälschungen führen, da der Kameramann dann die Belichtung korrigieren muss. Für ein Statement vor der Kamera wählen Redakteure meist einen Ausschnitt, der die Interviewten leicht schräg von der Seite ab der Brust zeigt. Bei diesem Ausschnitt während des Interviews deshalb keine Hände oben ins Bild ziehen. Schon vor der Aufnahme, eine bequeme gerade Position wählen, in der man auch ein paar Minuten verharren kann. Ruhig stehen bleiben und nicht im Stand mit den Beinen wackeln oder das Standbein wechseln. Wichtig ist auch der Gesichtsausdruck während des Interviews. Glaubwürdig und sympathisch wirkt nur, wer es versteht, seinen Gesichtsausdruck mit dem Gesagten in Einklang zu bringen. Wer lachend verkündet, dass Arbeitsplätze abgebaut werden müssen oder mit ernster Miene Auskunft erteilt, dass man einen Investor gefunden hat, hinterlässt beim Betrachter womöglich Fragezeichen. Wenig vertrauenerweckend wirkt auch, wer vor der Kamera schwitzt. Interviewte sollten im Sommer deshalb kühlere Plätze für das Gespräch aufsuchen und sich in Innenräumen mit stark wärmeabstrahlenden Scheinwerfern nicht schon lange im Vorfeld vor den Lichtern aufhalten. Wenn möglich sollten sich die Interviewten von einem Profi zuvor schminken bzw. abtupfen lassen. Im TV-Studio ist dies in der Regel Standard. 79 Wer häufiger bei Presseanfragen vor die Kamera oder das Mikrofon muss, sollte ein spezielles Medientraining in Erwägung ziehen. Hierbei geben geschulte Profis Feedback auf Sprache, Körperhaltung sowie Ausdruck und geben Tipps, wie die Interviewten alleine
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
§ 19
durch ihre Darstellung kompetenter und glaubwürdiger bei den Betrachtern und Hörern wahrgenommen werden. 3.
Social Media in der Unternehmenskommunikation16)
Unter Social Media fallen Webseiten und Apps, über die Nutzer Inhalt kreieren, teilen 80 und sich vernetzen. Wesentliches Merkmal ist der soziale Dialog. Experten sprechen in diesem Zusammenhang auch von Many-to-Many-Kommunikation: User erstellen Inhalte über die ein permanenter, zeitlich unbegrenzter Austausch mit anderen stattfindet. Das Web 2.0 – im Unterschied zum „reinen Konsum“ Web 1.0 auch als „Mitmachweb“ bezeichnet – ist stark durch Soziale Medien geprägt. Eine der wichtigsten Instrumente dabei sind die Kontakte der User, denn je mehr Kontakte, desto größer die Verbreitung einer Meldung. Auf vielen Plattformen kann man sich zudem in speziellen Interessengruppen organisieren. 2007 hat Twitter als erste Social-Media-Plattform Hashtags (#) eingesetzt, um bestimmte Stichworte in den Posts kategorisieren zu können, so dass diese einfacher gefunden werden. Dieses System – ausgewählte Stichwörter werden mit einem # markiert – haben viele Plattformen übernommen. Die wichtigsten sozialen Netzwerke sind u. a. (Datenstand: April/Mai 2022):
81
x
Facebook mit etwa 2,91 Mrd. User das weltweit größte soziale Netzwerk;
x
Instagram: Ein soziales Netzwerk mit Fokus auf Video- und Foto-Sharing mit etwa 25 Mio. Unternehmensprofile und 1 Mrd. User/Monat;
x
WhatsApp: Eigentlich ein Messenger Dienst für private News. Mit etwa 2 Mrd. Usern aber immer häufiger auch zur Kundenbindung eingesetzt;
x
YouTube: Bekannteste Video-Plattform, mehr als 2,2 Mrd. User;
x
LinkedIn: Netzwerk für berufliche Kontakte, weltweit 774 Mio. User;
x
Twitter: Mikroblogging-Dienst, täglich 211 Mio. User. Das Besondere: Maximal 280 Zeichen pro Tweet.
x
Xing: Ein Online-Karrierenetzwerk. Im deutschsprachigen Raum etwa 20 Mio. Mitglieder.
3.1
Soziale Netzwerke und Unternehmenskommunikation
Der gesamte Bereich Social Media kann in Unternehmen sowohl die interne als auch die ex- 82 terne Kommunikation deutlich erweitern, denn Unternehmen und Organisationen können über Social-Media-Plattformen direkt ihre Zielgruppen ansprechen und erreichen. Deshalb zählen diese Plattformen mittlerweile zu wichtigen Kommunikations- und Werbekanälen. Social Media aber ist keine Insellösung, sondern sollte eingebettet sein in die gesamte Kommunikationsstrategie des Unternehmens. Mit Kommunikation über Social-Media-Marketing (SMM) wollen Unternehmen/Organi- 83 sationen ihre Zielgruppen direkt ansprechen und so Werte für ihre Stakeholder schaffen. Dazu nutzen sie verschiedene Strategien und Taktiken, wie den Aufbau eigener Blogs oder Foren, Unterstützung von Influencern etc. Die Vorteile: SMM ist kostengünstiger als herkömmliche Werbung, die Botschaften können spezifisch für mehrere Plattformen angepasst und genutzt werden, es lassen sich hohe Reichweiten erzielen. Zudem ermöglichen soziale Netzwerke, dass Unternehmen Daten und Informationen über das Konsumverhalten ihrer Kunden erhalten können, die wiederum für die weitere Strategie eingesetzt werden. Gefahr: ___________ 16) Ausführlich zum Thema Social Media s. Plauschinat/Klaus in: Scherfer/Volpers, Methoden der Webwissenschaften, Bd. 1 Anwendungsbezogene Methoden; Stumpp et.al, Social Media Handbuch.
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
Die über das Web 2.0 verbreiteten Botschaften des Unternehmens oder der Organisation müssen nicht automatisch mit dem Bild der Internet-Community übereinstimmen. Durch die Interaktion kann das zu negativen Rückmeldungen führen und einen entsprechenden Effekt ausüben – von negativen Bewertungen bis hin zum Shitstorm.17) Die Kontrolle darüber, wer welche Meldung bekommt, liegt dabei nicht beim Unternehmen. Spätestens in dem Moment, indem ausgewählte User eine Meldung „liken“, „teilen“ oder „kommentieren“, entscheidet der hinter der Plattform liegende (meist unbekannte) Algorithmus, wer welche Meldung sieht. 84 Einer der wesentlichen Unterschiede zur Kommunikation über herkömmliche Medien wie TV, Print und Hörfunk ist die fehlende Instanz, die anhand journalistischer Kriterien prüft und eingreift, wenn Informationen z. B. nicht wahrhaftig sind, sie womöglich von Einzelinteressen gesteuert oder beleidigend sind. Wenn geltende Gesetze dadurch verletzt werden, obliegt es den Betreibern der Plattform, entsprechende Äußerungen ausfindig zu machen und zu löschen. In der Öffentlichkeit wird regelmäßig darüber diskutiert, ob sie dieser Verantwortung gerecht werden oder nicht. Die dafür zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager hat sich u. a. zu diesem Thema in einem längeren Interview mit dem Titel „Ich sorge dafür, dass niemand glaubt, über dem Gesetz zu stehen“ am 28.4.2022 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ geäußert und auf die neuen EU-Gesetze Digital Services Act (DSA) und Digital Markets Act (DMA) verwiesen. So will sie die Betreiber der Plattformen stärker in die Verantwortung bringen. 85 Exkurs: Die Bedeutung von Social Media für Unternehmen zeigt auch eine Studie der Landaumedia GmbH, Berlin, die im PR-Journal vom Februar 2022 aufgegriffen wurde. Sie analysiert die Aktivitäten der CEO’s deutscher Unternehmen: Beispiel: VW-Vorstand (ehem.) Herbert Diess mit 650 000 Followern Mit mehr als 241 000 Followern auf LinkedIn und 42 000 Followern auf Twitter sowie 36 500 Followern auf dem Portal Weibo in China – als einziger CEO aus Deutschland – ist VW CEO (ehem.) Herbert Diess an der Spitze unter den Deutschen CEO’s. Das ist das wesentliche Ergebnis einer Analyse des Mediendienstleisters Landau Media GmbH & Co. KG aus Berlin für das prmagazin. Landau media hat dabei die Aktivitäten der DAX-Vorstände auf LinkedIn, Twitter und Weibo für das Jahr 2021 analysiert. Auf Rang zwei der reichweitenstärksten CEOs auf LinkedIn liegt Christian Klein/SAP, mit 116 233 Followern gefolgt von Timotheus Höttges/Deutsche Telekom mit 106 003 Followern und Ola Källenius/Daimler mit 96 371 Followern. Herbert Diess Kollege Olaf Källenius ist nur auf LinkedIn aktiv und veröffentlichte dort 2021 über 147 Beiträge, mehr als jeder andere CEO eines deutschen Konzerns. Er gewann so 35 000 Follower hinzu. Aber auch hier ist Diess vorne. Er gewann auf LinkedIn in 2021 88 000 neue Follower.
___________ 17) Shitstorm bezeichnet im Deutschen das lawinenartige Auftreten negativer Kritik bis hin zur Schmähkritik i. R. von sozialen Netzwerken, Blogs oder Kommentarfunktionen von Internetseiten. Er richtet sich gegen Unternehmen, Institutionen, Einzelpersonen oder in der Öffentlichkeit aktive Personengruppen wie etwa Parteien. Der Duden nahm das Wort 2013 auf und definiert einen Shitstorm als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“, Dabei richtet sich laut Sascha Lobo (u. a. Spiegel-Kolumnist mit Schwerpunkte Internet und Markenkommunikation) „in kurzem Zeitraum eine subjektiv große Anzahl von kritischen Äußerungen […], von denen sich zumindest ein Teil vom ursprünglichen Thema ablöst und [die] stattdessen aggressiv, beleidigend, bedrohend oder anders attackierend geführt [werden] gegen Personen, Unternehmen oder Institutionen.“ Der Begriff wurde in Deutschland zum Anglizismus des Jahres 2011 und in der Schweiz zum Wort des Jahres 2012 gewählt. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Shitstorm (Abrufdatum: 9.12.2022).
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
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VW nutzt für jede Plattform zwar eine eigene Strategie, verwertet aber etwa 60 % seiner Beiträge für mehr als einen Social Media-Kanal. Dazu zählen u. a. die auf Chinesisch gehaltene Neujahrsansprache des CEO, die Empfehlung des Bill-Gates-Buchs „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ oder die weltweite Vermarktung des „VW Power Day“, auf dem der Konzern seine Technologie-Roadmap für die Bereiche Batterie und Laden bis 2030 präsentierte. Inhaltlich unterscheiden sich die Themen aber dennoch auf den einzelnen Plattformen. So stehen bei den 136 LinkedIn-Beiträgen in 2021 die strategische Konzernausrichtung (z. B. zunehmende Elektrifizierung) sowie die Vorstellung neuer Modelle (inklusive Tests im Videoformat) im Fokus. Die meiste Aufmerksamkeit mit einer Interaktionsrate von 7 % (ansonsten etwa 0,85 %) aber erreichte er im Juli 2021 mit einem Video, in dem er auf dem von Audi entwickelten ElektroSurfbrett durch das Hafenbecken am Mittellandkanal gleitet und dabei allen VW-Mitarbeitenden schöne Sommerferien wünscht. Analog zu LinkedIn nutzt Diess in China die Plattform Weibo zur Kommunikation, ebenfalls mit strategischen und produktbezogenen Themen, etwa den Bau neuer Fabriken für modulare E-Antriebe, oder Einschätzungen zur Elektrifizierung des Verkehrs in China. Auf Twitter wiederum agiert Diess politischer und scheut auch vor Kampfansagen an Mitbewerbern nicht zurück. Elon Musk will er Marktanteile abnehmen, äußerst sich zur Mobilitätswende oder zur Einhaltung der Klimaschutzziele und richtet sich direkt an die politischen Hauptakteure. Neben den Erfolgen auf Social Media kann Diess damit auch bei den klassischen Medien punkten. Mehr als 3 000 redaktionelle Beiträge weltweit, beziehen sich auf seine LinkedIn-Posts. Darunter auch von internationalen Leitmedien wie New York Times, South China Morning Post und Daily Mail. Der Aufwand: Eine wöchentliche zweistündige Redaktionskonferenz, jeder Post, jeder Kommentar wird von Diess freigegeben. Er ist durchgängig involviert, was über seine Kanäle kommuniziert wird.18) 3.2
Soziale Netzwerke und Pressearbeit
Die Pressearbeit bleibt wichtiger Faktor der Unternehmenskommunikation und damit des 86 Managements, unabhängig davon, über welche Kanäle sie stattfindet. Herkömmliche Pressemitteilungen, die über ausgesuchte Presseverteiler an Journalisten als Multiplikatoren verschickt werden, bleiben wichtige Bausteine der Pressearbeit. Mit Social Media kommt ein weiterer Baustein hinzu und macht eine klare Differenzierung der Ansprache notwendig. Durch die zunehmende Verbreitung des Web 2.0 ist eine klassische Trennung der Kanäle von PR, Marketing und Vertrieb nur noch schwer aufrechtzuerhalten. Selbst die Grenzen von interner und externer Kommunikation weichen auf, denn auch Beschäftigte organisieren sich in Gruppen, folgen dem Unternehmen auf Portalen etc.19) Im Krisenfall können unüberlegte Äußerungen von Beschäftigten die negative Berichterstattung zusätzlich anfachen. Gleichzeitig kann die authentische, ehrliche Kommunikation zufriedener Beschäftigte Krisen auch abschwächen. Verpflichtende Social-Media-Richtlinien schaffen bei Mit___________ 18) Quelle: prmagazin 02/2022, auf Basis der Studie CEO-Kommunikation der DAX/MDAX Unternehmen auf LinkedIn der Landau Media GmbH & Co. KG, Berlin, 10/2021. 19) Durch Social Media können heute theoretisch alle Beschäftigten Unternehmensbotschafter sein, ihm dabei aber auch bewusst oder unbewusst schaden. Mit der Größe des Unternehmens steigt auch die Notwendigkeit von Richtlinien für die Social Media-Nutzung der eigenen Mitarbeiter. Diese sollten verpflichtend und somit Bestandteil des Arbeitsvertrages sein. Neben dem Umgang mit Datenschutz und Urheberrecht sollte auch klar geregelt sein, ob und wie Mitarbeiter sich privat in öffentlichen SocialMedia-Kanälen als solche darstellen und kom¬muni¬zieren dürfen. S. a. https://www.business-wissen.de/ artikel/social-media-guidelines-fuer-Mitarbeiter-mit-beispielen/ (Abrufdatum: 9.12.2022).
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arbeitern ein Bewusstsein bzw. geben eine Orientierung, wozu und wie sie sich über das Unternehmen im Social Web äußern dürfen. Sie können so rufgefährdende Beiträge und die Verbreitung sensibler Unternehmensinterna im Social Web vorbeugen und helfen bei der Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit von Äußerungen der Beschäftigten. 87 Für Unternehmen ist es deshalb im Umgang mit Social Media wichtig, in einem übergeordneten Konzept Ziele, Vorgehen und Verantwortlichkeiten zu definieren, die zum Unternehmen passenden Kanäle festzulegen und dabei die individuellen Besonderheiten der verschiedenen Kanäle zu berücksichtigen. Bei der konkreten Maßnahme sind vor allem folgende Fragen von grundsätzlicher Bedeutung: x
Über welche Kanäle erreiche ich meine Zielgruppe?
x
Welche Botschaften sind für welche Zielgruppen/Kanäle relevant?
x
Wie müssen die Botschaften für die jeweiligen Kanäle aufbereitet werden? (Foto? Film? Länge der Meldung? Zielgruppenspezifische Tonalität des Textes? etc.)
88 Dabei gilt es zu beachten, dass die Botschaften für die einzelnen Kanäle und Plattformen zwar spezifisch aufbereitet werden müssen, sie dürfen sich aber nicht widersprechen. 89 Bei allen Aktivitäten sollten Unternehmen/Gesellschaften ebenfalls berücksichtigen: Immer mehr Journalisten der Publikums- und Fachpresse lesen Social Media und greifen von dort Themen auf (Spill-over-Effekt). Eine Zahl soll dies verdeutlichen: VW-Vorstand Diess hat laut Analyse von Landau Media mehr als 3 000 redaktionelle Beiträge „provoziert“, die sich nur auf seine etwa 140 LinkedIn-Posts beziehen. 3.3
Social Media in der Restrukturierung von Unternehmen und Organisationen
90 Der Erfolgszug von Social Media mit Plattformen für die allgemeine gesellschaftliche Diskussion, für das Unternehmensmarketing und für die Unternehmenskommunikation, wird allein schon aufgrund steigender Nutzerzahlen auch künftig weiterrollen. Die Nutzung sozialer Medien gehört damit zu einem etablierten Instrument im Kommunikationsmix der Unternehmen. Je näher dabei die Geschäftstätigkeit, die Produkte oder die Dienstleistung des Unternehmens auf die Endkunden (Verbraucher) abzielen, desto relevanter ist das Social Web für diese Unternehmen und desto intensiver ist auch die dortige Kommunikation. 91 Eine deutliche Zunahme des Interesses im Social Web mit tendenziös kritischen Beiträgen ist in einer Unternehmenskrise oder gar einer Insolvenz wenig überraschend. Ebenso muss mit der Verbreitung von Unternehmensinterna und Gerüchten im Social Web seitens der Beschäftigten oder anderen beteiligten Gruppen gerechnet werden. Unternehmensführung, Restrukturierungsbeauftragte, (vorläufige) Sach- und Insolvenzverwaltungen können sich dieser Realität im Kommunikationsverhalten sowie in der Informationsverbreitung nicht verschließen. 92 Ob Unternehmen oder Organisationen aber in einer Krise mit anstehender Restrukturierung auf diesen Zug aufspringen sollten oder gar müssen, ist dagegen eine andere Frage. Die Aktivitäten eines Unternehmens oder einer Organisation auf einer Social-Media-Plattform ist immer ein Dialogangebot. Aber hilft es in einer wie auch immer gestalteten Restrukturierung weiter, wenn das Unternehmen über Social Media mit (anonymen) Usern über komplexe Restrukturierungsmaßnahmen oder gar notwendige Personalanpassungen diskutiert? Bei aller im Krisenfall gebotenen Transparenz, um Vertrauen aufzubauen, ist eine solche Diskussion oftmals nicht kontrollierbar und kann bei entsprechenden Äußerungen oder Aktionen aus dem Web 2.0 den Sanierungsprozess erschweren. Auf der anderen Seite kann es aber auch sein, dass ein Unternehmen z. B. aufgrund seiner bisherigen starken Social-Media-Aktivitäten gar nicht umhin kommt, sich im Krisenfall auf seinen genutzten Plattformen zu äußern. 732
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
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Auch für die interne Kommunikation kann Social Media weiterhelfen, wenn etwa die Be- 93 schäftigten – z. B. eines Filialisten – bundesweit verstreut sind und es bis dato keine effektive interne Kommunikationsplattform gibt. Hier können von Unternehmensseite z. B. auch kurzfristig Foren, WhatsApp- oder Facebook-Gruppen eingerichtet werden, um die Beschäftigten zu erreichen. Eine grundsätzliche Empfehlung pro oder contra kann also nicht ausgesprochen werden. 94 Grundsätzlich aber gilt es gerade im Krisenfall, Social Media genau zu beobachten und es als Frühwarnsystem für Themen zu analysieren. Ob und wie für die Krisenkommunikation auch Social Media zum Einsatz kommen sollte, hängt von verschiedenen Kriterien ab. Eine individuelle Analyse ist dabei unbedingt erforderlich. Folgende Aspekte/Fragen sollten berücksichtigt werden: x
Ist das Unternehmen bereits auf Social Media-Kanälen unterwegs? x
Wenn nicht, sollte es in der Regel eher die Ausnahmen sein, dies in der Krise neu aufzubauen (fehlende Erfahrung, Kapazitäten, Kosten etc.).
x
Wenn ja, gibt es bereits eine Social Media-Strategie?
x
Welche bisher genutzten Social Media-Kanäle kommen dafür in Frage?
x
Nutze ich die Kanäle regelmäßig oder bin ich nur präsent?
x
Kann die Komplexität einfach und kurz dargestellt werden oder laufe ich Gefahr, ein Schwarz-Weiß-Denken zu provozieren?
x
Wie ist die Erwartungshaltung der Stakeholder/Zielgruppen?
x
In welchen Bereich ist das Unternehmen tätig? x
Unternehmen im B2B sind in der Regel weniger auf Social Media aktiv als Unternehmen im B2C.
x
Unternehmen, die ihr Geld über das Internet verdienen, sind in der Regel häufig auf verschiedenen Plattformen aktiv. Hinweis: Entsprechende Bewertungsportale beobachten.
x
Wie erreicht das Unternehmen bisher seine Zielgruppen?
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Wie ist das tatsächliche Image des Unternehmens oder der Organisation? Wie passt es mit Social Media zusammen?
x
Hat das Unternehmen in der Krise die Kapazitäten und das Geld, Social-Media-Kanäle regelmäßig zu kontrollieren und zu bearbeiten?
x
Lasse ich mich auf Dialog ein? x
Wer bearbeitet dann die Antworten?
x
Welche Abstimmungsprozesse sind notwendig? Achtung: Zeitdruck!! Schnelligkeit ist alles!
x
Bei Dialog: In der „Anonymen Welt des Internets“ wird nicht immer argumentiert, es geht oft auch nur um persönliche Meinung. Gefahr: Shitstorm.
x
Ist die Story erstmal Online, bleibt sie womöglich lange präsent.
x
Zwinge ich meine mir wohlgesonnten Blogger/Influencer auf die Krisenmeldung zu reagieren und sie damit zu verbreiten? Hat das womöglich Auswirkungen auf das Kaufverhalten meiner Kundschaft?
x
Was könnte passieren, wenn das Unternehmen die Social-Media-Kanäle nicht bedient?
Sollte die Analyse ergeben, dass eine Kommunikation über Social Media die Restrukturie- 95 rung voranbringen kann, muss sie eingebettet sein in die gesamte Kommunikationsstrategie.
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
Wird sie nur rein reaktiv betrieben, sollte sie trotzdem so vorbereitet und abgestimmt werden, dass bei entsprechenden Anfragen, Gerüchten, oder sonstigen öffentlichkeitswirksamen Aktionen von Usern über Social Media, das Unternehmen schnell reagieren kann. Sollte die Krisenkommunikation aktiv (auch) über Social Media Plattformen laufen, muss sehr genau abgewogen werden, welche Kanäle überhaupt in Fragen kommen, um komplexe Sachverhalte darüber zu steuern und wie die Informationen entsprechend aufbereitet werden. Die Möglichkeiten der Maßnahmen reichen von einer kurzen Meldung über Twitter, einer Nachricht über den LinkedIn-Kanal des Unternehmens oder bei entsprechender Bedeutung der Neuigkeit auch eine Videobotschaft über Facebook oder YouTube. Voraussetzung: Die Information wird seriös, wahrhaftig, sachlich und der Gesamtsituation angemessen aufbereitet. 96 Eine gute Basis zur Bearbeitung und Nutzung von Social Media in der Unternehmenskrise liegt dann vor, wenn das Unternehmen über eine Social-Media-Strategie verfügt, bereits aktiv über verschiedene Social-Media-Kanäle mit seinen Stakeholdern kommuniziert, SocialMedia-Richtlinien für die Beschäftigten verabschiedet hat, über einen oder sogar mehrere Social-Media-Verantwortliche verfügt und ein Social-Media-Monitoringsystem einsetzt. 97 Im negativen Fall existieren diese Voraussetzungen nicht und die Insolvenz stößt gleichzeitig auf große Aufmerksamkeit im Social Web. Trifft dies zu, sollte schnellstmöglich ein Monitoring (Stichwort Social-Media-Monitoring) eingerichtet werden, damit zumindest während der Krisenphase Meinungen, Themen und Kritikpunkte zeitnah identifiziert werden können, um diese Erkenntnisse in der aktiven Kommunikation zu berücksichtigen und reaktionswürdige Beiträge zu identifizieren. Beispiel: Pressemitteilung ist keine adäquate Unternehmensreaktion auf einen Angriff per Video auf Youtube Ein 2011 in Deutschland gegründetes Unternehmen zur Vermarktung von Online-Inhalten und von YouTube-Influencern gerät 2014 in die Schlagzeilen, da es in Konflikt mit einigen seiner Vertragspartner geraten war. Einem YouTuber gelang es mit einem Video nicht nur seine etwa zwei Millionen Follower der größtenteils 12 – 18-jährigen Jugendlichen zu erreichen, auch die klassischen Medien (TV, Hörfunk, Print) sprangen auf das Thema auf. Hintergrund war, dass der Influencer das Unternehmen trotz gültigem Vertrag verlassen wollte. In diesem persönlichen, sehr emotionalen Video kündigte er diesen Schritt an und begründete ihn mit zahlreichen Vorwürfen gegen das Unternehmen, das ihm demnach angeblich sogar mit einer „Privatinsolvenz“ gedroht hätte. Innerhalb kürzester Zeit hatten dieses Video Millionen Jugendliche auf YouTube und anderen Kanälen gesehen. Viele kommentierten es entsprechend entrüstet und griffen das Unternehmen öffentlich an. Das Unternehmen kündigte darauf eine baldige Stellungnahme an. Diese kam dann auch – als reinem Text aus Unternehmenssicht und dem Versuch, einige Vorwürfe zu entkräften. Das wiederum provozierte die Follower des YouTubers, die ihre Kommentare gegen das Unternehmen verschärften und für eine noch höhere Verbreitung der Meldung sorgten. Das Image des Unternehmens nahm innerhalb kurzer Zeit deutlichen Schaden, weitere unter Vertrag stehende YouTuber kündigten ebenfalls ihre Verträge. Erst einige Zeit später waren dann in klassischen Medien wie dem TV-Format Böhmermann Kommentare zu hören wie: „Unterschriebene Verträge gelten auch für 20-jährige Youtuber“ etc. Ob das Unternehmen mit anderen Kommunikationsmaßnahmen diesen Imageschaden hätte vermeiden können, ist natürlich im Nachhinein schwer zu sagen. Aber es hätte die Reaktionen deutlich abfedern können. Folgende Optimierungsmöglichkeiten wären denkbar gewesen: x
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Schnelligkeit: Keine Ankündigung einer Stellungnahme verbreiten, sondern die Situation schnell als Krise begreifen und sehr genau diskutieren, ob überhaupt und wenn ja, wie man ihr begegnet. Keine Schnellschüsse abgeben aber zügig reagieren.
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Augenhöhe: Einem persönlichen emotionalen Video mit deutlich ausgesprochenen Vorwürfen kann man nicht alleine mit einem Text begegnen. Hier muss die Unternehmensführung ebenfalls mit einem Videostatement und wohl überlegten sachlichen Argumenten nach draußen. Vertrauen wird über eine Person geschaffen und nicht über einen anonym anmutenden Text des Unternehmens. Die Kunst dabei ist es, authentisch zu bleiben und trotzdem die Tonalität der Sprache der Zielgruppe, also der 12 – 18-jährigen Jugendlichen, zu treffen.
x
Eigene Kanäle: Das Unternehmen hätte zudem eigene Kanäle mit seinen Botschaften bedienen können. Video auf der Website oder gut vorbereitetes Interview/Hintergrundgespräch mit Journalisten (TV, Hörfunk, Print) und Klärung der Sachverhalte. Die Aufmerksamkeit der Medien war dafür bereits gegeben.
3.4
Aktive Kommunikation in der Krise – das richtige Maß an Transparenz finden
Die Anzahl der Beiträge („Social Media Buzz“) auf den Social-Media Plattformen dient 98 als Indikator für das generelle Interesse der Netzöffentlichkeit am Unternehmen und das Engagement der betroffenen Stakeholder und Beschäftigten. Sofern ein Unternehmen eine gewisse Aufmerksamkeit im Social Web erfährt, kann es sinnvoll sein, an der dortigen Kommunikation teilzunehmen sowie diese zu beobachten. Monitoring und Analyse ermöglichen vor allem Einblicke in das Meinungsbild, die Identifizierung der für Endverbraucher und Beschäftigten interessanten Themen, die Etablierung eines Frühwarnsystems für Krisen sowie die Identifizierung von Meinungsführern. Sofern eine solche Evaluation bereits stattfindet, lassen sich die Analysedaten (je nach Intensität der Analyse) nutzen, um akute Veränderungen an der Akzeptanz des Unternehmens zu verfolgen, Meinungsführer und Kritiker zu identifizieren und sensible, rechtlich unzulässige Äußerungen von Mitarbeitern aufzuspüren. Wenn vor der Krise bereits eine aktive Kommunikation seitens des Unternehmens im Social Web stattfand, besteht die Chance, die vor der Krise geschaffene „Fanbasis“ zu nutzen, indem aktiv und regelmäßig mit ihnen kommuniziert wird. Im Idealfall unterstützen und verteidigen sie das Unternehmen aktiv im Social Web. Haben sich die Restrukturierungsverantwortlichen einen Überblick über die Gegebenheiten 99 bzgl. Monitoring, Richtlinien und Strategie gemacht, kann mit der aktiven Kommunikation begonnen werden. Es ist nicht einfach, das notwendige Maß an Transparenz zu finden. Schweigen ist in diesem Fall genauso falsch wie bedingungslose Offenheit. Natürlich kann man in dieser Phase nicht jede Frage beantworten, vielmehr ist es notwendig, die richtigen Informationen zu liefern, um Gerüchten vorzubeugen und Kritikpunkte abzuschwächen. Und keinesfalls sollte Social Media aus dem klassischen Kommunikationsansatz ausgeklammert und isoliert betrachtet werden. Die Kommunikationsstrategie unterscheidet sich inhaltlich im Social Web nicht wesentlich von den übrigen Medien. Social Media erweitern nur das Spektrum der medialen Plattformen, auf denen diese Strategie angewendet wird. Lediglich die Wortwahl sollte angepasst werden – im Social Web findet die Kommunikation auf einer persönlicheren, direkteren Ebene statt. Unpersönliche Ansprachen über standardisierte Pressetexte sind bei Bloggern weder glaubwürdig noch authentisch und stoßen so auf wenig Gegenliebe. Außerdem wird das Unternehmen wahrscheinlich mit einer hohen Anzahl von Anfragen konfrontiert – zahlreiche User werden voraussichtlich Stellungnahmen und Antworten vom Unternehmen zu unterschiedlichen Aspekten fordern – und das vor allem schnell. Die dazu notwendigen Kapazitäten sowie Prozesse müssen berücksichtigt werden. 3.5
Aktive Kommunikation in der Krise – wie, wo und mit wem?
Je nach Social-Media-Kanal haben die Äußerungen über ein Unternehmen ein unterschied- 100 liches Gewicht. Während Tweets – also Textnachrichten mit maximal 280 Zeichen bei
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Twitter – und Kommentare auf Facebook meistens kurz, beiläufig und einzeln betrachtet, wenig einflussreich sind, erhalten sie erst durch die Masse an Beiträgen eine höhere Relevanz im Web. Bei der Analyse der Insolvenz Schleckers fällt bspw. auf, dass auf Twitter sowie Facebook selten einzelne meinungsbildende Beiträge aus der Masse an Tweets und Posts hervorstechen. Bei diesen Kanälen ist es meistens die extrem hohe Anzahl an Kommentaren und Likes bzw. Tweets, die für Aufmerksamkeit sorgt. Hat das Unternehmen zuvor durch seine Social-Media-Aktivitäten bereits eine echte „Fangemeinde“ aufgebaut, besteht die Chance, dass diese während der Krise, in diesem Fall die Insolvenz, als Fürsprecher agiert, das Unternehmen verteidigt und so der negative Berichterstattung im Social Web etwas entgegenwirkt. 101 Anders sieht es bei Beiträgen auf Blogs aus. Diese haben meist ein höheres Gewicht. Hier werden Beiträge oft nicht nur sehr kritisch, sondern auch wohl überlegt formuliert und mit Verlinkungen auf andere Beiträge im Internet untermauert. Twitter, Facebook und andere Kanäle können diese Beiträge innerhalb kürzester Zeit verbreiten und bekannt machen. Natürlich spielt hierbei eine gewisse Bekanntheit des Blogs bzw. der Grad der Vernetzung des Autors eine Rolle. Der Versuch, diese Beiträge schnellstmöglich aus dem Netz entfernen zu lassen und die Androhung oder Durchführung von Unterlassungsklagen sollte nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden. In der Regel wird hierdurch nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen – das Meinungsbild verschlechtert sich weiter und die Aufmerksamkeit wird erst recht auf das Unternehmen gelenkt. Eine angemessene Reaktion auf einflussreiche, kritische Blog-Beiträge ist hier die bessere Strategie. Es ist ratsam Kritik anzunehmen, das Angesprochene zu kommentieren und ggf. sogar die Kritiker nach ihren Vorschlägen zur Problemlösung zu fragen. Eine kleinteilige Debatte mit einzelnen Nutzern ist jedoch auch hier weder nötig noch ratsam, die Demonstration von Kommunikationsbereitschaft und deeskalierende Kommentare an der richtigen Stelle hingegen schon. Echte Stellungnahmen zum Thema sollten jedoch grundsätzlich auf dem eigenen Blog bzw. der eigenen Website veröffentlicht werden, da nur hier die volle Kontrolle über die Sichtbarkeit, den Inhalt des Beitrags und ggf. der Kommentare gewährleistet ist. 102 Die Bereitstellung eigener Social-Media-Plattformen kann auch den Vorteil haben, die Kommunikation zum Krisenunternehmen zu bündeln. Ein Beispiel hierfür ist der von Kommunikationsfachleuten gelobte Unternehmensblog von Schlecker. Während Arcandor und Woolworth während der Insolvenz keinerlei aktive Social-Media-Kommunikation zeigten, auch weil das Thema damals noch nicht so weit war, fand einige Zeit später auf schleckerblog.com ein reger, transparenter Austausch von Mitarbeitern mit dem Personaldirektor von Schlecker statt. Ohne diesen Blog wäre die Anzahl der Äußerungen in den übrigen, unternehmensfremden Social-Media-Kanälen wahrscheinlich wesentlich höher gewesen und hätte viel Raum für Gerüchte und Spekulationen gelassen. Heute ist der Schlecker-Blog offline und kann nicht mehr eingesehen werden – auch das kann ein Vorteil sein. Es heißt zwar „das Web vergisst nicht“, das trifft jedoch umso mehr zu, wenn die Plattformen nicht unter der Kontrolle des Unternehmens stehen. 3.6
Fazit
103 Social Media ist Teil der gesamten Kommunikationsstrategie. Es ist ein Dialogangebot an seine Internetuser, was für Marketing und Imagepflege entsprechend eingesetzt wird. Social Media bedeutet insbesondere im Krisenfall auch ein gewisses Maß an Kontrollverlust. Die Verweigerung der Social Media-Nutzung – gerade in einer Krise wie der Insolvenz – heißt jedoch nicht, dass keine Kommunikation auf diesen Kanälen stattfindet – man nimmt daran einfach nur nicht teil. Gerade bei einem speziellen Krisenthema wie der Restrukturierung sollte immer individuell diskutiert werden, ob die Kommunikation über Social Media das
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Verfahren unterstützen oder im Gegenteil gar erschweren kann. Unabhängig von dieser Entscheidung gilt es immer, Social Media genau und regelmäßig zu beobachten, um entsprechend reagieren zu können. Wenn die individuelle Analyse ergeben hat, dass die Kommunikation der Unternehmenskrise aktiv auch auf Social-Media Plattformen stattfinden soll, erhält das Unternehmen durch strukturiertes „Zuhören“ und gezielte Kommunikationsarbeit zumindest die Möglichkeit, die Berichterstattung positiv zu beeinflussen. Wenn es dann im Gegenzug vor allem ehrliche, authentische, positive Beiträge erhält, kann das Unternehmen mit überlegten, pointierten Äußerungen deeskalierend auf die Berichterstattung im Social Web einwirken. Schafft man es, die Diskussionen auf die eigenen Plattformen im Netz zu lenken, erhält man zusätzlich zumindest ein gewisses Maß an Kontrolle über die Inhalte. IV.
Ablauf der Krisenkommunikation während einer Restrukturierung
Die Krisenkommunikation in einer Restrukturierung ist ein äußerst dynamischer Prozess. 104 Dennoch gibt es für die Kommunikation bestimmte planbare Elemente, die sich am ordentlichen Ablauf des Verfahrens orientieren. Darüber hinaus hat die Praxis gezeigt, dass immer auch Störfeuer von außen und innen den erfolgreichen Verlauf einer Sanierung schaden können, wenn man nicht in der Lage ist, adäquat darauf zu reagieren. Diese Situationen sind zum Teil unvorhersehbar und bedürfen einer besonderen Reaktion. 1.
Aktion: Chronologischer Ablauf
Umso früher die Kommunikationsverantwortlichen in das Sanierungsszenario eingebunden werden, umso besser. Wie bereits weiter oben dargelegt sind vielfältige Vorbereitungsmaßnahmen für den kommunikativen Roll-out erforderlich. Die Vorbereitung bei einer geplanten Insolvenz in Eigenverwaltung kann meist früher einsetzen, weil ausgewählte Beteiligte frühzeitiger informiert sind, als dies bei Fremdverfahren der Fall ist. Hier wird die Kommunikation meist erst aktiv, wenn der Antrag beim Gericht gestellt und der vorläufige Insolvenzverwalter ernannt wurde. Diesen Umstand gilt es nun in einem ersten Schritt an alle wesentlichen beteiligten Zielgruppen zu kommunizieren. Es können zu diesem Zeitpunkt meist nur wenig konkrete Antworten gegeben werden, das Interesse ist aber gerade am Anfang erfahrungsgemäß besonders hoch: x Wer hat Insolvenz beantragt? x Warum? x Wer ist (vorläufiger) Insolvenzverwalter/Sachwalter und was hat er/sie vor? Die Kommunikationsaktivitäten zur Antragstellung schließen vor allem ein x eine Mitarbeiterversammlung, x Schreiben an Beschäftigte, Kunden und Lieferanten, x eine Pressemitteilung und in besonderen Fällen auch eine Pressekonferenz Auf diesem Weg wird ein erster Überblick über die aktuelle Situation gegeben, werden die nächsten Schritte kurz skizziert und vor allem wird den Beteiligten ein Ansprechpartner für Fragen gegeben. Bei dieser Gelegenheit wird auch auf die Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes hingewiesen, so dass dieser wesentliche Unsicherheitsfaktor bei den Beschäftigten ausgeräumt wird. Ein weiterer kommunikationsrelevanter Zeitpunkt ist der Start des Investorenprozesses. Die Suche nach einem Investor muss den Beschäftigten angekündigt werden. Regelmäßige Besuche von Beratern und Kaufinteressenten kann die Belegschaft irritieren und verunsichern. Darüber hinaus hat sich die Pressebegleitung eines Verkaufsprozesses in vielen Fällen Voskuhl
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als hilfreich erwiesen: Es werden durch die Berichterstattung möglicherweise Kaufinteressenten angesprochen, die nicht im Fokus des M&A-Prozesses gestanden haben. Ein positives Bild des Unternehmens nach außen steigert zudem noch die Verkaufschancen. 110 Der nächste Schritt, der aktiv kommuniziert wird, ist die Insolvenzeröffnung. Das Prüfverfahren ist beendet und die Insolvenzverwaltung kann nun konkrete Stellungnahmen zum weiteren Verfahrensablauf und den Sanierungschancen geben. Dass das Unternehmen nun wieder aus dem laufenden Geschäftsbetrieb Löhne und Gehälter zahlt, ist eine positive Botschaft an alle wesentlichen Beteiligten. 111 Weitere Anlässe für Kommunikationsaktivitäten bei der Insolvenz sind sensible Themen wie Personalanpassungen, Werkschließungen sowie neue Geschäftsführung. 112 Mit dem Abschluss des Insolvenzverfahrens, sei es durch übertragende Sanierung, Insolvenzplan oder durch Liquidation, endet auch die Arbeit für die Insolvenzkommunikation. Bei einem Neustart ist es den nun Verantwortlichen überlassen, ob sie die Kommunikation als verkaufs- und imagefördernde Maßnahme beibehalten wollen. 113 Kommunikationsrelevante Verfahrensabschnitte Verfahrensabschnitt
Kommunikationsaktivitäten
Antragstellung
Pressemitteilung Informationsschreiben und Versammlung für Beschäftigte Kunden-, Lieferantenschreiben Ggf. Pressekonferenz
Start des Investorenprozesses
Pressemitteilung Informationsschreiben für Beschäftigte
Insolvenzeröffnung
Pressemitteilung Informationsschreiben und ggf. Versammlung für Beschäftigte Info an Geschäftspartnern
Personalanpassungen und Werkschließungen
Pressemitteilung Informationsschreiben und Versammlung für Beschäftigte
Verkauf i. R. einer übertragenden Sanierung
Pressemitteilung (dabei ist zu klären, ob eine gemeinsame mit dem Investor oder eine getrennte Pressemitteilung erfolgen soll) Informationsschreiben und ggf. Versammlung für Beschäftigte Kunden-, Lieferantenschreiben Ggf. Pressekonferenz (bei großen öffentlichkeitswirksamen Fällen)
Abschluss eines Insolvenzplanverfahrens
Pressemitteilung Informationsschreiben und ggf. Versammlung für Beschäftigte Kunden-, Lieferantenschreiben
Liquidation
Pressemitteilung Informationsschreiben und Versammlung für Beschäftigte Kunden-, Lieferantenschreiben
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
114 Etwas anders ist dabei die Situation bei einem StaRUG-Verfahren. Es ist so angelegt, dass in der Regel keine interne und externe Kommunikation erfolgt und nur der Kreis der Beteiligten eingeweiht ist. Sollten Gründe dafürsprechen, sich doch an die Belegschaft oder auch an die Öffentlichkeit zu wenden, sollte aufgrund der Unkenntnis über das Verfahren in der breiteren Öffentlichkeit in der Information auch dargestellt werden, was das Ziel und wie der Ablauf eines solchen Verfahrens aussieht. Hier können dann bei Bedarf auch 738
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Begriffe wie Restrukturierungsbeauftragter, gerichtliches Abstimmungsverfahren, Restrukturierungsplan oder Stabilisierungsanordnungen angesprochen werden. Der rein formelle Ablauf spielt bei der Kommunikation in einem StaRUG-Verfahren eher eine untergeordnete Rolle. Hier stehen eher die inhaltlichen Fakten im Vordergrund. 2.
Reaktion: Kommunikative Handlungsoptionen auf mögliche Störfaktoren
In der Praxis läuft ein Insolvenzverfahren selten ohne interne oder externe Störfaktoren 115 ab. Für die Kommunikation relevante Ereignisse sind bspw. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen maßgebliche Akteure, Einflussnahme über die Medien durch potentielle Investoren während des Investorenprozesses, Beschwerden von (vermeintlich) geschädigten Gläubigern und Mitarbeitern, Emotionsausbrüche von Sportfans, Kritik über die Vergütung der (vorläufigen) Insolvenzverwaltung. Diese möglichen Vorkommnisse gilt es zu beobachten und falls notwendig darauf adäquat zu reagieren. Aus diesem Grund sollte für jede Situation eine entsprechende Strategie und eine damit verbundene Sprachregelung vorgehalten werden. 3.
Umgang mit unfairer Berichterstattung
Journalisten unterliegen bei ihrer Arbeit einer Sorgfaltspflicht und müssen den Wahrheits- 116 gehalt ihrer Meldungen prüfen. Eine Verletzung dieser Pflicht kann Schadensersatzansprüche zur Folge haben. Presserechtlich stehen dabei zur Verfügung die Durchsetzung einer Gegendarstellung, einer Berichtigung der Darstellung und eine Unterlassung. Diese Mittel sollten aber nur im äußersten Fall angewandt werden. Zuvor sollten die Verantwortlichen prüfen, ob sie dem Unternehmen tatsächlich nutzen würden. Es gibt neben den rechtlichen Mitteln auch andere Möglichkeiten, sich zu wehren. Neben dem persönlichen Gespräch mit dem Redakteur sind dies: x Leserbrief: Leserbriefe werden in einer Zeitung erfahrungsgemäß gerne gelesen. Für die dort formulierte Gegendarstellung auf jeden Fall wahrheitsgemäß den Absender aufführen. x Interview: Vereinbarung eines Interviews mit der Zeitung zum Thema, das vor Veröffentlichung nochmal zur Freigabe abgestimmt wird. So hat man die Antworten unter Kontrolle. Vorsicht: Eine Freigabe bei Fernseh- oder Hörfunk-Interviews ist nicht üblich. x Pressemitteilung: Mit einer eigenen Pressemitteilung, kann man eine Richtigstellung publizieren und diese auch auf die Website stellen. x Beschwerde beim Presserat: Es besteht die Möglichkeit, eine Beschwerde beim Deutschen Presserat einzureichen. Falls auch der Rat diese Meldung als falsch und unfair ansieht, kann er eine öffentliche Rüge aussprechen. x Nichts tun: Es sollte berücksichtigt werden, dass alle Maßnahmen, die gegen unseriöse Berichterstattung in Betracht gezogen werden, das Thema weiter in der Öffentlichkeit halten. 4.
Die wichtigsten Regeln für die Krisen- und Insolvenzkommunikation
Nachfolgend nochmal die wesentlichen Regeln, die es für die Kommunikation in der Re- 117 strukturierung zu berücksichtigen gilt. x Transparenz: Ein Insolvenzverfahren ist zwar grundsätzlich ein nicht-öffentliches Verfahren. Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit wird aber nur durch weitestgehende Transparenz geschaffen. Natürlich sollten die Gremien eines Verfahrens grundsätzliche Informationen nicht aus der Öffentlichkeit erfahren. x Innen vor außen: Grundsätzlich immer erst die Beschäftigten informieren und erst dann die Öffentlichkeit. Voskuhl
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Ehrlich bleiben: Wenn bestimmte Sachverhalte nicht in die Öffentlichkeit gehören, Journalisten nicht anlügen. Bei entsprechenden Anfragen lieber sagen, dass man dies nicht in der Öffentlichkeit kommentiert. Strategie entwickeln: Die Kommunikationsstrategie folgt der generellen Unternehmensstrategie. Die Maßnahmen dafür müssen intern abgestimmt sein. Grundsätzliche Überlegung: Was hilft der Sanierung – Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit oder Situation beruhigen? Ansprechbar sein: Journalisten benötigen Informationen meist schnell und stehen unter Druck des Redaktionsschlusses. Wer bei Anfragen erst Tage später zurückruft, vergibt eine große Chance. Bei investigativer Berichterstattung gibt es Journalisten, die den Verantwortlichen gerade mal eine Stunde einräumen, sich zu äußern. Bekommen sie in dem Zeitraum keine Antwort, erhalten die Verantwortlichen auch keinen Raum für eine Stellungnahme. Nicht überschätzen: Immer davon ausgehen, dass Journalisten keine große Erfahrung mit Insolvenzen haben und mit den Fachbegriffen nicht vertraut ist. Absolute Aussagen vermeiden: Wenn am Anfang des Restrukturierungsprozesses die Frage aufkommt, ob sie Arbeitsplätze abbauen müssen, sollte man ehrlich sein aber nicht zu pessimistisch. In der Regel kann man eine solche Frage zu diesem Zeitpunkt nicht genau beantworten. Der Hinweis „[…] wir haben das Ziel, möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten und sehen Chancen, dass uns das gelingen kann […]“ lässt viel offen, zeigt aber auch Optimismus. Wer darauf nein sagt, muss dann aber später zurückrudern, macht sich dagegen für die Medien angreifbar. Vorsicht gilt auch bei konkreten Zeitangaben. Lieber ein wenig vage bleiben und Spielraum lassen. Sensibel bleiben: Unternehmenssanierungen funktionieren oftmals nur durch Einschnitte in der Belegschaft. Wer die Mitarbeiter darüber unzureichend informiert oder in der Öffentlichkeit darüber die falschen Worte wählt, macht sich angreifbar. Gut vorbereiten: Es gibt keine falschen Fragen aber falsche Antworten. Wer sich auf Pressegespräche und Betriebsversammlungen gut vorbereitet, weiß, wie er antworten muss. Klare Absprachen: Vor einem Pressegespräch mit den Journalisten absprechen, um welche Themen es gehen soll. Mit Zeitungsredakteuren zudem vereinbaren, dass Zitate und vor allem auch Interviews vorher zur Freigabe vorgelegt werden. Falsche Vertraulichkeit: Was man nicht in den Zeitungen lesen möchte, sollte Journalisten auch vertraulich nicht erzählt werden. Ausnahme: Man kennt sich seit langem, hat tatsächliches Vertrauen aufbauen können und weiß, dass sich sein Gegenüber an die Spielregeln hält. Keine Bevorzugung: Die Fragen aller Journalisten und nicht nur die der überregionalen Medien beantworten. Dabei immer auch berücksichtigen, dass TV-Journalisten Bilder benötigen und Hörfunk-Journalisten O-Töne. Erfolge messen: Die Evaluation der Kommunikationsmaßnahmen kann nicht alleine durch die Anzahl positiver Berichte in den Medien erfolgen. Auch eher negative Meldungen können für die Insolvenz etwas bewirken. Zum Beispiel, wenn die Beteiligten glauben, dass die Sanierung ein reiner Selbstläufer ist oder notwendige Gesprächspartner keine Kompromissbereitschaft zeigen.
V.
Exkurs: Die Medien in Deutschland
1.
Medien in Deutschland und ihre Glaubwürdigkeit
118 Die deutsche Medienlandschaft zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus und gehört zu den international facettenreichsten. Dieses gilt sowohl im Bereich der Printtitel als auch für 740
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die Rundfunk- und Fernsehsender. Hinzu kommen die verschiedenen Angebote über das Internet, wie z. B. die E-Paper-Ausgaben – die als Informationsquelle eine immer stärke Bedeutung gewinnt. Bei allem Erfolg der verschiedenen Social-Media-Kanälen gerade hinsichtlich ihrer Verbreitung, werden die klassischen Medien weiter in die Kommunikationsstrategie mit einbezogen werden müssen – zumindest, wenn man der Verbreitung und der Glaubwürdigkeit von Informationen Rechnung tragen möchte. Laut Studie „Zeitungsqualitäten 2022“ des Bundes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) lesen in Deutschland etwa 90 % die Angebote der Tageszeitungen. Ähnlich sieht es bei den TV-Sendern aus: Der tägliche Fernsehkonsum eines Bundesbürgers liegt bei 3 Stunden 33 Minuten. Ganz vorne dabei sind die Nachrichtensendungen. Ein weitere wichtiger Punkt für die Medien sind deren Glaubwürdigkeit. Laut repräsentativer Studie von Infratest dimap von 2020 im Auftrag des WDR.20) Demnach halten 67 % der Deutschen die Informationen in deutschen Medien für glaubwürdig. Die größte Glaubwürdigkeit schreiben 81 % der Befragten öffentlich-rechtlichen Radiosendern zu. Die Informationen in öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern schätzen 79 % als glaubwürdig ein. Ähnlich gut schneiden Tageszeitungen mit 74 % ab. Als „weniger glaubwürdig“ bewertet ein Großteil der Befragten die Boulevardpresse, nur 6 % halten sie für glaubwürdig. Auch die Informationen in sozialen Netzwerken schätzen die Deutschen größtenteils als wenig glaubwürdig ein, wobei es zwischen den einzelnen Plattformen durchaus Unterschiede gibt: Während Youtube noch von 18 % der Befragten als glaubwürdig beurteilt wird, fallen Twitter und Facebook mit jeweils 7 %, und Instagram mit 5 % deutlich ab. 2.
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Printmedien
Der deutsche Zeitungsmarkt ist geprägt von einer großen Titelvielfalt und differenziert 123 sich regional sehr stark aus. In den vergangenen Jahren gab es für fast alle Zeitungen Auflagerückgänge. Laut Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) vom 4. Quartal 2021 gibt es in Deutschland insgesamt 316 Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage pro Erscheinungstag von 15,17 Mio. Stück. Darunter sind mit einem Anteil von 9,8 Mio. Stück 304 lokale/regionale Abo-Zeitungen, 6 überregionale Zeitungen mit 0,8 Mio. Stück, 6 Straßenverkaufszeitungen mit 1,43 Mio. Stück sowie 6 Sonntags- und 16 Wochenzeitungen mit zusammen 3,2 Mio. Stück. 2.1
Auflagen im Vergleich21)
Bild fällt unter eine Million. Auflage überregionaler Tageszeitungen im 4. Quartal 2021 124 (nur Abo + Einzelverkauf) Auflage 1
Veränderung zum Quartal IV/2020 –60 150
Prozent
Bild
970 948
–5,8
2
Süddeutsche Zeitung
273 812
–3 749
–1,4
3
Handelsblatt
174 721
–1 519
–0,9
4
Frankfurter Allgemeine
86 415
–671
–0,8
___________ 20) Für die Studie hat Infratest dimap vom 23.9. bis 5.10.2020 insgesamt 1 001 Wahlberechtigte in Deutschland befragt. 21) Quelle: meedia.de (Abrufdatum: 9.12.2022), Zahlen nach IVW.
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125 Die Zeit steigert Auflage um mehr als 10 %. Auflage Wochen- und Sonntagszeitungen im 3. Quartal 2021 (nur Abo + Einzelverkauf) Auflage
Veränderung zum Quartal III/2020
Prozent
1
Bild am Sonntag
598 379
–9 046
–1,5
2
Die Zeit
527 946
48 961
10,2
3
Welt am Sonntag (Sa/So)
219 725
4
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
177 386
–1 887
–1,1
126 Hinweis: Die Welt am Sonntag kam diesmal erstmals mit der Samstags- und der Sonntagsausgabe in die Wertung, ein Vorjahresvergleich ist daher nicht möglich. 127 Laut Meldung des Deutschen Fachjournalisten Verbandes (DFJV) vom Dezember 2021 wurde laut Analyse des Media-Tenor-Medienforschungsinstituts vom Januar bis September 2021 der Spiegel 889 mal zitiert und lag damit auf Rang 1. Auf Platz 2 folgte die Bild/Bild am Sonntag mit 661 Zitaten und die New York Times mit 459 Zitaten. Unter den Wirtschaftsmedien schaffte es das Handelsblatt auf Platz 1 und bei den Regionalzeitungen die Funke Mediengruppe. 2.2
Lokale Tageszeitungen: Häufig unterschätzt – aber meistgenutzte Informationsquelle
128 Laut Studie des BDZV, Zeitungsqualitäten 2022, lesen 60 % aller Deutschen über 14 Jahren (= 42,49 Mio.) regelmäßig eine gedruckte Tageszeitung. 67 % der Bundesbürger über 14 Jahren (= 46,8 Mio.) besuchen regelmäßig Internetangebote der Zeitungen, zudem gehen 9,6 Mio. über 14 Jahren mit Smartphone/Tablet-App auf die Seiten oder nutzen das E-Paper. 129 Laut BDZV nutzen somit fast 90 % aller Deutschen regelmäßig die Angebote der Zeitungen. Lokaler Journalismus ist für sie nicht nur für die persönliche Orientierung der Menschen relevant, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. 2.3
Fachzeitschriften
130 Laut der Deutschen Fachpresse22) wurden in Deutschland im Jahr 2020 insgesamt 5 696 Fachzeitschriften mit einem Jahresumsatz von 7,43 Mrd. € angeboten. Fachzeitschriften erscheinen regelmäßig, behandeln ein klar umrissenes Gebiet und vermitteln Fachwissen an beruflich interessierte Leser. Durch die professionelle Ausrichtung unterscheiden sie sich von Special-Interest-Titeln (z. B. auto motor und sport, Der Aktionär), die zwar Spezialthemen behandeln, jedoch vornehmlich aus privatem Interesse gelesen werden. Eine Untergruppe der Fachzeitschriften bilden wissenschaftliche Fachzeitschriften. 3.
Rundfunk und Fernsehen
131 Radio und Fernsehen dokumentieren ebenfalls die Vielfalt der deutschen Medienlandschaft. Und für beide gilt das duale System aus öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern. Laut Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e. V. (ag.ma) Radio gibt es im Jahr 2022 bundesweit 464 Radiosender, die meisten davon lokal bzw. regional. Die durchschnittliche Radiohördauer beträgt etwa drei Stunden pro Tag. ___________ 22) www.deutsche-fachpresse.de/ueber-uns/verein-deutsche-fachpresse (Abrufdatum: 9.12.2022).
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Kommunikation in der Unternehmenskrise
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Laut Website von deuschland.de,23) die in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigem Amt, 132 betrieben wird, beträgt der tägliche Fernsehkonsum 3 Stunden und 33 Minuten. Das beliebteste TV-Format sind Nachrichten (38,8 %), Sportsendungen (25,7 %) und Reisesendungen (24,2 %). Fernsehsender lassen sich einerseits in private und öffentlich-rechtliche Sender aufteilen andererseits in Free-TV und Pay-TV Sender. Beim Gesamtpublikum ab drei Jahren hielten laut Portal statista.com24) das ZDF, die dritten Programme der ARD und Das Erste der ARD die größten Zuschauermarktanteile der TV-Sender. Bei den Marktanteilen der werberelevanten Altersgruppe hielt der Sender RTL mit 10,1 % den größten Zuschauermarktanteil, gefolgt von ProSieben und Das Erste/ARD. 4.
Internet
Laut ARD/ZDF online-Studie25) von 2021 nutzen in Deutschland fast 67 Mio. Menschen 133 das Internet – 100 % der unter 50-Jährigen, 95 % der Gruppe zwischen 50 und 69 Jahren und 77 % der ab 70-Jährigen. Bei der Frage, welche Medienangebote während der Corona-Pandemie wichtiger geworden 134 sind, gewinnen vor allem Online-Videoangebote, Online-Artikel und Messenger an Bedeutung. Jeweils etwa ein Drittel der Befragten sagt, dass diese Medien während der Coronakrise wichtiger geworden sind. Aber auch Social Media, Musik über das Internet, das lineare Fernsehen und das lineare Radio haben an Bedeutung gewonnen.
___________ 23) Abrufdatum: 9.12.2022. 24) Abrufdatum: 9.12.2022. 25) Vgl. http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/ (Abrufdatum: 9.12.2022).
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§ 20 Psychologische Aspekte der Betriebsfortführung Stapper
Übersicht I. Vorbemerkung ............................................ 1 II. Psychologische Fähigkeiten und Kenntnisse des Sach- oder Insolvenzverwalters und § 56 InsO ........................... 3 III. Die Psyche nach dem Insolvenzantrag............................................................ 5 IV. Der Fels in der Brandung .......................... 7 V. Insolvenz und Psyche ................................. 9 1. Resilienz...................................................... 10 2. Die Ebene des Unternehmers ................... 11 2.1 Emotionale und rationale Typen.... 12
2.2
Lob für den insolventen Unternehmer ........................................... 13 2.3 Interessen des Insolventen nutzen............................................. 14 3. Die Motivation des insolventen Unternehmers für die Betriebsfortführung ........ 15 3.1 Die Sandwichmethode .................. 16 3.2 Der Boxkampf ............................... 18 3.3 Die Rakete...................................... 19 VI. Grenzen der Psychologie bei der Betriebsfortführung..................... 26
Literatur: Becker/Böhlmann/Goddemeier, Psychologie der Insolvenz, NZI 2020, 409; Stapper, Psyche und Resilienz in der Sanierung, SanB 2021, 1; Stapper, Die Psyche nach dem Insolvenzantrag, Wirtschaft + Markt, Heft 4/2017, S. 56; Stapper, Die Psychologie des insolventen Unternehmers, Existenz Magazin, 7/2017, S. 24.
I.
Vorbemerkung
Insolvente Betriebe können unter Eigenverwaltung mit einem (vorläufigen) Sachwalter oder 1 herkömmlich durch einen (vorläufigen) Insolvenzverwalter fortgeführt werden. Um psychologische Aspekte dabei, geht es in diesem Beitrag. Durch das zum 1.1.2021 in Kraft getretene Unternehmensstabilisierungs- und -restruktu- 2 rierungsgesetz (StaRUG)1) schafft das Gesetz auch Regelungen zur Durch- und Umsetzung von Sanierungen im Vorfeld der Insolvenz. Betriebsfortführungen vor Eintritt der Insolvenz sind nicht Gegenstand der Überlegungen dieser Abhandlung, auch wenn die meisten Grundsätze entsprechend gelten dürften. II.
Psychologische Fähigkeiten und Kenntnisse des Sach- oder Insolvenzverwalters und § 56 InsO
Insolvente Betriebe werden nicht nur rechtlich und insbesondere wirtschaftlich, sondern 3 auch psychologisch fortgeführt. Insofern gehört auch psychologischer Sachverstand zum Anforderungsprofil des Sach- oder Insolvenzverwalters nach den §§ 274, 56 InsO. Rechtliche und wirtschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten des Sach- oder Insolvenzverwalters können als harte und psychologische Kenntnisse als weiche Anforderungskriterien (SoftSkills) an den Sach- oder Insolvenzverwalter bezeichnet werden. Für den Erfolg einer Betriebsfortführung in der Insolvenz ist der insolvente Unternehmer 4 (oder sind die Organe des insolventen Unternehmens) häufig wichtig. Der Unternehmer kennt das Unternehmen, die Branche, die Belegschaft und den Markt in der Regel sehr gut, während der Sach- oder Insolvenzverwalter vor seiner Bestellung weder das Unternehmen noch den Markt so verinnerlicht hatte wie der Unternehmer. Insofern kann der Sach- oder ___________ 1) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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Insolvenzverwalter auf den Unternehmer bei der Betriebsfortführung in der Insolvenz angewiesen sein. Mit dem notwendigen Geschick wird der Sach- oder Insolvenzverwalter den insolventen Unternehmer für sich und die Betriebsfortführung gewinnen können. Psychologischer Sachverstand betreffend die Psyche des insolventen Unternehmers ist dafür hilfreich. Einzelheiten zu der Psychologie des insolventen Unternehmers sind in der Literatur nahezu vollständig vernachlässigt. Rechtsprechung gibt es naturgemäß nicht. Einige wichtige Aspekte sollen in diesem Beitrag erörtert werden. III.
Die Psyche nach dem Insolvenzantrag
5 Nach einem Insolvenzantrag hat der Unternehmer häufig einen langen Leidensweg hinter sich. Dem Unternehmen geht es in der Regel schon eine Zeit lang schlecht. Mitarbeiter haben das Vertrauen in die Führungsstärke und die Persönlichkeit des „Chefs“ verloren, Kunden klagen über zurückgehende Qualität der Leistungen oder Produkte und Lieferanten bemängeln schleppende oder ausbleibende Zahlungen. Banken beginnen mit Krisengesprächen, drohen die Kündigung der Bankverbindung an oder haben schon gekündigt. Der Unternehmer erinnert sich an – teilweise lange zurückliegende – gute oder glanzvolle Zeiten und verwirklicht den Grundsatz „die Hoffnung stirbt zuletzt“. Nicht selten setzt er auch ganz erhebliche eigene oder auch fremde private Mittel ein, um die vermeintlich vorübergehende Schwäche des Unternehmens zu finanzieren. Gelegentlich auch deshalb, weil Banken und andere Kreditgeber dazu nicht mehr bereit sind. 6 Getreu dem Grundsatz „Ein Unglück kommt selten allein“ gesellen sich zu den wirtschaftlichen Problemen gern auch andere Schwierigkeiten hinzu. Es ist daher keine Ausnahme und erfahrene Sach- oder Insolvenzverwalter kennen es, wenn der Arzt dem Unternehmer am Tage des Insolvenzantrages eine seit langem dringend notwendige Operation ans Herzen legt und/oder die Ehefrau offenbart, sie habe inzwischen einen anderen Unternehmer kennengelernt, der genauso sympathisch und gutaussehend sei wie der Insolvente. Der einzige – aber entscheidende – Unterschied sei, dass der andere Unternehmer nicht insolvent sei. Der insolvente Unternehmer möge das, ebenso wie unvermeidbare Post vom Fachanwalt für Familienrecht, bitte nicht persönlich nehmen. Dass die ansonsten immer mitfühlende (Ex-)Ehefrau ihre persönlichen Sachen (in der Praxis nicht selten den gesamten Hausstand) inzwischen aus der gemeinsamen Wohnung ausgeräumt und die gemeinsamen Kinder inzwischen „Papa“ zu dem neuen Lebensgefährten der (Ex-)Ehefrau des insolventen Unternehmers sagen, sei ja wohl nicht so schlimm. Der Insolvente würde das ohnehin kaum registrieren. Er sei ja nur noch in der Firma, zunehmend schlecht gelaunt und so gut wie nicht mehr ansprechbar. Persönliche Post des insolventen Unternehmers bringt die (Ex-) Ehefrau dann aber doch noch kurz vor dem schon länger geplanten Urlaub mit „dem Neuen“ und den Kindern bei dem Insolventen vorbei. Bei genauem Hinsehen sind das dann Haftungsbescheide und Klagen nichtbezahlter Gläubiger sowie Post von der Staatsanwaltschaft. Den Brief mit dem Verrechnungsscheck der Versicherung für überzahlte Beträge hat die Exfrau auch mit abgegeben, den Scheck allerdings behalten. IV.
Der Fels in der Brandung
7 Zu Beginn einer Betriebsfortführung geht im Unternehmen häufig alles drunter und drüber. Der Chef hat die Kontrolle verloren, Lieferanten – teilweise auch sonstige Dritte – nehmen ihr vermeintliches Eigentum mit, Banken sperren die Konten und es hagelt Mahnbescheide und Vollstreckungsankündigen etc. Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten erkennen den Insolventen häufig nicht wieder. Die alte Führungsstärke und das vermeintliche Format sind verschwunden. Die „Luft scheint raus zu sein“. Gleichzeitig sind Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten alle möglichen Versprechungen gemacht worden, die nicht
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eingehalten wurden. Gelegentlich macht sich auch noch ein als Sanierungs- und Unternehmensberater getarnter Gauner mit den letzten Barbeständen aus dem Staub. Sofern der Geschäftsbetrieb gleichwohl fortführungswürdig ist, wird der Sach- oder Insolvenzverwalter sich bemühen, die vermeintliche Führungsschwäche und das verlorengegangene Format des Insolventen durch eigene Charakterstärke auszugleichen. Wer geschickt ist, spielt sich dabei nicht selbst unnötig in den Vordergrund („ich bin jetzt der Chef“), sondern stärkt auch dem Insolventen den Rücken. Insofern behält der Insolvente selbstredend sein Büro, auch wenn er dem Sach- oder Insolvenzverwalter anbietet, sein Zimmer zu übernehmen. Klare Aussagen – die auch eingehalten werden können – stellen verlorenes Vertrauen 8 wieder her. Wer mit der Autorität der gerichtlichen Bestellung und eigenem Format der Belegschaft die Bezahlung offener Löhne und Gehälter über eine Vorfinanzierung des Insolvenzausfallgeldes, den Kunden die pünktliche Lieferung ihrer Bestellungen und den Lieferanten die Bezahlung der vom Sach-oder Insolvenzverwalter bestellten Waren zusagt und die Termine einhält, gewinnt verloren gegangenes Vertrauen zurück. In dieser Situation Kurs zu halten, ist gelegentlich nicht ganz einfach. Insbesondere, wenn Lieferanten die Lieferung davon abhängig machen, dass der Sach- oder Insolvenzverwalter notfalls selbst bezahlt. Der Sach- oder Insolvenzverwalter ist insofern gerade zu Beginn einer Betriebsfortführung der einzige „Fels in der Brandung“. Wer geschickt ist, nutzt das, um demjenigen eine Chance zu geben, der im Zweifel nach Abschluss der Sanierung aus der Insolvenz der neue Unternehmer ist. V.
Insolvenz und Psyche
Will der Sach- oder Insolvenzverwalter den insolventen Unternehmer in dieser Situation für 9 sich und die Betriebsfortführung gewinnen, ist besonderes Fingerspitzengefühl um dessen Psyche hilfreich. Der Sach- oder Insolvenzverwalter sollte auf folgende Punkte achten: 1.
Resilienz
Die psychische Widerstandskraft (Resilienz) ist bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt. 10 Nach einem Insolvenzantrag ist diese Fähigkeit in der Regel besonders gefordert. Nicht wenige geben schon vor dem Insolvenzantrag auf. Wer durchhält, bis er auf den Sach- oder Insolvenzverwalter trifft, hat in der Regel schon einiges hinter sich und die weitere psychische Belastbarkeit ist mehr oder weniger gering. 2.
Die Ebene des Unternehmers
Wer mit Menschen eine Beziehung aufbauen und deren Vertrauen – etwa für eine Betriebs- 11 fortführung – gewinnen möchte, muss versuchen, „auf deren Ebene zu gelangen“. Wer geschult und erfahren ist, sieht insofern auf den ersten Blick, wie sein Gegenüber „tickt“: 2.1
Emotionale und rationale Typen
Menschen können so zunächst auf einer Matrix in den eher emotionalen oder den eher 12 rationalen Typen eingeordnet werden. Wer eher rational „tickt“, sollte daher zunächst auf ein rationales Thema (etwa die Zahlen des fortzuführenden Unternehmens) angesprochen werden. Wer tendenziell emotional fühlt, ist eher angesprochen, wenn der Sach- oder Insolvenzverwalter sich als Erstes danach erkundigt, wie es dem Unternehmer geht. Wer – vereinfacht – denkt, Männer seien immer nur rational und Frauen emotional, liegt häufig falsch. In der Praxis ist eine solche Tendenz zwar häufig anzutreffen. Als Unternehmer/innen sind Frauen aber regelmäßig auch besonders rational, während bei Männern auch emotionale Tendenzen hervortreten.
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§ 20 2.2
Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation Lob für den insolventen Unternehmer
13 Wer insolvent ist, ist in der Regel lange nicht gelobt worden. Psychologisch ist er insofern häufig völlig „ausgetrocknet“. Wer den Insolventen für sich gewinnen will, sollte sich etwas Positives suchen, das er dem Unternehmer dann auch überzeugend sagt. Das kann sein, dass der Unternehmer das Unternehmen immerhin zu der aktuellen Größe und dem derzeitigen Ansehen aufgebaut hat, das Unternehmen ein gutes Produkt und nach wie vor einen guten Ruf hat oder etwas Ähnliches. Dem eher emotionalen Typen kann so bescheinigt werden, dass es schon erstaunlich ist, wie lange er durchgehalten hat und dass es sicher schwierig gewesen sei, die Familie in dieser Zeit zusammenzuhalten. Nach ein paar Tagen der Betriebsfortführung kann es auch durchaus angebracht sein, dem Unternehmer mitzuteilen, er sehe inzwischen schon sehr viel frischer und besser aus als vor einigen Tagen, er würde inzwischen wieder positive Energie ausstrahlen und sein Anzug würde ihm gut stehen (das hören nicht nur Frauen gerne). 2.3
Interessen des Insolventen nutzen
14 Wer Unternehmer ist, ist häufig auch im Übrigen neugierig und interessiert, treibt eine bestimmte Sportart, sammelt Bücher, Kunst, Oldtimer oder etwas anderes, hört gerne eine bestimmte Musik oder hat ein – teilweise auch ausgefallenes – Hobby. Gelegentlich ist er auch auf einem Gebiet gut, das mit der unternehmerischen Tätigkeit nichts zu tun hat. Er spielt so etwa ein klassisches Instrument oder in einer Jazz- oder Rockband, spricht eine ausgefallene Sprache oder züchtet Schildkröten oder Zwergkrokodile in seinem Privathaus. Insofern kann es geschickt sein, dass der Sach- oder Insolvenzverwalter daran Interesse zeigt, um so zu versuchen, die Ebene des Insolventen zu erreichen. Ein einfacher Satz: „Ich interessiere mich auch für Oldtimer.“ oder „In einer Rockband wollte ich auch immer spielen.“ oder „Mein Vetter züchtet auch Krokodile.“ hat häufig eine erstaunliche Wirkung. 3.
Die Motivation des insolventen Unternehmers für die Betriebsfortführung
15 Während der Betriebsfortführung muss in der Regel umstrukturiert werden. Was zu verändern ist, betrifft häufig auch den Unternehmer und Einschnitte sind für ihn nicht selten schmerzlich. Der Sach- oder Insolvenzverwalter muss die notwendigen Sanierungsmaßnahmen zügig einleiten und auch umsetzen und gleichzeitig den Insolventen dafür gewinnen. Ein solcher Spagat ist in der Praxis schwierig. Mit psychologischem Geschick kann das gelingen. Drei Methoden haben sich dazu bewährt: 3.1
Die Sandwichmethode
16 Dinge, die i. R. der Sanierung geändert werden müssen, kann der Sach- oder Insolvenzverwalter dem Insolventen in „Sandwichform“ kommunizieren: Erst etwas Gutes – dann das, was geändert werden muss – und dann wieder etwas Positives. Wer ausreichend Positives vor und nach dem Unangenehmen sagt, kommt schneller und besser zum Ziel, als derjenige, der lediglich Kritik übt und sich um die Psyche des Gegenübers nicht kümmert. 17 Dem Unternehmer kann so zunächst mitgeteilt werden, dass das Unternehmen eine Reihe von durchaus positiven Dingen aufweist. Das können Einzelheiten zum Produkt, zur Belegschaft oder etwas anderes sein. Der Sach- oder Insolvenzverwalter bereitet sein Gegenüber so mental auf das vor, was danach kommt. Er macht sein Gegenüber dafür aufnahmefähig. Wer erfahren ist, merkt, wann sein Gegenüber so weit „weichgelobt“ ist, dass die zweite Stufe des Sandwiches beginnen kann, die Kritik oder das, was – möglichst sofort und mit tatkräftiger Unterstützung des Unternehmers – geändert werden muss. Ist das kommuniziert, endet das Gespräch wieder mit einer positiven Nachricht, also etwa, dass der Insol-
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vente, der Sach- oder Insolvenzverwalter und die Belegschaft ein gutes Team sind und es schon nach Erfolg riechen würde. 3.2
Der Boxkampf
Der Insolvente wird dann wieder zu alter Form auflaufen, wenn ihm eine nachhaltige Per- 18 spektive geboten wird. Insofern kann der Sach- oder Insolvenzverwalter erklären, dass die Betriebsfortführung lediglich die schwierige, aber wichtige Zeit im Leben des Unternehmens ist, bis die Sanierungslösung, in der der Insolvente im Zweifel auch eine Rolle spielt, umgesetzt ist. In dieser Zeit müssen viele Hürden genommen und Widerstände überwunden werden. Es ist häufig wie ein Boxkampf. Die Message an den Insolventen lautet: Sie steigen mit dem Sach- oder Insolvenzverwalter in den Ring, es wird gemeinsam gekämpft und der Sach- oder Insolvenzverwalter ist ein sehr erfahrener Boxer. Er hat schon einige Treffer einstecken müssen und ist auch schon „auf die Bretter gegangen“, hat aber noch nie verloren. Das motiviert nach aller Erfahrung auch Kandidaten, die eigentlich schon aufgegeben hatten. 3.3
Die Rakete
In der Praxis hat sich auch die „Metapher von der Rakete“ bewährt. Nach einem Rund- 19 gang durch den Betrieb und Sichtung der ersten Zahlen hat der Sach- oder Insolvenzverwalter einen ersten Eindruck, ob die Betriebsfortführung in der Insolvenz gelingen könnte. Sofern das zutrifft, könnte der Sach- oder Insolvenzverwalter dem Unternehmer eine Rakete mit dem Hinweis aufmalen, er – der Unternehmer – sei schon eine Rakete. Die Rakete habe auch ordentlich „Schub“, denn schließlich habe der Unternehmer ein Unternehmen mit enormem Engagement aufgebaut und geführt und allein das verdiene Respekt. Die Rakete sieht etwa so aus:
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20 Jetzt kommen die Fakten: Trotz der schönen Rakete und dem enormen Schub ist die Rakete abgestürzt. Die Flugbahn verläuft etwa so:
21 Die Gründe sind häufig vielfältig. Ganz konkret malt der Sach- oder Insolvenzverwalter dem Insolventen Löcher in die Rakete, so dass es wie folgt aussieht:
22 Der schöne Schub, der die durchaus beeindruckende Rakete zum Abheben gebracht hat, entweicht nicht nach hinten, sondern tritt durch die Löcher aus, so dass der Absturz vorprogrammiert ist. Die Löcher in der Rakete sind meist Folgende: x x x x x x x x x x 750
Die Betriebswirtschaft wird vernachlässigt (der Insolvente kann und/oder will nicht rechnen). Das Unternehmen ist zu schnell gewachsen und/oder nicht richtig finanziert. Streit im Gesellschafterkreis (wenn sich die Besatzung in der Rakete prügelt, kümmert sich niemand um die Navigation). Der Unternehmer verzettelt sich und/oder tanzt auf zu vielen Hochzeiten (man kann in der Regel nicht mehrere Raketen gleichzeitig fliegen). Der Unternehmer investiert branchenfremd (wer eine Rakete fliegen kann, steuert noch lange keinen Hubschrauber). Gesundheitliche und/oder psychische Probleme/Burnout (Triebwerkschaden, keine regelmäßigen Inspektionen). Der Unternehmer ist überfordert (eventuell auch deshalb, weil er zu viele Probleme gleichzeitig lösen muss (siehe Rz. 5 ff.). Nikotin, Alkohol, Drogen im Übermaß. Der Unternehmer arbeitet „rund um die Uhr“ und gönnt sich keinerlei Ruhepause. Der Unternehmer setzt sich zunehmend zur Ruhe. Stapper
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Jetzt kommt wieder das Gute: Die Probleme sind lösbar. Wenn es gelingt, die Löcher zu 23 stopfen, ist die Rakete für den weiteren Flug gut gerüstet. Die Löcher der Rakete sind geflickt. Die Rakete und die Flugbahn sehen dann wie folgt aus:
Der Insolvente hat auch gezeigt, dass er das Unternehmen im Prinzip auch führen kann. 24 Schließlich hat das Unternehmen vor Eintritt der Krise nachhaltigen Gewinn erwirtschaftet. Der Insolvente wird die Metapher im Zweifel gut verstehen und es ähnlich wie der Sach- 25 oder Insolvenzverwalter – möglicherweise auch etwas abgewandelt – sehen. Was dann wirklich das Beste für das insolvente Unternehmen ist, muss durch „Brainstorming“ ermittelt werden, am besten auch mit sachverständiger Unterstützung. Insofern bieten sich der Wirtschaftsprüfer/Steuerberater oder die Hausbank des Unternehmens, gelegentlich auch externe Unternehmensberater an. Die „Message 1“ an den Insolventen in der Betriebsfortführung ist dann regelmäßig, dass im Ergebnis das gemacht werden sollte, was für das Unternehmen (und nicht für einzelne Beteiligte) objektiv das Beste ist. Das ist dann im Zweifel auch das Beste für die Beteiligten und den insolventen Unternehmer. Insofern mag es sein, dass der Insolvente Geschäftsanteile abgibt oder sich auch sonst zurückzieht. „Message 2“ ist, dass während der Betriebsfortführung jeder das macht, was er am besten kann. Insofern produziert die Belegschaft so gut sie kann, der Geschäftsführer/Vorstand oder der Einzelunternehmer kümmert sich um die Kunden und der Sach- oder Insolvenzverwalter führt den Betrieb fort. Wenn sich während der Betriebsfortführung jeder auf das konzentriert, was er am besten kann, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit am größten. VI.
Grenzen der Psychologie bei der Betriebsfortführung
Gelegentlich ist es aber auch anders. Der Sach- oder Insolvenzverwalter stellt fest, dass 26 der Insolvente nicht (mehr) der Richtige ist, um das Unternehmen zu führen. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben: Nicht jeder Gründer führt ein wachsendes Unternehmen auch gut. Es gibt ausgesprochene „Gründertypen“, die Unternehmen mit einer ungeheuren Energie und Engagement sowie Fantasie gekonnt gründen und auch aufbauen, denen dann ein sich mit zunehmender Größe oft immer kleiner werdendes Wachstum nicht spritzig genug ist. Gelegentlich ist der Insolvente ab einer bestimmten Größe auch überfordert. Manchmal ist der Insolvente als Unternehmer aber auch völlig ungeeignet, weil
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ihm der notwendige „Biss“ und das Engagement fehlen (dann ist das Unternehmen im Zweifel über die Gründung und den Verbrauch der Startgelder nicht hinausgekommen), er ein „Künstlertyp“ oder „Wissenschaftler“ ist. Eventuell sind auch gesundheitliche und/ oder psychische Probleme des Unternehmers Ursachen der Krise. Auch in diesen Fällen ist es geschickt, dem Insolventen, der im Zweifel seinen Geschäftsanteil während der Betriebsfortführung im Rahmen einer Sanierungslösung deutlich reduziert oder ganz ausscheidet, die Sanierungslösung insofern gut zu verkaufen (vgl. Sandwichmethode, siehe oben Rz. 16 ff.). Denn, wer kein Unternehmer ist, hat im Zweifel andere Vorteile. Er ist etwa ein anerkannter Experte auf seinem Gebiet und insofern besser beraten, als Angestellter weiterzuarbeiten oder ein guter Mitarbeiter, wenn er sich auf nur ein Gebiet (das ist häufig die Kundenpflege) konzentriert. Bei medizinisch-psychologischen Problemen ist der Insolvente oft auch dankbar, wenn der Sach- oder Insolvenzverwalter als außenstehender Dritter den Rat gibt, eine Auszeit zu nehmen. Dass solche – nicht ganz einfachen – Gespräche mit etwas Gutem anfangen und auch enden, versteht sich von selbst. 27 Bei Insolvenzverfahren mit kriminellem Hintergrund (Firmenbestattung etc.) spielt die Psychologie des Unternehmers regelmäßig keine Rolle.
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§ 21 LEAN-Management als Führungsinstrument in der Unternehmenssanierung Kaiser
Übersicht I.
II. III. IV. V. 1. 2. 3. 4.
I.
Unternehmenssanierung und LEANManagement – passt das wirklich zusammen? Vorab: Ja ................................. 1 Starten wir die Reise. Phase 1: Ruhe vor dem Sturm .................................. 8 Phase 2: Chaos pur! .................................. 24 Phase 3: Weg aus der Misere .................... 28 Phase 4: Rosskur – Jetzt konsequent durchstarten............................................... 36 Konstruktive Denkweise und Führungsqualität ........................................ 41 System-Optimierungsansatz Nr. 1: LEAN-Manager.......................................... 45 System-Optimierungsansatz Nr. 2: Unternehmensvision.................................. 50 System-Optimierungsansatz Nr. 3: Strategieraum.............................................. 54
5.
System-Optimierungsansatz Nr. 4: Handlungs-Prinzip..................................... 55 6. System-Optimierungsansatz Nr. 5: „Wertstrom- bzw. ShopfloorManagement“ ............................................. 58 7. System-Optimierungsansatz Nr. 6: Coaching..................................................... 62 8. System-Optimierungsansatz Nr. 7: Führungskräfte-Forum.............................. 64 9. System-Optimierungsansatz Nr. 8: Schnittstellenpartner.................................. 67 10. System-Optimierungsansatz Nr. 9: 90-Minuten-Power-KAIZENWorkshops.................................................. 69 VI. Phase 5: Nachhaltigkeit............................ 70
Unternehmenssanierung und LEAN-Management – passt das wirklich zusammen? Vorab: Ja
Während LEAN-Management mit humanem, kreativem und ganzheitlichem Manage- 1 ment verbunden wird bzw. nach etwa 40 Jahren LEAN- Management in Europa verbunden werden sollte, löst der Begriff Unternehmenssanierung eher schmerzliche Gefühle und Unbehagen aus, ist er doch eine – wenn auch freundlichere – Umschreibung für das „Gespenst“ Insolvenz. Zugegeben, nicht immer liegt bereits eine Insolvenz vor, wenn eine Unternehmenssanierung betrieben werden muss respektive müsste, doch die Erfahrung als Praktiker zeigt mir, dass meist erst dann reagiert wird, wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“ oder zumindest „das Wasser bis zum Hals steht“. Mir geht es hier um die tatsächliche Sanierung eines Unternehmens in prekärer Lage im 2 ursprünglichen Sinne, bei der LEAN-Management als „heilende“ Anwendung zum Einsatz kommt. Denn LEAN-Management hat, wenn richtig verstanden, die Kraft innerhalb kürzester Zeit wieder eine sehr gute Geschäftsbasis herzustellen. Sanierung kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Heilung (lat. sanare „heilen“). Genau dies passt sehr gut zur LEAN- Management-Philosophie. Denn es stellt unbewusst sofort den Bezug zum Menschen her, der bei LEAN- Management- im Unterschied zu einigen anderen Managementmethoden wie z. B. dem Taylorismus, sehr große Priorität genießt. Vorab: LEAN-Management ist die Art und Weise wie wir unser tägliches Geschäft am effek- 3 tivsten, effizientesten und angenehmsten – besonders auch im Miteinander – gestalten. Es geht um das „Wie“. Oder man kann ebenso fragen: „Machen wir die richtigen Dinge? Machen wir die richtigen Dinge richtig?“
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4 Aufgrund einer besseren Lesbarkeit und Effektivität wird im Folgenden „LEAN-Management“ bzw. ganzheitliches Managementsystem mit „LEAN“ bezeichnet. 5 Um LEAN praxisnah und anschaulich zu vermitteln soll anhand eines Beispiels demonstriert werden wie die Unternehmenssanierung bei dem Unternehmensleiter eines mittelständigen Unternehmens, hier Herr R., nach einigen Turbulenzen doch noch zum Erfolg geführt wurde und welche Rolle dabei LEAN übernahm bzw. noch heute spielt.1) 6 Abb. 1: Entwicklungsphasen
Quelle: Eigene Darstellung
7 Diese ereignisreiche Zeit weist fünf Entwicklungsphasen auf. Betrachten Sie bitte jede Phase aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften für sich als geschlossene Einheit und alle zusammen doch dem Gesamtsystem wieder zugehörend. Es gibt hier kein falsch bzw. richtig. Es geht insbesonders darum, dass bereits innerhalb einer Unternehmenssanierung (Phase 3 und 4) die elementare Basis für eine erfolgreiche Weiterreise (Phase 4 und 5) gelegt wird. II.
Starten wir die Reise. Phase 1: Ruhe vor dem Sturm
8 Als ich Herrn R. kennenlernte, leitete er ein gut gehendes Unternehmen. Seit einiger Zeit hatte Herr R. LEAN eingeführt und betrieb es weiterhin.
___________ 1) Grafiken und Bildbearbeitung: ArtHouse39.
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Abb. 2: Phase 1
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Quelle: Eigene Darstellung
Doch als ich ihn ein weiteres Mal auf einem meiner LEAN-Vorträge traf – wir hatten uns 10 ca. drei Jahre dazwischen nicht ausgetauscht –, gab er nach meiner Erkundigung, wie es ihm und seiner Firma denn ginge, etwas kleinlaut zu, dass es leider nicht so gut geht. Was war geschehen? Die Antworten auf meine gezielten Fragen ergaben ein Szenario, dass mir schon öfter so ähnlich begegnet war: Das Unternehmen lief einige Jahre richtig gut, wie bereits gesagt, bei einigen Produkten 11 konnte man sogar eine führende Stellung auf dem Weltmarkt verzeichnen. Doch die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht und schon bald wandelten sich diese Platzierungen in Platz 2, 3 usw., bis der Absatz unzureichende Zahlen aufwies. Doch statt nun Innovationen und Verbesserungen anzustreben, wurde der Leistungsdruck auf die Mitarbeiter erhöht und seitens der Führungskräfte versucht, mit vorhandenen Mitteln mehr herauszuholen. Das gelang teilweise, denn einige Reserven konnte man, auch dank einiger typischer LEANWerkzeuganwendungen, erkennen und nutzen. Dazu betrieb man intensiv 5S, reduzierte Bestände, führte kurzerhand Rüstoptimierungsmaßnahmen durch und achtete gezielter auf das Qualitätsmanagement. Zumindest die Kundenzufriedenheit bei den verkauften Produkten stieg an, weniger Reklamationen waren zu verzeichnen. Doch leider wurde LEAN weder ganzheitlich verstanden noch ganzheitlich angewendet, 12 sondern nur bestimmte LEAN-Werkzeuge bzw. -Methoden daraus. Das geschah u. a., weil LEAN für das Top-Management „bis gestern“ und „sofort“ Ergebnisse bringen musste. Vor allem eine der Grundvoraussetzungen wurde mehr und mehr vernachlässigt, nämlich das gute Miteinander in der Firma, das Kreativität und Schaffensfreude fördert. In der Belegschaft wurde die Stimmung zunehmend angespannter. Auch die Führungskräfte reagierten mit strengerem Tonfall und restriktivem, autoritärem Vorgehen, was nicht zu einem besseren Betriebsklima beitrug, im Gegenteil. Man verfiel tatsächlich in alte, überholte Methoden des Taylorismus. Diese waren in der 3. industriellen Revolution ggf. gut und ausreichend, doch um die Herausforderung der anstehenden 4. bzw. schon 5. industriellen Revolution erfolgreich zu meistern, eher unpassend. Angestellte wurden teilweise zu reinen Befehlsempfängern degradiert. Eigene Ideen und Eigeninitiativen wurden als Zeitverschwendung im härter werdenden Arbeitsalltag abgewertet. „Einer meiner kreativsten Mitarbeiter hat uns dann tatsächlich verlassen. Sein unmittelbarer Chef hatte eine Neuentwicklung eines
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Produktes und Verbesserungen an vorhandenen Produktlinien rigoros abgelehnt, was ich leider erst später erfuhr. Ich habe nun über Umwege erfahren, dass er bei der Konkurrenz arbeiten soll“, ärgert sich Herr R. Doch weitere Nachforschungen meinerseits ergaben, dass Herr R. leider auch auf diese deutlichen Warnsignale hin noch nicht adäquat handelte und seine Aufgabe als Leiter des Unternehmens nicht wirklich wahrnahm. Dabei ist es immens wichtig, bereits auf erste Warnsignale zu reagieren. Probleme starten oft schleichend und wachsen sich schnell aus. Es muss jedoch nicht erst zum Scheitern des Projektes oder der ganzen Firma bzw. Organisation bzw. zur Insolvenz kommen. Hat man keinen ganzheitlich durchorganisierten und lebendigen Prozess und beachtet noch dazu nicht die Frühwarnsignale, nimmt das Desaster allerdings seinen Lauf. Eine solche Entwicklung illustrierte uns der Fall Berliner Großflughafen sehr expressiv. Außerdem muss man das, was man in der Anfangsphase der Probleme versäumte, später mit mehrfachem Aufwand (Zeit, Geld) und schmerzlichen Einbußen sowie Entscheidungen aufarbeiten. LEAN hingegen – richtig verstanden und angewendet – unterstützt die Verantwortlichen, bereits frühzeitig Abweichungen in den Prozessen der Produktion und Administration zu erkennen. Abweichungs-Management ist ein sehr wichtiger Bestandteil von LEAN. Durch gezielte Maßnahmen in Kombination mit Stetigkeit und Konsequenz können somit die Probleme klein und handelbar gehalten bzw. beseitigt werden. Ich fragte nach, was Herr R. zu dieser Zeit umgesetzt hat. Er antwortete konsterniert: „Eigentlich fast gar nicht mehr.“ Weiter schilderte er, dass die Arbeitsmoral allgemein immer mehr sank, sodass die anfänglichen Fortschritte durch die Erschließung der Reserven wieder verschwanden. Die Kommunikation fiel auf ein sehr niedriges Niveau. Die Krankenstatistik stieg an. Weder die so wichtige Unternehmensvision, noch andere LEAN-Werkzeuge wurden aktualisiert und angepasst, wenn man überhaupt noch daran dachte. „Wissen Sie, Herr Kaiser, ich hätte nie gedacht, dass man so schnell die wichtigen Dinge, die wir ja durch LEAN schon kannten und früher zumindest teilweise anwendeten, als Organisation so schnell wieder vergisst, weil man in solchen Situationen darauf verfällt zu reagieren, statt zu agieren“, sagte Herr R.
17 Das passiert leider vielen in einer Krise. Die bei LEAN besonders wichtigen Kriterien, wie regelmäßige, respektvolle und konstruktive Kommunikation auf „Augenhöhe“ zwischen allen Entscheidern und Mitarbeitern auf allen Ebenen, tägliche Ausrichtung und Verbesserung, werden unter Stress sträflich vernachlässigt. Dabei hat meist genau das u. a. zur Krise geführt. Da muss man gezielt gegensteuern, sonst bekommt man das Ruder nicht herum gerissen. 18 Die LEAN-Story: „Apropos Ruder, da fällt mir unser letztes Rafting ein, Herr R. Es ist dabei irgendwie ähnlich. Ein Bekannter lud mich vorigen Monat zu einer Raftingtour in den Alpen ein. Wir waren eine Gruppe von sieben Leuten und starteten frühmorgens voller Elan und Freude. Die Sonne schien, die Strecke bot eine herrliche Natur und tolle Aussichten im Gebirge mit interessanten Felsformationen. Das Wasser war anfangs ganz ruhig, wir glitten mit unseren Kajaks und Booten regelrecht wie Fische durch die Schluchten. Man fühlt sich wohl und glaubt, nichts könnte einem passieren – so ging es Ihnen, als ich Sie das erste Mal traf, nicht wahr?“ „Ja, genau!“, bestätigte mein Gegenüber. 19 Wir hatten allerdings das Glück, einen kundigen Tourleiter dabei zu haben. Der warnte uns natürlich frühzeitig vor den kommenden Stromschnellen und Engpässen. Er erklärte uns auch, woran man bestimmte Gefahren bzw. Dinge erkennt, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Das war für mich sehr wichtig. So konnte ich beispielsweise einer kleinen Klippe ausweichen, die unter Wasser für den Laien kaum zu erkennen war. An diesem Streckenabschnitt war das Wasser schon unruhiger. Ein Kumpel von mir hatte jedoch wohl entweder 756
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nicht zugehört oder war nicht aufmerksam genug, jedenfalls hörte ich plötzlich einen Aufschrei und ein gurgelndes Geräusch seitlich hinter mir. Er war gekippt und hing waagerecht im Wasser, das Wasser stand ihm sozusagen bis zum Hals. Der Tourleiter rief ihm schnell Anweisungen zu und so konnte er unter äußerster Kraftanstrengung sein Kajak mit bestimmten Ruderbewegungen losbekommen und sich wieder aufrichten. „Tja, ich werde wohl auch so einen externen Tourleiter benötigen, wenn nicht gar ein ganzes Rettungsteam“, seufzte Herr R. LEAN beginnt mit der Denkweise. Wenn man dies beachtet und LEAN wirklich ganzheitlich und nachhaltig lebt, umsetzt und an die Belegschaft weiter vermittelt, diese somit zur schöpferischen Eigeninitiative Richtung Unternehmensvision motiviert, entstehen solche Zustände gar nicht erst. Ich höre leider öfter, dass man zwar LEAN eingeführt hat, sogar temporär einen LEANManager in der Firma hatte, doch im Arbeitsalltag es nicht ganzheitlich anwendet, sondern nur situativ einzelne Werkzeuge und Methoden. Meist sind es 5S2) und die Optimierung der Lagerbestände, Verbesserungen in der Qualität und Quantität sowie bei manchen noch ein bisschen gelegentliches Motivationstraining. Doch spätestens nach zwei bis drei Jahren schlafen Aktionen wieder ein, LEAN steht nicht mehr im Fokus – die Nachhaltigkeit ist marginal. Das erschreckende Ergebnis meiner langjährigen Nachforschungen ergab: Nach dieser Zeit sind gerade einmal 3 %(!) der Unternehmen mit LEAN wirklich noch nachhaltig und ganzheitlich unterwegs. Bei 97 % der Unternehmen ist LEAN eingeschlafen. Bei unserer Kajaktour mussten wir auch einmal kurzfristig ein Zwischenziel umdisponieren, da mittags plötzlich das Wetter umschlug, es goss wie aus Eimern. Einer der Zwischenstopps wurde laut Tourführer dadurch zu gefährlich. Wir waren unschlüssig; gerade dieser Stopp war eines der Highlights der Tour, denn er bot einen besonders schönen Ausblick über die Landschaft. Nach einer Beratung in der Gruppe beschlossen wir, die Route zu ändern, was sich im Nachhinein als sehr gute Entscheidung erwies. Zurück zum Geschäft: Selbstverständlich muss man in unserer schnelllebigen Zeit immer öfter auf neue Bedingungen – auch unvorhergesehene – sowie auf den Trend des Marktes reagieren. Besser wäre, ganz „leanlike“ dem zuvorzukommen, indem man die kreative Eigeninitiative der Belegschaft und gute Kommunikation stetig fördert – an jedem einzelnen Arbeitstag – und deren Ergebnisse als Innovationen selbst auf den Markt wirft. III.
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Phase 2: Chaos pur!
Inzwischen kamen weitere Innovationen der Mitbewerber auf den Markt und verdrängten 24 regelrecht Herrn R.’s Produkte, da die Konkurrenten zusätzlich ein besseres Preis-Leistungsverhältnis vorweisen konnten. Nun rächte sich, dass die Firma sich in den Jahren zuvor kein passendes Frühwarnsystem aufgebaut und die kontinuierliche Innovationskultur vernachlässigt hatte. Trends wurden somit erst erkannt, als man von ihnen überrollt wurde. Nun wurde man hektisch. Während die einen Manager auf den bewährten Strategien und Produktkonzepten beharrten, wollten andere eine völlige Umstrukturierung der Produktion durchsetzen. Herr R. konnte sich für keine der beiden Strategien entscheiden und ein von ihm propagierter Mittelweg wurde nicht gefunden bzw. konnte von ihm nicht durchgesetzt werden, da jeder auf seiner Meinung beharrte. Statt konstruktivem Austausch fand zu viel destruktive Schuldzuweisung und Abgrenzung statt. Viele Prozesse wurden immer chaotischer. ___________ 2) Ziel eines 5S-Programmes ist, die Arbeitsplätze so zu gestalten, dass die Arbeit störungsfrei ablaufen kann, Suchen ebenso wie lange Transportwege und Wartezeiten vermieden werden und dadurch verschwendungsfrei gearbeitet werden kann. Ein sauberes und ordentliches Arbeitsumfeld gilt zudem als Grundlage für Qualitätsarbeit. (www.wikipedia.org).
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
25 Abb. 3: Phase 2
Quelle: Eigene Darstellung
26 Nach unserer Raftingtour erfuhren wir, dass eine andere Gruppe an diesem Tag doch zu jenem Zwischenstopp, den wir bewusst ausgelassen hatten, gefahren war. Man muss dort sein Kajak festbinden und ein Stück den Fels hinauf klettern, was bei strömendem Regen und danach natürlich insofern gefährlich wird, dass man leicht abrutschen kann. Außerdem konnte die anschwellende Strömung, die an dieser Stelle ohnehin schon recht reißend war, die Boote mitnehmen. Nun ja, diese Gruppe nahm gleich beides mit. Einer verletzte sich schwer beim Klettern, weil er abrutschte und eines der Kajaks wurde von der Strömung weggerissen. Der Teilnehmer, der mir dies erzählte, ärgerte sich sehr. Denn er hatte dafür plädiert, die Stelle nicht anzufahren, wie auch sein Tourscout empfohlen hatte. Doch die anderen setzten sich durch. Er schimpfte: „Hätte der Tourleiter den Mumm gehabt, sich aufgrund seiner Erfahrung und Stellung durchzusetzen, wäre das ganze Desaster nicht passiert! Meiner Meinung nach, wäre das seine Pflicht gewesen!“ 27 Manchmal gibt es prekäre Situationen, da müssen bestimmte Entscheidungen einfach von kompetenter Seite in einem direktiven Führungsstil durchgesetzt werden. Herrn R. riet ich aus Erfahrung, in seiner jetzigen Lage sich einen solchen kompetenten Manager zu holen. Ob ein Interimsmanager reicht oder dazu gleich ein Insolvenzmanager mit heranmuss, hängt von der konkreten Situation ab. Was gar nicht hilft, ist wegzusehen und abzuwarten. Das kann zum Untergang der Unternehmung führen. Ich weiß, niemand geht gern in eine Insolvenz. Doch wenn der Moment zum Gegensteuern vertan ist, muss der Rettungsring geworfen werden. IV.
Phase 3: Weg aus der Misere
28 Es muss aber gesagt werden, dass LEAN bei drohender Insolvenz bzw. in der akuten Phase, in der eventuell die Belegschaft reduziert werden muss, nicht das 1. Mittel der Wahl ist. Ich sage Ihnen auch warum: Wenn man jetzt LEAN einsetzt, und gleichzeitig z. B. die Belegschaft reduziert, wird der Begriff LEAN im Unternehmen für immer „verbrannt“ sein. Das ist ein Klassiker im negativen Sinne. Nicht selten kommt dieses Fehlverhalten vor, mit all seinen negativen Folgen für die gesamte Belegschaft im Unternehmen.
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LEAN-Management als Führungsinstrument in der Unternehmenssanierung
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LEAN bedeutet jedoch, Menschen zu halten, zu entwickeln und zielgerichtet zu fördern, 29 statt zu entlassen. Daher kann LEAN nicht von „heute auf morgen“ durch ein paar LEANWerkzeuge bzw. -Methoden eingeführt werden. LEAN ist Chefsache. LEAN hat viel mit aktiver Führung zu tun. Bei einer anstehenden Insolvenz ist die Einführung von LEAN in meinen Augen somit eher ungünstig. Abb. 4: Phase 3
30
Quelle: Eigene Darstellung
Es ist in dieser Phase angesagt, direkt einen Fachmann für Insolvenz zu holen, möglichst 31 einen, der sich mit dem Thema LEAN idealerweise auch auskennt respektive mit einem Interimsmanager zusammenarbeitet, der dies kennt. Denn dann kann man in der „Auftauchphase“ (Phase 4) LEAN nach und nach gleitend einfließen lassen. Aber bitte nicht falsch verstehen; die Entscheidung, LEAN zu betreiben oder nicht sowie der Start damit, muss initial erfolgen, nicht irgendwann. Lediglich die Werkzeuge setzt man, der Entwicklung individuell angepasst, nach und nach ein und achtet dabei trotzdem auf Ganzheitlichkeit. Auch dafür würde ich empfehlen, einen erfahrenen LEAN-Manager direkt mit ins Boot zu holen. Das führt folgend zu effektiven und schnelleren Ergebnissen. An dieser Stelle sei angemerkt: Nicht jeder LEAN-Manager ist ein LEAN-Manager. Achten Sie hier unbedingt auf die systemische Denkweise, langjährige Erfahrungswerte und eine menschenorientierte Geisteshaltung des LEAN-Managers. Im Beispiel empfahl ich zwei, drei solcher Insolvenz-, Interims- und LEAN-Manager, die 32 ich kenne und schätze. In kurzen Worten erklärte ich Herrn R. die Funktion des LEANManagers, der intern die Aufgabe hat, LEAN nachhaltig mit aufzubauen. Zirka 8 Monate später: Herr R. hatte tatsächlich gleich zwei meiner Empfehlungen ins Boot 33 geholt und berichtete mir am Telefon, dass die Firma zwar schmerzliche Verluste zu verzeichnen hat, er jedoch nun langsam Licht am Ende des Tunnels sehe. Viele Prozesse waren zwar immer noch sehr komplex, wurden jedoch aus dem chaotischen 34 Modus systematisch herausgeholt. Langsam kehrte wieder Normalität ins Tagesgeschäft ein. Der sehr stringente, direktive Führungsstil herrschte noch vor, jedoch auf faire Art. Jeder im Unternehmen wusste, dass dieses momentan der richtige Weg für das Unternehmen war, um die Weichen für „das Morgen“ zu stellen.
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35 „Wissen Sie,“ schilderte Herr R., „noch immer sind viele Fragezeichen in den Augen der Führungskräfte und Mitarbeiter zu erkennen. Sie machen sich Gedanken über Fragen wie: Wie wird die Entwicklung für uns wohl weiter gehen? Doch das ist gut so. Müssen wir doch auf viele noch offene Fragen durch uns, das obere Management, ganz klare Antworten erarbeiten und der Hoffnung für eine bessere Zukunft wieder Nahrung geben.“ Meine Antwort: „Genau, Ziel ist es, die inneren Kräfte wieder zu reaktivieren, zu bündeln und kräftig zu unterstützen.“ V.
Phase 4: Rosskur – Jetzt konsequent durchstarten
36 Im Beispiel mussten u. a. aufgrund der Berechnungen und Anweisungen des Insolvenzverwalters von 507 Mitarbeitern 324 entlassen werden. 37 „Doch diejenigen, die nun noch dabei sind, haben wir schon von vornherein nach den von Ihnen, Herr Kaiser, empfohlenen Kriterien ausgewählt. Trotz der Krise sind es noch kreative, sozial kompetente, von sich aus engagierte Mitarbeiter und Führungskräfte, auf die ich große Hoffnungen setze. Gut finde ich, dass wir noch sehr durchwachsen sein werden, was das Alter betrifft. Ich habe darauf bestanden, auch einige gute ältere Mitarbeiter zu behalten, auf die ich mich 100 %ig verlassen kann, die auch mental flexibel genug und vor allem bereit sind, sich mit Neuem auseinander zu setzen sowie ihre wertvolle Erfahrung an Jüngere weiterzugeben. Ihr guter Tipp, den demografischen Faktor damit im Boot zu haben, hat natürlich auch dazu beigetragen. Wenn die älteren Mitarbeiter dann in Rente gehen, haben wir die Freiheit flexibel zu entscheiden, ob wir als Firma neue Mitarbeiter einstellen oder es bei der auf natürliche Weise reduzierten Belegschaft belassen.“ 38 Abb. 5: Phase 4
Quelle: Eigene Darstellung
39 Ich spürte, dass Herr R. über das depressive Tief hinweg und wieder voller Elan war und bestärkte dies: „Ich freue mich, dass Sie einerseits bereit sind zu lernen, andererseits wieder so aktiv dabei sind, Ihr Boot so konsequent aus der Schieflage zu bringen. Bewusst sage ich konsequent. Schnell gehen hier drei bis fünf Jahre ins Land. Gemeinsam hatten wir vor acht Monaten Wege und Möglichkeiten besprochen, eine solche einmalige und wertvolle Transformationsreise innerhalb von 24 Monaten positiv einschneidend zu gestalten. Ich erinnere mich gut an Ihren ungläubigen Blick, einerseits weil 24 Monate sich sehr lange
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anhören, zum anderen aber, weil ich mich selbst als LEAN-Coach mit den 24 Monaten ‚weit aus dem Fenster hinaus lehne‘. Das kann riskant sein. Da passieren einige Dinge, die auch ich nicht selbst ‚kontrollieren‘ kann. Ich beschäftige mich aber seit einigen Jahren mit diesen 24 Monaten und behaupte, dass es grundsätzlich in dieser Zeit zu schaffen ist. Das Ergebnis nach diesen 24 Monaten ist jedoch kein Zufallsprodukt. Es gilt Dinge bewusst zu tun, andere Dinge dagegen bewusst nicht mehr zu tun. Sie wissen, dass der Transformations- bzw. Change-Prozess nach diesen zwei Jahren keinesfalls beendet sein wird. Sie haben dann eine solide(re) Basis, die es ermöglicht, sicher in eine Zukunft mit noch unbekannten Herausforderungen der bereits gestarteten 4. industriellen Revolution zu gehen.“ Abb. 6: Grundlogik der Transformation
40
Quelle: Eigene Darstellung
1.
Konstruktive Denkweise und Führungsqualität
Die Entscheidungen von Herrn R. hinsichtlich seiner Mitarbeiter und Führungskräfte ist 41 hilfreich. Eine positive Grundstimmung in der Belegschaft wird wertvoll sein. Sinn stiften, De-Motivation erkennen und aktiv angehen, Freude an der Arbeit schaffen, sind im Arbeitsalltag der heutigen Zeit ungemein wichtig. Es ist eine besondere Herausforderung als Chef, mit der Belegschaft so zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass wieder ein gutes Arbeitsklima herrscht und in Zukunft auch bestehen bleibt, selbst wenn stressige Anspannungen im Tagesgeschäft vorkommen sollten. Denn motivierte Mitarbeiter und Führungskräfte, die mit Freude und Herz bei der Arbeit sind, schaffen gute Qualität in guter Zeit. Auch wenn es zeitweise schwierig ist, ist darauf zu achten, dass die Motivation nicht aus der Angst entsteht, vielleicht doch noch entlassen zu werden, sondern aus echtem Engagement, Kreativität, Anerkennung, Wertschätzung, Innovationsdrang und Freude. Das ist etwas sehr Wertvolles, das bei jedem Einzelnen der Belegschaft auch von innen heraus kommen muss. So etwas ist nur bedingt von außen delegierbar bzw. aufstülpbar, wird aber durch ein gutes, förderndes Miteinander entfaltet und potenziert. Gerade nach einer überlebten Insolvenzphase sollten alle gestärkt aus dem Chaos hervorgehen und alle verfügbaren Kraftquellen positiv mobilisieren können.
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42 Ist das einfach? Nein! Passiert so etwas von „heute auf morgen“? Nein! Ist es ein Zufallsprodukt? Sicher nicht! Es ist tägliche Führungsaufgabe. Deshalb ist es immens wichtig, die richtigen Führungskräfte mit der richtigen Grundeinstellung, mit der richtigen Geisteshaltung und dem dahinter steckenden Mindset und den richtigen Talenten an den richtigen Stellen um sich zu platzieren. Prämisse ist, grundsätzlich mit Menschen arbeiten zu wollen und ein positives Menschenbild zu haben. Dazu zählt auch die Überzeugung seitens der Führungskräfte, dass alle Mitarbeiter im Unternehmen mündige Bürger sind. „Ja, Herr Kaiser, schon jetzt zeigt sich sehr deutlich der Unterschied zur Insolvenzphase. Ich weiß, ich sagte damals bei unserem ersten LEAN-Coaching scherzhaft, dass man diese zwischenmenschlichen und mentalen Abläufe schlecht messen kann. Doch nun erfahre ich, was Sie meinten.“ 43 An dieser Stelle spreche ich auch gerne von der Denkweise. Die Investition in die Belegschaft und die Qualität der Führung im Unternehmen ist eine hervorragende Basis für die Welt von Morgen – eine Investition die sich für Alle lohnen wird. 44 Bei unserem nächsten Coaching vor Ort stellten wir unser erstes, sogar schon etwas feierliches Fazit der bis dahin absolvierten Schritte der Unternehmenssanierung auf. Folgende neun System-Optimierungsansätze wurden erfolgreich umgesetzt: 2.
System-Optimierungsansatz Nr. 1: LEAN-Manager
45 Einstellung eines LEAN-Managers, der ‚täglich AM System‘ arbeitet, denn machen wir uns nichts vor: Wenn jemand bereits zu gefühlten 120 % im Tagesgeschäft ausgelastet ist, wird er oder sie keine Energie mehr haben, ein bestehendes System nochmals zu analysieren, geschweige denn zu optimieren. Das Tagesgeschäft wird denjenigen bestimmen. 46 Die Funktion LEAN-Manager ist ein Vollzeitjob. Ich kenne Unternehmen mit 120 Mitarbeitern und zwei Standorten in Deutschland und einem LEAN-Manager. Ich kenne aber auch das Gegenteil, ein Unternehmen mit ca. 1 700 Mitarbeitern, drei Schichten pro Tag, sieben Tage die Woche und keinen LEAN-Manager. Was ich im letzterem Unternehmen erleben musste war schlicht unternehmerischer „Selbstmord“. 47 Dabei werden erfahrungsgemäß die Personalkosten des LEAN-Managers schnell wieder eingespielt. Dies zeigt sich am Ende eines jeden Optimierungsprojektes deutlich durch die gewonnenen Einsparungen in Euros. Ein paar Zahlen dazu. Frage: Wie viel kostet es bei Ihnen im Unternehmen, wenn ein Mitarbeiter einen Meter zu Fuß entlang des Weges geht? Der Durchschnittswert bei einem meiner Kunden beträgt 0,30 €/m. 48 Daraus ergibt sich folgende Rechnung: Fokus ist einer der täglichen Maschinen-Rüstvorgänge. Vor Prozessoptimierung: 2 430 m/Schicht x 2 Schichten/tgl. x 220 AT/a x 0,30 €/m = 320 760 €/Jahr. Nach der Prozessoptimierung: 972 m/Schicht (= –60 %) x 2 Schichten/ tgl. x 220 AT/a x 0,30 €/m = 128 304 €/Jahr. Das entspricht einer Kostenreduzierung von 192 456 €/a … nur in diesem einen Rüstprozess! 49 Damit wären schon zwei LEAN-Manager bezahlt. Hinsichtlich der Platzierung des LEANManagers empfiehlt es sich ihn quasi in eine Stab-Funktion direkt unter dem Geschäftsführer bzw. der Werkleitung einzusetzen. Damit ist er in seinem Handeln innerhalb der Organisation unabhängig(er) und kann somit viel freier sowie effektiver handeln. 3.
System-Optimierungsansatz Nr. 2: Unternehmensvision
50 Nach der schweren Zeit der Krise sollte sich darauf konzentriert werden, wieder eine klare Unternehmensvision auf die Fahne zu schreiben. Denn um Mitarbeiter und Führungskräfte für den anstehenden LEAN-Weg zu begeistern, benötigen wir genau diese Orientierung, die gleichzeitig eine Ausrichtung ist. Sie soll Fragen beantworten wie: Wozu soll 762
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LEAN-Management als Führungsinstrument in der Unternehmenssanierung
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ich mich heute anstrengen? Hat das Ganze Sinn? Was habe ich persönlich davon? Welche Konsequenzen hat es, wenn ich nicht mitziehe? Abb. 7: Klare Ausrichtung
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Quelle: Eigene Darstellung
Das sind für jedes Individuum – für die Mitarbeiter ebenso wie für die Führungskräfte – 52 wichtige Fragen, auf die es gilt, im 21. Jahrhundert mit demografischem Vorzeichen eine klare unternehmerische Antwort zu finden. Sind relevante und akzeptierte Antworten gefunden, macht es (fast) jedem Mitarbeiter und jeder Führungskraft tatsächlich wieder Freude, zur Arbeit zu kommen – so meine Behauptung. Jeder wird im Tagesgeschäft sein Bestes geben und Potentiale entfalten, um an den gemeinsamen Unternehmenszielen als Folge der Vision einen maßgebenden Anteil zu haben. Aber auch nur dann! Auch nur dann, wenn die Unternehmenskultur dazu passt. Die Vision ist unter dem Top-Management abzustimmen und muss an alle im Unter- 53 nehmen durchgängig kommuniziert werden. Regelmäßige Gespräche vor Ort dienen dazu, dass die Vision von allen verstanden und akzeptiert wird. 4.
System-Optimierungsansatz Nr. 3: Strategieraum
Nachdem sehr konsequent 5S durchgeführt wurde, ist ein etwa 30 qm großer Raum ent- 54 standen, der Strategieraum. Dort wird die Unternehmensvision für die nächsten 5 Jahre + … prominent an der Wand platziert und es erfolgen dort konsequent regelmäßige und effiziente Treffen im Managementkreis. Im Fokus steht: Was wird wann zeitlich passieren? Wo liegt unser Fokus? Wo ergeben sich zeitliche Verzögerungen? Wer wird wann was machen und wie beeinflussen sich die zentralen Projekte gegenseitig? Hier ergeben sich effiziente Ansatzpunkte für gezielte Projekt-Coachings. Zielzustand ist es, mit Ihrem TOPManagement gezielt Herausforderungen, basierend auf Ihrer Unternehmensvision, abzuleiten. Persönliche Kommunikation und der Informationsfluss, besonders zwischen den TOP-Entscheidern, wird großgeschrieben. Gerne spricht man hier auch vom Management-PDCA. 5.
System-Optimierungsansatz Nr. 4: Handlungs-Prinzip
Ich betonte nochmals die so wichtige Grundprämisse: x
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Eine sehr gute Denkweise führt zu einem sehr guten Prozess.
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x
Ein sehr guter Prozess führt zu einem sehr guten Ergebnis.
x
In Folge arbeiten wir stetig und konsequent mit unserer richtigen Denkweise am Prozess.
56 Abb. 8: Eine starke Grundprämisse
Quelle: Eigene Darstellung
57 Dies wurde im Beispiel unternehmensweit sehr gut kommuniziert, durch die Führungskräfte vorgelebt und durch das Team in Folge positiv angenommen. Dadurch ist über die letzten Monate eine Kultur entstanden, die es ermöglicht, jeden Tag und auf jeder Hierarchie-Ebene auf „Augenhöhe“ und wertschätzend Probleme anzusprechen und innovativ zu lösen. Offenheit ist angesagt und wird gefördert. Transparenz ist wieder etwas Positives geworden. Man lässt sich gegenseitig wieder „leben“. 6.
System-Optimierungsansatz Nr. 5: „Wertstrom- bzw. Shopfloor-Management“
58 Im Beispiel wurde seit vier Monaten mit dem Wertstrom- bzw. Shopfloor-Management in Produktion und Administration gestartet. Den Begriff „Wertstrom-Management“ finde ich übrigens persönlich passender, obwohl der klassische Begriff in der LEAN-Welt „ShopfloorManagement“ heißt. Mit diesem Prozess, ich nenne ihn auch gerne „eierlegende Woll-MilchSau“, können auf der Ergebnisseite schnell Erfolge eingefahren und auch so manche noch „LEAN-ungläubigen“ Mitarbeiter bzw. auch Führungskräfte schnell mit Zahlen-DatenFakten überzeugt werden. 59 Dieser Prozess ist zudem sehr gut geeignet, die Leistungen jedes Einzelnen aktiv und regelmäßig zu würdigen oder auch mal wieder gezielte Erinnerungs-Impulse zu setzen. 60 Es ist darauf zu achten, dass auch in den Bereichen neben der Produktion, wie IT, Entwicklung, Vertrieb, Controlling, Personalabteilung, Einkauf etc., diese Vorgehensweise weiter durchgeführt wird – auch wenn es nicht immer einfach sein wird. Wertstrom-Management eignet sich überall dort, wo zentrale Schnittstellen bestehen. 61 Um einfach mal mit diesem Prozess zu starten, nutze ich bewusst die Kraft der Versionsbildung. Fangen Sie einfach mal an mit einer Version 1.0 – dem ersten Schritt. Dieser Schritt muss nicht direkt perfekt sein. Wichtig ist: Sie sind gestartet. Verbessern Sie die V 1.0 und erstellen Sie den verbesserten Standard, die V 2.0, … so machen Sie stetig weiter. Nach etwa zwölf Monaten – für manch eine Führungskraft eine gefühlte Ewigkeit – wird dieser Prozess sehr gut sein und in die Normalität übergehen. Entwickelt sich der Standard dann zur Routine, will er nicht mehr gemisst werden. Ich zitiere an dieser Stelle gerne Albert Einstein: „Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr.“ (Albert Einstein, dt. Physiker, 1879 – 1955)
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Abgeleitet: „Stirbt das Wertstrom-Management, stirbt die Lean-Nachhaltigkeit.“
7.
System-Optimierungsansatz Nr. 6: Coaching
Es gilt, das Coaching als eine weitere vorteilhafte Art und Weise der Führung zu entdecken. 62 Dabei kann durchaus experimentiere werden: Wo es sinnvoll ist eher noch im direktiven Führungsstil zu bleiben, sollte man dies tun, aber ganz bewusst generell schon ins gezielte Coaching übergehen. Aufgrund der aktuellen Veränderungen auf dem Weltmarkt und dem stattfindenden Para- 63 digmenwechsel wird das Coaching als moderner Führungsstil in Zukunft immer wichtiger. Anders gesagt: „Taylorismus ade!“ Diese Methode ist obsolet. Ziel des Coachings ist es, dass jeder im Unternehmen täglich daran arbeitet, die Unternehmensvision pro-aktiv ein Stück mehr zu realisieren. Das Bindeglied zwischen den 100 % Firmenmitgliedern ist der sog. Zielentfaltungsprozess bzw. Hoshin Kanri oder auch Policy Deployment genannt. 8.
System-Optimierungsansatz Nr. 7: Führungskräfte-Forum
Einmal im Monat sollten alle Führungskräfte zu einem Führungskräfte-Forum zusammen 64 kommen. Damit unterbinden Sie das „Stille-Post-Prinzip“, gewinnen wertvolle Zeitvorteile bzgl. der Kommunikation durch das komplette Unternehmen, bauen wertvolle Verbindlichkeiten auf und schaffen es somit sehr gezielt und effizient, an der Denkweise des Führungs-Teams zu arbeiten. Auch hier soll experimentiert werden. Das Führungskräfte-Forum in Kombination mit einer klaren Unternehmensvision hat viel Potential auf dem Weg in eine bessere Welt. Nennen wir diese Welt einfach mal „Geschäftsexzellenz“. In diesem Rahmen sind wichtige Hausaufgaben in puncto Klarheit zu machen: „Wer kon- 65 kret macht nun was?!“ Ein Mitglied der Firmenleitung im Beispiel merkte hierzu an: „Das ist ein so wohltuender Fortschritt. Vor der Insolvenz fühlte sich sehr oft niemand für etwas zuständig. Ja, liebe Kollegen, ich nehme mich da gar nicht aus. Irgendjemand sollte irgendetwas machen und wie wir wissen: Das führte sehr oft zu sehr komplexen, undurchsichtigen Abläufen ohne Effizienz.“ Nach Einführung von LEAN sind die Prozesse immer noch kompliziert, doch sind die 66 Rollen und die damit verbundenen Zuständigkeiten sauber definiert und kommuniziert. Mit fortschreitender LEAN-Implementierung wird es einfacher, versprochen! Ziel ist die Reduzierung der Komplexität. 9.
System-Optimierungsansatz Nr. 8: Schnittstellenpartner
Ein weiteres spannendes Thema ist: Controlling, Betriebsrat und HR, sprich Personal- 67 abteilung. Alle drei Schnittstellenpartner für LEAN zu begeistern ist wichtig! Das Controlling rechnet somit die LEAN-Philosophie nicht direkt tot, was leider viel zu oft vorkommt, wenn man LEAN nicht wirklich versteht. Die Personalabteilung achtet sehr genau darauf, die Führungskräfte unter Berücksichtigung ihrer Talente intern gezielt zu coachen und nicht jeden mehr zur Führungskraft zu machen. Essentiell ist, dass die Führungskraft diesen Weg wirklich (mit-)gehen will. Jeder Leiter im positiven Sinn sollte ein „LEANÜberzeugungstäter“ sein. Eine sehr gute Entscheidung ist es, den Betriebsrat zur LEANExpertenausbildung anzumelden. Er erhält somit das grundlegende Vertrauen und das Verständnis, dass es darum geht, gemeinsam und nachhaltig zu wachsen. So wird eine konstruktive Zusammenarbeit gefördert.
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Teil III Der Schuldner in der Betriebsfortführung/Kommunikation
68 Wichtig nochmals an dieser Stelle: LEAN bedeutet nicht, dass man Leute entlässt oder ähnlich eine Firma „gesund schrumpft“ – LEAN bedeutet grundsätzlich, Menschen zu halten und mit Respekt weiterzuentwickeln. 10.
System-Optimierungsansatz Nr. 9: 90-Minuten-Power-KAIZEN-Workshops
69 Im Beispiel wurde mit der Nutzung der „90-Minuten-Power-KAIZEN-Workshops“ ungemein Geschwindigkeit aufgenommen. Die wertvollen Impulse von den Mitarbeitern, die man innerhalb dieser 90 Minuten bekommt, verbessern nochmals die Prozesse. Damit schaffen Sie es, die Dinge vor Ort noch besser „in den Griff“ zu bekommen. „So viele Ideen haben wir in den letzten Jahren kaum pro Jahr bekommen! Erfahrungsgemäß sind es zwischen 90 bis 130 Ideen je Workshop, das ist sensationell!“ VI.
Phase 5: Nachhaltigkeit
70 Die Kunst ist es, dieses positive Momentum auch künftig aufrechtzuerhalten und nachhaltig weiter wachsen zu lassen. Bei eitel Sonnenschein neigt man dazu, das Boot einfach treiben zu lassen. Die Crew wird träge und die Unternehmung respektive Firma von innen heraus unflexibel. Eine Stromschnelle, ein plötzliches Hindernis, schon steht das Wasser wieder bis zum Hals! 71 Abb. 9: Phase 5
Quelle: Eigene Darstellung
72 Die beschriebene Gefahr besteht z. B. gerade dann, wenn Führungskräfte eigenmächtig ihre Rollen ändern bzw. vernachlässigen. Noch gefährlicher ist, wenn von außen neue Führungskräfte hinzukommen, die LEAN nicht kennen oder gar ablehnen. Ein LEANManager hat besonders hier „sein geschultes Auge darauf“ und begleitet einen neuen Chef sehr konzentriert. Überlassen Sie einen Wechsel in der Führungsebene nicht dem Zufall. LEAN und speziell Nachhaltigkeit haben sehr viel mit der Denkweise des bzw. der Chefs zu tun. Und je höher der Chef in der Hierarchie angesiedelt ist, desto weitreichender sind die positiven oder auch negativen Folgen. 73 Nur durch ein frühzeitig aufgebautes, funktionierendes und relevantes Frühwarnsystem, gelingt es negative Trends rechtzeitig zu erkennen. Wie ist zu reagieren, wenn die Strömung reißender oder die „Sturmfahne“ gehisst wird? 766
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LEAN-Management als Führungsinstrument in der Unternehmenssanierung
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Es gilt jeden Tag stetig und konsequent den Prozess im Auge und im Griff zu haben und 74 gemeinsam mit mündigen Mitarbeitern zu verbessern. Stabile Prozesse in Produktion und Administration stehen im Fokus. Die Idee bleibt gleich. Das Ganze muss mit eigenen Kräften, unterstützt durch den LEAN-Manager, realisiert werden. Das kann kein Externer übernehmen. Doch sind kurze und hochfrequente Impulse von außen sehr wirksam, wenn diese intern bereitwillig, effizient und wirksam umgesetzt werden. Im Beispiel ist es gelungen, über das ganze Unternehmen hinweg durch LEAN eine kon- 75 struktive Arbeitskultur und wertvolle Freiräume aufzubauen. Die entstandenen Freiräume werden strategisch genutzt, um sich nun weiter auf die Themen Innovation und „Zukunftsinvestitionen“ zu konzentrieren.
Kaiser
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
§ 22 Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenzund Eigenverwaltung Hermann/Fritz
Übersicht I. 1.
Ausgangslage ............................................... 1 Der Begriff des Konzerns im Insolvenzrecht ...................................................... 2 2. Interessenlagen für ein Konzerninsolvenzrecht ...................................................... 8 3. Anwendungsbereich für ein Konzerninsolvenzrecht ............................................ 10 4. Verhältnis von nationalem und internationalem Konzerninsolvenzrecht .......... 12 II. Betriebsfortführung im Konzern nach nationalem Recht ............................ 17 1. Einzelbetrachtung der jeweiligen Gesellschaft ................................................ 18 2. Aus der Konzernstruktur folgende Insolvenzgründe und Insolvenzursachen ..... 20 2.1 Bürgschaften .................................. 23 2.2 Patronatserklärung ........................ 27 2.3 Cashpooling-Verträge ................... 36 2.4 Sonstige Unternehmensverträge.... 43 2.5 Rangrücktrittserklärung und deren steuerliche Behandlung ....... 46 2.6 Sonstige Verträge im Konzern...... 54 2.7 Steuerliche Haftungstatbestände im Konzern .................................... 55 2.8 Sonderfall Startup als Beispiel für den Gesetzgebungsbedarf bei der Überschuldung .................. 59 3. Lenkung und Steuerung der Insolvenz in einem nationalen Konzern .................... 61 4. Insolvenz der Konzernmutter ................... 63 4.1 Ausgangslage und Ziele einer Konzerninsolvenz ............... 64 4.2 Konzernleitungsmacht .................. 67 4.3 Bilanzielle Bereinigung der Beteiligungsstrukturen............ 72 4.4 Liquiditätsplanung im Konzern.... 75 4.5 Veräußerung der Beteiligung ........ 84 4.6 Insolvenzplanverfahren................. 88 4.7 Eingriff in gruppeninterne Drittsicherheiten ........................... 90 4.8 Vorläufiges Insolvenzverfahren.... 91 4.9 Haftung des Insolvenzverwalters der Muttergesellschaft................... 94 4.10 Eigenverwaltung ............................ 96 5. Einflussmöglichkeiten der Gläubigerorgane........................................................ 105 6. Insolvenz der Tochtergesellschaft .......... 106
6.1
Gesellschaftsrechtliche Unterwerfung unter die Konzernleitungsmacht .............................. 107 6.2 Insolvenzrechtliche Mitwirkungspflichten ............................. 109 6.3 Einflussmöglichkeiten der Gläubigerorgane .................... 114 6.4 Liquiditätsplanung....................... 117 6.5 Insolvenzplanverfahren............... 119 6.6 Vorläufiges Insolvenzverfahren ... 121 6.7 Haftung des Insolvenzverwalters der Tochtergesellschaften ........... 123 6.8 Eigenverwaltung .......................... 124 7. Insolvenz mehrerer, in einem Konzern verbundenen Gesellschaften, insbesondere von Mutter- und Tochtergesellschaften............................................ 127 7.1 Ausgangslage ............................... 128 7.2 Ziele der Koordination................ 133 7.3 Mittel der Koordination.............. 146 7.4 Umsetzung in der Praxis nach nationalem Recht ................ 152 7.4.1 Zuständigkeit und Zusammenarbeit der Insolvenzgerichte ....... 154 7.4.2 Einheitlicher Insolvenzverwalter und Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter ................ 157 7.4.3 Koordination über Gläubigerausschüsse .................................... 168 7.4.4 Koordinationsverfahren (§§ 269d ff. InsO) ....................... 169 8. Vergütungsrechtliche Berücksichtigung konzernrechtlicher Fragestellungen?...... 176 8.1 Grundsätzliches ........................... 177 8.2 Berücksichtigung durch Zuund Abschläge ............................. 179 8.3 Vergütung eines einheitlichen Insolvenzverwalters nach § 56b InsO ............................................. 182 8.4 Vergütung eines Verfahrenskoordinators (§ 269g InsO) ....... 184 8.5 Gläubigerausschüsse.................... 187 III. Betriebsfortführung im Konzern außerhalb nationalen Rechts ................. 188 1. Fortführung eines Konzerns im Anwendungsbereich der EuInsVO ... 190 1.1 Anwendungsbereich.................... 191
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§ 22 1.2
1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung Auswirkungen der Zielvorgaben für eine erfolgreiche Sanierung i. R. eines europäischen Insolvenzverfahrens auf deutsche Konzerne ..................................... 197 Schicksalsfrage COMI ................ 198 Koordination von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren....... 200 Koordination der Verfahren im Konzern .................................. 207 Einheitlicher GruppenGerichtsstand............................... 209 Einheitlicher Insolvenzverwalter....................................... 210
1.5.3 1.5.4
2.
Kooperation der Beteiligten ....... 212 Verfahrenskoordination und Konzerninsolvenzplan ................ 217 1.5.5 Vergütungsrechtliche Aspekte ... 232 Fortführung eines Konzerns im internationalen Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO ............ 234 2.1 Wirkung ausländischer Insolvenzen in Deutschland................ 235 2.2 Inländisches Insolvenzverfahren mit internationalen Bezügen....... 243 2.3 Hilfsmittel zur Fortführung....... 244
Literatur: Andres/Möhlenkamp, Konzerne in der Insolvenz – Chance auf Sanierung, BB 2013, 579; Beck, Perspektiven eines Konzerninsolvenzrechts, DZWIR 2014, 381; Bernegger/Rosenberger/Zöchling, Handbuch Verrechnungspreise, 2008; Bilgery, Die Eigenverwaltung in der Konzerninsolvenz, ZInsO 2014, 1694; Böcker, Insolvenz im GmbH-Konzern, Teil 1, GmbHR 2004, 1257, GmbHR 2004, 1314 (Teil 2); Bous, Die Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren konzernverbundener Kapitalgesellschaften, 2001; Brünkmans, Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen: Kritische Analyse und Anregungen aus der Praxis, ZIP 2013, 193; Brünkmans, Die Koordinierung von Insolvenzverfahren konzernverbundener Unternehmen nach deutschem und europäischem Insolvenzrecht, Bd. 55, 2009 (zit.: Koordinierung von Insolvenzverfahren); Decker, Der Cashpool als Gesellschaft bürgerlichen Rechts, ZGR 2013, 392; Deipenbrock, Das neue europäische Internationale Insolvenzrecht – von der „quantité négligeable“ zu einer „quantité indispensable“, EWS 2001, 113; Dellit, Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen: Der Konzerninsolvenzplan, Der Konzern 2013, 190; Eidenmüller, Verfahrenskoordination bei Konzerninsolvenz, ZHR 169 (2005) 528; Eidenmüller, Der nationale und der internationale Insolvenzverwaltungsvertrag, ZZP 114 (2001) 3; Eidenmüller, Europäische Verordnung über Insolvenzverfahren und zukünftiges deutsches internationales Insolvenzrecht, IPRax 2001, 2; Fölsing, Konzerninsolvenz: GruppenGerichtsstand, Kooperation und Koordination, ZInsO 2013, 413; Fritz, Die Neufassung der Europäischen Insolvenzverordnung: Erleichterung bei Restrukturierung in grenzüberschreitenden Fällen, DB 2015, 1882 (Teil 1) und DB 2015, 1945 (Teil 2); Fritze, Sanierung von Groß- und Konzernunternehmen durch Insolvenzpläne, DZWIR 2007, 89; Geißler, Die Ermächtigung des Schuldners im Schutzschirmverfahren nach § 270b Abs. 3 InsO, ZInsO 2013, 531; Geroldinger, Verfahrenskoordination im europäischen Insolvenzrecht, 2010; Göcke/Rittscher, Cash-Pooling in Krise und Insolvenz, DZWIR 2012, 355; Graeber, Th., Das Konzerninsolvenzverfahren des Diskussionsentwurfs 2013, ZInsO 2013, 409; Helios/Kröger, Aktuelle steuerliche Rechtsfragen von Rangrücktrittsvereinbarungen, DStR 2015, 2478; Henkel/Wentzler, Die rechtssichere Gestaltung des Rangrücktrittes, GmbHR 2013, 239; Hoegen/Kranz, Neue Möglichkeiten der Konzernsanierung durch SanInsFoG und StaRUG, NZI 2021, 105; Holzer, Der Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Insolvenzrechtlichen Vergütung, NZI 2015, 145; Holzer, Die Reform der InsVV, NZI 2013, 1049; Hortig, Kooperation von Insolvenzverwaltern, 2008; Humbeck, Plädoyer für ein materielles Konzerninsolvenzrecht, NZI 2013, 957; Jaffé/Friedrich, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Insolvenzstandorts Deutschlands, ZIP 2008, 1850; Keller, U., Bedarf es wirklich einer Reform des insolvenzrechtlichen Vergütungsrechtes?, ZIP 2014, 2014; Kindler, Hauptfragen der Reform des Europäischen Internationalen Insolvenzrechts, KTS 2014, 25; Klusmeier, Ist Die Umsatzsteuer in der vorläufigen Eigenverwaltung keine Masseverbindlichkeit i. S. d. § 55 Abs. 4 InsO?, ZInsO 2014, 488; Kollrus, Cash Pooling-Strategien zur Vermeidung der Haftungsgefahren, MDR 2011, 208; Leutheusser-Schnarrenberger, Dritte Stufe der Insolvenzrechtsreform, ZIP 2013, 98; Lieder, Kapitalaufbringung im Cash Pool nach neuem Recht, GmbHR 2009, 1177; Madaus, Koordination ohne Koordinationsverfahren? – Reformvorschläge aus Berlin und Brüssel zu Konzerninsolvenzen, ZRP 2014, 192; Maier-Reimer/Etzbach, Die Patronatserklärung, NJW 2011, 1110; Meurer, Aktuelle Brennpunkte der umsatzsteuerlichen Organschaft, StBW 2015, 624; Meyer-Löwy/Poertzgen, Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) löst Kompetenzkonflikte nach der EuInsVO, ZInsO 2004, 195; Mock, Das neue Konzerninsolvenzrecht nach dem Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, DB 2017, 951; Morgen/Rathje, Stellt eine positive Liquidationsprognose eine positive Fortführungsprognose i. S. d. § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO dar?, ZIP 2018, 1955; Paulus, Konzernrecht und Konzernanfechtung, ZIP 1996, 2141; Prager/Keller, Ch., Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Reform der EuInsVO, NZI 2013, 57; Reuß, Europäisches Insolvenzrecht 3.0 oder doch nur Version 1.1?, EuZW 2013, 165; Rotstegge, Konzerninsolvenz, 2007; Schmidt, K., Überschuldung und Unternehmensfortführung oder: per aspera ad astra, ZIP 2013, 485; Schneider/Höpfner, Die Sanierung von Konzernen durch Eigenverwaltung und Insolvenzplan, BB 2012, 87; Schreiber, Besteuerung der
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Hermann/Fritz
Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz- und Eigenverwaltung
§ 22
Unternehmen, 3. Aufl., 2012; Siemon/Frind, Der Konzern in der Insolvenz, NZI 2013, 8; Skauradszun, Restrukturierungsverfahren und das Internationale Privatrecht, NZI 2021, 568; Tetzlaff, Aufhebung von harten Patronatserklärungen, WM 2011, 1016; Theusinger, Wahrkapitalerhöhung in Cash-Pool nach MoMiG, NZG 2009, 1017; Uhlenbruck, Konzerninsolvenzrecht über einen Sanierungsplan?, NZI 1999, 41; Vallender, Europaparlament gibt den Weg frei für eine neue Europäische Insolvenzordnung, ZIP 2015, 1513; Verhoeven, Die Konzerninsolvenz: eine Lanze für ein modernes Insolvenzrecht, KTS-Schriften zum Insolvenzrecht, 2011 (zit.: Die Konzerninsolvenz); Wagner/Fuchs, Das Schicksal der umsatzsteuerlichen Organschaft bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen von Konzerngesellschaften, BB 2014, 2583; Weber/Küting/Eichenlaub, Zweifelsfragen i. R. der Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen, GmbHR 2014, 1009; Willemsen/Rechel, Cash-Pooling und die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit absteigender Darlehen – Unterschätzte Risiken für Gesellschafter, BB 2009, 2215; v. Wilmowsky, Insolvenzkonzernrecht: Die Obergesellschaft eines Beherrschungsvertrags in Insolvenz, DK 2016, 261; Wimmer, Übersicht zur Neufassung der EuInsVO, jurisPR-InsR 7/2015; Zahrte, Die insolvenzrechtliche Anfechtung im Cash-Pool, Untersuchung zur Behandlung revolvierender Kredite, NZI 2010, 596.
I.
Ausgangslage
Die Insolvenz eines Konzerns war nach deutschem Recht bis zum Inkrafttreten des Ge- 1 setzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen am 21.4.20181) nicht kodifiziert. Doch auch dieses enthält im Wesentlichen nur einige Regelungen zum GruppenGerichtsstand (§§ 3a ff. InsO) sowie zur Koordination der einzelnen Unternehmensinsolvenzen, die sich in den §§ 56b, 269a, 269d – 269i InsO niedergeschlagen haben. Auch ohne umfassende gesetzliche Regelung des materiellen, aber auch formellen Konzerninsolvenzrechts sind bei der Einbeziehung verschiedener Gesellschaften oder Rechtsträger in einen konzernähnlichen Verbund zahlreiche Einzelfragen und Interessenkollisionen zu berücksichtigen, die sowohl auf deutscher als auch internationaler Ebene zu entsprechenden Gesetzesansätzen geführt haben.2) In der Regel stellen sich in der Eigenverwaltung wie im Regelinsolvenzverfahren die gleichen Fragen. Soweit sich in der Eigenverwaltung spezielle Fragen ergeben, wird auf diese gesondert eingegangen. 1.
Der Begriff des Konzerns im Insolvenzrecht
Erstmals wurde die Konzerninsolvenz durch die Neufassung der EuInsVO3) zumindest 2 teilweise gesetzlich geregelt. Nach Art. 2 Nr. 13 und Nr. 14 EuInsVO ist ein Konzern – in der deutschen Fassung der EuInsVO wird von Unternehmensgruppe gesprochen – in der Insolvenz wie folgt definiert: „Artikel 2 Begriffsbestimmungen […] 13. „Unternehmensgruppe“: ein Mutterunternehmen und alle seine Tochterunternehmen; 14. „Mutterunternehmen“: ein Unternehmen, das ein oder mehrere Tochterunternehmen entweder unmittelbar oder mittelbar kontrolliert. Ein Unternehmen, das einen konsolidierten Abschluss gemäß der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates erstellt, wird als Mutterunternehmen angesehen.“
___________ 1) 2) 3)
Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866. Die Autoren danken Herrn Referendar jur. Hasan Canpolat für die Mitarbeit und Unterstützung sowie die Durchsicht des Manuskripts. Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlament und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (EuInsVO), ABl. (EU) L 141/19 v. 5.6.2015.
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§ 22
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
3 Der Gesetzgeber übernahm den Begriff der „Unternehmensgruppe“ in seiner Umsetzung in das deutsche Insolvenzrecht wie folgt: „§ 3e Unternehmensgruppe (1) Eine Unternehmensgruppe im Sinne dieses Gesetzes besteht aus rechtlich selbständigen Unternehmen, die den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen im Inland haben und die unmittelbar oder mittelbar miteinander verbunden sind durch 1. die Möglichkeit der Ausübung eines beherrschenden Einflusses oder 2. eine Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung.“
4 Die Definition der Gruppe lehnt sich in beiden Fällen an die 7. EG-Richtlinie (83/349/EWG) an.4) Dabei orientiert sich nun die Definition der EuInsVO in Art. 2 Nr. 13 und Nr. 14 ausdrücklich an der Richtlinie zur Konsolidierung (Richtlinie 2013/34/EU).5) Nach dem Wortlaut des § 3e InsO wird i. S. von § 290 Abs. 2 HGB die Möglichkeit des beherrschenden Einflusses bzw. die Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung („Gleichordnungskonzern“) vorausgesetzt. Da das Insolvenzrecht und die Betriebsfortführung in der Konzerninsolvenz andere Ziele verfolgen als das Handels- und Bilanzrecht, wurde zu Recht nicht auf die Definition des § 18 Abs. 1 AktG zurückgegriffen. Von dieser Beherrschungsmöglichkeit muss auch tatsächlich Gebrauch gemacht werden. Nach § 3e InsO reicht hingegen schon die Beherrschungsmöglichkeit aus. Diese Möglichkeit dürfte sich leicht feststellen lassen und zu keinen Verzögerungen führen6) bzw. in einer sinnvollen Koordination der betroffenen Unternehmen i. R. einer Fortführung münden.7) Aus deutscher Sicht ist damit die Definition der Gruppe in der InsO als vorzugswürdig anzusehen, auch wenn die EuInsVO möglichst vielen Rechtsordnungen gerecht werden muss und sich daher zu Recht schlicht an der Richtlinie 2013/34/EU orientiert. 5 Gemeinsam ist sowohl der EuInsVO als auch der InsO, dass für insolvenzrechtliche Zwecke der Konzern bewusst weit bestimmt ist. Es fallen also nicht nur verflochtene Gesellschaften, sondern Unternehmen jeder Art unter diese Begrifflichkeit. Sowohl der Vertrags- als auch der faktische Konzern sind hiervon umfasst. 6 Den Problemen der Betriebsfortführung in einer „Konzerninsolvenz“ kann man sich jedoch nicht auf einer solchen begrifflichen Ebene nähern. Auch das eigentliche Konzernrecht, kodifiziert in dem Handelsgesetzbuch (HGB) oder auch in den Bilanzierungsrichtlinien nach IRS oder US-GAP, bieten keine Hilfe. Die handelsrechtlichen Vorschriften, insbesondere zum konsolidierten Konzernabschluss, sind zwar als Informationsquelle unabdingbar, da der ordnungsgemäß erstellte Konzernabschluss das „tatsächliche(n) Verhältnissen entsprechende Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der größeren Wirtschaftseinheit Konzern“8) vermitteln soll. Der Betrachtung liegt aber zugrunde, dass die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des einbezogenen Unternehmens so darzustellen ist, als ob dieses Unternehmen insgesamt ein einziges Unternehmen wäre (§ 297 Abs. 3 Satz 1 HGB). Die Fiktion, die Gesamtheit der eingezogenen Unternehmen als Einheit darzustellen, wird auch als Einheitstheorie bezeichnet. Umstritten ist in der Literatur insoweit, ob damit für den Konzernabschluss lediglich die wirtschaftliche Einheit oder auch die rechtliche Einheit fingiert wird.9)
___________ 4) 5) 6) 7) 8) 9)
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Vgl. hierzu Fritz, DB 2015, 1882 (Teil 1) und DB 2015, 1945 (Teil 2); Leutheusser-Schnarrenberger, ZIP 2013, 98, 100. Fritz, DB 2015, 1945. Leutheusser-Schnarrenberger, ZIP 2013, 98, 100; Fölsing, ZInsO 2013, 413 f. Brünkmans, ZIP 2013, 193, 195. Hopt-Merkt, HGB, § 297 Rz. 2 m. w. N. S. zum Meinungsstand Busse v. Colbe/Fehrenbacher in: MünchKomm-HGB, § 297 Rz. 48 ff. m. w. N.
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Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz- und Eigenverwaltung
§ 22
Gerade dieser Einheitstheorie folgt aber das Konzerninsolvenzrecht nicht.10) Trotz der 7 inneren und wirtschaftlichen Verbundenheit wird jedes Unternehmen und jede einbezogene Gesellschaft als eigene wirtschaftliche Einheit behandelt. Sowohl im deutschen Insolvenzrecht als auch in der EuInsVO wurde bewusst auf eine Zusammenführung der Verfahren und Verteilungsmassen im Wege einer sog. materiellen Konsolidierung verzichtet.11) 2.
Interessenlagen für ein Konzerninsolvenzrecht
Entscheidend für den Erfolg einer „Konzerninsolvenz“ und damit die Betriebsfortführung 8 i. R. der verflochtenen Gesellschaften und Unternehmen ist es, die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Beteiligten zusammenzuführen. Wie allgemein beim „Konzernrecht“ geht es darum, nicht die Unterschiedlichkeiten, sondern die Gemeinsamkeiten zu optimieren, um zu den rechtlich und wirtschaftlich besten Lösungen für alle Beteiligten zu kommen. Es gilt daher, folgende Interessenlagen durch eine möglichst koordinierte Vorgehensweise bestmöglich in Einklang zu bringen: x
Das Interesse der Gesellschaften und des Managements durch die Insolvenz einzelner Gesellschaften die gesamte Gruppe zu sanieren;
x
das Ziel der Gläubiger der einzelnen Gesellschaften
x
x
x
für sich die beste Quote zu erreichen;
x
aber auch der jeweiligen Gläubiger durch eine koordinierte Vorgehensweise im Konzern die eigene Quote wesentlich zu verbessern;
das Interesse der öffentlichen Hand x
einerseits für die Volkswirtschaft nachträgliche Folgeinsolvenzen zu vermeiden (sog. Domino-Effekt);
x
andererseits aber auch für sich die beste Quote aus der Insolvenzmasse zu erlangen;
der Wunsch des Managements, aber auch des Insolvenzverwalters der Muttergesellschaften x
einerseits weiterhin maßgeblichen Einfluss auf die Tochter- und Einzelgesellschaften zu behalten und Folgeninsolvenzen zu vermeiden, um die eigene Masse zu mehren;
x
andererseits aber auch eigene Haftungen zu vermeiden;
x
das Bestreben der Geschäftsführer und der Insolvenzverwalter der Tochter- und Enkelgesellschaften eigene Haftungsrisiken auszuschließen und
x
die eigene Masse durch den Konzernverbund nicht zu schmälern.
x
Soweit die Gläubiger mitspielen – weil es für sie wirtschaftlich sinnvoll wäre – kommt aber auch in Betracht, im Interesse der Gesellschafter einen Konzern (etwa in Teilen) mit den Mitteln der Eigenverwaltung oder des StaRUG12) zu sanieren oder transformieren.
In diesem Zusammenhang kann es ein Konzerninsolvenzrecht gerade zum Ziel haben, eine 9 „Konzerninsolvenz“ zu vermeiden. Daher muss auch eine Betriebsfortführung in der Kon___________ 10) Vgl. zu diesem Befund auch Vallender, ZIP 2015, 1513, 1520. 11) Fritz, DB 2015, 1945; vgl. dem hingegen als Plädoyer für eine materielle Konsolidierung Humbeck, NZI 2013, 957. 12) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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§ 22
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
zerninsolvenz schon vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, den Insolvenzgründen und daraus folgenden Antragspflichten ansetzen. 3.
Anwendungsbereich für ein Konzerninsolvenzrecht
10 Wie schon in der 2. Auflage vertreten,13) liegt Konzerninsolvenzrecht in diesem Sinne vor, wenn: x
mehrere rechtlich selbstständige Unternehmen,
x
die miteinander gesellschaftsrechtlich verflochten oder durch ein Beherrschungsverhältnis miteinander verbunden sind,
x
sich in ihrer „Mitte“
einem Insolvenzereignis gegenübersehen. 11 Auch die Verfasser der vorliegenden Darstellung sind überzeugt, dass die Frage, wann eine Konzerninsolvenz anzunehmen ist, nicht schematisch anhand einer normativen Begrifflichkeit beantwortet werden kann.14) Dagegen sprechen die gegenseitigen Interdependenzen in der Unternehmensgruppe15) und die gewählten Optionen von Gläubigern und Schuldnern. Daher können Normen bzw. Grundsätze des Konzerninsolvenzrechts schon dann herangezogen werden, wenn auch nur eine Gesellschaft der Gruppe insolvent ist. Grenzfälle können flexibel gehandhabt werden. Soweit es auf Begrifflichkeiten ankommt, wird auf die Definitionen der Neufassung der EuInsVO sowie der InsO zurückgegriffen. 4.
Verhältnis von nationalem und internationalem Konzerninsolvenzrecht
12 Konzernsachverhalte werden sich in den seltensten Fällen nur auf deutschem Rechtsgebiet abspielen. So können etwa einzelne Tochtergesellschaften ihren COMI im europäischen Ausland oder in Drittstaaten haben. Für diese Fälle ist zu klären, inwiefern das deutsche Sachrecht zu Konzerninsolvenzen Anwendung findet. 13 Normen zum internationalen Insolvenzrecht sind in den §§ 335 ff. InsO und der EuInsVO enthalten. Die EuInsVO beansprucht bei Sachverhalten mit Bezug zu weiteren Mitgliedstaaten Geltung, während die §§ 335 ff. InsO nur bei Drittstaatenbezug greifen und gegenüber der EuInsVO subsidiär sind (siehe im Detail unten Rz. 188 ff.). Den §§ 335 ff. InsO fehlt es an Regelungen zu Konzerninsolvenzen, nicht aber der EuInsVO. Diese enthält Vorschriften zur formellen, nicht aber zur materiellen Konsolidierung (Art. 56 – 77 EuInsVO; siehe Rz. 207 ff.). 14 Beide Regelwerke sehen für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen die grundsätzliche Geltung des lex fori concursus vor, d. h. die Geltung des Rechts des (Mitglied-)Staates, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, sofern nichts anderes bestimmt ist (siehe zu diesen Sonderanknüpfungen unten unter Rz. 189). Im Ergebnis ist daher auch bei internationalen Bezügen regelmäßig das deutsche Sach- und damit auch Konzerninsolvenzrecht auf Konzerngesellschaften anzuwenden, über deren Vermögen in Deutschland das Insol___________ 13) S. hierzu Cranshaw in: R.-D. Mönning, 2. Aufl., 2014, § 21 Rz. 23 ff. 14) So schon Cranshaw in: R.-D. Mönning, 2. Aufl., 2014, § 21 Rz. 23 ff. 15) Ein Beispiel für solche Zusammenhänge war im Juli 2013 der Insolvenzfall Praktiker, der die dortige Tochtergesellschaft „Max Bahr in die Insolvenz zieht“, wie die FAZ ihren Beitrag überschrieben hat, s. FAZ v. 27.7.2013, S. 20. Die Interdependenz im Konzern hat sich dort – würdigt man die Vermutung der zitierten Pressepublikation der FAZ – dadurch ausgewirkt, dass ein Warenkreditversicherer Lieferanten nicht mehr versicherte, weil man durch die Insolvenz der Mutter Risiken sah. In einem solchen Fall wäre also ein exogener Faktor, der nicht unmittelbar mit der dann den Insolvenzantrag stellenden Konzerngesellschaft zu tun haben muss, Insolvenzursache. Auslöser wäre das allgemeine Misstrauen als Folge der Insolvenz einer anderen Konzerngesellschaft, insbesondere der Konzernmutter.
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Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz- und Eigenverwaltung
§ 22
venzverfahren eröffnet wurde. Erst wenn zusätzlich Insolvenzverfahren über das Vermögen weiterer Konzerngesellschaften im Ausland eröffnet werden, werden (nur!) die deutschen Sachnormen zum Konzerninsolvenzrecht (d. h. zur Koordination der Verfahren etc.) subsidiär gegenüber den Art. 56 – 77 EuInsVO.16) Hinzu kommt die in Art. 102c § 22 EGInsO normierte eingeschränkte Anwendbarkeit 15 der deutschen Regelungen zur Zusammenarbeit und Kommunikation der Verwalter und Gerichte (§§ 269a, 269b, 56b Abs. 1 InsO) und zum Gruppen-Koordinationsverfahren (§§ 269d bis 269i InsO), sofern Unternehmen einer Unternehmensgruppe i. S. von § 3e InsO gleichzeitig auch einer Unternehmensgruppe i. S. von Art. 2 Nr. 13 EuInsVO angehören. In diesem Fall sind die Art. 56, 57 bzw. Art. 61 – 77 EuInsVO vorrangig anzuwenden. Sind bei mehreren Verfahren gruppenangehöriger Schuldner in verschiedenen Mitgliedstaaten die Kooperation innerhalb von zwei oder mehreren deutschen Verfahren angesprochen, so ist die EuInsVO vorrangig anzuwenden, da dieser Sachverhalt auf Gruppenebene ebenfalls eine einheitliche Koordination erfordert.17) Soweit das Unionsrecht nicht in seiner Wirksamkeit beeinträchtigt wäre, wäre auch die Anwendung strengeren deutschen Rechts zulässig.18) Sind in einer Unternehmensgruppe – auch mit Tochterunternehmen im Ausland – ausschließlich innerstaatliche Insolvenzverfahren in Deutschland eröffnet, so entfaltet Art. 102c § 22 EGInsO keine Wirkung und es bleibt bei der Anwendung des deutschen Konzerninsolvenzrechts.19) Da es den Regelwerken zum internationalen Insolvenzrecht an über die formelle Konsoli- 16 dierung hinaus gehenden Vorschriften fehlt, bleibt es im Übrigen – insbesondere für materiell-rechtliche Fragen – bei der Geltung des lex fori concursus und damit bei der maßgeblichen Relevanz des nachfolgenden Abschnitts (siehe Rz. 189) für Konzerngesellschaften, über deren Vermögen in Deutschland ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Für Betriebsfortführungen im Konzern nach internationalem Recht wird auf die Rz. 188 ff. verwiesen. II.
Betriebsfortführung im Konzern nach nationalem Recht
Obwohl die einzelnen in einem Konzern eingebundenen Gesellschaften oder Unternehmen 17 daher für sich zu betrachten sind, gibt es die verschiedensten Verflechtungen untereinander. Diese Verflechtungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Betriebsfortführung der gesamten Gruppe oder der einzelnen verflochtenen Gesellschaften oder Unternehmen. 1.
Einzelbetrachtung der jeweiligen Gesellschaft
Nicht die Konzernbilanz bildet die Entscheidungsgrundlage für die weitere rechtliche und 18 wirtschaftliche Vorgehensweise. Jede einzelne Gesellschaft ist für sich rechtlich und wirtschaftlich zu beurteilen. Da alle Gesellschaften oder Unternehmen in einem wechselseitigen Verbund stehen, ergeben sich bilanziell auf Ebene jeder Gesellschaft erhebliche Folgen, z. B. als Beteiligung oder als verbundenes Unternehmen, Forderungen und Verbindlichkeiten untereinander. Auch bei Unternehmensverträgen etc., schlägt die Krise einer einzelnen Gesellschaft auf andere Gesellschaften sowie auf den gesamten Konzernverbund durch. Wertberichtigungen, Abschreibungen sowie sonstige Inanspruchnahmen aus übernommenen Garantien, aus Unternehmensverträgen etc. wirken sich unmittelbar bis zur Konzernspitze aus. Obwohl möglicherweise der Konzern insgesamt durchaus überleben ___________ 16) 17) 18) 19)
S. zur Anwendbarkeit der Art. 56 ff. EuInsVO: Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 12 ff. Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 102c § 22 EGInsO Rz. 6. Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 102c § 22 EGInsO Rz. 7. Vgl. Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 102c § 22 EGInsO Rz. 3 sowie Rz. 6; Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 14.
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könnte, kann die Insolvenz einer einzelnen Gesellschaft den gesamten Konzern infizieren. In einer möglichen Insolvenz ist der Konzern also nicht so stark wie die Summe seiner Untergesellschaften. Er ist vielmehr so schwach wie das schwächste seiner Glieder. 19 Gleichwohl stellt sich für den Insolvenzeröffnungsgrund der Überschuldung (§ 19 InsO) die Frage, ob bei stark verflochtenen und vollintegrierten Konzernen nicht doch eine konsolidierte Überschuldungsprüfung erlaubt oder gar zwingend geboten ist. Geht man von einem modifiziert zweistufigen Überschuldungsbegriff aus, kann eine sich i. R. einer Liquiditätsprognose ergebende rein rechnerische Überschuldung (1. Stufe) mit Überwiegen des Going-Concern-Wertes überwunden werden, d. h., wenn die Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist. Bei vollintegrierten Konzernen besteht die Besonderheit, dass sich die Erträge der einzelnen Tochtergesellschaften so sehr durch die Festlegung der konzerninternen Verrechnungspreise beeinflussen lassen, dass nur eine Gesamtbetrachtung aller Gesellschaften, die am Leistungsprozess beteiligt sind, sinnvoll ist.20) Bei der Fortbestehensprognose betreffend die Tochtergesellschaft wird daher auch dem Fortbestehen des Konzerns oder des relevanten Konzernteils eine ggf. entscheidende Bedeutung zukommen.21) Eine schematische Betrachtung allein auf Eben der einzelnen Gesellschaften dürfte mitunter dann auch sinnfrei sein. 2.
Aus der Konzernstruktur folgende Insolvenzgründe und Insolvenzursachen
20 Die Insolvenzgründe sind grundsätzlich isoliert für jede einzelne Gesellschaft zu beurteilen, wobei in Konzernfällen die Wechselwirkung zu den anderen Konzerngesellschaften zwingend zu beachten ist und daher ggf. auch der Going-Concern Wert der Gruppe maßgeblich sein kann. Da Fortführung in der Insolvenz immer auch die sinnvolle Vermeidung von Folgeinsolvenzen verbundener Gesellschaften oder Unternehmen bedeutet, gilt es auch, sinnvolle Strategien zu entwickeln, um Insolvenzgründe bei anderen Gesellschaften auszuschließen. 21 Als Ursachen im Konzern, die Insolvenzgründe bei einzelnen Konzerngesellschaften auslösen können, sind hervorzuheben: x
Bürgschaften,
x
Patronatserklärungen,
x
Cashpooling-Verfahren,
x
sonstige Unternehmensverträge,
x
Rangrücktrittserklärung,
x
sonstige Verträge im Konzern,
x
steuerliche Haftungstatbestände im Konzern,
x
sonstige Garantien.
22 Die sich aus diesem Haftungsverbund ergebenden Risiken sind zu vermeiden, um einerseits verbundene Gesellschaften bei der Sanierung des Gesamtkonzernes zu erhalten oder sie im Ganzen übertragen zu können, andererseits aber, wenn die Insolvenz einer nicht zu sanierenden Gesellschaft zwingend geworden ist, nicht andere überlebensfähige Einheiten mit in den Strudel zu ziehen. Es kann daher gerade Ziel der Sanierung eines Konzernes sein, sich von solchen Verpflichtungen zu lösen, ohne wiederum für andere verflochtene Gesellschaften neue Risiken zu begründen. ___________ 20) Balthasar in: Flöther, Konzerninsolvenzrecht, § 3 Rz. 106. 21) Specovius/v. Wilcken in: Frege/U. Keller/Riedel, Hdb. InsR, § 95 Rz. 22.
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§ 22
Bürgschaften
Droht der Rückgriff aus einer Bürgschaft, so besteht nach den allgemeinen Regelungen 23 Ansatz- und Ausweispflicht sowohl in der Handelsbilanz, als auch im Liquiditäts- und Überschuldungsstatus. Soweit in diesen Fällen die Bürgschaftsverpflichtung zu passivieren ist, entfällt die Vermerkpflicht nach § 251 Satz 1 HGB.22) Eine etwaige Rückgriffforderung – die in diesem Fall ohnehin wertlos und entsprechend auf null wertzuberichtigen wäre – ändert an dieser Passivierungspflicht gemäß § 251 Satz 2 HGB nichts. Konkretisiert sich also das Risiko, so wird der Bürge bestrebt sein, sich von den eingegan- 24 genen Verpflichtungen zu lösen. Im Grundsatz ist eine Kündigung des Bürgen gegenüber dem Gläubiger nur bei entsprechender Vereinbarung zulässig.23) Ist eine Bürgschaft selbst zeitlich befristet oder für ein Darlehen mit fest vereinbarter Laufzeit begeben, so ist eine Kündigung der Bürgschaft ausgeschlossen.24) In Betracht käme dann allenfalls eine Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 BGB.25) Auch eine erhebliche Verschlechterung in der Vermögenslage des Hauptschuldners soll entsprechend den Regeln von Treu und Glauben die Kündigung einer Bürgschaft rechtfertigen.26) Die Einhaltung einer Kündigungsfrist soll nach der Neufassung des § 314 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht mehr erforderlich sein.27) Um den Sicherheitencharakter der Bürgschaft nicht vollständig auszuhöhlen, wird man einen solchen außerordentlichen Kündigungsgrund nur sehr restriktiv annehmen können, wenn durch die Kündigung der Bürgschaftszweck nicht unterlaufen wird.28) Gilt die Bürgschaft dagegen auf unbestimmte Zeit, so war schon nach bisherigem Recht 25 eine Kündigung möglich.29) Ab wann diese Kündigungsmöglichkeit besteht, ist im Einzelfall zu ermitteln. Eingehalten werden muss jedoch in jedem Falle eine angemessene Zeit von drei bis fünf Jahren.30) Einzubeziehen ist dabei auch, ob auch der Gläubiger seinerzeit die Möglichkeit hat, die Hauptverbindlichkeit durch ordentliche Kündigung zu beenden und welche Kündigungsfrist er dabei einzuhalten hat.31) Bedient sich der Gläubiger unmittelbar bei der Gesellschaft, die als Hauptschuldner für 26 die Darlehensverbindlichkeit einzustehen hat, indem er eine Sicherheit verwertet, so ist die bürgende Gesellschaft damit noch nicht endgültig vor einer Inanspruchnahme gefeit. Denn dann kommt die Anfechtbarkeit nach § 135 Abs. 2 InsO in Betracht. Anfechtungsgegenstand ist dabei die Befreiung des Gesellschafters von der durch ihn gegebenen Sicherheit.32) Da auch hierfür wieder zumindest Rückstellungen zu bilden sind, kann dieser Ausgleichs___________ 22) Die Formulierung „sofern“ des § 251 Satz 1 HGB ist als „soweit“ zu verstehen: Eine Berücksichtigung der Haftungsverhältnisse in der Bilanz in voller Höhe ist nur gewährleistet, wenn der gesamte Haftungsbetrag sich als Summe aus den betreffenden Positionen über und unter dem Strich der Bilanz ergibt (Grottel/Berberich in: Beck’scher Bilanz-Komm, § 251 Rz. 10 ff.). 23) Grüneberg-Sprau, BGB, § 765 Rz. 16. 24) Habersack in: MünchKomm-BGB, § 765 Rz. 58 m. w. N.; im Ergebnis folgt dies aus dem allgemeinen Grundsatz, dass nur unbefristete Dauerschuldverhältnisse gekündigt werden können (§§ 542 Abs. 1, 488 Abs. 3, 620 Abs. 2 BGB). 25) Grüneberg-Grüneberg, BGB, § 314 Rz. 5. 26) BGH, Urt. v. 16.4.1959 – VII ZR 37/58, BB 1959, 866 ff. 27) Nobbe/Derstadt in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 70 Rz. 495. S. hierzu im Allgemeinen zu den außerordentlichen Kündigungen einer Bürgschaft Nobbe/Derstadt in: Ellenberger/Bunte, BankrechtsHdb., § 70 Rz. 494 ff. 28) BGH, Urt. v. 20.7.2011 – XII ZR 155/09, ZIP 2011, 1718 ff. 29) Nobbe/Derstadt in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 70 Rz. 490. 30) Nobbe/Derstadt in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 70 Rz. 491, 493 m. w. N. 31) Nobbe/Derstadt in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 70 Rz. 493 m. w. N. 32) S. hierzu Braun-de Bra, InsO, § 135 Rz. 17 – 21; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 135 Rz. 15 – 19.
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anspruch erneut die Insolvenz der bürgenden Muttergesellschaft auslösen. Dieser Ausgleichsanspruch des Bürgen ist nach § 174 BGB in der Regel wertlos. 2.2
Patronatserklärung
27 Ein weiteres Sanierungsmittel ist die Patronatserklärung, wobei i. R. der insolvenzantragspflichtigen Überschuldung i. S. des § 19 Abs. 2 InsO im Allgemeinen zwischen sog. harten und weichen bzw. internen und externen Patronatserklärungen zu unterscheiden wird. 28 Bei einer harten internen Patronatserklärung verpflichtet sich der Patron gegenüber der patronierten Tochtergesellschaft rechtsverbindlich, diese finanziell so auszustatten, dass diese in der Lage ist, jederzeit ihre fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen.33) Aus einer solchen Zusage ergibt sich somit ein rechtsverbindlicher Ausstattungsanspruch der patronierten Gesellschaft gegenüber dem Patron. Hierdurch kann eine insolvenzantragspflichtige Überschuldung der patronierten Gesellschaft vermieden werden. Der Ausstattungsanspruch kann nämlich sowohl i. R. der Handels- als auch Überschuldungsbilanz der patronierten Gesellschaft aktiviert werden, sodass bereits eine rechnerische Überschuldung ausgeschlossen wird. Dies gilt jedenfalls sofern der Ausstattungsanspruch als werthaltig und durchsetzbar angesehen werden kann und der Patron auf Regressansprüche verzichtet oder insoweit zumindest eine qualifizierte Rangrücktrittserklärung abgibt.34) Auf Seiten des Patrons würde eine harte Patronatserklärung zu der Ansatz- und Ausweispflicht sowohl in der Handelsbilanz als auch im Überschuldungs- oder Liquiditätsstatus führen, sobald die Einstandsverpflichtung eingetreten ist.35) Kann diese Verpflichtung nicht erfüllt werden, so hat das regelmäßig die Insolvenz beider Gesellschaften zur Folge. 29 In unterschiedlichen Schattierungen beinhaltet dagegen die sog. weiche Patronatserklärung lediglich eine unverbindliche Absichtserklärung des Patrons. Aus einer solchen Zusage kann kein rechtlich durchsetzbarer Ausstattungsanspruch der patronierten Gesellschaft hergeleitet werden, der i. R. der rechnerischen Überschuldung aktiviert werden könnte. Die weiche Patronatserklärung wurde daher bislang überwiegend nicht als taugliches Mittel zur Vermeidung einer insolvenzantragspflichtigen Überschuldung angesehen. 30 Mit einem neueren Urteil bezüglich Air Berlin hat der BGH36) dies nun dahingehend konkretisiert, dass eine weiche Patronatserklärung zwar weiterhin eine rechnerische Überschuldung nicht ausschließen kann, allerdings i. R. der Fortbestehensprognose Berücksichtigung finden kann, sofern eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Mittelzuflusses besteht. Eine solche überwiegende Wahrscheinlichkeit kann nach dem BGH bei einer weichen Patronatserklärung allerdings nur in eng begrenzten Ausnahmefällen angenommen werden. Aufgrund der Unverbindlichkeit der Zusage bestehen erhebliche Zweifel, dass sich der Patron in der Krise bei einer sich abzeichnenden Liquiditätslücke an seine Zusage hält. Der BGH argumentiert auch damit, dass anderenfalls die Muttergesellschaft durch eine weiche Patronatserklärung die Insolvenz der Tochtergesellschaft zulasten der anderen Gläubiger hinauszögern könnte, ohne selbst ein zusätzliches Haftungsrisiko einzugehen. Eine positive Fortbestehensprognose kann nach dem BGH dann gegeben sein, wenn der Patron mit der Patronatserklärung keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt oder aus übergeordneten Gründen zur Verlustübernahme bereit ist, z. B. im Bereich bei ___________ 33) S. hierzu Rodine in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 34 Rz. 145; MaierReimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1011. 34) Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1116 f.; OLG Celle, Urt. v. 18.6.2008 – 9 U 14/08, ZIP 2008, 2416 = NZG 2009, 308. 35) Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1116 m. w. H. 36) BGH, Urt. v. 13.7.2021 – II ZR 84/20, NZI 2021, 872 Rz 82.
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der Daseinsvorsorge. Weitere Beispiele nennt der BGH nicht. Ausgehend von den Ausführungen des BGH, kann allerdings eine positive Fortbestehensprognose u. U. dann denkbar sein, wenn die patronierte Tochtergesellschaft als verlängerte Werkbank für den Patron fungiert und dieser zwingend auf Leistungen der Tochtergesellschaft angewiesen ist. Auch in diesem Fall kann wohl davon ausgegangen werden, dass die Muttergesellschaft auch bei einer unverbindlichen Zusage bereit ist, Liquiditätslücken der Tochtergesellschaft auszugleichen. Ausdrücklich kann nach dem Urteil des BGH hingegen allein aus der Tatsache, dass der Patron aufgrund seiner unverbindlichen Zusage in der Vergangenheit finanzielle Mittel zu Verfügung gestellt hat, nicht hergeleitet werden, dass der Patron bereit ist, dies auch in Zukunft weiterhin zu tun.37) Insoweit ist der BGH weiterhin grundlegend kritisch gegenüber informellen Finanzierungszusagen. Demgegenüber ist das OLG Düsseldorf38) in einer Entscheidung zur Überschuldungs- 31 prüfung bei Startups in Abweichung von den Grundsätzen des BGH etwas unkritischer gegenüber unverbindlichen Finanzierungszusagen von Gesellschaftern. In Übereinstimmung mit dem BGH bestätigt das OLG Düsseldorf, dass auch unverbindliche Finanzierungszusagen eine positive Fortbestehensprognose begründen können. Nach dem OLG Düsseldorf sind allerdings die Voraussetzungen für die Einbeziehung unverbindlicher Zusagen in die Fortbestehensprognose zumindest bei Startups geringer als nach den Grundsätzen des BGH zur weichen Patronatserklärung. Nach dem OLG Düsseldorf kann von einer positiven Fortbestehensprognose ausgegangen werden kann, solange ein nachvollziehbares Unternehmenskonzept vorliegt, das irgendwann eine Ertragsfähigkeit des Unternehmens erwarten lässt und der Gesellschafter auch in der Vergangenheit die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt hat. An dieser Auffassung hat das OLG Düsseldorf in einem neuen Beschluss faktisch festgehalten.39) Die Situation eines Startup-Unternehmens sei eine andere als die eines gewöhnlichen Unternehmens in der Krise, da sie regelmäßig auf Fremdfinanzierungen angewiesen seien und der Rückgriff auf eine Ertragsfähigkeit i. R. der Fortführungsprognose ihnen die Überlebensfähigkeit absprechen und zum Marktaustritt zwingen würde. Für eine positive Fortführungsprognose i. S. der durch den BGH aufgestellten Grundsätze sei daher ausreichend, wenn eine nachvollziehbare, realistische Finanzplanung mit einem operativen Konzept vorlag, das die geplante Geschäftsausrichtung als erfolgsversprechend erscheinen ließ.40) Aufgrund der Diskrepanzen zu dem Urteil des BGH zu Air Berlin sollte dem begrüßens- 32 werten Urteil des OLG Düsseldorf in der Beratungspraxis keine allzu rechtssichere Tragweite beigemessen werden. Jedenfalls sollte die Finanzierungsbereitschaft eines Gesellschafters in der Vergangenheit nicht der alleinige Grund zur Begründung einer positiven Fortbestehensprognose darstellen. Im Lichte des BGH-Urteils sollten bei unverbindlichen informellen Finanzierungszusagen erhebliche Zweifel i. R. der Fortbestehensprognose eingepreist werden. Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Pandemiegeschehens dürften unverbindliche Zusagen entsprechend den Grundsätzen des BGH weiterhin kritisch zu würdigen sein und Geschäftsleiter sollten auf verbindliche Zusagen seitens der Gesellschafter hinwirken. Im Rahmen von Verhandlungen können z. B. betragsmäßige Beschränkungen insoweit einen Ausgleich zwischen den Interessen der Gesellschaft und des Gesellschafters schaffen, wobei dann allerdings der Überschuldungsstatus laufend mit Blick auf die Haftungsobergrenze überwacht werden muss. ___________ 37) 38) 39) 40)
BGH, Urt. v. 13.7.2021 – II ZR 84/20, NZI 2021, 872 Rz 82. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.7.2021 – 12 W 7/21, Rz 12, NZI 2021, 898. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.2.2022 – 12 U 54/21, NZI 2022, 558 m. Anm. Swierczok/Labusga. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.2.2022 – 12 U 54/21, Rz. 21, NZI 2022, 558.
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33 Da eine externe Patronatserklärung in der Regel gegenüber dem Kreditgeber der begünstigten Gesellschaft keinen eigenen Anspruch gewährt, ist eine Aktivierung bei der Tochtergesellschaft sowohl für die Handelsbilanz als auch in dem Überschuldungsstatus oder im Liquiditätsstatus ausgeschlossen.41) Eine externe Patronatserklärung vermag daher für sich genommen weder eine Zahlungsunfähigkeit noch eine Überschuldung der Tochtergesellschaft zu beseitigen. Der Insolvenzgrund ist erst dann beseitigt, wenn der Patron seine Verpflichtung gegenüber dem Gläubiger erfüllt und die protegierte Tochtergesellschaft tatsächlich mit der erforderlichen Liquidität ausgestattet hat.42) 34 In der früheren Rechtsprechung und Literatur war schon streitig, ob vertraglich eine auflösende Bedingung oder ein ordentliches Kündigungsrecht zulässig sind.43) Verneint wurde dagegen ein außerordentliches Kündigungsrecht. Das sog. „Star 21-Urteil“44) des BGH hat ein solches außerordentliches Kündigungsrecht des Patrons, insbesondere auch wegen erheblicher Verschlechterung der Vermögenslage des Schuldners jedoch bejaht. Dem Patron könne es nicht zugemutet werden, sehenden Auges das weitere Anwachsen der Haftungsrisiken in Kauf nehmen zu müssen.45) Um eine eigene Haftung zu vermeiden, wird die Geschäftsleitung der Patron-Gesellschaft in jedem Falle kündigen müssen. 35 Bei der Beurteilung der Fortführungsmöglichkeit und damit der Fortführungsprognose wirft dieses Urteil erhebliche Probleme auf. Welche Sicherheiten geben Patronatserklärungen, wenn sich gerade dann von ihnen gelöst werden kann, ja muss, sobald es darauf ankommt? Jedenfalls hat sich der Tochter-Geschäftsführer ebenso wie im Cashpooling laufend durch regelmäßige Konsultationen zwischen Mutter und Tochter darüber zu vergewissern, ob das Patronatsmodell noch hält, damit er von einer Kündigung nicht völlig überrascht wird.46) Die Kündigung der Patronatserklärung hat jedoch lediglich Wirkung ex nunc. Bis dahin begründete Ansprüche sind also sowohl in der Bilanz des Patrons als auch des Patronierten mit den jeweiligen insolvenzrechtlichen Folgen auszuweisen und zu bewerten. 2.3
Cashpooling-Verträge
36 Eines der wichtigsten Mittel zur Finanzierung im Konzern ist das sog. Cashpooling. Um die Zinslasten im Konzernverbund zu verringern, werden auf Grundlage des Cash-ManagementVertrages alle Zahlungsein- und -ausgänge auf einem Konto des Gesamtkonzerns gebündelt, Es handelt sich dabei nach h. M um einen Zahlungsdiensterahmenvertrag gemäß § 675f Abs. 2 BGB oder um ein Gelddarlehensvertrag mit Kontokorrentabrede i. S. des § 355 Abs. 1 HGB.47) Beim virtuellen Pooling werden die einzelnen Kontostände nicht tatsächlich, sondern nur virtuell zur Ermittlung eines Gesamtsaldos der Konten zusammengeführt. Guthaben und Sollsalden werden auf den einzelnen Konten virtuell saldiert. Der sich dann ergebende Saldo wird einheitlich verzinst.48) ___________ 41) S. Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1113, 1116 f.; Tetzlaff, WM 2011, 1016, 1019; OLG Celle, Urt. v. 18.6.2008 – 9 U 14/08, ZIP 2008, 2416 = NZG 2009, 308. 42) BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, ZIP 2011, 1111 = WM 2011, 1085. 43) S. hierzu u. a. wiederum Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1115 f.; Tetzlaff, WM 2011, 1016, 1019 ff. 44) BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, ZIP 2010, 2092 = NJW 2010, 3442; BGH, Urt. v. 12.1.2017 – IX ZR 95/16, Rz. 9, WM 2017, 326. 45) Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1116 m. w. H.; kritisch hierzu Tetzlaff, WM 2011, 1016, 1022 ff. 46) S. K. Schmidt, ZIP 2013, 485, 492. 47) Kollrus, MDR 2011, 208; s. zur h. M. auch Berger in: MünchKomm-BGB, Vor § 488 Rz. 31 f. m. w. N.; a. A. Decker, ZGR 2013, 392, 403 ff. – für eine Qualifizierung des Cashpools im Konzern als (Innen-)GbR mit dem Gesellschaftszweck der gegenseitigen Liquiditätsversorgung unter Einsparung von Fremdkapitalkosten. 48) Willemsen/Rechel, BB 2009, 2215, 2216.
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Üblich ist das sog. physische Cashpooling. Im Rahmen dieses Pooling-Verfahrens werden 37 die Salden der einzelnen Gesellschaftskonten regelmäßig zum Ende des Tages auf ein Zielkonto abgeschlossen, dessen Inhaber die Mutter- oder eine Betreibergesellschaft ist. Wird das Gesellschaftskonto zulasten des Zielkontos glattgestellt, gewährt die Muttergesellschaft der Tochter ein Darlehen (sog. „Downstreamloans“). Wird das Gesellschaftskonto zugunsten des Pool-Kontos (Zielkonto) glattgestellt, liegt ein Darlehen der Tochter an die Mutter vor (sog. „Upstreamloans“).49) Die jeweiligen, sich aus der Verrechnung ergebenden Darlehen sind in den Bilanzen der 38 jeweiligen Gesellschaften (Zielgesellschaft oder Einzelgesellschaft) als Darlehensforderung oder Darlehensverbindlichkeit auszuweisen. Insolvenzrechtlich führt dies auch zur Erfassung im Liquiditäts- und Überschuldungsstatus. Ist die Zielgesellschaft nicht mehr in der Lage, eine bestehende Verbindlichkeit zu erfüllen, bestehen keine sonstigen Ausgleichsansprüche, so kann das zur Überschuldung und zur Zahlungsunfähigkeit führen. Bei der anderen Gesellschaft besteht dementsprechend Wertberichtigungsbedarf. Ist eine Gesellschaft schon aus anderen Gründen überschuldet oder zahlungsunfähig, so ergibt sich für die Geschäftsleitung aus § 64 Satz 1 GmbHG ein Rückzahlungsverbot. Auch das kann wiederum bei der jeweilig anderen Gesellschaft zu einem entsprechenden Wertberichtigungsbedarf führen. Im Konzern ist das Cashpooling insolvenzrechtlich für alle einbezogenen Gesellschaften 39 und die Geschäftsleitungen von höchster Gefahr. Lässt die Geschäftsleitung der Tochtergesellschaft trotz erkannter oder erkennbarer Krise der Muttergesellschaft noch Zahlungen in den Cashpool zu, so haftet deren Geschäftsleitung ggf. wegen Verletzung der Kapitalerhaltungsvorschriften, nach §§ 826, 812 ff. BGB, §§ 43 Abs. 2, 64 Satz 3 GmbHG und § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 StGB. Es kommen aber auch Haftungstatbestände nach §§ 69, 34 AO in Betracht, wenn weiter in den Cashpool gezahlt wird und hierdurch Ausfälle bereits realisierter und fälliger Steueransprüche verursacht werden.50) Bei verspäteter Insolvenzantragstellung kann nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO auch die Geschäftsleitung der Muttergesellschaft verpflichtet sein, den Tochtergesellschaften den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass die Tochtergesellschaften weiter in den Cashpool des Konzerns einzahlen, obwohl die Muttergesellschaft bereits insolvenzreif ist.51) Umgekehrt ist es der Geschäftsleitung der Muttergesellschaft aber nach § 64 Satz 1 GmbHG untersagt, Darlehen aus dem Cashpool an die Tochtergesellschaft zurückzuführen, wenn die Muttergesellschaft selbst in der Krise ist. Wird die Krise daher erkannt, so stellt sich wiederum die Frage, ob entsprechende Verein- 40 barungen gekündigt werden können, ja müssen. Außerhalb eines Insolvenzverfahrens kann die Tochtergesellschaft den Zahlungsdiensterahmenvertrag jederzeit ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gemäß § 675a Abs. 1 Satz 1 BGB kündigen, selbst wenn er auf unbestimmten Zeitraum abgeschlossen ist.52) Eine Kündigungsfrist von länger als einem Monat ist nach § 675h Abs. 1 Satz 2 BGB sogar ausdrücklich untersagt. Die Muttergesellschaft kann einen auf unbestimmte Zeit geschlossenen Zahlungsdiensterahmenvertrag nur bei Vereinbarung eines Kündigungsrechtes gemäß § 675a Abs. 2 Satz 1 BGB beenden. Die
___________ 49) S. insgesamt hierzu Kollrus, MDR 2011, 208, 209. 50) S. insgesamt hierzu Kollrus, MDR 2011, 208, 209. 51) OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.12.2013 – 17 U 51/52, ZIP 2015, 73 = GmbHR 2015, 303 m. Anm. Beck, GmbHR 2015, 287. 52) Kollrus, MDR 2011, 208 ff., mit Ausführungen zur Qualifikation eines Cashpooling-Vertrages als Zahlungsdiensterahmenvertrag gemäß § 675f Abs. 2 BGB.
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Kündigungsfrist darf gemäß § 675a Abs. 2 Satz 2 BGB zwei Monate nicht unterschreiten.53) Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung begründet der Ausschluss einer Gesellschaft aus dem konzerneigenen Cashpool-System keine Schadensersatzansprüche gemäß § 826 BGB wegen eines existenzvernichtenden Eingriffs, da der ausgeschlossenen Gesellschaft kein zweckgebundenes Vermögen entzogen werde; vielmehr werde es lediglich abgelehnt, der Gesellschaft weiteres Kapital i. R. des Cashpooling zur Verfügung zu stellen.54) 41 Um sich damit rechtzeitig von einem solchen Vertrag lösen zu können, bedarf es sowohl auf Seiten der Tochter- als auch der Muttergesellschaft einer strengen Überwachung. Insbesondere die Solvenz der Muttergesellschaft ist laufend zu überprüfen. Das bedingt die Einrichtung eines Informations- und Frühwarnsystems,55) um jederzeit, ggf. auch fristlos, den Cashpool-Vertrag kündigen zu können.56) 42 Hinsichtlich der Anfechtbarkeit von Direktzahlungen, die nicht von der insolventen Konzerngesellschaft als Schuldner selbst, sondern von der anderen Konzerngesellschaft als Dritte erbracht wurden ist zu beachten, dass ebendiese Zahlungen grundsätzlich inkongruent sind, da sie der Art nach nicht von der anderen Konzerngesellschaft geschuldet sind.57) Ausnahmsweise kann die Anfechtung nach § 131 InsO im Einzelfall dennoch ausgeschlossen sein, wenn die Direktzahlungen i. R. eines im Konzern über zehn Jahre gehandhabten Cashpool-Systems erbracht werden und sie wegen der nur geringfügigen Abweichung von der vertraglich vereinbarten Leistung als kongruent einzustufen sind.58) Für die Erheblichkeit der Abweichung ist einerseits unter Berücksichtigung der Verkehrssitte (§§ 157, 242 BGB) oder von Handelsbräuchen (§ 346 HGB) auf die nach dem Inhalt des Anspruchs typische und gesetzmäßige Erfüllung und andererseits im Einzelfall darauf abzustellen, ob Umstände vorliegen, die objektiv den Verdacht wachrufen, dass sich die am Cashpool beteiligten Konzerngesellschaften in schlechter Vermögenslage befinden. Daran fehlt es, wenn in einem langen Zeitraum die Leistungserbringung in der leicht von der geschuldeten Art abweichenden Methode ohne Beanstandung erfolgte.59) 2.4
Sonstige Unternehmensverträge
43 Geradezu kennzeichnend für einen Konzern sind die Unternehmensverträge nach §§ 291 ff. AktG. Für die Konzernsteuerung sind diese Unternehmensverträge von herausragender Bedeutung. 44 Besonderen Einfluss auf die Insolvenzgründe hat der Beherrschungsvertrag und Gewinnabführungsvertrag nach §§ 291 ff. AktG. Dem Anspruch auf Gewinnabführung zugunsten der Muttergesellschaft steht im Falle des Verlustes der Tochtergesellschaft der entsprechende Verlustausgleichanspruch gegenüber. Der Anspruch ist auf Seiten beider Gesellschaften zu aktivieren und zu verzinsen.60) Da der Anspruch auf Ausgleich eines Jahres___________ 53) Ordnet man den Cashpool im Konzern dagegen als GbR ein, so schränkt dies die Kündigungsmöglichkeiten der beteiligten Unternehmen erheblich ein, s. Decker, ZGR 2013, 392, 411 ff. 54) OLG Köln, Urt. v. 18.12.2008 – 18 U 162/06, NJW-Spezial 2009, 369, dazu EWiR 2009, 667 (Hangebrauck); a. A. Decker, ZGR 2013, 392, 413 f. 55) Willemsen/Rechel, BB 2009, 2215, 2220. 56) S. hierzu Kollrus, MDR 2011, 208, 210 m. umfangr. w. Literaturhinweisen. 57) BGH, Urt. v. 9.11.2017 – IX ZR 319/16, Rz. 8, NZI 2018, 267. 58) BGH, Urt. v. 12.9.2019 – IX ZR 16/18 (Baumarkt), Rz. 23 ff., NZI 2019, 893. 59) BGH, Urt. v. 12.9.2019 – IX ZR 16/18 (Baumarkt), Rz. 24, 28 – 30, NZI 2019, 893, sowie Anm. Hölken, NZI 2019, 893, 897. 60) BGH, Urt. v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, BGHZ 142, 382 ff., 385 f. = ZIP 1999, 1965; Cranshaw, JurisPRHaGesR 1/2012, Anm. 4 zu OLG München, Beschl. v. 20.6.2011 – 31 Wx 163/11, ZIP 2011, 1912.
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fehlbetrags am Stichtag der Jahresbilanz der beherrschten Gesellschaft entsteht,61) kann der Anspruch erst aktiviert werden, wenn dieser Stichtag bereits abgelaufen ist oder zumindest unmittelbar bevorsteht.62) Ist der Anspruch nicht mehr werthaltig, so hat das in entsprechender Höhe zwingend die Wertberichtigung bei der Tochtergesellschaft zur Folge, so dass Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung bei der Tochtergesellschaft eintritt. Nach § 296 Abs. 1 Satz 1 AktG kann ein Unternehmensvertrag mit einer abhängigen AG nur zum Ende des Geschäftsjahres oder des sonst vertraglich bestimmten Abrechnungszeitraumes gekündigt werden. Da der Schutzzweck dieser Vorschrift auf eine GmbH in gleicher Weise wie auf eine AG zutrifft, gilt diese Regelung analog auch für Unternehmensverträge mit einer abhängigen GmbH.63) Aber auch wenn kein Beherrschungsvertrag oder Gewinnabführungsvertrag besteht, so 45 können im Konzernverbund bestehende Verpflichtungen bei der Muttergesellschaft zu einer Passivierungspflicht führen. Nach §§ 311 ff. AktG darf ein herrschendes Unternehmen seinen Einfluss nicht dazu benutzen, eine abhängige AG oder KGaA zu veranlassen, für sie nachteilige Rechtsgeschäfte vorzunehmen, ohne Maßnahmen zum Nachteilsausgleich zu treffen. Wird dagegen verstoßen, ist das herrschende Unternehmen zum Nachteilsausgleich nach § 311 Abs. 2 AktG verpflichtet. Die abhängige Gesellschaft kann den Anspruch auf Nachteilsausgleich aktivieren. Dies setzt nach § 311 Abs. 2 AktG voraus, dass am Ende des Geschäftsjahres hierüber eine entsprechende Vereinbarung mit dem herrschenden Unternehmen getroffen wurde. Ohne eine solche Vereinbarung scheidet eine Aktivierung aus.64) Besteht danach eine entsprechende Passivierungspflicht bei der Muttergesellschaft, so hat dies wiederum Einfluss auf die Insolvenzgründe sowie die bestehende Antragspflicht bei der Muttergesellschaft. Umgekehrt stellt sich nach allgemeinem Insolvenzrecht die Frage, ob und ab wann dieser Anspruch bei der Tochtergesellschaft als werthaltig aktiviert werden kann. Diese Fragen sind unabhängig von den handelsrechtlichen Aktivierungs- und Passivierungspflichten zu beurteilen. 2.5
Rangrücktrittserklärung und deren steuerliche Behandlung
Rangrücktrittserklärungen sind nicht erst bei möglicher Insolvenz beachtlich.65) Sowohl 46 auf Seiten der durch den Rangrücktritt belasteten Gesellschaft als auch der begünstigten Gesellschaft können sich Belastungen ergeben, die eine Insolvenz nicht verhindern, sondern geradezu auslösen können. Eine Rangrücktrittsvereinbarung stellt einen verfügenden Schuldänderungsvertrag gemäß 47 § 311 Abs. 1 BGB dar. Deren Zweck liegt darin, dass die betroffene Forderung zur Vermeidung einer Insolvenz nicht als Verbindlichkeit in der Überschuldungsbilanz erscheint. Aufgrund des Schuld- oder Schuldänderungsvertrages wird die Forderung mit dinglicher Kraft inhaltlich dahin umgewandelt, dass sie nicht mehr zu passivieren ist.66) Eine solche Vereinbarung ist mit allen Beteiligten möglich, also nicht nur mit Gesellschaftern.67) Vor Geltung des MoMiG verlangte die Rechtsprechung einen sog. qualifizierten Rangrücktritt.68) Ein qualifizierter Rangrückritt erfordert, dass Gläubiger mit ihren Forderungen erst nach ___________ 61) BGH, Urt. v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, BGHZ 142, 382 = ZIP 1999, 1965; BGH, Urt. v. 14.2.2005 – II ZR 361/02, ZIP 2005, 854 = WM 2005, 745. 62) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 108. 63) BGH, Urt. v. 16.6.2015 – II ZR 384/13, ZIP 2015, 1483 = NJW-RR 2015, 1175. 64) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 109. 65) K. Schmidt, ZIP 2013, 485, 492 f.; Henkel/Wentzler, GmbHR 2013, 239 – 243. 66) So BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 642. 67) BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 639. 68) BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, ZIP 2001, 235, 237.
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der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und bis zur Abwendung der Krise auch nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen der Gesellschafter berücksichtigt werden, d. h. so behandelt werden, als handle es sich bei den Darlehen um gezeichnetes Kapital.69) Nach Inkrafttreten des MoMiG reicht gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO hingegen ein Rangrücktritt i. S. des § 39 Abs. 2 InsO aus, so dass die Gläubiger nur noch nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO hinter die kraft Gesetzes nachrangigen Forderungen zurücktreten müssen.70) Soll die Rangrücktrittsvereinbarung sicherstellen, eine Insolvenz zu vermeiden, muss sie sowohl vor als auch nach Verfahrenseröffnung ausschließen, dass sie als Verbindlichkeit in die Bilanz nach den obigen Grundsätzen aufgenommen wird.71) 48 Entgegen der Rangrücktrittserklärung erhaltene Zahlungen sind zurückzugewähren. Ein entsprechender Erstattungsanspruch folgt aus § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB, da eine Zahlung auf eine Forderung, für die ein Rangrücktritt gilt, eine rechtsgrundlose Leistung darstellt. Im Insolvenzfall können solche Zahlungen auch später vom Insolvenzverwalter nach § 134 Abs. 1 InsO als unentgeltliche Leistungen angefochten werden.72) Entsprechende Verbindlichkeiten sind also zu passivieren, was wiederum zur Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung führen kann. 49 Grundsätzlich kann sich von einer solchen Rangrücktrittserklärung nicht gelöst werden. Als Vertrag zugunsten Dritter, der Gläubigergesamtheit, kann eine Rangrücktrittsvereinbarung nicht ohne Mitwirkung der begünstigten Gläubiger aufgehoben werden. Eine Mitwirkung der Gläubiger ist nur dann nicht erforderlich, wenn eine Insolvenzreife der durch den Rangrücktritt begünstigten Gesellschaft nicht vorliegt oder beseitigt ist.73) Eine zeitliche Befristung der Rangrücktrittserklärung hat lediglich einen Stundungseffekt, ist also allenfalls zeitweise bei Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen, führt aber nicht zum Nachrang.74) Im Überschuldungsstatus besteht damit Passivierungspflicht.75) Auch eine einseitige Kündigung ist ausgeschlossen. Grundsätzlich hat der Gläubiger daher keine Möglichkeit, sich – ohne Mitwirkung der Gesellschaft – einseitig von dem Rangrücktritt zu lösen.76) Um eine gewisse zeitliche Beschränkung zu erreichen, wird allgemein eine besondere Abrede empfohlen.77) Eine solche Abrede könnte für den Fall der wirtschaftlichen Gesundung der Gesellschaft derart formuliert werden, dass die zunächst zurückgetretenen Forderungen nach Beseitigung der Überschuldungsgefahr aus künftigen Gewinnen, sonstigem, die anderen Schulden der Gesell übersteigenden Vermögen oder aus einem Liquidationsüberschuss getilgt werden müssen78) und eine Aufhebung des Rangrücktritts ohne Mitwirkung der begünstigten Gläubiger zulässig ist, wenn keine Überschuldung des Schuldners vorliegt oder eine Überschuldung beseitigt ist. 50 Eine falsch formulierte Rangrücktrittserklärung führt zu erheblichen steuerrechtlichen Risiken, die wiederum Passivierungspflichten in der Handelsbilanz und in dem Überschul___________ 69) 70) 71) 72) 73) 74) 75) 76) 77) 78)
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S. hierzu auch Helios/Kröger, DStR 2015, 2478, 2479. S. hierzu auch Helios/Kröger, DStR 2015, 2478, 2479. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 639. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 639; s. hierzu auch Helios/Kröger, DStR 2015, 2478, 2479; BGH, Urt. v. 24.2.2022 – IX ZR 250/20, Rz. 16, NZI 2022, 425. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 643 f.; BGH, Urt. v. 24.2.2022 – IX ZR 250/20, Rz. 36, NZI 2022, 425. Henkel/Wentzler, GmbHR 2013, 239, 240 f.; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 188; BGH, Urt. v. 24.2.2022 – IX ZR 250/20, Rz. 36, NZI 2022, 425. Henkel/Wentzler, GmbHR 2013, 239, 240; BGH, Urt. v. 24.2.2022 – IX ZR 250/20, Rz. 36, NZI 2022, 425. Henkel/Wentzler, GmbHR 2013, 239, 240. Henkel/Wentzler, GmbHR 2013, 239, 240 f. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 188 m. w. N.
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dungsstatus sowie dem Liquiditätsstatus und folglich die Antragspflicht begründen können. Die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ist insoweit im Wandel. Zunächst wurde konsequent davon ausgegangen, dass eine betrieblich begründete Verbindlichkeit in der Handelsbilanz und Steuerbilanz ausgewiesen werden muss, solange der betreffende Gläubiger den Schuldner nicht aus betrieblicher Veranlassung die Schuld gemäß § 397 BGB erlässt oder sich ergibt, dass die Verbindlichkeit aus sonstigen Gründen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfüllt zu werden braucht. In diesem Zusammenhang stellt der Rangrücktritt aus Sicht des Schuldners lediglich eine Vereinbarung dar, die zu einer veränderten Rangordnung, nicht hingegen zu einer Minderung ihrer Verbindlichkeiten insgesamt führt. Die zugrunde zu legenden Verbindlichkeiten sind daher weiterhin bilanziell auszuweisen.79) Diese Rechtsprechung modifizierte der BFH später in seinem Urteil vom 30.11.2011.80) 51 In diesem Urteil führt der BFH aus, eine Verbindlichkeit unter Vereinbarung eines Rangrücktrittes dergestalt, dass sie hinter die Forderungen aller übrigen Gläubiger zurücktritt und nur aus künftigen Jahresüberschüssen zu erfüllen ist, sei hiernach gemäß § 5 Abs. 2a EStG 1997 nicht auszuweisen. Denn der Schuldner sei, solange die Gewinne noch nicht erzielt sind, in seinem gegenwärtigen Vermögen zum Bilanzstichtag noch nicht belastet. Seine Situation gleiche wirtschaftlich der eines Schuldners, dem eine Verbindlichkeit gegen Besserungsschein erlassen wurde. Der BFH erachtete es zumindest für diskussionswürdig, in einem solchen Ausnahmefall für eine Ausbuchung auch einer bestehenden Forderung auszugehen, die aufgrund der bevorstehenden Existenzbeendigung des Schuldners mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erfüllt werden wird.81) Diese Annahme scheint auch der BGH zu bestätigen, nach dem solche mit Rangrücktrittsvereinbarungen versehene Forderungen auszubuchen sind.82) In seinem Urteil vom 19.8.202083) stellte der BFH klar, dass das Passivierungsverbot des § 5 Abs. 2a EstG nicht greift, sofern eine Rangrücktrittsvereinbarung die Erfüllung der Verpflichtung nicht nur aus zukünftigen Gewinnen, sondern auch aus „sonstigem freien Vermögen“ vorsieht. Dies gelte selbst dann, wenn die Schuldnerin über kein ausreichendes „freies“ Vermögen verfügt und auch voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, ein solches zu schaffen. Abzustellen sei auf den rechtlichen Gehalt der Durchsetzungssperre und nicht die tatsächliche Möglichkeit der Tilgung aus freiem Vermögen, da das rechtliche Bestehen der Verbindlichkeit regelmäßig eine wirtschaftliche Belastung bewirke und damit eine Passivierung rechtfertige. So bleibt es auch in diesem Fall bei der Passivierungspflicht. Weiter zu beachten ist in diesem Kontext jedoch das Urteil des BFH vom 15.4.2015.84) 52 Denn der BFH unterscheidet – wie auch im BMF-Schreiben vom 8.9.2006 zum Rangrücktritt85) – zwischen dem einfachen und dem qualifizierten Rangrücktritt. Nur für den einfachen Rangrücktritt soll sich diese Schlussfolgerung ergeben. Ist der Rangrücktritt also als qualifizierte Vereinbarung ausformuliert, so bleibt es bei der grundsätzlichen Passivierungspflicht. Davon weicht auch der BGH in dem oben erwähnten Urteil86) nicht ab. Aus dem Gesamtzusammenhang ist ersichtlich, dass jeweils nur der Überschuldungsstatus 53 angesprochen ist. Anderenfalls tritt bei der sog. einfachen Rangrücktrittserklärung i. H. ___________ 79) 80) 81) 82) 83) 84) 85) 86)
BFH, Urt. v. 20.10.2004 – I R 11/03, BStBl. II 2005, 581, 581 f. = ZIP 2005, 492 (LS). BFH, Urt. v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 332 = ZIP 2012, 570. BFH, Urt. v. 5.2.2014 – I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014 = BB 2014, 1318. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 642. BFH, Urt. v. 19.8.2020 – XI R 32/18, BStBl. II 2021, 279. BFH, Urt. v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769 = ZIP 2015, 1386. BMF-Schreiben v. 8.9.2006 – IV B 2 – S 2133, 10/06, BStBl. I 2006, 497. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, ZIP 2015, 638, 642.
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der Ausbuchung ein außerordentlicher Gewinn ein, der i. R. eines Gesellschaftsverhältnisses aber durch den Ansatz einer Einlage i. H. des werthaltigen Teils der betroffenen Forderung neutralisiert werden kann (insoweit Abkehr von dem Urteil des BFH vom 30.11.2011)87). Das gilt wohlgemerkt nur für den Fall der einfachen Rangrücktrittserklärung. Wenn die Forderung nicht werthaltig ist, fällt also auch im Gesellschaftsverhältnis ein außerordentlicher Ertrag an. Da die Einlagemöglichkeit bei Nichtgesellschaftern ausgeschlossen ist, führt die Forderungsberichtigung in voller Höhe zu einem außerordentlichen Ertrag. Sowohl bei Gesellschaftern als auch bei Nichtgesellschaftern dürfte höchstens zu erwägen sein, ob Steuerfreiheit als Sanierungsgewinn nach den Grundsätzen des Sanierungsgewinnes möglich ist. 2.6
Sonstige Verträge im Konzern
54 Die vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Konzerngesellschaften sind vielfältig. Eine abschließende Darstellung ist nicht möglich, die Gestaltungsmöglichkeiten reichen von den verschiedensten Arten der „Konzernumlagen“ über „Intercompany-Loans“ bis zu weiteren, zwischen den Gesellschaften gegebenen Garantien. Nicht nur die unmittelbaren Leistungsbeziehungen, sondern auch die Verletzung anerkannter Grundsätze („dealing at arms length“) haben Auswirkungen auf die gesamte Konzernstruktur und die wechselseitigen Insolvenzgründe. Wie bei anderen wechselseitigen Erklärungen stellt sich ebenfalls die Frage, ob und inwieweit sich noch rechtzeitig vor einer drohenden Insolvenz von den sich ergebenden Verpflichtungen losgesagt werden kann. 2.7
Steuerliche Haftungstatbestände im Konzern
55 Schließlich führt die Konzernstruktur auch zu den verschiedensten steuerlichen Haftungsmöglichkeiten, die eine Insolvenz auslösen können. Die sich hieraus ergebenden Inanspruchnahmen sind nicht nur vor, sondern auch während der Insolvenz von besonderer Relevanz. Sie können Lösungen i. S. der betroffenen Gesellschafter und betroffenen Gläubiger wesentlich erschweren, wenn nicht sogar völlig unmöglich machen. 56 Hervorzuheben sind die steuerlichen Haftungstatbestände nach §§ 73 – 75 AO. Vor allem steuerliche Organschaften können bei der jeweiligen Organgesellschaft erhebliche Risiken in der Krise der Organmutter nach sich ziehen (unbeachtet der Passivierungspflicht auf Seiten der Organmutter aus der Übernahme der steuerlichen Verpflichtungen). Denn nach § 73 Satz 1 AO haftet eine Organgesellschaft für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. Kommt der Organträger also seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nach, so besteht die Möglichkeit des Rückgriffs der Finanzverwaltung auch bei anerkannter steuerlicher Organschaft. Nach § 73 Satz 2 AO haften dann die Organgesellschaften neben dem Organträger ebenfalls nach Satz 1. 57 Die Haftung nach § 73 AO besteht nicht nur für Betriebssteuern, sondern für alle Steuerarten, für die Organschaft möglich ist (also Umsatzsteuer, Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer, bei einer natürlichen Person als Organträger auch Einkommensteuer).88) Die Haftung ist dabei nicht nur auf die Steuern des Organträgers beschränkt, die unmittelbar die Organgesellschaft betreffen, also ihr wirtschaftlich zuzuordnen sind. Vielmehr sind vom Haftungskreis auch solche Steuern umfasst, die im Betrieb des Organträgers oder ___________ 87) BFH, Urt. v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 332 = ZIP 2012, 570. 88) Vgl. Klein-Rüsken, AO, § 73 Rz. 10.
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einer anderen Organgesellschaft begründet worden sind89) Schließlich können Zahlungen im Konzern steuerlich zu Ausgleichspflichten wegen verdeckter Gewinnausschüttung nach § 8 KStG führen. Gesellschaftsrechtlich kommen nach §§ 29, 30, 31 GmbHG, § 57 AktG Rückerstattungsansprüche in Betracht.90) Auf die Literatur wird wegen der möglichen Fallkonstellationen hingewiesen. Rechtsunsicherheit besteht derzeit in der Frage, ob eine umsatzsteuerliche Organschaft 58 fortbesteht, wenn über das Vermögen einer Konzerngesellschaft ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Der BFH hat daran aufgrund der insolvenzrechtlich gebotenen Einzelbetrachtung jeder Gesellschaft für sich erhebliche Zweifel geäußert. Dass die im Konzern verbundenen Gesellschaften und Unternehmen im Insolvenzverfahren jeweils selbständig abzuwickeln sind, spricht nach Auffassung des BFH gegen den Fortbestand der Organschaft bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Organträgers oder einer Organgesellschaft.91) Weitere rechtliche Unsicherheiten im Bereich der umsatzsteuerlichen Organschaft ergeben sich aus der Rechtsprechung des EuGH. Nach Ansicht des EuGH stehe das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegen, die – wie die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG – die Organschaft auf juristische Personen als Organgesellschaften beschränken, die mit dem Organträger durch ein Unterordnungsverhältnis verbunden sind.92) Nach Einschätzung in der Literatur werde es angesichts dieser Rechtsprechung immer schwieriger, eine Organschaft rechtssicher durchzuführen.93) In diesem Zusammenhang hat der BFH dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt – das Vorabentscheidungsverfahren ist noch anhängig.94) 2.8
Sonderfall Startup als Beispiel für den Gesetzgebungsbedarf bei der Überschuldung
Angesichts der im Ergebnis zwar begrüßenswerten Entscheidung des OLG Düsseldorf, 59 welche im Falle von Startups zu realistischeren Anforderungen an eine positive Fortführungsprognose führt (siehe die Rz. 31), muss sich die Praxis leider aus Gründen der Rechtssicherheit an die strengeren Maßstäbe des BGH (siehe Rz. 32) halten. Gleichwohl zeigt die Entscheidung des OLG Düsseldorf die aktuelle Tendenz weg von einer einheitlich-schematischen Prüfung der Fortführungsprognose hin zu einer einzelfallgerechten und differenzierten Beurteilung auf. So korrespondiert die Länge und Strenge des der Prognose zugrunde zu legenden Maßstabs auch stets mit der Gefahr eines Hindsight bias. In volatilen Krisenzeiten wie den heutigen (Stichworte Corona-Pandemie; Krieg in Europa, Klimawandel) zeigt sich, dass sich Gesetze und Rechtsprechung an die tatsächlichen Umstände anpassen müssen, um die gewollte und hier im Verhältnis zu Gläubiger- und Schuldnerschutz ausgleichende Wirkung zu erzielen. So wurde etwa i. R. des COVAbmildG der Prognosezeitraum im Überschuldungstatbestand des § 19 InsO von 24 auf zwölf Monate verkürzt und sogar die Insolvenzantragspflicht temporär ausgesetzt.95) Nach den jüngsten Krisen ist der deutsche Gesetzgeber nunmehr dringend berufen, ___________ 89) S. insoweit zu den Voraussetzungen Klein-Rüsken, AO, § 73 Rz. 7, 12 ff. m. w. H. 90) S. hierzu die umfangreiche Übersicht von Noack/Servatius/Haas-Kersting, GmbHG, § 29 Rz. 29 ff.; Noack/Servatius/Haas-Servatius, GmbHG, § 30 Rz. 13 ff., § 31 Rz. 3 ff. m. umfangr. Literaturübersicht. 91) BFH, Beschl. v. 19.3.2014 – V B 14/14, ZIP 2014, 889 = NZI 2014, 421; kritisch zu der Ansicht des BFH Wagner/Fuchs, BB 2014, 2583, 2585 ff. 92) EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – Rs. C-108/14 (Larentia + Minerva) und Rs. C-109/14 (Marenave), ZIP 2015, 1971 = EuZW 2015, 753. 93) Meurer, StBW 2015, 624, 630. 94) BFH, Beschl. v. 11.12.2019 – XI R 16/18, DStR 2020, 645 (Az. d. EuGH: Rs. C-141/20). 95) Ausführlich zur Aussetzung der Insolvenzantragspflicht: Fritz-Fritz, COVInsAG, § 1 Rz. 8 ff.
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nachhaltige und schlechtwettertaugliche Regelungen zu finden. In Anbetracht der hohen Relevanz von Startup-Unternehmen im speziellen, der nicht abebbenden Diskussion um die Überschuldung im Generellen, bietet sich dem deutschen Gesetzgeber nun hoffentlich allerspätestens bei der Umsetzung der anstehenden EU-Richtlinie zur Mindestharmonisierung des Insolvenzrechts, die Möglichkeit, solche Regelungen zu finden und umzusetzen. 60 Bei der Prüfung des Überschuldungstatbestands ist speziell für Startup-Unternehmen zu beachten, dass man hier für die Fragen der anzusetzen Verbindlichkeiten bzw. auf der Zeitschiene, nicht nur der Ansatz der Fortführung unter Vollkosten fahren muss, sondern sich durchaus eine realistische und finanzierbare Abwicklungslösung i. S. eine positiven Liquidationsprognose96) als Plan B ergeben kann. So findet es sich bei Startups häufig, dass ihre laufenden Vertragsbeziehungen regelmäßig auf einen weitaus geringeren Zeitraum ausgelegt sind als Vertragsbeziehungen von Großunternehmen und diese zudem oftmals weitaus flexibler umgestaltet und ggf. beendet werden können, gerade auch bei einer eher agilen Mitarbeiterstruktur. Im Ergebnis können so hohe laufende Ausgaben, im Falle der Abwicklung, zu einem erheblichen Teil in relativ kurzer Zeit gekürzt werden. Damit ließe sich eine negative Abwicklungsprognose vermeiden. Insoweit sollten die Geschäftsleiter eines Startups also stets einen Plan B in der Tasche haben. Demnach würde nur dann eine Insolvenz zu beantragen sein, wenn nicht mehr ausreichende Mittel vorhanden, das operative Unternehmen und die Gesellschaft liquide abzuwickeln. Dieser Plan B sollte mithin aufzeigen, wie und dass eine positive Abwicklungsprognose mit einer Restliquidität möglich sein wird. 3.
Lenkung und Steuerung der Insolvenz in einem nationalen Konzern
61 Über jede einzelne Gesellschaft ist ein Insolvenzverfahren zu beantragen und zu eröffnen. Ein einheitliches Insolvenzverfahren über alle im Konzern verbundenen Gesellschaften ist ausgeschlossen.97) Dieses Konzept der sog. materiellen Konsolidierung findet sich auch nicht in der Neufassung der EuInsVO oder in der InsO.98) Hier finden sich lediglich Regeln zur Koordination der Verfahren, so dass man allenfalls von einer förmlichen Konsolidierung sprechen kann (siehe dazu ausführlich unter Rz. 188 ff.). 62 Jeder Insolvenzverwalter hat freilich den Grundsatz der optimalen Gläubigerbefriedigung für seine Insolvenzmasse zu befolgen. Auf nationaler Ebene finden sich auch keine Regelungen, wie sie etwa die ErwG 51 ff. der EuInsVO enthalten, wonach die einzelnen Verwalter nicht nur zur Effizienz, sondern auch einer geordneten Sanierung der gesamten Gruppe angehalten sind. Entsprechend bleibt es hier beim klassischen Postulat der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung des jeweiligen Schuldners wie sie aus § 1 InsO hinlänglich bekannt ist. 4.
Insolvenz der Konzernmutter
63 Da jedoch nicht über die gesamte Gruppe, sondern nur über jede Gesellschaft ein einzelnes Insolvenzverfahren eröffnet wird, ergeben sich wesentliche Unterschiede für Mutter- oder Holdinggesellschaften und Tochter- bzw. Enkelgesellschaften. 4.1
Ausgangslage und Ziele einer Konzerninsolvenz
64 Oft entfaltet die Muttergesellschaft nicht nur reine Holdingfunktion, sondern hat regelmäßig auch einen eigenen Geschäftsbereich. Soweit sie selbst von der Insolvenz unterneh___________ 96) Instruktiv zur positiven Liquidationsprognose als positive Fortführungsprognose i. S. des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO: Morgen/Rathje, ZIP 2018, 1955. 97) Insgesamt zur Koordination in einem Konzerninsolvenzverfahren vgl. Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528 – 569 m. umfangr. Literaturhinweisen. 98) Vallender, ZIP 2015, 1513, 1519.
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merisch betroffen ist, kann daher uneingeschränkt auf die allgemeinen Darstellungen verwiesen werden. Im Rahmen der Konzernfunktion geht es dagegen im Wesentlichen darum, ob und inwieweit der Insolvenzverwalter oder die Eigenverwaltung der Muttergesellschaft weiterhin Konzernleitungsmacht ausüben kann, um so Werte zu erhalten und zu heben, um eine Sanierung im Konzernverbund zu ermöglichen. Eine Konzerninsolvenz hat ihre wesentlichen betriebswirtschaftlichen Ursachen. Regel- 65 mäßig sind zumindest auch neben den einzelnen Faktoren in dem eigenen Unternehmensbereich der Muttergesellschaft wirtschaftlich instabile Tochtergesellschaften für die Krise des Gesamtkonzerns verantwortlich. Es gilt daher in jeder Konzerninsolvenz, überlebensfähige Einheiten zu erhalten, möglicherweise selbst von der Insolvenz bedrohte oder betroffene Tochtergesellschaften mit Unterstützung der Insolvenz- oder Eigenverwaltung der Konzernmutter zu sanieren. Ist das nicht möglich, so muss aber auch trotz erheblichen Drucks der Öffentlichkeit die mutige Entscheidung ergriffen werden, die jeweilige Tochtergesellschaft zu liquidieren und ggf. i. R. einer eigenen Insolvenz alle Chancen für eine isolierte Sanierung zu suchen. In der jetzigen Umbruchsphase voller Transformationsprozesse können zudem auch die Anforderungen von ESG oder gar öffentlicher Druck zur Transformation oder Liquidation einzelner Konzernbereiche führen. Ziel eines Konzerninsolvenzverfahrens muss es daher auch sein herauszuarbeiten, welche 66 Einheiten überlebensfähig sind. In diesem Rahmen müssen die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden, um einen Erhalt i. R. des Konzernverbundes zu ermöglichen. Kann der Konzernverbund nicht erhalten werden, so müssen die überlebensfähigen Tochtergesellschaften fortgeführt werden, zunächst in deren eigenem wirtschaftlichen Interesse, aber auch im Interesse der Muttergesellschaft, um die in dieser Beteiligung liegenden Werte durch einen Verkauf für die Gläubiger heben und die bestehenden Leistungsbeziehungen aufrecht erhalten zu können. Um die hierfür bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, obliegt es dem Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft so weit als möglich, weiterhin Leitungsmacht auf die betroffenen Gesellschaften ausüben zu können. 4.2
Konzernleitungsmacht
Ob die Insolvenz- oder Eigenverwaltung der Muttergesellschaft ihre Leitungsmacht weiter- 67 hin auf einen Beherrschungsvertrag stützen kann, ist umstritten. Die früher in der KO herrschende Rechtsprechung hat schon bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine automatische Auflösung der Unternehmensverträge bejaht.99) Ein Teil der Literatur schließt sich noch heute dieser Auffassung an.100) Dem wird zunehmend widersprochen. Soweit nicht andere Tochtergesellschaften insolvent seien, gebiete es das Sanierungsinteresse geradezu, dem Insolvenzverwalter der Obergesellschaft auch das gesellschaftsrechtliche Instrumentarium an die Hand zu geben. Ihm wird lediglich ein Kündigungsrecht zugebilligt.101) Jeder Insolvenzverwalter einer Obergesellschaft steht damit vor der Fragestellung, wie er 68 angesichts des unterschiedlichen Meinungsstandes mit dieser Situation umgeht. Da der Beherrschungsvertrag zu einer Verlustausgleichspflicht führt, ist jedenfalls höchste Vorsicht geboten. Denn die Masseerhaltungspflicht steht vor dem Sanierungszweck, jedenfalls darf die eigene, zur Gläubigerbefriedigung zur Verfügung stehende Masse nicht gefährdet werden, indem ohne erforderliche Kontrolle Risiken aus solchen Beherrschungsverträgen ___________ 99) S. hierzu BGH, Urt. v. 14.12.1987 – II ZR 170/87, BGHZ 103, 1 ff., 6 = ZIP 1988, 229. 100) Koch, AktG, § 297 Rz. 22a; Emmerich/Habersack-Emmerich, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, § 297 Rz. 52 ff.; Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 297 Rz. 43, 106 ff. 101) S. Hopt/Wiedemann in: Großkomm-AktG, § 308 Rz. 83 ff.; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 407, 398 m. umfangr. Meinungsübersicht; Flöther-Pleister/Theusinger, Konzerninsolvenzrecht, § 4 Rz. 476. Vgl. zu allem ebenfalls die Übersicht bei v. Wilmowsky, DK 2016, 261.
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auf sich genommen werden. Da der Kontrollverlust für eine Konzerninsolvenz geradezu kennzeichnend ist, wird regelmäßig zur Kündigung – auch zur formalen Kündigung – solcher Beherrschungsverträge anzuraten sein. 69 Im Nicht-Vertragskonzern oder faktischen Konzern fehlen demgegenüber vertragliche Einflussmöglichkeiten. Die Frage nach einer Kündigung oder automatischer Auflösung stellt sich damit nicht.102) Die Ausübung oder Erduldung von Leitungsmacht sei nur den Gesellschaftsorganen zugewiesen. Der Insolvenzverwalter tritt nicht in diese Funktion ein.103) 70 Unbeachtet dieser Ausgangsfragestellungen hält der Insolvenzverwalter der Obergesellschaft die Anteile an der Tochtergesellschaft in der Insolvenzmasse. Er kann daher diese Anteilsrechte auch ausüben. Das schließt die Abberufung und Neubestellung von Geschäftsführern ein.104) Im Rahmen der Gesellschafterversammlung hat er ebenfalls volles Stimmrecht. 71 Regelmäßig bedarf es daher überhaupt nicht der vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten i. R. eines Beherrschungsvertrages. Alle wesentlichen Fragen des Leistungsaustausches können durch Einzelverträge mit den jeweiligen Tochtergesellschaften geregelt werden. Das schließt auch den finanziellen Ausgleich von Holdingfunktionen i. R. von Konzernumlageverträgen ein. Werden die Grundsätze der Angemessenheit entsprechend „dealing at arms length“ gewahrt, so dürfte sich dem kein selbständiger Geschäftsführer entziehen können. Das Bedürfnis nach einer echten „Beherrschung“ stellt sich daher nur in den seltensten Fällen. 4.3
Bilanzielle Bereinigung der Beteiligungsstrukturen
72 Um Folgeinsolvenzen der einzelnen Tochter- und Enkelgesellschaften zu vermeiden und um die Werte im Konzern heben zu können, sind bei einzelnen betroffenen Tochtergesellschaften regelmäßig finanzielle Maßnahmen unumgänglich. Es gilt, die Insolvenzantragspflicht wegen möglicher Überschuldung zu vermeiden. Auch wenn insoweit die zweistufige Überschuldungsprüfung durch das Gesetz vom 5.12.2012 Erleichterung gebracht hat,105) so ist dennoch in der Regel eine bilanzielle Restrukturierung erforderlich. 73 Da die Muttergesellschaft in ihrer eigenen Bilanz im Wesentlichen nur auf der Aktivseite die Buchwerte den tatsächlichen Werten anpassen muss, sind die Risiken für den Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft leichter kalkulierbar. Steuerliche Risiken drohen ihm nur dann, wenn vor Insolvenzeröffnung oder in der Insolvenz vorgenommene Wertberichtigungen später rückgängig gemacht werden müssen. Denn aufgrund der Regeln über die Mindestbesteuerung (vgl. § 10d Abs. 2 EStG) können Verlustvorträge auf solche Buchgewinne möglicherweise nur eingeschränkt ausgenutzt werden. Dem kann durch die Erweiterung des Liquidationsbesteuerungszeitraumes nach § 11 KStG nur eingeschränkt begegnet werden. 74 Anders dagegen auf Ebene der Tochtergesellschaften. Verzichtet der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft auf Forderungen jeglicher Art, stellt das nur eine einseitige Maßnahme dar. Die Voraussetzungen eines steuerfreien Sanierungsgewinnes sind damit regelmäßig nicht erfüllt.106) Dem kann zwar zumindest eingeschränkt durch rechtlich einwandfrei ___________ 102) Böcker, GmbHR 2004, 1314, 1315; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 412 f. m. w. H. 103) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 413. 104) OLG München, Beschl. v. 24.8.2010 – 31 Wx 154/10, ZIP 2010, 1756 = WM 2010, 2230; UhlenbruckZipperer, InsO, § 159 Rz. 35. 105) Vgl. K. Schmidt, ZIP 2013, 485, 491 ff. 106) S. hierzu BMF-Schreiben v. 27.3.2003 – IV A 6 – S 2140 – 8/03, „Ertragsteuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen; Steuerstundung und Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen“.
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formulierte Rangrücktrittserklärungen begegnet werden (siehe hierzu vorstehend Rz. 46 ff., insbesondere auch hinsichtlich möglicher steuerrechtlicher Fragestellungen).107) Um jedoch nicht später eine Nachversteuerung bei der Tochtergesellschaft auszulösen, muss die zugrunde liegende Forderung unter Aufrechterhaltung der Rangrücktrittserklärung bei einer Veräußerung der Beteiligung mit übertragen werden. 4.4
Liquiditätsplanung im Konzern
Im Zentrum jeder Betriebsfortführung steht die Liquiditätsplanung und -steuerung. Das 75 gilt schon für jede Einzelinsolvenz, erst recht aber für die Konzerninsolvenz. Wenn die Insolvenz- bzw. Eigenverwaltung der Obergesellschaft wesentliche Teile des Konzerns oder gar den Konzern im Ganzen erhalten will, so hat er nicht nur die Fortführung der Muttergesellschaft, sondern auch der einzelnen Tochtergesellschaften zu ermöglichen. Es ergeben sich vier wesentliche Fragestellungen:
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x
Welche Einflussmöglichkeiten stehen dem Insolvenzverwalter noch auf die Tochtergesellschaften zu?
x
Darf er liquide Mittel aus den Tochtergesellschaften dafür verwenden, um die Muttergesellschaft aufrecht zu erhalten?
x
Darf er eigene Mittel der Muttergesellschaft verwenden, um Tochtergesellschaften fortführen zu können?
x
Darf der Insolvenzverwalter von Tochtergesellschaften erwirtschaftete Mittel dazu verwenden, andere konzernverbundene Gesellschaften aufrecht zu erhalten?
Zunächst gelten für die Liquiditätsplanung im Konzern die gleichen Grundsätze wie bei der 77 Insolvenz einer Einzelgesellschaft. Zu- und Abflüsse von und zu den Tochtergesellschaften sind auf gleicher Basis in die Planungsgrundlagen einzubeziehen. Zur Abgrenzung sind Kostenstellen für jede Gesellschaft einzurichten. Ohne eine solche Spartenplanung drohen unzulässige Vermischungen. Der Insolvenzverwalter setzt sich der Gefahr aus, unkontrolliert Masse für nicht erhaltungsfähige Einheiten zu verschwenden. Mitunter fordern Kunden (etwa im Automotive-Bereich) auch noch weiter untergliederte Planungen nach Projekten oder Lieferumfängen, um etwa bei einer Subventionierung i. R. von Fortführungsvereinbarungen keine Quersubventionierung für andere Projekte zugunsten Dritter zuzulassen. Das wirft die weitere Frage auf, ob und in welchem Umfange der Insolvenzverwalter Zu- 78 flüsse von den Tochtergesellschaften als sicher einplanen und Abflüsse für die Tochtergesellschaften berücksichtigen kann und muss. Kehrseite jedes Beherrschungsvertrages sind der Ergebnisabführungsvertrag sowie die Verlustübernahmeverpflichtung. Hinsichtlich der Beendigung dieser betriebswirtschaftlichen Komponente gelten die gleichen Grundsätze wie für den Beherrschungsvertrag.108) Selbst wenn man aber annimmt, dass dieser Konzernvertrag auch in der Insolvenz der Obergesellschaft weiter aufrechterhalten werden kann, der Insolvenzverwalter weiterhin das Risiko eingeht, von einer Kündigung abzusehen, so können Zu- und Abflüsse lediglich i. R. des gesetzlichen Gewinnausschüttungsverfahrens einschließlich möglicher Vorabausschüttungen eingeplant werden. Ein kurzfristiger Zugriff ist wechselseitig ausgeschlossen. Kurzfristigen Zugriff auf Mittel der Tochtergesellschaften ermöglichte damit, auch in 79 der Insolvenz der Konzernmutter, nur die Aufrechterhaltung oder Neueinrichtung eines Cashpooling. Ein bestehender Cashpooling-Vertrag als Zahlungsdiensterahmenvertrag ___________ 107) Henkel/Wentzler, GmbHR 2013, 239 ff. 108) Böcker, GmbHR 2004, 1257, 1258; Böcker, GmbHR 2004, 1314, 1315; Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528, 547 f.
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endet nach §§ 115, 116 InsO automatisch in der Insolvenz.109) Damit müsste ein Cashpooling neu eingerichtet werden. Rechtlich besteht sicherlich die Möglichkeit für eine solche Vorgehensweise. Angesichts der erheblichen Haftungsrisiken für die Geschäftsführung der Tochtergesellschaften nach § 43 Abs. 2 GmbHG wird hierfür jedoch regelmäßig kaum eine entsprechende Bereitschaft bestehen.110) Einseitig kann der Insolvenzverwalter in keinem Falle seinen Willen durchsetzen, da es eines entsprechenden Vertragsabschlusses bedarf. Auch dem Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft drohen aufgrund der wechselseitigen Darlehensgewährungen erhebliche Haftungsrisiken. Wie will er in der Kürze der Zeit gewährleisten, dass er auf der einen Seite in Anspruch genommene Darlehen auch jederzeit zurückführen kann, auf der anderen Seite an Tochtergesellschaften gewährte Darlehen rechtzeitig zurückerhält? In der Insolvenz gewährte Darlehen sind nicht in den Folgeinsolvenzen der Darlehensnehmerin oder bei Masseunzulänglichkeit bereits insolventer Gesellschaften privilegiert.111) 80 Sollen damit kurzfristige Zu- und Abflüsse ermöglicht werden, so bleibt nur, die wechselseitigen Leistungsbeziehungen auf eine neue vertragliche Grundlage zu stellen, wenn nicht schon bisher ein entsprechendes vertragliches Regelwerk im Konzern bestand. Sämtliche bisher zwischen den Gesellschaften bestehenden Verträge stehen bei Insolvenz auch nur einer der verflochtenen Gesellschaften auf dem Prüfstand, gleichgültig ob Mutter- oder Tochtergesellschaft. Dazu gehören auch Finanzierungen der anderen Konzerngesellschaften wie über eine Finanzierungsholding. In der Insolvenz steht diese Liquidität, z. B. in Folge etwaiger Kündigung aus wichtigem Grunde oder als Folge des § 41 InsO, möglicherweise nicht mehr zur Verfügung. Im eröffneten Verfahren sind diese Verbindlichkeiten für die Schuldnergesellschaft im Allgemeinen als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO oder als nachrangige Forderungen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unter den dortigen Voraussetzungen nicht mehr bei der Liquiditätsplanung einzubeziehen. Dazu gehören aber auch die sonstigen Lieferungs- und Leistungsbeziehungen, insbesondere die sog. „Konzernumlagen“.112) Von besonderer Bedeutung sind die Vereinbarungen über immaterielle Rechtsgüter (Patente, Marken, Urheberrechte, Lizenzen usw.).113) 81 Auf der einen Seite kann der Insolvenzverwalter der Obergesellschaft diese Leistungsbeziehungen anpassen, soweit hierzu die Möglichkeiten insbesondere nach §§ 103 ff. InsO bestehen. Auf der anderen Seite hat er i. R. einer eigenen Due Diligence stets zu ermitteln, ob die Art und der Umfang der Abrechnung nicht nur im Inhalt, sondern vor allem auch bei einem übernationalen Konzern einer steuerlichen Außenprüfung standhalten werden. Zu Recht wird daher gefordert, dass die Erstellung eines ständig zu aktualisierenden Konzernorganigramms eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Analyse und die Einführung der Konzernumlagen ist. Schon außerhalb und erst recht in der Insolvenz ist diese laufende Analyse ein unverzichtbares Element für die Betriebsfortführung.114) Um sich all diesen Risiken nicht auszusetzen, ist es nicht nur für den Insolvenzverwalter der Obergesellschaft unabdingbare Voraussetzung, dass er bei einer Fortführung im Konzern dieses Regelwerk im Konzern neu strukturiert, insbesondere insolvenzrechtlichen und steuerlichen ___________ 109) S. hierzu Grüneberg-Sprau, BGB, § 675h Rz. 1; Uhlenbruck-Sinz, InsO, §§ 115, 116 Rz. 16 jeweils m. w. H. 110) S. hierzu Lieder, GmbHR 2009, 1177 – 1185. 111) Für eine solche Privilegierung spricht freilich schon – jedenfalls soweit Darlehensgeber der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Verfahrens ist – dass dieses schon begrifflich keine Darlehen eines Gesellschafters sind, sondern aus der von einem Insolvenzverwalter verwalteten Masse als Sondervermögen stammen. 112) S. insoweit den Überblick bei Bernegger/Rosenberger/Zöchling, Hdb. Verrechnungspreise, S. 353 ff. 113) Schreiber, Besteuerung der Unternehmen, S. 501 ff., 886 f. 114) S. hierzu Bernegger/Rosenberger/Zöchling, Hdb. Verrechnungspreise, S. 361; Fritze, DZWIR 2007, 89 ff., 90.
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Gegebenheiten anpasst. Dabei hat er auch Sorge dafür zu tragen, dass vonseiten der Geschäftsleitung der Tochtergesellschaft nicht zu Recht Leistungen und Zahlungen verweigert werden können. Diese Neuordnung ist der Kernpunkt einer Betriebsfortführung im Konzern. Sind die Leistungsbeziehungen zwischen den einzelnen Konzerngesellschaften entweder 82 auf Grundlage der alten Vertragsbedingungen fortzuführen oder auf eine neue Basis gestellt, so schließt sich die weitere Frage an, ob der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft neben der bilanziellen Bereinigung der Krisensituation, Tochtergesellschaften auch liquide Mittel zuführen kann, um deren Überleben entweder für eine weitere Sanierung oder für eine Veräußerung zu sichern. Der Insolvenzverwalter hat die Masse zu erhalten und zu sichern.115) Spekulationen sind ihm untersagt. Will er daher Darlehen an Tochtergesellschaften i. R. eines Liquiditätszuschusses vergeben, so müssen hierfür Chancen und Risiken im Einzelnen exakt abgewogen werden. Wie schon bei der Betriebsfortführung i. R. einer Einzelgesellschaft bedarf es hierzu einer genauen Kontrolle der Liquidität (siehe ausführlich zur Liquiditätsplanung oben Hübl/Kappel-Gnirs, § 15 Rz. 62 ff.). Ohne entsprechende Kontrollinstrumente bei der Tochtergesellschaft ist von vorneherein eine solche Darlehensgewährung ausgeschlossen, da noch nicht einmal feststeht, ob die in der Tochtergesellschaft steckenden Werte gehalten und gehoben werden können. Selbst wenn eine solche Kontrolle aufgrund von Absprachen zwischen dem Insolvenzverwalter der Konzernmutter und den Geschäftsführern der Tochtergesellschaften möglich ist, steht die Werthaltigkeit dieses „Assets“ laufend auf dem Prüfstand. Auch wenn der öffentliche Druck noch so stark ist, darf diesem Druck nicht nachgegeben werden, wenn nicht wirtschaftlich in nachvollziehbarer Weise Risiken für die eigene Masse der Muttergesellschaft ausgeschlossen werden können. Das erfordert auch eine genaue Analyse der, i. R. der möglichen Verkaufsverhandlungen von einem potenziellen Erwerber regelmäßig verlangten, Garantien und Haftungsübernahmen. Diese Vorgaben gelten erst recht für eine Querfinanzierung zwischen den einzelnen Ge- 83 sellschaften. Soweit der Konzernverwalter der Muttergesellschaft von den Tochtergesellschaften erlangte Mittel einsetzen will, so gelten die obigen Regeln. Voraussetzung ist eine ordnungsgemäße Gewinnausschüttung oder eine Darlehensgewährung der Tochtergesellschaft an die Insolvenzverwaltung der Obergesellschaft. Unmittelbare Querfinanzierungen zwischen den Tochtergesellschaften bedürfen einzelner vertraglicher Vereinbarungen zwischen den jeweiligen Geschäftsführern. Es gelten die allgemeinen gesellschaftsrechtlichen und sonstigen haftungsrechtlichen Grundsätze. Angesichts der Krisensituation des Gesamtkonzernes wird eine solche Querfinanzierung regelmäßig zu erheblichen Haftungsrisiken für die jeweiligen Geschäftsführer führen und kann damit nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Querfinanzierungen werden damit nur dann in Erwägung zu ziehen sein, wenn der Bestand der darlehensgewährenden Tochtergesellschaft selbst akut bedroht ist. 4.5
Veräußerung der Beteiligung
Von vorneherein muss der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft immer auch die Ver- 84 äußerung einzelner Beteiligungen in sein Kalkül einbeziehen. Bevor er stützende Maßnahmen ergreift, muss er auch die Übertragungsmöglichkeiten im Einzelnen analysieren, um in Verkaufsverhandlungen mit potenziellen Erwerbern bestehen zu können.
___________ 115) Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 60 Rz. 14.
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85 Die Konzernstruktur zieht dabei wieder besondere Risiken nach sich. Die mögliche Veräußerung verhindern können Haftungstatbestände: x
aus der Übertragung von Vermögenswerten von einer Gesellschaft auf andere Gesellschaften im Konzern,
x
die nicht ordnungsgemäße Erbringung der gezeichneten Einlagen insbesondere in Cashpooling-Verfahren,116)
x
sonstige Haftungs- und Anfechtungstatbestände im Cashpooling,117)
x
Haftungstatbestände aus Gewährung verdeckter Einlagen bzw. verdeckte Rückzahlungen auf das Stammkapital etc.
86 Vor allem steuerliche Nachforderungen aufgrund vor Insolvenzeröffnung bestehender Organschaften können mögliche Veräußerungen verhindern (siehe Rz. 55 ff.).118) Denn die Organgesellschaft haftet nach § 73 Satz 1 AO für von dem Organträger nicht abgeführte Umsatzsteuern, Körperschaftsteuern und Gewerbesteuern, wobei alle anderen Organgesellschaften nach § 73 Satz 2 AO neben der Organgesellschaft, die selbst Organträger ist, haften. Dabei ist nach h. M. die Haftung nicht nur auf von der Organgesellschaft selbst wirtschaftlich verursachte Steuern begrenzt, sondern umfasst alle im Betrieb des Organträgers oder einer anderen Organgesellschaft begründete Steuern.119) Weiterhin sind im Konzern noch Haftungstatbestände nach § 74 AO (Haftung des Eigentümers von Gegenständen, insbesondere bei der Betriebsaufspaltung) und nach § 75 AO (Haftung des Betriebsübernehmers) zu beachten. 87 Im Rahmen von Verkaufsverhandlungen wird jeder Erwerber insbesondere diese steuerlichen Fragestellungen intensiv in seine Prüfung einbeziehen. Will ein Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft die Veräußerbarkeit der Beteiligung erhalten, so hat er vor jeglicher Unterstützungshandlung diese Risiken in seine Erwägung einzubeziehen, um nicht später abrupt zu erwachen. Ohne eine solche Überprüfungsmöglichkeit ist ihm aus Haftungsgründen kaum eine aktive Stützung zu empfehlen. Ob und inwieweit es interessengerecht ist, wegen der schon bei der Konzernmutter anzumeldenden Steuerforderungen weitere Folgeinsolvenzen in Kauf zu nehmen, muss in eine Reform des Konzerninsolvenzrechtes mit einbezogen werden. Denn die Quotenaussichten insbesondere des Fiskus werden durch die gleichzeitige Insolvenz von Mutter- und Tochtergesellschaft wahrlich nicht verbessert. 4.6
Insolvenzplanverfahren
88 Sicherlich wäre es wünschenswert, mehrere in einem Konzern verbundene Gesellschaften, einschließlich der Obergesellschaft, einheitlich durch ein Insolvenzplanverfahren sanieren zu können.120) Auch in dieser besonderen Verfahrensart gilt jedoch der Grundsatz, dass jede Gesellschaft für sich zu betrachten ist. Das Insolvenzplanverfahren ist ebenso wie das ___________ 116) S. Theusinger, NZG 2009, 1017 – 1019. 117) S. hierzu Zahrte, NZI 2010, 596 – 598; Göcke/Rittscher, DZWIR 2012, 355 – 360; zur Anfechtung allgemein s. Paulus, ZIP 1996, 2141 – 2148. 118) Zur Frage der Beendigung der Organschaft im vorläufigen Insolvenzverfahren BFH, Urt. v. 10.3.2009 – XI B 66/08, ZInsO 2009, 1262 ff.; zur Frage der Beendigung der Organschaft bei Insolvenzeröffnung BFH, Beschl. v. 19.3.2014 – V B 14/14, ZIP 2014, 889 = NZI 2014, 421. 119) S. hierzu u. a. Klein-Rüsken, AO, § 73 Rz. 7 – 11; eine andere Frage ist, inwieweit eine solche Inhaftungsnahme für außerhalb der Organgesellschaft wirtschaftlich begründete Steuern ermessensgerecht ist. 120) S. Uhlenbruck, NZI 1999, 41, 43 f., und der Vorschlag eines „European Rescue Plan“ als gruppenübergreifender Insolvenzplan von v. Galen in: van Galen/André/Fritz/Gladel/van Koppen/Marks/Wouters, Revision of the European Insolvency Regulation – Proposals by INSOL Europe, S. 101 ff., abrufbar unter https://www.insol-europe.org/technical-content/revision-of-the-european-insolvency-regulationproposals-by-insol-europe/ (Abrufdatum: 22.11.2022).
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Regelinsolvenzverfahren rechtsträgerbezogen.121) Daher kann kein einheitlicher Insolvenzplan über mehrere Konzerngesellschaften, möglichst mit einheitlicher Gruppenbildung, vorgelegt und verabschiedet werden.122) Vor allem ist es ausgeschlossen, außerhalb eines eigenen Insolvenzverfahrens Tochtergesellschaften und Muttergesellschaften zusammen in der Weise einzubeziehen, dass durch einen Insolvenzplan über die Konzerngruppe latente Risiken der Tochtergesellschaften etwa aus steuerlicher Mithaftung oder sonstige durch die Konzernzugehörigkeit bedingte Haftungsrisiken beseitigt werden. Auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage kann diese Vorstellung kaum verwirklicht werden. 89 Denn gesellschaftsrechtlich sind die übrigen Unternehmen des Konzerns nicht verpflichtet, für das insolvente Konzernglied Verantwortung zu übernehmen. Eine Gesamtsanierung könne allenfalls in einem kommunikativen Verfahren gelingen. Ob und inwieweit die nichtinsolventen Unternehmen hieran mitwirken wollen, bleibt ihnen allerdings selbst überlassen.123) Die Beseitigung der Insolvenzgründe bei der Muttergesellschaft erfordert, dass in den Beteiligungen steckende Werte wieder gehoben und positive Zahlungszuflüsse ermöglicht werden. Die Sanierung der Muttergesellschaft wird regelmäßig nur dann gelingen, wenn zumindest auch einzelne Tochtergesellschaften über eigene Insolvenzpläne saniert werden. Der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft hat damit in seine Planung einzubeziehen, auch gezielt Insolvenzverfahren über die Tochtergesellschaften einzuleiten. Aber auch wenn seine unmittelbaren Einflussmöglichkeiten i. R. deren Insolvenz nur eingeschränkt sind, muss er entsprechende Vorbereitungen treffen, etwa indem er die für eine mögliche Insolvenz der Tochtergesellschaft erforderliche Liquidität zur Verfügung stellt. Nicht nur im Insolvenzplanverfahren stellt sich damit die Frage, wie eine Insolvenz über mehrere, in einem Konzern verbundene Gesellschaften koordiniert werden kann. Einen gesetzlichen Rahmen hierfür bietet das Koordinationsverfahren aus den §§ 269a–269i InsO. Zwar bleibt es wie bisher bei der gesellschaftsrechtlichen Trennung der einzelnen konzernangehörigen Rechtsträger, sodass die Vermögenswerte der einzelnen Konzerngesellschaften nicht zu einer Haftungsmasse zusammengefasst werden. Der Koordinationsplan ermöglicht, in den einzelnen Insolvenzverfahren über die konzernangehörigen Gesellschaften aufeinander abgestimmte Insolvenzpläne zu entwickeln. 4.7
Eingriff in gruppeninterne Drittsicherheiten
Die Neuregelungen durch das SanInsFoG124) erlauben ferner den Eingriff in gruppenin- 90 terne Drittsicherheiten durch einen Restrukturierungs- oder Insolvenzplan. Das StaRUG125) sieht eine solche Möglichkeit in § 2 Abs. 4, die InsO in § 254 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. §§ 217 Abs. 2, 220 Abs. 3, 222 Abs. 1 Nr. 5, 223a, 230 Abs. 4, 238b, 245 Abs. 2a vor. Der Eingriff rechtfertigt sich vor dem Hintergrund der Haftungsgemeinschaft bei zentralen Konzernfinanzierungen mit umfassenden Up-, Down- und Cross-Stream-Besicherungen.126) Betroffen können Bürgschaften, Mitschulderklärungen und anderweitige übernommene Haftungen oder Belastungen von Gegenständen des Vermögens eines verbundenen Unternehmens ___________ 121) So Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528, 546 f.; kritisch zur Zweckmäßigkeit dieser rechtsträgerbezogenen Einzelbetrachtung Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009 ff. 122) S. Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528. 123) Beck, DZWIR 2014, 381, 384 f. 124) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 125) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 126) Hierzu Hoegen/Kranz, NZI 2021, 105, 107.
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i. S. des § 15 AktG sein. Mithilfe von Erlassen, Freigaben oder Stundungen kann so – freilich nur mit Zustimmung des jeweiligen Drittsicherungsgebers – die Inanspruchnahme von konzernintern gestellten Sicherheiten und damit die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. die Inanspruchnahme von Instrumenten nach dem StaRUG (vgl. § 29 Abs. 2 StaRUG) auf Ebene der Konzerngesellschaft, die die Drittsicherheit stellte, vermieden werden. Als Korrektiv für die Rechtsverluste, welche die planbetroffenen Gläubiger erleiden, dient eine recht unscharf geregelte angemessene Entschädigung. Wann eine Entschädigung als angemessen einzustufen ist, lässt sich weder dem Gesetzeswortlaut noch der Gesetzesbegründung entnehmen und bleibt damit unklar.127) An dieser Stelle ist die Rechtsprechung zur Entwicklung klärender Leitlinien gefragt. Die Entschädigung ist aus dem Vermögen des Schuldners, und nicht des Drittsicherheitengebers zu leisten.128) 4.8
Vorläufiges Insolvenzverfahren
91 Ohne Einleitung von Sicherungsmaßnahmen im Eröffnungsverfahren kann die Muttergesellschaft nach wie vor ihr Weisungsrecht durchsetzen, setzt sich allerdings dem Risiko aus, dass sie ggf. zur Stellung entsprechender Sicherheiten durch die verbundene Tochtergesellschaft gezwungen werden kann.129) Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die „schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung. Weisungen des vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwalters sind danach gemäß § 21 Nr. 2 InsO zu beachten.130) 92 Bei Anordnung der „starken“ Insolvenzverwaltung gelten die Grundsätze über das eröffnete Verfahren im Wesentlichen entsprechend. Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter muss sich selbst an die konzernrechtlichen Zulässigkeitsgrenzen halten, insbesondere an die Begrenzung des Weisungsrechts durch § 308 AktG.131) Bei einem Missbrauch der Konzernleitungsmacht sind sich ergebende konzernrechtliche Ausgleichspflichten im später eröffneten Insolvenzverfahren als Masseverbindlichkeiten zu berücksichtigen.132) 93 Für die Ausübung von Kündigungsrechten gelten ebenfalls die Grundsätze für das eröffnete Verfahren entsprechend. Das gilt sowohl für die Mutter- als auch für die Tochtergesellschaft. Grundlage der für beide Seiten möglichen Kündigungsrechte ist, dass die Muttergesellschaft ihre vertraglichen Pflichten im Konzern nicht mehr erfüllen kann.133) 4.9
Haftung des Insolvenzverwalters der Muttergesellschaft
94 Verletzt der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft insolvenzspezifische Pflichten, so haftet er nach Maßgabe der §§ 60, 61 InsO.134) Haftbar macht sich der Insolvenzverwalter also insbesondere dann, wenn er schuldhaft die eigene Masse verringert oder gefährdet hat. Aus § 61 InsO ergibt sich ggf. eine persönliche Einstandspflicht, wenn bei der Fortführung im Konzern aufgenommene Darlehen nicht ordnungsgemäß zurückgeführt werden können. Für die Eigenverwaltung gilt § 60 InsO gemäß § 274 Abs. 1 InsO mit der Maßgabe, dass
___________ 127) Vgl. Hoegen/Kranz, NZI 2021, 105, 107 m. w. H. 128) Kritisch hierzu Hoegen/Kranz, NZI 2021, 105, 108. 129) S. hierzu im Einzelnen die umfassende Darstellung von Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren. 130) Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 284. 131) Zu den Grenzen des Weisungsrechts nach § 308 AktG, insbesondere bei existenzgefährdenden Eingriffen Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 308 Rz. 119 ff. 132) Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 285 ff. 133) Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 287 f. 134) S. hierzu Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 232 – 235.
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der Sachwalter für die schuldhafte Verletzung seiner spezifischen Pflichten in der Eigenverwaltung haftet, entsprechend (siehe hierzu unten Rz. 103).135) Nimmt man in der Insolvenz des herrschenden Unternehmens an, dass ein Beherrschungs- 95 vertrag fortbesteht und das darauf beruhende Weisungsrecht vom Insolvenzverwalter ausgeübt werden kann (zum Meinungsstreit siehe oben Rz. 67 ff.), wird eine persönliche Haftung des Verwalters analog § 309 AktG erwogen.136) Der Insolvenzverwalter ist aber keinesfalls gesellschaftsrechtliches Organ der Gesellschaft, sondern nur deren Masseverwalter. Abgesehen von der inneren Notwendigkeit einer solchen Haftungserweiterung erscheint eine solche Analogie daher nicht angebracht. 4.10 Eigenverwaltung Die Betriebsfortführung in der Eigenverwaltung steht denselben Problemen gegenüber wie 96 in einem Regelinsolvenzverfahren, abgesehen von der ggf. positiven Wirkung des „debtor in possession“ auf die Märkte des betroffenen Konzerns, der Mutter- ebenso wie der Tochtergesellschaften.137) Auch in der Eigenverwaltung gilt, dass jede einzelne Gesellschaft für sich zu beurteilen 97 ist. Neben der Ermittlung der Insolvenzgründe muss daher für jede einzelne Gesellschaft Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung gestellt werden. Für jede Gesellschaft müssen weiterhin die Voraussetzungen der §§ 270 ff. InsO erfüllt sein. Dabei besteht i. R. der konzernrechtlichen Leitungsmacht die Möglichkeit der Muttergesellschaft, ihre Organe zu veranlassen, Eigenverwaltung zu beantragen, um einen Sanierungsverbund zu erreichen.138) Zu beachten ist, dass der Insolvenzschuldner einerseits gemäß § 270g Satz 1 InsO den Kooperationspflichten des § 269a InsO unterliegt und ihm andererseits nach Verfahrenseröffnung die Antragsrechte nach § 3a Abs. 1 (Begründung des Gruppen-Gerichtsstands), § 3d Abs. 2 (Verweisung an den Gruppen-Gerichtsstand) sowie § 269d Abs. 2 Satz 2 InsO (Einleitung des Koordinationsverfahrens) zustehen. Die Folge der Eigenverwaltung für Unternehmensverträge und die damit verbundene 98 steuerliche Organschaft sind noch nicht abschließend geklärt.139) Ein automatisches Ende der Unternehmensverträge in der Insolvenz wird einheitlich abgelehnt. Bejaht wird jedoch ein eigenständiges Kündigungsrecht.140) Dagegen hat der BFH Zweifel daran geäußert, ob bei Anordnung der Eigenverwaltung eine steuerliche Organschaft fortbestehen könne. Hiergegen spricht nach Ansicht des BFH der insolvenzrechtliche Einzelverfahrensgrundsatz. Im Gegensatz zum Umsatzsteuerrecht, das bei einer Organschaft von dem Grundsatz der Unternehmenseinheit ausgehe, fasse das Insolvenzrecht nicht die Verfahren mehrerer Personen zusammen. Daraus ergeben sich im Insolvenzverfahren erhebliche Widersprüche, die gegen einen Fortbestand der Organschaft sprechen.141) Das Leitbild der Beendigung und Eingliederung des beherrschten Unternehmens durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens ___________ 135) Vgl. ebenfalls zum Pflichtenmaßstab Plaßmeier/Ellers in: BeckOK-InsR, § 274 InsO Rz. 8. 136) Auch hierzu Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 35 – 246; Hopt/Wiedemann in: Großkomm-AktG, § 309 Rz. 60. 137) S. die informative Darstellung von Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 1 ff. 138) S. hierzu Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 10. 139) S. Tipke/Lang, Steuerrecht, § 14 Rz. 28 ff. (Stichwort Fortentwicklung). 140) S. hierzu Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 19 – 28. 141) BFH, Beschl. v. 19.3.2014 – V B 14/14, ZIP 2014, 889 = NZI 2014, 421. Anders sah dies die Vorinstanz, das FG Hessen. Nach seiner Ansicht sei bei der Eigenverwaltung weiterhin davon auszugehen, dass die Tochtergesellschaft finanziell, organisatorisch und wirtschaftlich in die Muttergesellschaft eingegliedert sei, wenn der Sachwalter den Zahlungsverkehr nicht nach § 275 Abs. 2 InsO an sich gezogen habe und durch das Insolvenzgericht kein Zustimmungsvorbehalt nach § 277 Abs. 1 Satz 1 InsO angeordnet worden sei, s. FG Hessen, Beschl. v. 6.11.2013 – 6 V 2469/12, ZIP 2014, 532 = DStR 2014, 415.
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(und die Bestellung eines Insolvenzverwalters nach Maßgabe des § 80 InsO), das bisher in Praxis und Rechtsprechung vorherrschte, trifft wegen der zunehmenden Zahl der Eigenverwaltungen nicht mehr zu. Andererseits bleibt die Trennung der verschiedenen Gesellschaften und der Verfall des Einflusses der Gesellschaftsorgane auf die Geschäftsführung während des Insolvenzverfahrens (§ 276a InsO). 99 Bei Ausübung der sich danach ergebenden Wahlrechte bedarf es zunächst nicht der Mitwirkung des Sachwalters. Denn nach § 279 Satz 1 InsO gelten die §§ 103 bis 128 InsO mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Insolvenzverwalters der Schuldner selbst tritt. Es ist lediglich das Einvernehmen des Sachwalters als Sollvorschrift herzustellen. Wenn schon bei der Kündigung solcher Verträge keine Zustimmungspflicht außer i. R. des § 277 InsO besteht, so bedarf es zur Ausübung des Weisungsrechts erst recht nicht der Zustimmung des Sachwalters für die Wirksamkeit im Außenverhältnis.142) Werden Informationspflichten verletzt oder drohen sonstige Nachteile für die Gläubiger, so hat der Sachwalter damit im Wesentlichen nur die entsprechenden Hinweispflichten und Möglichkeiten nach § 274 Abs. 3 InsO. Hinsichtlich der Einbeziehung der Gläubigerausschüsse kann auf die allgemeinen Vorschriften verwiesen werden. 100 Die gesellschaftsrechtlichen Regelungen werden lediglich durch die insolvenzrechtlichen Beschränkungen überlagert, so dass Weisungsrechte der Mutter- oder Obergesellschaft nicht dem Insolvenzzweck des § 1 InsO zuwiderlaufen dürfen.143) Bestehen bleibt aber die Nachteilsausgleichspflicht im Konzern. Dieser Nachteilsausgleich sollte in einem eigenständigen Vertragswerk geregelt werden. Sind Nachteile offensichtlich, so hat das der Sachwalter entsprechend den gesetzlichen Vorschriften der §§ 270 ff. InsO anzuzeigen, was zum Ende der Eigenverwaltung führen kann.144) 101 Die sich aus dem gesellschaftsrechtlichen Gefüge gründende Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Lenkung besteht auch in einem Insolvenzverfahren fort, daher wird ebenfalls im faktischen Konzern bei Eigenverwaltung vom Fortbestand dieser tatsächlichen Konzernleitungsmacht ausgegangen.145) 102 Da gegenüber dem Regelinsolvenzverfahren die Einflussmöglichkeiten auf den Gesamtkonzern damit in jedem Falle erheblich weitergehen, kann eine Fortführung bei Eigenverwaltung leichter gesteuert werden. Die Rechte der alten Geschäftsleitung gehen weiter als im Regelinsolvenzverfahren. Grenzen finden sich lediglich i. R. des allgemeinen Missbrauchs der Konzernleitungsmacht, die zu einer entsprechenden Haftung aus § 309 AktG führen können. Ob die Gesellschaftsorgane in der Eigenverwaltung analog §§ 60, 61 InsO haften, ist in der Literatur umstritten.146) Der BGH hat sich in seinem Urteil vom 26.4.2018 für eine Haftung der Geschäftsleiter gegenüber den Beteiligten analog §§ 60, 61 InsO entschieden.147) Überschreiten sie ihre Konzernleitungsmacht, so müssen jedenfalls die allgemeinen Grundsätze gelten.148) 103 Der Sachwalter dagegen ist – wie oben dargelegt – anders als der Insolvenzverwalter nicht unmittelbar in die Leitungsmacht integriert. Eine eigenständige Haftung des Sachwalters ___________ 142) 143) 144) 145) 146)
S. hierzu Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 279 Rz. 3. S. hierzu Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 24 m. w. H. S. Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 24 f. Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 26. Für eine Haftung der Geschäftsführung analog §§ 60, 61 InsO Kern in: MünchKomm-InsO, § 270 Rz. 172 ff.; a. A. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 270 Rz. 19 jew. m. w. N. zum Meinungsstand. 147) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/21, ZIP 2018, 977 m. Anm. Bitter, ZIP 2018, 986; vgl. zudem Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 76. 148) Vgl. allgemein zur Haftung der Gesellschaftsorgane in der Eigenverwaltung, Kübler in: Kübler/Bork/ Prütting, HRI II, § 16 Rz. 73 – 78.
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ist damit wegen Verletzung der Konzernleitungsmacht grundsätzlich ausgeschlossen, auch wenn man eine solche Haftung für den Insolvenzverwalter selbst bejaht. Es bleibt bei der allgemeinen Haftung als Sachwalter nach §§ 274 Abs. 1, 60 InsO, wenn insbesondere die Nachteilhaftigkeit des eingeschlagenen Weges nicht rechtzeitig angezeigt wird. Da nach ganz h. M. § 55 Abs. 4 InsO im Eröffnungsverfahren in Eigenverwaltung nicht 104 gilt, ergeben sich im Antragsverfahren positive Liquiditätseffekte.149) Ebenso wie bei dem Einzelverfahren über eine Gesellschaft oder ein sonstiges Unternehmen können damit unter der Voraussetzung der endgültigen Bestätigung durch die Finanzverwaltung entsprechende Zuflüsse brutto eingeplant werden. 5.
Einflussmöglichkeiten der Gläubigerorgane
Regelmäßig liegt die Fortführung im Konzern im Interesse der Gläubiger der Muttergesell- 105 schaft. Die möglichen Auswirkungen ergeben sich bei den Insolvenzverfahren über Tochtergesellschaften; auf die nachstehenden Ausführungen, siehe unter Rz. 106 ff., wird daher verwiesen. 6.
Insolvenz der Tochtergesellschaft
Dass die Insolvenz ausschließlich eine Tochtergesellschaft trifft, ist nicht anzunehmen, 106 solange die Konzernobergesellschaft solvent ist. Denn eine Überschuldung (§ 19 InsO) kann bei der Tochtergesellschaft wegen des Verlustausgleichsanspruchs (§ 302 AktG) gegen das solvente herrschende Unternehmen nicht eintreten. Denkbar wäre allenfalls die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), wenn die Muttergesellschaft Liquidität abzieht.150) Im Gegensatz zu dem Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft hat sich der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft ausschließlich auf die seiner Verwaltung unterliegende Masse zu konzentrieren. Risiken im Konzerninteresse darf er nur dann eingehen, wenn die eigene Insolvenzmasse nicht gefährdet wird. Damit fragt sich, ob und in welchem Ausmaß der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft bei der Fortführung und Sanierung des Gesamtkonzernes mitzuwirken hat oder mitwirken kann. 6.1
Gesellschaftsrechtliche Unterwerfung unter die Konzernleitungsmacht
Der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft ist nicht Adressat beherrschungsvertrag- 107 licher Weisungen im Konzern.151) Das Insolvenzrecht überlagert das Gesellschaftsrecht.152) Dieses Ergebnis folgt aus der autonomen Stellung des Insolvenzverwalters, die sich mit Weisungen durch Gesellschafter, andere Gesellschaftsorgane oder Dritte nicht verträgt,153) Auch wenn man keine automatische Beendigung des Beherrschungsvertrages annimmt, es der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft weiterhin versäumt hat, die Kündigung auszusprechen, ist der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft damit keinen Weisungen unterworfen. Ein aktives Handeln, etwa eine Kündigung, wird von ihm nicht verlangt. Wird schon eine entsprechende Weisungsabhängigkeit im Vertragskonzern verneint, so gilt 108 das erst recht für den faktischen Konzern. Abhängigkeiten ergeben sich ausschließlich ___________ 149) AG Hamburg, Beschl. v. 14.7.2014 – 67b 196/14, ZIP 2014, 2101 = NZI 2015, 177; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 55 Rz. 110; Klusmeier, ZInsO 2014, 488, 489; a. A. Geißler, ZInsO 2013, 531, 536. 150) S. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 399; Altmeppen in: MünchKomm-AktG, § 297 Rz. 117. 151) S. hierzu m. umfangr. Nachw. Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 292 ff.; Böcker, GmbHR 2004, 1257, 1258. 152) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 398; Hopt/Wiedemann in: Großkomm-AktG, § 308 Rz. 84. 153) S. Böcker, GmbHR 2004, 1257, 1258.
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aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Beteiligungsverhältnisse. Gesellschaftsrecht greift aber nicht gegenüber dem Insolvenzverwalter. 6.2
Insolvenzrechtliche Mitwirkungspflichten
109 Damit bestimmt sich die Mitwirkung des Insolvenzverwalters der Tochtergesellschaft bei der Betriebsfortführung im Konzern ausschließlich nach Insolvenzrecht. Auf freiwilliger Basis ist eine Mitwirkung immer möglich. Unter welchen Voraussetzungen besteht hierzu jedoch eine Verpflichtung? 110 Zu Recht weist Eidenmüller darauf hin, dass sich die Pflichtenstellung des Insolvenzverwalters als Funktionsträger im Insolvenzverfahren nach § 1 Satz 1, § 159 InsO auf die Pflicht beschränkt, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen nach dem Berichtstermin bestmöglich zu verwerten.154) Dabei hat der Insolvenzverwalter alle Chancen und Risiken einzubeziehen. Eine sorgfältige Abwägung ist erforderlich. Ergibt sich danach aber, dass die weitere Unterstützung im Konzern – wie regelmäßig gegeben – die Werthaltigkeit der eigenen Insolvenzmasse erhält und verbessert, so hat der jeweilige Insolvenzverwalter diese Chance auch zu nutzen. Auch wenn man zu Recht eine bürgerlich-rechtliche oder sonstige rechtliche Verpflichtung ablehnt, ergibt sich insolvenzrechtlich aus dem Obstruktionsverbot eine Kooperationspflicht.155) Zerschlagungsmaßnahmen sind nicht angebracht, wenn eine Fortführung im Konzern die besseren Aussichten für eine höhere Quote als bei einer isolierten Insolvenzabwicklung ermöglicht. Unter diesen Voraussetzungen sind auch weiterhin Service-Leistungen der Konzernmutter in Anspruch zu nehmen. Dann hat der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft auch an einer Reorganisation im Gesamtkonzern, ggf. auch durch Insolvenzplan, mitzuwirken.156) 111 Die Verantwortung des Insolvenzverwalters der Tochtergesellschaft ist damit hoch. Neben den Planungen für die eigene Tochtergesellschaft muss er bei der erforderlichen Risikoabwägung immer auch die Chancen und Aussichten im Konzern einbeziehen. Ohne ein geeignetes Informationssystem und ohne Mitwirkung der Obergesellschaft wird er aber zwingend zu einer isolierten Verfahrensabwicklung kommen müssen, da ihm eine nachvollziehbare Einschätzung von Vor- und Nachteilen verwehrt ist. 112 Eine Kooperationspflicht besteht allenfalls, wenn der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft die eigene Masse seines Insolvenzverfahrens nicht gefährdet. Hat der Insolvenzverwalter einer Tochtergesellschaft aber auf den Gesamtkonzern und dessen Erhalt im Interesse der dort betroffenen Beteiligten auch dann Rücksicht zu nehmen, wenn seine eigene Vermögensmasse zwar nicht aktuell geschmälert oder gefährdet wird, auf der anderen Seite aufgrund der Konzernverbundenheit aber kein Mehrwert zu erwarten ist? Muss der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft also möglicherweise den Verkauf des Unternehmens der eigenen Gesellschaft zu angemessenen Konditionen zurückstellen, um die weitere Betriebsfortführung des Konzerns oder anderer Konzerngesellschaften sowie deren Sanierung zu ermöglichen? In welchem Umfange hat der Insolvenzverwalter also außerhalb seines Verfahrens liegende Interessen des Schuldners oder des Gesellschafters des Schuldners in seine Erwägungen einzubeziehen? Anders als die Muttergesellschaft oder deren Insolvenzverwalter nimmt der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft nicht regelmäßig an dem möglichen Mehrertrag teil, der sich aus dem Erhalt, damit der Partizipation am wirtschaftlichen Gesamterfolg des Konzernes ergibt.157) Auch wenn man eine Mitwir___________ 154) 155) 156) 157)
Vgl. Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528, 551 f. S. hierzu ausführlich Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 114 ff. S. Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528, 551 f.; Eidenmüller in: MünchKomm-InsO, § 218 Rz. 137 f. Vgl. Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 226 f.
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kungspflicht des Insolvenzverwalters an einem Fresh Start oder an einem positiven Erhalt des Schuldners selbst ablehnt,158) kann eine solche Entscheidung nur im Einzelfall getroffen werden. Die Verweigerung des Insolvenzverwalters der Tochtergesellschaft kann ihre Grenze nur in dem aus dem allgemeinen Treuegebot abgeleiteten Obstruktionsverbot finden. Wird er werthaltig durch die Obergesellschaft oder den Insolvenzverwalter abgesichert, unter Einbeziehung eines möglichen Zinseffektes, so muss eine Verletzung seiner, auch gegenüber anderen Beteiligten obliegenden insolvenzspezifischen Pflichten angenommen werden, wenn er dennoch gegen die Interessen der anderen, im Konzern verbundenen Gesellschaften und sonstigen Beteiligten handelt. Denn dann wird er zumindest nicht schlechter gestellt. Das gilt erst recht dann, wenn ihm ein entsprechender Ausgleich an einem möglichen Mehr- 113 wert durch die Betriebsfortführung im Konzern insgesamt gewährt wird. Ein solches Ausgleichssystem zu schaffen, ist die wesentliche Herausforderung im Konzerninsolvenzverfahren. Die InsO sieht Kooperationspflichten für Insolvenzverwalter gruppenangehöriger Unternehmen vor. Gemäß § 269a InsO sollen sie untereinander zur gegenseitigen Unterrichtung und Zusammenarbeit verpflichtet sein. Kritisch wird bewertet, dass die Kooperationspflichten lediglich allgemein formuliert sind und die Norm keine Regelungen zu ihrer Durchsetzung enthält.159) Zudem wird bezweifelt, inwieweit eine Kooperation in Krisen-, Sanierungs- und Insolvenzsituationen überhaupt möglich sei, wenn doch jeder Insolvenzverwalter zunächst einmal seinem jeweiligen Verfahren verpflichtet sei und das Maximum für seine Insolvenzmasse herausholen müsse.160) 6.3
Einflussmöglichkeiten der Gläubigerorgane
Selbst wenn man eine Mitwirkung des Insolvenzverwalters der Tochtergesellschaft unter 114 den oben dargelegten Voraussetzungen erreichen kann, so kann dies immer noch durch die Gläubiger konterkariert werden. Auch wenn die einzelnen Gesellschaften im Konzern untereinander verzahnt sind, agiert jede Gläubigerversammlung und damit auch der jeweilige Gläubigerausschuss autonom, d. h. unabhängig von der Entscheidung in den anderen Insolvenzverfahren.161) An solche Entscheidungen ist der Insolvenzverwalter der jeweiligen Gesellschaft nach Maßgabe des § 159 InsO gebunden. Gläubiger können willkürlich agieren. Selbst wenn möglicherweise eine Fortführung im Konzern auf die Dauer gesehen für sie vorteilhafter sein könnte, kann ihnen ohne Einschränkungen „schnelles Geld“ lieber sein. Sie können damit auf eine sofortige, möglicherweise sogar ungünstigere Verwertung drängen. Sogar bei einer Sanierung i. R. des Insolvenzplans findet diese Willkür ihre Grenzen lediglich im insolvenzrechtlichen Obstruktionsverbot.162) Unter Einbeziehung einer wesentlichen Absicherung muss dafür zumindest das gleiche Ergebnis garantiert werden wie im Regelverfahren über das Vermögen der eigenen Gesellschaft, besser noch, wiederum ein angemessener Ausgleich an dem Mehrertrag für den Gesamtkonzern eingeräumt wird.163) Außerhalb des Insolvenzplanverfahrens greift nur § 78 Abs. 1 InsO. Dafür muss der Be- 115 schluss der Gläubigerversammlung den gemeinsamen Interessen der Insolvenzgläubiger widersprechen. Die gemeinsamen Interessen der Gläubiger zu bestimmen, ist im Einzelfall schwierig. An einen Eingriff in die Gläubigerautonomie sind grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen.164) Betroffen als Insolvenzgläubiger sind wiederum nur die Gläubiger ___________ 158) 159) 160) 161) 162) 163) 164)
S. hierzu Uhlenbruck-Pape, InsO, § 1 Rz. 13, 16 m. w. H. So Brünkmans in: MünchKomm-InsO, KonzerninsolvenzR Rz. 75 ff. So die kritische Bewertung von Andres/Möhlenkamp, BB 2013, 579, 586. Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 80 f. S. hierzu nochmals Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 116 ff. Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 121. S. hierzu ausführlich Uhlenbruck-Knof, InsO, § 78 Rz. 10 ff.
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der jeweiligen Gesellschaft und nicht des Konzernes. Die Chancen für eine Aufhebung sind, anders als bei der Frage der Betriebsfortführung, jedoch nur gering, wenn sich bei sofortiger Zerschlagung die Quotenaussichten für die beteiligten Gläubiger nicht verringern. Man wird dabei auch deren Interesse an einem schnellen Erhalt der Quote gegenüber einer langwierigen Abwicklung im Gesamtkonzern einzubeziehen haben. Gegebenenfalls wird die Konzernleitung daher auf die Entscheidung der Gläubiger nur dann Einfluss ausüben können, wenn in insolvenzrechtlich einwandfreier Weise die Möglichkeit des Forderungskaufes besteht. 116 Das in der InsO normierte Konzerninsolvenzrecht sieht keine Kooperationspflichten zwischen den Gläubigern und Gläubigerorganen vor. Nach der Begründung des RegE kann dies aber nicht als eine Entscheidung des Gesetzgebers gegen solche Pflichten verstanden werden. Es sollte vielmehr der Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen bleiben zu klären, ob und inwieweit Kooperationspflichten zwischen den Gläubigern und deren Organen bestehen.165) 6.4
Liquiditätsplanung
117 Die für die Fortführung im Insolvenzverfahren erforderliche Liquidität hat der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft ebenfalls autonom zu planen. Es gelten die allgemeinen Grundsätze. Zuflüsse von anderen Konzerngesellschaften kann er nur berücksichtigen, soweit entsprechende vertragliche Regelungen oder Verpflichtungen bestehen. Das gilt insbesondere für Konzernumlageverträge und die Leistungsbeziehungen im Konzern allgemein. 118 Soweit darüber hinausgehend Verpflichtungen oder Ansprüche aus Unternehmensverträgen eingeplant werden sollen, gelten die obigen Ausführungen (siehe hierzu Rz. 75 ff.). Insbesondere Ansprüche aus Vorteilsausgleich dürften nicht mehr gegeben sein, da die verpflichtete Gesellschaft oder deren Insolvenzverwalter regelmäßig solche Verträge gekündigt haben dürften, auch wenn man ein automatisches Ende wider der h. M. annimmt. 6.5
Insolvenzplanverfahren
119 Die Einbindung in einen „Konzernmasterplan“ kann innerhalb und außerhalb der Insolvenz der Obergesellschaft wiederum dazu führen, dass diese Verbundenheit zur Rücksichtnahme in einem eigenen Insolvenzplan der Tochtergesellschaft führen kann, ja logischerweise sogar führen muss, da außerhalb der Insolvenzmasse der Tochtergesellschaft liegende Interessen einbezogen werden.166) Zu beachten ist lediglich das Obstruktionsverbot der §§ 245 ff. InsO und der Nachteilsausgleich in § 251 InsO. 120 Erleichtert wird die Rücksichtnahme auf die verbundenen Gesellschaften und damit die Steuerung in der Konzerninsolvenz nach ESUG ausdrücklich mit dem in § 251 Abs. 3 Satz 2 InsO aufgenommenen Nachteilsausgleich. Auch bei entsprechendem Antrag eines Beteiligten kann die Bestätigung des Insolvenzplans nicht versagt werden, wenn in dem Plan für einen möglichen Fall der Schlechterstellung Mittel vorgesehen sind. Der Anspruch ist nach § 251 Abs. 3 Satz 2 InsO regelmäßig im Zivilrechtsverfahren außerhalb des Insolvenzverfahrens zu verfolgen. Ob die Mittel ausreichen, ist im Beschwerdeverfahren nach § 253 Abs. 2 InsO zu klären. Die sofortige Beschwerde ist auch dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer im Verfahren über die Planbestätigung keinen Minderheitenschutzan___________ 165) Brünkmans in: MünchKomm-InsO, KonzerninsolvenzR Rz. 88. 166) S. insbesondere zu Gruppenbildung, Verflechtungen miteinander, wechselseitige Forderungen und Verbindlichkeiten etc., Pleister/Theusinger in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 43 Rz. 1 ff.; Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 327 – 364.
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trag nach § 251 InsO gestellt hat.167) Verlangt wird eine wesentliche Schlechterstellung, die nur bei einer greifbar fehlerhaften Entscheidung des Insolvenzgerichts angenommen wird.168) Nochmals verbessert wird die Position des Insolvenzverwalters durch sein Antragsrecht nach § 253 Abs. 4 InsO auf Zurückweisung der Beschwerde, wenn das alsbaldige Wirksamwerden des Insolvenzplanes vorrangig erscheint. Diese Vorrangigkeit wird in der Regel schon dann angenommen, wenn ein Geschäftsbetrieb fortgeführt und Arbeitsplätze erhalten werden sollen.169) Sieht die Konzernmuttergesellschaft oder deren Insolvenzverwalter entsprechende Mittel für einen Nachteilsausgleich vor, so besteht in der entsprechenden Abstimmung der Insolvenzverwaltungen ein entscheidendes Mittel zur Konsolidierung der Verfahren. 6.6
Vorläufiges Insolvenzverfahren
Im Vertragskonzern gelten im Wesentlichen dieselben Grundzüge wie im Insolvenzverfah- 121 ren der Muttergesellschaft. Der vorläufige Insolvenzverwalter handelt eigenverantwortlich. Soweit er daher i. R. des Zustimmungsvorbehaltes an Maßnahmen mitzuwirken hat, so kann er jederzeit Weisungen der Obergesellschaft außer Kraft setzen. Sind weitergehende Schritte außerhalb des Zustimmungsvorbehaltes zu ergreifen, so bleibt nur die Anordnung der „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung. Kündigungsrechte bestehen im vorläufigen Insolvenzverfahren noch nicht.170) Im faktischen Konzern bleibt nur der Geschäftsführer selbst Weisungen unterworfen. Der 122 Insolvenzverwalter der Gesellschaft hat in keinem Falle solchen Weisungen zu folgen. 6.7
Haftung des Insolvenzverwalters der Tochtergesellschaften
Wie der Insolvenzverwalter der Obergesellschaft haftet der Insolvenzverwalter der Tochter- 123 gesellschaft vorrangig nach den insolvenzrechtlichen Vorschriften, also nach Maßgabe der §§ 60, 61 InsO. Wenn eine Verwertung oder Sanierung im Konzerninteresse danach die einzige Handlungsoption darstellt, kann das im Falle einer pflichtwidrigen Verweigerung zu einer derartigen Haftung führen.171) Dabei haftet der Insolvenzverwalter ausschließlich gegenüber den Gläubigern seines eigenen Insolvenzverfahrens. Eine Haftung des Insolvenzverwalters für Schäden in den anderen Verfahren wird dagegen verneint, weil das systemwidrig sei. Für den Verwalter führe das zu einer Pflichtenkollision.172) Da im Insolvenzverfahren der Tochtergesellschaft Gesellschaftsrecht durch Insolvenzrecht überlagert wird, dürfte daneben eine gesellschaftsrechtliche Haftung sowohl im Vertrags- als auch im faktischen Konzern ausscheiden. 6.8
Eigenverwaltung
Hinsichtlich der Vor- und Nachteile der Eigenverwaltung auf die Konzernlenkung in der 124 Insolvenz gelten die Grundsätze der Eigenverwaltung über das Insolvenzverfahren der Muttergesellschaft entsprechend (siehe hierzu Rz. 96 ff.). Die Muttergesellschaft kann damit weiterhin die bestehende Konzernleitungsmacht mit den sich ergebenden Einschränkungen ausüben. Die Konzernleitungsmacht bleibt sowohl im faktischen als auch im Vertrags___________ 167) 168) 169) 170)
BGH, Beschl. v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14 (Suhrkamp), ZIP 2014, 1442 = NJW 2014, 2436. Braun-Braun/Frank, InsO, § 253 Rz. 13 – 15. Braun-Braun/Frank, InsO, § 253 Rz. 18. S. hierzu Bous, Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren, S. 309; Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 278 f. 171) S. hierzu weitergehend Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 215 f. 172) Brünkmans in: MünchKomm-InsO, KonzerninsolvenzR Rz. 81.
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konzern bestehen.173) Sie wird lediglich, wie für einen Insolvenzverwalter, durch die insolvenzrechtliche Verpflichtung zur Maximierung der vorhandenen Haftungsmasse beeinflusst.174) 125 Nicht geklärt ist derzeit allerdings, ob und inwieweit § 276a InsO in der Konzerninsolvenz einschränkend angewendet werden kann oder sogar muss. Insbesondere wird eingewandt, die Vorschrift verhindere eine Sanierung des Konzerns, weil sie gesellschaftsrechtliche Weisungen im Konzern verbiete. Mangels entsprechender Weisungsmöglichkeiten könne in der Eigenverwaltung kein Gesamtkonzept zur Sanierung des Konzerns durchgesetzt werden.175) Zur Lösung wird vorgeschlagen, die Vorschrift in der Konzerninsolvenz aufgrund systemimmanenter Wertungen der §§ 270 ff. InsO einschränkend auszulegen und mit Augenmaß anzuwenden.176) Rechtspolitisch wird die Abschaffung der Vorschrift erwogen177) oder zumindest ihre Suspendierung bei Konzerninsolvenzen.178) 126 Dem Sachwalter steht nach dem Gesetz nur eine eingeschränkte Einflussmöglichkeit zu, insbesondere hat er kein eigenes Initiativrecht, sondern kann nur Handlungen der Geschäftsleitung daraufhin überprüfen, ob sie zu Nachteilen für die Gläubiger führen.179) In der Praxis wird jedoch eine enge Einbindung des Sachwalters die Regel sein. Wesentliche Fragestellung ist, ob und inwieweit den Vorschlägen der Konzernleitung tatsächlich gefolgt werden wird. Daher sind von vorneherein eine entsprechende Aufgabenteilung und ein enger Koordinationsprozess einzurichten, um alle Chancen für eine Sanierung nicht nur der Tochtergesellschaft, sondern des Gesamtkonzernes auszunutzen. 7.
Insolvenz mehrerer, in einem Konzern verbundenen Gesellschaften, insbesondere von Mutter- und Tochtergesellschaften
127 Ist eine, in einem Konzern verbundene Gesellschaft von einer Insolvenz betroffen, so führen die wechselseitigen Verflechtungen regelmäßig dazu, dass andere Gesellschaften ebenfalls Insolvenzantrag stellen müssen. Das ist die Regel und nicht die Ausnahme. Die wesentlichen Entscheidungen laufen damit nicht mehr über die Geschäftsleitung, sondern über die jeweiligen Insolvenzverwalter. Damit steht die Fortführung vor zusätzlichen Anforderungen. 7.1
Ausgangslage
128 Insolvenzverfahren sind für jede Gesellschaft individuell und selbständig einzuleiten.180) Alle Verfahrensbeteiligten, Gerichte, Gläubigerschaften, Insolvenzverwalter, eingeschränkt die Gesellschafter, sind in ihrer Entscheidungsfindung autonom. Nur i. R. der oben für die Mutter- und jeweiligen Tochtergesellschaften dargelegten Vorgaben ergeben sich Kooperationsmöglichkeiten und Kooperationspflichten. Der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft muss auch bei der Insolvenz mehrerer verbundener Tochtergesellschaften die jeweiligen Synergieeffekte ausnutzen, um im Konzernverbund bestehende Werte zu heben. ___________ 173) 174) 175) 176) 177) 178) 179) 180)
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Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 45 f. Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 45. So die Kritik von Bilgery, ZInsO 2014, 1694, 1696 f., und Schneider/Höpfner, BB 2012, 87, 89. Klöhn in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 276a Rz. 48. Bilgery, ZInsO 2014, 1694, 1697. Madaus, ZRP 2014, 192, 196. S. hierzu Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 279 f. Böcker, GmbHR 2004, 1314, 1316; Andres/Möhlenkamp, BB 2013, 579; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 394.
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Der Insolvenzverwalter der Tochtergesellschaft dagegen wird nur kooperieren wollen und müssen, wenn er sich selbst nicht des Risikos aussetzt, eigene Werte zu vernichten. In keiner Gesellschaft besteht mehr eine Geschäftsleitung, die gesellschaftsrechtlich in die 129 bestehende Konstruktion der Gruppe eingebunden ist. Nicht nur im Konzern insgesamt, sondern bei jeder gebundenen Gesellschaft, droht vorhandenes Know-how verloren zu gehen. Wesentliche Entscheidungen werden dennoch in der Konzernzentrale getroffen werden müssen, allein weil hier nach wie vor die persönlichen und operativen Kapazitäten zur Verfügung stehen. Auch die Insolvenzverwalter der jeweiligen Tochtergesellschaften müssen auf dieses Wissen zugreifen. Gegenüber der Insolvenz einer einzelnen Gesellschaft verschieben sich die Probleme für 130 die auf Seiten der Gesellschaft beteiligten Personen auf das Schärfste. Im schlimmsten Falle stürmen auf das Führungspersonal Heerscharen von Insolvenzverwaltern ein, von denen jeder als erster auf Erfüllung der Auskunftspflichten besteht. Jeder Insolvenzverwalter muss auf dieselben Entscheidungsträger zugreifen. Das schon durch eine Einzelinsolvenz bedingte Durcheinander wird nochmals zusätzlich verstärkt. Die angerufenen und zuständigen Insolvenzgerichte sind in gleicher Weise involviert, da 131 sie abgestimmte Gutachten und Vorschläge für das Insolvenzverfahren erwarten. Auch wenn man die strategischen Zielvorstellungen im Konzernverbund völlig außer Acht 132 lässt, erfordert allein schon die bestmögliche Abwicklung der eigenen Insolvenzverfahren Zusammenarbeit und Kooperation zwischen den betroffenen Insolvenzverwaltern und Insolvenzgerichten. Das gilt erst recht für strategische Optionen, die nur im Verbund gehoben werden können. Ohne abgestimmte Maßnahmen droht in der Konzerninsolvenz das Chaos. 7.2
Ziele der Koordination
Kurzfristig wird es immer wesentlich sein, die Effektivität der Verfahrensabwicklung zu 133 steigern. Der Informationsfluss muss optimiert werden. Doppelbelastungen sind zu vermeiden. Diese Effekte betreffen sowohl das Team der schuldnerischen Unternehmen als auch das Team der jeweiligen Insolvenzverwalter. Das erfordert in der ersten Stufe eine Personalplanung auf allen Seiten, in der zweiten Stufe muss auf Grundlage dieser Planung Transparenz für die jeweiligen Verfahren hergestellt werden. Für die beteiligten Insolvenzverwalter ist es wesentlich, die Koordination und Abstimmung 134 der Verfahren gegenüber dem Beteiligten rechtfertigen zu können. Soweit für andere Insolvenzverfahren Effekte gehoben werden können, muss nachvollziehbar sein, dass keine Nachteile für das eigene Verfahren bestehen, sondern im Gegenteil mögliche Vorteile erreicht werden. Das erfordert in der ersten Stufe, dass die Liquiditätsplanungen der jeweiligen Gesellschaften aufeinander abgestimmt werden. Nur auf Grundlage einer offenen und nachvollziehbaren Planung ist eine Kooperation möglich. Diese Planung muss den jeweiligen Insolvenzverwaltern die erforderliche Sicherheit geben, die Erfolgsaussichten eigenen abgestimmten Vorgehens beurteilen zu können. Anderenfalls muss der jeweilige Insolvenzverwalter schon wegen fehlender Nachvollziehbarkeit den für ihn sichersten Weg wählen, im Regelfall die Liquidation seines Unternehmens. Soweit sich auf Grundlage dieser Analyse für einen der beteiligten Insolvenzverwalter Nach- 135 teile ergeben, so muss ein System des Nachteilsausgleiches in der gesamten Gruppe installiert und integriert werden. Nach der Feststellung möglicher Nachteile kommen die Analyse und Absicherung als wesentliche Elemente hinzu, um weiter in der Gruppe einheitlich agieren zu können.
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136 Ergebnis muss damit bei Planung der Fortführung die Optimierung der Verfahrensabläufe sein. Gegenüber den jeweiligen Gläubigerschaften und sonstigen Beteiligten muss der Insolvenzverwalter für die erforderliche Akzeptanz darlegen können, dass in der Koordination die wesentlichen Vorteile für die eigene Gesellschaft liegen. Soweit weitergehende Ziele verfolgt werden – was Sinn und Zweck des ganzen Vorhabens ist – müssen die sich aus dem Konzernverbund ergebenden Vorteile nachvollziehbar sein. 137 Ist die Technik der Verfahrensabwicklung geklärt, müssen die strategischen Aussichten im Konzern und in der Insolvenz der einzelnen Gesellschaften bestimmt werden. Ohne Verfahrenskoordination stellt sich die Frage nach einer strategischen Vorteilhaftigkeit überhaupt nicht, da jeder Insolvenzverwalter für sich agieren muss. Strategische Ziele einer Fortführung in der Konzerninsolvenz können sein: x
Neukonsolidierung und Restrukturierung des gesamten Konzerns;
x
Einzelabwicklung aller Gesellschaften;
x
geordnete Abwicklung einzelner Gesellschaften im Konzernverbund;
x
teilweise Koordination und teilweise Restrukturierung des Konzernes.
138 Ob und inwieweit diese Vorhaben in der Praxis umsetzbar sind, richtet sich weitestgehend nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen. In der Insolvenz wird zu klären sein, inwieweit sich diese Vorgaben mit Hilfe des Insolvenzrechtes verwirklichen lassen. 139 Soll der gesamte Konzern mit all seinen Mitgliedern fortgeführt, erhalten und restrukturiert werden, so sind bei jeder der einzelnen betroffenen Gesellschaften als erstes die Insolvenzgründe zu beseitigen. Da es eine „Substantive Consolidation“ nach US-amerikanischem Vorbild in europäischem Recht nicht gibt und auch nicht geplant ist, erübrigt sich hier eine weitere Diskussion.181) Die Vorteile für den Konzern und die Einzelgesellschaft sind zu bestimmen. Die durch den Konzern bedingten Prämissen sind mannigfach.182) Grundlage ist, inwieweit die wirtschaftliche Ausrichtung und der Interessengleichlauf durch die Ausübung der einheitlichen Leitung im Zusammenhang mit der Insolvenzverursachung sowie der Verfahrenszielbestimmung in Einklang gebracht werden können, inwieweit also die ökonomische Lage der einzelnen Konzerngesellschaft von der Einbindung in den Konzern (zwingend) abhängt.183) Bedarf es also zur Erreichung der ökonomischen Verfahrensziele überhaupt noch des Konzernes in der bestehenden Form? Das gilt erst recht, wenn aufgrund der Diversifizierung im Konzern Gesellschaften einbezogen sind, die vollständig eigene Geschäftszwecke verfolgen, andere Kundenkreise haben und nicht auf Zulieferungen im Konzern angewiesen sind. Für solche Gesellschaften wird von Anfang an möglicherweise ein Verkauf, der freie Masse erschließt, sinnvoller sein, welche wiederum für die Sanierung der anderen Gesellschaften verwendet werden kann. 140 Auch die Konzernstruktur ist neu zu ordnen, vor allem zu verschlanken. Dabei kann die Verlagerung der Holding-Funktion auf eine andere beteiligte Konzerngesellschaft wesentliche Vorteile bringen, Möglicherweise ist die Verlagerung auf eine andere wesentliche Konzerngesellschaft, z. B. die Produktionsgesellschaft, etwa wegen der dortigen Bindung der Kapazität und aus Kostenersparnisgründen. Eine abschließende Aufzählung dieser Optionen ist schier unmöglich.
___________ 181) S. hierzu z. B. Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 93 ff., und Brünkmans in: MünchKomm-InsO, KonzerninsolvenzR Rz. 15 ff.; für eine Konsolidierung der Insolvenzmassen etwa Humbeck, NZI 2013, 957, 960 ff.; gegen eine einheitliche Insolvenzmasse Beck, DZWIR 2014, 381, 383 f. 182) S. hierzu umfassend Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 58 – 67. 183) So zu Recht Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 61.
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Auswirkungen des sog. „Domino-Effekts“ sind durch Beseitigung der jeweiligen Insol- 141 venzgründe zu beheben. Das gesamte gesellschaftsrechtliche Vertragswerk ist zu diesem Zwecke auf den Prüfstand zu stellen. Neben dem Recht zu fristlosen Kündigungen bieten die §§ 103 ff. InsO die Möglichkeit, das gesamte Vertragswerk auch leistungswirtschaftlich auf eine völlig neue und wirtschaftlich tragfähige Basis zu stellen.184) Aktivitäten sind ggf. von der Muttergesellschaft auf Tochtergesellschaften zu verlagern.185) Möglicherweise lassen sich Insolvenzgründe außerhalb eines eigenen Insolvenzplanverfah- 142 rens für einzelne Gesellschaften beseitigen. Durch Neuordnung der wechselseitig übernommenen Garantien im Konzern kann eine Ausgleichsausweispflicht in der Bilanz entfallen, so dass Einstellungen der Verfahren nach §§ 212, 213 InsO in Betracht kommen. Es kann sich weiterhin als sinnvoll erweisen, jede Gesellschaft einzeln zu liquidieren. Er- 143 geben sich keine Vorteile mehr aus dem Konzernverbund, so liegt darin die einzig wirtschaftlich vertretbare Lösung, wenn Rücksichtnahme im Konzern nur Nachteile für die einzelnen Insolvenzgesellschaften mit sich bringt. Trotz erheblichen öffentlichen Drucks muss jeder Insolvenzverwalter auch diese Option in seine Entscheidungsfindung einbeziehen und sie nach außen vertreten. Denn eine Kooperation im Konzern darf nicht dazu führen, dass die Insolvenzmasse und die Gläubiger einer Tochtergesellschaft durch eine konzernspezifische Lösung zur Gesamtsanierung schlechter gestellt werden als bei einer isolierten Verfahrensabwicklung.186) Das bedeutet aber immer noch nicht das Ende sinnvoller Kooperation. Auch dann werden Leistungsbeziehungen untereinander aufrechterhalten werden müssen. Darüber hinaus bestehen wechselseitige Verflechtungen in den Vermögensmassen, insbesondere im Gleichordnungskonzern, die eine gemeinschaftliche Verwertungsstrategie, gemeinschaftliche Verhandlungen mit Sicherungsgläubigern, Aufrechterhaltung der operativen Funktionen etc. ermöglichen müssen. Auch das Ziel einer möglichen Zerschlagung ist daher noch nicht zwingend das Ende einer Fortführung im Konzern, sondern bestimmt nur eine andere, gemeinschaftlich festgelegte strategische Vorgehensweise. Zwischenlösungen sind die Regel. Da die Insolvenz eines Konzerns eigentlich immer dar- 144 auf beruht, dass einzelne verlustträchtige Tochtergesellschaften nur durch eine Insolvenz aus dem Konzernverbund herausgelöst werden können, wird gerade für diese Tochtergesellschaften immer zu klären sein, ob der Konzernverbund sowohl für die Tochtergesellschaften als auch den Konzernverbund noch Vorteile oder nur noch Nachteile bringt. Ist das zu verneinen, bleibt nur die weitere Liquidation dieser Gesellschaften i. R. des Insolvenzverfahrens. Um insbesondere die Möglichkeiten einer sanierenden Übertragung verbessern zu können, kann dennoch regelmäßig die Fortführung im Konzernverbund erhebliche Vorteile mit sich bringen, indem z. B. andere Einheiten auf diese Gesellschaft/-en übertragen werden. Diese strategischen Optionen kumulieren schließlich in der teilweisen Konsolidierung und 145 Restrukturierung. Die Insolvenzverwalter werden einen neuen, möglicherweise kleineren, aber effizienteren Konzern zu bilden und nach neuen Anteilseignern zu suchen haben. Im Vorfeld sind Auffanggesellschaften zu gründen, die Holding-Funktionen übernehmen können, in welche dann die weitergeführten, durch den Insolvenzplan geretteten Tochtergesellschaften und neu geschaffene Gesellschaften eingebracht werden können.
___________ 184) S. hierzu Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 62 – 65. 185) S. hierzu Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 64. 186) Brünkmans in: MünchKomm-InsO, KonzerninsolvenzR Rz. 10.
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§ 22 7.3
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung Mittel der Koordination
146 Sind die taktischen und strategischen Ziele eines Konzerninsolvenzverfahrens bestimmt, sind die besten Mittel einer solchen Verfahrenskoordination festzulegen. Hervorzuheben sind folgende Varianten: x
Regelinsolvenzverfahren oder Eigenverwaltung;
x
Masterplan für alle Insolvenzverfahren;
x
Koordinationsverträge zwischen den Verwaltern;
x
Kooperationsverträge mit und zwischen den Gerichten;
x
Insolvenzplanverfahren.
147 Die Eigenverwaltung bietet Vorteile für die weitere Ausübung der Konzernleitungsmacht. Gerade in dem Erhalt der Konzernstruktur wird ein wesentliches Ziel eines effektiven Konzerninsolvenzrechts gesehen, das sich durch eine einheitliche Leitungsmacht oder Beherrschungsmöglichkeit auszeichnet.187) Daher wird auch dafür plädiert, ein konzernspezifisches Sachwalterverfahren einzuführen, um die Konzernstrukturen aufrechtzuerhalten.188) Unternehmensverträge und die sich hieraus ergebenden Möglichkeiten sind nicht automatisch suspendiert. Die Fortführung setzt allerdings voraus, dass entsprechende Ausgleiche geschaffen werden.189) Dabei kann auch für das im Konzernverbund wesentlichste Verfahren ein Insolvenzverwalter eingesetzt werden, der bei den Tochtergesellschaften zum Sachwalter bestellt wird,190) um Großunternehmen mit verschachtelten konzernrechtlichen Beziehungen abzuwickeln.191) Die Gläubiger werden der Eigenverwaltung aber nur dann zustimmen, wenn Schuldner bzw. Schuldnervertreter zuverlässig, kompetent und vertrauenswürdig sind, die Sanierung oder Liquidation in eigener Kompetenz durchzuführen.192) 148 Schon die Fortführung in der Konzerninsolvenz bedarf eines Masterplanes.193) Dieses Erfordernis stellt sich erst recht im Insolvenzplanverfahren.194) Regelmäßig vorbereiten kann einen solchen Masterplan nur der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft oder der Gesellschaft, die faktisch die Konzernleitungsmacht ausübt. Zur Umsetzung bedarf es jedoch wiederum verbindlicher Regelungen mit den einzelnen Insolvenzverwaltern, wenn nicht nur auf freiwilliger Basis kooperiert werden soll.195) Das gilt vor allem in der Anfangsphase, wenn noch gewisser Druck ausgeübt werden kann, um entsprechende Kapazitäten auch einer rein administrativen Muttergesellschaft weiterhin bereitzustellen. Diese Verträge müssen alle sich ergebenden Fragestellungen einschließlich der Honorierung von wechselseitigen Leistungen im Konzern und vor allem auch einen möglichen Nachteilsausgleich einbeziehen. Dasselbe gilt für Koordinationspflichten, Mitteilungspflichten, Anzeigepflichten und insbesondere auch die Errichtung eines geeigneten Risikokontrollsystems.196)
___________ Madaus, ZRP 2014, 192, 195. Siemon/Frind, NZI 2013, 1, 9 ff. S. hierzu insgesamt die Zusammenfassung bei Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 324 – 327. Vgl. Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 38. S. hierzu auch Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 270 Rz. 10 m. w. H. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 270 Rz. 5. Vgl. die umfangreichen Ausführungen zum Gruppen-Koordinationsplan als flankierender Masterplan i. R. des Art. 72 Abs. 1 Satz 1 lit. b EuInsVO, die entsprechend gelten, bei Vallender-Fritz, EuInsVO, Art. 72 Rz. 16 ff., und bei Fritz, DB 2015, 1945, 1948. 194) S. hierzu Verhoeven, Die Konzerninsolvenz, S. 134 – 138. 195) S. hierzu vor allem Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528, 542 f.; Eidenmüller, ZZP 114 (2001) 3, 10 f. 196) S. zu möglichem Inhalt, Eidenmüller, ZZP 114 (2001) 3, 10 f.
187) 188) 189) 190) 191) 192) 193)
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§ 22
Partner der Insolvenzverwaltungsverträge sollen auch die zuständigen Insolvenzgerichte 149 sein können.197) Eine solche Einbindung kann sich jedoch nur auf die Maßnahmen gemäß § 21 Abs. 1, § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 InsO erstrecken. Ob Zuständigkeitsvereinbarungen möglich sind, bestimmt sich nach allgemeinen Grundsätzen. Insolvenzpläne stellen das wesentliche Mittel zur Restrukturierung im Konzern dar.198) 150 Wenn auch ein einheitlicher Insolvenzplan für alle von der Insolvenz betroffenen Gesellschaften ausgeschlossen ist, so ist eine Konsolidierung dieser Einzelpläne dennoch möglich, ja zwingend.199) Das erfordert für die führende Gesellschaft, die nicht unbedingt die gesellschaftsrechtliche Muttergesellschaft sein muss, die Erstellung eines Masterplanes.200) Inhaltlich muss dieser Masterplan neben den erforderlichen Ausführungen im darstellenden und gestaltenden Teil zunächst vorsehen, in welcher Weise zukünftig die Leistungsbeziehungen zwischen den einzelnen Gesellschaften zu regeln sein werden. Die neue Konzernstruktur ist aufzuzeigen. Soweit Zustimmungen, insbesondere der Sicherungsgläubiger, einzuholen sind, müssen diese Maßnahmen regelmäßig über die Muttergesellschaft vorbereitet werden. Die verbundenen Gesellschaften sind i. R. der Gesamtabsicherung einzubeziehen. Ziel des Masterplanes muss die Beseitigung der Insolvenzgründe bei den einzelnen Gesellschaften sein. Soll die Muttergesellschaft erhalten bleiben, müssen neben den Beteiligungen auf der Aktivseite auch die Forderungen im Konzernverbund wieder werthaltig gemacht werden. Auch wenn die Masterplanung zunächst möglicherweise allein in der Hand des Insolvenzverwalters der Muttergesellschaft liegt, müssen damit die Insolvenzverwalter bei den einzelnen Tochtergesellschaften einbezogen werden, um auch für sie auf dieser Basis ein profitables und damit werthaltiges Unternehmen der Gesellschaft zu gewährleisten. Lassen sich für einzelne Gesellschaften i. R. dieser Masterplanung Mithaftungen vermeiden, so kann wegen Wegfalls der entsprechenden Verpflichtungen möglicherweise sogar erreicht werden, dass für einzelne Gesellschaften die Insolvenzgründe entfallen, so dass die Insolvenzverfahren über deren Vermögen nach §§ 212, 213 InsO eingestellt werden können. Zur Abstimmung über den jeweiligen Insolvenzplan berechtigt sind nur die jeweiligen 151 Gläubiger der betroffenen Gesellschaft. Wenn auch möglicherweise wirtschaftlich sinnvoll, ist es damit ausgeschlossen, Gläubiger anderer Insolvenzverfahren als abstimmungsberechtigte Gruppe für andere Insolvenzverfahren einzubeziehen.201) In der Regel wird eine solche Einbeziehung aber gar nicht erforderlich sein, da im Wesentlichen insbesondere auf Seiten der Sicherungsgläubiger mit den zumeist höchsten Insolvenzforderungen in allen Insolvenzverfahren immer dieselben Beteiligten involviert sein werden. 7.4
Umsetzung in der Praxis nach nationalem Recht
Um die Möglichkeiten und Ziele einer koordinierten Fortführung in der Konzerninsolvenz 152 erreichen zu können, müssen zwei wesentliche Beteiligte mitspielen, Gerichte und Insolvenzverwalter. An dieser Stelle helfen die Regelungen der InsO zur prozeduralen Konsolidierung in der Konzerninsolvenz, die mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen am 21.4.2018 hinzugefügt wurden. Dabei wurde ___________ 197) Vgl. Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528, 542 f., 553, zur Zulässigkeit allgemein Eidenmüller, ZZP 114 (2001) 3, 15 – 18. 198) S. hierzu im Einzelnen Pleister/Theusinger in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 43 Rz. 1 ff.; Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 351 – 364. 199) S. Uhlenbruck, NZI 1999, 41, 43. Madaus, ZRP 2014, 192, 195 f., plädiert daher für die Einführung eines Konzernplanverfahrens. 200) S. hierzu Rotstegge, Konzerninsolvenz, S. 354 – 359; Verhoeven, Die Konzerninsolvenz, S. 134 – 138. 201) Uhlenbruck, NZI 1999, 41, 43.
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auf eine materielle Konsolidierung in einem einheitlichen Verfahren, also die Zusammenführung der Massen verschiedener Unternehmensträger, verzichtet. 153 Zu beachten ist, dass die deutschen Regelungen zur Zusammenarbeit und Kommunikation der Verwalter und Gerichte (§§ 269a, 269b, 56b Abs. 1 InsO) und zum Gruppen-Koordinationsverfahren (§§ 269d bis 269i InsO) gemäß Art. 102c § 22 EGInsO nur eingeschränkt anwendbar sind, sofern – die Eröffnung des Anwendungsbereichs der EuInsVO (siehe hierzu Rz. 15) unterstellt – Unternehmen einer Unternehmensgruppe i. S. v § 3e InsO auch einer Unternehmensgruppe i. S. von Art. 2 Nr. 13 EuInsVO angehören. In diesem Fall sind die deutschen Regelungen (§§ 56a Abs. 1, 269a, 269b, 269d bis 269i InsO) gegenüber den Art. 56, 57 bzw. Art. 61 – 77 EuInsVO subsidiär (siehe dazu unten Rz. 190 ff.). Ist bei mehreren Verfahren gruppenangehöriger Schuldner in verschiedenen Mitgliedstaaten die Kooperation innerhalb von zwei oder mehreren deutschen Verfahren angesprochen, so ist die EuInsVO ebenfalls vorrangig anzuwenden, da dieser Sachverhalt auf Gruppenebene ebenfalls eine einheitliche Koordination erfordert.202) Soweit das Unionsrecht nicht in seiner Wirksamkeit beeinträchtigt wäre, wäre gleichwohl die Anwendung strengeren deutschen Rechts zulässig.203) Sind in einer Unternehmensgruppe – auch mit Tochterunternehmen im Ausland – ausschließlich innerstaatliche Insolvenzverfahren eröffnet, so entfaltet Art. 102c § 22 EGInsO keine Wirkung und es bleibt bei der Anwendung des deutschen Konzerninsolvenzrechts.204) 7.4.1 Zuständigkeit und Zusammenarbeit der Insolvenzgerichte 154 Für die Zuständigkeit der Insolvenzgerichte ist grundsätzlich § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO heranzuziehen, wonach zunächst für jede Konzerngesellschaft das Insolvenzgericht zuständig ist, in dessen Bezirk dessen allgemeiner Gerichtsstand liegt. Abweichend hiervon begründet der Mittelpunkt der selbständigen Tätigkeit die ausschließliche Zuständigkeit des für diesen Bezirk zuständigen Insolvenzgerichtes (§ 3 Abs. 1 Satz 2 InsO). Allein aus der Konzernzugehörigkeit ergibt sich keine Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO.205) 155 Unter den Voraussetzungen des § 3a InsO kann zudem ein Gruppen-Gerichtsstand begründet werden. Hierbei kann sich das angerufene Insolvenzgericht für die Insolvenzverfahren über andere gruppenangehörige Schuldner (Gruppen-Folgeverfahren) für zuständig erklären, § 3a Abs. 1 Satz 1 InsO. Der Antrag nach § 3a Abs. 1 InsO muss von einem Schuldner gestellt werden, der einer Unternehmensgruppe i. S. von § 3e InsO angehört (siehe Rz. 3 f.). Aus § 3c Abs. 2 InsO lässt sich ableiten, dass dieser Gerichtsstand ein Wahlgerichtsstand ist, der neben die an sich ausschließlichen Gerichtsstände nach § 3 InsO tritt.206) Anderen gruppenangehörigen Schuldnern steht es frei, unabhängig von dem GruppenGerichtsstand einen Insolvenzantrag an ihrem allgemeinen Gerichtsstand zu stellen. Falls ein besonderer Koordinationsbedarf gegeben ist, ist jedoch hiervon abzuraten, da die Koordination der einzelnen Verfahren um die verpflichtende Zusammenarbeit mehrerer Insolvenzgerichte erschweren würde, vgl. § 269b InsO. Hinzu kommt, dass das andere angerufene Insolvenzgericht das Verfahren nach billigem Ermessen ohnehin an das Gericht des Gruppen-Gerichtsstands verweisen kann (§ 3d Abs. 1 Satz 1 InsO). Dabei hat es unter ___________ 202) Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 102c EGInsO § 22 Rz. 6; Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 13, 14. 203) Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 102c EGInsO § 22 Rz. 7; Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 14. 204) Vgl. Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 102c EGInsO § 22 Rz. 3 sowie Rz. 6; Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 14. 205) Verhoeven, Die Konzerninsolvenz, S. 142 f. 206) Braun-Baumert, InsO, § 3a Rz. 7.
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Berücksichtigung des Verfahrensstands zu prüfen, ob die Verweisung dem Interesse der Gläubiger entspricht.207) Ist das Insolvenzverfahren eröffnet, so geht das Antragsrecht aus § 3a Abs. 1 InsO auf den Insolvenzverwalter über, § 3a Abs. 3 InsO. Um Verzögerungen zu vermeiden, ist in diesem Fall derselbe Insolvenzrichter für die Gruppen-Folgeverfahren zuständig (§ 3c Abs. 1 InsO).208) § 269b Satz 1 InsO normiert Kooperationspflichten zwischen den Insolvenzgerichten, 156 wenn die Insolvenzverfahren über das Vermögen von gruppenangehörigen Schuldnern bei verschiedenen Insolvenzgerichten geführt werden. Diese Zusammenarbeit erschöpft sich indes bereits im Austausch von Informationen, die für das andere Verfahren von Bedeutung sein können. Hierunter fallen Informationen betreffend die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen, die Eröffnung des Verfahrens, die Bestellung eines Insolvenzverwalters, wesentliche verfahrensleitende Entscheidungen, den Umfang der Insolvenzmasse sowie die Vorlage von Insolvenzplänen und sonstige Maßnahmen zur Beendigung des Insolvenzverfahrens (§ 269b Satz 2 InsO). Im eröffneten Verfahren sind daher Berichtstermine, Abstimmungs- und Erörterungstermine zumindest in der zeitlichen Planung aufeinander eng abzustimmen. Eine koordinierte Vorgehensweise erfordert frühzeitige Entscheidungen, in denen alle betroffenen Gesellschaften einzubeziehen sind. Eine effektive Koordination einzelner Verfahren ist nicht mehr möglich, wenn zwischen den jeweiligen Terminen bei den einzelnen Gesellschaften mehrere Monate liegen. 7.4.2 Einheitlicher Insolvenzverwalter und Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter Heftig diskutiert wurde, ob ein Insolvenzverwalter für alle Verfahren bestellt werden 157 kann.209) § 56b InsO brachte insoweit Klarheit, als dieser die Insolvenzgerichte zur Abstimmung über die Bestellung eines Insolvenzverwalters für alle Insolvenzverfahren der gruppenangehörigen Schuldner verpflichtet. Denklogisch ist hierbei vorauszusetzen, dass zuvor kein einheitlicher Gruppen-Gerichtsstand gewählt worden ist und die Insolvenzverfahren nicht bereits bei einem Insolvenzverfahren anhängig sind, da sich ansonsten eine Abstimmung erübrigen würde. Relevant ist diese Frage bereits und gerade im Eröffnungsverfahren. Die gleiche Diskussion entwickelt sich, wenn aus einer Insolvenzverwaltergesellschaft mehrere Insolvenzverwalter für konzernverbundene Gesellschaften bestellt werden. Die nachstehenden Ausführungen gelten daher entsprechend. Wenn auch die Aus- und Abgrenzungskriterien im Laufe des Antragsverfahrens herausge- 158 arbeitet werden können, sind sie zumindest bei Antragstellung in den jeweiligen Verfahren nicht offensichtlich. Für alle Gesellschaften sind schon in den ersten Stunden und Tagen für den Gesamtfortgang des Verfahrens wesentliche Entscheidungen zu treffen. Das macht eine abgestimmte Vorgehensweise über alle betroffenen Gesellschaften dringend erforderlich. Daher ist gerade im Eröffnungsverfahren die Bestellung nur einer Person über alle Gesellschaften als vorläufiger Insolvenzverwalter oder vorläufiger Sachwalter angebracht. Konzernerfahrene und verantwortungsbewusste vorläufige Verwalter müssen und werden das Gericht im Laufe des Eröffnungsverfahrens von sich aus auf bestehende Interessenkonflikte und bessere Abwicklungsmöglichkeiten hinweisen. Wenn das Gericht in diese Unabhängigkeit des von ihm ins Auge gefassten Verwalters nicht das Vertrauen hat, muss es andere Personen einsetzen.
___________ 207) Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 20. 208) Kübler in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 16 Rz. 35 m. w. N. 209) Zum ehem. Meinungsstand s. Frind in: HambKomm-InsO, 5. Aufl. 2014, § 56 Rz. 41a ff.
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159 Wenn man auch keine Pflicht zur Einsetzung eines einheitlichen Insolvenzverwalters annehmen kann,210) werden Insolvenzgerichte, falls Insolvenzverfahren über gruppenangehörige Schuldner bei mehreren Insolvenzgerichten anhängig sind, gemäß § 56b Abs. 1 InsO (i. V. m. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO) verpflichtet sein, über die Einsetzung eines einheitlichen (vorläufigen) Insolvenzverwalters abzustimmen. 160 Jedes sachkundige Gericht wird bei seiner Entscheidung jedoch verschiedene Umstände in seine Ermessungsentscheidung einzubeziehen haben. Die Einsetzung eines einheitlichen Insolvenzverwalters wird jedenfalls nachdem ein Gruppen-Gerichtsstand festgelegt wurde, regelmäßig dem Interesse der Gläubiger entsprechen, da ansonsten der zeitaufwendige Abstimmungsbedarf der einzelnen Verwalter die Sanierung der Unternehmensgruppe erheblich erschweren und verzögern würde.211) 161 Einen wesentlichen Vorteil der einheitlichen Verwalterbestellung stellt die Verbesserung der Verfahrensabwicklung dar. Informationsdefizite lassen sich vermeiden. Dasselbe gilt für die erforderliche, laufende Abstimmung. Eine einheitliche Vorgehensweise gegenüber Gläubigern und insbesondere auch den Sicherungsgläubigern wird erleichtert. Damit werden die Chancen für eine einheitliche Fortführung in den Konzernunternehmen sowie die Sanierungs- und Verwertungsstrategien erheblich verbessert.212) 162 Gegen die Einsetzung eines einheitlichen Insolvenzverwalters spricht vor allem die Möglichkeit von Interessenkollisionen.213) Das betrifft sowohl die optimale Verwertung der Einzelmassen als auch mögliche Anfechtungsansprüche oder sonstige insolvenzspezifische Ansprüche im Konzern. Dasselbe gilt für die Erfüllung noch unerfüllter Verträge sowie die Ausübung der Wahlrechte nach §§ 103 ff. InsO. Schließlich sind wechselseitig bei den konzernverbundenen Gesellschaften Insolvenzforderungen anzumelden und festzustellen. Auch die Wahl der Person des einheitlichen Insolvenzverwalters kann zu Unstimmigkeiten führen. Solche Interessenkonflikte lassen sich sicherlich durch die Bestellung von Sonderinsolvenzverwaltern im Einzelnen oder auch eines einheitlichen Sonderinsolvenzverwalter in der Konzerninsolvenz i. S. des § 56b Abs. 2 Satz 3 InsO eingeschränkt vermeiden oder umgehen; ergänzt durch eine verstärkte Dokumentationspflicht in den jeweiligen Berichten zur Absicherung der Verwalterhaftung aus § 60 InsO.214) Auch die Befreiung vom Verbot des In-sich-Geschäftes nach § 181 BGB durch die jeweiligen Gläubigerversammlungen oder Gläubigerausschüsse kann insoweit wesentliche Erleichterung bringen.215) 163 Letztendlich wird jedoch eine sachgerechte Lösung nur im Einzelfall möglich sein. Ergibt sich von vorneherein ein derart hohes Konfliktpotential zwischen den verflochtenen und verbundenen Gesellschaften, dass quasi die gesamte Leistungsbeziehung auf dem Prüfstand steht, so bietet die die Einsetzung eines Sonderinsolvenzverwalters keine angemessene Lösung. Welchen Sinn hat eine einheitliche Verwalterbestellung außerdem, wenn einzelne Gesellschaften vollständig eigenständig abgewickelt werden können und sich für sie keine Vorteile aus der Konsolidierung ergeben? 164 Dasselbe gilt, wenn sich gar kein Koordinationsbedarf ergibt. Wurde in der Vergangenheit schon eine Gesellschaft völlig eigenständig geführt, hat sie einen eigenen Kunden- und ___________ 210) S. hierzu Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 157 f. 211) Pannen in: HambKomm-InsO, § 3a Rz. 7; Mock, DB 2017, 951, 952. 212) S. hierzu m. umfangr. w. Literaturhinweisen Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 129 – 131. 213) So bereits vorhergesehen durch den Gesetzgeber in § 56b Abs. 1 Satz 2 sowie Abs. 2 Satz 3 InsO. 214) S. a. insoweit Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 145 – 148; Andres/Möhlenkamp, BB 2013, 579, 583. 215) S. wiederum Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 148 f.
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Finanzierungskreis sowie eigene Fortführungs- oder Überleitungsmöglichkeiten, so kann uneingeschränkt auch auf einen anderen Insolvenzverwalter zugegriffen werden. Jeder Insolvenzverwalter, der trotzdem auch diese Gesellschaft in seinen Verwaltungsbereich einbeziehen will, setzt sich nur des Verdachtes aus, nur aus Gebührenoptimierung zu handeln. Einzubeziehen ist weiterhin, ob der Insolvenzverwalter selbst, auch unter Einbeziehung 165 eines anderen Verwalters seines Büros und der gesamten Betriebsorganisation, in der Lage ist, mit den vorhandenen Kapazitäten einen Konzern zu steuern. Er muss immer noch in der Lage sein, seinem persönlichen Verwaltungsauftrag nachzukommen. Hierbei ist eine gewissenhafte Selbstprüfung wesentlich.216) Bei mehreren hundert verflochtenen Tochtergesellschaften weiß jeder Insolvenzverwalter, dass er bei der Verfahrensbewältigung an seine Grenzen geht. Sollten sich Zweifel auch nur andeuten, so sollte das auf Grundlage der im vorläufigen Verfahren gewonnenen Erkenntnisse auch dem Gericht angezeigt werden. Vorschläge des beauftragten Sachverständigen oder Insolvenzverwalters, dritte Insolvenzverwalter aus anderen Büros hinzuzuziehen, wird ein zuständiges Gericht mit Sicherheit in seine Erwägung einbeziehen. Zutreffend und relevant ist in jedem Falle der Hinweis von Brünkmans zu den konzernspe- 166 zifischen Dokumentations- und Berichtspflichten. Im Falle eines Einheitsverwalters (dies gilt auch bei Verwaltern aus der gleichen Sozietät) sind erhöhte Anforderungen an die Transparenz und Dokumentation zu stellen. Gerade bei konzerninternen Transaktionen – man denke an wechselseitige bzw. interne Dienstleistungen der Konzerngesellschaften untereinander (Einkauf, zentrale Dienste, Controlling, Verkauf etc.) i. R. der Fortführung – ist streng darauf zu achten, dass diese Vorgänge „at-arms-length“ sind. Es muss dokumentiert sein, auf welcher Basis etwa Umlagen oder Konzernpreise vereinbart wurden. Schon von vorneherein darf nicht der Verdacht entstehen, dass ein Verfahren das andere subventioniert. Eine finanzielle Unterstützung einer anderen Konzerngesellschaft muss zu marktüblichen Konditionen vereinbart werden. Die Wirtschaftlichkeit ist aus Sicht beider oder mehrerer Verfahren zu prüfen und zu dokumentieren. Es gelten also die Ausführungen zum innerdeutschen Konzern in gleicher Weise. Sind mehrere Insolvenzverwalter gruppenangehöriger Schuldner nebeneinander eingesetzt 167 und nicht von einem einheitlichen Insolvenzverwalter nach § 56b InsO Gebrauch gemacht worden, sieht § 269a InsO die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterrichtung der Insolvenzverwalter vor, soweit hierdurch nicht die Interessen der Beteiligten des Verfahrens beeinträchtigt werden. Konkret wird die Norm nur für den Fall, dass Informationen, die für das andere Verfahren von Bedeutung sein können, angefordert wurden. In diesem Fall sind diese unverzüglich zur Verfügung zu stellen, § 269a Satz 2 InsO. 7.4.3 Koordination über Gläubigerausschüsse Eine Koordination ist aber auch über die (vorläufigen) Gläubigerausschüsse möglich. Zwar 168 ist für jedes einzelne Insolvenzverfahren ein eigener Gläubigerausschuss einzusetzen. Eine Zusammenarbeit dieser wird durch § 269c InsO erleichtert. Dort wird dem Gericht des Gruppen-Gerichtsstands ermöglicht, nach Anhörung der anderen Gläubigerausschüsse einen Gruppen-Gläubigerausschuss einzusetzen. Dieser soll sowohl die oder den einheitlichen Insolvenzverwalter und die Gläubigerausschüsse in den einzelnen Verfahren, um eine abgestimmte Abwicklung dieser Verfahren zu erleichtern.
___________ 216) Insgesamt zur höchstpersönlichen Amtsführung in der Konzerninsolvenz s. wiederum Brünkmans, Koordinierung von Insolvenzverfahren, S. 149 – 157.
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7.4.4 Koordinationsverfahren (§§ 269d ff. InsO) 169 Über die erörterten Koordinationsmöglichkeiten hinaus bieten die §§ 269d ff. InsO die Möglichkeit, ein Koordinationsverfahren durchzuführen. Auch hierbei handelt es sich lediglich um eine prozessuale Konsolidierung. Es soll als Dieses Verfahren soll also als komplettierendes und fakultatives Element dienen.217) 170 Dieses sog. „Koordinationsverfahren“, besteht aus den Bausteinen x
Koordinationsgericht (§ 269d InsO),
x
Verfahrenskoordinator (§§ 269e bis 269g InsO) und
x
dem Koordinationsplan (§§ 269h bis 269i InsO).
171 So sinnvoll in der Praxis die Hinzuziehung eines Mediators sein kann, so schwerfällig erscheint das Koordinationsverfahren. Es wird auf Antrag durch das zuvor für die Gruppenfolgeverfahren zuständige Gericht – hier als Koordinationsgericht – eingeleitet (§ 269d InsO). Antragsberechtigt ist jeder gruppenangehöriger Schuldner bzw. nach Eröffnung dessen Insolvenzverwalter. Dann bestellt das Koordinationsgericht einen von Schuldnern und Gläubigern unabhängigen Koordinationsverwalter (§ 269e InsO), welcher – soweit dies im Interesse der Gläubiger liegt – für eine abgestimmte Abwicklung der Verfahren zu sorgen hat und hierzu einen Koordinationsplan vorlegen kann.218) 172 Dieser Koordinationsverwalter und dieses Verfahren, das eigentlich den Gruppenmehrwert heben soll, verursacht wiederum Mehrkosten.219) Er hat einen eigenen Anspruch auf Vergütung (siehe § 269g InsO und unten Rz. 184 ff.). 173 Der Koordinationsplan kann grundsätzlich vom Koordinationsverwalter vorgeschlagen werden. Wenn ein Konzerninsolvenzverwalter nicht bestellt ist, können die Verwalter der gruppenangehörigen Unternehmen einen solchen Plan nach § 269h Abs. 1 InsO auch gemeinsam dem Koordinationsgericht vorlegen. § 269d Abs. 1 InsO setzt voraus, dass zunächst nach § 3a InsO ein Koordinationsgericht mittels vorangegangenen Antrags bestimmt wurde bzw. sich für zuständig erklärte. Damit bedarf es also auch in dem Falle, in dem kein Koordinationsverwalter bestellt und auch ggf. ursprünglich keine gerichtliche Gruppenzuständigkeit beantragt wurde, spätestens dann wieder der Beachtung dieser gerichtlichen Verfahrensschritte, wenn ein Koordinationsplan durch die verschiedenen Verwalter als sinnvolles Instrument erachtet wird. Das Koordinationsgericht hat dann über den Plan zu befinden. Falls ein Gruppen-Gläubigerausschuss bestellt ist, bedarf er zudem dessen Zustimmung (vgl. § 269h Abs. 1 Satz 2 InsO). 174 Zum Inhalt des Koordinationsplanes enthält § 269h Abs. 2 InsO lediglich Empfehlungen zu dessen „darstellendem Teil“,220) von denen im Plan auch abgewichen werden kann.221) So kann der Plan etwa Vorschläge zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Konzernunternehmen, zur Beilegung gruppeninterner Streitigkeiten oder zu Vereinbarungen zwischen den Verwaltern beinhalten. Im Rahmen der Vorschläge für die Sanierung der Gruppe können aber auch Vorschläge zu finanziellen Ausgleichszahlungen gemacht werden. Ist etwa die gemeinsame Sanierung für ein Unternehmen nachteilig, weil dessen Liquidation bessere Ergebnisse für die Gläubiger erzielt hätte als eine Übertragung nach defizitärer Fortführung, kann das über diesen Plan zumindest als Vorschlag ___________ 217) 218) 219) 220) 221)
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Leutheusser-Schnarrenberger, ZIP 2013, 98, 100. Leutheusser-Schnarrenberger, ZIP 2013, 98, 102. Fölsing, ZInsO 2013, 413, 418. Dellit, Der Konzern 2013, 190, 193. Graeber, ZInsO 2013, 409, 412.
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geregelt werden.222) Dagegen trifft der Plan selbst keine verbindlichen Regelungen. Er hat somit auch keinen gestaltenden Teil oder gilt als Plan im einzelnen Verfahren.223) Der Koordinationsverwalter ist allein nach § 269f Abs. 1 InsO ermächtigt, den Koordinationsplan in die jeweiligen Gläubigerversammlungen einzubringen. Der jeweilige Verwalter bzw. Planersteller in einem der Gruppen-Insolvenzverfahren ist dagegen frei, diese Vorschläge zu übernehmen. Er muss dann erläutern, warum er von dem Koordinationsplan abwich, § 269i Abs. 1 Satz 2 InsO.224) So sehr damit das mit der Einführung des Koordinationsplanes verbundene Anliegen zu begrüßen ist, den Planinhalt richtig zu erfassen und flexibel zu gestalten, wird dabei wieder deutlich, dass das Modell der Plankoordination nur über den Preis einer gesteigerten formellen Komplexität erreicht wird. In diesem Kontext wäre auch die Öffnungsklausel für Vereinbarungen zwischen den In- 175 solvenzverwaltern (vgl. die Erwähnung in § 269h Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 InsO) grundsätzlich sinnvoll. Den Insolvenzverwaltern sollte – unabhängig vom Koordinationsplan – weitreichende Flexibilität zum Abschluss von Vereinbarungen oder Protokollen ermöglicht werden.225) Es stellt sich aber die Frage, warum diese Annahme dann nur im Abschnitt zum Koordinationsverfahren und dort in den speziellen Regelungen zum Koordinationsplan enthalten ist. Man könnte vertreten, dass diese Möglichkeit nur i. R. eines solchen Verfahrens eröffnet sein soll. Um diese Beschränkung zu vermeiden und eine vereinbarte Kooperation auch in Fällen einzuräumen, bei denen es nicht zu einem solchen Koordinationsverfahren bzw. -plan kommt, wäre es besser und der Systematik entsprechend gewesen, die generelle Möglichkeit, Vereinbarungen zu treffen, in die Regelungen zu den allgemeinen Kooperationspflichten (§ 269a InsO) einzubeziehen. 8.
Vergütungsrechtliche Berücksichtigung konzernrechtlicher Fragestellungen?
Konzern- oder gesellschaftliche Verflechtungen haben in der Praxis erhebliche Auswir- 176 kungen auf die Vergütung der einzelnen Verwalter. Das bestehende System der Vergütungsregelungen wird mit völlig unterschiedlichen Lösungsansätzen heftig diskutiert.226) Diese Lösungsansätze zu diskutieren, ist jedoch nicht Aufgabe des vorliegenden Beitrages. Insoweit wird auf die einschlägige Literatur verwiesen. 8.1
Grundsätzliches
Das Vergütungsrecht folgt dem Konzerninsolvenzrecht allgemein. Die Vergütung ist für den 177 Insolvenzverwalter jeder einzelnen Gesellschaft durch das Gericht festzusetzen.227) Daher ist weder eine Gesamtmasse aller verflochtenen Gesellschaften zu bilden, noch kann eine Gesamtvergütung festgesetzt werden, die dann etwa auf alle einzelnen Insolvenzverwalter aufzuteilen wäre. Die Vergütung jedes einzelnen Insolvenzverwalters hat sich nach der bestehenden Systematik der Insolvenzverwaltervergütungsverordnung vom 19.8.1998 – zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15.7.2013 – zu richten. ___________ Dellit, Der Konzern 2013, 193. Graeber, ZInsO 2013, 409, 412, sowie Dellit, Der Konzern 2013, 190. Graeber, ZInsO 2013, 409, 412. Vgl. DiskE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen v. 3.1.2013, S. 16, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Archiv/Diskussionsentwurf_ Gesetz_zur_Erleichterung_der_Bewaeltigung_von_Konzerninsolvenzen.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Abrufdatum: 22.11.2022). 226) S. hierzu z. B. Holzer, NZI 2013, 1049 ff.; Holzer, NZI 2015, 145 ff.; U. Keller, ZIP 2014, 2014 ff. 227) Gilt entsprechend für den vorläufigen Insolvenzverwalter, dem vorläufigen und endgültigen Sachwalter.
222) 223) 224) 225)
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178 Dabei besteht kein Automatismus, dass etwa der Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft oder Holdinggesellschaft regelmäßig höher zu vergüten sei als etwa von Tochtergesellschaften. Abzustellen ist auf die Funktion der jeweiligen Gesellschaft im Konzernverbund oder die tatsächlich von dem Insolvenzverwalter erbrachte Tätigkeit. Führt z. B. ein Insolvenzverwalter die Betriebsgesellschaft uneingeschränkt fort, so erbringt er für den Gesamtkonzern ggf. eine erheblich höher zu bewertende Leistung als der Insolvenzverwalter der Obergesellschaft, der ausschließlich auf diese Weise Beteiligungswerte heben kann. 8.2
Berücksichtigung durch Zu- und Abschläge
179 Die vergütungsrechtlichen Vorschriften enthalten keinen Grundtatbestand der Vergütung eines „Gruppeninsolvenzverwalters“. Es ist daher auf das vorhandene System zuzugreifen. Daher kommen Zu- resp. Abschläge auf die sog. Normalvergütung in Betracht. Die Betriebsfortführung wird in der Berechnungsgrundlage gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 4b InsVV sowie im bestehenden Zu- und Abschlagssystem in § 3 Abs. 1 b InsVV berücksichtigt. Eine entsprechende Regelung für konzern- oder gesellschaftsrechtliche Verknüpfung findet sich dagegen nicht, so dass auf die allgemein von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zurückzugreifen ist. Allein der Umstand einer konzernrechtlichen Verflechtung rechtfertigt keinen Zuschlag. Im Umfang und der Schwierigkeit der Geschäftsführung des Verwalters wird gemäß § 63 Abs. 1 Satz 3 InsO durch Abweichung vom Regelsatz Rechnung getragen. Maßgebend hierbei ist, ob die Bearbeitung den Insolvenzverwalter stärker oder schwächer als in entsprechenden Insolvenzverfahren allgemein üblichen Anspruch genommen hat, also der gestiegene oder gefallene Arbeitsaufwand.228) Ein Zuschlag ist damit nur dann gerechtfertigt, wenn besondere Gründe hinzutreten.229) Entscheidend ist damit die tatrichterliche Würdigung. Das wiederum setzt voraus, dass der Insolvenzverwalter in seinem Vergütungsantrag konkret tatsächlich darlegt, welches Leistungsbild er entfaltet hat und welche Schwerpunkte bzw. besonderen Anforderungen hierbei auf dem konzernrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Bereich lagen.230) 180 Diese Kriterien können nicht nur zur Bestimmung von Zuschlägen hinzugezogen werden, sondern können auch zu Abschlägen von der Normalvergütung führen. Fallen auf Seiten einer Gesellschaft besondere Aufwendungen an, um den Gesamtkonzern zusammenzuhalten und den Konzern zu erhalten, so kann das gerade auf einer anderen Gesellschaft zu vermindertem Aufwand führen, da auf die Vorleistungen in dem anderen Insolvenzverfahren möglicherweise zurückgegriffen werden kann. Nach Rechtsprechung und Literatur auszuschließen ist, dass sich derselbe Faktor doppelt auswirkt, sowohl bei der Erhöhung der Berechnungsgrundlage als auch durch einen gesonderten Zuschlagsfaktor. Wird daher ein besonderer Zuschlag begehrt, so sind durch eine Vergleichsrechnung die Gebühren abzusetzen, die schon alleine auf der Erhöhung der Berechnungsgrundlage beruhen.231) Gelingt es daher z. B. dem Insolvenzverwalter der Muttergesellschaft, aufgrund einer koordinierten Vorgehensweise im Konzern Beteiligungen masseerhöhend zu veräußern, so führt diese Erhöhung der Masse zu einem Korrektiv bei der Bemessung des von ihm begehrten Zuschlages nach Maßgabe der insbesondere von Graeber entwickelten Vergleichsrechnung.232) 181 Letztendlich wird in allen Verfahren auch der in einem Konzern verflochtenen Gesellschaften i. R. einer Gesamtwürdigung die Angemessenheit zu prüfen sein.233) Nur was ist ___________ 228) 229) 230) 231) 232) 233)
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Nochmals ausdrücklich BGH, Urt. v. 16.10.2008 – IX ZB 247/06, NZI 2009, 57 = ZInsO 2009, 1030. So Haarmeyer/Mock, InsVV, § 3 Rz. 80. S. hierzu Haarmeyer/Mock, InsVV, § 8 Rz. 9 m. w. N. S. hierzu A. Graeber/Th. Graeber, InsVV, § 3 Rz. 15 – 25 m. sehr informativen Beispielen. S. hierzu A. Graeber/Th. Graeber, InsVV, § 3 Rz. 15 – 25. S. hierzu Haarmeyer/Mock, InsVV, § 3 Rz. 126.
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angemessen? Angemessenheit bedeutet immer auch Vergleich. Welcher Vergleichsmaßstab ist also heranzuziehen? Externe Vergleichsmöglichkeiten bieten hierbei die Festsetzungen in anderen nach allen Kriterien vergleichbaren Verfahren. Letztendlich entscheidend wird aber immer der interne Vergleichsmaßstab sein, entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben, dem Insolvenzverwalter eine angemessene Vergütung zu gewähren.234) Entscheidend müsste also sein, dem jeweiligen Insolvenzverwalter eine Vergütung zu gewähren, die den Bezügen eines Gesellschaftsorgans für Gesellschaften vergleichbarer Größe entspricht, unter besonderer Berücksichtigung des gesteigerten Haftungsrisikos in insolvenzrechtlichen Eilverfahren. 8.3
Vergütung eines einheitlichen Insolvenzverwalters nach § 56b InsO
Wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen einheitlichen Insolvenzverwalter für alle 182 in dem Konzern verbundenen Gesellschaften zu bestellen, so kann diese Tatsache nach den oben entwickelten Kriterien nicht alleine für sich herangezogen werden, um zu einer Multiplikation der Zuschlagsfaktoren insgesamt zu führen. Zwar ist jede Gesellschaft für sich alleine zu betrachten. Dennoch sollen ja gerade zur Bestellung eines einheitlichen Insolvenzverwalters Synergieeffekte gehoben werden. Dem widerspräche es, wenn dieser Umstand einfach herangezogen werden könnte, um in jeder betroffenen Gesellschaft isoliert einen entsprechenden Zuschlag geltend machen zu können. Insoweit wird also der Grundsatz der Einzelbetrachtung durchbrochen. Wechselseitige Zu- und Abschläge sind erforderlich. Dasselbe hat zu gelten, wenn Insolvenzverwalter aus einem einheitlichen Büro bestellt werden. Will man hiervon abweichen, so sind besondere Begründungen im Einzelfall erforderlich. Umgekehrt hat das bei der Bestellung verschiedener Insolvenzverwalter zu gelten. Werden 183 im Gesamtinteresse von einem Insolvenzverwalter besondere Leistungen erbracht, so ist das besonders zu vergüten. Umgekehrt gilt, wenn auf solche Vorbereitungen zurückgegriffen werden kann, dass auch Abschläge angemessen sein können. 8.4
Vergütung eines Verfahrenskoordinators (§ 269g InsO)
Was die Vergütung des Verfahrenskoordinators betrifft, bezieht sich § 269f Abs. 3 InsO 184 auf die allgemeinen Regeln der §§ 63 f. InsO für den Insolvenzverwalter. Zudem ergibt sich für den Verfahrenskoordinator dessen Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit und Erstattung der Auslagen explizit aus § 269g Abs. 1 Satz 1 InsO. In Entsprechung zu § 63 Abs. 1 Satz 2 InsO findet sich sodann eine Regelung, wonach der Regelsatz der Vergütung nach dem Wert der zusammengefassten Insolvenzmassen der in das Koordinationsverfahren einbezogenen Verfahren gruppenangehöriger Schuldner berechnet wird. In weiterer Entsprechung zu § 63 Abs. 1 Satz 3 InsO soll dann nach § 269g InsO auch dem Umfang und dem Schwierigkeitsgrad der Koordinationsaufgabe durch Abweichungen vom Regelsatz Rechnung getragen werden. Die für den Insolvenzverwalter durch umfassende Judikatur gefundenen Maßstäbe werden sich auch auf die Vergütung des Verfahrenskoordinators übertragen lassen. Soweit sich durch die Zusammenrechnung hohe Bemessungsgrundlagen ergeben, wird dem bei der Frage Rechnung zu tragen sein, inwieweit der Regelsatz angemessen ist. Umgekehrt gibt dieses System auch Raum in besonders komplexen, schwierigen oder aufwändigen Fällen Zuschläge zu rechtfertigen. Die Vergütung des Verfahrenskoordinators ist nach § 269g Abs. 2 InsO anteilig unter den 185 Insolvenzmassen der gruppenangehörigen Schuldner aufzuteilen. Sinnvoll ist es auch, dass im Zweifel das Verhältnis des Werts der einzelnen Massen zueinander maßgebend ist. Dass ___________ 234) S. hierzu Haarmeyer/Mock, InsVV, Vorb. Rz. 46 ff.
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diese Kosten daher auch anders als anteilig verteilt werden könnten, macht ebenfalls erst einmal Sinn. Offen bleibt aber schon einmal, wann ein anderer Maßstab gerechtfertigt wäre und wie dieser aussehen könnte. Fairerweise könnte dann eine andere Verteilung angebracht sein, wenn sich darlegen lässt, dass einzelne Verfahren gar nicht, weniger, mehr oder gar überwiegend von der Koordination profitiert haben. 186 Um böse Überraschungen und insoweit auch unnötige Kosten zu vermeiden, empfiehlt es sich, dass bereits bei Vorbereitung einer Koordination ein grundsätzliches Modell entwickelt wird, wie der Verfahrenskoordinator zu vergüten ist. Dies hängt wiederum von den Koordinationsaufgaben ab, über die sinnvollerweise je nach konkretem Fall und Aufgabenkonzept der InsO zu entscheiden sein wird. Zugleich sollte aber auch berücksichtigt werden, wie die Kosten der einzelnen Verfahren zu allokieren sind sowie bereits grundsätzlich in den jeweiligen Insolvenzverfahren bei deren Planung von vorneherein berücksichtigt werden muss, welche Kosten für Gericht, Insolvenzverwalter und Gläubigeraussch uss entstehen werden. 8.5
Gläubigerausschüsse
187 Für die Vergütung der Gläubigerausschüsse gelten die allgemeinen Regeln. Regelmäßig ist also ein Stundensatz zugrunde zu legen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang nur die Möglichkeit, die das AG Duisburg in seinem Beschluss vom 20.6.2003 für zulässig erklärt hat.235) Das AG Duisburg erachtet es für zulässig, wenn für mehrere wirtschaftlich zusammenhängende insolvenzverflochtene Gesellschaften ein einheitlicher Gläubigerausschuss mit denselben Personen besetzt wird, die Vergütung des jeweiligen Ausschussmitgliedes zunächst insgesamt einheitlich errechnet wird, und sodann auf die einzelnen Insolvenzmassen entsprechend der Bedeutung und des Umfanges der betroffenen Verfahren umgelegt wird. III.
Betriebsfortführung im Konzern außerhalb nationalen Rechts
Fritz
188 Zunächst ist das Verhältnis der nationalen Regelungen zu den Vorschriften außerhalb dieses nationalen Rechts zu klären. Weist der Konzernsachverhalt Bezüge zu einem EUMitgliedstaat auf, gelten nach den unten (siehe Rz. 190 ff.) erläuterten Voraussetzungen sowohl die Kollisions- als auch die Sachnormen der EuInsVO. Als unmittelbar geltendes europäisches Verordnungsrecht geht die EuInsVO den deutschen Vorschriften des internationalen Insolvenzrechts (§§ 335 ff. InsO) vor.236) Ist der Anwendungsbereich der EuInsVO nicht eröffnet, sind dann die §§ 335 ff. InsO anzuwenden, da es an einem der EuInsVO vergleichbaren international verbindlichen Regelwerk zur Abwicklung internationaler Insolvenzen fehlt (siehe hierzu unten Rz. 234 ff.).237) In aller Regel wird ein Konzern wegen seiner internationalen Verflechtung einen Auslandsbezug vorweisen. Insofern ist anhand der einschlägigen Kollisionsnormen zu ermitteln, welches Recht zur Beantwortung der Rechtsfragen berufen ist.238) 189 Hinsichtlich des anzuwendenden Sachrechts sieht die einheitliche europäische Kollisionsnorm des Art. 7 EuInsVO vor, dass für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats gilt, in dessen Hoheitsgebiet das Verfahren eröffnet wird (sog. lex fori concursus), soweit diese Verordnung nicht anderes bestimmt. Ähnliches sieht auch § 335 InsO bei Sachverhalten mit reinem Drittstaatenbezug vor, wonach das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen, soweit nichts anderes bestimmt ist, dem Recht des ___________ 235) 236) 237) 238)
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S. hierzu AG Duisburg, Beschl. v. 20.6.2003 – 62 IN 167/02, ZIP 2003, 1460 = NZI 2003, 502. Mock in: BeckOK-InsR, Art. 1 EuInsVO Rz. 4; BGH, Beschl. v. 3.2.2011 – V ZB 54/10 = NZI 2011, 420. Vgl. Flöther-Undritz, Konzerninsolvenzrecht, § 8 Rz. 123. Flöther-Undritz, Konzerninsolvenzrecht, § 8 Rz. 7.
Fritz
Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz- und Eigenverwaltung
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Staats unterliegen, in dem das Verfahren eröffnet worden ist. Wegen den vorrangigen Sonderanknüpfungen („soweit nichts anderes bestimmt ist“) kann es dazu kommen, dass auf die ein und dieselbe Rechtsfrage unterschiedliche Rechtsordnungen anzuwenden sind.239) Beispielhaft sei der Fall genannt, in dem über eine Konzerngesellschaft in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet wird, der Arbeitsvertrag eines Arbeitnehmers dagegen französischem Recht unterliegt. Trotz der grundsätzlichen Geltung des lex fori concursus, d. h. des deutschen Insolvenzrechts, gilt für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf dieses Arbeitsverhältnis gemäß Art. 13 Unterabs. 1 EuInsVO das weitaus arbeitnehmerfreundlichere französische Insolvenzrecht. Unterliegt das Arbeitsverhältnis deutschem Recht, so bleibt es nach Art. 7 EuInsVO bei der Geltung deutschen Insolvenzrechts. 1.
Fortführung eines Konzerns im Anwendungsbereich der EuInsVO
Insolvenzen mit internationalen Aspekten bedeuten im Hinblick auf die Betriebsfortfüh- 190 rung eine besondere Herausforderung. Auf europäischer Ebene gibt die Europäische Insolvenzverordnung (d. h. in Form der derzeit geltenden Verordnung (EU) 2015/848240) – EuInsVO)241) in einigen Bereichen Hilfestellung bzw. Rechtsklarheit. Die EuInsVO enthält in den Art. 56 – 77 dem deutschen Konzerninsolvenzrecht vergleichbare Regelungen. Für die umfassende Gegenüberstellung verweist der Autor auf die Rz. 193 ff. der Vorauflage. 1.1
Anwendungsbereich
Die EuInsVO ist in sachlicher Hinsicht auf alle öffentlichen Gesamtverfahren, einschließ- 191 lich vorläufiger Verfahren, die zeitlich ab dem 26.6.2017 eröffnet wurden, anzuwenden.242) Sie trifft einerseits Regelungen zu den europäischen Aspekten eines Insolvenzverfahrens, also für den Fall eines europaweit tätigen Schuldners und andererseits das Zusammenspiel mehrerer Verfahren (Art. 61 ff. EuInsVO) und damit auch keine Konzernsachverhalte. Welche konkreten Verfahren unter die EuInsVO fallen, ergibt sich aus Art. 1 EuInsVO i. V. m den in Anhang A bezeichneten Verfahren. Wenngleich unter der EuInsVO a. F.243) noch umstritten, fällt das deutsche vorläufige Insolvenzverfahren ebenfalls hierunter.244) Das Restrukturierungsvorhaben nach dem StaRUG ist dagegen differenziert zu betrach- 192 ten. Im Grundsatz wird es vertraulich behandelt, sodass es diesem an der nötigen Öffentlichkeit fehlt und damit nicht in Anhang A aufgenommen werden konnte. Seit Inkrafttreten der §§ 84 ff. StaRUG am 17.7.2022 konnte zumindest die öffentliche Restrukturierungssache in Anhang A aufgenommen werden. Dazu musste zunächst noch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren der EU nach Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV245) durchlaufen werden, was mit der Verordnung (EU) 2021/2260246) vollendet wurde. Der Schuldner muss daher ___________ 239) Flöther-Undritz, Konzerninsolvenzrecht, § 8 Rz. 7. 240) Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlament und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (EuInsVO), ABl. (EU) L 141/19 v. 5.6.2015. 241) Vgl. ausführlich zur EuInsVO Vallender, ZIP 2015, 1513, und Fritz, DB 2015, 1882 (Teil 1) und DB 2015, 1945 (Teil 2). 242) Zur Anwendung auf vorläufige Verfahren s. Fritz, DB 2015, 1882; soweit Art. 84 Abs. 1 EuInsVO von Verfahren spricht, die nach dem 26.6.2017 eröffnet wurden, muss dies ein Redaktionsversehen sein, wenn Absatz 2 dann zugleich die bisherige EuInsVO auf Verfahren anwenden will, die vor dem 26.6.2017 eröffnet wurden. Somit muss wohl gemeint sein, dass ab dem Stichtag des 26.6.2017 die neue EuInsVO greift. 243) Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO a. F.), ABl. (EG) L 160/1 v. 30.6.2000. 244) Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 1 EuInsVO Rz. 29. 245) Skauradszun, NZI 2021, 568, 568 f. 246) Verordnung (EU) 2021/2260 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2021 zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren im Hinblick auf die Ersetzung der Anhänge A und B, ABl. (EU) L 455/4 v. 20.12.2021.
Fritz
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die öffentliche Bekanntmachung nach § 84 Abs. 1 Satz 1 StaRUG beantragt haben, damit es sich bei dem Restrukturierungsvorhaben um ein öffentliches Gesamtverfahren i. S. des Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO handelt. In diesem Fall ist dann die einheitliche europäische Kollisionsnorm des Art. 7 EuInsVO anzuwenden (siehe dazu oben unter Rz. 189). Eine (analoge) Anwendung von Art. 7 EuInsVO auf nicht-öffentliche Restrukturierungsvorhaben wird in der Literatur dagegen abgelehnt.247) Dass nationale Restrukturierungsverfahren nicht zwingend unter die EuInsVO fallen, wird insoweit stark kritisiert.248) 193 Räumlich ist die EuInsVO bei grenzüberschreitenden Insolvenzen in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks unmittelbar anwendbares Recht, bei denen sich der COMI des Schuldners in einem Mitgliedstaat befindet und ein Bezug zu mindestens einem weiteren Mitgliedstaat gegeben ist.249) Hierbei genügt es bereits, dass die Forderung oder der Sitz eines Gläubigers in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist.250) Dies dürfte in Konzernsachverhalten regelmäßig keine Schwierigkeiten bereiten. 194 Umstritten ist, ob zusätzlich ein Binnenmarktbezug erforderlich ist. Diese Frage wird dann relevant, wenn der Auslandsbezug des in einem Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahrens zwar an sich gegeben ist, dieser jedoch zu einem Drittstaat besteht. Es wird vertreten, dass die EuInsVO auch bei einem reinen Auslandsbezug zu einem Drittstaat anzuwenden sei, da der EuGH251) im Hinblick auf die internationale Zuständigkeit dazu neigte, die EuInsVO a. F. anzuwenden und daher auch in diesem Zusammenhang eine großzügige Auslegung angezeigt sei.252) Dies könne ausnahmsweise dann nicht gelten, wenn die Vorschriften der EuInsVO ausdrücklich das Vorliegen eines „doppelten“ Mitgliedstaatenbezugs fordern.253) Andere halten die EuInsVO im Verhältnis zu Drittstaaten generell für nicht anwendbar.254) 195 Richtigerweise ist die Anwendbarkeit der EuInsVO bei einem Drittstaatenbezug nicht pauschal für die EuInsVO insgesamt zu beantworten, sondern nach Funktionalität der Normengruppen zu differenzieren.255) Nach ErwG 62 sollen die Vorschriften über die Mitwirkungen i. R. von Insolvenzverfahren nur dann gelten, wenn Vermögen verschiedener Mitglieder derselben Unternehmensgruppe in mehr als einem Mitgliedstaat eröffnet worden sind. Hieraus ist zu schließen, dass in diesem Zusammenhang zumindest Verfahren in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten eröffnet worden sein müssen.256) Somit reicht es nicht aus, wenn nur eine Gesellschaft ihren Sitz in der EU hat. Ein darüber hinaus gehender, weiterer Drittstaatenbezug dürfte der Anwendbarkeit der EuInsVO auf die Konzerngesellschaft mit COMI in einem Drittstaat nicht entgegenstehen. Ferner ist nicht erforderlich, dass über das Vermögen der Muttergesellschaft das Insolvenzverfahren in der EU eröffnet worden ist, vielmehr genügt es, wenn über Tochtergesellschaften Insolvenzverfahren in mehreren Mitgliedstaaten der EU anhängig sind.257) Reinhart hält die Regelungen der ___________ 247) Skauradszun, NZI 2021, 568, 571; Skauradszun spricht sich dort für eine analoge Anwendung von § 335 InsO aus. 248) Vgl. etwa Skauradszun, NZI 2021, 568, 572; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 1 EuInsVO Rz. 18. 249) Mock in: BeckOK-InsR, Art. 1 EuInsVO Rz. 17. 250) Mock in: BeckOK-InsR, Art. 1 EuInsVO Rz. 20. 251) EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12, NZI 2014, 134. 252) Mock in: BeckOK-InsR, Art. 1 EuInsVO Rz. 21 m. w. N.; wohl auch Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 1 EuInsVO Rz. 4. 253) Mock in: BeckOK-InsR, Art. 1 EuInsVO Rz. 21. 254) Vgl. etwa Eidenmüller, IPRax 2001, 2, 5, und Deipenbrock, EWS 2001, 113, 115 m. w. N. 255) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 1 EuInsVO Rz. 28. 256) Vallender-Hermann, EuInsVO, Art. 56 Rz. 28. 257) Vallender-Hermann, EuInsVO, Art. 56 Rz. 28; so auch Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 12.
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EuInsVO zur Konzerninsolvenz dagegen generell nur auf Gesellschaften einer Unternehmensgruppe für anwendbar, die ihren COMI nach Art. 3 EuInsVO innerhalb der EU haben bzw. über die in der EU ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.258) Angesichts des dargestellten Meinungsstands bleibt zu hoffen, dass diese relevante Rechtsfrage alsbald höchstrichterlich entschieden wird. Ausgenommen aus dem persönlichen Anwendungsbereich der EuInsVO sind gemäß Art. 1 196 Abs. 2 Versicherungsunternehmen, Kreditinstitute, Wertpapierfirmen und andere Firmen, Einrichtungen und Unternehmen, soweit sie unter die Richtlinie 2001/24/EG fallen sowie Organismen für gemeinsame Anlagen. 1.2
Auswirkungen der Zielvorgaben für eine erfolgreiche Sanierung i. R. eines europäischen Insolvenzverfahrens auf deutsche Konzerne
Folgeinsolvenzen, gerade auch von Tochtergesellschaften, sind i. S. des Werterhalts und 197 wegen Ihrer Bedeutung für die Fortführung zu vermeiden.259) Oftmals geraten an sich gesunde Konzerngesellschaften nur durch den Ausfall von Intercompany-Forderungen in Schieflage und verlieren damit ihren Wert.260) Um die nach deutschem Recht bei Überschuldung bestehende Antragspflicht zu umgehen, wird häufig in Betracht gezogen, bei ausländischen Tochtergesellschaften ein deutsches COMI zu vermeiden. Es wird versucht, Maßnahmen einzuleiten, um bislang zentral in einer deutschen Holding geführten Gesellschaften wieder mehr Eigenständigkeit einzuräumen, damit ihr COMI wieder mit deren Sitz im Ausland übereinstimmt. Zudem gilt es die Risiken eines geringeren Verwertungserlöses zu vermeiden. Auch bei verschiedenen Insolvenzverfahren in Europa ist eine einheitliche Verwertungsstrategie zu verfolgen und die Koordination dieser Verfahren erfolgreich zu meistern.261) 1.3
Schicksalsfrage COMI
Wie sich schon aus diesen Erwägungen ergibt, besteht gerade bei internationalen (Konzern-) 198 Insolvenzen auch im Interesse der koordinierten Betriebs(fort)führung ein dringendes wirtschaftliches Interesse, eine Fragmentierung der Unternehmen in der Insolvenz und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf Gläubiger und andere Beteiligte zu vermeiden.262) Die Praxis hat in verschiedenen Fällen versucht, mittels Konzentration des COMI mehre Insolvenzverfahren an einem Gericht zu bündeln und hierdurch die Bestellung eines Verwalters für verschiedene Verfahren zu erreichen.263) Nicht in jedem Falle übersteigen die Vorteile eines zentralisierten COMI auch dessen mögliche Nachteile. Schon wenn das COMI einer Konzerngesellschaft etwa nur seit kurzer Zeit, gerade auch zum Zwecke der Insolvenz, verschoben worden ist, drohen beträchtliche Nachteile. Zum einen fordert dies juristische Auseinandersetzungen über die Frage der Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens heraus. Zum anderen kann dies auch die Effektivität eines Verfahrens beeinträchtigen. Hat etwa ein Unternehmen, dessen COMI verschoben wurde, zuvor die überwiegende Mehrzahl seiner Geschäftsbeziehungen im Land seines Sitzes begründet, trifft fremdes Insolvenzrecht regelmäßig auf dortiges Vertragsrecht. Man denke ___________ 258) 259) 260) 261) 262) 263)
Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 56 EuInsVO Rz. 12. Cooper in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 593. Beck/Voss in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 601. Cooper in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 593 f. Jaffé/Friedrich, ZIP 2008, 1850. In Deutschland etwa der Fall „Automold“, AG Köln, Beschl. v. 23.1.2004 – 71 IN 1/04, ZIP 2004, 471 = ZInsO 2004, 216; vgl. hierzu ausführlich Beck/Voss in: Thierhoff/Müller Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 603 ff., sowie zum bekannten Falle „MG Rover“, Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 19.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
nur an die Schwierigkeiten, die insolvenzbedingte Lösungsklauseln in deutschen Verträgen i. R. deutscher Verfahren mit sich bringen. Kommt noch ein weiteres Insolvenzstatut ins Spiel, sind die strittigen und damit kostenträchtigen, vor allem schnelle Lösung verhindernden Auseinandersetzungen vorprogrammiert. 199 Zu Recht hat daher auch der EuGH in der sog. Rastelli-Entscheidung ausgeführt, dass etwaige nationale Regelungen, nach welchen sich die Eröffnungswirkungen des Verfahrens der einen auch auf eine andere Gesellschaft wegen Vermögensvermischung erstrecken soll, nur dann zur Anwendung kommen dürfen, wenn beide Gesellschaften ihr COMI im selben Mitgliedstaat haben.264) Für eine Betriebsfortführung ist daher, soweit möglich, schon im Vorfeld abzuwägen, ob die Zentralisierung des COMI – und der damit eher mögliche faktische Erhalt der Lenkungsmacht – die etwaigen Nachteile des Aufeinandertreffens verschiedener Rechtsysteme überwiegt. Für den Fall der nachträglichen Verlegung des COMI hat der EuGH in seiner Galapagos-Entscheidung265) entschieden, dass das Insolvenzgericht des Eröffnungsstaates nach Antragstellung zuständig bleibt und bis zur negativen Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts keine neue Zuständigkeit eines anderen Insolvenzgerichts begründet wird. 1.4
Koordination von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren
200 Das Sekundärinsolvenzverfahren ist in den Art. 34 – 52 EuInsVO geregelt. In dieser Situation handelt es sich immer nur um einen Rechtsträger. Bei Konzerninsolvenzen werden dagegen die Verfahren verschiedener Rechtsträger koordiniert. In der Praxis und besonders im Falle von Betriebsfortführungen wird versucht, ein Sekundärverfahren zu vermeiden. Dieses Verfahren ist allenfalls in bestimmten Liquidationsszenarien sinnvoll, etwa z. B. wenn eine ausländische Betriebsstätte zur Vermeidung von Kosten rasch geschlossen werden muss. Die Eröffnung eines dortigen Sekundärverfahrens bietet Möglichkeiten zur Vermeidung von Masseverbindlichkeiten, z. B. im Bereich der Löhne und Gehälter was wiederum der Fortführung erhaltenswerter Teile zugutekommen kann. 201 Wird dann ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet, bestimmen sich die Möglichkeiten der Einflussnahme und Koordination im Wesentlichen nach den folgenden Artikeln der EuInsVO: x
Art. 41 – 43: Austausch von Informationen, Pflicht zur Zusammenarbeit, wechselseitige Vorschläge zur Verwertung;
x
Art. 45: Regelungen zur wechselseitigen Forderungsanmeldung;
x
Art. 46: Antrag des Hauptinsolvenzverwalters zur Aussetzung der Verwertung im Sekundärinsolvenzverfahren (bei Sicherstellung der Interessen der dortigen Gläubiger);
x
Art. 47: Vorschlagsrecht des Hauptinsolvenzverwalters zur Beendigung des Sekundärverfahrens durch Insolvenzplan;
x
Art. 49: Auskehr eines etwaigen Überschusses im Sekundärinsolvenzverfahren an das Hauptinsolvenz-verfahren.
202 Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass in anderen Ländern, die Verfahren viel „gerichtslastiger“ sein können. So hat etwa in Frankreich die Erhaltung von Arbeitsplätzen Vorrang vor der Befriedigung der Gläubiger. Solche Unterschiede machen es im Falle dortiger Sekundärinsolvenzverfahren schwer, eine einheitliche Lösung zu finden. Um gleichwohl praxistaugliche Lösungen zu finden, haben etwa die Arbeitsgruppe Europa der Arbeitsgemein___________ 264) EuGH, Urt. v. 15.12.2011 – Rs. C-191/10 (Rastelli), ZIP 2012, 183 = NZI 2012, 148 m. Anm. Mankowski. 265) EuGH, Urt. v. 24.3.2022 – Rs. C-723/20 (Galapagos), NZI 2022, 539 = FD-InsR 2022, 448219 m. Anm. Tashiro.
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schaft Insolvenzrecht und Sanierung im DAV mit dem französischen Conseil National des Administrateurs Judicaires & des Mandataires Judicaires einen gemeinsamen internationalen Leitfaden mit dem Ziel abgestimmt, den Abschluss von Protokollen zur Abstimmung zwischen Verwaltern von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren zu ermöglichen. Als weitere Variante der Verbesserung der Koordination von Hauptinsolvenzverfahren mit 203 Sekundärverfahren besteht zudem – jedenfalls in Deutschland – die Möglichkeit, das Sekundärverfahren in Form der Eigenverwaltung zu beantragen, wobei zugleich der Hauptinsolvenzverwalter selbst oder ein mit ihm gut zusammenarbeitender Insolvenzexperte in die Geschäftsführung geht.266) Auch über die Grenzen hinweg können damit über die identischen Personen der Geschäftsleitung eine weitergehende Konzentration zur Fortführung im Konzern erreicht werden und Entscheidungsstrukturen für die Fortführung erhalten werden. Die Einleitung eines Sekundärverfahrens bietet für die Abwicklung im Konzern zwar ggf. 204 Vorteile. Das Sekundärverfahren ist aber kein geeignetes Instrument, um den Willen des Hauptinsolvenzverwalters durchzusetzen. Dessen Einflussmöglichkeiten auf den Sekundärinsolvenzverwalter und dessen Art der Verfahrensabwicklung sind nur eingeschränkt. Dem Hauptinsolvenzverwalter wird kein Weisungsrecht zugestanden.267) Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren sind weitestgehend parallel abzuwickeln.268) Auch die Beschränkung auf die Abwicklung des Sekundärinsolvenzverfahrens als Liquidationsverfahren kann für den Gesamtkonzern zu äußerst nachteiligen Konsequenzen führen.269) Vorteilhaft sind zwar die gegenseitigen Pflichten zum Informationsaustausch, Art. 41 – 43 EuInsVO. In Betracht kommt auch für den Hauptinsolvenzverwalter, Einfluss über die Identität der Gläubigerschaften auszuüben.270) Eine Vorschrift fehlt aber, die es gebietet, sich gegenseitig bei der Fortführung und i. S. des Erhalts eines übergreifenden Going-Concern-Wertes zu helfen. Theoretisch schärfste Waffe für den Hauptinsolvenzverwalter ist Art. 46 EuInsVO. Danach 205 steht dem Hauptinsolvenzverwalter ein Antragsrecht auf Aussetzung der Verwertung im Sekundärverfahren zu, wenn die Interessen des Hauptinsolvenzverfahrens berührt sind. Den Gerichten wird nur ein eingeschränktes Prüfungsrecht eingeräumt.271) Dieses Antragsrecht korrespondiert mit einer Pflicht zum Nachteilsausgleich, die auch vom Verlangen entsprechender Sicherheitsleistungen abhängig gemacht werden kann.272) Auch über Art. 47 EuInsVO werden dem Hauptinsolvenzverwalter erhebliche Einflussrechte eingeräumt. Das geht so weit, dass nach Art. 47 EuInsVO im Sekundärverfahren geplante Sanierungsmaßnahmen von der Zustimmung des Hauptverwalters abhängig zu machen sind. Aus Art. 51 EuInsVO ergibt sich das Recht für den Hauptinsolvenzverwalter die Umwandlung in ein Liquidationsverfahren zu verlangen.273) Soweit bei Haupt- und Sekundärinsolvenzen schon die Zuordnung der Vermögensgegen- 206 stände zu einem Insolvenzverfahren streitig sein kann, kann darüber hinaus streitig sein, welche Gerichte darüber zu entscheiden haben. Der EuGH hat hierzu in der Sache Nortel entschieden, dass die Gerichte des Mitgliedstaates der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens hierzu alternativ zu den Gerichten des Mitgliedstaates der Eröffnung des Haupt___________ 266) Vgl. Meyer-Löwy/Poertzgen, ZInsO 2004, 195, sowie das Beispiel „Collins & Aikman“ bei Cooper in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 595. 267) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S. 136 – 139. 268) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S. 139 – 140. 269) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S. 131 – 134. 270) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S. 144 – 146. 271) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S. 147, 148 f. 272) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S. 147. 273) Geroldinger, Verfahrenskoordination, S 148.
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insolvenzverfahrens zuständig sind.274) Das zeigt erneut, wie eingeschränkt Sekundärinsolvenzverfahren für die Fortführung im Konzern genutzt werden können. 1.5
Koordination der Verfahren im Konzern
207 Da ein Sekundärverfahren nur bei unselbständigen Vermögensmassen wie z. B. einer Betriebsstätte möglich ist, nicht aber für selbständige Konzerntochtergesellschaften, kommen bei Beteiligungsgesellschaften nur selbständige Hauptinsolvenzverfahren in Betracht. Die Fortführung in dem grenzüberschreitenden Konzern wird damit wesentlich komplexer. 208 Das Insolvenzverfahren über das Vermögen von Mitgliedern einer Unternehmensgruppe ist unter Kapitel V (Art. 56 – 77) der EuInsVO geregelt. 1.5.1 Einheitlicher Gruppen-Gerichtsstand 209 Im Europäischen Kontext führte ein Gruppen-Gerichtsstand zur Eröffnung eines Verfahrens an einem anderen Ort, genauer in einer anderen Jurisdiktion als der des tatsächlichen COMI. Einen Gruppen-Gerichtsstand entsprechend dem § 3a InsO sieht die EuInsVO dagegen nicht vor. Ein hoher Verlust an Effizienz gerade auch bei der Fortführung und hohe Zumutungen für die Gläubiger wären die Folge eines zentralisierten COMI. Ein Unternehmen, das mit dieser anderen Rechtsordnung in seinem täglichen Geschäft wenig zu tun gehabt hat, müsste nun i. R. einer ihm fremden Rechtsordnung in der Insolvenz abgewickelt werden. Der Verwalter hätte dann ein Unternehmen fortzuführen, welches z. B. in Deutschland seinen Sitz und tatsächlichen Mittelpunkt, also auch seine ganzen Vertragsbeziehungen zu Lieferanten oder Kunden hatte. Er müsste dann nach einer anderen lex fori concursus prüfen, wie sich die Insolvenz auf die Fortführung oder Beendigung dieser Verträge auswirkten würde (vgl. Art. 7 Abs. 2 lit. e EuInsVO). Hatte ein Unternehmen seinen COMI tatsächlich in einem anderen Staat, müsste bei einem richtigen Verständnis des COMI275) als Ort des Schwerpunktes der wirtschaftlichen Tätigkeit, das Unternehmen auch in dieser Jurisdiktion die Vielzahl seiner Außenbeziehungen abwickeln.276) 1.5.2 Einheitlicher Insolvenzverwalter 210 Aufgrund der vorangegangenen Erwägungen ist es sinnvoll, dass die EuInsVO trotz entsprechender Vorschläge277) keine Regelungen für die Bestellung eines „Einheitsverwalters“ vorgesehen hat. Die Verordnung sieht in Art. 57 Abs. 3 lit. a vor, dass sich die Gerichte bei der Bestellung von Verwaltern koordinieren. Insoweit kann es durchaus das Ergebnis der Koordinierung sein, aus guten Gründen einen Verwalter für mehrere Verfahren, verschiedene Kollegen einer Sozietät für verschiedene Verfahren oder ganz bewusst völlig verschiedene Verwalter zu bestellen. Dazu passt auch die europäische Sicht in Erwägungsgrund 53 EuInsVO wonach die Bestellung eines einheitlichen Insolvenzverwalters möglich sein soll, wenn es mit den ansonsten geltenden Vorschriften vereinbar ist.278) ___________ 274) EuGH, Urt. v. 11.6.2015 – Rs. C-649/13, ZIP 2015, 1299 = NZI 2015, 663 m. Anm. Fehrenbach, insbesondere zu den sich hieraus wiederum ergebenden Fragen. 275) Leider ist hier anzumerken, dass trotz der begrüßenswerten Einführung einer Definition des COMI, die EuInsVO an dieser Stelle zu Recht Kritik erntete. Vgl. etwa DAV, Stellungnahme Nr. 02/2013, abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom/id-2013-02, und Stellungnahme Nr. 14/2013, abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom/id-2013-14 (Abrufdatum jew. 22.11.2022), sowie Reuß, EuZW 2013, 165, 167. 276) So auch Fritz, DB 2015, 1945, oder Kindler, KTS 2014, 25. 277) Vgl. Andres/Möhlenkamp, BB 2013, 579 ff. 278) Fritz, DB 2015, 1945, 1946.
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Es ist daher zu fragen, wann und inwieweit dies aus Sicht der Praxis und für das Gelingen 211 der Fortführung sinnvoll ist: Hierzu ist zu prüfen, ob diese Konzentration im Interesse alle Schuldnerunternehmen liegt und sich Interessenkonflikte durch die Bestellung von Sonderinsolvenzverwaltern effektiv lösen lassen. Die Entscheidung, ob ein Einheitsverwalter bestellt werden kann, kann sich womöglich aber eben nicht schematisch allein an der Organisationsstruktur des Konzerns orientieren. Gerade die Unterschiedlichkeit kennzeichnet die Konzerne in besonderer Weise. Im Einzelnen wird insoweit auf die vorstehenden Ausführungen (siehe Rz. 157 ff.) verwiesen. 1.5.3 Kooperation der Beteiligten Die Gerichte sind gemäß Art. 57 EuInsVO zur Zusammenarbeit und Kommunikation ver- 212 pflichtet, soweit dies eine wirksame Verfahrensführung erleichtern kann, mit den für die einzelnen Verfahren geltenden Vorschriften vereinbar ist und keine Interessenkonflikte nach sich zieht. Eine Zusammenarbeit der Gläubigerausschüsse (§ 269c InsO) sieht die EuInsVO dagegen 213 nicht vor. Dafür enthält sie in Art. 58 eine Regelung zur Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter mit anderen Gerichten. Für die Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter enthält die EuInsVO jedoch weiterge- 214 hende Regelungen. Zum Beispiel ist in der InsO der Begriff der Zusammenarbeit nicht näher definiert, so dass sein Gehalt unklar sein könnte. Gerade aus dem DiskE des Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen279) soll im Hinblick auf die Betriebsfortführung abgeleitet werden, dass dieses Gebot z. B. auch zu einer Belieferung des anderen Verfahrens zumindest zu marktüblichen Preisen verpflichtet oder eine Zusammenarbeitspflicht schon dann besteht, soweit dies für die Masse nicht von Nachteil wäre, also mindestens neutral sei. Das kann aus dem Wortlaut der Norm nicht ohne weiteres hergeleitet werden. Zudem ist in § 269a InsO ein Informationsaustausch leider nur „auf Anforderung“ vorgesehen. Die EuInsVO postuliert dagegen gemäß in Art. 56 sogar eine Pflicht zur umgehenden Informationsmitteilung gegenüber den anderen Verfahren. Ein Verwalter im Konzern wird nach dieser Regelung also darauf zu achten haben, ob von ihm angegangene Maßnahmen auch Auswirkungen auf andere Verfahren haben. Dies ist nur billig und sollte der effizienten gemeinsamen Abwicklung wie Fortführung dienen. Denn der andere Verwalter wird oft nicht im Voraus wissen können, was in den anderen Verfahren gerade geschieht. Vorzugswürdig wird in der EuInsVO in Art. 56 Abs. 2 vorgesehen, dass es den Verwaltern obliegt280) „[…] b) zu prüfen, ob Möglichkeiten einer Koordinierung der Verwaltung und Überwachung der Geschäfte der Gruppenmitglieder, über deren Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, bestehen; falls eine solche Möglichkeit besteht, koordinieren sie die Verwaltung und Überwachung dieser Geschäfte; c) zu prüfen, ob Möglichkeiten einer Sanierung von Gruppenmitgliedern, über deren Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, bestehen und, falls eine solche Möglichkeit besteht, sich über den Vorschlag für einen koordinierten Sanierungsplan und dazu, wie er ausgehandelt werden soll, abzustimmen.“
___________ 279) Vgl. S. 21 des DiskE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen v. 3.1.2013, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Archiv/Diskussionsentwurf_ Gesetz_zur_Erleichterung_der_Bewaeltigung_von_Konzerninsolvenzen.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Abrufdatum: 22.11.2022). 280) Fölsing, ZInsO 2013, 413, 418.
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215 Dieser vorausschauende Ansatz der EuInsVO erlaubt es, dass die verschiedenen Verwalter gleich zu Beginn der Verfahren oder stets bei neuen Entwicklungen gemeinsam abstimmen. Sie können gerade auch zwecks Fortführung vereinbaren, wie die Erhaltung, Sanierung oder Verwertung einzelner Gruppenunternehmen oder sich über mehrere Rechtsträger erstreckender Produktionseinheiten bzw. Geschäftsfelder gemeinsam zu bewerkstelligen ist. Zu begrüßen ist auch der Ansatz eines Masterplanes, den die Verwalter untereinander vereinbaren können. In der englischen Fassung der EuInsVO wird dieses in der deutschen Version als Sanierungsplan dargestellte Instrument als „Coordinated Restructuring Plan“ bezeichnet. Dies darf nicht mit einem Insolvenzplan zum Zwecke des Erhalts einzelner Rechtsträger bzw. Gruppengesellschaften verwechselt werden, sondern sollte die operative Sanierung und Fortführung innerhalb der Gruppe als Aufgabe umfassen.281) Auch so können untereinander Darlehen zur Aufrechterhaltung der Produktion gewährt werden.282) Zum Umfang sinnvoller Koordination durch Kooperation siehe auch oben unter Rz. 109 ff. 216 Zugleich ist an dieser Stelle auch das Thema des Kooperationsgewinnes anzusprechen, der bei abgestimmter Fortführung wie Verwertung entstehen kann. Es ist stets das Ziel der Verfahrenskoordination bzw. der Kooperation der Beteiligten, im Interesse der Gläubiger einen Mehrwert zu erzielen. Obschon weder InsO noch EuInsVO das spezifisch als Thema aufgegriffen haben, wird es in der Praxis bzw. bei den Vereinbarungen der Verwalter untereinander eine Rolle spielen. Sowohl Brünkmans als auch Fölsing schlugen hierzu vor,283) eine Regelung in Anlehnung an § 254 InsO einzuführen. Auch wenn dies nicht umgesetzt wurde, kann der Vorschlag ggf. durch Vereinbarung oder i. R. der Koordination (siehe unten Rz. 217 ff.) als Überlegung zugrunde gelegt werden. Nach Brünkmans284) sollte so eine gegen das Gruppeninteresse verstoßende, diesen Mehrwert zunichtemachende Vorgehensweise durch das Insolvenzgericht ersetzt werden, „[…] wenn (1) der auf die die Einzelmasse abfallende Erlös einer Gesamtverwertungsstrategie nicht geringer ist als bei einer Einzelverwertung; (2) durch die Gesamtverwertungsstrategie offensichtlich ein Mehrwert im Vergleich zu einer Einzelverwertungsstrategie geschaffen wird und die Einzelmassen der gruppenangehörigen Schuldner angemessen am Mehrwert beteiligt werden. Der durch eine konzernweite Gesamtverwertungsstrategie geschaffene Mehrwert ist im Verhältnis zum Wert der Einzelmassen zu Liquidationswerten zu verteilen. Der Wert der Einzelmassen ist anhand der nach § 153 InsO aufzustellenden Vermögensübersicht zu ermitteln; und (3) die Mehrheit der Gläubigerversammlungen oder Gläubigerausschüsse der gruppenangehörigen Schuldner der Konzerngesamtverwertungsstrategie zugestimmt haben.“
1.5.4 Verfahrenskoordination und Konzerninsolvenzplan 217 Die erörterten Regelungen betreffen die Verfahrenskoordination. Auf der Ebene der Koordination geht es aber vor allem um die Zusammenarbeit der Beteiligten untereinander. Unter der Verfahrenskoordination sind darüber hinaus auch von den Gesetzgebern vorgesehene formelle Verfahren(-sweisen) zur Koordination der Verfahren zu verstehen.285) 218 Der europäische Gesetzgeber verfolgt diesbezüglich einen etwas anderen Ansatz als den des deutschen Gesetzgebers (siehe Rz. 169 ff.). Zum einen hat er den einzelnen Verwaltern echte Einwirkungsmöglichkeiten an die Hand gegeben, zum anderen sieht er jetzt in der EuInsVO ebenfalls ein Koordinationsverfahren und einen Koordinator vor, gewährt aber Flexibilität durch Opt-in- und Opt-out-Regelungen. ___________ 281) 282) 283) 284) 285)
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Fritz, DB 2015, 1945, 1946. So auch Fölsing, ZInsO 2013, 413, 418. Vgl. Brünkmans, ZIP 2013, 193, 199, oder Fölsing, ZInsO 2013, 413, 418. Vgl. Brünkmans, ZIP 2013, 193, 200. Leutheusser-Schnarrenberger, ZIP 2013, 98, 102.
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So hat zunächst nach Art. 60 EuInsVO jeder Insolvenzverwalter eines Insolvenzverfahrens, 219 das gegen ein Mitglied der Unternehmensgruppe eröffnet worden ist, bei den jeweils anderen Verfahren Antragsrechte. Insbesondere kann ein Verwalter in den anderen Verfahren der Gruppe beantragen, jede Maßnahme im Zusammenhang mit der Verwertung der Masse in jedem Verfahren auszusetzen. Das kann für die Fortführung und den Zusammenhalt der Betriebskerne von evidenter Bedeutung sein. Zudem kann er dort Pläne vorschlagen oder andere verfahrensleitende Maßnahmen beantragen, wenn er jeweils nachweist, dass dies für die betroffenen Verfahren bzw. Verfahrensbeteiligten von Vorteil ist.286) Indes steht dieses scharfe Schwert des Aussetzungsantrages nur dann zur Verfügung, wenn es der Einhaltung des Sanierungsplanes (siehe oben unter Rz. 205) dient. Diesem auf freiwilliger Basis zustande gekommenen Instrument kommt somit zentrale Bedeutung zu.287) So weitreichende Befugnisse mögen aus deutscher Sicht zunächst überraschend erscheinen. 220 Sie sind aber im internationalen Kontext dringend geboten. Andere europäische Insolvenzverfahren kennen sehr strenge, zeitliche Regelungen zur Verwertung oder Auktion unter Aufsicht des Gerichtes. Sind solche Maßnahmen erst einmal eingeleitet, täte sich ein deutscher, hier viel flexiblerer Insolvenzverwalter, schwer, diesen Prozess in einem anderen Verfahren zu stoppen. Dieses Problem hat die EU-Kommission in zutreffender Weise erkannt und hierzu ein Signal für die Sanierung gesetzt.288) Damit wurde eine sinnvolle Möglichkeit eröffnet, für die Gruppe bzw. die betroffenen Verfahren ungünstige Verwertungsmaßnahmen zu verhindern.289) Schon die Komplexität des Konzernes macht bei der regulären Betriebsführung einen „Plan“ erforderlich. Kommt eine Insolvenzsituation hinzu, in der Fortführung und Stilllegung, Verwertung und Abwicklung geballt aufeinandertreffen, ist ein „Plan“ ganz besonders von Nöten; dass so ein „Plan“ daher Voraussetzung ist, in andere Verfahren einzugreifen, erscheint somit einleuchtend. Zudem kann im Bereich der EuInsVO frei nach dem Prioritätsprinzip bei jedem Gericht 221 von jedem Gruppenverwalter beantragt werden, ein Gruppenkoordinationsverfahren einzuleiten.290) Dem Antrag ist ein Vorschlag des einzusetzenden Gruppenkoordinators, eine Erläuterung der vorgeschlagenen Gruppen-Koordination, eine Liste der anderen bestellten Verwalter und eine Abschätzung der Kosten beizufügen.291) Das ersuchte Gericht hat sodann nach Art. 63 EuInsVO die anderen Gruppenverwalter zu informieren und zu prüfen, ob die begehrte Koordination der Effizienz der Gruppenverfahren dient, weiterhin ob nicht zu erwarten ist, dass Gläubiger eines Gruppenmitgliedes finanziell benachteiligt werden und eine geeignete Person vorgeschlagen wurde. Indes können mindestens zwei Drittel der Verwalter auch festlegen, dass ein anderes Gruppeninsolvenzgericht für dieses Koordinationsverfahren besser geeignet ist als das zunächst angerufene Gericht.292) Insoweit besteht entsprechender Schutz gegen die Wahl eines „falschen“ Koordinationsgerichtes. Sieht das so zuständige Gericht die Voraussetzung als erfüllt an, bestellt es einen Koordi- 222 nator, hat aber auch zugleich über den „Entwurf der Koordination“ und die Kosteneinschätzung zu entscheiden. Offen ist, was mit diesem Entwurf gemeint ist. Liest man die englische Fassung, die von „Outline of Coordination“ spricht, kann man dies vielleicht besser mit „Eckpunkten der Koordinierung“ übersetzen. Letztlich wird es hier wohl um ___________ 286) 287) 288) 289) 290) 291) 292)
Prager/Ch. Keller, NZI 2013, 57, 63. Ausführlich dazu Fritz, DB 2015, 1945, 1947. Andres/Möhlenkamp, BB 2013, 579, 583. Vgl. hierzu auch Prager/Ch. Keller, NZI 2013, 57, 63, Fritz, DB 2015, 1945. Uhlenbruck-Fritz, InsO, Art. 61 EuInsVO Rz. 5. Ausführlich dazu Uhlenbruck-Fritz, InsO, Art. 61 EuInsVO Rz. 10 ff. Uhlenbruck-Fritz, InsO, Art. 64 EuInsVO Rz. 8.
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ein Grobkonzept gehen, welche Ziele und Maßnahmen die Koordinierung nach sich ziehen soll. 223 Eine gewisse Flexibilität erreicht das europäische Gruppenkoordinationsverfahren durch die Möglichkeiten der Gruppenverwalter nach den Art. 64, 65 und 69 EuInsVO in das Koordinationsverfahren hinein bzw. hinaus zu „optieren“. Kommen Verfahren hinzu oder hatten Verfahren zunächst für ein Opt-out optiert, ist auch für sie nach Art. 69 EuInsVO wiederum ein nachfolgendes Opt-in möglich.293) Auf diese Weise können Verfahren, die alleine der Abwicklung, ggf. schon stillgelegter Betriebe dienen, außen vor bleiben und sich die Koordination auf den relevanten oder zu erhaltenden Kern beschränken. Wie im deutschen Recht muss es sich bei dem Koordinator um eine Person handeln, die von gewisser Unabhängigkeit geprägt ist, darf auch nach der Vorschrift des Art. 71 EuInsVO aber nicht aus den Reihen der bisherigen Gruppenverwalter stammen und muss zudem nach dem jeweiligen nationalen Recht die Eignung haben, als Insolvenzverwalter tätig zu sein.294) 224 Neben Informations- und Beteiligungsrechten bezogen auf die einzelnen Insolvenzverfahren überträgt Art. 72 EuInsVO dem Gruppenkoordinator insbesondere die Möglichkeit, einen Gruppenkoordinationsplan vorzulegen. Zudem kommt ihm die Rolle des Vermittlers zu.295) Auch er kann die Aussetzung von Verfahren über das Vermögen jedes Mitglieds der Gruppe für bis zu sechs Monate beantragen, sofern die Aussetzung notwendig wäre, um die ordnungsgemäße Durchführung des Koordinationsplanes sicherzustellen, wobei auch hier dies den Gläubigern des Verfahrens zugutekommen muss, für das die Aussetzung beantragt wird. 225 Die EuInsVO behandelt das Thema eines Planes für die Gruppe auf verschiedenen Ebenen. Zum einen gibt es den bereits erwähnten eher operativ zu verstehenden. Ein in der Praxis schon als tauglich erprobtes Konzept wird sodann nur beiläufig durch die Erwähnung der etwa aus dem Falle Lehman Brother bekannten und weitgehend anerkannten Protocols296) erwähnt. Hierzu normiert Art. 56 EuInsVO die Pflicht der Konzerninsolvenzverwalter, sich wegen des Vorschlags für einen koordinierten Restrukturierungsplan und dessen Aushandlung abzustimmen. Die Insolvenzgerichte arbeiten dann wiederum gemäß Art. 57 EuInsVO, etwa bei der Koordinierung der Zustimmung zu einem Protokoll, zusammen, welches in der deutschen Fassung etwas sperrig als „Verständigung der Verwalter“ übersetzt wird. In der Praxis können die Beteiligten damit das schon bekannte Mittel der Protocols zurückgreifen. 226 Die Erwähnung bei den Gerichten hat den Hintergrund, ihnen insoweit eine klare Ermächtigungsgrundlage vorzugeben. Bei Jurisdiktionen mit wenig Erfahrung in internationalen bzw. Konzerninsolvenzen bestünde die Gefahr, dass ein an sich kooperationswilliger Verwalter die Gerichte, z. B. bei zustimmungspflichtigen Rechtsgeschäften, nicht auf bekannte inländische, sondern möglicherweise unbekannte ausländische Normen verweisen müsste. Damit erscheinen die Regelungen der EuInsVO schon sehr flexibel und gerade im internationalen Kontext auch als hilfreich für die Praxis. Dies zeigt sich auch in der Möglichkeit, dass die Gruppenverwalter, ganz ohne aufwändiges Koordinationsverfahren, einen Verwalter aus ihren Reihen mit besonderen Aufgaben betrauen können. Auch eine Aufteilung unter den verschiedenen Gruppeninsolvenzverwaltern ist möglich.297) 227 Auch möchte die EuInsVO mit ihrer Variante des Gruppen-Koordinationsplans nicht die Insolvenzpläne ersetzen, wie sie im nationalen Insolvenzrecht bekannt sind und dort ___________ 293) 294) 295) 296) 297)
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Vgl. die ausführliche Kommentierung bei Uhlenbruck-Fritz, InsO, Art. 69 EuInsVO Rz. 1 ff. Vallender-Fritz, EuInsVO, Art. 71 Rz. 9 ff. Vallender-Fritz, EuInsVO, Art. 72 Rz. 10 ff. Dellit, Der Konzern 2013, 190, 193. Vgl. Fritz, DB 2015, 1945, 1948 m. w. Erläuterungen, Beispielen.
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rechtsgestalteten Charakter haben können. Auch dieser Koordinationsplan kann daher besser als Masterplan oder Leitplanke für die Verfahrensabwicklung und damit für die Fortführung in den einzelnen Gruppeninsolvenzverfahren verstanden werden.298) Allein der Koordinator legt diesen Plan vor; eine Abstimmung der Gläubigergremien oder der weiter betroffenen Insolvenzverwalter in der Gruppe ist in der EuInsVO nicht vorgesehen. Wie der Sanierungsplan ist auch der Koordinierungsplan wiederum die Voraussetzung, in einzelne Verfahren einzugreifen, falls dort dem Koordinationsplan nicht gefolgt werden sollte. So kann der Koordinationsverwalter nach Art. 72 Abs. 2 lit. e EuInsVO in einem Verfahren, in dem der Plan nicht beachtet wird, die Aussetzung von Maßnahmen beantragen. Die Ziele des Koordinationsplanes könnten z. B. wie folgt umrissen werden:299)
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Ziel des Planes ist es, allen Verwaltern ein einheitliches Sanierungsziel vorzugeben.
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Der Plan soll sodann z. B. Vorschläge unterbreiten können, wie die Liquiditätskrisen bei einzelnen Gruppenangehörigen im Unternehmen beseitigt werden können oder deren Eigenkapitalsituation verbessert werden könnte.
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Jedenfalls soll der Plan Wege aufzeigen, Schwachstellen des konzerninternen Liquiditätsausgleiches zu beheben. Dabei muss sich der Plan nicht auf finanzwirtschaftliche Aspekte beschränken, er kann auch ein Gesamtkonzept entwickeln, wie der Konzern völlig neu ausgerichtet werden kann.
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Auch mögliche Geschäftsfelder könnten Plangegenstand sein.
Nach diesen Vorstellungen wäre auch der Gruppenkoordinationsplan sehr betriebswirt- 229 schaftlich bzw. finanzwirtschaftlich geprägt. Es wäre aber auch zu wünschen, in dem Plan vorzusehen – jedenfalls soweit es mit dem nationalen Verfahrensrecht vereinbar ist – dass bestimmte verfahrensleitende Maßnahmen und grundlegende Entscheidungen über Verwertungs-, Fortführungs- oder Veräußerungsoptionen möglichst koordiniert in den Verfahren ablaufen und somit den Going-Concern-Wert im Konzern nicht durch Egoismen oder überschnelle Verfahrensabläufe zu zerstören. So nützt die beste Planung nichts, wenn sie nicht verfahrensrechtlich umgesetzt und geschützt wird. Der europäische Ansatz scheint in verfahrenstechnischen Aspekten sogar etwas feinstrei- 230 figer als der deutsche Ansatz zu sein und verschiedene Varianten der Koordination in gestufter oder alternativer Form anzubieten, begonnen mit der Möglichkeit der formellen Konsolidierung, der Pflicht zur Kooperation, der flexiblen Möglichkeit von Vereinbarungen, abgestimmten Plänen, Übertragung und Verteilung von Aufgaben, der Unterstützung der Gerichte durch sachkundige Experten bis hin zu einem Koordinationsverfahren und Verwalter sowie Eingriffsmöglichkeiten bei Gefährdung des Konzernwertes finden sich nun etliche Werkzeuge. Auch wenn die an anderer Stelle erwähnten materiellen Probleme – man denke an als Garanten haftende Beteiligungen oder die Behandlungen von IntercompanyDarlehen nach Ernennung eines Insolvenzverwalters – weiterhin nicht gelöst sind, muss herausgesellt werden, dass in Konzerninsolvenzen der Erhalt des Mehrwerts der Gruppe für die Gläubiger als weiteres Verfahrensziel mehr und mehr Kontur erhalten hat. Sind mehrere Verwalter bestellt, dürfen diese künftig nicht nur jeweils ihr „eigenes“ Verfahren im Auge haben, sondern sind auch verpflichten, den Wert der Gruppe und damit deren Fortführungsfähigkeit zu sichern. Dass die weiterhin ungelösten materiellen Probleme nicht gleich auf Ebene der EuInsVO 231 gelöst werden, verwundert auch nicht, wenn viele Themen schon auf Ebene der Einzelstaaten gesetzlich oder praktisch ungeklärt sind. Hier bleibt freilich zu hoffen, dass der ___________ 298) Fritz, DB 2015, 1945, 1948. 299) Vallender-Fritz, EuInsVO, Art. 72 Rz. 18 ff.
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deutsche Gesetzgeber – auch gerade im Hinblick auf die weitreichenden Brüsseler Harmonisierungsbestrebungen – nicht nur Konzepte wie den Koordinationsverwalter entwickelt und auf europäischer Ebene einführt, sondern auch noch stärker die praktischen Probleme der Fortführung berücksichtigt und hierzu handhabbare Regelungen vorlegt, die auch bei der Harmonisierung als Vorbild dienen könnten. Gerade die Fortführung trotz Insolvenz ist eine der Stärken des hiesigen Systems, daher wären weitere Impulse nicht verkehrt. 1.5.5 Vergütungsrechtliche Aspekte 232 Auf europäischer Ebene wurde hingegen schon gesehen, dass die Kosten der Koordination der Verwalter untereinander – dort als Zusammenarbeit und Koordination gefasst – nach Art. 59 EuInsVO als Kosten und Auslagen des Verfahrens angesehen werden, in dem sie angefallen sind. Die Kosten fallen in dem Verfahren an, bei dem ein derartiges Ersuchen eingeht.300) Soweit Art. 59 EuInsVO dabei auch auf Art. 57 EuInsVO verweist, ist von diesen zu tragendenden Kosten auch die unabhängige Person gemäß Art. 57 Abs. 1 Satz 2 erfasst, derer sich die Gerichte zum Zwecke der Zusammenarbeit und Kommunikation bei Bedarf bedienen sollen. 233 Zur Vergütung des Koordinators finden sich in Art. 77 Abs. 1 EuInsVO zwar nur generalklauselartige Vorgaben.301) Diese Vorgaben können aber so verstanden werden, dass auch im Hinblick auf eine Planung dieser Kosten entsprechende Regelungen vorzusehen sind. So kann direkt bei der Einleitung des Koordinationsverfahrens nach Art. 61 Abs. 3 lit. d EuInsVO eine Schätzung der Kosten der Koordination und deren Allokation und darüber hinaus auch gleich ein Vorschlag zur konkreten Ausgestaltung der Vergütung des Koordinators bzw. der Koordination in den Antrag aufgenommen werden. Soweit dann das zur Entscheidung über die Koordination berufene Gericht (siehe unter Rz. 221 f.) nach dem Wortlaut der EuInsVO auch über den „Entwurf der Koordination“ zu befinden hat, sollte dies sinnvollerweise so umgesetzt werden, dass das Gericht zugleich auch zumindest über ein konkretes Vergütungsmodell entscheidet. Dieses Modell dient dann als Basis der Kostenschätzung und deren Allokation in den Verfahren. Da die verschiedenen europäischen Rechtsordnungen sehr unterschiedliche Vergütungsmodelle kennen, sollte die Vergütung wenigstens in ihren Grundzügen bereits zu Anfang durch das Gericht, wenn es den Koordinator stellt und die Koordination vorgenommen wird, festgelegt werden.302) 2.
Fortführung eines Konzerns im internationalen Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO
234 Außerhalb des Anwendungsbereiches der EuInsVO fehlt ein internationales verbindliches Regelwerk zur Abwicklung internationaler Insolvenzen. Aus deutscher Sicht ist zwischen ausländischen Insolvenzverfahren und deren Wirkungen in Deutschland und deutschen Insolvenzverfahren mit Bezügen zu Staaten außerhalb des Anwendungsbereiches der EuInsVO zu unterscheiden. Da Dänemark vom Geltungsbereich der EuInsVO ausgenommen ist, ist Dänemark in diesem Zusammenhang wie ein Drittstaat zu behandeln (siehe Rz. 193). 2.1
Wirkung ausländischer Insolvenzen in Deutschland
235 Die 2003 in Kraft getretenen §§ 335 bis 358 InsO gelten für ausländische Insolvenzverfahren, die ab dem 20.3.2003 in Nichtmitgliedstaaten der EU sowie in Dänemark eröffnet ___________ 300) Wimmer, jurisPR-InsR 7/2015. 301) Ausführlich zum Ansatz und zur Berechnung der Vergütung des Koordinators Vallender-Fritz, EuInsVO, Art. 77 Rz. 11 ff. 302) Fritz, DB 2015, 1945, 1946.
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Betriebsfortführung im Konzern – aus Sicht der Insolvenz- und Eigenverwaltung
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wurden. Diese Regelungen orientieren sich weitgehend an der EuInsVO a. F. und folgen damit dem Prinzip der eingeschränkten Universalität. Das ausländische Verfahren, seine Wirkungen und die Stellung des ausländischen Insolvenzverwalters werden in Deutschland weitgehend anerkannt.303) Zugleich wird das Universalitätsprinzip durch die Möglichkeit unterbrochen, Partikular- und Sekundärverfahren zu eröffnen.304) Wie in der EuInsVO finden sich Regelungen zur Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter (vgl. § 357 InsO). Für die Fortführung selbst finden sich hier jedoch keine speziellen Regelungen. Von Detailfragen abgesehen, gibt es für die Fortführung i. R. eines ausländischen Verfahrens 236 mit Vermögen in Deutschland damit keine wesentlichen Unterschiede zu den Ausführungen unter Rz. 188 ff. Die derzeitige Regelung des § 355 Abs. 2 InsO gilt aber als Hindernis für das Gelingen 237 einer abgestimmten internationalen Sanierung durch Insolvenzplan in einem deutschem Partikular- oder Sekundärverfahren. Hat ein ausländischer Schuldner, über dessen Vermögen noch kein universales Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden war, in Deutschland eine Niederlassung, kann über deren Vermögen gemäß § 354 InsO ein Partikularverfahren eröffnet werden. Liegt in Deutschland nur Vermögen, ist dieser Antrag möglich, wenn der antragstellende Gläubiger ein besonderes Interesse, insbesondere eine Schlechterstellung in einem etwaigen ausländischen Verfahren nachweist. Ist im Ausland am COMI des Schuldners bereits ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet, 238 kann über die deutsche Niederlassung ein Sekundärverfahren nach § 356 InsO eingeleitet werden. Auch bedarf es in dem Falle, in dem in Deutschland nur Vermögen belegen ist, also keine Niederlassung (mehr), dieses besonderen Interesses i. S. von § 354 Abs. 2 InsO.305) Für beide Verfahrensvarianten ist in § 355 Abs. 2 InsO vorgesehen, dass ein Insolvenzplan oder sonstige Einschränkungen von Gläubigerrechten im deutschen Partikular- oder Sekundärverfahren (gemeinsam als Territorialverfahren bezeichnet) nur dann bestätigt werden kann, wenn alle betroffenen Gläubiger dem Plan zugestimmt haben. Soll i. R. einer (außergerichtlichen) Sanierung eines Schuldners mit COMI im Ausland in 239 Deutschland i. R. eines Partikularverfahrens ein Insolvenzplan nach Maßgabe der InsO abgeschlossen werden, müssten in Deutschland alle Gläubiger zustimmen, womit auch die ansonsten in § 244 InsO vorgesehenen Mehrheiten und die Zustimmungsersetzung nach §§ 245 ff. InsO abbedungen wären. Im Falle eines Sekundärverfahrens in Deutschland führt die hier notwendige Abstimmung 240 mit dem Hauptinsolvenzverwalter insbesondere im Bereich der Quotenberechnung und Mehrfachteilnahme von Gläubigern zu einem praktisch kaum lösbaren Problem.306) Gerade bei integrierten Konzernen kann es der Fall sein, dass etwa das COMI einer deutschen Gesellschaft im Ausland (und auch außerhalb des Anwendungsbereiches der EuInsVO) liegt, dort ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wird, das i. R. eins Planes beendet werden soll, in Deutschland dann aber ein Sekundärverfahren eröffnet wurde.307) Hinzu kommt, dass es selbst im Falle abgestimmter Masterpläne, nicht möglich sein soll, 241 eine Majorisierung der Gläubiger im Sekundärverfahren zu erreichen, also auf die Zustimmung aller Gläubiger gemäß § 355 Abs. 2 InsO ausnahmsweise zu verzichten.308) Eine teleologische Reduktion von § 355 Abs. 2 InsO ist gerechtfertigt, wenn am COMI ein ___________ 303) 304) 305) 306) 307) 308)
Vgl. hierzu ausführlich Mincke in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 45 Rz. 59. Ausführlich hierzu etwa Reinhart in: MünchKomm-InsO, §§ 354 ff. Reinhart in: MünchKomm-InsO, § 356 Rz. 8. S. hierzu Reinhart in: MünchKomm-InsO, § 355 Rz. 8 ff. Vgl. Siemon/Frind, NZI 2013, 8. So Siemon/Frind, NZI 2013, 8.
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833
§ 22
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
Hauptverfahren mit Plan durchgeführt wird und in Deutschland parallel ein Sekundärverfahren mittels Plans beendet werden soll. Denn hier haben die Gläubiger immerhin die Möglichkeit, sich auch im Hauptinsolvenzverfahren zu beteiligen. Wenn dort nach den maßgeblichen Vorschriften eine Majorisierung möglich wäre, zugleich im deutschen Sekundärverfahren die ansonsten nach der InsO notwendigen Mehrheiten zur Annahme eines Planes erreicht werden, diese Pläne weiter auch abgestimmt sind, gibt es keinen einleuchtenden Grund, den deutschen Plan als Ausnahme zu den Regelungen des §§ 244 ff. InsO von der Zustimmung aller Gläubiger abhängig zu machen.309) Es wäre wünschenswert gewesen, wenn der deutsche Gesetzgeber i. R. der Reform der InsO im Bereich des Konzernrechtes auch diesen international beachtlichen Aspekt aufgenommen oder zumindest klarstellt hätte, dass § 255 Abs. 2 InsO in dieser Konstellation nicht greift. Dies sieht der derzeitige Stand der Reform des deutschen Konzerninsolvenzrechts indes nicht vor.310) 242 Zugleich lässt sich hieran aber auch erkennen, warum bislang in der Praxis und im Interesse reibungsloser Fortführungen und Planverfahren oft Maßnahmen ergriffen wurden, um Sekundärverfahren in Deutschland zu vermeiden. 2.2
Inländisches Insolvenzverfahren mit internationalen Bezügen
243 Außerhalb des Anwendungsbereiches der EuInsVO gelten bei Eröffnung eines (Haupt-) Insolvenzverfahrens in Deutschland die Regeln des deutschen autonomen internationalen Insolvenzrechtes (§§ 335 bis 342 InsO). Diese Kollisionsnormen regeln, welches Recht über die Wirkung des Verfahrens bestimmt (§ 335 InsO) und welches Recht auf Verträge über unbewegliche Gegenstände, Arbeitsverhältnisse, Anfechtung, Aufrechnung, organisierte Märkte und Pensionsgeschäfte anzuwenden ist (§§ 336 bis 340 InsO). 2.3
Hilfsmittel zur Fortführung
244 Diese wenigen Regelungen helfen aber kaum für eine internationale Betriebsfortführung oder Sanierung. Es wird also wiederum auf die Verhandlungen und Abstimmungen der Verwalter (etwa durch Protocols und Vereinbarungen)311) ankommen. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Kooperation gibt es explizit nur im Falle eines Sekundärinsolvenzverfahrens in Deutschland (§ 357 InsO), nicht im Falle eines deutschen Hauptinsolvenzverfahrens.312) Aber auch hier ist der deutsche Verwalter an die Maxime, der bestmöglichen Verwertung gebunden, so dass sich eine Verpflichtung zur Kooperation und Koordination zumindest mittelbar ergibt. 245 Schließlich wird vertreten, dass im Falle eines Hauptinsolvenzverfahrens in Deutschland und Konzerngesellschaften im außereuropäischen Ausland auch mittels dieser Protocols oder Vereinbarungen ggf. ein Konzerngerichtsstand in Deutschland oder Regeln zu einer vereinheitlichten Verwalterbestellung finden ließen.313) Ob dies weiterhilft, wird sich aber jeweils aus dem Insolvenzrecht des Staates der Konzerngesellschaft ergeben müssen.
___________ 309) Im Ergebnis so auch Wenner/Schuster in: FK-InsO, § 355 Rz. 7 f. 310) Vgl. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407. 311) S. hierzu die repräsentative Auflistung solcher Vereinbarungen in Van de Veen, The Cross Border Insolvency Protocol, S. 55 ff., abrufbar unter https://www.academia.edu/15056737/The_Cross_Border_Insolvency_Protocol_what_is_it_and_what_is_in_it_From_a_European_Union_Perspective (Abrufdatum: 22.11.2022). 312) Paulus/Geiwitz in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 588. 313) Paulus/Geiwitz in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl., 2016, S. 588.
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Fritz
§ 23 Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht Cranshaw
Übersicht I.
Die Rolle des Konzerns im Insolvenzverfahren ...................................................... 1 1. Einleitung: Probleme der Begrifflichkeit und Reformen............................................... 1 1.1 Vorbemerkung................................. 1 1.2 Vorwirkungen der Reformregelwerke („Altfälle“), praktische Nutzungsmöglichkeiten.................. 3 1.3 Definitorische Aufgabenstellungen auf europäischer und nationaler Ebene....................... 7 1.3.1 Systematik der Definitionen auf der Ebene der EuInsVO 2015... 7 1.3.2 Ebene des inländischen Rechts ....... 9 1.4 Die Erwägungen der EUKommission zur Vollendung der Kapitalmarktunion (Zeiträume ab 2015 bis 2022) ....... 18 2. Die Sanierung des Konzerns, Interessenlagen und -konflikte ................................... 30 2.1 Sanierung anstelle von Liquidation als Strukturelement................ 30 2.2 Schranken durch das Recht der Staatsbeihilfen ......................... 32 2.3 Divergierende Interessenlagen...... 37 2.4 Betroffenheit des Staates und dessen beschränkte Freiheitsgrade für Unterstützungen der Sanierung ................................. 39 3. Kernprobleme der Konzerninsolvenz....... 41 4. Funktion der Betriebsfortführung des „Konzerns“ in der Insolvenz............... 48 II. Die Konzerninsolvenz im internationalen Insolvenzrecht und in einzelstaatlichen Insolvenzrechtsregelwerken ........................................................ 54 1. Das internationale Insolvenzrecht der EU......................................................... 54 1.1 Besondere Probleme des internationalen Insolvenzrechts für Konzerne.................................. 54 1.2 Strukturen der EuInsVO .............. 60 2. Das autonome internationale Insolvenzrecht der §§ 335 ff. InsO ........................... 65 III. Der Konzern im Regelinsolvenzverfahren und im Verfahren mit Insolvenzplan ..................................................... 67 1. Insolvenzgründe......................................... 67 1.1 Vorbemerkung............................... 67
1.2
2.
Cranshaw
Zahlungsunfähigkeit, Cashpool im Konzern .................................... 71 1.3 Überschuldung .............................. 76 1.4 Drohende Zahlungsunfähigkeit.... 79 1.5 Fazit: Fortführungsmöglichkeiten ............................................. 81 Wesentliche Fragen und Voraussetzungen der Betriebsfortführung in der Insolvenz ......................................... 83 2.1 Aufrechterhaltung des Konzerns in seiner Gesamtheit? .................... 83 2.2 Planungen und Planungsparameter ....................................... 86 2.2.1 Planungsgrundlagen ...................... 86 2.2.2 Unternehmensverträge.................. 90 2.2.2.1 Unternehmensverträge als Instrument der Konzernsteuerung ......... 90 2.2.2.2 Beendigungsszenarien des Unternehmensvertrags in der Insolvenz ............................. 94 2.2.2.3 Konzernstrategische Erwägungen und Insolvenz ................................ 98 2.2.3 Weitere Verträge zwischen den Konzerngesellschaften ......... 101 2.3 Anpassung von Leistungsbeziehungen unter Konzerngesellschaften in der Insolvenz?... 102 2.3.1 Intercompany Loans (Down-stream, Upstream, Crossstream) ............................... 103 2.3.2 Sonstige Lieferungs- und Leistungsbeziehungen................. 104 2.3.3 Konzernverflechtung und „Konzernumlagen“...................... 106 2.3.4 Weitergehende Problemfelder der Konzernverflechtung? .......... 112 2.4 Steuerrechtliche Implikationen.... 116 2.5 Kooperation der Akteure des Insolvenzverfahrens der Konzerngesellschaften.......... 123 2.5.1 Kooperation der Verwalter nach der EuInsVO 2015.............. 123 2.5.2 Strukturelemente des inländischen Konzerninsolvenzrechts ... 128 2.6 Betriebsfortführung und Insolvenz der Konzernobergesellschaft ................................... 137
835
§ 23 2.7
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
Betriebsfortführung in der Insolvenz der Konzerngesellschaft? ................................ 138 3. Konzerninsolvenzpläne? ......................... 139 IV. Folgen der Eigenverwaltung ................. 142 V. Entwicklungslinien im Konzerninsolvenzrecht ......................................... 151 1. Folgen der europäischen Entwicklung ... 151 2. Europäische und internationale Entwicklungen bzw. Erwägungen zu formeller und/oder materieller Konsolidierung („substantive consolidation“) ................. 156 2.1 Keine Konsolidierung im Unionsrecht und im inländischen Recht................. 156
2.2
Materielles Konzerninsolvenzrecht, „Substantive Consolidation“ in der internationalen Praxis und im Schrifttum............ 159 2.3 Anmerkungen zur Substantive Consolidation und deren Schranken in der Rechtsprechung in den USA bzw. Kanada .. 165 2.4 Materielle Konsolidierung in Frankreich ............................... 177 2.5 Die Überlegungen zur materiellen Konsolidierung im Unionsrecht (bis zur EuInsVO 2015) ... 179 VI. Zusammenfassung, Thesen.................... 182
Literatur: Albrecht, Die Reform der EuInsVO nimmt Fahrt auf – der Änderungsvorschlag der Europäischen Kommission in der Übersicht, ZInsO 2013, 1876; Arfert, Die Konzerninsolvenz im französischen Recht, Diss., 2021; Arhold/Struckmann, Staatshilfen zur finanziellen Restrukturierung von Unternehmen in der Liquiditätskrise – Teil 1, ZInsO 2016, 929 und Teil 2, ZInsO 2016, 1029; Bieckmann/Martin/Müller, Der neue IDW ES 11, KSI 2014, 197; Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, in: Balz/Kübler/Prütting/Timm, Beiträge zum Insolvenzrecht, Bd. 44, 2012; Bitter/Laspeyres, Rechtsträgerspezifische Berechtigungen als Hindernis übertragender Sanierung, ZIP 2010, 1157; Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 9. Aufl., 2017; Boetzkes, M. T., Die Konzernmutter als Mitarbeitgeberin im französischen Recht, Diss., 2014; Bork/Veder, Harmonization of Transactions Avoidance Law, 2022; Brasher, Substantive Consolidation: A Critical Examination, 2006, abrufbar unter http://www.law.harvard.edu/programs/corp_gov/papers/Brudney2006_Brasher.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023); Burkert, Der Debt-to-Equity Swap nach § 225a InsO im Spannungsverhältnis von Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2014 (Diss.); Burkert/Cranshaw, „Bail-in“ – Gläubigerbeteiligung in einer Bankenkrise und die Behandlung von Treuhandverhältnissen, DZWIR 2015, 443; Cranshaw, Emissionshandel in Krise, Insolvenz und Sanierung, ZRI 2022, 345; Cranshaw, Auseinandersetzung von Immaterialgüterrechten im Konzern in Krise und Insolvenz, in: Festschrift Klaus Pannen, 2017, S. 335; Cranshaw, Partikulare Insolvenzverfahren nach der EuInsVO: Gläubigerinteressen, Unternehmensinteressen, Binnenmarkt, DZWIR 2014, 473; Cranshaw, Bemerkungen zur Vorfinanzierung von Insolvenzgeld, ZInsO 2013, 1493; Cranshaw, Haftung, Versicherung und Haftungsbeschränkung des (vorläufigen) Gläubigerausschusses, ZInsO 2012, 1151; Cranshaw, „Solvent Scheme of Arrangement“, ein Sanierungsinstrument des englischen Rechts in der inländischen Rechtspraxis, DZWIR 2012, 223; Cranshaw, Zehn Jahre EuInsVO und Centre of Main Interests – Motor dynamischer Entwicklungen im Insolvenzrecht, DZWIR 2012, 133; Cranshaw, ESUG: Vorfahrt für Sanierung im Insolvenzverfahren?, BankPraktiker 2/2012, 6; Cranshaw, Das Effizienzgebot bei der Rückforderung rechtswidriger Staatsbeihilfen, inbesondere im Dreiecksverhältnis, WM 2008, 338; Cranshaw, Einflüsse des europäischen Rechts auf das Insolvenzverfahren, 2006; Cranshaw/Portisch, Insolvenzverfahren: Mindestanforderungen an das Outsourcing von Dienstleistungen, ForderungsPraktiker 2012, 275; Cranshaw/Portisch/Knöpnadel, Aspekte der Haftung, der Versicherung und des Risikomanagements des Gläubigerausschusses, Teil I, ZInsO 2015, 1; Dannenberg, Quantitative Bewertung des Ausfallrisikos von Forderungsportfolios gewerblicher Unternehmen, 2012 (Diss), in: IWH Institut für Wirtschaftsforschung Halle, IWH-Sonderheft 2/2012, https://www.iwh-halle.de/fileadmin/user_ upload/publications/iwh_sonderhefte/SH_12-2.PDF (Abrufdatum: 3.3.2023); DeFrancheschi, Substantive Consolidation of affiliated debtors in bankruptcy: creditors beware, in: KPMG, The Americas Restructuring and Insolvency Guide 2008/2009, p. 175; Doralt/Wagenhofer, IAS/IFRS, 2014/2015; Ehricke, Die Zusammenfassung von Insolvenzverfahren mehrerer Unternehmen desselben Konzerns, DZWIR 1999, 353; Ehricke, Zur gemeinschaftlichen Sanierung insolventer Unternehmen eines Konzerns, ZInsO 2002, 393; Evers/Miller/Spengel, Intellectual Property Tax Regimes: Effective Tax Rates and Tax Policy Considerations, Diskussion Paper No. 13-070, ZEW, Mannheim, 2013, abrufbar unter: https://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp13070.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023); Flöther, Die aktuelle Reform des Insolvenzrechts durch das ESUG – Mehr Schein als Sein?, ZIP 2012, 1833; DeFrancheschi, Substantive Consolidation of affiliated debtors in bankruptcy: creditors beware, in: KPMG, Americas Restructuring and Insolvency Guide 2008/2009, S. 175; Frenz, Gegenständliche und inhaltliche Weiterungen der Sanierungsfusion, EWS 2014, 311; Fritze, Sanierung von Groß- und Konzernunternehmen durch Insolvenzpläne, DZWIR 2007, 89; Frölich, Vergleichswertermittlung in Restrukturierungs-Planverfahren: Alternativen zum Dual-Track-Investorenprozess, ZInsO 2022, 186; Fromholdt, Group Coordination Proceedings, Helsinki, 2017, abrufbar unter https://helda.helsinki.fi/handle/
836
Cranshaw
Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
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I.
Die Rolle des Konzerns im Insolvenzverfahren
1.
Einleitung: Probleme der Begrifflichkeit und Reformen
1.1
Vorbemerkung
Die Fragestellung der Betriebsfortführung im Konzern „in der Insolvenz“ ist außerge- 1 wöhnlich vielschichtig und nicht monolithisch strukturiert. Betrachtet man die verschiedenen Facetten, so kann man eine Reihe ganz verschiedener Ebenen unterscheiden. Damit verbunden ist das Phänomen, dass es sowohl in der inländischen als auch der hier ebenfalls zu berücksichtigenden europäischen Rechtsordnung keinen einheitlichen Begriff des Konzerns (oder der Unternehmensgruppe) gibt, sondern nur ein Begriffsverständnis, das sich auf das jeweilige Regelwerk (Insolvenzrecht, Bilanzrecht, Gesellschaftsrecht) bezieht. Einer der Gründe mag die Vielgestaltigkeit des Phänomens „Konzern“ sein, der vor allem Cranshaw
837
§ 23
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
die betriebswirtschaftliche Tatsache der Konzentration unternehmerischen Handelns in den verschiedensten Formen abbildet, wie Wöhe/Döring in ihrem betriebswirtschaftlichen Klassiker unverändert überzeugend darstellen.1) Die rechtlichen Strukturen sind den ökonomischen Gegebenheiten entsprechend differenziert. 2 Der Gesetzgeber hatte auf europäischer und inländischer Ebene Reformbedarf schon lange erkannt. Die EU-Kommission hatte am 12.12.2012 eine (in einem ihrer Schwerpunkte dem Thema der Insolvenz der Unternehmensgruppe gewidmete) Novelle zur EuInsVO (verabschiedet als EuInsVO 2015)2) vorgelegt, das BMJ am 3.1.2013 den damit inhaltlich ganz verwandten DiskE eines Konzerninsolvenzrechts („Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen“); am 28.8.2013 hat die Bundesregierung einen RegE (RegE 2013) mit Änderungen im Vergleich zum DiskE vorgelegt, der in der 18. Legislaturperiode Gegenstand der parlamentarischen Beratungen war und 2017 verabschiedet wurde.3) Die neu kodifizierte EuInsVO ist im europäischen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden,4) sie ist nach ihrem Art. 84 Abs. 1 nur auf nach dem 26.6.2017 eröffnete Insolvenzverfahren anzuwenden, für alle Verfahren bis dahin, einschließlich der Rechtshandlungen des Schuldners, gilt das davor anwendbare Recht. Aufgrund der mitunter ein Jahrzehnt laufenden Insolvenzverfahren stellt sich die Frage, wie in Altfällen vor Inkrafttreten der EuInsVO 2015 und des Koordinationsverfahrens nach dem inländischen Gesetz vom 13.4.2017 zu verfahren sei (siehe nachfolgend unter Rz. 3 ff.). Die auf europäischer Ebene erlassene Kodifikation sowie das inländische Konzept5) ähneln einander sehr stark, die gegenseitigen Einflüsse sind für den Betrachter unverkennbar. 1.2
Vorwirkungen der Reformregelwerke („Altfälle“), praktische Nutzungsmöglichkeiten
3 Eines der faktischen Problemfelder beider Reformen bildet der bereits erwähnte Umstand, dass die bis dahin geltende Rechtslage aufgrund der nötigen Übergangsregeln und der Dauer von Insolvenzverfahren für „Altfälle“ noch längere Zeit fortdauert. Gerade bei der ___________ 1)
2)
3)
4) 5)
838
Wöhe/Döring, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, ein „Klassiker“ zur Betriebswirtschaftslehre, erörtert daher den Konzern zutreffend in dem Abschnitt „Aufbau des Betriebes“ (S. 27 ff.), unter „C. Konstitutive Entscheidungen“ (S. 217 ff.), in diesem Unterabschnitt unter „III. Zusammenschluss von Unternehmen“ (S. 250 ff.) und dort wiederum unter „4. Konzentrationsformen“ (S. 261, 262 ff.). Die seinerzeit (2010) beschriebenen Strukturen sind in ihren Grundsätzen unverändert, mag man auch Prämissen und Ergebnissen der dort vertretenen Lehren in der Wirtschaftswissenschaft nicht mehr in allen Punkten uneingeschränkt zustimmen. Zu einer aktuellen Kurzübersicht des betriebswirtschaftlichen Phänomens „Konzern“ bzw. „Unternehmensgruppe“ s. Kuehne/Cranshaw in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 32 Rz. 64 ff. Soweit im Folgenden auf die „EuInsVO“ Bezug genommen wird, ist damit die aktuelle Verordnung 2015/848/EU, also die EuInsVO 2015 gemeint, soweit nicht anders angemerkt. Zum inhaltlichen Überblick über das Konzerninsolvenzrecht der Art. 56–77 EuInsVO 2015 und zur Frage der Behandlung von Konzerninsolvenzen im Verhältnis zu Drittstaaten s. Kühne/Cranshaw in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 32 Rz. 113–120 m. w. N. Zur Novelle der EuInsVO 2000 (Entwurf) s. a. Albrecht, ZInsO 2013, 1876. S. zur Novellierung der EuInsVO und die Anregungen von INSOL, auch für Unternehmensgruppen van Galen/André/Fritz/Gladel/van Koppen/Marks/Wouters, Revision of the European Insolvency Regulation, Proposals by INSOL Europe, 2012, abrufbar unter https://www.insoleurope.org/download/documents/588 (Abrufdatum: 3.3.2023). Der RegE ist in die BT-Drucks. 18/407 v. 30.1.2014 eingegangen. Das schließlich verabschiedete Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866, ist am 21.4.2018 in Kraft getreten, nachdem der Ausschuss R/V vom RegE Abweichungen vorgeschlagen hatte, s. BT-Drucks. 18/11436 v. 8.3.2017. Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (Neufassung) (EuInsVO), ABl. (EU) L 141/19 v. 5.6.2015. Zum inländischen Konzept s. die §§ 3a–3e, 13a, 269a–269i InsO sowie den Überblick dazu bei Kuehne/ Cranshaw in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 32 Rz. 113 – 120 m. w. N.
Cranshaw
Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
Insolvenz einer Unternehmensgruppe ist zu bedenken, dass sie tendenziell aufgrund der divergenten Interessen der Gläubiger der beteiligten insolventen Unternehmen noch längere Zeit beanspruchen mag als die Insolvenz über einen außerhalb eines Konzernverbundes stehenden Insolvenzschuldner. Es kann keinem Zweifel begegnen, dass diejenigen Fälle mit grenzüberschreitendem Charakter noch einmal komplexer sind als „Inlandsfälle“ und daher auch der Zeithorizont weiter gestreckt gesehen werden muss. Für den Insolvenzpraktiker stellt sich daher sofort die Frage, wie die im Einzelfall gesehenen Vorzüge des neuen Rechts in die „Altfälle“ eingebracht werden können. Nach der hier vertretenen Meinung ist es keinesfalls möglich, den Reformregelwerken faktische Rückwirkung zuzuerkennen und sie im Interesse des Ziels bereits heute heranzuziehen. Dem steht etwa die klare Bestimmung des Art. 84 Abs. 1 EuInsVO entgegen, dessen Absatz 2 anordnet, dass das bisherige Regelwerk, die EuInsVO/2000, unverändert für die bis 26.6.2017 eröffneten Verfahren gilt. In der Praxis kann man dennoch aus den erlassenen Regelwerken für „Altfälle“ Nutzen 4 ziehen, da sie in gewisser Weise die Praxis der Insolvenzverwalter stärken, in streitigen Fragen beteiligter Unternehmen Vereinbarungen zu schließen, die die verschiedenen Massen jeweils binden und Rechtssicherheit generieren (vgl. Art. 72 Abs. 1 lit. b Ziff. iii EuInsVO bzw. § 269h Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 InsO zu Vorschlägen im Koordinationsplan); solche „Protokolle“ oder „Memoranda of Unterstanding“ sind in der internationalen Praxis ohne Regelwerke seit langem gebräuchlich.6) Insoweit stellen diese neuen Instrumente nur Kodifizierungen gebräuchlicher und – zulässiger – Praxis dar. Nicht immer glücken solche Kooperationsbemühungen der Verwalter, wie ein Urteil des 5 LG Mannheim aus dem Jahr 2015 zeigt,7) wobei veröffentlichte gerichtliche Entscheidungen in diesem Umfeld allerdings eher selten scheinen, insbesondere solche mit grenzüberschreitendem Bezug, Der Sachverhalt des zitierten Urteils des LG Mannheim in einer internationalen Patentstreitigkeit ist durch die Auseinandersetzung zweier ehemals zu einer gemeinsamen Unternehmensgruppe gehörenden Mutter- und Tochtergesellschaft in Italien und Österreich geprägt, deren Weg in der Insolvenz zu unterschiedlichen anderen Konzernen geführt hat. Beide Unternehmen bzw. Nachfolgeunternehmen benötigen für ihr Geschäftsmodell offenbar ganz wesentlich ein- und dieselben Patente, die im seinerzeit bestehenden Konzern i. R. von Kreuzlizenzen genutzt wurden, deren Entflechtung in den Insolvenzverfahren beider Gesellschaften versucht wurde, ohne dass diesen Versuchen der abschließende Erfolg beschieden gewesen wäre. Dergleichen Konstellationen im Konzern können Sanierungen gefährden. Am Rande sei an dieser Stelle ferner angemerkt, dass das Bewusstsein der Gläubiger von 6 der Bedeutung grenzüberschreitender Verfahren und daher die Notwendigkeit, Wissen über Grundtatsachen des Internationalen Insolvenzrechts (im Raum der EU und des
___________ 6) 7)
S. dazu Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 10–15 m. w. N. S. LG Mannheim, Urt. v. 2.3.2015 – 2 O 147/14, juris = GRURPrax 2015, 464: „Übertragung eines Patents: Sukzessionsschutz einer Lizenz für einen hermetisch gekapselten Verdichter für Kühlschränke“, dazu Cranshaw, jurisPR-IWR 4/2015 Anm. 5, sowie eingehend Cranshaw in: FS Pannen, S. 335 ff. und 342 – 347. Zu einem weiteren Streit infolge der Auflösung eines Konzernverbunds aufgrund von Insolvenzverfahren, hier im Zusammenhang mit der Nutzung einer Unionsmarke, s. BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14 (ECOSOIL), ZIP 2016, 40 ff. = ZInsO 2016, 150 = GRUR 2016, 201, s. dazu Cranshaw, jurisPR-InsR 10/2016 Anm. 1, eingehend Cranshaw in: FS Pannen, S. 335 ff., 351 – 357.
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EWR, mindestens aber im Raum der EuInsVO)8) „vorzuhalten“, im Allgemeinen unverändert eher geringer ausgeprägt scheint. 1.3
Definitorische Aufgabenstellungen auf europäischer und nationaler Ebene
1.3.1 Systematik der Definitionen auf der Ebene der EuInsVO 2015 7 Nach der vor den zitierten Reformregelwerken geltenden Gesetzeslage gab es nicht nur keine Definition der „Konzerninsolvenz“, sondern noch nicht einmal einen gesetzlich definierten, übergreifenden Konzernbegriff für Zwecke von Insolvenz und Sanierung. Die Reformregelwerke bemühen sich daher zutreffend spezifisch für die Zwecke des Insolvenzverfahrens um die Schaffung eines Begriffes, was denn ein Konzern (synonym damit ist der Begriff der „Unternehmensgruppe“) sei, denn die Strukturen des Insolvenzrechts fordern eine klare Begrifflichkeit, wenn man den besonderen Typus eines Konzerninsolvenzverfahrens einführen möchte, wie auch immer es im Einzelnen strukturiert ist. Dabei stellt sich auf europäischer Ebene das Problem, dass es zwar wünschenswert aus dem Blick des Binnenmarkts sein mag, einen für die gesamte Rechtsordnung verbindlichen Konzernbegriff zu verwenden. Ein solches Vorhaben würde aber den Rahmen eines Internationalen Insolvenzrechts sprengen; es wäre vielmehr insbesondere Teil eines umfassenderen Vorhabens zur weiteren Harmonisierung im europäischen Gesellschaftsrecht. Die EuInsVO 2015 beschränkt sich daher definitorisch: Art. 2 EuInsVO („Begriffsbestimmungen“) bestimmt in Nr. 13, eine „Unternehmensgruppe“ seien ein „Mutterunternehmen und alle seine Tochterunternehmen“. Damit ist nur die Konzernzusammengehörigkeit gekennzeichnet, nicht etwa wird dadurch zum Ausdruck gebracht oder vorausgesetzt, dass alle beteiligten Gesellschaften insolvent seien. Art. 2 Nr. 14 Satz 1 EuInsVO enthält dann die wichtige weitergehende Definition des Mutterunternehmens als Unternehmen, welches die Tochtergesellschaften „unmittelbar oder mittelbar kontrolliert“. Damit werden die Holding- oder Zwischenholding erfasst. Satz 2 dieser Definition greift auf die Bilanzrichtlinie 2013/34/EU9) zurück und bestimmt, ein Unternehmen, das einen konsolidierten Abschluss erstelle, werde als Mutterunternehmen angesehen. Maßgeblich hierfür sind die Art. 21 – 29a i. V. m. Art. 1
___________ 8)
9)
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Es darf daran erinnert werden, dass innerhalb der EU das Königreich Dänemark die EuInsVO nicht anwendet und mit dem weiteren Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit den EFTA-Staaten Island, Norwegen und Liechtenstein kein gemeinsames Internationales Insolvenzrecht besteht, ebenso wenig mit der Schweiz, die nicht einmal Mitglied des EWR ist. Ein beachtliches Problem generiert angesichts der ökonomischen Bedeutung des Vereinigten Königreichs (UK) der Brexit seit dem Ende der Übergangszeit. Insolvenzrechtlich ist Großbritannien ein Drittstaat (wie etwa die Schweiz) ohne Abkommen über die Behandlung von „Cross-Border“-Insolvenzen, so dass die §§ 335 ff. InsO heranzuziehen sind. In „Konzernfällen“ werden auch hier wiederum „Protokolle“ der beteiligten Verwalter das Mittel der Wahl sein, wenn innerhalb der EU und im UK Konzerngesellschaften insolvent werden. Unterstellt wird hier, das COMI der die Unternehmensgruppe beherrschenden Gesellschaft liege in Deutschland, womit die Verfahrenseröffnung über deren Vermögen in Deutschland erfolgt, während Insolvenzverfahren über ausländische Tochtergesellschaften etwa im UK und/bzw. in Staaten (der EU) dort eröffnet werden und nach der jeweiligen lex fori concursus ablaufen. Das gilt entsprechend, wenn das führende Konzernunternehmen handelsrechtlich ein „Einzelkaufmann“ ist, also als eingetragene Kauffrau/eingetragener Kaufmann geführt wird. Es gibt durchaus bedeutende Unternehmen in Deutschland, die in der Rechtsform des eingetragenen Kaufmanns am Markt agieren und eine Unternehmensgruppe führen. Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Unternehmen bestimmter Rechtsformen […], ABl. (EU) L 182/2 v. 29.6.2013, S. 19 ff., konsolidierte Fassung v. 21.12.2021, abrufbar unter https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02013L0034-20211221&from=DE (Abrufdatum: 3.3.2023). S. a. das deutsche Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz (BilRuG), BT-Drucks. 18/4050 v. 20.2.2015, sowie das entsprechende Gesetz v. 17.7.2015, BGBl. I 2015, 1245 ff.
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Abs. 1 lit. a, b i. V. m. Anhang I10) und Anhang II der zitierten Richtlinie, die ein „Mutterunternehmen und alle seine Tochterunternehmen“ als „zu konsolidierende Unternehmen“ bezeichnet. Art. 21 Bilanzrichtlinie beschreibt dann, unter welchen Voraussetzungen die Pflicht zur Aufstellung eines konsolidierten Abschlusses besteht, wenn z. B. die Muttergesellschaft die Stimmrechtsmehrheit des betroffenen Tochterunternehmens (Art. 22 lit. a Bilanzrichtlinie) hält. Die Definitionen des Mutterunternehmens, des Tochterunternehmens, der Gruppe, des verbundenen und des assoziierten Unternehmens enthalten Art. 2 Nr. 9 – 13 Bilanzrichtlinie. Die Definitionen sind, soweit sie für das Internationale Insolvenzrecht relevant sind, iden- 8 tisch mit der Begrifflichkeit in Art. 2 Nr. 13, 14 EuInsVO. Insoweit ist die Verweisung in Art. 2 Nr. 14 Satz 2 EuInsVO umfassend. Zu bedenken ist wie bereits erwähnt freilich, dass die Definitionen nach Art. 2 Halbs. 1 EuInsVO ausschließlich für „Zwecke dieser Verordnung“ Relevanz haben, eine allgemeingültige Definition von „Konzern“ also nicht zum Ausdruck bringen. Dieselbe Vorgehensweise wohnt der Bilanzrichtlinie inne, wenn sich auch die Begrifflichkeiten, teilweise auch durch Querverweise wie in Art. 2 Nr. 14 Satz 2 EuInsVO decken. Diese Methodik der Herangehensweise führt auf jedem der kodifizierten Rechtsgebiete zu einer jedenfalls im Wesentlichen inhaltsgleichen Begrifflichkeit, so dass mit jedem Regelungsbereich mit entsprechender Definition netzwerkähnlich dennoch ein weitgehend inhaltsidentischer Begriff für die Rechtsordnung geschaffen wird. Ob man vor diesem sich abzeichnenden Hintergrund der vielfältigen Harmonisierungen noch ohne Weiteres davon sprechen könnte, es gebe kein europäisches Konzernrecht,11) darf hinterfragt werden, denn es spielt nach der hier vertretenen Auffassung keine entscheidende Rolle, ob nun eine „Konzernrichtlinie“ existiert oder ob wesentliche Konzernsachverhalte (= Sachverhalte für Unternehmensgruppen) in diversen Regelwerken auf Unionsebene abgebildet werden, die kraft des anerkannten Vorrangs des europäischen Rechts unmittelbar anzuwenden (Verordnungen) bzw. umzusetzen sind (Richtlinien). Es darf auch nicht die Sogwirkung verkannt werden, wenn europäische Regelwerke i. R. ihrer Umsetzung zwar nationale Bestimmungen nicht unmittelbar tangieren, aber divergente Doppelungen im nationalen Recht auslösen würden, auch dann, wenn durch Divergenzen im nationalen Recht nicht die praktische Wirksamkeit der betroffenen unionsrechtlichen Normen tangiert würde. 1.3.2 Ebene des inländischen Rechts Betrachtet man die inländische Rechtsordnung,12) so ist der Begriff des Konzerns gleich- 9 wohl unverändert ebenfalls nicht einheitlich. Der Grund hierfür ist die jeweilige Zielsetzung der entsprechenden Normen, wobei auf die Methodik der europäischen Gesetzgebung (siehe oben Rz. 7 f.) hinzuweisen ist. Die in der 2. Auflage (in § 21 Rz. 6 ff.) noch aufgeworfenen Fragen beantworten die oben thematisierten Regelwerke zum Konzerninsolvenz-
___________ 10) Anhang I erfasst enumerativ die von der Bilanzrichtlinie erfassten Gesellschaftsformen der Kapitalgesellschaften, in Deutschland die AG, die KGaA und die GmbH. Anhang II erfasst von den (in deutscher Terminologie) „Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit“; ab 1.1.2024 nach dem MoPeG „rechtsfähige Personengesellschaften“, s. Art. 35 i. V. m. Art. 137 Satz 1 MoPeG (Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts [Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG], v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3436 ff.) die OHG und die KG ohne natürliche Person als unbeschränkt haftender Gesellschafter. 11) Vgl. dazu Servatius in: Henssler/Strohn, GesR, IntGesR Rz. 404 ff. 12) S. dazu in der 2. Aufl. dieses Handbuchs die Ausführungen des Verf. in § 21 Rz. 2 – 16.
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verfahren. Unter dem Aspekt einer ganzheitlichen Betrachtung in der Rechtsordnung stellen sich dennoch unverändert die dortigen Fragen, wenn auch modifiziert, nämlich x
Soll man eine gesellschaftsrechtliche Betrachtung wählen, die Begriffe des Gleich- oder Unterordnungskonzern13) zugrunde legen und daraus insolvenzrechtliche Folgerungen ableiten?
x
Betrachtet man die Dinge bilanziell nach HGB bzw. IAS, so präsentiert sich der Konzern mit der Verpflichtung zur Aufstellung eines Konzernabschlusses mit Lagebericht (§ 290 HGB) bei der Darstellung der „[…] Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der einbezogenen Unternehmen so […], als ob diese Unternehmen insgesamt ein einziges Unternehmen wären“ (§ 297 Abs. 3 Satz 1 HGB).“
Ist im Wesentlichen hieran für insolvenzrechtliche Zwecke anzubinden? 10 Nach der herrschenden „Einheitstheorie“ tritt an die Stelle der vielen konsolidierten Gesellschaften das Bild oder die Fiktion einer wirtschaftlich einzigen und einheitlichen Gesellschaft.14) Der ordnungsgemäß erstellte Konzernabschluss vermittelt ein den „tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der größeren Wirtschaftseinheit Konzern“.15) 11 Zugleich werden damit u. a. die Leistungsbeziehungen und sonstigen Verflechtungen zu den Tochtergesellschaften transparent. Für die Konzernbetriebsfortführung in der Insolvenz einschließlich derjenigen der abhängigen Konzerngesellschaften handelt es sich demgemäß um ein wichtiges Informationsinstrument zusammen mit den Prüfberichten. 12 Zutreffend weist aber Merkt darauf hin, dass diese Struktur „primär“ der Information dient und weder für die „Zuordnung von Gläubigeransprüchen“ noch für „steuerliche Zwecke“ Relevanz hat.16) Sie dient also gerade nicht der im Insolvenzverfahren maßgeblichen Durchsetzung der Haftungsordnung und fällt daher ohne weitere Bezugnahmen darauf als Definition für insolvenzrechtliche Zwecke aus. Der Konzernabschluss hat somit Informationsfunktion, die Pflichten und die Verantwortlichkeit der Gremien der betroffenen juristischen Personen folgen aus dem Gesellschaftsrecht (vgl. etwa die Vorlage von Konzernabschluss und -lagebericht an den Aufsichtsrat und die Prüfung durch denselben, §§ 171 f. AktG und das Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 Abs. 1 Satz 4 AktG;17) für die GmbH vgl. dazu § 42a Abs. 4 GmbHG). Dass Gesellschaftsorgane zur Krisenfrüherkennung, -prävention und Gegensteuerung sowie zur Information der Aufsichtsgremien verpflichtet sind, folgt insbesondere für Krisenfälle auch aus § 1 Abs. 1 StaRUG, eine Norm, die anderweitige Pflichten der Geschäftsleiter unberührt lässt (§ 1 Abs. 3 StaRUG). Es ist ___________ 13) Vgl. §§ 17, 18 AktG. Zum Gleichordnungskonzern bzw. dem faktischen Gleichordnungskonzern und den dortigen Voraussetzungen s. aus der Rspr. bereits BGH, Beschl. v. 8.12.1998 – KVR 31/97 (Pirmasenser Zeitung/Deil KG/Rheinpfalz), ZIP 1999, 331 = NJW-RR 1999, 1047. 14) Hopt-Merkt, HGB, § 297 Rz. 5 m. w. N.; zu Recht weist aber Merkt auf die Abweichungen von dieser „Fiktion“ durch Einbeziehungswahlrechte (vgl. § 296 HGB) und andere Ausnahmen hin. Zur „Einheitstheorie“ vgl. auch Heidel/Schall-Thelen/Heyes/Elprana, HGB, § 297 Rz. 34 m. w. N. sowie IAS 27 und die Verordnung (EG) Nr. 494/2009 bei Doralt/Wagenhofer, IAS 27 Rz. 3, 4 ff., 18 ff. (zum „Konsolidierungsverfahren“). Die steuerrechtliche Organschaft geht in ähnlicher Weise von einer „wirtschaftlichen Unternehmenseinheit“ aus, s. Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 11 Rz. 11.120 ff. m. w. N. (zur körperschaftsteuerlichen Organschaft) sowie OFD Frankfurt/M., Verfügung v. 11.3.2013 – S 7105 A – 21 – St 110, ZInsO 2013, 1243 ff., 1244 unter 3. (zur Folge der Beendigung der Organschaft) und OFD Frankfurt/M., Verfügung v. 12.7.2017 – S 7105 A – 21 – St 110, zur umsatzsteuerlichen Organschaft und deren Beendigung, s. https://datenbank.nwb.de/Dokument/703381/ (Abrufdatum: 3.3.2023); s. zu diesem Themenfeld ferner Rz. 116 ff. 15) Hopt-Merkt, HGB, § 297 Rz. 2 m. w. N. 16) Hopt-Merkt, HGB, § 297 Rz. 2 m. w. N. Zur steuerlichen Organschaft s. Rz. 116 ff. 17) S. dazu i. E. Heidel in: NK-AktR, § 131 AktG Rz. 48 ff.
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evident, dass die Norm auch für Geschäftsleiter der „herrschenden" oder sonst die Leitung der Unternehmensgruppe bestimmenden Gruppen(ober)gesellschaft gilt. Das folgt schon daraus, dass das StaRUG auch die Restrukturierung von Konzernen im Blick hat, wie aus § 2 Abs. 4 StaRUG zu der Möglichkeit der Einbeziehung der wichtigen „gruppeninternen Drittsicherheiten“ hervorgeht18) (s. ferner die Parallelvorschrift in § 223a InsO n. F., ab 1.1.2021, nach Maßgabe des SanInsFoG). Beleuchtet man allein die Insolvenzrechtsregelwerke (oder auch Sanierungsregelwerke 13 außerhalb eines Insolvenzverfahrens, seit 1.1.2021 in Deutschland das StaRUG in Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie19))20) so stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen man für eine gesetzliche Regelung der „Konzerninsolvenz“ erwartet.21) Maßgeblich ist die insolvenz- bzw. sanierungsrechtliche Zielsetzung; das ist die Frage nach dem Anwendungsbereich einer von der Einzelinsolvenz des Konzernunternehmens zu unterscheidenden Konzerninsolvenz. Bereits die Definition des Konzerns muss aber die folgenden Fragen beantworten: x
Betrifft das Konzerninsolvenzrecht im Wesentlichen die multinationale börsennotierte Aktiengesellschaft, die an mehreren Börsen der Welt gehandelt wird und die eine Fülle von Tochtergesellschaften und gesellschaftsrechtliche Beteiligungen über die ganze Welt verteilt hält?
x
Ist das einzelkaufmännische größere Unternehmen mit Beteiligungen in anderen europäischen Staaten Modell der „Konzerninsolvenz“?22)
x
Ist die X-GmbH mit einer oder zwei (Mehrheits-)Beteiligungen im Inland bereits darunter zu subsumieren?
Gehören dazu Ehegatten, die mehrere Grundstücksgesellschaften des bürgerlichen Rechts betreiben? ___________ x
18) S. dazu Pannen/Riedemann/Smid-Riedemann, StaRUG, § 2 Rz. 48 m. w. N. 19) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Zur Umsetzung: Andere Mitgliedstaaten der EU verfügten bereits vor der Restrukturierungsrichtlinie und dem StaRUG über Sanierungsverfahren außerhalb von Insolvenzverfahren. Im Recht von England and Wales bspw. ermöglicht das „Solvent Scheme of Arrangement“ schon lange ein „außerinsolvenzrechtliches“ Sanierungsverfahren. Es handelt sich dabei um ein Instrument des Gesellschaftsrechts, welches insbesondere für die Sanierung von Versicherungen Bedeutung erlangt hatte, aber auch in anderen Branchen Anwendung findet; zu Versicherungen vgl. Eilers/Labes, Zeitschrift für Versicherungswesen 1998, 625 ff., zum Scheme of Arrangement sonst vgl. Cranshaw, DZWIR 2012, 223, 228. Daneben wurden und werden als Folge und seit der Bankenkrise europaweit kontinuierlich und stetig weiter fortschreitend anders strukturierte öffentlich-rechtliche Regularien zur Sanierung und Abwicklung von Banken geschaffen, s. zur Gläubigerbeteiligung in der Bankenkrise Burkert/Cranshaw, DZWiR 2015, 443. Die dortigen Ziele sind andere als die des § 1 InsO. Sie sind im Kern übergeordneter aufsichtsrechtlicher Natur und sollen das Finanzsystem vor Verwerfungen und den jeweiligen Fiskus, d. h. die Steuerzahler der Mitgliedstaaten, vor Kosten der Bankenrettung bewahren. Der Gläubigerschutz spielt keine tragende Rolle. Für Deutschland ist hier nur auf das Gesetz zur Sanierung und Abwicklung von Instituten und Finanzgruppen (Sanierungs- und Abwicklungsgesetz – SAG), v. 10.12.2014, BGBl. I 2014, 2091, bis zur Änderung vom 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1568) hinzuweisen. 20) Zur aktuellen Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie in den Staaten der Union s. Schade/Blochberger, ZInsO 2022, 1093 ff.; Pannen/Riedemann/Smid-Smid, StaRUG, Teil 2 „Länderberichte“, S. 831 – 858 m. w. N. 21) S. grundlegend zum Konzerninsolvenzrecht K. Schmidt, KTS 2010, 1 ff. S. ferner den interessanten Beitrag von Kieninger/Lips in: FAZ/Wirtschaft, v. 22.7.2013, S. 18. 22) Das Insolvenzverfahren des Schlecker-Konzerns im Jahre 2012 betraf eine natürliche Person als Konzernspitze, die unternehmerisch in der Rechtsform des eingetragenen Kaufmanns handelte. „Schlecker“ war mit vielen tausend Arbeitnehmern zugleich das bis heute (2022) wohl größte Insolvenzverfahren seiner Art.
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14 Einen weiten Ansatz für die Definition des Konzerns für insolvenzrechtliche Zwecke wählt das „Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen“. Maßgebliche Norm ist § 3e Abs. 1 InsO, der wie folgt lautet: „(1) Eine Unternehmensgruppe im Sinne dieses Gesetzes besteht aus rechtlich selbstständigen Unternehmen, die den Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit im Inland haben und die unmittelbar oder mittelbar miteinander verbunden sind durch 1. die Möglichkeit der Ausübung eines beherrschenden Einflusses oder 2. eine Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung.“
15 Es kommt also entweder auf die Beherrschung oder die einheitliche Leitung an, die beiden Merkmale müssen also nicht kumulativ vorliegen. 16 Die Legaldefinition des Gesetzes ist flexibel und mit derjenigen des Art. 2 Nr. 13, 14 EuInsVO im Ergebnis weitgehend identisch, von dem COMI in Deutschland im Entwurf des BMJV natürlich abgesehen. 17 § 3e Abs. 1 Nr. 1 InsO knüpft an die bloße Möglichkeit der Beherrschung an, Vorbild ist § 290 Abs. 1 HGB, wenn auch die dortige Norm anders als § 3e Nr. 1 InsO-E nur Kapitalgesellschaften als Muttergesellschaft erfasst. § 3e Abs. 1 Nr. 2 InsO umfasst den Gleichordnungskonzern. 1.4
Die Erwägungen der EU-Kommission zur Vollendung der Kapitalmarktunion (Zeiträume ab 2015 bis 2022)
18 Die EU-Kommission hat bereits in ihrem Aktionsplan 2015 zur Schaffung einer Kapitalmarktunion23) und früher grenzüberschreitende Investitionshindernisse u. a. im Insolvenzrecht beklagt.24) Wichtiger noch sind die konkreten Beanstandungen der nationalen Insolvenzrechte in demselben Dokument. So wird dort z. B. ausgeführt: „[…] Konvergente Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren würden zu mehr Rechtssicherheit für grenzüberschreitende Anleger beitragen und wären einer frühzeitigen Restrukturierung tragfähiger Unternehmen, die sich in einer finanziellen Notlage befinden, förderlich. […] Im Jahr 2014 veröffentlichte die Kommission eine Empfehlung […] für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, frühe Restrukturierungsverfahren einzurichten und Unternehmern eine ‚zweite Chance‘ zu geben. Diese Empfehlung enthält gemeinsame Grundsätze für nationale Insolvenzverfahren für Unternehmen in Schwierigkeiten […]. Zwar ist die Empfehlung eine nützliche Richtschnur für jene Mitgliedstaaten, die Reformen im Bereich Insolvenz durchführen, doch wurde sie, wie die Bewertung der Kommission […] zeigt, selbst in den Mitgliedstaaten, die Reformen auf den Weg gebracht haben, nur teilweise umgesetzt. Die Kommission wird […] einen Legislativentwurf über Unternehmensinsolvenzen vorschlagen, der Bestimmungen zu frühen Umstrukturierungen und zur ‚zweiten Chance‘ enthält. Dieser Entwurf soll ausgehend von nationalen Regelungen, die gut funktionieren, die wichtigsten Hindernisse für den freien Kapitalverkehr beseitigen. […].“ (Hervorhebungen durch d. Verf.).
19 Ziel des Legislativvorschlags sollte die „Förderung der Konvergenz der Insolvenzverfahren“ sein.25) Das (erste) Ergebnis der Maßnahmen zur Realisierung der (Vollendung der) Kapital___________ 23) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion, v. 30.9.2015, Dokument COM(2015) 468 final, verfügbar auch über die BR-Drucks. 453/15. 24) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion, v. 30.9.2015, Dokument COM(2015) 468 final, BR-Drucks. 453/15, S. 26, 27. 25) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion, v. 30.9.2015, BR-Drucks. 453/15, S. 28, 35: In dem „Inception Impact Assessment, Initiative on Insolvency“ v. 3.3.2016 unterstreicht die Kommission ihre obige Ausgangsbetrachtung, s. dazu unter https:// ec.europa.eu/smart-regulation/roadmaps/docs/2016_just_025_insolvency_en.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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marktunion ist somit die Restrukturierungsrichtlinie. Im Kern regelt sie die Restrukturierung außerhalb eines Insolvenzverfahrens einschließlich der Pflicht der Unternehmensleitungen bei einer wahrscheinlichen Insolvenz, die Interessen der Stakeholder zu wahren, die Bestandsfähigkeit des Unternehmens nicht zu gefährden – und die Insolvenz abzuwenden (Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie). Voraussetzung, sich dieses Verfahrens zu bedienen, ist als Trigger die drohende Zahlungsunfähigkeit (Art. 2 Abs. 2 lit. b, Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie, § 18 InsO n. F. ab 1.1.2021). Ganz vollendet ist der Aspekt der Insolvenzvermeidung als Ziel der Restrukturierungsrichtlinie nicht. Die grenzüberschreitende Anerkennung der Ergebnisse eines Restrukturierungsverfahrens nach der Restrukturierungsrichtlinie und nationalen Umsetzungsgesetzen, die nicht nur aufgrund der grenzüberschreitenden Tätigkeit von Unternehmensträgern, sondern gerade auch von Unternehmensgruppen (Konzernen) von Bedeutung ist, kann nach zutreffender Meinung nur mit den Mechanismen der EuInsVO erfolgen. Deren Anwendung setzt wiederum ein „öffentliches Gesamtverfahren“ im weiten Verständnis des Art. 1 Unterabs. 1, 2 EuInsVO voraus, das – entscheidend – in Anhang A EuInsVO eingetragen ist. In Deutschland erfüllen diese Voraussetzung die §§ 84 – 88 StaRUG (mit Wirkung ab 17.7.2022) i. V. m. der Ergänzung der Anhänge der EuInsVO durch die Verordnung (EU) 2021/2260.26) Die Restrukturierungsrichtlinie regelt aber auch die Entschuldung und die Beschränkung 20 von Berufsverboten unternehmerisch bzw. freiberuflich tätiger natürlicher Personen (Art. 20 – 24 Restrukturierungsrichtlinie) unter Verkürzung des Restschuldbefreiungszeitraums auf drei Jahre (vgl. § 287 Abs. 2 InsO);27) die Umsetzung in Deutschland i. R. der Änderung des Restschuldbefreiungsverfahrens28) inkludiert entsprechend einer Empfehlung der Richtlinie und aus verfassungsrechtlichen wie praxisbezogenen Gründen auch den Verbraucher. Schließlich befassen sich die Art. 25 ff. Restrukturierungsrichtlinie mit Maßnahmen der 21 Effizienzsteigerung der Restrukturierungs- und der Insolvenzverfahren auf der Ebene der befassten Gerichte (Art. 25 Restrukturierungsrichtlinie), der Verwalter (einschl. der Vergütung, Art. 26 f. Restrukturierungsrichtlinie) und der elektronischen Kommunikation (Art. 28 Restrukturierungsrichtlinie). An etwas versteckter Stelle ergänzt die Restrukturierungsrichtlinie in Art. 32 die gesellschafts- 22 rechtliche Richtlinie (EU) 2017/113229) um einen Art. 84 Abs. 4, der die notwendigen Anpassungen im Gesellschaftsrecht (der Aktiengesellschaft) herbeiführt, um die (missbräuchliche) Blockierung der Restrukturierung durch Aktionäre zu unterbinden.30) Im inländischen Recht lösen die Problematik § 225a InsO, § 2 Abs. 3 StaRUG, unter Einbeziehung der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung in den Insolvenz- bzw. Restrukturierungsplan als ___________ 26) Verordnung (EU) 2021/2260 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2021 zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren im Hinblick auf die Ersetzung der Anhänge A und B, ABl. (EU) L 455/4 v. 20.12.2021. 27) Zu den Ausnahmen der „Restschuldbefreiung“ in Restrukturierungsrichtlinie und InsO s. die Synopse bei Pannen/Riedemann/Smid-Cranshaw, StaRUG, Teil 1 Art. 24 RestruktRL Rz. 24 f. 28) Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Mietund Pachtrecht, v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3328 ff. i. V. m. der Übergangsvorschrift des Art. 103k EG InsO. 29) Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017. Die Richtlinie führt, vereinfacht ausgedrückt, die bestehenden gesellschaftsrechtlichen Richtlinien fort und kodifiziert sie (s. ErwG 1 – 3 der Richtlinie (EU) 2017/1132). 30) S. ErwG 96 Restrukturierungsrichtlinie; dazu Pannen/Riedemann/Smid-Cranshaw, StaRUG, Teil 1 Art. 32 RestruktRL Rz. 2 – 10; zu Einzelheiten zu den geänderten Normen des europäischen Gesellschaftsrechts s. Rz. 11 – 36, zu Art. 84 Abs. 4 s. Rz. 37 ff.
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Option des Planvorlegers, rechtsformübergreifend. Gerade für Unternehmensgruppen ist diese Regelung der Richtlinie von Bedeutung, da diese häufig AGs als Mutterunternehmen ausweisen; die Norm des Art. 84 Abs. 4 Richtlinie (EU) 2017/1132 löst Blockaden auf und stellt letztlich klar, dass die Karella/Karellas-Doktrin des EuGH31) mit der zwingenden Beteiligung der Hauptversammlung in den Fällen der (existenzbedrohenden) Krise nicht anzuwenden ist. 23 ErwG 22 der novellierten EuInsVO vom Juni 2015 lautet noch, dass „diese Verordnung […] die Tatsache [anerkennt], dass aufgrund der großen Unterschiede im materiellen Recht ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Geltung für die Union nicht realisierbar ist.“
24 Das i. R. des Aktionsplans zur Kapitalmarktunion in der Restrukturierungsrichtlinie realisierte Konzept weicht hiervon offensichtlich ab. Aus der Restrukturierungsrichtlinie und den verschiedenen Optionen geht die Tiefe der Harmonisierungsbestrebungen hervor. Es darf davon ausgegangen werden, dass Konzernsachverhalte hiervon maßgeblich berührt sind, mangels hinreichender Praxiserfahrung mit Richtlinie und StaRUG können hierzu (2/2023) noch keine belastbaren Aussagen getroffen werden.32) Die bisher zurückhaltende Heranziehung der Instrumente des StaRUG zur Restrukturierung von Unternehmen und Unternehmensgruppen ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass weiterhin die „außergerichtliche“ („freie“) Sanierung außerhalb eines Verfahrens nach dem StaRUG bzw. außerhalb eines Insolvenzplanverfahrens eine entscheidende Rolle spielt und ggf. spielen wird. Die damit verbundene Thematik des Spannungsverhältnisses zwischen den verschiedenen Verfahrensvarianten kann i. R. des vorliegenden Beitrages nicht weitergreifend behandelt werden.33) Das Spannungsverhältnis zwischen Insolvenzverfahren und erfolgreicher Sanierung zeigt aber bereits ein Blick auf die Begleitunterlage zu der Mitteilung, Dokument SWD(2015) 183 final34) der EU-Kommission i. R. der in Entwicklung befindlichen späteren Restrukturierungsrichtlinie. Die Kernelemente sind dort auf S. 75 und in der „Box 9“ zusammengefasst. Die für einzelne Unternehmen und damit erst recht für Unternehmensgruppen dort aufgestellten Maximen können in etwa wie folgt wiedergegeben werden: x
Ineffiziente und divergierende Insolvenzrechtsregelwerke schrecken Investoren ab. Die Zielrichtung der Kommission ist daher der Anreiz für künftige Investoren, wobei man mindestens bevorzugt Anteilsinhaber/Gesellschafter und eigenkapitalähnliche Fremdkapitalgeber im Auge hat, nicht aber den „klassischen“ Gläubiger als Fremdkapitalgeber, Lieferant, Arbeitnehmer usw.
x
Die 28 verschiedenen Insolvenzregime der EU-Mitgliedstaaten führten zu hohen Kosten für Investoren bei der Einschätzung von Insolvenzrisiken bei den Zielunternehmen, in die investiert werden soll.
x
Gesellschaften in Mitgliedstaaten ohne effiziente Systeme zur frühzeitigen Restrukturierung böten Anreize zur Sitzverlegung in einen anderen Mitgliedstaat mit günstigerem Restrukturierungsregime. Damit spielt das Papier u. a. wohl auf die verschiedenen bekannt gewordenen Sitzverlegungen in den letzten zehn Jahren vor 2015 von einzelnen
___________ 31) EuGH, Urt. v. 30.5.1991 – Rs C-19/90 u. a. (Karella und Karellas), Slg. 1991 I-2710 ff. = ECLI:EU:C: 1991:229, str. Rspr. seitdem; dazu Pannen/Riedemann/Smid-Cranshaw, StaRUG; Teil 1 Art. 32 RestruktRL Rz. 44 ff. 32) S. dazu Portisch/Cranshaw, Unternehmensrestrukturierung nach StaRUG, S. 221 f., zu den wenigen Erfahrungen aus der veröffentlichten Judikatur zum StaRUG s. S. 189 ff. 33) S. zu den Varianten der Sanierungsmethoden Portisch/Cranshaw, Unternehmensrestrukturierung nach StaRUG, S. 1 f. 34) Commission Staff Working Document, Economic Analysis, Accompanying the document […], COM(2015) 468 final bzw. SWD(2015) 184 final, Dokument SWD(2015) 183 final, dort S. 73 – 78.
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(deutschen) Unternehmen an, die sich namentlich von dem englischen Recht günstigere Restrukturierungschancen versprochen und wohl erhalten haben. Auch hiervon wiederum sind insbesondere Unternehmensgruppen berührt. Freilich ist diese Kritik der Kommission ein gewisser Widerspruch zu dem etwas modifizierten Konzept des COMI in Art. 3 EuInsVO 2015, der festlegt, dass auch bei Sitzverlagerung in einen anderen Mitgliedstaat die Vermutung des COMI am bisherigen Sitz dann gilt, wenn zwischen Sitzverlagerung und Insolvenzantrag weniger als drei Monate liegen (vgl. ErwG 31 und Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2, Unterabs. 3 EuInsVO). x
Der Mittelpunkt der Zielrichtung der Kommission gilt den präventiven Restrukturierungsverfahren zur Vermeidung der Insolvenz. Ein wesentliches Element dabei ist der Debtor in Possession, der jedenfalls seine Tagesgeschäfte ohne Eingriffe durch einen Dritten (Insolvenzverwalter usw.) selbstständig führt.
x
Anders als in den USA auf der Ebene des Bundes existierten in der EU keine einheitlichen Regelungen, sondern nationale Regelwerke. Die Unterschiede derselben generierten Kosten für grenzüberschreitend tätige Gläubiger, Anreize für forum shopping und „obstacles to the re-organisation of cross-border groups of companies.“
An der Divergenz der Insolvenzrechtsregelwerke hat sich wenig geändert, durch die Re- 25 strukturierungsrichtlinie sind aber die Sanierungsoptionen wohl näher aneinandergerückt. Eine weitgehende Harmonisierung der Insolvenzrechtsregelwerke durch das europäische Recht hätte tiefgreifende Folgen für das derzeitige Insolvenzverfahren nach der InsO. Damit wären auch die Konzerninsolvenzen betroffen, erneut auch die EuInsVO 2015. Eine „Vollharmonisierung“ wie in einigen Regelwerken des Verbraucherkreditrechts würde die EuInsVO für den Raum der Union teilweise obsolet machen und zu einem neuen Internationalen Insolvenzrecht der Union führen, das allein im Verhältnis zu Drittstaaten von Belang wäre. Nicht berührt würde allerdings das Prinzip, dass für jede Gesellschaft einer Unternehmensgruppe ein eigenes Verfahren geführt wird. Bisher besteht Einigkeit über das Verbot einer „Substantive Consolidation“, der materiellen Konsolidierung unter Schaffung einer einheitlichen Insolvenzmasse einbezogener Gesellschaften (vgl. Art. 72 Abs. 3 EuInsVO), wenn es auch in manchen EU-Staaten Ansätze dazu gibt (z. B. Frankreich). Auch die formelle Konsolidierung, die Führung eines einzigen Verfahrens für alle Konzern-/ Gruppengesellschaften scheidet richtiger Weise aus. Dergleichen Strukturen würden zu tiefgreifenden Struktureingriffen in das Gesellschaftsrecht führen und sind nicht zielführend. Die Rechtsentwicklung ist seit der Restrukturierungsrichtlinie (2019/2020) und dem 26 SanInsFoG (StaRUG) auf europäischer Ebene nicht stehengeblieben. Die EU-Kommission hat unter Aufnahme ihrer früheren Gedanken zur Kapitalmarktunion unter dem 24.9.200035) eine Mitteilung publiziert mit dem Titel „Eine Kapitalmarktunion für die Menschen und Unternehmen – neuer Aktionsplan“.36) Ziel ist danach die Vollendung der Kapitalmarkt-
___________ 35) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen v. 24.9.2020, COM(2020) 590 final, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0590&from=DE mit Verlinkungen zu Dokument 1 und Dokument 2 (Abrufdatum: 3.3.2023). 36) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen v. 24.9.2020, COM(2020) 590 final, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0590&from=DE mit Verlinkungen zu Dokument 1 und Dokument 2 (Abrufdatum: 3.3.2023).
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union mit entschlossenen Mitteln.37) Unter „3. Integration der nationalen Kapitalmärkte in einem echten Binnenmarkt“38) ist dort (S. 16) Folgendes zu Insolvenzrechtsregelwerken aufgeführt: „Ein weiteres lange bestehendes strukturelles Hindernis für grenzübergreifende Investitionen sind die enormen Unterschiede zwischen den nationalen Insolvenzregelungen. Aufgrund unterschiedlicher und mitunter ineffizienter nationaler Regelungen sind grenzübergreifend tätige Anleger nur schlecht in der Lage, Dauer und Ergebnis von Beitreibungsverfahren im Falle einer Insolvenz abzuschätzen, sodass Risiken, insbesondere bei Schuldtiteln, auch nur schwer angemessen bewertet werden können. Eine gezielte Harmonisierung bestimmter Bereiche der nationalen Insolvenzregelungen oder ihre Konvergenz könnten daher die Rechtssicherheit erhöhen. Zudem würde es eine regelmäßige Überwachung der Effizienz der nationalen Insolvenzregelungen den Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre Insolvenzregelungen mit denen anderer Mitgliedstaaten zu vergleichen, und sie dazu anregen, diese bei festgestellten Schwächen zu reformieren. Die Ergebnisse der Überwachung könnten auch in das Verfahren für das Europäische Semester einfließen. „Maßnahme 11: Damit Anleger die Ergebnisse von Insolvenzverfahren besser abschätzen können, wird die Kommission eine Initiative mit Legislativmaßnahmen oder nicht legislativen Maßnahmen einleiten, um für ein Mindestmaß an Harmonisierung oder eine verstärkte Konvergenz in gezielten Bereichen des Insolvenzrechts für Nichtbanken zu sorgen. Zudem wird die Kommission zusammen mit der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde Möglichkeiten prüfen, die Datenmeldung zu verbessern, um eine regelmäßige Überprüfung der Wirksamkeit der nationalen Regelungen für die Darlehensvollstreckung sicherzustellen.“
27 Im Anhang zu dem Dokument COM(2020) 519 final (verlinktes „Dokument 2“) wird hierzu Folgendes ausgeführt: „Maßnahme 11: Mehr Berechenbarkeit bei den Ergebnissen grenzüberschreitender Investitionen mit Blick auf Insolvenzverfahren Damit die Konsequenzen von Insolvenzverfahren berechenbarer werden, wird die Kommission bis Mitte 2022 einen legislativen oder nichtlegislativen Vorstoß zur Mindestharmonisierung oder stärkeren Konvergenz in bestimmten zentralen Bereichen der Insolvenz von Nichtbanken unternehmen.“ „Gegenstand des Vorstoßes für ein legislatives oder nichtlegislatives Instrument könnten eine Definition der Insolvenzverfahrensauslöser, die Forderungsrangfolge (Interessenausgleich zwischen verschiedenen Gläubigerarten, insbesondere auch zwischen gesicherten/ungesicherten Insolvenzgläubigern) und weitere zentrale Punkte wie Anfechtungsklagen oder das Aufspüren von Vermögenswerten sein. Dabei werden die Ergebnisse einer öffentlichen Konsultation sowie die Empfehlungen einer Expertengruppe und die Gespräche mit den Mitgliedstaaten berücksichtigt. Außerdem wird eine Folgenabschätzung durchgeführt. [….]“
28 Die Vorlage eines dementsprechenden Regelwerks der Kommission war zunächst für das 2. Quartal 2022 avisiert und ist am 7.12.2022 als offizielle Dokumentation elektronisch publiziert worden (Dokument COM (2022) 702 final, englisch).39) Harmonisierungsvorschläge gibt es auch aus der Wissenschaft, so aktuell zum Anfechtungsrecht.40) Der Richtlinienentwurf widmet sich dem Insolvenzrecht der Unternehmensgruppe bislang nicht. ___________ 37) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen v. 24.9.2020, COM(2020) 590 final, Dokument 1, S. 1, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC0590& from=DE mit Verlinkungen zu Dokument 1 und Dokument 2 (Abrufdatum: 3.3.2023). 38) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen v. 24.9.2020, COM(2020) 590 final, Dokument 1, S. 12 ff., abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020DC 0590&from=DE mit Verlinkungen zu Dokument 1 und Dokument 2 (Abrufdatum: 3.3.2023). 39) S. u. a. die deutsche Fassung des Dokuments „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts“, abrufbar unter https:// eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:8adadc6c-76e9-11ed-9887-01aa75ed71a1.0020.02/DOC_ 1&format=PDF (Abrufdatum: 3.3.2023). 40) S. Bork/Veder, Harmonization of Transactions Avoidance Law; s. die dortige Übersicht zu den Regelwerken von EU-Mitgliedstaaten und Großbritannien sowie zu den Harmonisierungserwägungen (S. 139 ff.) mit einem „Modellgesetz“.
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Die Protagonisten von Insolvenz und Sanierung werden angesichts dessen die europäische 29 Rechtsentwicklung sorgsam beachten und ihr strategisches und taktisches Verhalten frühzeitig darauf ausrichten müssen.41) Schließlich wird sicherlich eine heftige Diskussion in den Mitgliedstaaten und damit auch im Rat einsetzen, welcher Weg der richtige ist. Ungeachtet dessen werden Wissenschaft und Rechtspraxis gleichermaßen die Entwicklungen unverändert begleiten und gestalten müssen. 2.
Die Sanierung des Konzerns, Interessenlagen und -konflikte
2.1
Sanierung anstelle von Liquidation als Strukturelement
Zunehmend hat sich in der Praxis und beim inländischen sowie dem europäischen Gesetz- 30 geber der Gedanke durchgesetzt, dass jedenfalls bei geeignetem Geschäftsmodell die Sanierung des Rechtsträgers des Unternehmens gegenüber der „Zerschlagung“42) der weitaus bessere Weg43) ist. In der Politik steht dieses Ziel anders als wohl noch bei Inkrafttreten der InsO im Vordergrund. In Deutschland wird nicht zu Unrecht stetig eine Effektuierung der Sanierungskultur gefordert. Das ESUG (2012) hatte bereits vielfältige Instrumente geschaffen, um auf diesem Wege voranzuschreiten. Man denke insbesondere an die enorme normative Stärkung der Eigenverwaltung,44) das dort angesiedelte Schutzschirmverfahren (§ 270b InsO a. F., § 270d InsO n. F. ab 1.1.2021) oder die Einbeziehung der Anteilseigner der Gesellschaften in das Insolvenzplanverfahren bis hin zu Kapitalschnitt und Debt Equity Swap (§ 225a InsO),45) mag dieser auch für den Bankengläubiger nur ein Nischenprodukt sein. Für die Sanierung steht daher allein in der InsO eine ganze Toolbox zur Verfügung.46) Das StaRUG hat die Instrumente des Insolvenzplans im Wesentlichen übernommen bzw. erweitert und angepasst (vgl. die §§ 29, 49 ff. StaRUG), umgekehrt hat das SanInsFoG (Art. 5) die InsO durch Instrumente ergänzt, die gerade die Insolvenzen von Unternehmensgruppen bzw. Gruppenunternehmen berühren. Hierfür ist auf die wichtigen gruppeninternen Drittsicherheiten aus § 2 Abs. 4 StaRUG, die Eingang über § 223a InsO in die Regelungen über den Insolvenzplan gefunden haben, ebenso zu verweisen wie auf die Erweiterung des „Cross-Class Cram-down“ in den §§ 26 – 28 StaRUG, wobei Strukturen davon Eingang u. a. in § 245 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Satz 2, 3, Abs. 2a InsO gefunden haben. ___________ 41) Rechtspolitisch werden die verschiedenen Beteiligtengruppen sicherlich versuchen, ihre Vorstellungen einzubringen. Diese Thematik kann indes nicht Gegenstand der vorliegenden Abhandlung sein. 42) Der Begriff der Zerschlagung erfasst nicht nur die Einzelverwertung von Assets des insolventen Unternehmens, sondern in einem weiteren Sinn auch die sog übertragende Sanierung, an deren Ende nach Übertragung der aus Investorensicht erhaltenswerten Unternehmensteile an einen oder mehrere Investoren die Liquidation des bisherigen Unternehmensträgers steht, der letzten Endes als vermögenslos gelöscht wird, § 394 FamFG. 43) Voraussetzung ist die Bestandsfähigkeit eines Unternehmens, denn nicht bestandsfähige sollen „zeitnah abgewickelt werden“, ErwG 3 Restrukturierungsrichtlinie, dem folgend Portisch/Cranshaw, Unternehmensrestrukturierung nach StaRUG, S. 81 f. 44) Dennoch haben sich Eigenverwaltung und Insolvenzplan nach den Erfahrungen der Insolvenzverwalterpraxis bisher (Stand: Ende 2022) nicht durchgesetzt (wohl nur bei gegen 2 %/3 % aller Fälle beim Plan) und bilden aus hier nicht weiter zu erörternden Gründen ein Schattendasein, beim Insolvenzplan insbesondere vor dem Hintergrund hoher Komplexität in nahezu jedem Einzelfall und damit verbunden hohen Kosten zulasten der Masse. Ausgenommen sind offensichtlich Großverfahren, s. R.-D. Mönning in: Göb/Schnieders/Pollmächer, Praxishdb. Gläubigerausschuss, Teil 1 Kap. 1 Rz. 118, u. a. unter Hinweis auf Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, S. 8. 45) Vgl. dazu Schulz, Der Debt Equity Swap in der Insolvenz, sowie Burkert, Der Debt-to-Equity Swap nach § 225a InsO im Spannungsverhältnis von Gesellschafts- und Insolvenzrecht. 46) Cranshaw, BankPraktiker 2/2012, 6 ff., 8 f. Zur entscheidenden Bedeutung des „Geschäftsmodells“ des Krisenunternehmens s. Siemon, ZInsO 2012, 1045, 1047 ff., sowie ZInsO 2013, 1861, 1875, der allerdings in Verkennung des § 1 InsO auch meint, danach sei Ziel des Insolvenzverfahrens „eine Erhaltung des Unternehmens und eine bestmögliche Gläubigerbefriedigung herbeizuführen.“, ZInsO 2013, 1861, 1870. Die Unternehmenserhaltung ist nach § 1 InsO Methode, nicht Ziel.
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31 Damit ist unter politischem Blick bzw. dem der Öffentlichkeit seit Jahren ein gewisser Wandel eingetreten. Mitunter erscheint die Sanierung als eigenständiger Wert im allgemein volkswirtschaftlichen oder arbeitsmarktpolitischen bzw. regionalpolitischen Interesse. Der Gesetzesbefehl des § 1 InsO mag da in den Hintergrund treten, wenngleich die Sanierung des Rechtsträgers eben entscheidend von der Geeignetheit des Geschäftsmodells der Insolvenzschuldner abhängt. Die Politik der EU wird nicht erst seit dem ersten Konzept zur Umsetzung der Kapitalmarktunion (siehe Rz. 18 ff.), sondern schon in der Mitteilung der EU-Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss vom 12.12.2012 damit umschrieben, dass die Modernisierung der Insolvenzrechte zur Erleichterung des Überlebens von Unternehmen und der Ermöglichung einer zweiten Chance für die Unternehmer eine Schlüsselfunktion für das Funktionieren des Binnenmarktes darstelle.47) 2.2
Schranken durch das Recht der Staatsbeihilfen
32 Eine Grenze stellt allerdings das Recht der Staatsbeihilfen nach den Art. 107 ff. AEUV dar, wenn bereits der Entwurf der EuInsVO-Novelle48) in ErwG 11 ausführt, dass ein Sanierungsverfahren nur zulässig sein soll, wenn die Rückführung rechtswidriger Beihilfen gewährleistet sei „Where the full recovery of […] state aid is not possible because the recovery order concerns a company in insolvency proceedings, those proceedings should always be winding-up proceedings and lead to the definitive cessation of the beneficiary‘s activities and the liquidation of its assets“.
33 Damit entsteht im Interesse des unbeeinträchtigten Wettbewerbs in diesen Fällen ein ernstes Sanierungshindernis. Verwendet man die Terminologie des deutschen Insolvenzrechts, so entsteht in Gestalt der europarechtlich determinierten Rückforderungsansprüche eine vorinsolvenzlich begründete erstrangige gesetzliche Masseverbindlichkeit kraft Unionsrechts, die zudem fortlaufend mit Zinseszinseffekt verzinst wird (Art. 16 Abs. 2 Beihilfeverfahrensverordnung49) i. V. m. Art. 11 Abs. 2, 3 Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission). Die Betriebsfortführungsgewinne werden daher ggf. vollständig zur Befriedigung dieser Forderung herangezogen werden müssen. Das Ziel der zweiten Chance wird damit nachrangig gegenüber dem Ziel des ungestörten Wettbewerbs gegenüber den durch die unzulässige Beihilfe abstrakt geschädigten Konkurrenten.50) Die §§ 88, 89 InsO gehen faktisch ins Leere als Folge des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts; § 231 InsO wird zur Zurückweisung des vorgelegten Plans führen, wenn das Problem dort transparent wird.
___________ 47) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss, Ein neuer europäischer Ansatz zur Verfahrensweise bei Firmenpleiten und Unternehmensinsolvenzen Dokument COM(2012) 742 final, v. 12.12.2012, S. 2, 4 und Fn. 8 dort, passim. 48) EU-Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments, des Rates zur Änderung der Verordnung EG Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren, Dokument COM(2012) 744 final, v.12.12.2012. 49) Die Verordnung (EG) Nr. 659/1999 über das Beihilfeverfahren wurde abgelöst durch eine novellierte Fassung, die Verordnung 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015, ABl. (EU) L 248/9 v. 24.9.2015. Die Verordnung (EG) Nr. 794/2004, ABl. (EG) L 140/1 v. 30.4.2004, der EU-Kommission v. 21.4.2004 ist ein Durchführungsregelwerk der „Verfahrensverordnung“, nunmehr der novellierten Verfahrensverordnung. Die Durchführungsverordnung wurde ihrerseits mehrfach angepasst, zuletzt durch die Kommissionsverordnung (EU) 2016/2105, v. 1.12.2016, ABl. (EU) L 327/19 v. 2.12.2016. 50) Vgl. dazu die von der Kommission herangezogene Entscheidung des EuGH, Urt. v. 13.10.2011 – Rs. C-454/09 (Kommission/Italien – New Interline), Rz. 34 ff., ECLI:EU:C:2011:650 = Slg. 2011 I150 ff., vollständig nur in französischer bzw. italienischer Sprache verfügbar.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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Es ist dabei ohne Bedeutung, dass die novellierte EuInsVO 2015 in der verkündeten Fassung 34 diese sehr kritischen Passagen nicht mehr enthält, sondern ErwG 18 sich auf die Äußerung beschränkt, die „[…] Vorschriften über die Rückforderung staatlicher Beihilfen von insolventen Unternehmen, wie sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgelegt worden sind, sollten von dieser Verordnung unberührt bleiben.“
Inhaltlich bedeutet das keinen Unterschied zu dem Entwurf. Ob sich angesichts der Ge- 35 samtheit dieser Entwicklungen die ganz primäre Sicht des inländischen Rechts, das Insolvenzverfahren diene der Befriedigung der Gläubiger, aufrechterhalten lässt, wird abzuwarten sein. Andere Rechtsordnungen sehen das anders, der Blick der EU-Kommission scheint auf den Investor und eher auf das Schuldnerunternehmen denn die Gläubiger gerichtet zu sein. In dem Richtlinienentwurf der EU-Kommission vom 7.12.202251) zur Harmonisierung 36 von Aspekten der Insolvenzrechtsregelwerke der Mitgliedstaaten befasst sich Art. 35 mit den „Auswirkungen wettbewerbsrechtlicher Verfahren auf den Zeitpunkt der Einreichung oder den Erfolg eines Gebots“ im Zusammenhang mit der Behandlung von Pre-PackVerfahren, einem Procedere zum (Teil-)Verkauf des fortgeführten Schuldnerunternehmens unter Aufsicht eines gerichtlich bestellten Sachwalters. 2.3
Divergierende Interessenlagen
Die Interessenlage der Beteiligten an der Konzerninsolvenz könnte strukturell gegen- 37 sätzlicher nicht sein. Die Gesellschafter bzw. die Mitglieder des Vertretungs- oder Aufsichtsorgans werden bestrebt sein, das Insolvenzereignis als eine vorübergehende Änderung der Abläufe verstehen zu wollen, deren Ziel es ist, den Gläubigern den Zugriff auf Vermögenswerte zu verunmöglichen und die Entschuldung durch weitgehende Gläubigerverzichte (welches Instrumentarium hierfür i. E. rechtlich auch verwendet werden mag) voranzutreiben, um auf dem Markt wieder zu reüssieren. Zugleich soll die Kontrolle durch die Konzernobergesellschaft aufrechterhalten werden, ohne dass ein „fremder“ Verwalter oder Gläubiger maßgeblich Einfluss darauf nehmen. Damit richtet sich die Interessenlage auf die Eigenverwaltung. Das Interesse des Gläubigers, der für die (europäische) Rechtsordnung stets dem Leitbild 38 des idealtypischen Gläubigers der Marktwirtschaft entspricht, ist allein auf die konsequente Realisierung seiner Forderung mit den Mitteln gerichtet, die ihm die Rechtsordnung bietet. Dabei wird er die Forderungsdurchsetzung unter Berücksichtigung ökonomischer Grundsätze betreiben und seinen anderweitigen wirtschaftlichen Interessen den gebührenden Platz einräumen. Typisches Beispiel ist zum einen der Kunde des Krisenunternehmens, der von der Lieferung des dortigen Produktes für seinen eigenen Geschäftsbetrieb abhängig ist, weil er es sonst auf dem Markt von Konkurrenten des Krisenunternehmens aufgrund seiner speziellen Zurüstung nicht oder nicht zeitnah bekommen kann. Im Zentrum seiner Strategie steht dann das Interesse an der Fortführung des Lieferanten, nicht die Frage etwa bestehender Ansprüche gegen den insolventen Vertragspartner. Ein anderes – umgekehrtes – Beispiel ist der Zulieferer, der weitgehend von seinem Abnehmer abhängig ist. Auch er wird als Insolvenzgläubiger die Weiterführung des Krisenunternehmens im Fokus haben, nicht unbedingt aber die Optimierung seines Anspruchs auf die Quote. In diesen beiden und damit vergleichbaren Fällen steht die Sanierungsmöglichkeit im Mittelpunkt, der Sanierungsinsolvenzplan wird hier häufig das sachgerechte Instrument sein. ___________ 51) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts COM(2022) 702 final v. 7.12.2022, abrufbar unter https://www.parlament. gv.at/dokument/XXVII/EU/127752/imfname_11210401.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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§ 23 2.4
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung Betroffenheit des Staates und dessen beschränkte Freiheitsgrade für Unterstützungen der Sanierung
39 Der Staat ist auf zwei Ebenen von der Insolvenz betroffen. Zum einen ist er Gläubiger von zum Zeitpunkt der Insolvenz offenen Steuer- und Sozialversicherungsforderungen, zum anderen leidet er auf allen Ebenen vom Bund bis zu den Kommunen unter den insbesondere auf die etwaige Zerschlagung des Unternehmensträgers folgenden Lasten der Arbeitslosigkeit und der Ausfälle an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, insbesondere auch der zukünftigen. Beim Zusammenbruch von Unternehmensgruppen gilt das umso mehr bzw. in einer ganzen Anzahl von Einzelinsolvenzen. 40 Er ist dabei gleichzeitig im konkreten Fall tendenziell eher „hilflos“, da staatliche Hilfen an insolvente Unternehmen sich weitgehend als Maßnahmen darstellen können, die gegen das Verbot der staatlichen Beihilfen nach Maßgabe der Art. 107 ff., 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV verstoßen. Maßstab sind die ebenfalls im Jahr 2014 novellierten und zunächst vom 1.8.2014 – 31.12.2020 anzuwendenden Leitlinien der EU-Kommission für „Staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten“ (verlängert bis 31.12.2023).52) Die „Leitlinien“ enthalten als Anhang II das „Muster“ eines Umstrukturierungsplans. Im Rahmen der COVID-Pandemie hat die Kommission zudem einen „Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19“ veröffentlicht (19.3.2020 – zunächst 31.12.2020, verlängert bis zum 31.12.2021 bzw. 30.6.2022).53) Zur Vereinheitlichung der Anwendung der „Leitlinien“ in Deutschland hat das BMWi am 15.1.2021 eine bis 31.12.2025 geltende, von der EU-Kommission genehmigte, „Bundesrahmenregelung für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung kleiner und mittlerer Unternehmen in Schwierigkeiten“ erlassen und damit die bisherige Rahmenregelung v. 15.1.2015 verlängert.54) Das wohlfeile Postulat nach staatlichen Bürgschaften an Krisenunternehmen ist daher stets zweischneidig. Für den damit gesicherten Kreditgeber meist risikofrei,55) führt die unzulässige EinzelBeihilfe mit der Folge der Nichtigkeit der vertraglichen Vereinbarungen mit dem staatlichen Beihilfegeber gemäß § 134 BGB zu erheblichen Problemen für das begünstigte ___________ 52) Mitteilung der Kommission, Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten, Dokument 2014/C 249/01, ABl. (EU) C 249/1 v. 31.7.2014; zu Beginn und Auslauf der Leitlinien s. dort Rz. 135, zu Übergangsregelungen für verschiedene Gruppen von Altfällen s. Rz. 136 ff. Für Banken in der Krise gelten andere Regelmechanismen, auf die vorliegend nicht einzugehen ist. Die Verlängerung erfolgte aufgrund einer (Sammel-)Mitteilung der Kommission v. 2.7.2020 über die Verlängerung und Änderung einer Reihe von Beihilfemitteilungen (hier: Nr. 1 lit. d i. V. m. Nr. 12); s. Mitteilung der Kommission über die Verlängerung und Änderung der Leitlinien für Regionalbeihilfen […], Dokument C(2020) 4355 final, v. 2.7.2020, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/ALL/?uri=PI_COM%3AC%282020%294355 (Abrufdatum: 3.3.2023). 53) Mitteilung der Kommission, Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19 (Dokument 2020/C 91 I/01), ABl. (EU) C 911/1 v. 20.3.2020. 54) Abrufbar unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/B/beihilfenkontrollpolitik-bundesrahmenregelung-staatliche-beihilfen-rettung-umstrukturierung-unternehmen.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Abrufdatum: 3.3.2023). 55) S. dazu EuGH, Urt. v. 8.12.2011 – Rs. C-275/10 (Residex Capital IV CV/Gemeente Rotterdam), Slg. 2011 I-13043 ff. = ECLI:EU:C:2011:814 sowie EuGH, Urt. v. 17.9.2014 – Rs. C-242/13 (Commerz Nederland NV/Havenbedrijf Rotterdam NV), ECLI (EU) C 2014, 2224. Zur tendenziell hohen Bedeutung des Beihilferechts auch für Details von Insolvenzverfahren s. EuGH, Urt. v. 24.1.2013 – Rs. C-73/11 P (Frucona Kosice), Rz. 73 ff., ECLI:EU:C:2013:32 = ZInsO 2013, 1250. Zur weitgehenden Risikofreiheit für den Bürgschaftsnehmer s. auch Grüneberg-Ellenberger, BGB, § 134 Rz. 3 m. w. N.; Cranshaw, WM 2008, 338 ff.; s. dazu insbesondere die Mitteilung der Kommission über die Anwendung […] auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Garantien, ABl. (EU) C 155/10 v. 20.6.2008, Dokument 2008/C 155/02, Rz. 2.2, 2.3 dazu, wann der Kreditnehmer und – ausnahmsweise – der Kreditgeber als Beihilfeempfänger gilt.
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Unternehmen.56) An das Problem des § 8c Abs. 1a KStG a. F. als unzulässige Beihilferegelung aus dem Blick der Kommission sei hingewiesen.57) Bei der Inanspruchnahme staatlicher Hilfen bei der Betriebsfortführung wird man daher gerade im Konzern darauf achten müssen, dass ein Beihilfeproblem zuverlässig vermieden wird. Will man öffentliche Mittel nutzen, muss dies entweder aus einem von der EU-Kommission genehmigten „Bürgschaftsprogramm“ oder einem sonstigen von der Kommission genehmigten Instrument geschehen, soweit es auch Unternehmen in der Krise offensteht, oder die Maßnahme ist der Kommission als sog. Rettungsbeihilfe – in 2. Stufe als Umstrukturierungsbeilhilfe – nach den zitierten Leitlinien zur Genehmigung zu notifizieren.58) Die Aufmerksamkeit für beihilferechtliche Probleme hat zugenommen, sie bedarf aber, wie die Praxis unverändert zu zeigen scheint, noch weiterer Vertiefung bei den Protagonisten des Insolvenz- und Sanierungsgeschehens.59) Die strategische Planung der Krisenunternehmen, die staatliche Hilfen ausschöpfen wollen, muss daher auch auf den Ablauf solcher Rahmenregelungen achten. 3.
Kernprobleme der Konzerninsolvenz
Bei all den oben umrissenen Erwägungen und Problemfeldern ist eine ganz entscheidende 41 Frage nicht beantwortet, nämlich diejenige, warum die „Konzerninsolvenz“ überhaupt dergleichen Probleme bereitet. Die Antwort ist scheinbar einfach: Es gab bislang bis zur Kodifizierung des internationalen Konzerninsolvenzrechts durch die EuInsVO-Novelle und mit Ausnahme des Gesetzes zur Erleichterung von Konzerninsolvenzen kein normiertes Konzerninsolvenzrecht, wobei wiederum die Frage ist, was man denn darunter verstehen will. Die Insolvenzrechtsregelwerke bauen auf der Insolvenz des jeweiligen Rechtsträgers eines Unternehmens auf. Das Insolvenzverfahren ist das Verfahren der einzelnen juristischen Person, der Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit (künftig ab 1.1.2024 nach dem MoPeG: rechtsfähige Personengesellschaft) oder der natürlichen Person als Konzernspitze. Die Ausgestaltung eines Konzerninsolvenzrechts stellt sich auch hier jeder der Stakeholder nach seiner Interessenlage vor. Aus dem Blick eines Mehrheitsgesellschafters der gesamten Unternehmensgruppe, aber 42 auch aus dem Blick der Konzernleitung wäre sicher meist die Idealsituation, dass mit der in Eigenverwaltung zu organisierenden Insolvenz der Mutter formell zugleich die Tochter___________ 56) Zur Nichtigkeit s. BGH, Urt. v. 4.4.2003 – V ZR 314/02 (Ausgleichsleistungsgesetz I), ZfIR 2003, 603 = EStAL 2003, 497 ff., st. Rspr. Zu gravierenden delikts- bzw. wettbewerbsrechtlichen Folgen für das begünstigte Unternehmen vgl. BGH, Urt. v. 10.2.2011 – I ZR 136/09 (Flughafen Frankfurt-Hahn), BGHZ 188, 326 ff. = ZIP 2011, 732 ff. Auf öffentlich-rechtlich durch Verwaltungsakt vergebene rechtswidrige Beihilfen ist hier nicht einzugehen, § 48 VwVfG ist im Ergebnis nicht anwendbar, Vertrauensschutz gibt es für den Beihilfeempfänger in praxi nicht. Ebenso können im vorliegenden Rahmen keine Beihilfen erörtert werden, die kraft Gesetzes, also auf der Basis von abstrakten Beihilferegelungen gewährt werden; das Gesetz darf nicht angewandt werden. 57) EU-Kommission, Beschl. v. 26.1.2011 – C 7/10 bzw. 2011/527/EU, ABl. (EU) C 235/26 v. 10.9.2011, (Negativentscheidung). Zur weiteren Entwicklung s. Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 4 Rz. 4.115 – 4.118, s. auch EuGH, Urt. v. 28.6.2018 – Rs C-203/16 P, (Dirk Andres als IV der Heitkamp Bauholding GmbH), ECLI:EU:C:2018:505 = ZIP 2018, 1345. 58) S. o. die zitierten von 2014 – 2023 geltenden und die früheren „Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten“, ABl. (EU) C 244/2 v. 1.10.2004. Für die bis 31.7.2014 relevanten Fälle bleibt es beim damaligen Recht, das damit noch weit in die Zukunft wirkt, da es für bereits einmal gewährte illegale Beihilfen eine nahezu beliebig „unterbrechbare“ Rückforderungsfrist von zehn Jahren gibt, s. Art. 15 der Verordnung 659/99/EG, ABl. (EG) L 83/1 v. 27.3.1999. Die Nachfolgeregelung, die Verordnung 2015/1589, dort Art. 17, ändert an den Fristen nichts. Zur Thematik s. die Übersicht von Arhold/Struckmann, ZInsO 2016, 929 (Teil 1) sowie ZInsO 2016, 1029 (Teil 2). 59) Nicht von ungefähr hat das IDW den Prüfungsstandard „Prüfung von Beihilfen nach Artikel 107 AEUV insbesondere zugunsten öffentlicher Unternehmen (IDW PS 700)“ im Jahr 2011 publiziert, mag dieser auch auf die in der Bezeichnung genannten Unternehmen fokussiert sein, Wpg Supplement 4/2011, S. 3 ff.
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gesellschaften in das Insolvenzverfahren einbezogen werden, um (wie nach geltendem Recht gerade nicht) eine gemeinsame Insolvenzmasse (siehe dazu unter Rz. 115, 159 ff., 165 ff.) zu bilden, aus der dann alle Gläubiger gleichmäßig befriedigt würden oder jedenfalls die Insolvenzverfahren formell auf eines zu konzentrieren (wie ebenfalls zutreffend nicht). Auf eine materielle Insolvenz der jeweiligen Konzerngesellschaft würde es dann ggf. ebenfalls nicht mehr ankommen. Nach einem solchen Idealbild wäre Insolvenzgerichtsstand der Sitz der Muttergesellschaft, den diese rechtzeitig strategisch im jeweils günstigsten Staat für eine Sanierung suchen würde. Es wäre im Falle der Eigenverwaltung ein einziger Sachwalter (vgl. bei der vom Gesetzgeber gewählten zutreffend bloßen Koordinationsvariante des Konzerninsolvenzrechts § 274 Abs. 1 InsO i. V. m. § 56b InsO) zu bestellen, wenn man einmal im deutschen Recht bleibt, das mit der InsO über ein im internationalen Vergleich vorzügliches Insolvenzrechtsregelwerk verfügt. 43 Koordination statt Konsolidierung, als richtige Lösung. Der Gesetzgeber hat sich indes für eine zudem optionale Struktur des Konzerninsolvenzrechts unter strikter Aufrechterhaltung der formellen und materiellen Trennung aller einzelnen Insolvenzverfahren der betroffenen Gruppengesellschaften entschieden, wie der Gruppengerichtsstand (= Verfahrenskonzentration) zur ggf. koordinierten Durchführung der Insolvenzverfahren über das Vermögen der einzelnen Gruppengesellschaften nach den §§ 3a ff. InsO (insb. nach § 3a Abs. 1 und § 3e InsO) ebenso zeigt wie § 56b InsO über die Bestellung eines einzigen Insolvenzverwalters oder Sachwalters (siehe zu § 274 InsO oben Rz. 42) für alle betroffenen Konzern-/Gruppengesellschaften.60) Die EuInsVO regelt diese Thematik in den Art. 61 – 70. Hinzu kommt, dass die Koordinationslösung von InsO und EuInsVO dem Grundsatz der „Freiwilligkeit“ der beteiligten Insolvenzverwalter und der Gläubiger der einzelnen Gruppeninsolvenzverfahren untersteht, u. a. ein Ausdruck der Gläubigerautonomie der Einzelverfahrens (vgl. nur § 269i InsO). Der Insolvenzverwalter des einzelnen Gruppenverfahrens muss einen etwa vorgelegten Gruppenkoordinationsplan ggf. erläutern (wenn dies nicht durch den Verfahrenskoordinator i. S. des § 269h InsO oder seinen Bevollmächtigten geschieht) und begründen, warum er von den dortigen Vorschlägen abweichen will; Thole bezeichnet dies treffend (zu dem im Ergebnis inhaltsgleichen Art. 70 Abs. 2 EuInsVO) mit den Worten „Comply or Explain“. 44 Überragende Nachteile materieller Konsolidierung. Ein materielles KonsolidierungsModell ist für die Gesamtheit der Gläubiger nur scheinbar ideal, da zwar das gesamte Konzernvermögen zu ihrer Befriedigung zur Verfügung steht, freilich nur für diejenigen, die nur Forderungen gegen einzelne Gesellschaften der Gruppe haben und unbesichert sind. Für andere Gläubiger, die bspw. zwar auch nur gegen eine einzige Gesellschaft der Unternehmensgruppe Ansprüche haben, welche ohne diese Zusammenfassung aber zu 100 % zu befriedigen wären, i. R. einer „konsolidierten“ Insolvenz aber darunter bleiben, sind solche Strukturen und Ergebnisse einer „materiellen Konsolidierung“ (siehe i. E. Rz. 159 ff.) negativ. Die aktuelle Rechtslage mit Trennung der Vermögenssphären führt dazu, dass die Gläubiger, die allein bei der Muttergesellschaft oder der einen oder anderen Tochter engagiert sind, die kaum eine Quote abwirft, auch nur eine geringe Quote bekommen. Zugespitzt bedeutet das, dass aus demselben Gebilde „Konzern“ der eine Gläubiger voll befriedigt werden könnte, der andere aber (fast) seine gesamte Forderung verliert. Besonders negativ sind/wären bei einer solchen Insolvenzabwicklung Gläubiger betroffen, die ihre Forderungen gegen eine Konzerngesellschaft durch Haftungen (persönliche und/oder dingliche) sämtlicher anderer gruppenangehörigen Unternehmen besichert haben. Die Nachteile von Konsolidierung für die Gesamtheit der Gläubiger überwiegen deutlich, sie ist daher abzulehnen. ___________ 60) S. zu einem „Konzerninsolvenzverwalter“ schon früh, Graeber, NZI 2007, 265.
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Kein Zweifel besteht freilich, dass eine Koordination der Verfahren über das Vermögen 45 der einzelnen Gruppengesellschaften – auch grenzüberschreitend – häufig nützlich sein wird, soweit nicht Zweifel daran bestehen, ob dies mit dem gemeinsamen Interesse der Gläubiger vereinbar ist (vgl. § 3a Abs. 2 InsO, Art. 63 Abs. 1 lit. b EuInsVO). Ebenso zweckmäßig dürfte häufig die Bestellung eines einzigen Insolvenzverwalters (§ 56b InsO), erst recht eines Sachwalters (§ 274 InsO mit den dortigen Bezugnahmen) sein, wenn die Probleme der durchaus realen Interessenkollisionen beherrschbar sind, jedenfalls durch einen Sonderinsolvenzverwalter (auch ökonomisch vertretbar), § 56b Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 InsO. Gläubigerschädigendes Forum Shopping – national wie grenzüberschreitend. Besonders 46 nachteilig auf die Interessen der Gläubiger wirkt sich fraudulentes Forum Shopping aus. Dieses Risiko erscheint besondere ausgeprägt bei der Insolvenz von Unternehmensgruppen bzw. ihrer einzelnen Mitglieder; es ist aber nicht nur grenzüberschreitend einzuhegen, wie dies Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2, Unterabs. 2, 3 EuInsVO 2015 versucht. Forum Shopping ist generell unerwünscht (vgl. ErwG 5 EuInsVO 2015), soweit rechtsmissbräuchlich. Dasselbe gilt im Inland, hier ist der Begriff mit der stets missbräuchlichen „Firmenbestattung“ verbunden, deren Ziel die Schädigung der Gläubiger ist. Ähnlich sind auch Forum Shopping-Phänomene wie das sog. „Bremer Modell“ dezidiert 47 als offenkundige Fehlentwicklung zu kritisieren, wie das u. a. der BAKinso zum Ausdruck gebracht hat.61) Sie sind zur Gefährdung von Gläubigerinteressen geeignet.62) 4.
Funktion der Betriebsfortführung des „Konzerns“ in der Insolvenz
Vor einem weiteren Blick auf das Internationale Insolvenzrecht bzw. das kodifizierte Kon- 48 zerninsolvenzrecht soll vor dem vorstehend beschriebenen Hintergrund die Frage nach Funktion und Zielsetzung der „Betriebsfortführung des insolventen Konzerns“ in der Insolvenz umrissen werden. Die Aufrechterhaltung des Betriebs des Schuldnerunternehmens im Eröffnungsverfahren ist der Regelfall nach inländischem Recht, die Schließung die Ausnahme (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Abs. 2 InsO; für das eröffnete Verfahren vgl. zudem § 158 Abs. 1 InsO). Die Gläubiger hätten keine wirkliche Option mehr, über das Verlangen nach Entwicklung und Vorlage eines Sanierungsinsolvenzplans zu entscheiden, wenn der Betrieb oder die Betriebe bereits geschlossen sind. Die „vorläufige“ Eigenverwaltung, ob nach § 270b InsO (= § 270a InsO a. F., bis 31.12.2020) oder nach § 270d InsO („Vorbereitung einer Sanierung, Schutzschirm“ = § 270b InsO a. F.), baut systematisch auf der Unternehmensfortführung auf, ansonsten machten diese Instrumente wenig Sinn.63) Das gilt auch für die Durchführung des eröffneten Verfahrens in Eigenverwaltung, wenngleich man sich rechtsdogmatisch natürlich auch die übertragende Sanierung – d. h. die Veräußerung der zu dem Unternehmen gehörenden Vermögenswerte unter Liquidation des Rechtsträgers, also unter dessen Zerschlagung – in Eigenverwaltung, vorstellen kann. Gerade die beabsichtigte Stärkung des Insolvenzplans, die Förderung der Sanierung des Rechtsträgers in Deutschland, ist das Anliegen des ESUG,64) worunter die übertragende
___________ 61) Vgl. Smid, ZInsO 2021, 1893, 1893 unter 2. (BAKInso), passim. 62) S. das Zitat bei Smid, ZInsO 2021, 1893. 63) Zu einem für die Beteiligten potentiell durchaus problematischen Fall der außergerichtlichen Sanierung mit dem Verfahren nach § 270b InsO a. F. als verfahrensrechtlichem Vehikel vgl. AG Göttingen, Beschl. v. 12.11.2012 – 74 IN 160/12, ZIP 2012, 2360 ff., dazu kritisch Cranshaw, jurisPR 3/2013 Anm. 3. Das Insolvenzgericht hat in diesem Fall das eingeleitete, aber dann für erledigt erklärte „Schutzschirmverfahren“ als Vehikel akzeptiert, eine vorinsolvenzliche Sanierung im Gewand eines beantragten Insolvenzverfahrens zu organisieren. 64) S. Flöther, ZIP 2012, 1833 ff.
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Sanierung eben nicht zählt.65) Ungeachtet dessen ist die übertragende Sanierung, in der „Konzerninsolvenz“ auch diejenige einzelner (Teil-)Unternehmen oder Betriebe, ein bewährtes Instrument; sogar das auf Restrukturierung des Rechtsträgers zielende StaRUG sieht nicht nur die Unternehmensfortführung bis zur Grenze der ökonomischen Aussichtslosigkeit vor, sondern damit auch das Instrument der übertragenden Sanierung (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 2, 3 StaRUG, „[…] anderweitige Fortführung […]“). Die Restrukturierungsrichtlinie sieht das ebenso, wie die Definition in Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 zeigt, denn eine zur Restrukturierung des Schuldners beitragende Maßnahme ist u. a. der „[…] Verkauf von Vermögenswerten oder Geschäftsbereichen und […] der Verkauf des Unternehmens als Ganzen […]“. 49 Aber auch dann, wenn die übertragende Sanierung, rechtlich ein „Asset Deal“ von Sachund Rechts- bzw. Forderungsgesamtheiten, ins Auge gefasst wird, ist die Weiterführung des Betriebs essentiell und zwar bei allen Einheiten des Konzerns, bei denen eine übertragende Sanierung angedacht ist und ein M&A-Verfahren eingeleitet werden soll. 50 Die Betriebseinstellung als ultima ratio beendet übrigens zugleich auch die Chance der übertragenden Sanierung.66) Für die Sanierung des insolventen Rechtsträgers selbst sprechen u. a. bestimmte Rechte und Befugnisse, auch solche des öffentlichen Rechts, die nur der Rechtsinhaber als Rechtsposition innehat, die einem Erwerber i. R. der übertragenden Sanierung nicht verbleiben und die er möglicherweise überhaupt nicht, jedenfalls nicht in der vorliegenden Form, erhält.67) Die Nutzung der in der Zukunft immer wichtiger werdenden gewerblichen Schutzrechte und Urheberrechte sowie der die Insolvenz (abhängig von ihrer jeweiligen Konstruktion) ggf. überdauernden Lizenzen68)(also von geistigem Eigentum der Unternehmen) ist regelmäßig auf den Zusammenhalt der arbeitsteiligen Organisation und die beteiligten Arbeitnehmer des Schuldnerunternehmens sowie auf Werkzeugtools angewiesen. Mit anderen Worten kann das Immaterialgüterrecht, das vielleicht sogar selbst teuer entwickelt wurde, seine ökonomischen Vorteile und Wirkungen vollständig verlieren, wenn die Organisation zerfällt und das betreffende Produkt nicht mehr hergestellt wird, das Patent, die Marke, das Recht auf Nutzung eines Urheberrechts an einem IT-Programm nur noch auf dem Markt bei höchst volatilen Preisstrukturen verkauft werden kann.69) Ein dramatischer Werteverfall kann eintreten. 51 Die Fortführung birgt – freilich auch für Insolvenzverwalter und Gläubigerausschussmitglieder (vgl. die §§ 60, 61, 71 InsO) – durchaus Risiken, insbesondere in der Phase des Insolvenzeröffnungsverfahrens, wenn ggf. noch völlig unbekannt ist, wo die Insolvenzur-
___________ 65) Zu einem praktischen Fall der übertragenden Sanierung bei einem internationalen Konzern, der sich von Geschäftsfeldern weltweit und rechtsträgerübergreifend „organisiert“ trennen wollte, vgl. BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 ff. = ZInsO 2012, 2386. Zu einer missglückten Trennung wesentlicher Unternehmenswerte im Konzern in der Insolvenz vgl. LG Mannheim, Urt. v. 2.3.2015 – 2 O 147/14, juris = GRURPrax 2015, 464: „Übertragung eines Patents: Sukzessionsschutz einer Lizenz für einen hermetisch gekapselten Verdichter für Kühlschränke“, dazu Cranshaw in: FS Pannen, S. 335 ff. und 342 ff. 66) Daher entfällt bei Betriebsstilllegung auf längere Zeit und späterer Wiederaufnahme einer Betriebstätigkeit durch einen anderen Rechtsträger auch die Anwendung der Betriebsübergangsregelung des § 613a BGB, vgl. nur Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 613a Rz. 13 m. w. N. 67) Bitter/Laspeyres, ZIP 2010, 1157 ff.; Flöther, ZIP 2012, 1833 ff. 68) Vgl. BGH, Urt. v. 19.7.2012 – I ZR 24/11 (Take Five), ZIP 2012, 1671 ff. = ZInsO 2012, 1611 ff.; BGH, Urt. v. 19.7.2012 – I ZR 70/10 (M2Trade), ZIP 2012, 1561 ff. = GRUR 2012, 916 ff. 69) S. dazu Knapp in: FCH-Sicherheitenkompendium, Kap. I, S. 781 ff., 806 ff. Cranshaw in: FCH-Sicherheitenkompendium, Kap. K, S. 819 ff., 851 f. m. w. N.
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sachen liegen und wo evtl. mit Verlust produziert wird.70) Diese für einen einzelnen Rechtsträger geltenden Erwägungen gelten erst recht im Konzern. Dort besteht geradezu typisch das Problem der arbeitsteiligen Organisation bzw. der Tiefe derselben. Beispiel: Besteht eine Unternehmensgruppe z. B. aus einer Muttergesellschaft, die faktisch nur als XYBeteiligungsholding fungiert, einer Finanzierungsgesellschaft im Ausland (z. B. XY-Finance BV), drei inländischen Spartenproduktionsgesellschaften, die produzieren und ihre Produkte nach Konzernvorgaben über Gruppenvertriebsgesellschaften zu Preisen veräußern, die das Konzernrechnungswesen kalkuliert (siehe unten zu den Konzernumlagen bzw. Konzernverrechnungspreisen unter Rz. 106 ff.), ist die Insolvenz tendenziell problematisch abzuwickeln. Kreditgeber werden bei einer solchen Konstellation jedenfalls neben der XY-Finance BV alle beteiligten und von der Finanzierung mittelbar profitierenden Gesellschaften „mitverpflichten“ und von allen Gesellschaften die Globalzession der Forderungen, auch derjenigen innerhalb des Konzerns, verlangen, zudem die Sicherungsübereignung der produzierten Waren und ggf. die typische Verpfändung der Geschäftsanteile der operativen Gruppengesellschaften. Abhängig ist dies bei Beteiligung ausländischer Konzerngesellschaften natürlich davon, ob die ggf. heranzuziehende ausländische Rechtsordnung diese Instrumente ermöglicht. Gefördert wird dies grenzüberschreitend durch die Auslegung von Art. 8 EuInsVO (= Art. 5 EuInsVO a. F.). Wie sich in Fällen wie hier die mögliche Einbeziehung der gruppeninternen Drittsicher- 52 heiten i. S. des §§ 217 Abs. 2, 223a InsO (Tochter-, Mutter-, Schwesterunternehmen usw. als Drittsicherungsgeber persönlicher oder dinglicher Sicherheiten) in einem Insolvenzplan auf die Refinanzierung der Unternehmensgruppe gerade in der Krise auswirken wird, bleibt abzuwarten. Ob die angemessene Entschädigung für den betroffenen Gläubiger (§ 223a Satz 2 InsO) ein adäquater Ausgleich für den Verlust der Sicherheit ist, darf hinterfragt werden, da von Bewertungsfragen abhängig. Die notwendige Zustimmung der betroffenen Konzerngesellschaft (vgl. § 230 Abs. 4 InsO), die die Entschädigung aus der Masse leisten muss, ist natürlich bei aufrecht erhalten gebliebener Konzernbindung eher leicht zu erhalten. Die Neuregelung ist ein „Einstieg“ in den „Ausstieg“ aus dem Grundsatz der „Vollberücksichtigung“ nach § 43 InsO.71) Die Betriebsfortführung in Deutschland wird im Insolvenzeröffnungsverfahren europaweit 53 einzig durch die sog. Insolvenzgeldvorfinanzierung erheblich gefördert, die zur Liquiditätsverbesserung in den letzten drei Monaten vor Verfahrenseröffnung insoweit beiträgt, als die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer durch Forderungskauf von einem Kreditinstitut vorfinanziert werden, das dann die Insolvenzgeldleistungen der Bundesagentur erhält.
___________ 70) Daher ist das Vorgehen nach § 270d InsO (= § 270b InsO a. F.) nur dann sinnvoll, wenn es gut vorbereitet wurde und die wesentlichen Gläubiger, ggf. auch Abnehmer der Erzeugnisse und Dienstleistungen, eingebunden worden sind, was regelmäßig ein entsprechendes Sanierungsgutachten voraussetzt. Hinter diesem Postulat bleibt § 270b Abs. 1 Satz 3 InsO a. F. zurück, der allerdings lediglich die „Rettung“ des Insolvenzschuldners bis zum Insolvenzplan/Sanierungsplan im Auge hat. S. dazu auch den IDW Standard IDW S 9 zu der Bescheinigung nach § 270b InsO, Wpg. Supplement 4/2014, S. 45 ff., sowie IDW S 11 zur Frage des Vorliegens von Insolvenzgründen, s. dazu Wpg Supplement 2/2015, S. 108, dazu Becker/Bieckmann/Martin/Müller, KSI 2014, 197 ff.; aktuell hat das IDW einen novellierten Standard S 9 entwickelt, IDW Standard, Bescheinigung nach § 270d InsO und Beurteilung der Anforderungen nach § 270a InsO (IDW S 9 n. F.), Stand: 8.11.2022, IDW Life 11/2022. 71) S. zu diesem Grundsatz K. Schmidt-Thonfeld, InsO, Rz. 1.
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Die auf die Bundesagentur übergegangenen Forderungen sind nur gewöhnliche Insolvenzforderungen nach § 38 InsO (vgl. § 55 Abs. 3 InsO, § 169 SGB III).72) II.
Die Konzerninsolvenz im internationalen Insolvenzrecht und in einzelstaatlichen Insolvenzrechtsregelwerken
1.
Das internationale Insolvenzrecht der EU73)
1.1
Besondere Probleme des internationalen Insolvenzrechts für Konzerne
54 Der Kern der Problematik eines internationalen Konzerninsolvenzrechts ist noch vielschichtiger als der einer rein nationalen Konzerninsolvenz.74) Hier wie dort geht es aber um die Problematik der divergenten Gläubigerbefriedigung nach den nationalen Rechtsordnungen und zwar im Hinblick darauf, dass Gläubiger in Konzerninsolvenzfällen nicht stets bei allen ___________ 72) Ob diese Vorgehensweise, die in den meisten Fällen als nahezu unverzichtbarer Sanierungsbeitrag angesehen wird, europarechtlich vor dem Hintergrund des Beihilferechtsregimes langfristig „hält“, wofür sehr viel spricht, kann hier offenbleiben. Die praktisch unangefochtene Meinung verneint hier ein Problem (a. A. noch Cranshaw, Einflüsse des europäischen Rechts, S. 1335 ff., 1340). Zur Praxis der Insolvenzgeldvorfinanzierung s. i. E. den Überblick bei Muschiol, ZInsO 2016, 248 ff. sowie Cranshaw in: Cranshaw/Paulus/Michel, Bankenkommentar, Vor § 120 Rz. 81 ff., 103 – 126, S. 1189 ff., 1202, 1215, sowie Cranshaw, ZInsO 2013, 1493; ein gewisses Restrisiko könnte aus § 55 Abs. 3 InsO resultieren, wenn auch die meisten Arbeitnehmeransprüche im Antragsverfahren ohnehin nicht Masseverbindlichkeit werden. Die EU-Kommission hatte 2009 ein Beihilfeproblem verneint, wenn auch vor dem Hintergrund nicht weiter durchschlagender Missverständnisse zu dem System der Vorfinanzierung in Deutschland; s. EU-Kommission, Entscheidung v. 19.11.2009 – Dokument K(2009) 8707 endgültig, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/state_aid/cases/233552/233552_1095452_13_2.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). Für den Finanzierer besteht kein Risiko. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er darauf besteht, dass seine Forderungen auf „Zinsen“ und weitere Entgelte aus der Vorfinanzierung bzw. Ansprüche aus Risikoübernahmen gegen den insolventen Arbeitgeber (sollte die Arbeitsagentur einen geringeren Betrag als er der Vorfinanzierung entspricht später als Insolvenzgeld festsetzen) zu Masseverbindlichkeiten werden und das Insolvenzgericht auf Antrag des vorläufigen Verwalters oder des Insolvenzschuldners in der Eigenverwaltung entsprechend beschließt. Dabei geht es nicht um die angekauften und nach §§ 398 ff. BGB auf die Bank übergangenen Entgeltforderungen der Arbeitnehmer (s. Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1498, 1505). Soweit in der Praxis Missverständnisse aufgetreten sind, muss man diese wie vorstehend umrissen auflösen. Vom Charakter der an den Vorfinanzierer übergegangenen Entgeltansprüche der Arbeitnehmer als Masseverbindlichkeit hätte die vorfinanzierende Bank übrigens nichts, da diese auf die Bundesagentur übergehen (§ 169 SGB III) und die Bank „im Gegenzug“ den Insolvenzgeldanspruch originär erwirbt (Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1497, 1502). Die geschilderten Ansprüche auf Entgelte usw. gegen den insolventen Arbeitgeber setzen naturgemäß entsprechende Passagen in den üblichen „Rahmenverträgen“ zwischen dem Vorfinanzierer und dem Insolvenzschuldner ebenso voraus wie einen Beschluss des Insolvenzgerichts, der zur Begründung von Masseverbindlichkeiten zu diesem Zweck der Besicherung der Entgelt- und Risikofreistellungsansprüche des Vorfinanzierers ermächtigt (vgl. § 270c Abs. 4 InsO n. F., ab 1.1.2021). Im Konzern stellt jede insolvente Gesellschaft eine eigenständige Insolvenzgeldvorfinanzierung dar; s. dazu auch Muschiol, ZInsO 2016, 261. Zum Insolvenzgeld s. auch die eingehende Darstellung von Braun/Weber-Arnold in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 29. 73) Dänemark hat die EuInsVO nicht angenommen und bleibt auch nach der Novellierung der EuInsVO Drittstaat, vgl. ErwG 88 EuInsVO, ebenso wie Großbritannien nach dem Brexit. 74) Diese Vielschichtigkeit wird aber nicht etwa dadurch generiert, dass die Unternehmen bzw. deren Rechtsträger jederzeit ihren statutarischen bzw. tatsächlichen Sitz als Folge der Rspr. des EuGH in einen anderen Mitgliedstaat verlegen und daher ihr COMI, den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen wirtschaftlichen Interessen (Art. 3 EuInsVO), verändern können. Sogar der grenzüberschreitendende Rechtsformwechsel ist auch ohne kodifiziertes Regelwerk längst möglich (vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 (Vale), ZIP 2012, 1394 ff. = NJW 2012, 2715 ff., dazu Cranshaw, jurisPR-InsR 20/2012 Anm. 1, mit Folgen für Insolvenz und Betriebsfortführung. Der missbräuchlichen Verlegung des COMI versucht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2, Unterabs. 3, 4 EuInsVO entgegenzuwirken, indem er bestimmt, dass die widerlegbare Vermutung, der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sei der statutarische Sitz (Gesellschaften), die Hauptniederlassung (natürliche Personen als Selbstständige) bzw. der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts (natürliche Personen ohne selbstständige Tätigkeit), nur gelte, wenn der aktuelle Sitz, die Niederlassung usw. außerhalb bestimmter Fristen vor dem Insolvenzantrag begründet wurden. Bei Unternehmen sind das drei Monate, bei Verbrauchern sechs Monate.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
Konzerngesellschaften engagiert sind, sondern mit ganz unterschiedlicher Rechtsposition nur bei dem einen oder anderen Unternehmen. Der Komplexität der Tatsachenlage aus Gläubigersicht werden daher Auffassungen nicht vollständig gerecht, die generell ein einheitliches Konzerninsolvenzverfahren ohne jegliches Sekundärverfahren für einzelne Konzerngesellschaften unter einem einzigen Insolvenzverwalter vorsehen. Zum einen sind Interessenkonflikte vorgezeichnet, sofern man nicht implizit die Auffassung vertritt, in der Konzerninsolvenz verfolge ein gemeinsamer Verwalter stets die Interessen aller Beteiligten und lasse sich in Zweifelsfragen durch Gutachter beraten.75) Die novellierte EuInsVO 2015 versucht mit der komplexen Regelung des Art. 36 EuInsVO den Spagat zwischen einer aus dem Gesamtblick der Abwicklung der Unternehmensinsolvenz tendenziell schädlichen Verfahrensspaltung und der berechtigten Sorge „lokaler“ Gläubiger in einem Mitgliedstaat um ihre Positionen. Im Kern steht dabei die Befugnis des Hauptinsolvenzverwalters, zur Vermeidung eines Sekundärinsolvenzverfahrens den lokalen Gläubigern die Zusicherung zu geben, die dem etwaigen Sekundärverfahren unterfallenden Vermögenswerte des Insolvenzschuldners im Ergebnis so zu verteilen, wie wenn ein Sekundärverfahren eröffnet worden wäre; damit werden Verteilungs- und Vorzugsrechte gewahrt. Die bekannten lokalen Gläubiger müssen zustimmen (Art. 36 Abs. 1, 2, 5 Satz 1 EuInsVO).76) Die Problematik unterscheidet sich allerdings im Kern naturgemäß nicht von derjenigen 55 in ausschließlichen Inlandsfällen mit insolventen Unternehmensgruppen. Bei grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen kann der Grad der Komplexität allerdings ansteigen, wenn theoretisch jedes Verfahren jeder beteiligten insolventen Gesellschaft in Haupt- und Sekundärverfahren aufgespalten wäre. Im Interesse aller Gläubiger liegt es meist, wenn in den verschiedenen Verfahren soweit als möglich ein einziger Verwalter aktiv wird und Sekundärverfahren auf das unumgängliche Maß beschränkt werden. Voraussetzung ist die bereits erwähnte Beherrschung von Interessenkonflikten (vgl. für die inländischen Verfahren § 56b Abs. 1 InsO). Das rechtliche Problem besteht strukturell i. Ü. auch darin, dass es kein gemeinsames 56 materielles Insolvenzrecht der Staaten gibt, auch nicht innerhalb Europas (vgl. ErwG 22 EuInsVO). Das mag man bedauern wie die EU-Kommission77) oder nicht, jedenfalls ist aufgrund der verschiedenen Traditionen und Entwicklungen auf absehbare Zeit wohl nicht mit einem solchen einheitlichen Recht (i. S. einer „Vollharmonisierung“) in Europa trotz der Bemühungen der EU-Kommission zu rechnen, sofern nicht i. R. des Legislativvorschlags einer Teilharmonisierung wesentlicher Aspekte des Insolvenzrechts durch die EU-Kommission78) ein erfolgreicher „Durchbruch“ das Ergebnis ist. Das weitere Schicksal des Richtlinienvorschlags in der Diskussion zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Ministerrat in den Jahren ab 2023 bleibt abzuwarten. Verfahrensrechtlich ist das Problem des europäischen Insolvenzrechts die Möglichkeit von 57 Sekundärverfahren, die bei einem Gläubigerantrag geradezu dazu dienen können, dem ___________ 75) Verhoeven, ZInsO 2012, 2369, 2376. 76) Zur Lage bei den Sekundärverfahren s. Cranshaw, DZWIR 2014, 473 ff., sowie Reinhart in: MünchKommInsO, Art. 36 Rz. 1, 11 – 23, 35 ff. – zur Billigung nach Art. 36 Abs. 5 EuInsVO. 77) Vgl. das Commission Staff Working Document SWD(2015) 183 final zu dem „Action Plan on Building a Capital Markets Union“, S. 72 ff., 74 f.; u. a. heißt es dort (S. 75): „In the absence of EU action, the discrepancies between the Member States […] insolvency legislations are likely to continue to create costs for cross- border creditors, incentives for forum-shopping und obstacles to the re-organisation of cross-border groups of companies.“ 78) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts COM(2022) 702 final, v. 7.12.2022, abrufbar unter https://www.parlament. gv.at/dokument/XXVII/EU/127752/imfname_11210401.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
Hauptinsolvenzverwalter79) die Vermögenswerte der betroffenen Gesellschaft im Interesse der lokalen Gläubiger i. S. des Art. 2 Nr. 11 EuInsVO zu entziehen.80) Der Umstand, dass es bislang über jede Konzerngesellschaft ein eigenes Insolvenzverfahren mit dezentraler Abwicklung gibt, ist einer der Gründe, weshalb es dazu kommen kann, dass der Gläubiger der einen Konzerngesellschaft eine hohe Quote realisiert, während Insolvenzgläubiger einer anderen Gesellschaft nur eine geringe oder keine Quote bekommen. Damit wird die Möglichkeit der Sanierung der Gruppe tendenziell gestört. Mit der Frage der Koordinierung hat das im Ergebnis wenig zu tun. Die Problematik kann mit entsprechenden „Garantien“ für die lokalen Gläubiger weitgehend vermieden werden, wie dies Art. 36 EuInsVO auch vorsieht.81) Eine Lösung wäre strukturell zuverlässig nur möglich, wenn die Vermögen der Konzernunternehmen als eine einzige Masse verstanden werden könnten, die Insolvenz also verfahrensrechtlich die Schwelle der rechtlichen Selbstständigkeit der einzelnen Gesellschaften überwindet und materiell alle Gläubiger gleichgestellt würden – nach Maßgabe einer einheitlichen lex fori concursus. Das Verfahrensziel bestünde in der Sanierung des Konzerns und zwar im Interesse der Volkswirtschaft, insbesondere auch des Arbeitsmarktes, der Stärkung des Gedankens der unternehmerischen Betätigung, des „Fresh Start“ und der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger im gesamten Binnenmarkt unter gewisser Hintanstellung der institutionell vorgegebenen Egoismen einzelner Gläubiger. Eine solche Lösung hätte freilich u. a. nachhaltige negative Folgen für die Refinanzierung der Unternehmen. Beispielsweise würde man viel mehr als bisher schon Sachsicherheiten fordern, insbesondere aber die Kreditgewährung deutlich erschweren und verteuern müssen. 58 Den Schaden bei dergleichen Strukturen i. V. m. einer einmal vorgestellten generellen Abschaffung von Sekundärinsolvenzverfahren würden nicht nur die Kleingläubiger tragen, die ihre Rechte im Ausland aus Kostengründen und aus Gründen der Sprache (was sich ebenfalls nicht wirklich einpreisen lässt)82) kaum würden angemessen verfolgen können. In derselben Situation sind weitgehend auch mittelständische Gläubiger (KMU), die in Deutschland und in der EU die große Mehrheit der Unternehmen stellen (ca. 99 %, Kleinstunternehmen davon gegen 90 %) und von außerordentlich großer Bedeutung für die Volkswirtschaft sind. Dazu gehören auch die mittelständischen Kreditinstitute. Wie soll die örtliche Sparkasse oder Volksbank, die z. B. mit 100 000 € bei einer kleineren Konzerngesellschaft gegen Sicherheiten engagiert ist, ihre Rechte ggf. kostenträchtig in einem ausländischen Verfahren verfolgen, wenn man etwa an so sperrige Materien wie die Anfechtung oder Aufrechnung denkt? Daher ist wiederum Art. 36 EuInsVO die zutreffende Lösung, der u. a. eine schriftliche Fassung der Zusicherungen in der Amtssprache des Staates des ansonsten in Frage kommenden Sekundärverfahrens verlangt und zudem auch den Rechtsschutz gegen das Handeln des Hauptinsolvenzverwalters aus der Erklärung vor den Gerichten des fiktiven Sekundärverfahrens ebenso wie des Hauptverfahrens erlaubt. ___________ 79) Der Hauptinsolvenzverwalter kann seinerseits Interesse an einem Sekundärverfahren haben, um die landesspezifischen Probleme insbesondere der Fortführung einer effizienten Steuerung zuzuführen. 80) Der vielfach verwandte Begriff des „lokalen“ Gläubigers ist tendenziell irreführend, denn er impliziert, es handele sich um eine Teilgläubigergruppe von minderer Bedeutung im übergreifenden Hauptinsolvenzverfahren. Häufig sind diese Gläubiger aber diejenigen mit der Mehrzahl der Forderungen in der Summe und der Mehrheit nach Köpfen. Der „lokale Gläubiger“ ist definitionsgemäß derjenige, dessen Forderungen gegen den Schuldner im Kontext mit dem Betrieb einer Niederlassung des Schuldners (i. S. des Art. 2 Nr. 10 EuInsVO) außerhalb des Staates seines COMI i. S. des Art. 3 EuInsVO entstanden sind. 81) So im Ergebnis auch zu der entsprechenden Regelung schon im Entwurf der EuInsVO-Novelle die diesbezügliche Stellungnahme der BRAK Nr. 14, 7/2013, Registernummer 25412265365-88 unter IV. 2., S. 4 der pdf-Datei, abrufbar unter http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-europa/2013/juli/stellungnahme-der-brak-2013-14.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 82) Der Sprachenproblematik bei der Forderungsanmeldung suchen die Art. 54 f. EuInsVO mit einem Formularverfahren in allen Amtssprachen zu steuern, im Koordinierungsverfahren der Unternehmensgruppeninsolvenz durch das Sprachregime des Art. 73 EuInsVO.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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Eine der Möglichkeiten, im Vorfeld der Insolvenz deren Abläufe zu steuern, besteht nicht 59 nur in der Durchführung eines Restrukturierungsverfahrens nach dem StaRUG in einem öffentlichen Verfahren nach den §§ 84 ff. StaRUG und für ausländische Gruppengesellschaften nach den jeweils in Anhang A EuInsVO (Fassung 2022) aufgenommenen Umsetzungsregelwerken der anderen Mitgliedstaaten, so dass die Konzernbindung und -steuerung durch das Mutterunternehmen aufrechterhalten bleibt. Weitere Maßnahmen sind die rechtzeitige Sitzverlegung in eine geeignete Jurisdiktion oder in den Sitzstaat des Mutterunternehmens (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO ist zu beachten) und die „Hineinumwandlung“ – in praxi von Tochter- bzw. Beteiligungsunternehmen – in eine Rechtsform der Rechtsordnung der Muttergesellschaft, um damit Effizienzgewinne vor allem für die Unternehmensfortführung in einem Insolvenzplanverfahren in der Jurisdiktion der Muttergesellschaft zu generieren. Einen solchen Rechtsformwechsel hat die Rechtsprechung des EuGH bereits 2012 in dem zitierten Urteil „Vale“ bejaht, zuletzt im Urteil „Polbud“ (v. 12.10.2017)83) sogar die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Umwandlung und Sitzverlegung des statutarischen Sitzes unter Beibehaltung des effektiven Verwaltungssitzes; die bisherige Inlandsgesellschaft wird formell „Auslandsgesellschaft“, Anknüpfungspunkt für den EuGH ist die Niederlassungsfreiheit. Der europäische Richtliniengeber hat i. R. der Umwandlungsrichtlinie84) die Möglichkeiten hierzu eingehend kodifiziert. Allerdings sieht ErwG 25 vor, dass die Gläubiger des Unternehmens in der bisherigen Form und Jurisdiktion durch eine „Solvenzerklärung“ der Geschäftsleitungen geschützt werden können, wonach kein Grund bekannt ist, dass die aus den Umwandlungsvorgängen hervorgehende Gesellschaft bzw. Gesellschaften (bei Spaltung) nicht in der Lage seien, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen; umgesetzt ist dieses Postulat durch ein Gläubigerschutzsystem in Art. 86j Umwandlungsrichtlinie und Art. 126a der durch die Mobilitätsrichtlinie geänderten und umfassend ergänzten Richtlinie (EU) 2017/1132. Der Bundestag hat am 20.1.2023 dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Umsetzungsrichtlinie mit den Änderungsvorschlägen des Rechtsausschusses zugestimmt.85) Die Richtlinie ist nach Anhang II Art. 3 Abs. 1 Satz 1 bis 31.1.2023 in mitgliedstaatliches Recht umzusetzen.86) Auf Details beider Regelwerke kann vorliegend nicht i. E. eingegangen werden. Sie erweitern aber die strategischen Sanierungsoptionen im Konzern und sind dadurch von erheblichem potentiellen Einfluss auch auf Fortführungsoptionen. Erforderlich ist stets die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der betroffenen Gruppenunternehmen. 1.2
Strukturen der EuInsVO
Die EuInsVO geht wie erwähnt grundsätzlich von der Struktur der Insolvenz des einzelnen 60 Rechtsträgers aus. Der Versuch, die Tochtergesellschaften als eine Art Niederlassung der Muttergesellschaft zu sehen, ist an der Rechtsprechung des EuGH zu Recht gescheitert.87) Der Gerichtshof hat im Urteil Rastelli88) zutreffend darauf erkannt, dass die nach franzö___________ 83) EuGH, Urt. v. 12.10.2017 – Rs C 106/16 (Polbud), ECLI:EU:C:2017:804 – Verlegung einer polnischen „beschränkt haftenden Gesellschaft“ (Rz. 8 des Urteils) nach Luxemburg. 84) Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.11.2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (Umwandlungsrichtlinie), v. 27.11.2019, ABl. (EU) L 321/1 v. 12.12.2019, nach Art. 3 umzusetzen bis 31.1.2023. 85) RegE, BT-Drucks. 20/3822 v. 5.10.2022; Beschlussempfehlung und Bericht d. RA, v. 18.1.2023, BT-Drucks. 20/5237. 86) S. Gesetz zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie und zur Änderung weiterer Gesetze, v. 22.2.2023, BGBl. I 2023, Nr. 51 v. 28.2.2023. 87) EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C- 341/04 (Eurofood/Parmalat), Slg. 2006 I-3880 ff. = ECLI:EU:C: 2006:281 = ZIP 2006, 907 ff. 88) EuGH, Urt. v. 15.12.2011 – Rs. C-191/10 (Rastelli), Slg. 2011 I-13209 = ECLI:EU:C:2011:838 = ZIP 2012, 183 ff. = DZWIR 2012, 166 ff., sowie Cranshaw, DZWIR 2012, 133 ff., 136.
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sischem Insolvenzrecht (Art. L 621-2 Abs. 2 Code de Commerce) mögliche Einbeziehung eines anderen Rechtsträgers in eine Insolvenz unter „Konsolidierung“ der Vermögensmassen bei vorheriger Vermögensvermischung nicht grenzüberschreitend möglich ist (nach nationalem Recht aber zugelassen). Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2000 stehe dem entgegen. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2015 ändert hieran aber nichts. Die Aufrechnungs- und Anfechtungsproblematik lösen die inhaltlich unveränderten Art. 9 und 16 EuInsVO (= Art. 6 und 13 EuInsVO 2000), da die lex causae für die ausländischen Gläubiger im Staat des fiktiven Sekundärverfahrens streitet. Im Rahmen der Zusicherung kann auch eine Vereinbarung dahingehend erfolgen, dass auf die Anfechtung das Recht des Staates des fiktiven Sekundärverfahrens anzuwenden und vor dessen Gerichten der Anfechtungsprozess zu führen sei (Folge aus Art. 36 Abs. 1 EuInsVO). Dies insbesondere auch deshalb, weil der EuGH der lex causae des Art. 13 EuInsVO a. F. (Art. 16 EuInsVO) zutreffend umfassende Wirkung zuerkannt hat.89) 61 Zur Entwicklung und zur Systematik: Als Folge eines Initiativberichtes aus dem europäischen Parlament bzw. dessen Rechtsausschuss bereits im Jahre 2011 wurde aufgrund einer Anhörung und Evaluation von der Europäischen Kommission im Dezember 2012 ein Vorschlag für eine Novellierung der EuInsVO vorgelegt, die in eigenen Erwägungsgründen (ErwG 20 sowie die neuen ErwG 20a und 20b) die Konzerninsolvenz in den Blick nahm.90) Diese Lösung, die bei Verabschiedung der Verordnung im vorgeschlagenen Umfang in allen Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung ohne weitere Umsetzungsakte entfaltete, entwickelte in einem eigenen Kapitel IVa „Insolvency of members of a group of companies“ (in der deutschen Sprachfassung: „Insolvenz von Mitgliedern einer Unternehmensgruppe“) eine Reihe von Instrumenten für eine formelle Konzerninsolvenz, die nunmehr in den ErwG 6, 49 – 62 und in Kapitel V der schließlich verabschiedeten EuInsVO in den Art. 56 – 77 EuInsVO 2015 ihren endgültigen und umfänglichen Niederschlag gefunden haben. Ergänzt werden diese Normen durch Änderungen des Rechts der Sekundärverfahren der Art. 34 – 52 EuInsVO. 62 Die Durchführung der EuInsVO 2015 im Inland regelt Art. 102c EGInsO in den dortigen §§ 1 – 26, wobei sich die §§ 22 – 26 mit den Durchführungsvorschriften der EuInsVO zu „Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Unternehmensgruppe“ auseinandersetzen.91) 63 Es handelt sich bei den Bestimmungen zum Konzerninsolvenzrecht insbesondere um Verfahrensregelungen, die unmittelbar die mitgliedstaatlichen Verfahren betreffen, soweit grenzüberschreitende Vorgänge berührt werden. Unter Berücksichtigung der Bedeutung gegenseitiger Kooperation sieht Art. 56 EuInsVO die Kooperation und Kommunikation zwischen den verschiedenen Insolvenzverwaltern vor, die Art. 57 und 58 EuInsVO zwischen den Gerichten bzw. den Gerichten und den Verwaltern oder Art. 76 EuInsVO zwischen den Schuldnern in Fällen mit Eigenverwaltung. Die Zusammenarbeit kann, wie das in inter-
___________ 89) Vgl. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs. C-557/13 (ECZ/Lutz), ECLI:EU:C:2015:227 = ZIP 2015, 1030 ff. = DZWIR 2016, 14 ff.; BGH, Urt. v. 15.10.2015 – IX ZR 265/12, ZIP 2015, 2284 ff. 90) S. das Dokument der EU-Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren, Dokument COM(2012) 744 final, v. 12.12.2012, sowie die begleitende Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Ein neuer europäischer Ansatz zur Verfahrensweise bei Firmenpleiten und Unternehmensinsolvenzen, Dokument COM(2012) 742 final; beide Dokumente abrufbar unter http://ec.europa.eu. 91) S. dazu den Überblick bei Kühne/Cranshaw in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 32 Rz. 23 f., 26, 113 und 114 ff. – Übersicht über die Regelungsinhalte der Art. 56 – 77 EuInsVO.
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nationalen Fällen zur Überwindung von Problemfällen üblich ist, in Form von Protokollen92) oder Vereinbarungen geschehen (Art. 56 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO). Die zentralen Aufgaben fasst Art. 56 Abs. 2 EuInsVO zusammen, insbesondere in lit c, mit den Worten: „[…] (c) zu prüfen, ob Möglichkeiten einer Sanierung von Gruppenmitgliedern, über deren Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, bestehen und, falls eine solche Möglichkeit besteht, sich über den Vorschlag für einen koordinierten Sanierungsplan und dazu, wie er ausgehandelt werden soll, abzustimmen.“93)
In der Praxis gibt es schon lange international bereits Erfahrungen mit Strukturen, die 64 faktisch diese Kooperation widerspiegeln, wobei das Ziel nicht einmal die rechtliche Aufrechterhaltung des Konzerns als solches sein muss, auch die in Deutschland übertragende Sanierung genannte Verfahrensabwicklung kann auf diese Weise strukturiert werden. In diesem Zusammenhang darf auf das etwas zurückliegende Beispiel eines kanadischen Konzerns aus dem Bereich der Telekommunikation hingewiesen werden, der jedenfalls teilweise die Sanierung durch Veräußerung von Geschäftsfeldern weltweit über Insolvenzverfahren organisierte. Das Insolvenzverfahren über die deutsche Konzern-GmbH fand in England statt.94) Für die Fortführung in einem solchen oder vergleichbaren Fällen ist entscheidend, dass auf die Arbeitnehmer (im Allgemeinen) das Arbeitsrecht und das Insolvenzarbeitsrecht des Beschäftigungslandes Anwendung finden, womit die lex fori concursus ausgeblendet bleibt. Das ist eine Folge aus Art. 10 EuInsVO 2000 (= Art. 13 Abs. 1 EuInsVO 2015). Absatz 2 Unterabs. 1 der neu gefassten Vorschrift enthält die Regelung, dass die Beendigung oder Änderung von Arbeitsverträgen bzw. -verhältnissen in der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaates eines möglichen Sekundärverfahrens verbleibt, mit anderen Worten bei den Gerichten des Staates der Beschäftigung des Arbeitnehmers, denn dort befindet sich auch eine Niederlassung i. S. des Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 (vgl. ErwG 72 EuInsVO). 2.
Das autonome internationale Insolvenzrecht der §§ 335 ff. InsO
Das gegenüber Drittstaaten geltende autonome internationale Insolvenzrecht der Bundes- 65 republik (§§ 335 ff. InsO) orientiert sich, von Besonderheiten, die man gegenüber Drittstaaten für erforderlich hält (da ihnen gegenüber nicht der unionsrechtlich determinierte Grundsatz des strukturell unbedingten Vertrauens in die gegenseitigen Rechtsordnungen besteht),95) abgesehen, an den Leitlinien der EuInsVO. Die EuInsVO 2015 zwingt nicht ___________ 92) S. dazu schon Paulus, ZIP 1998, 977 ff.; s. aktuell Reinhardt in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 10.15 m. w. N.; die Instrumente sind Vereinbarungen der Verwalter unter den Stichworten „Protokoll“ („protocols“), auch „Memorandum of Understanding“. Voraussetzung ist die Vereinbarkeit mit dem jeweiligen nationalen Insolvenzrechtsregelwerk, in Deutschland unter Beachtung des Verbots der Insolvenzzweckwidrigkeit des Verwalterhandelns, aber auch unter Beachtung des weiten haftungsrechtlich (s. § 60 InsO) unbedenklichen Spielraums des Verwalters bei unternehmerischen Entscheidungen für die Insolvenzmasse. Diese Grundsätze gelten auch für den Verwalter von Gruppenunternehmen in Konzerninsolvenzen und gerade in der dortigen Unternehmensfortführung, zum Entscheidungsspielraum s. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, LS a), b), BGHZ 225, 90, 91 f. = ZRI 2020, 303 = NZI 2020, 671. 93) Inhaltlich ist damit wieder die lex fori concursus nach Art. 7 EuInsVO (= Art. 4 EuInsVO 2000) entscheidend. 94) Vgl. dazu BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 ff. = ZInsO 2012, 2386, Cranshaw in: Cranshaw/Paulus/Michel, Bankenkommentar, § 337 InsO/Art. 10 EuInsVO Rz. 2 – 4, 9, 11 f., 14. Dasselbe gilt für die Insolvenzversicherung der Arbeitnehmer gegen die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nach Art. 9 der Richtlinie 2008/94/EG v. 22.10.2008, ABl. (EU) L 283/36 v. 28.10.2008 i. d. F. der Richtlinie (EU) 2015/1794 v. 6.10.2015, ABl. (EU) L 263/1 v. 8.10.2015; sie ist die Nachfolgeregelung der novellierten, inhaltlich unveränderten Richtlinie 80/987/EWG i. d. F. der Richtlinie 2002/74/EG und europarechtliche Grundlage des Insolvenzgeldes der §§ 165 ff. SGB III. 95) Vgl. ErwG 22 EuInsVO 2000 sowie zum autonomen internationalen Insolvenzrecht die BT-Drucks. 15/16 v. 25.10.2002, S. 13 f.
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zu einer Änderung der §§ 335 ff. InsO. Die Regelungen des Kapitels V der EuInsVO harmonieren mit dem in der Insolvenzordnung kodifizierten Konzerninsolvenzrecht und mit den Drittstaatenregelungen der §§ 335 – 358 InsO. Die Linien der EuInsVO sind im internationalen Verkehr mit Drittstaaten freilich nur eingeschränkt heranziehbar. Allerdings lässt sich etwa die Judikatur des EuGH zur internationalen Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates für Insolvenzanfechtungsklagen (und mittlerweile sonstige Annexverfahren, i. S. des Art. 6 EuInsVO 2015)96) auch gegen Anfechtungsgegner mit Sitz in Staaten außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO entgegen der hier bis zur 3. Auflage geäußerten Auffassung auch auf Konzerninsolvenzsachverhalte übertragen (Kollisionen zwischen Gruppengesellschaften in verschiedenen Ländern, auch Drittstaaten). Freilich können Maßnahmen eines mitgliedstaatlichen Insolvenzgerichts nicht Cross-Border im Verhältnis zu Drittstaaten wirksam ohne ausdrückliche Anerkennung erfolgen. Die Kommunikation und Kooperation der beteiligten Gerichte, Verwalter und Schuldner in der Eigenverwaltung mit den entsprechenden Protagonisten aus Drittstaaten ist ohne weiteres möglich, wie etwa bei teleologischer Auslegung der Art. 56 – 58 EuInsVO folgt. Für die inländischen Gerichte gilt das nach § 348 Abs. 2 InsO ohnehin. Entscheidend ist aber, was die Rechtsordnung des Drittstaates gestattet. Maßgebliches Instrument dürften Optionen der Verwaltervereinbarung in dem jeweiligen Insolvenzrechtsregelwerk sein, die vorerwähnten „Protokolle“. 66 Die seit Jahren kontinuierlichen Initiativen der EU-Kommission zur Vollendung der Kapitalmarktunion, wie bereits dargestellt97), mögen zu wie auch immer letztlich ausfallenden Harmonisierungen der nationalen Insolvenzrechte führen; dann sind in diesem Umfang auch die §§ 335 ff. InsO ggf. anzupassen. Es ist freilich darauf hinzuweisen, dass die Betriebsfortführung der ausländischen Konzerngesellschaft auch außerhalb des EuInsVO-Raums sich natürlich nach den Regelungen richtet, die das jeweilige ausländische Recht vorsieht.98) Hier liegt gerade der Kern der damit nachvollziehbaren, ja zwingenden international gebräuchlichen Protokolle der verschiedenen Insolvenzverwalter. Im Übrigen ist von Bedeutung, ob das inländische Verfahren in einem Staat, der nicht die EuInsVO anwendet, überhaupt und in welchem Umfang anerkannt wird. Umgekehrt kann der ausländische Insolvenzrichter ungeachtet der von ihm zu beachtenden lex fori concursus außerhalb des Anwendungsbereichs der Art. 56 ff. EuInsVO nicht etwa für die Konzerntochter in einem anderen Staat irgendwie eine materielle oder formelle Verfahrenskonsolidierung beschließen. Innerhalb der EU verbieten das das Urteil „Rastelli“ und Art. 72 Abs. 3 EuInsVO, im Verhältnis zu Drittstaaten die insoweit fehlende Anerkennung grenzüberschreitender Entscheidung, ggf. der ordre public (§ 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO). In tatsächlicher Hinsicht verunmöglichen das zudem die Regelungen der §§ 354 ff. InsO über die Optionen der Durchführung eines Partikularverfahrens im Inland dergleichen Anordnungen und Folgen. Es bleibt stets bei der Möglichkeit der bloßen Koordinierung der Verfahren auf der Basis der Freiwilligkeit. Abschließend sei nur zur Verdeutlichung der heutigen Rechtszersplitterung auch in der europäischen Nachbarschaft daran erinnert, dass die EuInsVO in der EU nicht in Dänemark gilt, wie oben erwähnt, nicht im EWR (Norwegen, Island, Liechtenstein)
___________ 96) S. dazu eingehend Mankowski/Müller/J. Schmidt-Mankowski, EuInsVO 2015, Art. 6 Rz. 9 – 26, 30, 31 – 33. 97) Richtlinienvorschlag der Kommission v. 7.12.2022, COM(2022) 702 final. 98) Neben Bestimmungen des ausländischen Insolvenzrechts ist die gesamte Rechtsordnung, öffentliches Recht wie Zivilrecht und Strafrecht, zu beachten.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
und nicht im Verhältnis zur Schweiz, obwohl vielfältige und umfangreiche völkerrechtliche Abkommen mit diesen Staaten bestehen.99) III.
Der Konzern im Regelinsolvenzverfahren und im Verfahren mit Insolvenzplan
1.
Insolvenzgründe
1.1
Vorbemerkung
Wie die vorstehenden Ausführungen zur Vielschichtigkeit der „Konzerninsolvenz“ und 67 einigen Phänomenen des internationalen Insolvenzrechts zeigen, lässt sich die Frage nach der Position der Insolvenzgründe in der „Konzerninsolvenz“ nur näherungsweise beantworten. Das hat wiederum mit der gebotenen individuellen Betrachtung jeder einzelnen Konzerngesellschaft als selbstständigem Rechtsträger zu tun. Die Schranke der rechtlich selbstständigen juristischen Person muss, von extremen Ausnahmenfällen wie dem des Eingriffs wegen Missbrauchs durch Gesellschafter sowie Leitungsgremien und ähnlichen Konstellationen abgesehen, gewahrt bleiben. Zur Lösung dieser und ähnlicher Probleme hat der BGH die Existenzvernichtungshaftung als Fallgruppe des § 826 BGB und damit eines deliktischen Tatbestandes in der „Trihotel“-Judikatur100) entwickelt, die in Konzerninsolvenzfällen von erheblicher Bedeutung ist. Unberührt bleiben dabei in der Insolvenz der diversen Gruppengesellschaften weitergehende Ansprüche wie solche aus Insolvenzanfechtung, aus der Aufrechterhaltung gegenseitiger Verträge (vgl. § 103 InsO bei Erfüllungswahl) oder Ansprüche auf den Ausgleich von „Intra Group“-Masseverbindlichkeiten. Ihr Beiseiteschieben in der Krise um der Vereinfachung der praktischen Handhabung der Konzernsanierung halber hätte schwerwiegende Verwerfungen im Gesellschaftsrecht, in der unternehmerischen Zielsetzung des Konzerns selbst, aber auch in der Refinanzierung der Unternehmen zur Folge. Geht man von dieser Prämisse aus, so hat das auch in Ansehung der Insolvenzgründe eine Einzelbetrachtung der verschiedenen Konzerngesellschaften zur Konsequenz. Grenzüberschreitend kommen die Unterschiede der verschiedenen Rechtsordnungen hinzu. Die EU-Kommission hat freilich innerhalb ihres Plans zur Kapitalmarktunion u. a. auch die 68 weitere Harmonisierung des Gesellschaftsrechts (der Kapitalgesellschaften) neben derjenigen des Insolvenzrechts der Mitgliedstaaten101) im Blick.102) ___________ 99) Entscheidungen in Insolvenzsachen gegenüber Tochtergesellschaften im EWR und in der Schweiz können aufgrund der Bereichsausnahme des Art. 1 Abs. 2 lit. b Lugano-Übereinkommen (II, 2007) dort nicht durchgesetzt werden bzw. es bedarf in der Schweiz prozessualer Umwege. Liechtenstein ist nicht einmal Partei des Lugano-Übereinkommens, wenn auch Mitglied des EWR. Das Urteil „Schmid/ Hertel“ des EuGH (EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12, ECLI:EU:C:2014:6 = ZIP 2014, 181 ff. = DZWIR 2014, 175 ff.) zur internationalen Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten für Insolvenzanfechtungsklagen gegen in der Schweiz ansässige Anfechtungsgegner darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die darauf gründende Endentscheidung des BGH in der Schweiz nach der Judikatur des Schweiz. Bundesgerichts (Urt. v. 6.6.2003 – 5P.456/2002, 129 III 683, abrufbar unter https://www.bger.ch, mit Verlinkungen) wie jede dem Insolvenzrecht zuzuordnende Entscheidung als Folge des Lugano-Übereinkommens (s. oben) nicht vollstreckbar ist. 100) BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 ff. = ZIP 2007, 1552 ff. 101) Richtlinienvorschlag der Kommission v. 7.12.2022, COM(2022) 702 final. 102) S. das bereits mehrfach erwähnte frühe Staff Work Document zum Action Plan on Building a Capital Markets Union, SWD(2015) 183 final, S. 78, wo man unter Hinweis auf die Weltbank festhält, dass die Unterschiede in den durch nationale Traditionen bestimmten Regelungen der Gesellschafterrechte zu Unterschieden führten, die grenzüberschreitende Investitionen schwieriger und kostspieliger machten und weiter: „The disadvantage, relative to domestic insiders […], becomes particulary severe in case of investments that face a non-negligible probability of defaulting.“ S. auch die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, COM(2020) 590 final v. 24.9.2020, zur weiteren Vollendung der Kapitalmarktunion, S. 15, 16 („Interaktionen zwischen Anlegern, Intermediären und Emittenten).
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69 Damit darf nicht der Umstand verwechselt werden, dass im Europa der EuInsVO auch nach deren Novellierung das Sekundärverfahren ohne Prüfung eines Insolvenzgrundes eröffnet werden muss, wenn ein Hauptinsolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet worden ist und die weiteren Voraussetzungen eines Sekundärverfahrens vorliegen,103) namentlich ein Antrag des Insolvenzverwalters des Hauptinsolvenzverfahrens. Nur unter der Voraussetzung, dass das COMI, der Mittelpunkt der „hauptsächlichen Interessen“ aller insolventen Gesellschaften des Konzerns, in einem einzigen Mitgliedstaat liegt und daher dessen Insolvenzrecht anwendbar ist, sind die Insolvenzgründe identisch, soweit ein Schuldenbereinigungsverfahren, um zulässig zu sein, wie in der Bundesrepublik, überhaupt eines Insolvenzgrundes bedarf. Weitere Voraussetzung ist natürlich, dass bei allen Gesellschaften, soweit erforderlich, Insolvenzgründe vorliegen, seien sie materieller Natur oder seien sie „unechte“ Insolvenzgründe wie eben in Deutschland die drohende Zahlungsunfähigkeit. Nachfolgend werden i. R. dieses Beitrages allein die Insolvenzgründe nach deutschem Recht beleuchtet. Fehlt es an einem Insolvenzgrund, der freilich konzernweit vermutlich problemlos geschaffen werden kann, ist ein Insolvenzverfahren mangels zulässigen Antrags nicht möglich. Ein Insolvenzplan unter Einbeziehung nicht insolventer Gesellschaften des Konzerns ist richtiger Weise ebenfalls nicht möglich. Eine in der Krise befindliche, aber nicht materiell insolvente Konzerngesellschaft, bei der auch eine drohende Zahlungsunfähigkeit ausscheidet, kann nicht im Insolvenzverfahren (und auch nicht nach dem StaRUG) zulasten ihrer Gläubiger saniert werden, wenn nicht alle Gläubiger außerhalb dieser gerichtlichen Verfahren (sog. „außergerichtliche“ oder „freie“ Sanierung) zustimmen. Sie haben auch keine Treuepflicht gegenüber den Gläubigern der anderen insolventen Konzerngesellschaften.104) Die damit aus dem Blick des einen oder anderen Protagonisten bestehende Problematik dürfte zum einen in der Praxis nicht allzu häufig vorkommen, sofern nicht gezielt die Tochterinsolvenz gerade vermieden werden soll. Zum anderen wird der Konzern sicher versuchen, sein COMI in einen Mitgliedstaat zu verlegen, der diese Möglichkeit eröffnet.105) 70 Für die Betriebsfortführung ist das von erheblicher Bedeutung, da über Art. 4 EuInsVO 2000 (= Art. 7 EuInsVO 2015) die lex fori concursus weitgehend über die Abwicklung der Insolvenz und damit auch über die insolvenzrechtliche Seite der Betriebsfortführung entscheidet. Bei „fremdem“ COMI wird häufig aus Gründen der Betriebsfortführung ein Sekundärverfahren auf Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. a EuInsVO 2015 nötig sein, um sachgerecht diesen wesentlichen Teilaspekt auf der Basis der Rechtsordnung des Betriebsstättenstaates steuern zu können.
___________ 103) Folge aus § 27 EuInsVO 2000 (= Art. 34 EuInsVO 2015); s. EuGH, Urt. v. 22.11.2012 – Rs. C-116/11 (Bank Handlowy u. a./Christianapol), ECLI:EU:C:2012:739 = ZInsO 2012, 2380, 2381 ff., m. Abstract dazu von Cranshaw, S. 2380 f. = ZIP 2012, 2403. 104) Vgl. zu dieser Problematik bei Simon, Das neue Schuldverschreibungsgesetz, S. 143 – 150. 105) Dem werden Gläubiger insbesondere der Finanzindustrie durch sog. „COMI-Covenants“ entgegenwirken, vertragliche Abreden, die dem Schuldner auferlegen, die beabsichtigte Sitzänderung anzuzeigen und die Zustimmung des Gläubigers einzuholen, um diesem bei (drohender) Verlegung des Sitzes ohne seine Zustimmung die fristlose Kündigung zu ermöglichen, die wiederum den Insolvenzantrag und die Verfahrenseröffnung im Inland ermöglicht oder doch vereinfacht. Die Verlegung ohne Information des Gläubigers führt wegen Vertragsverstoßes ohne Weiteres zu einem Kündigungsrecht. Die Notwendigkeit einer solchen Klausel ist durch die Neufassung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2–4 EuInsVO 2015 mit den dortigen Fristen, die einer schnellen Sitzverlegung zur rechtsmissbräuchlichen Erlangung eines COMI entgegenwirken sollen, etwas zurückgetreten.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht 1.2
§ 23
Zahlungsunfähigkeit, Cashpool im Konzern
Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) liegt nach der Rechtsprechung des BGH bekanntlich 71 regelmäßig dann vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, mindestens 90 % seiner fälligen Verbindlichkeiten zu befriedigen.106) Bei den juristischen Personen und den weiteren unter § 15a InsO fallenden Verbänden besteht dann Insolvenzantragspflicht. Die eher noch bedeutsamere Frage ist diejenige, wie die Zahlungsunfähigkeit ermittelt wird. Ihr Eintritt kann sachgerecht nur aus einem funktionierenden Rechnungswesen abgeleitet werden und schließt einen Finanzplan (Liquiditätsplan) ein, der auf der Zeitachse die liquiditätswirksamen Aktivitäten des betroffenen Unternehmens ausweist. Der BGH verlangt im Ergebnis eine Liquiditätsbilanz, wenn Zahlungseinstellung u. a. anhand von Indizien nicht festgestellt werden kann.107) Im Konzern ist das nicht anders. Es kann und wird daher nicht selten der Fall sein, dass einzelne Konzernunternehmen zahlungsunfähig sind, andere nicht. Diese Grundsätze gelten für den (innerhalb der Frist des § 15a InsO gestellten) Eigenantrag des Insolvenzschuldners; davon zu unterscheiden sind die vielen „erratischen“ Fälle, bei denen es an einem ordnungsgemäßen Rechnungswesen fehlt und ein Gläubigerinsolvenzantrag gestellt werden musste. In einer Unternehmensgruppe mit sachgerechter Konzernsteuerung und ordnungsgemäß aufgestelltem Rechnungswesen und Controlling sollte diese Fallkonstellation nicht vorkommen. Allerdings darf man in rechtstatsächlicher Hinsicht dabei nicht verkennen, dass der Begriff der Unternehmensgruppe gerade nicht größenabhängig ist (die GmbH & Co. KG bildet selbst schon eine Unternehmensgruppe i. S. des § 3e Abs. 1 Nr. 2 InsO ab, nämlich zwei Gesellschaften unter „einheitlicher Leitung“) und die Krise insbesondere kleiner Gesellschaften sich deshalb ausweiten und zum Zusammenbruch führen kann, weil sie mangels geeigneter Steuerungsinstrumente, für die wiederum die Mittel fehlten, ihre Krisenursachen ggf. nicht erkennen. Man denke etwa an das Beispiel eines Einzelkaufmanns mit recht beschränktem Kapital, der zur Haftungsbeschränkung eine Unternehmergesellschaft (§ 5a GmbHG) gründet und der mangels Liquidität den Aufbau eines Rechnungswesens nur rudimentär betreibt. Das IDW hat im Jahr 2015 den IDW Standard S 11 „Beurteilung des Vorliegens von In- 72 solvenzeröffnungsgründen“ herausgebracht,108) ein „neuer Standard zur Beurteilung der Insolvenzreife“. Dieser Standard ist mit Wirkung zum 6.1.2022 novelliert worden.109) Dort werden ein Finanzstatus und ein Finanzplan als Basis der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit herangezogen;110) im Konzern sind die Voraussetzungen für jede einzelne Gesellschaft gesondert festzustellen.
___________ 106) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426 ff. = ZInsO 2005, 807 ff., dazu Wehdeking, jurisPR-InsR 6/2006 Anm. 1 – st. Rspr. Zur Methodik der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit s. BGH, Urt. v. 18.6.2022 – II ZR 112/21, Rz. 12 ff., ZRI 2022, 730 ff. = ZInsO 2022, 1793 ff. 107) BGH, Urt. v. 5.2.2015 – IX ZR 211/13, ZInsO 2015, 931 ff. 108) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 29.1.2015, IDW-FN 4/2015, S. 202 ff.; IDW S 11 ersetzt nach der veröffentlichten Vorbemerkung IDW PS 800 und IDW FAR 1/1996, aktueller Stand: 6.1.2022, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 109) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand der Ausgabe vor der Novellierung zum 6.1.2022: 23.8.2021, Rz. 61, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 110) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 29.1.2015, Rz. 4.2, Rz. 23 – 25, 26 – 45, IDW-FN 4/2015, 207 f., aktueller Stand: 6.1.2022, IDW Life 1/2022, S. 107 ff.
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73 Das Cashpooling,111), 112) die (zentrale) Liquiditätssteuerung innerhalb eines Konzerns, u. a. zur Senkung von externen Kreditkosten (Umfang der in Anspruch genommenen Kredite, Bonitäts-/Ratingverbesserung), hat hierauf Einfluss. Solange das System der Steuerung durch die zentrale Stelle des Konzerns funktioniert, tritt keine Zahlungsunfähigkeit ein. Wird der konzerninterne Cashpool-Vertrag beendet, stellt sich die Frage, ob die Ansprüche der betroffenen Gesellschaft auf Erstattung bei einem Überhang ihrer Leistungen in den Cashpool werthaltig und innerhalb der Frist von drei Wochen realisierbar sind, wenn ansonsten jedenfalls Zahlungsstockung eintritt. Hat umgekehrt die betroffene Gesellschaft an andere am Cashpool Beteiligte fällige Zahlungen zu leisten, kann dieser Umstand die Zahlungsunfähigkeit als eigenständiger Faktor bewirken.113) IDW S 11 Rz. 46 – 49 vertritt bei Cashpools zutreffend die Auffassung, dass die Liquiditätsplanung der Unternehmensgruppe hohe Bedeutung hat und dass bei Unklarheiten über die Liquidität anderer Gruppenunternehmen aus der Sicht eines der zugehörigen Unternehmen weitere Untersuchungen geboten sind. Unter Hinweis auf das Urteil des BGH zu II ZR 88/16114) (nicht zum Cashpool) führt IDW S 11 in Rz. 46 aus, maßgeblich sei, ob innerhalb von drei Wochen der Zugriff auf hinreichend liquide Mittel zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit überwiegend wahrscheinlich sei. Zu differenzieren sei ferner, ob die betroffene Gesellschaft poolführend oder dem Pool nur angeschlossen sei. Der Standard differenziert also zwischen der den Cashpool führenden und der ihm nur angeschlossenen Gesellschaft. Bei der letzteren sind „Zahlungsansprüche […] nicht als flüssige Mittel im Finanzstatus, sondern mit ihrer Fälligkeit im Finanzplan anzusetzen […].“
___________ 111) Unter „Cashpool“ oder „Cashpooling“ bzw. „Cash-Management“ wird vorliegend die zentrale Steuerung der Liquidität im Konzern durch tägliche Übertragung der Kontoguthaben aller Konzerngesellschaften auf ein zentrales Konto in der Verfügung der Muttergesellschaft oder einer von ihr beherrschten Finanzierungsholding des Konzerns verstanden, die die Liquiditätserfordernisse der einzelnen Gesellschaften entsprechend der allerdings notwendig dynamischen Planung befriedigt. Zwischen den Beteiligten entstehen meist Darlehensverhältnisse oder sonstige schuldrechtliche Beziehungen, die die Forderung oder die Verbindlichkeit aus dem Cashpool betreffen, abhängig davon, ob die betroffene Gesellschaft ein Mehr abgeführt hat als sie i. R. der Finanzierung erhalten hat oder umgekehrt. In der Insolvenz sind das im Verhältnis zur Obergesellschaft gewöhnliche Insolvenzforderungen nach § 38 InsO, im Verhältnis der Obergesellschaft zur Konzerngesellschaft nachrangige Forderungen i. S. des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. Letzteres gilt auch für Schwestergesellschaften mit gemeinsamer Konzernobergesellschaft, jedenfalls, soweit nicht eine der dazwischen geschalteten Konzerngesellschaften eine Aktiengesellschaft ist, bei der der BGH den früheren Eigenkapitalersatz verneint hat, weil dem die Eigenverantwortung des Vorstandes gemäß § 76 Abs. 1 AktG entgegenstehe, so dass andere Konzerngesellschaften Einfluss darauf nehmen können, wie die „Finanzierungshilfe“ gewährt, „belassen oder abgezogen wird“, BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, ZIP 2008, 1230 ff. = DZWIR 2008, 380 f., zustimmend Habersack, ZIP 2008, 2385 ff. Vgl. zu einem Fall des „Cash-Management“ (auch zur Begrifflichkeit) mit sehr weitreichenden Konsequenzen BGH, Urt. v. 21.1.2013 – IX ZR 52/10, Rz. 2 ff., ZIP 2013, 894 ff. = ZInsO 2013, 780 ff. Zu einem grenzüberschreitenden Cashpool s. BAG, Urt. v. 21.10.2014 – 3 AZR 1027/12, Rz. 3 ff., 8, juris. Zur Ablehnung der Insolvenzanfechtung in Cashpooling-Systemen gegenüber der daran als Leistungsmittler notwendig teilnehmenden Bank vgl. BGH, Urt. v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, Rz. 18, ZIP 2013, 1826 ff. = DZWIR 2014, 24 ff. Zu einem „faktischen“ Cashpool und in der Krise daraus resultierenden Haftungsrisiken des Geschäftsführers vgl. AG Solingen, Urt. v. 15.7.2015 – 13 C 198/14, juris. 112) Zum Cashpooling s. a. BGH, Urt. v. 12.9.2019 – IX ZR 16/18 (Baumarkt), ZInsO 2020, 27 ff., zur Frage der Insolvenzanfechtung wegen inkongruenter Deckung bei über zehn Jahre beanstandungsfreier Durchführung des Cashpooling „in gesunden wirtschaftlichen Verhältnissen“ (LS). 113) Dies gilt auch dann, wenn die dazu berechtigten Cashpool-Beteiligten nicht unmittelbar Zahlung gefordert haben; die Situation ist insoweit wie bei dem befristeten Bankdarlehen bei Fristablauf zu betrachten, vgl. BGH, Urt. v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, Rz. 8, ZIP 2013, 79 = WM 2013, 88. Umgekehrt scheidet Zahlungsunfähigkeit aus, wenn die eigentlich fällige Forderung gestundet wird, was auch „stillschweigend“ möglich ist, BGH, Urt. v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, Rz. 8 a. E., ZIP 2013, 79 = WM 2013, 88; st. Rspr. (kein „ernsthaftes Einfordern“). 114) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rz. 70, BGHZ 217, 129 ff. = ZIP 2018, 283 ff.
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Dasselbe gilt danach für Kreditfazilitäten im Pool.115) Bei der führenden Gesellschaft seien 74 bei der Beurteilung der Zahlungsfähigkeit konsequent die „Forderungen und Verbindlichkeiten“ im Verhältnis zu den anderen Cashpoolgesellschaften zu beachten. Die Einstellung künftiger Zahlungsströme könne nur dann in den Finanzplan erfolgen, wenn sie „mit der erforderlichen Sicherheit erwartet werden können.“ Dem ist zuzustimmen.116) Für die Betriebsfortführung ist die etwaige Zahlungsunfähigkeit – ggf. die „Tiefe“ der Zah- 75 lungsunfähigkeit und deren Beseitigung – wesentliches Prüfungs- und Planungskriterium, da der Betrieb von der notwendigen Liquidität abhängig ist. Entscheidend ist die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit jeder einzelnen Konzerngesellschaft, die Insolvenzantrag stellen muss. Sie besteht auch dann, wenn die Muttergesellschaft dem Gläubiger der Konzerngesellschaft gegenüber eine harte Patronatserklärung übernommen hat und damit dem Gläubiger gegenüber in der Insolvenz der Tochtergesellschaft unmittelbar Zahlung zu leisten hat (Schadenersatz nach Maßgabe des § 280 BGB, „garantieähnlich und verschuldensunabhängig“).117) Nur eine Verpflichtung der Konzerngesellschaft selbst gegenüber und die tatsächliche Erfüllung der Ausstattungspflicht führen zur Verneinung der Zahlungsunfähigkeit,118) sofern die Liquidität der Muttergesellschaft hinreichend ist und innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 15a InsO die notwendige Zahlung durch die Muttergesellschaft an die Tochter (oder deren Gläubiger) bei Fälligkeit vorgenommen wird. Für die Betriebsfortführung im einmal beantragten Verfahren ist die Frage, welche fälligen Verbindlichkeiten für die Frage des Bestehens der Zahlungsunfähigkeit relevant sind, weniger entscheidend. Dasselbe gilt für das Bestehen eines Unternehmensvertrages als Ergebnisübernahmevertrag, der die Zahlungsunfähigkeit während seines Bestehens im Umfang der Verlustausgleichszahlung häufig verhindern wird (siehe nachfolgend unter Rz. 90 ff.). 1.3
Überschuldung
Der mittlerweile auf Dauer geltende mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz119) zunächst 76 vorübergehend eingeführte bzw. geänderte Überschuldungsbegriff des § 19 Abs. 2 InsO120) ___________ 115) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 29.1.2015, Rz. 47 a. E., IDW-FN 4/2015, 207 f., Stand: 6.1.2022, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 116) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 29.1.2015, Rz. 48, DW-FN 4/2015, 207 f., Stand: 6.1.2022, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 117) Die Tragweite auch einer „harten“ Patronatserklärung hängt freilich von ihrer vertraglichen Ausgestaltung i. E. ab, die der Vertragsfreiheit unterliegt. Sie ist sogar in der Sanierung mit Wirkung für die Zukunft kündbar, wenn das vorgesehen ist, s. dazu BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 296/08 (STAR 21), BGHZ 187, 69 ff. = ZIP 2010, 2092 ff. Zu der Frage der Rückforderung der von dem Patron hingegebenen Ausstattungsmittel als verzinsliches Darlehen (§ 488 BGB) vgl. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.10.2012 – 14 U 141/11, juris; ausführlich zur harten Patronatserklärung: Steinwachs in: Assies/Beule/Heise/Strube, Hdb. FA Bank- und Kapitalmarktrecht, S. 1340 ff., sowie Merkel/Richrath in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 77 „Atypische Sicherheiten“ Rz. 4 – 59. Zur Haftung aus der harten Patronatserklärung gegenüber dem Gläubiger als „Erklärungsempfänger“ s. BGH, Urt. v. 30.1.1992 – IX ZR 112/91, BGHZ 117, 127 ff., 132 ff. = ZIP 1992, 338, sowie Merkel/Richrath in: Ellenberger/Bunte, BankrechtsHdb., § 77 Rz. 13, zur allein „externen“ Patronatserklärung und der Haftung daraus. Zur Patronatserklärung in der Insolvenz vgl. Hancke/Schildt, NZI 2012, 640. 118) BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, Rz. 19 f., 21, ZIP 2011, 1111 ff.; BGH, Urt. v. 12.1.2017 – IX ZR 95/16, NZI 2017, 157 ff. = ZInsO 2017, 318 ff.; Haftung der Muttergesellschaft aus harter Patronatserklärung, wenn der Gläubiger von der verpflichteten Tochtergesellschaft befriedigt wird, deren Leistung aber in der Insolvenz gegenüber dem Gläubiger erfolgreich angefochten wird. 119) S. Art. 5 des Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarkstabilisierungsgesetz – FMStG), v. 17.10.2008, BGBl. I 2008, 1982 ff., 1988 f. 120) S. dazu RegE Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess, BT-Drucks. 17/10490 bzw. Beschlussempfehlung und Bericht d. RA, BT-Drucks. 17/11385 v. 7.11.2012; der dortige Art. 18, BT-Drucks. 17/11385, S. 27, führt zur „Entfristung“ des bis dahin befristeten § 19 Abs. 2 InsO, s. BGBl. I 2012, 2418 ff., 2424, Aufhebung des Art. 6 Abs. 3 FMStG. Zu der Notwendigkeit der „Entfristung“ s. Bitter/Hommrich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, insb. die Empfehlungen in den Rz. 347 – 354.
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hat zur Konsequenz, dass bei Überschuldung die positive Fortführungsprognose für das Bestehen oder Nichtbestehen des Insolvenzgrundes maßgeblich ist.121) Der Gesetzgeber hat i. R. des SanInsFoG zur Abgrenzung zwischen § 19 InsO und der drohenden Zahlungsunfähigkeit des § 18 InsO den Prognosezeitraum auf zwölf Monate festgelegt hat (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO), Richtiger Weise ist die Fortbestehensprognose während der Gesamtdauer der Krise fortzuschreiben.122) Entbehrlich ist die (zweistufige) Überschuldungsprüfung bei „einfachen“ Sachverhalten, die sie ausschließen, wie dies etwa bei einer „rechtlich verbindliche[n] und werthaltige[n] Sicherung des Fortbestands“ durch das Mutterunternehmen der Fall ist oder beim offenkundigen Vorhandensein entsprechender stiller Reserven.123) 77 Auf die Betriebsfortführung im Verfahren strahlt die Überschuldung insoweit aus, als die fehlende positive Fortführungsprognose, die als Ziel der Sanierung auch die Beseitigung der handelsrechtlichen Überschuldung im Auge hat, zugleich eine gewisse Indizwirkung für die Aussichten der (interimistischen) Fortführung im Verfahren selbst hat; ggf. kommt nur die „Ausproduktion“ in Frage. Im Allgemeinen tritt in der Praxis die Überschuldung als Insolvenzgrund hinter die Zahlungsunfähigkeit weit zurück. In der Konzerninsolvenz ist nicht ein Konzernüberschuldungsstatus maßgeblich, sondern die Einzelüberschuldungsbilanz jeder einzelnen Konzerngesellschaft. Liegt eine ordnungsgemäße Einzelbilanz oder ein Überschuldungsstatus einer Konzerngesellschaft vor,124) scheidet übrigens schon begrifflich eine Zusammenfassung der verschiedenen Insolvenzmassen i. S. einer materiellen Konsolidierung vom Ansatz her aus, da die konzerninternen Verbindlichkeiten identifizierbar sind und damit einer der wesentlichen Beweggründe einer solchen Konsolidierung entfällt (siehe unter Rz. 159 ff.). Nicht unkritisch erscheint die Formel der h. M., wonach die überwiegende Fortführungswahrscheinlichkeit statistisch eine solche bedeutet, die größer als 50 % ist.125) Im Ergebnis scheint das eher eine Metapher, da die Fortführungsprognose keine wirklich quantitative Aussage treffen kann, sondern nur eine qualitative. Kein Gläubiger könnte der Finanzierung einer Fortführungslösung zustimmen, deren Erfolgswahrscheinlichkeit tatsächlich nur ganz geringfügig über dem Risiko des Scheiterns läge (Stichwort: „> 50 % = 51 %“).
___________ 121) Kirchhof in: HK-InsO, 6. Aufl., 2011, § 19 Rz. 8, empfiehlt sogar in einem ersten Schritt die Prüfung der Fortführungsprognose, um sich ggf. die aufwändige Prüfung der Überschuldung als Folge eines entsprechenden Überschuldungsstatus ersparen zu können. Laroche in: HK-InsO, § 19 Rz. 7 ff., stellt ebenfalls fest, es gebe keine vorgeschriebene Prüfungsreihenfolge (Rz. 6) und prüft zunächst die Fortführungsprognose und danach „wenn die Fortführung nicht überwiegend wahrscheinlich ist“ den Vermögensstatuts, also § 19 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 InsO vor Halbs. 2 der Norm. IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 23.8.2021, Abschn. 5.2 Rz. 54, IDW Life 1/2022, S. 107 ff., prüft ebenfalls zunächst die Fortführungsprognose. 122) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 23.8.2021, Abschn. 5.3.3 Rz. 69, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 123) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 23.8.2021, Abschn. 5.2 Rz. 6, 55, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 124) Die Handelsbilanz allein reicht nicht zur Darlegung der Überschuldung, vielmehr bedarf es nach höchstrichterlicher Judikatur einer Überschuldungsbilanz (st. BGH-Rspr.); vgl. BGH, Beschl. v. 8.3.2012 – IX ZR 102/11, Rz. 5, ZInsO 2012, 732 f. m. w. N. Kann nur eine Handelsbilanz, die „einen nicht durch Eigenkapital gedeckten“ Jahresfehlbetrag ausweist (BGH, Beschl. v. 8.3.2012 – IX ZR 102/11, Rz. 5, ZInsO 2012, 732) vorgelegt werden, bedarf es der Erläuterung der Abweichungen von den tatsächlichen Verhältnissen unter insolvenzrechtlichem Aspekt (BGH, Beschl. v. 5.11.2007 – II ZR 262/06, ZInsO 2007, 1349 f. = ZIP 2008, 72), d. h. es sind u. a. die stillen Reserven aufzuzeigen. 125) Vgl. statt aller Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 221 f. m. w. N., sowie Laroche in: HK-InsO, § 19 Rz. 11 m. w. N.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
Bezieht man in die Fortführungsfähigkeit die Verprobung des unverzichtbaren Fortfüh- 78 rungssanierungsplans (im Insolvenzverfahren ist der Insolvenzplan ein solcher Planansatz) nach einem Standard ein, z. B. nach IDW S 6,126) der u. a. das Erreichen der (marktüblichen) Rentabilität fordert, muss man § 19 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 InsO dahingehend verstehen, dass die Fortführungswahrscheinlichkeit das Risiko des Scheiterns deutlich übersteigt. Wollte man letztlich doch an statistischen Quantifizierungskriterien anstelle einer Fortführungswahrscheinlichkeit127) (oder umgekehrt aus der Sicht der Investoren an eine sehr geringe Ausfallwahrscheinlichkeit als Gegenstand der Betrachtung) anknüpfen, müsste eine 50 %Grenze wohl weit überschritten werden. Das Krisenunternehmen muss unter Ratingaspekten wohl einen investment grade128) mit geringem Ausfallrisiko erreichen können. Die Betrachtung ist stets einzelfallbezogen.129) 1.4
Drohende Zahlungsunfähigkeit
Die mit der InsO eingeführte drohende Zahlungsunfähigkeit als „unechter“ Insolvenz- 79 grund130) ist seit dem ESUG ein wesentliches Tatbestandsmerkmal des Schutzschirmverfahrens gemäß § 270b InsO a. F. (= § 270d InsO ab 1.1.2021). Sie ist ferner entscheidender „Trigger“ für den Zugang zu dem Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG (vgl. §§ 14 Abs. 1, 29 Abs. 1 Satz 1 StaRUG) als Folge der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie, die den dortigen präventiven Restrukturierungsrahmen an die „wahrscheinliche Insolvenz“ (Likelihood of Insolvency) i. S. des Art. 4 Abs. 1, 2 Abs. 2 lit. b der Richtlinie knüpft. Wann eine „wahrscheinliche Insolvenz“ zu bejahen ist, richtet sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie nach den Vorgaben des nationalen Rechts, in Deutschland folglich nach § 18 InsO. In Abgrenzung zu dem ab 1.1.2021 neu eingeführten ZwölfMonats-Zeitraum für die Prognoseprüfung bei der Überschuldung hat man parallel in § 18 Abs. 2 InsO im Hinblick auf die drohende Zahlungsunfähigkeit einen Prognosezeitraum von „in aller Regel“ 24 Monaten eingeführt; diese Betrachtung entspricht im Wesentlichen dem bisherigen Postulat der Praxis, die den Prognosezeitraum auf das laufende Jahr zu Beginn der Prognose und das kommende erstreckte. Die Antwort, wann Zahlungsunfähigkeit auf dieser Zeitachse eintritt, gibt der Finanzplan. Ihre Prüfung bedarf also eines zeitbezogenen Finanzplans, der von dem jeweiligen Unternehmen abhängig ist, aber regelmäßig 24 Monate umfasst. IDW S 11 (2021) weist zutreffend darauf hin, dass die Prognose nach § 18 Abs. 2 InsO in den ersten zwölf Monaten derjenigen nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO und deren Anforderungen entspricht.131) Im Falle einer aus dem Finanzplan hervor___________ 126) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 2012, Wpg. Supplement 4/2012, S. 130 ff.; Rz. 11 fordert als Sanierungsziel die Wiedererlangung der „Renditefähigkeit“. IDW S 6 wurde reformiert durch die Neuausgabe vom 16.5.2018, u. a. IDW Life 8/2018, S. 813 ff. Nach Rz. 63 IDW S 6 (2018) ist das Sanierungsziel auf das „Leitbild des sanierten Unternehmens“ gerichtet, das „wieder attraktiv für Eigen- und Fremdkapitalgeber [geworden] ist.“ 127) So wohl auch Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 221 f. 128) Zum Begriff s. Everling in: Gabler Wirtschaftslexikon, „Credit Rating“, 5. 1., abrufbar unter: https:// wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/credit-rating-29476 (Abrufdatum: 3.3.2023). 129) Zu der Problematik qualitativer und quantitativer Wahrscheinlichkeitsaussagen s. bei Dannenberg, Quantitative Bewertung des Ausfallrisikos, S. 82 ff., 103 ff., abrufbar unter: https://www.iwh-halle.de/ fileadmin/user_upload/publications/iwh_sonderhefte/SH_12-2.PDF (Abrufdatum: 12.10.2022). 130) Rattunde/Smid/Zeuner-Burgenger, InsO, § 18 Rz. 1. Zu einer kritischen rechtspolitischen Betrachtung der Norm s. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 18 Rz. 5, zum Prognosezeitraum Rz. 21 ff.; zur Relevanz im Kontext mit dem Verfahrensschritt des § 270b InsO a. F. vgl. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, Vor § 270b Rz. 24 ff. 131) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 23.8.2021, Abschn. 6 Rz. 94, IDW Life 1/2022, S. 107 ff., Hinweis auf Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 196.
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gehenden negativen Liquiditätsprognose in den ersten zwölf Monaten ist nach IDW S 11 Rz. 96 zusätzlich die Überschuldung zu prüfen. Eine lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit liegt dann nur vor bei „negativer Fortbestehensprognose und positivem Reinvermögen“ (zu Liquidationswerten).132) Die Prüfung, ob drohende oder bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit zu bejahen war, wird in nachgelagerten Prüfungen in zivilrechtlichen, strafrechtlichen oder sonstigen Auseinandersetzungen im Allgemeinen retrograd anhand von vorliegender Finanzplanung geprüft. Das ist stets mit dem Problem eines etwaigen Hindsight Bias verbunden, da die Vorgänge ex ante zu beurteilen sind, aber der Blick eingetretener Ereignisse (ex post) die Betrachtung leicht einzutrüben vermag. 80 Aus dem Blick der Betriebsfortführung ist der Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit trotz der bestehenden Krisensituation der insolvenzrechtliche Idealfall. Das Unternehmen hat noch nicht das Vertrauen seiner Partner verloren und schickt sich an, aus eigener Kraft einen Insolvenzplan zu entwickeln. Die Liquiditätsvorteile durch die Möglichkeit der Insolvenzgeldvorfinanzierung bleiben auch in der „Schutzschirmvariante“ der vorläufigen Eigenverwaltung (wie auch im Verfahren der Eigenverwaltung gemäß § 270a InsO a. F. = § 270 InsO) aufrechterhalten.133) Für die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Eintritts oder Nichteintritts der Zahlungsunfähigkeit gilt auch hier entgegen der Formel der (bisher) h. M. keine quantitative Betrachtung („> 50 %“), sondern wie bei der Überschuldung eine Wahrscheinlichkeitsüberlegung. IDW S 11 verknüpft die drohende Zahlungsunfähigkeit wie erwähnt sachlich zutreffend mit einer (zum Zeitpunkt des Drohens) zu bejahenden negativen Fortführungsprognose. Die Abgrenzung zur Überschuldung erfolgt dort durch den Begriff des „positiven Reinvermögens“, so dass sich die Überschuldung aus den Merkmalen „negatives“ Reinvermögen + negative Fortbestehensprognose zusammensetzt, während die drohende Zahlungsfähigkeit allein auf die negative Prognose rekurriert (siehe oben Rz. 79). 1.5
Fazit: Fortführungsmöglichkeiten
81 Bei der Fortführung der einzelnen Gesellschaft innerhalb des Konzerns spielen die im Folgenden näher betrachteten Verflechtungen eine wesentliche Rolle. Abgesehen von der Liquiditätsentlastung durch die Insolvenzgeldvorfinanzierung bis zur Eröffnung (bzw. in der Pandemie das Kurzarbeitergeld, bis 30.6.2022) hängt die Fortführung davon ab, woher die notwendige Liquidität kommt und wie sehr man auf diese Quellen und Leistungen vertrauen darf. Sind wesentliche Liquiditätsfaktoren konzerninterne Lieferungen, so kommt ___________ 132) IDW Standard, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Stand: 23.8.2021, Rz. 96 i. V. m. Rz. 54 Aufzählungspunkt 2, IDW Life 1/2022, S. 107 ff. 133) S. die „Fachliche Weisungen Insolvenzgeld“ der Bundesagentur für Arbeit (BA FW Insgeld v. 20.12.2018, fortdauernd), FW zu § 170 SGB III, Rz. 170.4, 170.6 (Erarbeitung eines Insolvenz- oder Sanierungsplans), 170.10. Kommt es nicht zur Verfahrenseröffnung, gibt es aber auch hier keinen Insolvenzgeldanspruch. Soll die faktische Subvention durch die Insolvenzgeldvorfinanzierung im Konzern genutzt werden, muss zwingend jedes beantragte Verfahren eröffnet werden. Als bloßes Vehikel der letztlich außergerichtlichen Sanierung taugen daher die vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren unter dem Aspekt des Insolvenzgeldes in keiner Weise. Restrukturierungen unter dem StaRUG werden nicht durch Insolvenzgeldleistungen unterstützt, da kein Insolvenzereignis i. S. des § 165 InsO vorliegt. Die weiteren Insolvenzereignisse des § 165 SGB III, die zum Insolvenzgeldbezug berechtigen, sind hier irrelevant, da sie zur Beendigung der Betriebstätigkeit führen. Für ausländische Tochtergesellschaften des Konzerns sind die ausländischen Garantieeinrichtungen zum Arbeitnehmerschutz in Fällen der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nach der Richtlinie 2008/97/EG zuständig, soweit nicht dortige Arbeitnehmer arbeitsrechtlich in Deutschland beschäftigt sind und damit Insolvenzgeld von der Arbeitsagentur zu leisten ist (s. hierzu § 165 Abs. 1 Satz 2 SGB III und FW Insgeld § 165, Rz. 165.3 und Rz. 165.24 m. w. N.). Die „Fachliche Weisungen Insolvenzgeld“ stehen zur Verfügung unter https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba016429.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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es in der wichtigen Startphase vor Eröffnung darauf an, dass möglichst der Bargeschäftscharakter (§ 142 InsO) gewahrt wird, um Anfechtungsrisiken weitgehend zu vermeiden. Genau genommen bedarf es zudem einer positiven Fortführungsprognose nach allge- 82 meinen Kriterien,134) um die Risiken des § 133 InsO ebenfalls zuverlässig zu vermeiden, da die durch die Reform der Norm mittels der mit Absatz 2 und 3 eingeführten Abmilderungen der Anfechtbarkeit nichts an den entscheidenden Problemen für außenstehende Gläubiger – und für Gesellschafter erst recht nicht – ändern. Dies auch unter den durch die jüngste Judikatur des BGH aus den Jahren 2021 und 2022 erschwerten Voraussetzungen einer Vorsatzanfechtung. Unverändert bedarf es regelmäßig der Prüfung der Geeignetheit eines Sanierungskonzepts durch branchenerfahrene (externe) Expertise, um bei wider Erwarten eintretendem Fehlschlagen des Konzepts den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und eine Kenntnis des Anfechtungsgegners davon zuverlässig verneinen zu können. An dem Grundsatz, das Sanierungskonzept müsse stets in ersten Schritten umgesetzt sein, bevor – anfechtungsrechtlich unbedenklich – Rechtshandlungen zulässig seien,135) hält der BGH zutreffend nicht mehr fest. 2.
Wesentliche Fragen und Voraussetzungen der Betriebsfortführung in der Insolvenz
2.1
Aufrechterhaltung des Konzerns in seiner Gesamtheit?
Die Betriebsfortführung im Konzern bedarf der Berücksichtigung der gegenseitigen Ver- 83 flechtungen, indes nicht ohne Weiteres deren vollständige Aufrechterhaltung. Wie stets erfolgt die Fortführung im Interesse aller Gläubiger des jeweiligen Unternehmensträgers im Abgleich mit den Konzerninteressen.136) Wie bei einzelnen Gesellschaften ohne Konzernbindung wird es in praxi kaum möglich 84 sein, einen Konzern in seiner Struktur vor dem Insolvenzeintritt vollständig zu erhalten. Wie stets wird es Betriebe oder Betriebsteile oder auch Konzerngesellschaften geben, die geschlossen werden oder bei denen eine übertragende Sanierung durch Veräußerung an einen Dritten stattfindet. Das gilt auch für die Konzernobergesellschaft. Eine der in Frage kommenden Varianten zur Abwicklung der Insolvenz ist auch die der 85 erleichterten Zusammenschlusskontrolle nach dem GWB (ggf. durch Ministererlaubnis
___________ 134) Z. B. nach Maßgabe des IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Abschn. 2.1 Rz. 11 – 23, IDW Life 8/2018, S. 813, unter Bezugnahme auf die einschlägige Judikatur des BGH, u. a. BGH, Urt. v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, ZIP 1998, 251; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, BGHZ 210, 249 ff. = ZIP 2016, 1235 ff.; BGH, Urt. v. 28.3.2019 – IX ZR 7/18, ZIP 2019, 1537 f.; aktuell mit einigen Erschwernissen der Vorsatzanfechtung zuletzt im Wesentlichen BGH, Urt. v. 8.3.2022 – IX ZR 78/20 (Q-Cells), ZRI 2022, 267 ff., und BGH, Urt. v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, BGHZ 230, 28 ff. = ZRI 2021, 645 ff. Der Fachausschuss Insolvenz und Sanierung des IDW hat am 27.9.2022 einen IDW S 6 n. F. veröffentlicht, der bei Redaktionsschluss dieses Beitrags noch nicht verabschiedet war. Der geänderte Standard akzentuiert u. a. ESG-Aspekte und stellt steuerliche Gesichtspunkte klar. 135) Seit BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 236/91, ZIP 1993, 276 ff., aufgegeben in BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, Rz. 79, ZRI 2022, 267 ff.; so noch IDW Standard, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, Abschn. 6.1 Rz. 75 und Fn. 42, IDW Life 8/2018, S. 813. 136) Diesen Umstand verkennt Verhoeven, ZInsO 2012, 2369, 2376, wenn er bei seiner durch die Regelwerke zur Konzerninsolvenz jedenfalls überholten Argumentation für ein „Mutter-COMI für Konzerne“ behauptet, Arbeitnehmer und „nicht-institutionelle Gläubiger“, zu denen er die Warenkreditgeber zählen will, müssten „nolens volens“ darauf vertrauen, dass der Schuldner nicht in die Insolvenz gerate, sie seien auf die Zusammenarbeit mit diesem angewiesen. S. ferner Verhoeven, ZInsO 2012, 1689, zu dem Postulat der Konzerninsolvenz als einer „Lanze für ein modernes und wettbewerbsfähiges deutsches Insolvenzrecht zu sein“, s. ferner Verhoeven, Die Konzerninsolvenz, KTS Bd. 42, 2011.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
gemäß § 42 GWB) unterliegende sog. Sanierungsfusion.137) Die wettbewerbsrechtlichen Fragen in Sanierungsfällen werden gerne unterschätzt, wenn es etwa um Teilunternehmensverkäufe geht, bei denen plötzlich sogar die Zuständigkeit der EU-Kommission nach der Fusionskontrollverordnung138) berührt sein kann. Entscheidend sind jeweils das Geschäftsmodell und die zur Umsetzung von Änderungen notwendige bzw. zur Verfügung stehende Zeit. Die Sanierungsziele und Modalitäten bestimmen auf der Zeitachse folglich die sich ggf. dynamisch ändernde Strategie der Betriebsfortführung. Im Rahmen eines Konzerns spielen die etwa wettbewerbsverzerrenden Folgen eine besondere Rolle. Stets bedarf es jedoch fraglos eines tragfähigen Fortführungskonzeptes.139) 2.2
Planungen und Planungsparameter
2.2.1 Planungsgrundlagen 86 Die Betriebsfortführung in der Insolvenz erstreckt sich von dem Zeitpunkt des Insolvenzantrags bis zur Verfahrensbeendigung, d. h. im Planverfahren bis zur Rechtskraft der Bestätigung eines Insolvenzplans und der Aufhebung des Verfahrens (§ 258 InsO). Nur mit Einschränkungen lässt sich die im gestaltenden Teil des (Sanierungs-)Insolvenzplans etwa vorgesehene Zeitdauer der Überwachung der Planerfüllung, die höchstens drei Jahre ab der Aufhebung des Insolvenzverfahrens beträgt (§§ 260 Abs. 1, 268 Abs. 1 Nr. 2 InsO), darunter subsumieren. Die Planüberwachung (§ 260 InsO) ist auch in den Fällen der ___________ 137) S. dazu Madaus, ZIP 2012, 2133 ff.; aus der Praxis s. BKArtA, Beschl. v. 21.10.2003 – B 7 100/03, WuW/E DE-V 848-852; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.4.2007 – VI-Kart 6/05, AG 2007, 551 ff., Bestätigung durch BGH, Beschl. v. 16.1.2008 – KVR 26/07, BGHZ 175, 333 ff.; keine Heranziehung der Kriterien der Sanierungsfusion bei Krankenhäuser. Auf europäischer Ebene (zur aktuellen EG-Fusionskontrollverordnung, ABl. (EU) L 24/1 v. 29.1.2004 und der Vorgängerregelung) s. Cranshaw, Einflüsse des europäischen Rechts, S. 1410 ff. m. w. N. Im Ergebnis geht es insbesondere um die „failing company defence“-Doktrin, wonach – verkürzt – eine Wettbewerbsverschlechterung nicht eintritt, wenn die insolvente Gesellschaft und ihre Wettbewerbsaktivitäten ohnehin aus dem Markt als Folge der Insolvenz verschwinden würden. Dann ist die Fusion nicht kausal für die Wettbewerbsbeeinträchtigung; zur Ablehnung der Anwendung der Doktrin vgl. BKartA, Beschl. v. 21.5.2010 – B 9 – 29320 – Fa – 13/10, (Magna/Karmann), abrufbar unter https://www.bundeskartellamt.de/. Zu einem Fall der Freigabe s. BKartA, Entsch. v. 23.7.2009 – B6 – 67/09 (Rhein-Neckar-Zeitung/Eberbacher Zeitung), www.bundeskartellamt.de. Aus dem Blick des europäischen Rechts s. EU-Kommission, Entscheidung v. 10.5.2007 – COMP/M.4381 (JCI/FIAMM), ABl. (EU) C 241/12 v. 8.10.2009; zu den Kriterien der Sanierungsfusion s. dort Rz. 9. Aus der Literatur s. Körber, ZWeR 2014, 32 ff. sowie Frenz, EWS 2014, 311 ff. Aus der Praxis des BKartA s. ferner die Freigabe einer weiteren Sanierungsfusion im Pressebereich im Falle des „Münsteraner Zeitungsmarktes“, BKartA, Entsch. v. 1.9.2014/Bekanntgabe 1.12.2014 – B6-97/14, www.bundeskartellamt.de. Zur Sanierungsfusion s. a. den Überblick bei Cranshaw, Einflüsse des Europ. Rechts auf das Insolvenzverfahren, S. 1405 ff. m. w. N. Zur Ablehnung einer Sanierungsfusion s. EuG, Urt. v. 7.6.2013 – Rs. T-405/08, (Billa/Adeg), juris = NZKart 2013, 371 ff. Zu den Voraussetzungen der Sanierungsfusion aus dem Blick des Bundeskartellamts s. Gasser, NZKart 2020, 465 ff. Zu einem Fall der Ablehnung u. a. der Voraussetzungen der Sanierungsfusion durch das BKartA mit anschließender Ministererlaubnis gemäß § 42 GWB s. BKartA, Beschl. v. 17.1.2019 – B 5 – 29/18, „Miba/Zollern KG“ (Untersagung des Zusammenschlusses), Rz. 396 ff. zur Verneinung der Voraussetzungen der Sanierungsfusion, abrufbar unter https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Entscheidung/DE/Entscheidungen/Fusionskontrolle/2019/B5-29-18.pdf;jsessionid=AFAAE040D8034C534CA7F753A6E1BBE0.2 _cid390?__blob=publicationFile&v=2 (Abrufdatum: 3.3.2023); nachfolgend OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.8.2020, VI Kart 4/19 (V), AG 2020, 870 ff. = juris. 138) Verordnung (EG) 139/2004 des Rates v. 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (EG-Fusionskontrollverordnung), ABl. (EU) L 24/1 v. 29.1.2004. 139) So im Einklang mit Rspr. und Literatur in einer eigentümlichen Haftungsklage gegen einen Insolvenzverwalter (§ 60 InsO) mit mehreren Parallelfällen das LArbG Rostock, Urt. v. 4.1.2011 – 5 Sa 138/10 (u. a.), ZInsO 2011, 688 ff. = ZIP 2011, 1169; zustimmend Raab. jurisPR-InsR 4/2011 Anm. 4. Das BAG hat auf die Revision des Beklagten hin die Klagen abgewiesen, BAG, Urteile v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, 6 AZR 322/11 und 6 AZR 356/11. Zum „führenden“ Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen s. BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638 ff., sowie Oberhofer, jurisPRArbR 18/2013 Anm. 3.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
Eigenverwaltung zulässig; sie obliegt dem Sachwalter (§ 284 Abs. 2 InsO). Zudem stellt sich die Frage, ob der vorrangige Kreditrahmen in der Überwachungsphase wirklich realistisch ist, denn er reduziert zwar das Risiko für den Massekreditgeber, der seine Finanzierung in die Überwachungsphase hinein stehen lässt (§§ 254 ff., 264 f. InsO). Zugleich aber erschwert er die Finanzierung des als Folge des bestätigten Insolvenzplans neu startenden Unternehmens, das zugleich gesellschaftsrechtlich nicht mehr in der Liquidation ist, sondern seinen ursprünglichen oder einen angepassten Gesellschaftszweck am Markt verfolgt.140) Insbesondere gilt das für den Konzern, soweit er als komplexe Struktur fortbesteht. Die wirkliche wirtschaftliche Sanierungsphase des betroffenen Unternehmens bzw. (der verbliebenen Teile) des Konzerns beginnt erst nach der finanzwirtschaftlichen Sanierung und nach Rechtskraft des Insolvenzplans mit der leistungswirtschaftlichen Sanierung. Sie wird nicht selten Jahre benötigen, worauf z. B. Pluta zutreffend hinweist.141) Die Betriebsfortführung bis zur Aufhebung bzw. Beendigung des Insolvenzverfahrens 87 hat demgegenüber eine Interimsaufgabe, der auch die Liquiditäts- und Erfolgsplanung zu entsprechen hat. Das ist bei einer Gesellschaft ohne Konzernbezug nicht anders als im Konzern, soweit dieser als Einheit fortbesteht. Während der Betriebsfortführung muss stets die notwendige Liquidität vorhanden sein, bspw. im Eröffnungsverfahren durch die Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes, die natürlich bei hohen Anteilen der Personalkosten an den Gesamtkosten deutlich größere Bedeutung hat als bei Unternehmen, die mit geringeren Personalzahlen oder -kosten auskommen. Die Erfolgsplanung muss Verluste möglichst rasch eindämmen bzw. baldmöglichst egalisieren.142) Ohne einen geeigneten „Ergebnis- und Finanzplan“ (§ 229 InsO), eine Plan-Gewinn- und Verlustrechnung sowie eine Planbilanz und eben eine detaillierte Finanz-/Liquiditätsplanung bei sachgerechtem Planungszeitraum kann kein Insolvenzplan vorgelegt werden und diese Unterlagen erfordern wiederum eine belastbare Planung der Betriebsfortführung. Bei einem konzerngebundenen Unternehmen, ob Mutter- oder Tochtergesellschaft, kom- 88 men die konzerninternen Auswirkungen hinzu, die positiv sein mögen, die aber auch geeignet sein können, die Fortführung und damit die Sanierung zu beeinträchtigen. Diese konzerninternen Faktoren der Betriebsfortführung sind zugleich der Ausdruck des Umstands, dass die Konzernleitung bzw. die Gesellschafter der herrschenden Gesellschaft ihre unternehmerischen Aktivitäten diversifiziert haben, insbesondere x
zur Risikominimierung,
x
zur Optimierung der Marktdurchdringung,
___________ 140) Rechtlich ist das ein gesellschaftsrechtliches sowie ein insolvenzrechtliches Thema, das im Insolvenzplan mit und ggf. ohne bzw. gegen die Gesellschafter gelöst werden kann (vgl. § 225a Abs. 3 InsO, in den Fällen der Restrukturierung nach dem StaRUG ermöglicht § 2 Abs. 3 StaRUG die Einbindung der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung der Unternehmenseigner; i. R. des Insolvenzplans nach der InsO wie des Restrukturierungsplans nach dem StaRUG sind alle gesellschaftsrechtlich zulässigen Maßnahmen eine Option einschließlich des Debt Equity Swap), ökonomisch eine Frage der Adaptierung des alles entscheidenden Geschäftsmodells. Das Ziel, am Markt zu bestehen, bedeutet nicht zwingend das Ziel einer jährlichen Bardividende für die Eigner, denn ansonsten wären im Allgemeininteresse tätige (gemeinnützige) Organisationen per se in der Insolvenz nicht fortführungs- und sanierungswürdig. Wohl aber ist in diesen Fällen für künftige Investitionen oder als Liquiditätsreserve ein thesaurierbarer Überschuss zu erzielen, der bspw. die steuerliche Gemeinnützigkeit nicht beeinträchtigt. Der Begriff der Renditefähigkeit ist in den Fällen solcher NPO’s durch den Grundsatz der nachhaltigen Fähigkeit zur Erfüllung der auferlegten Aufgaben zu ersetzen. 141) Pluta, ZInsO 2013, 1404 f., 1405. 142) Ansonsten bleibt nur der schnelle Verkauf der Aktiva; die Fortführungsstrategie des Verwalters wird sich an diesen beiden Polen orientieren, denn kein Gläubiger, Insolvenzverwalter oder Sachwalter wird auf längere Sicht eine masseverzehrende Verlustfinanzierung hinnehmen können.
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aus steuerlichen oder arbeitsrechtlichen bzw. sozialversicherungsrechtlichen Gründen; dazu gehört bspw. die häufig anzutreffende Konstellation, dass die Tochtergesellschaft in einer Branche mit niedrigerem (tariflichem) Lohnsegment tätig ist, aber auch wenn man Unternehmenssegmente in sog. „Billiglohnländer“ verlagert (nicht selten erweist sich indes diese Maßnahme im Nachhinein als unternehmerische Fehlentscheidung). Im Kontext mit der „globalisierten“ Lieferkettenthematik müssen sich die Unternehmen mit Schwerpunkt bei den Konzernen zudem den Herausforderungen infolge des „Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten“ stellen.143) So sind die Sorgfaltspflichten nach dem dortigen § 3 und die Risikomanagementnormen der §§ 4 – 6 auch im Insolvenzverfahren und gerade in Konzernen zu beachten; die Regelungen sind erst recht bei Tochtergesellschaften und „Joint Venture“-Beteiligungen in die Betrachtung einzubeziehen.
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im Hinblick auf Aktivitäten in einer fremden Rechtsordnung oder aus ähnlichen Gründen.
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Auf Konzernebene sind zunehmend auch die i. R. des Klimaschutzes relevanten Regelwerke zur Zurückdrängung von Treibhausgasemissionen und die damit verbundenen ökonomischen Belastungen zu beachten, die gerade in der Krise ausschlaggebend sein können.144)
89 Parallel soll aber die Steuerung auf Konzernebene aufrechterhalten bleiben. Die Planung in der Fortführungsphase während des Insolvenzverfahrens dient der Gewährleistung der Stabilisierung der fortgeführten Gesellschaft und dient zugleich dazu, die Basis für den Insolvenzplan zu liefern. 2.2.2 Unternehmensverträge 2.2.2.1
Unternehmensverträge als Instrument der Konzernsteuerung
90 Unternehmensverträge (§§ 291 ff. AktG), insbesondere in der Form des Beherrschungsund Ergebnisabführungsvertrages (EAV), § 291 AktG, sind in der Praxis der Konzernsteuerung von herausragender Bedeutung. Die liquiditäts- und bilanzwirksamen sowie die steuerrechtlichen Effekte sind in die Planung im Insolvenzeröffnungsverfahren bzw. im (eröffneten) Insolvenzverfahren aufzunehmen, jeweils abhängig von dem Schicksal des Vertrages in der Insolvenz. Auf der Ebene der beherrschten Gesellschaft ist der positive Effekt, dass einem Verlust der Gesellschaft ein gleich hoher Anspruch auf Verlustausgleich gegenübersteht. Der Anspruch entsteht jeweils mit dem Beginn des Geschäftsjahres (regelmäßig das Kalenderjahr), bezogen auf den Jahresüberschuss bzw. den Jahresfehlbetrag des abgelaufenen Jahres. Ab diesem Zeitpunkt ist der Anspruch auch zu verzinsen.145) Gegebenenfalls mögen Abschlagszahlungen in Frage kommen. Entscheidend für den maßgeblichen Betrag ist jeweils der Beschluss über die Feststellung des Jahresabschlusses. Im Konzern sind die hierfür vorgeschriebenen Fristen zu beachten, damit bei der herrschenden Gesellschaft im Einzelabschluss der EAV abgebildet werden kann. 91 Aus Gläubigersicht besteht dennoch bei dieser atypischen Kreditsicherheit, die Folge der Verlustübernahmepflicht durch das herrschende Unternehmen nach § 302 AktG ist (die Norm ist auf andere Gesellschaftsformen analog anwendbar wie etwa unter Einbindung einer GmbH) bzw. der Sicherheitsleistung nach § 303 AktG im Falle der Beendigung des ___________ 143) Art. 1 des Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG), v. 16.7.2021, BGBl. I 2021, S. 2959 ff., in Kraft m. W. v. 1.1.2023. 144) S. dazu den Überblick bei Cranshaw, ZRI 2022, 345 ff. – zum Emissionshandel. 145) BGH, Urt. v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, BGHZ 142, 382 ff., 385 f. = ZIP 1999, 1965; Cranshaw, jurisPRHaGesR 1/2012 Anm. 4 – zu OLG München, Beschl. v. 20.6.2011 – 31 Wx 163/11, ZIP 2011, 1912.
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Beherrschungs- bzw. Gewinnabführungsvertrages,146) ein Defizit, eine Sicherheitenlücke. Untere anderem geht es dabei um Unwägbarkeiten der Ausgleichspflicht des § 302 AktG im Hinblick auf den Umfang oder den Zeitpunkt der Feststellung; zudem verhindert der Anspruch nicht stets die Zahlungsunfähigkeit der beherrschten Gesellschaft und erst recht nicht zwingend die bilanzielle Überschuldung und auch nicht die insolvenzrechtliche Überschuldung i. S. des § 19 Abs. 2 InsO, denn die Konzernzugehörigkeit entbindet nicht von der Prüfung der Bestandsfähigkeit in dem Zwölf-Monats-Zeitraum des § 19 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 InsO. Aus diesem Grunde verlangen die Finanzinstitute nicht selten eine sog. „Organschaftserklärung“ (auch „Organschaftsrevers“), der ungeachtet der Haftung der Konzernobergesellschaft in den Fällen der „Trihotel“-Judikatur erforderlich scheint und dessen Gegenstand im Kern die Verpflichtung der Konzernmutter umfasst, den Unternehmensvertrag ohne Zustimmung des Gläubigers weder aufzuheben noch abzuändern und auch nicht zu kündigen.147) Der Ergebnisabführungsvertrag verhindert im Allgemeinen daher die Zahlungsunfähigkeit 92 nur dann, wenn der Anspruch gegen die herrschende Gesellschaft (zusammen mit der anderweitigen Liquidität) ausreicht, die Zahlungsfähigkeit sicherzustellen, soweit nicht bis zur Leistung des Verlustausgleichs aus anderen Gründen Zahlungsunfähigkeit eintritt. Da ein Verlust begrifflich während der Laufzeit des EAV ausscheidet, kann auch im Allgemeinen keine Überschuldung eintreten, die Insolvenz wird daher meist zuverlässig vermieden. Eine Ausnahme besteht grundsätzlich dann, wenn die herrschende Gesellschaft in die In- 93 solvenz gerät und die Durchsetzbarkeit des Anspruchs ökonomisch, ggf. auch rechtlich, zweifelhaft wird148) oder wenn evident ist, dass eine Zahlung nur als Insolvenzquote erfolgen wird. Dann muss die beherrschte Gesellschaft die Forderung gegen die Mutter jedenfalls wertberichtigen, wenn nicht gar sofort vollständig abschreiben. Ihr fehlt die Liquidität, ferner wandelt sich der die Überschuldung vermeidende Vermögenswert der Forderung gegen die herrschende Gesellschaft rechnerisch in einen Verlust i. H. der Wertberichtigung, so dass buchmäßige Überschuldung eintreten kann. Dann bedarf es einer spezifisch auf die beherrschte Gesellschaft zugeschnittenen positiven Fortbestehensprognose, um die insolvenzrechtlich relevante Überschuldung zu beseitigen (siehe unter Rz. 76). Ansonsten wird die beherrschte Gesellschaft ebenfalls Insolvenzantrag stellen müssen. Die andere Seite der Verlustübernahme, die Gewinnabführung, hat nämlich die Selbstfinanzierungskraft der Tochtergesellschaft durch Unterlassen der Thesaurierung von (anteiligen) nicht ausgeschütteten Gewinnen geschwächt. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welchen Effekt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf den EAV hat. Endet der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag während der Laufzeit im Kontext mit der Auflösung der Konzernbindung und verpflichtet sich die herrschende Gesellschaft, einen pauschalen Ausgleichsbetrag bis zum bisherigen Laufzeitende zu zahlen, ist trotzdem im Rumpfgeschäftsjahr
___________ 146) S. zur Reichweite des § 302 AktG und zur analogen Anwendung Schubert in: NK-AktR, § 302 AktG Rz. 4 – 15 mit dem Hinweis auf die Pflicht zum unterjährigen Verlustausgleich, wenn ansonsten die beherrschte Gesellschaft zahlungsunfähig würde (Rz. 15), zur analogen Anwendung auf andere abhängige Gesellschaftsformen s. Rz. 15; herrschende Gesellschaft kann jeder Unternehmensträger sein (Rz. 4). 147) S. den Überblick bei Merkel/Richrath in: Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Hdb., § 77 „Atypische Sicherheiten“, Rz. 60 – 69 m. w. N. 148) Zahlt die herrschende Gesellschaft nach Antragstellung den noch offenen Verlustausgleichsbetrag an die Tochter, so ist diese Leistung als kongruent (§ 130 InsO) anfechtbar. Nach Insolvenzeröffnung über das Vermögen der herrschenden Gesellschaft handelt es sich um eine Insolvenzforderung der beherrschten Gesellschaft (§ 38 InsO). Mit der Frage der Beendigung des Unternehmensvertrages in der Insolvenz eines oder beider daran Beteiligter hat diese Thematik nichts zu tun.
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bis zur Trennung der darauf entfallende Verlustausgleich zu zahlen, eine weitere Sicherung der beherrschten Gesellschaft.149) 2.2.2.2
Beendigungsszenarien des Unternehmensvertrags in der Insolvenz
94 Nach der Rechtsprechung des BGH bereits zur KO sowie Literaturstimmen endet der Beherrschungsvertrag/EAV mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens.150) 95 Dem widersprechen andere Meinungen.151) Vor dem Hintergrund des ESUG, der Kodifizierungen der Konzerninsolvenzverfahren in InsO und EuInsVO 2015 muss man der Lösung über ein Recht zur fristlosen Kündigung anstelle des Erlöschens des EAV zustimmen, wie z. B. Trendelenburg152) schon 2002 vorgeschlagen hat. Dieses Recht muss mit Hirte für beide Vertragsparteien gelten, es kann erst mit Verfahrenseröffnung entstehen. Ist nicht die beherrschte Gesellschaft insolvent, sondern die herrschende Konzernobergesellschaft oder Zwischenholding, so wird die Gewinn abwerfende abhängige Gesellschaft jedenfalls dann nicht kündigen, wenn sie operativ von der herrschenden Gesellschaft abhängig ist, z. B. als Vertriebsgesellschaft. Ansonsten wird deren Kündigung z. B. bei der GmbH schon an der fehlenden internen Genehmigung ihrer Gesellschafter scheitern, d. h. an dem Insolvenzverwalter oder an dem Vertretungsorgan der herrschenden Gesellschaft. Ist die abhängige Gesellschaft in der Verlustzone, wird die herrschende Gesellschaft den Beherrschungsvertrag/EAV beenden, eine zu beobachtende Tendenz in der Praxis bei anhaltender Verlustsituation. 96 Die Rechtsprechung des BGH achtet in diesen Fällen darauf, dass die gesetzlichen Voraussetzungen eingehalten werden. So kann auch der EAV mit der abhängigen GmbH analog § 296 Abs. 1 Satz 1 AktG nur zum Ende des Geschäftsjahrs oder des „vertraglich bestimmten Abrechnungszeitraums aufgehoben werden“.153) Der BGH hat der herrschenden Gesellschaft eine gewisse Erleichterung zur Aufhebung des EAV durch den Hinweis auf die Möglichkeit, ein Rumpfgeschäftsjahr zu beschließen, an die Hand gegeben, eine Option, die auch dem Insolvenzverwalter i. R. des § 155 Abs. 2 InsO begrenzt offensteht und die er ggf. nutzen kann.154) Die von Marotzke ausdrücklich als persönliche Meinung entgegen der h. M. vorgeschlagene Anwendung des § 103 InsO überzeugt nicht, zumal der Hinweis auf den Charakter der Verlustausgleichsverpflichtung der insolventen herrschenden Gesellschaft als Masseverbindlichkeit, wenn der Verwalter Erfüllung wählt, zu Recht zugleich ___________ 149) Vgl. BGH, Urt. v. 18.1.2022 – II ZR 71/20, ZInsO 2022, 1062 ff. Peres in: NK-AktR, § 297 AktG Rz. 21, 34 m. w. N. geht hier von der h. M. aus. Im Ergebnis ebenso Merkel/Richrath in: Ellenberger/ Bunte, Bankrechts-Hdb., § 77 Rz. 64, mit dem Hinweis auf die Ausgleichspflicht des § 302 AktG als Folge der Leitungsmacht (s. § 308 AktG), bei deren Wegfall der Beherrschungs- und Ergebnisübernahmevertrag nach dieser Auffassung obsolet wird. 150) BGH, Urt. v. 14.12.1987 – II ZR 170/87, BGHZ 103, 1 ff., 6 = ZIP 1988, 229. 151) Vgl. etwa Trendelenburg, NJW 2002, 647 ff., 649 f. Die Autorin empfiehlt u. a., in die Unternehmensverträge die Insolvenz als wichtigen Grund zur Kündigung gemäß § 297 AktG aufzunehmen. Ob dieser sachgerechten Lösung die Anwendbarkeit des § 103 InsO entgegensteht (s. zur Anwendung des § 103 InsO auf Unternehmensverträge Marotzke in: HK-InsO, § 115 Rz. 9) und damit ggf. die jüngere Judikatur des BGH zu § 119 InsO heranzuziehen ist (BGH, Urt. v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, BGHZ 195, 348 ff. = ZIP 2013, 274 = ZInsO 2013, 292), kann im vorliegenden Rahmen in den Details nicht erörtert werden. Für die fristlose Kündigung u. a. auch Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 398 m. w. N. 152) Trendelenburg, NJW 2002, 647 ff. 153) BGH, Urt. v. 16.6.2015 – II ZR 384/13, ZIP 2015, 1483 ff. = WM 2015, 1463 ff. – Urteil zur früheren BMW/Rover-Gruppe; dazu Cranshaw, jurisPR-HaGesR 9/2015 Anm. 1. 154) BGH, Urt. v. 16.6.2015 – II ZR 384/13, Rz. 17, ZIP 2015, 1483 ff. = WM 2015, 1463; zur Befugnis des Insolvenzverwalters, ab Insolvenzeröffnung vom Rumpfgeschäftsjahr zum satzungsmäßigen Geschäftsjahr zurückzukehren, vgl. BGH, Beschl. v. 14.10.2014 – II ZB 20/13, ZIP 2015, 88 ff. = Rpfleger 2015, 212 ff.
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die Warnung vor dem Risiko der Masseunzulänglichkeit bei der herrschenden Gesellschaft enthält.155) Die andere von Hirte vertretene Auffassung, trotz der Fortgeltung des EAV (vor Kündi- 97 gung) und trotz der Ablehnung der Anwendung des § 103 InsO seien die Wirkungen des EAV „suspendiert“, da dieser durch die insolvenzrechtlichen Normen überlagert werde,156) erscheint nach der hier vertretenen Meinung ebenfalls nur zum Teil überzeugend. Hier muss man zwischen der Insolvenz der herrschenden und der beherrschten Gesellschaft differenzieren. Während mit Hirte selbstverständlich die „Leitungsmacht“ der herrschenden Gesellschaft gemäß § 308 AktG (oder ihres Insolvenzverwalters in der Doppelinsolvenz beider Vertragsbeteiligter des EAV) als Folge des § 80 InsO (sowie im Hinblick auf § 276a InsO in der Eigenverwaltung) in der Insolvenz der beherrschten Gesellschaft nicht ausgeübt werden kann, gilt das nicht zwangsläufig für die Gewinnabführungs- und Verlustausgleichspflichten. Dagegen spricht mehrerlei: § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG unterscheidet systematisch zwischen den Alternativen des Beherrschungs- und des Gewinnabführungsvertrages. § 302 AktG ist eine Norm zum Schutz der beherrschten Gesellschaft und zugleich von deren Gläubigern (siehe auch die Überschrift des 3. Abschnitts des 3. Buches des AktG); von den Unternehmensverträgen systematisch getrennt ist der zweite Teil des 3. Buches des AktG über die Leitungsmacht. Sind auch Ergebnisabführung und Beherrschung (in praxi) im EAV vereint, so spricht doch nichts dagegen, die unmittelbaren finanziellen Pflichten von der Leitungsmacht zu trennen, zumal beide Parteien ein außerordentliches Kündigungsrecht nach der jedenfalls im Vordringen befindlichen Meinung haben. Der „isolierte“ Gewinnabführungsvertrag ist möglich,157) die „Suspendierung“ (Hirte) der Leitungsmacht des § 308 AktG in der Insolvenz der beherrschten Gesellschaft bedeutet nicht zugleich, dass die Parteien die Ergebnisabführung als beendet ansehen müssen. Die Kündigung führt für die Beteiligten zu der gebotenen hinreichenden Flexibilität. 2.2.2.3
Konzernstrategische Erwägungen und Insolvenz
Zu ergänzen ist aus dem Blick des Konzerns mehrerlei: Eine andauernd verlustträchtige 98 Gesellschaft wird der Konzern bemüht sein, zu veräußern oder zu liquidieren. Die Judikatur lässt aber zu Recht die außerordentliche Kündigung des EAV durch den Alleingesellschafter auch dann nicht zu, wenn er die Auflösung der Gesellschaft beschlossen hat.158) Er muss sich an gesetzliche oder zulässige vertragliche Vorgaben halten.159) Die trotz der langen Erfahrungen mit den Unternehmensverträgen bestehenden Unsicher- 99 heiten in Insolvenzfällen führen aus praktischer Sicht bspw. zu folgenden Erwägungen, die im Einzelfall anzustellen sind: x Ist es insbesondere in den Fällen der vorläufigen Eigenverwaltung nicht richtig, mit den (wesentlichen) Gläubigern ggf. im Vorfeld des Insolvenzantrags über das Vermögen der herrschenden Konzernobergesellschaft oder Zwischenholding eine Abrede zu treffen, keinen Gläubigerinsolvenzantrag bezüglich der operativen oder sonst für das Funktio___________ 155) Marotzke in: HK-InsO, § 115 Rz. 9. Die dort ebenfalls als kritisch herausgestellte Situation bei der Eigenverwaltung, weil es dort an der Ausgleichsmöglichkeit durch einen Anspruch gegen den Verwalter nach § 61 InsO fehle, soll vorliegend einmal dahinstehen. 156) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 11 Rz. 398 m. w. N. 157) S. den Wortlaut des § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG; beide Verträge sind jeweils zu unterscheidende Organisationsverträge, vgl. Peres in: NK-AktG, § 291 AktG Rz. 8 – 10, 33 ff. (Beherrschungsvertrag), Rz. 57 ff. (Gewinnabführungsverträge); OLG München, Beschl. v. 20.6.2011 – 31 Wx 163/11, Rz. 14 a. E., ZIP 2011, 1912 f., dazu Cranshaw, jurisPR-HaGesR 1/2012 Anm. 4. 158) OLG München, Beschl. v. 20.6.2011 – 31 Wx 163/11, ZIP 2011, 1912 f., dazu Cranshaw, jurisPRHaGesR 1/2012 Anm. 4. 159) S. zur Reichweite der Nachwirkungen des EAV auch BGH, Urt. v. 18.1.2022 – II ZR 71/20, Rz. 21, ZInsO 2022, 1062 ff.
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nieren der Unternehmensgruppe wesentlichen Konzerngesellschaften im In- und/oder Ausland zu treffen? Soweit ein Eigenantrag geboten ist, muss dieser natürlich von den organschaftlichen Vertretern gestellt werden. Die Gläubiger haben es aber in der Hand, die Zahlungsunfähigkeit der Konzerngesellschaft wesentlich mitzusteuern, indem sie Forderungen soweit vertretbar nicht fällig stellen oder Stundung bewilligen und ähnliche Vorgehensweisen, die den institutionellen Finanzgläubigern aus der „außergerichtlichen“ („freien“) Sanierung geläufig sind. Die Instrumente des StaRUG stützen eine solche Vorgehensweise, welche die Konzernbindung in der Krise aufrechterhalten hilft und die Sanierung der gesamten Unternehmensgruppe fördert. x
Dadurch werden Leitungsmacht und EAV aufrechterhalten; freilich muss dabei im Konzerninteresse die Frage beantwortet werden, wie die etwaigen Verluste der Tochtergesellschaften auszugleichen sind und wie diese Thematik bezüglich ausländischer Gesellschaften zu lösen ist. Es darf bspw. nicht der Fall eintreten, dass die – heute vornehmlich noch aus steuerlichen Gründen erfolgende Einbringung der Schutzrechte und Lizenzen des Konzerns in eine eigenständige Gesellschaft in einem Niedrigsteuerland160) – in der Insolvenz der Konzernobergesellschaft zur Folge hat, dass die betroffene Gesellschaft in die Insolvenz gerät und der Konzerneinfluss verloren geht – mit ggf. desaströsen Folgen für die Fortführung und Sanierung.
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Im eröffneten Verfahren sind diese Themen richtigerweise insbesondere Gegenstand der Verhandlungen und Absprachen der beteiligten Verwalter und Gläubigerausschüsse sowie Gegenstand eines sachgerechten Koordinationsplans (vgl. § 269h InsO). Beispiele sind hier die wichtige operativ tätige Gruppengesellschaft und die die Schutzrechte haltende Gesellschaft, soweit jeweils Insolvenzverfahren eröffnet sind (für den Raum der EuInsVO vgl. den „Gruppen-Koordinationsplan gemäß Art. 70, 72 Abs. 1 lit. b EuInsVO). Die Einsetzung eines einzigen Insolvenzverwalters (vgl. § 56b InsO) scheint sich daher idealiter anzubieten. Das ist freilich tendenziell eine Art Scheinlösung, da die potentiellen Interessenkonflikte der Gläubiger der verschiedenen Massen sich dann in einer Person bündeln und nicht ins Auge springend zu Tage treten müssen. Es stellt sich dann die Frage eines Sonderinsolvenzverwalters und die weitergehende, ob die Interessenkonfliktthematik damit ausgeräumt werden kann (§ 56b Abs. 1 InsO).
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Wie geht man mit Leistungen im Vorfeld der Insolvenz und etwaigen Anfechtungsansprüchen um?
100 Das Bestehen eines Unternehmensvertrages ist zugleich Voraussetzung der steuerlichen Organschaft (körperschaftsteuerliche, gewerbesteuerliche umsatzsteuerliche Organschaft, siehe unter Rz. 116 ff.). ___________ 160) Das ist die Schaffung einer sog. „intellectual property box“, vgl. dazu Evers/Miller/Spengel, Intellectual Property Box Regimes: Effective Tax Rates and Tax Policy Considerations, ZEW 2013. Auf der Ebene der OECD wurde 2021 Einigung über Grundzüge globaler Mindeststeuern erzielt, das weitere Procedere bleibt abzuwarten. Die Diskussionen auf OECD-Ebene inkludieren gerade auch die Thematik der grenzüberschreitenden Verlagerung gewerblicher Schutzrechte innerhalb von Konzernen mit Lizenzentgelten aus Hochsteuerstaaten in Niedrigsteuerstaaten auf Konzernebene. S. dazu OECD/G 20 Base Erosion an Profit Shifting Project, Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy […], Kommentierung, 2022, abrufbar unter https://www.oecd.org/tax/beps/tax-challenges-arising-fromthe-digitalisation-of-the-economy-global-anti-base-erosion-model-rules-pillar-two-commentary.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). Entwickelt wurde ein Zwei-Säulen-Modell (“Two Pillars”), mit Neuverteilung von Besteuerungsrechten an Unternehmensgewinnen („Säule 1“) und eine globale Mindestbesteuerung („Säule 2“). Die weitere Entwicklung auf EU-Ebene bleibt abzuwarten. Zu systematischen Beispielen s. die gleichnamige Publikation der OECD […] Global Anti_Base Erosion Model Rules (Pillar Two) Examples, abrufbar unter https://www.oecd.org/tax/beps/tax-challenges-arising-from-the-digitalisationof-the-economy-global-anti-base-erosion-model-rules-pillar-two-examples.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). S. im Einzelnen bei Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung von Unternehmen, Abschn. 17.4.3, S. 577 ff., und Abschn. 17.4.4, S. 584 ff.
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2.2.3 Weitere Verträge zwischen den Konzerngesellschaften Zu den Planungsgrundlagen gehört zwingend auch die Berücksichtigung der diversen wei- 101 teren (vertraglichen) Lieferungs- und Leistungsbeziehungen der Konzerngesellschaften untereinander und zur Konzernobergesellschaft. Diese Thematik, die aufgrund ihres Umfangs und ihrer Vielfalt i. R. des vorliegenden Beitrags ebenfalls nur angedeutet werden kann, enthält eine Fülle verschiedener Facetten, die u. a. von „Intercompany Loans“ über Lieferungsbeziehungen innerhalb der Konzerngesellschaften bis hin zu der Frage von „Konzernumlagen“ reicht. Das insolvenzrechtliche Schicksal dieser Vertragsbeziehungen ist von erheblicher Bedeutung dafür, ob bei der einzelnen Gesellschaft ein Insolvenzverfahren ausgelöst wird, wie sich die Befriedigung oder der Ausfall der betroffenen Forderungen auf die Fortführung auswirkt und ob bzw. inwieweit von einer Konzerngesellschaft bezogene Leistungen weiterhin notwendig sind bzw. ob sie, bejaht man das, am Markt für die insolvente Gesellschaft bezahlbar erhältlich sind. 2.3
Anpassung von Leistungsbeziehungen unter Konzerngesellschaften in der Insolvenz?
Die in der Insolvenz evtl. notwendige Änderung der Grundlagen der konzerninternen 102 Beziehungen kann sich ergeben als Folge des Wegfalls der vertraglichen Basis in der Insolvenz (z. B. nach den §§ 115 f. InsO), als Konsequenz des § 103 InsO, auf dem Wege der Anfechtung161) oder ähnlicher rechtlicher Erwägungen, denen aber stets eine ökonomische Überlegung zugrunde liegt, nämlich die Frage des Vorteils für die jeweilige Insolvenzmasse (siehe auch im Folgenden unter Rz. 103 ff.). 2.3.1 Intercompany Loans (Downstream, Upstream, Crossstream) Intercompany Loans sind gruppeninterne Finanzierungen, zum einen in Gestalt von evtl. 103 auch nur kurzfristigen Gesellschafterdarlehen (nicht notwendig der Konzernmutter, wenn diese nicht unmittelbar Gesellschafter ist), insbesondere auch in Form von Betriebsmittelfinanzierungen für die Konzerngesellschaften. Dazu gehören auch Finanzierungen durch andere Konzerngesellschaften wie über eine Finanzierungsholding. In der Insolvenz steht diese Liquidität z. B. infolge etwaiger Kündigung aus wichtigem Grund oder als Folge des § 41 InsO ggf. nicht mehr zur Verfügung. Im eröffneten Verfahren sind diese Verbindlichkeiten für die Schuldnergesellschaft im Allgemeinen als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO oder als nachrangige Forderungen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unter den dortigen Voraussetzungen nicht liquiditätsrelevant und damit zwar für die Akzeptanz des Insolvenzplans von Bedeutung, aber nicht für die Betriebsfortführung. Umgekehrt fehlt dort die Liquidität, sollte der Rahmen der Intercompany Loans im Einzelfall einmal nicht ausgeschöpft sein. 2.3.2 Sonstige Lieferungs- und Leistungsbeziehungen Konzerninterne Lieferungen und Leistungen haben wie die unter Rz. 106 ff. nachfolgend 104 umrissenen „Konzernumlagen“ drei Problemfelder, nämlich im Wesentlichen x
zivilrechtliche
x
insolvenzrechtliche und
x
steuerrechtliche Themen.
___________ 161) Zu der Thematik der Anfechtung im Konzern s. schon bei Wenner/Schuster, ZIP 2008, 1512 ff.
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105 Zivilrechtlich sind jeweils wirksame Vereinbarungen erforderlich, die fortwirken, da sie ansonsten in der Insolvenz nicht genutzt werden können. Im Insolvenzverfahren lassen sich maßgebliche Themen durch die Stichworte bzw. Fragestellungen umreißen x insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit, Verwalterwahlrecht nach § 103 InsO oder Fortbestand über die Verfahrenseröffnung hinaus; Kündigungssperre gemäß § 112 InsO (bei Konzernleasing) usf. x Fortbestehen oder Beendigung einer steuerlichen Organschaft. 2.3.3 Konzernverflechtung und „Konzernumlagen“162) 106 „Konzernverflechtung“ und Konzernumlagen im hier verwendeten Sinne haben ihre Ursache u. a. im Bestreben der Konzernleitung, aus Kosten- und Steuerungsgründen für alle Konzerngesellschaften (evtl. länderübergreifende) einheitliche zentrale Stellen zu schaffen, die bestimmte Funktionen für den gesamten Konzern ausführen und deren Leistungen jeweils den anderen Konzerngesellschaften in Rechnung gestellt werden. 107 Dazu gehört die als schon „klassisch“ zu bezeichnende Konzentration bestimmter Organisationseinheiten auf der Ebene der Konzernmutter, wie etwa x Personalwesen mit seinen diversen Ausprägungen, beginnend mit der Lohn- und Gehaltsbuchhaltung bis hin zur Personalbeschaffung einschließlich des Segments der Leiharbeitnehmerverhältnisse sowie verwandter Instrumentarien (soweit nicht gesetzlich entsprechende funktionelle Einheiten von Fall zu Fall für einzelne Konzerngesellschaften des In- und/oder Auslands erforderlich sind),163) x Steuerabteilung, x Rechnungswesen, x Controlling, x Rechtsabteilung, x Revision, x Compliance, x Konzernsteuerung, ___________ 162) Vgl. den Überblick bei Rosenberger in: Bernegger/Rosar/Rosenberger, Hdb. Verrechnungspreise, S. 353 ff. 163) Wie weit hier die ggf. völlig unerwarteten Folgen reichen, zeigt die Entscheidung des FG Münster, Urt. v. 1.10.2015 – 5 K 1994/13 U, juris. Die Klägerin, die Obergesellschaft einer Firmengruppe im Inund Ausland, hatte ein Fitnessstudio auf dem Gelände einer anderen Konzerngesellschaft errichtet und ihren eigenen Mitarbeitern unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Auch Mitarbeiter von Konzerngesellschaften, die „keine Organgesellschaften der Klägerin“ waren, waren zur Nutzung berechtigt, hier allerdings entgeltlich. Aufzeichnungen hatte das Unternehmen nicht vorgenommen. Als Ergebnis einer Lohnsteueraußenprüfung und einer weitergehenden Betriebsprüfung kam es dann im Anschluss an eine tatsächliche Verständigung zu Lohnsteuernachforderungen (geldwerte Vorteile der Arbeitnehmer) und zu Umsatzsteuernachforderungen. Bei den Konzerngesellschaften war die Überlassung zu pauschalierten Beträgen „als Teil der Konzernumlage“ erfolgt (FG Münster, Urt. v. 1.10.2015 – 5 K 1994/13 U, Rz. 9, juris). Die gegen den Umsatzsteuerbescheid gerichtete Klage war nur zum Teil erfolgreich, die Revision wurde nicht zugelassen. Unternehmenseigene Fitnesseinrichtungen, die unentgeltlich ohne Bezug zur Arbeitsleistung den Arbeitnehmern zur Verfügung gestellt werden, sind umsatzsteuerpflichtig im Umfang des Wertes des Sachbezugs, der nicht durch überwiegend betriebliche Interessen veranlasst ist. Das Ziel allgemeiner Gesundheitsprävention genügt auch bei von der Betriebskrankenkasse förderungsfähigen Maßnahmen nicht, einen überwiegend betrieblichen Grund zu bejahen. Erforderlich wäre dazu das Ziel „berufsbedingten Beeinträchtigungen der Gesundheit der Arbeitnehmer“ entgegenzuwirken (FG Münster, Urt. v. 1.10.2015 – 5 K 1994/13 U, Orientierungssätze 1 und 2, Rz. 32 f., juris). Solche aus dem Blick der Unternehmensgruppe unerwarteten Ergebnisse auf dem einen oder anderen Gebiet dürfen auch bei der Fortführung in der Insolvenz und im Sanierungsplan bzw. im Sanierungsablauf nicht außer Acht gelassen werden. Die vorstehend zitierte Entscheidung ist nur ein Beispiel, das die vielfältigen möglichen Baustellen und Risikoelemente andeutet. Besonders bei der mittelständischen und kleinen Unternehmensgruppe könnten mangels hinreichenden Know hows bzw. nicht hinreichender Beratung hier Problemfelder lauern.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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Beteiligungsmanagement,
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Real Estate Management innerhalb des Konzerns, beginnend mit der einfachsten Stufe des Facility Management bis zu komplexen Stufen der Beschaffung der Immobilien und deren konzernweiter Verwaltung und Vermarktung,
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Konzernkommunikation,
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Geschäftsleitungs-/Vorstandssekretariat,
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zentrale Steuerung und Verwaltung des geistigen Eigentums in der Unternehmensgruppe (gewerbliche registergebundene Schutzrechte, urheberrechtliche Nutzungsrechte, Leistungsschutzrechte nach dem UrhG, entsprechende Rechte nach ausländischem Recht).
Eine weitere Entwicklung (neben den Intellectual Property Boxes) ist die Konzentration 108 des (ggf. weltweiten) Vertriebs und der Vertriebssteuerung auf die Konzernzentrale. Darin inbegriffen wird die Markensteuerung der verschiedenen Konzernmarken sein mit der Fragestellung, auf welchen (ausländischen) Märkten man das Produkt oder die Leistung mit der Marke der Konzerngesellschaft A verkaufe, auf welchem Markt die Leistung mit der Marke der Konzerngesellschaft B usf. Diese Vorgehensweise bedeutet allerdings zugleich einen Eingriff des Gesellschafters in die rechtliche Selbstständigkeit der betroffenen Konzerngesellschaft als juristische Person. Mit der zentralen Verwaltung der Schutzrechte und Lizenzen hat das zunächst nichts zu tun, wobei organisatorisch die Steuerung und die Innehabung zweckmäßig allerdings in einer Hand liegen. Die Steuerungsmöglichkeiten reichen weit über die vorstehend umrissenen Zwecke 109 hinaus, u. a. können Verrechnungspreise und Konzernumlagen der Ergebnisverlagerung der Ergebnisse von Betriebsstätten bzw. Konzerngesellschaften dienen, auch in andere Staaten (EU, EWR, Drittstaaten).164) In der Praxis sind Vereinbarungen über die bereits erwähnten immateriellen Rechtsgüter (Patente, Marken, Urheberrechtslizenzen usw.) besonders neuralgisch; die EU-Kommission und die nationalen Finanzbehörden bzw. -ministerien haben sie schon lange zunehmend in den Blick genommen und betrachten das System kritisch.165) Für die Betriebsfortführung spielen sie im Hinblick auf die Frage der Insolvenz___________ 164) Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen Abschn. 19, S. 637 ff., und Abschn. 20, S. 711 ff. Zielsetzung ist die Nutzung der steuerrechtlichen Divergenzen der verschiedenen steuerrechtlichen Sitzstaaten der Konzerngesellschaften (das „Steuersatzgefälle“, Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, S. 624, passim). Vgl. dazu auch Seer in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 1 Rz. 89 m. w. N.; Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 11 Rz. 85 m. w. N.; s. insbesondere zur „Verrechnungspreisprüfung“ bei Seer in: Tipke/Lang, Kap. 21 Rz. 174, 175 ff. 209 m. w. N. Die nach § 90 Abs. 3 AO erforderliche Dokumentation i. V. m. § 1 Abs. 4 AStG bleibt vom Insolvenzverfahren unberührt. Die Problematik der Steuerverlagerung wird insbesondere für die global players unter den IT-Konzernen auf der Ebene der OECD und der G 20 schon lange fortwährend diskutiert, die OECD hat schon vor Jahren einen Aktionsplan vorgestellt, s. OECD (2013), Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting (BEPS), OECD Publishing, abrufbar unter https://www.oecd.org/ctp/BEPSActionPlan.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). Das Beispiel zeigt, dass die Betriebsfortführung eingehend auf die steuerlichen Rahmenbedingungen (auch international) zu achten hat und sich vorschnelle Schritte verbieten; s. a. die OECD Executive Summaries 2015 zu BEPS in Fn. 117. Im Jahre 2021 ist ein Durchbruch zur Lösung wohl gelungen, die weitere Umsetzung der auf OECD-Ebene gefundenen Einigung in der EU und deren Umsetzung im Inland bleibt abzuwarten, s. o. unter Rz. 99 und dortige Fn. 165) S. zur Diskussion vor der grundsätzlichen Einigung auf OECD-Ebene im Jahr 2021 u. a. Schreiber/ Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, S. 886 f. Vgl. zu solchen „Lizenzierungsmodellen“ zur Steuergestaltung im Konzern ferner Egner, Internationale Steuerlehre, S. 162 und S. 164 sowie die Antwort der BReg auf „Steuergestaltung über Lizenz- bzw. Patentboxen“, BT-Drucks. 18/1238 v. 25.4.2014. Die BReg sieht solche Patentboxen „kritisch“ (S. 3), wobei man die „OECD-BEPS-Initiative um internationaler Steuervermeidung entgegen zu wirken“, unterstütze (S. 3). Zu einer Reihe von Teilaspekten lagen der BReg danach keine Erkenntnisse vor. Zu den Initiativen auf Ebene der OECD vgl. OECD, OECD/G 20 Base Erosion and Profit Shifting Project, 2015 Final Reports, Executive Summaries, u. a. S. 43, abrufbar unter www.oecd.org/tax/beps.htm (Abrufdatum: 3.3.2023).
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festigkeit der Leistungsbeziehungen sowie der Liquidität eine bedeutende Rolle. In der Konzerninsolvenz sind bei der Fortführung auch aus Gläubigersicht die Auswirkungen solcher Lösungen zu berücksichtigen, da auch ausländische Steuerforderungen in der inländischen Insolvenz anzumelden bzw. als Masseverbindlichkeiten zu berücksichtigen sind (vgl. z. B. für Steuer- und Sozialversicherungsansprüche ErwG 63 EuInsVO 2015 und § 341 Abs. 1 InsO im Verhältnis zu Drittstaaten). 110 Die insbesondere steuerliche Behandlung der Konzernumlagen (verdeckte Gewinnausschüttung, verdeckte Einlage usw.) spielt gerade in der „Cross-Border“-Fortführung eine bedeutende Rolle. OECD (seit vielen Jahren)166) und EU (2012) befassen sich mit dieser Thematik, die auch handels- und gesellschaftsrechtliche Bezüge hat.167) In der zitierten Kommissionsmitteilung COM (2012) 516 final sind bereits Empfehlungen enthalten, wie Verrechnungspreise grenzüberschreitend steuerrechtlich von den Mitgliedstaaten zu handhaben sind. 111 Diese Funktionen lassen sich je nach Zielsetzung bei der Konzernmuttergesellschaft bündeln, aber auch bei Tochtergesellschaften mit spezifischen Dienstleistungsfunktionen. Daher sind diese Organisationsstrukturen von Fall zu Fall völlig unterschiedlich.168) In den einzelnen abhängigen Gesellschaften können Mitarbeiter der entsprechenden Organisationseinheit implementiert werden, die die vorerwähnten Funktionen in der „lokalen“ Konzerngesellschaft ausüben, aber (dienstrechtlich) der Konzernobergesellschaft oder einer anderen Einheit zugeordnet sind. Bei der Gesellschaft, die diese zentralisierten Funktionen ausübt, entstehen Kosten, die insbesondere auch steuerlich unter verschiedenen Aspekten von hoher Bedeutung sind, gerade auch bei grenzüberschreitender Organisation. Schon aus diesem Grunde, aber auch aufgrund grundsätzlicher betriebswirtschaftlicher Erwägungen, bedarf es einer Kostenverteilung auf die Leistungsbezieher, d. h. die einzelnen Konzerngesellschaften. Keine Frage ist, dass die auf einzelne Gesellschaften bezogene Leistungsabrechnung aufgrund eines spezifischen Vertrages, der bei allen Konzerngesellschaften in der Struktur praktisch deckungsgleich sein wird, zu präferieren ist. Aus betriebswirtschaftlichen und steuerlichen Gründen (gerade auch des ausländischen Steuerrechts bei international vernetzten Unternehmensgruppen) ist es richtig, dass Vereinbarungen zu Bedingungen wie mit fremden Dritten169) geschlossen und die Transaktionen jeweils einzeln abgerechnet werden.170) Dasselbe gilt umso mehr für Lieferungs- und Abnahmeverträge, wenn die Mutter___________ 166) S. bereits die OECD-Verrechnungspreisleitlinien für multinationale Unternehmen und Steuerverwaltungen, 2011. 167) S. die ebenfalls schon lange herausgegebene Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Tätigkeit des EU-Verrechnungspreisforums, Dokument COM(2012) 516 final, v. 19.9.2012, abrufbar unter http://ec.europa.eu; die Mitteilung wurde vom Rat am 4.12.2012 angenommen. S. insgesamt Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, S. 501 ff. 168) Daher sieht Rosenberger in: Bernegger/Rosar/Rosenberger, Hdb. Verrechnungspreise, S. 361, völlig zu Recht die Erstellung eines ständig zu aktualisierenden Konzernorganigramms als eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Analyse und die Einführung von Konzernumlagen vor. Man wird weitergehend feststellen dürfen, dass es sich dabei um ein Instrument handelt, das wie der dortige „Benefit-Test“ (S. 363) für die Konzerngesellschaft ein unverzichtbares Element auch der Betriebsfortführung in der Insolvenz auf allen Ebenen des Konzerns ist. S. das Beispiel bei Fritze, DZWIR 2007, 89 ff., 90. 169) Nach der aus dem angelsächsischen Rechts- und Wirtschaftskreis stammenden griffigen Formel „at arm’s length“. In deutscher Terminologie muss die gewählte Vertragsstruktur und Preisfestsetzung einem „Fremdvergleich“ standhalten. Diese Situation ist erreicht, wenn der ordentliche Kaufmann oder Geschäftsführer bzw. Vorstand die „verkehrsübliche Sorgfalt“ angewandt hat, um den Preis zu ermitteln. Eingehend hierzu und zur Ermittlung der Verrechnungspreise Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, Abschn. 19 „Ertragsbesteuerung der Auslandsinvestitionen“ bzw. Abschn. 20 „Internationale Erfolgsabgrenzung“, zu Richtlinien der OECD für Verrechnungspreise, S. 686 ff., 688 f. 170) S. Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, Abschn. 20.2, S. 718 ff., 719 f., der hier von der „direkten“ Methode spricht.
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gesellschaft z. B. nicht nur den Vertrieb der Tochter organisatorisch darstellt, sondern vielmehr die Produkte sämtlich aufkauft und weiterverkauft. Bei Vergütungen, die auf der Betrachtung der Leistungsbeziehungen innerhalb des gesamten Konzerns aufbauen, kommt es auf den Verteilungsmaßstab und die Verteilungskriterien an; grenzüberschreitend, so Schreiber zutreffend, scheitere diese sog. „indirekte“ Methode an der fehlenden Steuerharmonisierung.171) Inwieweit all diese Themen auf der Grundlage der i. R. der OECD im Jahr 2021 gefundenen Einigung befriedigend gesteuert, bestehende Probleme auf EU-Ebene und im Inland befriedigend gelöst werden können, bleibt abzuwarten. 2.3.4 Weitergehende Problemfelder der Konzernverflechtung? Die Bündelung von Funktionen und Steuerungsmechanismen in der Unternehmensgruppe 112 kann in der Insolvenz – ggf. insbesondere bei Eigenverwaltungsstrukturen mit der aus Sicht der Konzernspitze grundsätzlich gewünschten Aufrechterhaltung der Beherrschung der Konzerngesellschaften – an anderer Stelle der europaweit (EU/EWR) bzw. darüber hinaus international tätigen Firmengruppe zu Problemen führen. Nur stellvertretend für eine Fülle denkbarer und jeweils länderspezifischer Themenfelder 113 darf paradigmatisch auf die Kosten des meist unvermeidbaren Abbaus von Arbeitsplätzen hingewiesen werden. In Frankreich vertritt bspw. die Cour de Cassation seit ihrer sog. Jungheinrich-Judikatur, die mittlerweile auf Ausnahmefälle beschränkt ist, die Auffassung, dass die Konzernmutter (oder die sonst herrschende Zwischenholding), auch wenn sie überhaupt nicht mit dem jeweiligen Arbeitnehmer in einem Arbeitsvertragsverhältnis steht, „Mitarbeitgeber“ („Coemployeur“) sein kann mit der Folge der Haftung für hohe Abfindungen, Schadenersatz wegen unwirksamer Kündigungen und andere arbeitsrechtliche Ansprüche gemeinsam mit der insolventen Tochter.172) Anknüpfungspunkt sind dort verschiedene Kriterien der Konzernverflechtung, u. a. im Strategie- und Personalbereich mit maßgeblicher Einflussnahme der Konzernobergesellschaft, die praktisch Alleingesellschaf___________ 171) Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, Abschn. 20.2, S. 718 ff. 172) Cour de Cassation (chambre sociale), Arrêt no 199, No 09-69.199, v. 18.1.2011 (Jungheinrich), veröffentlicht im Bulletin in 1/2011, abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr/juri/id/JURITEXT000023462329/ (Abrufdatum: 3.3.2023). Trifft das Verdikt der „Mitarbeitgeberschaft“ nicht nur eine ausländische Holdingtochter der Konzernobergesellschaft, sondern unmittelbar die inländische insolvente Muttergesellschaft, so kann diese bzw. deren Verwalter in Frankreich verklagt werden. Das Urteil ist im Inland vollstreckbar, denn das hier vorliegende arbeitsrechtliche Verfahren aus dem Blick des anwendbaren französischen Rechts (das heute aus Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO resultiert) ist unter die EuGVVO (= Brüssel Ia-VO = VO (EU) 1215/2012) zu subsumieren. Es handelt sich auch nicht um eine Streitsache, die unter Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 2 EuInsVO fiele, da es an dem unmittelbaren und engen Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren nach der Gourdain/Nadler- bzw. Seagon/Deko Marty-Rspr. des EuGH (EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – Rs. C-339/07 (Deko Marty), Slg. 2009 I-767 ff. = ZIP 2009, 427 = ECLI:EU:C:2009:83) fehlt. Bestätigt bzw. erweitert wurde die Jungheinrich-Judikatur vom Kassationsgerichtshof in dem Urteil Metaleurop bzw. Metaleurop Nord/Recyclex v. 12.9.2012, No de pourvoi 11-12343 u. a., abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr (Abrufdatum: 3.3.2023). Maßgeblich ist, dass eine Vermischung der Interessen, der Geschäftstätigkeit und der Geschäftsleitung vorliegt, insbesondere aber auch die Personalsteuerung der Tochtergesellschaft bei der Konzernspitze liegt („[…] une confusion d’intérêt, d’activités et de direction“, passim; s. i. E. zum Sachverhalt in „premier moyen de cassation“ der Entscheidung). S. aus der weiteren Judikatur der Cour de Cassation in diesem Umfeld die Entscheidungen „ELLAT Métallurgie“ v. 16.5.2013 – No de pourvoi 11-25711, abrufbar unter https:// www.legifrance.gouv.fr sowie „Infor France et Infor global solutions Inc.“ v. 29.5.2013 – Node pourvoi 12-13.943, abrufbar unterr https://www.legifrance.gouv.fr (Abrufdatum: 3.3.2023). An diesen Kriterien hält die Cour de Cassation (chambre sociale) im Wesentlichen auch in dem Urteil Molex automotive fest – MAS/Molex International Inc. v. 2.7.2014, ECLI:FR:CCASS:2014:SO01298, abrufbar unter https:// www.legifrance.gouv.fr/juri/id/JURITEXT000029194325/ (Abrufdatum: 3.3.2023) fest. Aus der Literatur s. Boetzkes, Die Konzernmutter als Mitarbeitgeberin im französischen Recht. In der weiteren Rechtsentwicklung hat der Kassationshof seine Haltung insoweit „zurückgenommen“, als er die Annahme eines „Mitarbeitergebereigenschaft“ der Konzernobergesellschaft als Ausnahme betrachtet, s. zu der Thematik eingehend Arfert, Die Konzerninsolvenz im französischen Recht, S. 484 ff.
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terin war. Das Beispiel zeigt, dass jede einzelne Konzernbeziehung mit ihren Eigentümlichkeiten in den Blick genommen werden muss, um die Risikopotentiale einzelner Entscheidungen in der jeweiligen Rechtsordnung zu erkennen und steuern zu können. Das ist kostenaufwendig und ohne aus dem Blick der Konzernobergesellschaft kundige Fachleute (Anwälte, Steuerberater, Ingenieure usf.) nicht zu bewältigen.173) 114 In „Jungheinrich“ und „Metaleurop“ hatten die Arbeitnehmer nach der Cour de Cassation Ansprüche gegen die Obergesellschaft, die nach dem vom Arbeitsrechtsstatut abweichenden Insolvenzstatut, also nach inländischem Recht in einem deutschen Verfahren, Masseverbindlichkeiten, aber auch Insolvenzforderungen sein können. Wird im eröffneten Verfahren gekündigt, handelt es sich bei den dort entstehenden Forderungen der Arbeitnehmer um Masseverbindlichkeiten mit all den damit verbundenen Folgen. Die §§ 120 ff. InsO sind in einem inländischen Verfahren auf im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer mit ausländischem Arbeitsvertragsstatut nicht anwendbar, da es sich dabei funktional um arbeitsrechtliche und nicht um insolvenzrechtliche Normen handelt.174) 115 Die hier nur aleatorisch herausgegriffenen Fälle auf einem wichtigen Feld der Betriebsfortführung sind genau genommen Phänomene der Durchbrechung der Schranken, die durch die Trennung der verschiedenen juristischen Personen im Konzern errichtet werden und die in dergleichen Fällen als Folge enger Konzernverflechtungen partiell nicht mehr aufrechterhalten werden. Welche rechtliche Konstruktion i. E. verwendet wird, um dieses Ergebnis zu erzielen, ist in jeder beteiligten Rechtsordnung unterschiedlich. In der zitierten Rechtsprechung der französischen Cour de Cassation ist es dort im Arbeitsrecht über das französische Insolvenzrecht hinausgehend die Rechtsfigur des „Coemployeur“ („qualité d’employeurs conjoints“, Urteil „Metaleurop“ u. a.), die zu Risiken des Mutterunternehmens führen kann, wenn es sich nicht aus der unmittelbaren Steuerung des Tochterunternehmens (hinreichend) heraushält. In den USA mag es u. a. der Aspekt der „Substantive Consolidation“ (siehe Rz. 165 ff.) sein, in Deutschland die Existenzvernichtungshaftung nach der „Trihotel“-Judikatur, mit jeweils anderen Folgen, anderen rechtlichen Anwendungsbereichen und Voraussetzungen. Abstrakt betrachtet ist nur ein Merkmal immer identisch, die enge Verflochtenheit im Konzern, die die Tochtergesellschaft (oder Mehrheitsbeteiligung der Konzernmutter) faktisch weitgehend jeder Selbstständigkeit entkleidet, in den Voraussetzungen und Folgen abhängig von der jeweiligen Rechtsordnung und gesellschaftsrechtlichen
___________ 173) Der Insolvenzverwalter der Konzernmutter darf und muss sogar solche Leistungen outsourcen (insbesondere im grenzüberschreitenden Verkehr), s. zum Outsourcing Cranshaw/Portisch, ForderungsPraktiker 2012, 275 ff. Vgl. auch Cranshaw/Portisch/Rösler in: IQS MaInsO, B I. 16, S. 43 ff., zu der Inanspruchnahme externer Dienstleister durch den Verwalter. Das BVerfG hat in seinem Beschluss v. 12.1.2016 zur verfassungsrechtlichen Akzeptanz des Ausschluss der juristischen Person vom Amt des Insolvenzverwalters zugleich hervorgehoben, dass die betroffene juristische Person den mit ihr kooperierenden Verwaltern „auf vertraglicher Grundlage ihre personellen und sachlichen Ressourcen zur Verfügung stellen und Unterstützung in rechtlichen, steuerlichen, technischen und betriebswirtschaftlichen Fragen leisten“ kann, BVerfG, Beschl. v. 12.1.2016 – 1 BvR 3102/13, Rz. 38, ZIP 2016, 321 ff. = ZInsO 2016, 383 ff.; s. a. Cranshaw, jurisPR-InsR 9/2016 Anm. 1. Der Senat hat damit zugleich das Outsourcing bestätigt, wenn auch nicht unmittelbar dessen Grenzen. Zu Bereichen, die der Verwalter „outsourcen“ kann, gehören nach den GOI, Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenz- und Eigenverwaltung des VID, Stand: 12/2020, abrufbar unter https://www.vid.de/wp-content/uploads/2021/02/GOI-01-2020-vom15.12.2020_final.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023) nach dem dortigen Abschn. II. 3. („Dienstleister“), S. 3 f., u. a. Inventarisierung, Investorensuche durch M&A-Berater, Buchführung, Steuererklärungen und Jahresabschlüsse erstellen, Rechts- und Steuerberatung für die Masse, Immobilienbe-/verwertung, ggf. Zeitmanager und Fachingenieure. Für die Konzernmutter gilt das für deren zentrale Steuerungsfunktionen erst recht. Der hier umrissene private Standard des VID ist nicht verbindlich außerhalb der dortigen Mitgliedschaft, aber sicherlich prägend, auf jeden Fall schlüssig. 174) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 ff. = ZInsO 2012, 2386 ff.
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Form.175) Eine erhebliche Steigerung der Komplexität dieser Vorgänge wird durch die Option der grenzüberschreitenden Sitzverlegung innerhalb der EU bewirkt mit weiterer Steigerung durch einen grenzüberschreitenden Rechtsformwechsel oder weiterer Umwandlungsvorgänge (Spaltung, Verschmelzung). Damit ist das Risiko des „Rückschlags“ der Problematik in der Krise verbunden, so dass dergleichen Phänomene bei der Fortführungsplanung zu bedenken sind, um eine Haftung der Konzernobergesellschaft daraus möglichst zu vermeiden. 2.4
Steuerrechtliche Implikationen
Die Betriebsfortführung im Konzern wird – wie oben erwähnt – maßgeblich auch von 116 den steuerrechtlichen Gegebenheiten in der jeweiligen Rechtsordnung bestimmt, in der die von der Insolvenz betroffenen Gesellschaften steuerrechtlich beheimatet sind. Dabei wirkt sich immerhin aus dem Blick des Sanierers positiv aus, dass der steuerliche Wegzug eines Unternehmens unter Aufgabe von Betriebsstätten in einem Mitgliedstaat der EU in einen anderen keiner gesonderten Wegzugsteuer unterworfen werden darf, die anders strukturiert ist als etwaige Steuern bei Betriebsstättenverlagerungen oder Betriebsaufgaben im internen Markt des Mitgliedstaates.176) Dennoch wird man bei Verlagerungen in der Krise mit dem Ziel eines Insolvenzverfahrens in einer anderen Rechtsordnung vorsichtig sein müssen, zumal wenn die lex fori concursus Insolvenzvorrechte für Forderungen des Fiskus oder der Sozialversicherungsträger kennt, da dadurch die Masse nicht nur belastet wird mit vorrangigen Insolvenzforderungen, sondern ggf. auch mit steuerlich bedingten Masseverbindlichkeiten (vgl. § 55 Abs. 4 InsO, der allerdings durch die Neufassung zum 1.1.2021 enumerativ auf bestimmte Steuern beschränkt wurde, wenn auch eine Erstreckung auf die vorläufige Eigenverwaltung erfolgte). Überdies werden durch solche Vorrechte bei „Cross-Border“-Aktivitäten nicht nur inländische öffentliche Gläubiger bevorrechtigt, sondern es werden auch bevorrechtigte Forderungen „importiert“ (Art. 39 EuInsVO 2000 = Art. 53 EuInsVO 2015 und Art. 45 EuInsVO 2015, jeweils i. V. m. ErwG 63 für die Insolvenzforderungen und i. V. m. § 55 InsO i. V. m. dem unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot für die Masseverbindlichkeiten ausländischer Gläubiger). Eine besondere Rolle spielt das Bestehen oder die Beendigung einer steuerlichen Organ- 117 schaft177) zwischen der Konzernobergesellschaft als Organträger und Konzerngesellschaften als Organgesellschaften, die sich auf Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer178) und Umsatz-
___________ 175) Die Eingliederung in den Konzern kann so weit gehen und damit auch dokumentiert sein, dass die Tochtergesellschaft im Organigramm der Mutter wie ein Geschäftsbereich mit fortlaufender Organisationskennziffer geführt wird ist. Nicht selten besteht Personenidentität von Geschäftsführern/ Vorständen der Tochter und Führungskräften der Mutter auf verwandten Organisationseinheiten. 176) EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – Rs. C-38/10 (Kommission/Portugal, „Wegzugsteuer“), ECLI:EU:C: 2012:521 = ZIP 2012, 1801 ff., dazu Cranshaw, jurisPR-InsR 21/2012 Anm. 4. 177) Vgl. dazu zur Rechtsentwicklung den Überblick bei Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 22 Rz. 209 ff., zu steuerlichen Pflichten des vorl. Insolvenzverwalters, Rz. 229 f. zur umsatzsteuerlichen Organschaft sowie bei Roth, Insolvenzsteuerrecht, S. 498 ff. zur körperschaftssteuerlichen Organschaft, S. 558 ff. zur umsatzsteuerlichen Organschaft. 178) Zur körperschaftsteuerlichen bzw. gewerbesteuerlichen Organschaft s. a. den aktuellen Überblick bei Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 11 Rz. 11.120 – 11.144 zur körperschaftsteuerlichen Organschaft mit Kritik, sie werde der „Realität international agierender Konzerne nicht gerecht, Rz. 11.1140; man wird sehen, welches Ergebnis die Umsetzung der OECD-Einigung über „Cross-Border“-Besteuerungsfragen (2021, s. o. Rz. 110 f.) generiert., vgl. Rz. 20 – 27 zur gewerbesteuerlichen Organschaft bzw. Rz. 28 ff. zur „Fortentwicklung“. Zur Organschaft s. a. Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, Abschn. 13.5, S. 410 – 423, passim, bei den verschiedenen Steuern usw.; zu den wirtschaftlichen Folgen der Körperschaftsteuer s. S. 420 – 422, zur Gewerbesteuer S. 422 f.
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steuer179) erstrecken kann. Es erfolgt eine Zurechnung des Einkommens bzw. des Umsatzes der Organgesellschaft zum Organträger. Maßstäbe des Vorliegens der Organschaft sind die finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung einer juristischen Person in ein Unternehmen, wobei eine Gesamtbetrachtung der tatsächlichen Umstände maßgeblich ist. Nicht alle drei Kriterien müssen im gleichen Maße ausgeprägt sein.180) Maßgeblich ist im Bereich der Körperschaftsteuer (vgl. § 14 KStG) bzw. Gewerbesteuer das Bestehen eines Gewinnabführungsvertrages181) (im Ergebnis ein Ergebnisübernahmevertrag i. S. der §§ 291 ff. AktG, direkt oder analog, siehe oben Rz. 90 ff.). Die steuerlichen Folgen des Bestehens einer Organschaft sind daher bei der Betriebsfortführung in der Krise zu bedenken. Die Frage ist daher, unter welchen Voraussetzungen die steuerliche Organschaft in der Krise des Konzerns wegfällt mit den entsprechenden steuerlichen Folgen, auf die i. E. im vorliegenden Rahmen nicht einzugehen ist.182) 118 Findet ein „Regelinsolvenzverfahren“ statt, wird also ein Insolvenzverwalter oder ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt bei der Organgesellschaft bestellt, endet die steuerliche Organschaft nach der Rechtsprechung des BFH mit der Konsequenz etwa negativer steuerlicher Folgen.183) Die Entwicklung in der Judikatur ist auf diesem Segment einigermaßen dynamisch. Die zitierte Entscheidung des BFH zu V R 53/09 machte es bereits schwieriger, das Ende der steuerlichen Organschaft zu beurteilen. Wird das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung für alle Konzerngesellschaften geführt, idealiter aus Unternehmenssicht in Form des Verfahrens gemäß § 270b InsO a. F. (aktuell § 270d InsO), stellte sich noch die Frage, ob nicht die Beherrschung des insolventen Unternehmens auf diese Weise gesichert ist und damit die Organschaft fortbesteht. Insbesondere spielt diese Problematik bei der Umsatzbesteuerung eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Die Thematik beeinflusst ebenfalls die Betriebsfortführung. Die Verfügung der OFD Frankfurt a. M. vom 11.3.2013184) „Beendigung der umsatzsteuerlichen Organschaft – insbesondere in Fällen der Insolvenz“, befasste sich mit der Eigenverwaltung noch nicht (siehe aber im Folgenden Nr. 2.8 (12) des aktuellen UStAE)185). Die Insolvenz des Organträgers berührte danach das Fortbestehen der Organschaft im Allgemeinen zunächst nicht. Bei der Organgesellschaft sollte die Bestellung eines „schwachen“ vorläufigen Verwalters und die Ablehnung der Verfahrenseröffnung mangels Masse gleichfalls unschädlich sein, die Insolvenzeröffnung mit Insolvenzverwalter aber die Organschaft beenden. Angesichts der bei der ___________ 179) Zur umsatzsteuerlichen Organschaft s. Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 17 Rz. 17.61 – 17.65. Zur umsatzsteuerlichen Organschaft s. ferner den UStAE, v. 1.10.2010, BStBl. I 2010, 846, nach dem Stand v. 31.12.2021 in der aktuellen Version v. 1.9.2022, Abschn. 2.8, S. 57 ff., abrufbar unter https:// www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/BMF_Schreiben/Steuerarten/Umsatzste uer/Umsatzsteuer-Anwendungserlass/Umsatzsteuer-Anwendungserlass-aktuell.pdf?__blob=publicationFile&v=72 (Abrufdatum: 3.3.2023). 180) S. Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Kap. 17 Rz. 17.63. 181) S. Schreiber/Kahle/Ruf, Besteuerung der Unternehmen, Abschn. 13.5, S. 412. 182) Zur körperschaftsteuerlichen Organschaft s. auch die Körperschaftsteuer-Richtlinien 2022 – KStR 2022, denen der BRat zugestimmt hat (s. BR-Drucks. 87/22 v. 24.2.2022), dort R 14.2, S. 29 zur finanziellen Eingliederung bei der Organschaft; R 14.4 zu den zeitlichen Voraussetzungen, S. 30; R. 14.5 zum Gewinnabführungsvertrag, S. 30 ff., R 14.6 – 14.8 zu Einkommensermittlungsfragen der Beteiligten; R 15 – 17 zu weiteren Fragestellungen. 183) S. BFH, Urt. v. 24.8.2011 – V R 53/09, BFHE 235, 5 ff. = ZIP 2011, 2421 ff.; dazu Eversloh, jurisPRSteuerR 9/2012 Anm. 5. Der Senat weist in Rz. 25 des Urteils auf die 2010 erfolgte Änderung seiner Rspr. zur finanziellen Eingliederung hin. 184) OFD Frankfurt/M., Verfügung v. 11.3.2013 – S 7105 A – 21 – St 110, ZInsO 2013, 1243 ff. 185) UStAE, v. 1.10.2010, BStBl. I 2010, 846, nach dem Stand v. 31.12.2021 in der aktuellen Version v. 1.9.2022, abrufbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downoads/BMF_ Schreiben/Steuerarten/Umsatzsteuer/Umsatzsteuer-Anwendungserlass/Umsatzsteuer-Anwendungserlass-aktuell.pdf?__blob=publicationFile&v=72 (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Eigenverwaltung auf die Insolvenzabwicklung verpflichteten Geschäftsführung der Tochtergesellschaft und unter Berücksichtigung der Entmachtung der Gesellschafter und Aufsichtsorgane (vgl. § 276a InsO) war dort mindestens offen, ob die Organschaft aufrecht erhalten bleibt oder mit Verfahrenseröffnung endet. Der BFH hat in seinem Beschluss vom 19.3.2014 darauf erkannt, im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen von Organträger und/oder Organgesellschaft spreche der „insolvenzrechtliche Einzelverfahrensgrundsatz […] gegen den Fortbestand der Organschaft“. Ohne Bedeutung ist danach, ob nur ein Insolvenzverwalter für beide Partner der Organschaft bestellt wird oder zwei oder ob Eigenverwaltung angeordnet wurde.186) Die aktuelle Haltung der Finanzverwaltung (6/2022) folgt aus dem UStAE des BMF,187) 119 der in Abschn. 2.8 (Organschaft) Rz. 12 (Insolvenzverfahren) unter Berücksichtigung auch der Eigenverwaltung folgendes ausführt (die Verlautbarung klärt die Verwaltungsmeinung im Einklang mit der einbezogenen Judikatur des BFH): „[…] 1. Mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Organträgers oder der Organgesellschaft endet die Organschaft (vgl. BFH-Urteil vom 15.12.2016 – V R 14/16, BStBl II 2017 S. 600). 2. Dies gilt jeweils auch bei Bestellung eines Sachwalters im Rahmen der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO. 3. Wird im Rahmen der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen über das Vermögen des Organträgers oder der Organgesellschaft ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, endet die Organschaft mit dessen Bestellung bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter den maßgeblichen Einfluss auf den Schuldner erhält und eine Beherrschung der Organgesellschaft durch den Organträger nicht mehr möglich ist. 4. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter wirksame rechtsgeschäftliche Verfügungen des Schuldners aufgrund eines Zustimmungsvorbehalts nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 InsO verhindern kann (vgl. BFH- Urteile vom 8.8.2013 – V R 18/13, BStBl II 2017 S. 543, vom 3.7.2014 – V R 32/13, BStBl II 2017 S. 666, und vom 24.8.2016 – V R 36/15, BStBl II 2017 S. 595). 5. Die Sätze 1 bis 4 gelten auch in den Fällen, in denen für den Organträger und die Organgesellschaft ein personenidentischer Sachwalter, vorläufiger Insolvenzverwalter oder Insolvenzverwalter bestellt wird. 6. Hingegen beenden weder die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung beim Organträger noch die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung bei der Organgesellschaft eine Organschaft, wenn das Insolvenzgericht lediglich bestimmt, dass ein vorläufiger Sachwalter bestellt wird sowie eine Anordnung gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO erlässt (vgl. BFHUrteil vom 27.11.2019 – XI R 35/17, BStBl II 2021 S. 252). 7. Satz 6 gilt nicht für vorläufige Eigenverwaltungsverfahren, die nach dem 31.12.2020 angeordnet wurden, es sei denn, diese fallen unter die Anwendung des § 5 Abs. 1 COVID-19Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG).“
In der Rechtsprechung hat der EuGH auf Vorlage des 11. Senats des BFH entschieden, 120 ein Unterordnungsverhältnis sei als Voraussetzung der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft (= Behandlung rechtlich selbstständiger juristischer Personen zusammen als ein einziger Steuerpflichtiger nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der „Mehrwertsteuerrichtlinie“ 77/388/EWG) nicht erforderlich, soweit nicht dieses Kriterium „erforderlich und geeignet ist“, um Steuerhinterziehung zu vermeiden oder den Steuermissbrauch zu verhindern.188) ___________ 186) BFH, Beschl. v. 19.3.2014 – V B 14/14, Rz. 28, 33, 41, ZIP 2014, 889 ff. = DZWIR 2014, 356 ff. 187) UStAE v. 1.10.2010, BStBl. I 2010, 846 – aktuelle Version (21.1.2016) – nach dem Stand zum 31.12.2015, mit Änderung gemäß Schreiben v. 21.1.2016 – III C 3 – S 7168/08/10001/ (2016/0063899), BStBl. I 2016, 150. 188) EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – verb. Rs. C-108/14, C-109/14 (Laurentia+Minerva KG/FA Nordenham und Marenave Schiffahrts AG/FA Hamburg-Mitte), Tenor Nr. 2, ECLI:EU:C:2015:496 = ZIP 2015, 1971 ff. = RIW 2015, 619 ff.
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Der 5. Senat des BFH hat in seiner Entscheidung zu V R 15/14 unter Würdigung des zitierten Urteils des EuGH an seiner Auffassung zu den Voraussetzungen zur Organschaft und der Eingliederung der Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers festgehalten.189) Der EuGH hat in zwei Urteilen zur Mehrwertsteuerrichtlinie 77/388/EWG vom 1.12.2022190) u. a. darauf erkannt, dass die Mitgliedstaaten eine umsatzsteuerliche Organschaft zulassen können, wenn der Organträger seinen Willen bei den Gruppenunternehmen durchsetzen könne und die Organschaft nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führe. Die Organschaft rechtlich selbstständiger miteinander verbundener Unternehmen kann nicht neben der Mehrheitsbeteiligung zusätzlich an eine Stimmrechtsmehrheit geknüpft werden. Welche Folgerungen sich für die steuerliche Behandlung der (umsatzsteuerlichen) Organschaft im Einzelnen ergeben bleibt abzuwarten (Stand: 1/2023). 121 Fasst man zusammen, so endet die Organschaft mit Insolvenzeröffnung, weil es an der notwendigen Eingliederung fehlt. Es ist gleichgültig, ob es sich um ein „Regelverfahren“ mit einem Insolvenzverwalter handelt oder um Eigenverwaltung. Hinreichend ist auch die Bestellung eines „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters oder eines vorläufigen „Zustimmungsverwalters“, da die Eingliederung im vorstehenden Sinne aufgebrochen wird. Daher spricht viel dafür, Insolvenzen der an einem Organkreis beteiligten Gesellschaften möglichst abzuwenden bzw. in jedem Einzelfall, soweit nicht § 15a InsO keine Alternative zum Insolvenzantrag lässt, die Folgen sorgfältig zu prüfen. Nicht einmal die Bestellung eines einheitlichen Insolvenzverwalters nach § 56b InsO hält die Organschaft aufrecht; das ist richtig, da in jedem Fall rechtssystematisch (siehe § 1 InsO sowie § 56b Abs. 1 Satz 2 InsO) die Einzelinteressen der Gläubiger des jeweiligen Gruppenunternehmens den Konzerninteressen vorgehen. § 269i InsO, der den Grundsatz der Unverbindlichkeit des Koordinationsplans des Konzerninsolvenzrechts für die Gruppenunternehmen unterstreicht, bestätigt dieses Ergebnis. 122 Die außergerichtliche („freie“) Sanierung bzw. die Restrukturierung nach dem StaRUG (i. V. m. der Restrukturierungsrichtlinie) können unter diesem steuerlichen Aspekt Ansätze sein, die Eingliederung der Organgesellschaft und die Aufrechterhaltung des Organkreises zu erhalten. Diese Struktur ist der Natur der Sache nach nur insoweit sinnvoll, als die betroffenen Unternehmen fortgeführt werden, ggf. – in Abhängigkeit von den Strukturen der konkreten Organschaft und der jeweiligen steuerlichen Verhältnisse – nur über den notwendigen Zeitraum zur Optimierung der steuerlichen Verhältnisse. 2.5
Kooperation der Akteure des Insolvenzverfahrens der Konzerngesellschaften
2.5.1 Kooperation der Verwalter nach der EuInsVO 2015 123 Mangels eines materiell einheitlichen Insolvenzverfahrens über alle in der Insolvenz befindlichen Konzerngesellschaften (siehe zu einem materiellen Konzept unter Rz. 156 ff.) hinweg kann die übergreifende Strukturierung der Insolvenz der Unternehmensgruppe nur i. R. einer Kooperation und Kommunikation der beteiligten Insolvenzverwalter gelingen, die miteinander ihre Vorgehensweise koordinieren, wie das nunmehr in Art. 56 EuInsVO vorgesehen ist bzw. ermöglicht wird (siehe oben unter Rz. 60 ff.); in den Fällen der Eigenverwaltung ermöglicht Art. 76 EuInsVO dem „Debtor in Possession“ die Kooperation wie einem Insolvenzverwalter. Dies betrifft nicht nur den Insolvenzplan oder eine Restrukturierung ohne Insolvenzplan, sondern auch die etwaige Liquidation des Konzerns, ___________ 189) BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/14, DStR 2016, 226 ff. 190) EuGH, Urt. v. 1.12.2021 – Rs. C-141/20 (Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie), ECLI:EU:C: 2022:943 = ZInsO 2023, 162 ff., und EuGH, Urt. v. 1.12.2022 – Rs. C-265/20 (Finanzamt T./öffentl.rechtl. Stiftung), ECLI:EU:C:2022:361. S. zu diesen Urteilen u. a. die Anmerkungen von Fetzer, DB 2022, 2955 f., und Hennigfeld, DB 2022, 3019 f.
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der einen oder anderen Gesellschaft oder des einen oder anderen Betriebs oder Betriebsteils. Ziel der Zusammenarbeit und Kommunikation der Verwalter (bzw. der Vertretungsorgane der eigenverwaltenden Schuldner) und gleichzeitige Bedingung ist nämlich die Erleichterung der „wirksamen“ Abwicklung der Verfahren. Die unveränderte rechtliche Selbstständigkeit der Verfahren unterstreicht Art. 56 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO durch die weiteren Voraussetzungen der Vereinbarkeit der Kooperation und Kommunikation mit den für die Einzelverfahren geltenden Bestimmungen und das Fehlen von Interessenkonflikten, die kausal auf die Kooperation und Kommunikation zurückgehen. Ergänzt wird diese Regelung durch die sachlogischen Vorschriften der Art. 57 und 58 124 EuInsVO über die Kooperation bzw. Kommunikation der beteiligten Gerichte untereinander und der derjenigen der Gerichte und der Verwalter miteinander, jeweils unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der jeweiligen lex fori concursus191) und der fehlenden Interessenkollision. Ziel ist dort die Erleichterung der „wirkungsvolle[n] Verfahrensführung“. Die Zusammenarbeit der Gerichte kann sich nach Art. 57 Abs. 3 EuInsVO insbesondere auf die für Gläubiger besonders interessanten Punkte der Koordinierung der Verwalterbestellung (lit. a), der Verwaltung und Überwachung der Masse und ihrer Geschäfte (lit. b) sowie der Koordinierung der geführten Verhandlungen (lit. c) beziehen. Ziel ist letztlich, möglichst ein „Gruppen-Koordinationsverfahren“ (Art. 61 ff. EuInsVO) zu bewirken, das zu Empfehlungen des Koordinators und einem „Gruppen-Koordinationsplan“ führt (Art. 72 Abs. 1 EuInsVO), an den sich trotz des Grundsatzes der Freiwilligkeit (Art. 70 Abs. 2 EuInsVO) die beteiligten Insolvenzverwalter (und Gläubiger) halten. Fernziel ist die Sanierung der gesamten Unternehmensgruppe i. R. eines wirtschaftlich sinnvollen Konzepts, dem die jeweiligen Gläubiger der einzelnen Gruppenunternehmen zustimmen können. Daher spricht Art. 72 Abs. 1 lit. b EuInsVO auch von einem „integrierten Ansatz“, den der vom Koordinator vorzulegende Gruppen-Koordinationsplan verfolgt; Maßnahmen sind solche zur Wiederherstellung von „Solvenz und Leistungsfähigkeit der Gruppe oder einzelner Mitglieder“ (lit. b Ziff. i), die Beilegung von gruppeninternen Konflikten wie Anfechtungsthemen (lit. b Ziff. ii) oder auch nur Vereinbarungen (Protokolle „Protocols“ usw., siehe oben Rz. 63, 65, 66) der Verwalter der Konzernunternehmen untereinander (lit. b Ziff. iii) zur Förderung der Einzelverfahren (aber im Interesse der gesamten Unternehmensgruppe). Bei der übergreifenden Betrachtung der Abwicklung der Einzelinsolvenz strahlt diese Ko- 125 operation, Kommunikation und Koordination in gleicher Weise auf die Betriebsfortführung aus, ist diese doch nichts anderes als ein – wenn auch entscheidender Teil – des Gesamtkonzepts, denn ohne Fortführung im sinnvollen Umfang192) scheidet ein Sanierungsinsolvenzplan für den insolventen Unternehmensträger aus. Dabei bedarf es eines Insolvenzverwalters, der die Organisation bzw. „Führung“ der Koordinierung übernimmt, dem Projektleiter eines gemeinsamen Projektes der beteiligten Gesellschaften vergleichbar. Art. 71 Abs. 2 EuInsVO bestimmt allerdings, dass der Koordinator, also der Projektleiter der Koordination, keiner der beteiligten Insolvenzverwalter sein darf und auch sonst Interessenkollisionen bei ihm nicht bestehen dürfen. Das ist freilich nichts Außergewöhnliches, sondern nichts anderes als eine besondere Form des wichtigen Unabhängigkeitskriteriums, wie sie das inländische Recht in Art. 56 Abs. 1 Satz 1 InsO fordert. ___________ 191) Die lex fori concursus darf indes nicht die Ziele der EuInsVO durch restriktive Handhabung von Kommunikation und Kooperation konterkarieren, da dies ein Verstoß gegen den effet utile der EuInsVO an dieser Stelle darstellen würde. 192) Dabei ist bis zur Entscheidung der Gläubiger im Berichtstermin ein Dilemma zu meistern, welches darin besteht, dass der vorläufige Verwalter im Eröffnungsverfahren oder der Verwalter nach Verfahrenseröffnung zwar zum einen das Interesse der Gläubiger an autonomer Entscheidung über die Fortführung zu wahren hat, andererseits aber Zweifel darüber bestehen mögen, ob die Fortführung – und in welcher Gestalt – bewältigt werden kann.
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126 Das Problem liegt naturgemäß darin, dass der jeweilige Insolvenzverwalter allein dem Interesse seiner Masse bzw. seiner Gläubiger verpflichtet ist, d. h. er kann sich nur austauschen, soweit er Vertraulichkeitsgebote nach Interessenabwägung bzw. entsprechende Verpflichtungen gegenüber anderen Beteiligten nicht beachten muss und soweit er die Interessen seiner Gläubiger gewahrt sieht. Die etwaige Beeinträchtigung seiner Masse durch Maßnahmen muss durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen werden. Besonders neuralgisch sind dabei die Insolvenzanfechtung und die Frage der Erfüllungswahl gemäß § 103 InsO bei gruppeninternen Verträgen sowie Gesellschafterdarlehen und solchen Darlehen vergleichbare Rechtshandlungen i. S. des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. Im Eröffnungsverfahren kann im Interesse des Erhalts von notwendigen Lieferungen und Dienstleistungen das Anfechtungsproblem nach Maßgabe der Rechtsprechung des BGH durch gemeinsam zwischen den beteiligten Verwaltern geschaffene Vertrauenstatbestände gelöst werden.193) 127 Die Art. 56 ff. EuInsVO zeigen gleichzeitig die Grenzen einer solchen Koordination sehr plastisch auf, wenn es dort z. B. bei der Zusammenarbeit der Verwalter in Art. 56 Abs. 1 EuInsVO eben heißt, die Kooperation, die auch die Koordination durch Vereinbarungen und „Protokolle“ über das weitere Procedere einschließt (Abs. 1 Satz 2), erfolge u. a. in dem Umfang, als sie „[…] mit den für die einzelnen Verfahren geltenden Vorschriften vereinbar ist und keine Interessenkonflikte nach sich zieht“194) (Art. 56 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO). Diese Regelungen entsprechen dem Stand von Praxis und Wissenschaft, denn sie wahren die Eigeninteressen der Gläubiger des Einzelverfahrens (und wenn man so will diejenigen der betroffenen juristischen Personen als Schuldner). Sie stehen ferner im Einklang mit Art. 7 EuInsVO (= Art. 4 EuInsVO 2000), denn die Regeln, die für derartige Verfahren i. S. des Art. 56 Abs. 1 EuInsVO n. F. herangezogen werden müssen, sind diejenigen der jeweiligen lex fori concursus. Das europäische – bisher systematisch nur internationale – Insolvenzrecht orientiert sich damit einerseits an der sich herauskristallisierenden Praxis in Mitgliedstaaten, andererseits belässt es diesen die Wahl des materiellen Rechts. Die u. a. haftungsrelevante Problematik, ob sich die Beteiligten innerhalb der Grenzen bewegt haben, die die Einzelinsolvenz nach nationalem Recht von ihnen fordert, unterstreicht das bisherige Postulat für das deutsche Insolvenzrecht, dass der den Betrieb fortführende Verwalter und die anderen Beteiligten jedenfalls unter den die Haftung reduzierenden Schutz der „Business Judgement Rule“ zu stellen seien.195) Der BGH hat diese Betrachtung jedoch abgelehnt und dafür einen weiten haftungsrechtlich unbedenklichen Handlungsspielraum des Insolvenzverwalters für unternehmerische Entscheidungen bis hin zur Grenze der fehlenden Vertretbarkeit bejaht.196) 2.5.2 Strukturelemente des inländischen Konzerninsolvenzrechts 128 Diesem Konzept der Kooperation und Koordination der EuInsVO-Novelle (2015) entspricht auch dem Konzept des „Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzern___________ 193) Thole in: HK-InsO, § 129 Rz. 35 m. w. N., kritisch zum Vertrauenstatbestand, da davon abhängig, ob der vorläufige Verwalter Masseverbindlichkeiten begründen kann; BGH, Urt. v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, BGHZ 165, 285 ff., 286 f. = ZIP 2006, 431; abgelehnt in BGH, Urt. v. 25.4.2013 – IX ZR 235/12, Rz. 36 – 38, ZIP 2013, 1127 ff. 194) Zweifel an dieser klaren Bedingung bestehen nicht, die deutsche Fassung entspricht ohne Abstriche dem englischen Text „[…] to the extent, that such cooperation […] is not incompatible with the rules applicable to such proceedings and does not entail any conflict of interests“, sowie dem französischen Text “[…] pour autant, qu’ une telle cooperation […] ne soit pas incompatible avec les règles applicables à ces procedures et n’entraîne aucun conflict d’interêts […].” – vergleicht man ihn einmal mit diesen beiden anderen Arbeitssprachen in der EU. 195) So etwa Cranshaw, ZInsO 2012, 1151 ff., 1154 f. m. w. N. 196) BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 26 ff., BGHZ 225, 90 ff. = ZRI 2020, 303 ff.
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insolvenzen“.197) Hierzu sollen im vorliegenden Rahmen einige Hinweise hinreichen. Zum einen hat man als Basis einer gewissen formellen Koordinierung der diversen Einzelinsolvenzverfahren einen einheitlichen „Gruppengerichtsstand“ nach den §§ 3a ff. InsO geschaffen. Dabei wird in § 3e InsO für insolvenzrechtliche Zwecke der Begriff der Unternehmensgruppe definiert als „rechtlich selbständige Unternehmen“ mit Interessenmittelpunkt im Inland, die „unmittelbar oder mittelbar“ miteinander verbunden sind und zwar durch die „Möglichkeit der Ausübung eines beherrschenden Einflusses“ oder (also nur alternativ) „eine Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung“.198) Der Grundsatz des rechtsträgerbezogenen Einzelinsolvenzverfahrens wird gerade nicht aufgegeben. Die Generalklausel in § 3e InsO-E erscheint sachgerecht, zumal auch die mittelbare Beteiligung der Konzernobergesellschaft an Gesellschaften erfasst wird, die von ihr in der Beteiligungskette weiter entfernt sind. Zur Illustration mag folgendes Beispiel dienen: Die Konzernobergesellschaft A.-AG beherrscht die X-GmbH, an der sie 80 % hält, diese die Y. GmbH, an der sie mit 75,1 % beteiligt ist, und diese wiederum die Z.-KGaA, deren Kapital ihr zu 66 % gehört. Die A. kann ihren beherrschenden Einfluss bis zur Z. durchsetzen, obwohl sie an deren Vermögen – „durchgerechnet“ – nur noch mit knapp über 40 % beteiligt ist, betrachtet man den Anteil am theoretischen Liquidationserlös, Liquidation aller Beteiligungen unterstellt. Zugleich sind „Intercompany Loans“ von A. an Z. in deren Insolvenz nachrangig gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 Abs. 4 Satz 1 InsO mit den Folgen des § 135 Abs. 1, 2 InsO, aber auch des § 135 Abs. 3 InsO, so dass die insolvente Z., hat die A. ihr bspw. das Betriebsgrundstück vermietet, verpachtet oder verleast, an diese ein Nutzungsentgelt zahlen muss (§ 135 Abs. 3 Satz 2 InsO). Dieser letztere Aspekt ist bei der Betriebsfortführung gleichfalls zu beachten. Die Antragsbefugnis auf Bestimmung eines Konzerngerichtsstands („Gruppen-Gerichts- 129 stand“; vgl. § 3a InsO) ist einigermaßen komplex. Antragsteller kann jede Konzerngesellschaft sein, die selbst einen zulässigen Insolvenzantrag über ihr Vermögen gestellt hat und die nicht offensichtlich von untergeordneter Relevanz für die Gruppe ist. Dies darf regelmäßig dann nicht angenommen werden, wenn die Antragstellerin mehr als 15 % der kumulierten Bilanzsumme und Umsätze aller Gruppengesellschaften repräsentiert (§ 3a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 Nr. 1, 2 InsO).199) Der antragstellende Schuldner muss zudem mehr als 15 % der durchschnittlich im Jahr im Konzern tätigen Arbeitnehmer beschäftigen (§ 3a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 InsO. Mit anderen Worten kann im Einzelfall auch ein Gruppenunternehmen antragsbefugt sein, das jedenfalls nicht alle Kriterien an die anteiligen Bilanzsummen, Umsätze und Arbeitnehmerzahlen erfüllt. Bestehen Zweifel, ob die Verfahrenskonzentration an dem beantragten Gruppen-Gerichts- 130 stand im „gemeinsamen Interesse der Gläubiger“ liegt (§ 3a Abs. 2 InsO, kann das Gericht ___________ 197) Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866, in Kraft ab 21.4.2018, zu den Materialien s. RegE BT-Drucks. 18/407 v. 30.1.2014, und die Änderungsempfehlungen des Ausschusses R/V, BT-Drucks. 18/11436 v. 8.3.2017. 198) Die Begrifflichkeit der EuInsVO 2015 ist detaillierter als § 3e Abs. 1 Nr. 1, 2 InsO, die Definitionen des englischen Textes: „group of companies“ in Art. 2 (13), (14) EuInsVO 2015 ist detaillierter, wenn die Verordnung in (13) den Konzern als „parent undertaking und all its subsidiary undertakings“ definiert und (14) sehr eingehend „parent undertaking“ definiert als „‚parent undertaking‘ means an undertaking which controls, either directly or indirectly, one or more subsidiary undertakings. An undertaking which prepares consolidated financial statements in accordance with Directive 2013/34/EU of the European Parliament and of the Council (1) shall be deemed to be a parent undertaking.” Die Entwurfsfassung hatte noch einen etwas anderen Wortlaut; u. a. verwendete man den Begriff der „parent company“ anstelle von „parent undertaking“. Die Fußnote in (14) enthält bibliographische Hinweise zur Bilanzrichtlinie ([EU] 2013/34). 199) Zur Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen z. § 3a InsO, BTDrucks. 18/407, S. 26 f.
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den Antrag zurückweisen.200) Regelmäßig wird es den Antrag aber zurückweisen müssen. Die beteiligten Insolvenzgerichte müssen abstimmen, ob ein einziger „Konzerninsolvenzverwalter“ für alle Konzerngesellschaften im Gläubigerinteresse ist und ob „Interessenkonflikte durch […] Sonderinsolvenzverwalter ausgeräumt werden können“ (§ 56b InsO). Die „Abstimmung“ bindet den Richter in den Verfahren der einzelnen Gruppengesellschaften nicht und nimmt ihm auch nicht seine Verantwortung für die Bestellung. Im Interesse eines Gruppen-Insolvenzverwalters wird auch der starke Einfluss der Gläubiger durch den vorläufigen Gläubigerausschuss des Eröffnungsverfahrens nach § 56a InsO (seit dem ESUG) wieder etwas zurückgedrängt. Wenn nämlich der vorläufige Gläubigerausschuss eines anderen gruppenangehörigen Unternehmens einstimmig für einen Verwalter votiert, der (auch) als Insolvenzverwalter für die gesamte Unternehmensgruppe in Frage kommt, kann das Gericht nach Anhörung des betroffenen vorläufigen Gläubigerausschusses von dessen Vorstellungen abweichen und den für die gesamte Gruppe geeigneten Verwalter bestellen. Gegebenenfalls ist i. R. einer Strategie zur Vermeidung bzw. Steuerung potentieller Interessenkonflikte, wie erwähnt, ein Sonderinsolvenzverwalter zu bestellen (§ 56b Abs. 2 InsO). Die Begründung des seinerzeitigen RegE votiert eindeutig für einen gemeinsamen Insolvenzverwalter für alle Gruppengesellschaften, soweit das stets latente Problem der Interessenkollision durch Sonderinsolvenzverwalter (für diese Teilsegmente der Kollisionen) gesteuert werden kann.201) Diese Überlegung beendet die Diskussion um die Zulässigkeit des einheitlichen Insolvenzverwalters für die gesamte Gruppe. 131 Kernstück des inländischen „Konzerninsolvenzrechts“ ist allein die gläubigerautonome Verfahrenskoordinierung in dem neuen Teil 7 der InsO „Koordinierung der Verfahren von Schuldnern, die derselben Unternehmensgruppe angehören“ (§§ 269a–269i InsO). Neben den §§ 269a – 269c InsO über die gegenseitige Kooperation der beteiligten Verwalter, der Gerichte und der Gläubigerausschüsse (hier durch die Schaffung eines Gruppen-Gläubigerausschusses auf Antrag eines der Gläubigerausschüsse in einem der Insolvenzverfahren über eine Gruppengesellschaft, der aus jedem der Einzelgläubigerausschüsse beschickt wird, um deren Kooperation zu gewährleisten),202) steht im Mittelpunkt das Koordinationsverfahren der §§ 269d – 269i InsO. Das Koordinationsgericht nach § 269d InsO (= Insolvenzgericht für die Gruppen-Folgeverfahren des § 3a Abs. 1 Satz 1 InsO; vgl. §§ 3b – 3d InsO) kann auf Antrag das Koordinationsverfahren einleiten (§ 269d InsO). Antragsbefugt ist jeder gruppenangehörige Schuldner und dessen Insolvenzverwalter sowie jeder Gläubigerausschuss oder vorläufige Gläubigerausschuss auf der Grundlage eines einstimmigen Beschlusses (§ 269d Abs. 2 InsO); im Eigenverwaltungsverfahren ist der Schuldner antragsbefugt, aber auch kooperationspflichtig gemäß § 269a InsO-RegE (vgl. § 270d InsO). 132 Als Verfahrenskoordinator (§ 269e Abs. 1 InsO) wird „eine von den gruppenangehörigen Schuldnern und deren Gläubigern unabhängige Person“ bestellt. Seine Aufgabe ist die „im ___________ 200) Konsequent geht die Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 27, davon aus, dass es sich um das Interesse aller Gläubiger der „gruppenangehörigen Schuldner“ handeln muss. Gläubiger sind nicht befugt, den Antrag nach § 3a InsO zu stellen; dieser Struktur wird man zustimmen. 201) Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 30 f. 202) Die Funktionsunfähigkeit des Ausschusses wird dadurch vermieden, dass der Zugang zum Gruppengläubigerausschuss in § 269c Abs. 1 Satz 2 InsO durchaus beschränkt ist, denn Unternehmen von offensichtlich untergeordneter Bedeutung i. S. des § 3a Abs. 1 Satz 2 InsO entsenden kein Mitglied in den Ausschuss, wenn auch eine untergeordnete Bedeutung nicht stets die Erfüllung der 15 %-Kriterien in § 3a Abs. 1 Satz 2 InsO fordert. In praxi darf daher, abhängig von der Diversifizierung des Konzerns hinsichtlich der Zahl der beteiligten Unternehmensträger, höchstens von sechs Ausschussmitgliedern zuzüglich eines Arbeitnehmervertreters ausgegangen werden, also von sieben Mitgliedern. In der 2. Aufl. dieses Handbuches war noch davon ausgegangen worden, der Gruppen-Gläubigerausschuss könne/werde aufgrund großer Gremienzahlen funktionsunfähig sein.
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Interesse der Gläubiger“ liegende Abstimmung der Verfahrensabwicklung, insbesondere durch Vorlage eines Koordinationsplans (§§ 269e, 269f, 269h InsO). Weder der Schuldner im Eigenverwaltungsverfahren kann Verfahrenskoordinator werden noch kann im Allgemeinen einer der Verwalter oder Sachwalter der Einzelverfahren dazu bestellt werden (§ 269e Abs. 1 Sätze 3, 2 InsO).203) Zwar ist der die Verwalter und Sachwalter betreffende § 269e Abs. 1 Satz 2 InsO „nur“ Sollvorschrift, was aber schon angesichts der bereits zitierten Begründung der Norm, die u. a. fordert, der Koordinationsverwalter müsse eine neutrale Vermittlerrolle ausfüllen und er müsse „konfligierende Interessen möglichst […] entschärfen und Verwalter auf ein gemeinsames Ziel [ausrichten]“, zu der Folgerung führt, dass die Sollvorschrift nur ganz ausnahmsweise die Bestellung eines Koordinationsverwalters aus dem Kreis der beteiligten Verwalter der Einzelverfahren ermöglicht. Die Akzeptanz seines Konzeptes hängt sehr davon ab, dass es von den Beteiligten in allen einzelnen Verfahren als neutral und ausgewogen betrachtet wird und nicht als Ausprägung des Verfahrensziels eines Verfahrens, in dem der Verfahrenskoordinator zugleich Insolvenzverwalter oder Sachwalter ist. Art. 71 Abs. 2 EuInsVO untersagt in grenzüberschreitenden „Konzerninsolvenzen“ generell die Bestellung eines beteiligten Verwalters der Einzelverfahren als Koordinator, der zudem keinem Interessenkonflikt im Verhältnis zu den Gruppenunternehmen, ihren Gläubigern und Verwaltern unterliegen darf. Der Koordinationsplan (§ 269h InsO) ist ein besonderer (ggf. auch nur verfahrensleitender 133 Insolvenzplan), der alle für die Abstimmung „sachdienlichen“ Maßnahmen enthalten kann, wie – als Regelbeispiele – Vorschläge „[…] 1. zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen gruppenangehörigen Schuldner und der Unternehmensgruppe, 2. zur Beilegung gruppeninterner Streitigkeiten, 3. zu vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Insolvenzverwaltern“ (vgl. § 269h Abs. 2 Satz 2 InsO).
Mit anderen Worten entspricht diese Lösung dem Modell eines Masterinsolvenzplans 134 bzw. des Sanierungsverbundes in der Literatur.204) Zurückhaltend geht es dem Konzept letztlich darum, eine „Pareto-Effizienz“205) zu berücksichtigen, d. h. Lösungen zu erreichen, ___________ 203) Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 35 f. 204) Ehricke, ZInsO 2002, 393, 394 f. 205) Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 37. Die Pareto-Effzienz beschreibt aus volkswirtschaftlicher Sicht zunächst eine Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich bei Veränderung eines von mehreren darauf einwirkenden Parametern zwar auf der einen Seite ein Vorteil (für einen Akteur oder eine Gruppe Beteiligter) ergibt, dem aber ein Nachteil an anderer Stelle (für andere Akteure) gegenübersteht. Pareto-Effizienz ist erst erreicht, wenn ein negativer Effekt nicht eintritt. Diese ökonomische Überlegung hat auch eine moralische Kategorie im Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, worauf z. B. Nida-Rümelin, NG/FH 1/2/2012, S. 79 ff., sowie Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, S. 83 f., hinweisen. In der Insolvenz zeigt sich das Problem insbesondere in der rechtspolitischen Frage der Verteilungsgerechtigkeit unter den Gläubigern, namentlich in der Konzerninsolvenz auch bei der Frage des Abgleichs der Interessen der Massen untereinander. Vor dem Hintergrund der dynamisch zunehmenden Relevanz des Sanierungsziels zeigt sich das Problem der Pareto-Effizienz schon bei der im Einzelfall ggf. masseauszehrenden Fortführung, i. Ü. an der Konkurrenz zwischen dem Fortführungsinteresse der Unternehmenseigner bzw. der sonstigen Investoren in Eigenkapital und der Arbeitnehmer auf der einen sowie der privaten Gläubiger auf der anderen Seite. Der Staat als „Zwangsgläubiger“ nimmt hier wie bereits erwähnt eine ambivalente Rolle ein. Zur „Pareto-Effizienz“ s. a. unter http://wirtschaftslexikon. gabler.de/Archiv/4636/pareto-optimum-v7.html. Zu wirtschaftlichen Erwägungen im Kontext mit der Restrukturierung von Unternehmen s. etwa Nida-Rümelin, Ist eine humanistische Wirtschaftsordnung realistisch?, in: HandelsblattJournal, Sonderveröffentlichung 4/2016, Restrukturierung, S. 3 f., und Jäde, Braucht Deutschland einen Verhaltenskodex für Restrukturierung?, in: HandelsblattJournal, Sonderveröffentlichung 4/2016, Restrukturierung, S. 4 f.
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§ 23
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
die bei der einen Insolvenzmasse zu besserer Befriedigungsquote führen, ohne dass dies letztlich auf Kosten der Quote in anderen der einzelnen Verfahren gehen darf. All dies hat erhebliche Folgen für die Betriebsfortführung in der Konzerninsolvenz. Gerade das Gegenteil würde die deutlich abzulehnende sog. „materielle Konsolidierung“ bewirken, die für Gläubiger des einen Verfahrens Vorteile, für die anderer Verfahren von Konzernunternehmen Nachteile generiert (siehe im Einzelnen Rz. 159 ff.). 135 Die Interessenkonflikte wären vorprogrammiert, wenn kein außerhalb der Einzelverfahren stehender Dritter „Verfahrenskoordinator“ würde, so dass es eines Sonderinsolvenzverwalters bedürfte, um dem entgegenzuwirken. Der Koordinationsplan ist für die Gruppengesellschaft nicht zwingend, allerdings muss der Verwalter einer Konzerngesellschaft den Plan vorstellen und Abweichungen für seine Gesellschaft aus seinem Blick darlegen und begründen (dazu Thole, „comply or explain“) Die Gläubigerversammlung der jeweiligen Gesellschaft kann umgekehrt für ihre Gesellschaft die Durchsetzung des Koordinationsplans erzwingen (vgl. z. B. § 269i Abs. 2 InsO), muss dies aber nicht tun. Das Gesetz vermeidet sorgfältig jede materielle oder formelle Konsolidierung der Verfahren (siehe unter Rz. 159 ff.). Art. 72 Abs. 3 EuInsVO untersagt sogar jede Empfehlung einer Konsolidierung im Koordinationsplan. 136 Die inländische Gesetzeslage bleibt hinter Art. 60 Abs. 1 lit. b Ziff. i – iv bzw. Abs. 2 EuInsVO 2015 insoweit zurück, als dort, d. h. in grenzüberschreitenden Konzernfällen, jeder Insolvenzverwalter einer Gruppengesellschaft beim zuständigen Gericht den Fortgang des Insolvenzverfahrens einer anderen Gesellschaft durch „Aussetzungsantrag“ anhalten lassen kann (d. h. die Verabschiedung und den Vollzug eines Plans, die Verwertung von Assets usw.), sofern der für die Gruppe oder einzelne Mitgliedsunternehmen vorgeschlagene Sanierungsplan u. a. dem Interesse der Gläubiger des Verfahrens dient, „für das die Aussetzung beantragt wird“ (vgl. Art. 60 Abs. 1 lit. b Ziff. i, iii), die Aussetzung notwendig ist, um die Durchführung des Sanierungsplans sicherzustellen (lit. b Ziff. ii) und die von dem Antrag betroffenen Unternehmen nicht in die Verfahrenskoordinierung einbezogen wurden (lit. b Ziff. iv). Dem Antragsteller kann auferlegt werden, die Interessen der Gläubiger der betroffenen Gesellschaft zu wahren, d. h. alle „geeigneten Maßnahmen zum Schutz“ ihrer Interessen zu ergreifen (Art. 60 Abs. 2 Unterabs. 3 EuInsVO).206) All diese Leitentscheidungen des europäischen wie des inländischen Gesetzgebers haben prägende Wirkung für die Betriebsfortführung. Die Option der Verfahrensaussetzung erscheint jedoch letztlich überschießend. 2.6
Betriebsfortführung und Insolvenz der Konzernobergesellschaft
137 Die Betriebseinstellung bei der Konzernobergesellschaft – jedenfalls soweit diese keine reine Beteiligungsholding ist – führt regelmäßig notwendig zum endgültigen Zusammenbruch der Unternehmensgruppe als solcher. Ihre Fortführung kann je nach der Organisationsstruktur von der Kooperation mit den Verwaltern der Tochtergesellschaften abhängen. Die Eigenverwaltung kann hier strukturell etwas ändern, wenn ein geeigneter CEO in der Muttergesellschaft tätig ist und die Sachwalter aller Gesellschaften koordiniert miteinander kooperieren, wie dies in der Praxis in den geeigneten Fällen auch erfolgreich geschieht. Sie müssen freilich die Interessenlage ihrer jeweiligen Masse im Auge haben. Entsprechend gilt das auch für den Gläubigerausschuss. ___________ 206) Beispiel wäre, den „eigentlich“ gebotenen Verkauf (vgl. § 159 InsO) einer Produktionsanlage einer insolventen Tochtergesellschaft zur Erzeugung eines ganz bestimmten Vorproduktes zu stoppen, um die Produktion des wichtigen Endproduktes bei der ebenfalls insolventen Muttergesellschaft fortsetzen zu können. Im Gegenzug muss den Gläubigern dieser Gesellschaft durch die Konzernmutter eine geeignete und hinreichende (sichere) Kompensation aus der Masse gewährt werden.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht 2.7
§ 23
Betriebsfortführung in der Insolvenz der Konzerngesellschaft?
Die in der Überschrift wiedergegebene Fragestellung ist angesichts der Entscheidung des 138 Gesetzgebers für die Einzelinsolvenz eigentlich dahingehend zu stellen, ob die Betriebsfortführung im Interesse der Unternehmensgruppe erfolgen soll oder im Interesse der Gläubiger der betroffenen Gesellschaft. Ist sie ausschließlich im Interesse des Gesamtkonzerns sachgerecht, müsste der Betrieb aber eingestellt werden, um Schaden für die Gläubiger der Konzerngesellschaft zu verhüten (vgl. die Konstellationen, die den §§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2, 158 InsO zugrunde liegen)207), so sind die Betriebsverluste und die weiteren Schäden auszugleichen und der Ausgleich im Vorhinein sicherzustellen. Als weiteres Beispiel möge der Fall dienen, dass die Konzerngesellschaft ein wichtiges Einzelteil für ein Produkt herstellt, das schon Jahre an die Mutter unter Verlust geliefert wurde, wobei die Mutter die Preise festgesetzt hat. Ein weiterer Fall, der nicht selten vorkommen dürfte, kennzeichnet die folgende Situation. Die Mutter erwirbt ohne zählbare Gegenleistung alle gewerblichen Schutzrechte der Konzerngesellschaft und lizenziert sie zurück, um in der Krise der Tochter deren Lizenz zu kündigen. Daraufhin kann die Tochter nicht mehr sinnvoll weiterarbeiten, jedenfalls dann nicht, wenn sie keine Lizenzgebühr bezahlt. Hier muss entweder soweit als möglich bspw. nach § 134 InsO angefochten werden oder das Lizenzentgelt muss nach Abwägung der ökonomischen und rechtlichen Risiken bei Betriebseinstellung oder -fortführung entrichtet werden. Da der Rechtsstreit gegen den formellen Rechtsinhaber des Schutzrechts über dessen Berechtigung längere Zeit dauern wird, wäre die Betriebsfortführung unter Missachtung der formell ordnungsgemäß übergegangenen Rechte für die Beteiligten (Insolvenzverwalter, Gläubigerausschuss) usw. hoch riskant; das „Erpressungspotential“ der formellen Rechtsinhaber ist in dergleichen Fällen daher ggf. erheblich.208) 3.
Konzerninsolvenzpläne?
Die Rechtslage bis zu dem europäischen Regelwerk der Art. 56 ff. EuInsVO 2015 und den 139 §§ 3a ff., 56b, 269a ff. InsO kannte keinen „Konzerninsolvenzplan“ i. S. einer Koordinierung. In Literatur und Praxis wird freilich seit längerem die Frage eines Masterinsolvenzplans209) diskutiert, der sich ganz i. S. der EuInsVO-Novelle und der inländischen Gesetzeslage nach dem Gesetz v. 13.4.2017 nach Maßgabe der oben umrissenen §§ 269h, 269i InsO als koordinierter Plan mit Zustimmung der Gläubiger in jedem einzelnen Verfahren strukturieren lässt, soweit die betroffenen Gesellschaften sich in der Insolvenz befinden. Man darf bei der Diskussion nicht übersehen, dass es sich dabei ausschließlich um den Fall einer koordinierten Sanierung handeln wird, die inhaltlich auch durch außergerichtliche (oder sog. freie) Sanierung möglich ist oder i. R. einer Restrukturierung nach dem StaRUG. ___________ 207) Der Insolvenzverwalter, der im absolut berechtigten Interesse des Konzerns die mit evidenten Verlusten arbeitende Konzerntochter auf Kosten der Gläubiger derselben weiterführt oder der Gläubigerausschuss, der dem zustimmt, setzen sich erheblichen Schadenersatzrisiken aus (§§ 60, 61, 71 InsO). Vgl. dazu bereits Cranshaw/Portisch/Knöpnadel, ZInsO 2015, 1 ff., 8 ff. 208) Zu Problemfällen in diesem Zusammenhang vgl. paradigmatisch LG Hamburg, Urt. v. 24.5.2012 – 327 O 822/10 (cha positive eating), juris (weiteres Schicksal des Falles nicht publiziert); s. zu dem Urteil des LG Hamburg Cranshaw, jurisPR-InsR 22/2012 Anm. 2. Zu der Thematik des Missbrauchs einer grenzüberschreitenden Konzernstruktur durch ein Schneeballsystem vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 28.9.2012 – 5 U 17/12, ZIP 2012, 2162 ff. = ZInsO 2012, 2153 ff., dazu Anm. Cranshaw, jurisPR-InsR 23/2012 Anm. 2; nachfolgend BGH, Vorlagebeschl. v. 10.10.2013 – IX ZR 265/12 (Vorlage an den EuGH zur Auslegung von Art. 13 EuInsVO a. F.), ZIP 2013, 2167 ff.; EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs. C-557/13 (ECZ/Lutz), ZIP 2015, 1030 ff. = DZWIR 2016, 14; BGH, Urt. v. 15.10.2015 – IX ZR 265/12, ZIP 2015, 2284 ff., m. Anm. Cranshaw, jurisPR 22/2015 Anm. 2. 209) S. zu dem Modell eines „Sanierungsverbundes“ nach Maßgabe eines Masterinsolvenzplans bei Ehricke, DZWIR 1999, 353 ff.; Ehricke, ZInsO 2002, 393 ff.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
140 Berücksichtigt man diese Zusammenhänge, so kann bei Vermeidbarkeit der materiellen Insolvenz von Konzerngesellschaften bei Konzernen mit klarer Fokussierung der wesentlichen Aktivitäten auf die Muttergesellschaft eine Strategie auch darin bestehen, einen Insolvenzplan für die insolvente Konzernobergesellschaft zu entwickeln und die nicht insolventen Konzerngesellschaften dort wie jedes andere Asset (hier die Beteiligung) zu behandeln, insbesondere, wenn man sich von einer in einer solchen Gesellschaft etwa gebündelten Produktions- oder Entwicklungssparte trennen und die Beteiligung (mittels eines M&AProzesses) veräußern möchte. Dabei spielt es strukturell nicht grundsätzlich eine Rolle, ob ein Gläubiger der insolventen Mutter auch Forderungen gegen die Tochter aus Garantie oder einem ähnlichen Rechtsverhältnis hat oder ob ihm ein Pfandrecht an der Beteiligung als Finanzsicherheit zur Verfügung steht, um die Ansprüche gegen das Mutterunternehmen zu besichern. Im Rahmen des Insolvenzplans ist diese Thematik lösbar, ohne die Rechte der betroffenen Gläubiger zu beeinträchtigen. Der Betrieb der Tochter wird unbeschadet der Insolvenz der Muttergesellschaft von ihrer Geschäftsführung fortgeführt. 141 Zu beachten ist allerdings seit dem Inkrafttreten des SanInsFoG die Einführung des Instruments bzw. der Option der Einbindung der (legaldefinierten) sog. gruppeninternen Drittsicherheiten in einen Insolvenz- bzw. Restrukturierungsplan (§§ 217 Abs. 2, 223a InsO, 3 Abs. 4 StaRUG (siehe oben Rz. 12, 30, 52). Damit können – gegen „angemessene Entschädigung“ (§ 223a Satz 2 InsO) – diese Sicherheiten erledigt werden, § 43 InsO kann in solchen Konzernfällen obsolet werden. Das Instrument wirkt im Zweifel zugunsten der Schuldner, da im Fokus Bewertungsfragen der „angemessenen Entschädigung“ stehen werden. Bei Sachsicherheiten aus dem Vermögen der konzernzugehörigen Insolvenzschuldner spielen entsprechende Gutachten bzgl. der betroffenen Gegenstände (Immobilien, Warenbestände, Forderungsgesamtheiten usw.) eine Rolle, bei Personalsicherheiten die Bewertung des betroffenen Unternehmens selbst. Das Instrument wird flankiert durch etwaige Anfechtungssachverhalte unter dem Aspekt insbesondere des § 134 Abs. 1 InsO. Es unterstreicht ferner die verbreiteten Formen der Limitation Language (siehe Rz. 176) bei den Drittsicherungsgebern in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft. IV.
Folgen der Eigenverwaltung
142 Die Eigenverwaltung ändert an den vorstehenden umrissenen Problemfeldern angesichts des gesetzlichen Ziels des Insolvenzverfahrens (§ 1 Satz 1 InsO) und der Methodik, dieses auf dem Wege der Sanierung des insolventen Unternehmensträgers zu erreichen, nicht grundsätzlich etwas. Die Betriebsfortführung als zentraler Teil des durch die Insolvenz verfahrensrechtlich organisierten Sanierungsprozesses steht denselben Problemen gegenüber wie im „Regelinsolvenzverfahren“, abgesehen von der ggf. positiven Wirkung des Debtor in Possession auf die Märkte des betroffenen Konzerns, der Mutter-, ebenso wie der Tochtergesellschaften. 143 Auch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen ändert hieran nichts. Die dortige Koordination ist aber strukturell eine verfahrensrechtliche Lösung zur Erleichterung der Abläufe und zur Entwicklung eines integrierten (Sanierungs-)Plans für die gesamte Gruppe bzw. die dort einbezogenen Konzernunternehmen. Zusammen mit den Instrumenten des ESUG (2012) und der mehrfach novellierten Bestimmungen zur Eigenverwaltung sowie der Klärung der Haftungsthematik gegenüber dem Fiskus in § 15b Abs. 8 InsO (ab 1.1.2021) wird zudem die Eigeninitiative der Unternehmensorgane gestärkt, frühzeitig Sanierungen anzugehen. 144 Zur Illustration darf zur Koordinationsthematik auf der Ebene der Unternehmensgruppe das folgende (fiktive) Beispiel herangezogen werden, bei dem die Interessen aller Massen
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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gewahrt werden. In der Praxis tritt eine solche Konstellation in ähnlicher Form nicht selten auf. Beispiel A, eine natürliche Person, erwirbt mittelbar über Objektgesellschaften Immobilien zur Vermietung und zum Handel damit (u. a. zur Gründung und zum Vertrieb von Immobilienfonds), wobei jede Immobilie in eine eigene Objektgesellschaft in der Rechtsform der GmbH & Co. KG eingebracht wird. A ist Alleingesellschafter der Komplementär-GmbH, Alleinkommanditist der KG und Alleingeschäftsführer der GmbH. Es handelt sich jeweils um Volumina in Millionenhöhe, die er weitgehend fremdfinanziert. A verbürgt sich mit Teilbeträgen und verpfändet die KG- und die GmbH-Anteile an seine beiden finanzierenden Banken B und C. Die Unternehmensgruppe bricht zusammen, alle Gesellschaften werden insolvent. Gläubiger aller Gesellschaften und des A sind die Banken B und C mit jeweils weit über 90 % der Insolvenzforderungen. Der Konzern wird im Interesse der Großgläubiger zweckmäßig saniert, da die Marktsituation auf Jahre keine sachgerechte Veräußerung der Immobilien gestattet. Der Ertrag aus dem laufenden Betrieb der Immobilien deckt die Verfahrenskosten (§ 54 InsO) und die sonstigen Masseverbindlichkeiten. In diesem Fall sollte ein koordinierter Insolvenzplan für alle beteiligten Gesellschaften auf die Zustimmung der Hauptgläubiger stoßen. bei denen es im Zweifel bei jeder Gesellschaft nur einen einzigen Großgläubiger, den Fremdkapitalgeber, gibt, der in diesem Ausnahmefall die Sanierung durch Anteilserwerb über Debt Equity Swap zweckmäßig vorantreibt (vgl. § 225a Abs. 2 InsO). Dieselbe Konstellation besteht bei ganz ähnlicher Finanzierungsstruktur z. B. bei „Einzweckgesellschaften“ („Projekt-/Objektgesellschaften“, „Single/Special Purpose Vehicle“/SPV), die i. R. eines Konzerns Offshore-Windkraftanlagen betreiben. In deren Insolvenz bleibt dem Finanzier wohl nur übrig, die Betriebsfortführung im Interesse der Realisierung der Erträge aus der Veräußerung des Stroms (vgl. etwa § 11 EEG 2021) nach dem Erneuerbare EnergienGesetz (EEG, auch nach Wegfall von Förderungsmaßnahmen) – die einzige Ertragsquelle und wohl der einzige wirklich werthaltige Vermögenswert der Gesellschaft – zu ermöglichen und mit Hilfe eines Insolvenzplans durch Debt Equity Swap versuchen, die Anteilsmehrheit zu erwerben. Die kritischen Strukturen der sicherlich vereinbarten Kreditsicherheiten weisen in beiden Fällen im Ergebnis nach der hier vertretenen Auffassung diesen Weg zum Sanierungsplan mit ausnahmsweiser Anteilsübernahme durch die Gläubiger.210) Für Sanierungsinsolvenzpläne ergeben sich keine Besonderheiten durch die Eigenverwaltung, 145 soweit hiervon die Betriebsfortführung betroffen ist. Allerdings stellt sich in der Eigenverwaltung des Konzerns die Frage, welche Funktion 146 der Sachwalter bzw. der vorläufige Sachwalter des jeweiligen Insolvenzverfahrens haben bzw. der jeweilige Gläubigerausschuss. Begreift man die Funktion dieser beiden Organe des Eigenverwaltungsverfahrens als Überwachungs- und Unterstützungstätigkeit, denkt man beim Gläubigerausschuss gar im Fokus im Wesentlichen an die „Kassenprüfung“211) (= Prüfung des Geldverkehrs nach § 69 Satz 2 Alt. 2 InsO), so gelangt man leicht an die Grenzen. Gerade in der Konzerninsolvenz in Eigenverwaltung haben aber beide Gremien ___________ 210) S. zu Sicherheiten bei der Finanzierung von (allerdings) Onshore-Windparks Peters in: FCHSicherheitenkompendium, Kap. L S. 1035 ff., Rz. 3015 – 3018. Maßgeblich ist der Cashflow (Erlöse der Stromeinspeisung). Ob sicherungsübereignete Anlagen auf hoher See als solche im Wege der Einzelverwertung vermarktbar sind, ist eine andere Frage, das Repowering ist sicherlich ebenfalls komplexer als bei Onshore-Anlagen. 211) Zur „Kassenprüfung“ vgl. die ausführliche Darstellung bei Metoja in: Steinwachs/Vallender/Cranshaw, Der Gläubigerausschuss und Gläubigerbeirat, Rz. 721 ff., 796 ff. Zu einem Muster zum Kassenprüfbericht vgl. Metoja in: Steinwachs/Vallender/Cranshaw, Der Gläubigerausschuss und Gläubigerbeirat, Anh. I S. 471 ff.; vgl. ferner Steinwachs, BP 2006, 246, 249.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
ihre darüber deutlich hinausgehende Funktion und Berechtigung, nämlich als dem Aufsichtsrat bzw. dem Kontrollorgan der Geschäftsführung vergleichbare Institutionen, die hier das operative Geschäft des Krisenunternehmens konstruktiv, aber auch kritisch begleiten und sich bei Mängeln ggf. an das Insolvenzgericht wendet. Siehe bspw. in der vorläufigen Eigenverwaltung den Antrag nach § 270e Abs. 1 Nr. 4 Fall 2 InsO und die mannigfachen Möglichkeiten, das Insolvenzgericht ins Bild über Vorgänge zu setzen, die die Aufhebung der (vorläufigen) Eigenverwaltung durch das Gericht begründen können. 147 Vor dem Hintergrund des § 276a InsO muss man folgern, dass im Insolvenzverfahren die Aufsichtsfunktionen der Gesellschaftsorgane strukturell und verfahrensbezogen auf Organe des Insolvenzverfahrens übergehen. Dem Aufsichtsrat der Konzernmutter entspricht der dortige Gläubigerausschuss mit dem Sachwalter (in der Eigenverwaltung).212) Die Sachwalter und Gläubigerausschussmitglieder der anderen Konzerngesellschaften (sofern es denn einen Gläubigerausschuss gibt) überwachen im Interesse ihrer Masse die Abläufe im Verfahren und hier wieder insbesondere die Betriebsfortführung. Mit anderen Worten üben sie innerhalb der ihnen gesetzlich übertragenen Funktionen interne unternehmerische Tätigkeiten aus. 148 So ist die Entscheidung im „vorläufigen“ Eigenverwaltungsverfahren, den Eintritt der Aussichtslosigkeit der Sanierung im Schutzschirmverfahren dem Insolvenzgericht anzuzeigen (§ 270b Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 InsO a. F. = § 270e Abs. 1 Nr. 4 Fall 2 i. V. m. Nr. 3 InsO n. F. ab 1.1.2021) bzw. die Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung zu beantragen oder diese den Sachwalter beantragen zu lassen (§ 270e Abs. 1 Nr. 4 InsO), nicht nur eine Option, sondern eine Pflicht des Gläubigerausschusses. Die Auswirkungen auf die Fortführung sind evident; ggf. kündigt der Absonderungsberechtigte daraufhin einen (stillen) Massekredit, Lieferanten entscheiden sich bspw. überhaupt nicht mehr oder nur auf Vorkasse zu liefern, Kunden halten sich mit Aufträgen oder Käufen zurück bzw. sie verlangen in den entsprechenden Branchen vermehrt Avale. 149 Der Gruppen-Gläubigerausschuss des § 269c InsO „unterstützt“ die Insolvenzverwalter der einzelnen Gruppenunternehmen und die Gläubigerausschüsse in den einzelnen Verfahren, um die Verfahrenskoordination in den Fällen eines Koordinationsverfahrens i. S. der §§ 269d ff. InsO zu erleichtern, wobei im Fokus die Unterstützung eines integrierten Koordinationsplans steht (vgl. § 269h Abs. 2 InsO). Diese Aufgabenbeschreibung in § 269c Abs. 2 Satz 1 InsO zeigt, dass der Gruppen-Gläubigerausschuss über den Wortlaut der Norm hinausgehend auch bzw. insbesondere die Aufgabe hat, den Verfahrenskoordinator in der Erfüllung seiner Aufgaben wiederum zu unterstützen (§ 269f InsO). Der GruppenGläubigerausschuss hat indes keine Überwachungsfunktion, sondern eben „nur“ eine Harmonisierungsaufgabe,213) Die Verweisungsnorm des § 269c Abs. 2 Satz 2 InsO schließt § 69 InsO nicht ein. Seine Pflichten beziehen sich auf die Wahrung der Interessen der Gläubiger aller Verfahren der gruppenangehörigen Unternehmen mit erhöhten Risiken der Interessenkollision und ungeklärten Folgen für die Schweigepflicht für die einzelnen Mitglieder in ihren unterschiedlichen Funktionen als Mitglied des Gruppen-Gläubigerausschusses zum einen, als Mitglied des Ausschusses in der Insolvenz eines Gruppenunternehmens andererseits (Folge aus der Bestellung nach § 269c Abs. 1 Satz 2 InsO). Allerdings wird man kaum umhinkommen, dem Gruppen-Gläubigerausschuss eine Überwachungsfunktion ___________ 212) Zum Gläubigerausschuss der InsO, vergleichbar mit dem Aufsichtsrat s. Leonhardt/Smid/ZeunerSmid, InsO, 3. Aufl., 2010, § 71 InsO Rz. 3; Cranshaw, ZInsO 2012, 1151, 1152; zur dem Aufsichtsrat ähnlichen Struktur des Gläubigerausschusses der InsO vgl. auch Cranshaw in: Steinwachs/Vallender/ Cranshaw, Der Gläubigerausschuss uns Gläubigerbeirat, Rz. 28, und Cranshaw/Portisch/Knöpnadel, ZInsO 2015, 1, 8 f., 12. 213) Specovius in: HK-InsO, § 269c Rz. 10 – 12 m. w. N.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
§ 23
im Hinblick auf den Verfahrenskoordinator zuzuerkennen, da es systemwidrig wäre, ausgerechnet bei diesem im Unterschied zu den einzelnen Verwaltern der Gruppenunternehmen eine Kontrolle durch ein Gläubigergremium zu verneinen. Der Gesetzgeber hat an diese Problematik nicht gedacht, die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 269c InsO verhält sich dazu nicht.214) Die Haftungsrisiken215) der einzelnen Mitglieder dürften im Vergleich zu den Gläubiger- 150 ausschüssen der einzelnen Gesellschaften noch erheblich größer sein, da sie auf dem Wege ihrer Aufgaben nach § 269c Abs. 2 InsO eben Funktionen in den einzelnen Gruppengesellschaften, aber auch in der Koordination haben. Vieles erscheint hier unklar und bedarf der Klärung.216) V.
Entwicklungslinien im Konzerninsolvenzrecht
1.
Folgen der europäischen Entwicklung
Betrachtet man die bisherige Entwicklung im „Konzerninsolvenzrecht“ (richtiger: Konzern- 151 restrukturierungsrecht), so kann man die Entwicklung in Deutschland nicht von den internationalen Tendenzen trennen, insbesondere aber nicht von der supranationalen europäischen Rechtsentwicklung. Zum einen hat der europäische Gesetzgeber die Restrukturierungsrichtlinie erlassen, die im StaRUG umgesetzt wurde, das Restrukturierungsoptionen für Unternehmensgruppen gegen den Willen einzelner opponierender Gläubiger auf einem Verfahrensweg außerhalb des Insolvenzrechts eröffnet. Ungeachtet dessen bleibt natürlich der vollständig auf Freiwilligkeit und Konsens der Beteiligten eröffnete Weg der „freien“ Sanierung auch in den Fällen der Krise einer Unternehmensgruppe eröffnet. Die Verfahrenskoordination nach den Art. 56 ff. EuInsVO und den §§ 269a ff. InsO, die in einen idealiter von allen Gruppengesellschaften, ihren Verwaltern und Gläubigern akzeptierten integrierten Koordinationsplan einmündet, kennzeichnet den systematisch dritten Weg der Sanierung der Unternehmensgruppe. Die neuen Normregelwerke müssen sich noch in der Praxis bewähren. Ob bzw. inwieweit das von der EU-Kommission in der Mitteilung über die Vollendung der 152 Kapitalmarktunion vom 24.9.2020 (COM(2020) 590 final) für das 2. bzw. 3. Quartal 2022 angekündigte Regelwerk und dessen Veröffentlichung als Richtlinienentwurf vom 7.12.2022 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts über weitere Harmonisierung der Insolvenzrechtsregelwerke der Mitgliedstaaten wesentliche Folgen für die Abwicklung der Insolvenz von Unternehmensgruppen hat, muss abgewartet werden.217) Die dazu zu erwartende Diskussion u. a. in den gesetzgebenden Gremien der Union dürfte weitgehend eher rechts- und wirtschaftspolitisch sein denn von Erfordernissen der nationalen wie grenzüberschreitenden Insolvenzpraxis geprägt, die in einer Gemeinschaft wie der EU (unverändert) von den Grundsätzen einer marktwirtschaftlichen Ordnung i. S. einer sozialen Marktwirtschaft bestimmt werden sollte. ___________ 214) S. dazu die Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen z. § 269c InsO, BT-Drucks. 18/407, S. 34. 215) Für die Mitgliedschaft im Gruppen-Gläubigerausschuss bedarf es dann auch einer eigenen Versicherung, denn diese Tätigkeit stellt ein völlig anderes zu versicherndem Risiko dar als die Mitgliedschaft im Gläubigerausschuss des Einzelverfahrens einer konzernzugehörigen Gesellschaft. So auch T. Steinwachs in: Steinwachs/Vallender/Cranshaw, Der Gläubigerausschuss und Gläubigerbeirat, Rz. 508 m. w. N. 216) Zu diesem Dilemma der Mitglieder des Gruppen-Gläubigerausschusses s. bei Specovius in: HK-InsO, § 269c Rz. 18 m. w. N. 217) Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts COM(2022) 702 final, v. 7.12.2022, abrufbar unter https://www.parlament. gv.at/dokument/XXVII/EU/127752/imfname_11210401.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
153 Die Betriebsfortführung in der Krise, in der Gruppengesellschaft ebenso wie im Konzern, bleibt davon nicht unberührt, sie muss im Hinblick auf bestehende und neue Regelwerke jedenfalls in Teilen immer wieder neu überdacht werden. Die bestehende bzw. nach den bisherigen Verlautbarungen mögliche Rechtsentwicklung wird also zugleich bedeutende Konsequenzen für das Konzerninsolvenzrecht ebenso wie für die Unternehmens-/Betriebsfortführung haben. Zu wiederholen ist dabei, dass auf die Betriebsfortführung nicht nur das Insolvenzrecht oder in grenzüberschreitenden Fällen das internationale (Konzern-)Insolvenzrecht oder die nationalen Regelwerke der Staaten einwirken, in denen Insolvenzverfahren über Gruppen-Unternehmen eröffnet werden, sondern auch eine Fülle weiterer Regelwerke der jeweiligen Rechtsordnung. Zu erinnern ist insoweit bspw. an das Steuerrecht (z. B. Organschaft, internationale Besteuerung (siehe oben Rz. 116 ff.), das Gesellschaftsrecht, das Individualarbeitsrecht und das kollektive Arbeitsrecht, das Sozialrecht und an die Auswirkungen u. a. europäischer Umwelt-, Klima-218) und Lieferkettengesetzgebung sowie weitergehende ESG-Aspekte. 154 Ein weiteres Phänomen darf nicht übersehen werden. Mit Eröffnung der Anwendung der EuInsVO 2015 für die ab 27.6.2017 neu eröffneten Insolvenzverfahren ist ein Teil der Autonomie der Mitgliedstaaten, zu definieren, was man unter „Konzerninsolvenzrecht“ versteht, auf den EuGH im Wege der Auslegung der EuInsVO 2015 übergegangen. Dies wird seine Wirkung auf die Auslegung der Regelungen der §§ 269a ff. InsO nicht verfehlen und zwar im Interesse einer Einheitlichkeit der Auslegung und der Rechtssicherheit. Abgeschwächt wird diese Konsequenz dadurch, dass das Konzerninsolvenzrecht der EuInsVO aufgrund gegenseitiger Beeinflussung bei der Konzipierung der Regelwerke ganz weitgehend mit dem inländischen Konzept übereinstimmt. 155 All das hat, wie erwähnt, zugleich entscheidende Auswirkungen auf die Betriebsfortführung. Das Prinzip der Trennung der verschiedenen Gesellschaften wird dabei nicht aufgehoben, sofern nicht die lex fori concursus (oder ein Sanierungsstatut) dies vorsieht und sich im Wettbewerb der nationalen Insolvenzrechte durchsetzt, soweit bzw. solange keine Vollharmonisierung der Insolvenz- und Sanierungsregelwerke auf europäischer Ebene das Ergebnis der Rechtsentwicklung auf der Zeitachse ist. 2.
Europäische und internationale Entwicklungen bzw. Erwägungen zu formeller und/oder materieller Konsolidierung („substantive consolidation“)
2.1
Keine Konsolidierung im Unionsrecht und im inländischen Recht
156 Sowohl der Unionsgesetzgeber als auch der inländische Gesetzgeber und die Politik lehnen die sog. Konsolidierung der Verfahren bei der Insolvenz von Unternehmensgruppen (zutreffend) ab.219) Die EuInsVO 2015 untersagt in Art. 72 Abs. 3 EuInsVO an systematisch richtiger Stelle, in einen Koordinationsplan „Empfehlungen zur Konsolidierung von Verfahren oder Insolvenzmassen“, auch wenn es mitgliedstaatliche Strukturen von Konsolidierung gibt. In der englischen Fassung lautet die Norm: „3. The plan referred to in point (b) of paragraph 1 shall not include recommendations as to any consolidation of proceedings or insolvency estates“. In den Erwägungsgründen der EuInsVO spiegelt sich das wie folgt: ___________ 218) Hier ist z. B. bei der Fortführung die Einwirkung des Kostenfaktors „Decarbonisierung“ auf das Geschäftsmodell zu berücksichtigen, u. a. dabei auch die Problemfelder der sog. CO2-Emissionszertifikate zur Einhegung der Treibhausgasproblematik und des Emissionshandels, die insbesondere in der diversifizierten Unternehmensgruppe ganz unterschiedliche Relevanz haben dürften mit entsprechenden Erwägungen für Fortführung und Sanierung; zu diesem Zertifikatehandel s. Cranshaw, ZRI 2022, 345 ff. 219) Zu dieser Haltung der Politik s. die Feststellung des damaligen Bundesjustizministeriums anlässlich des Deutschen Insolvenzrechtstages 2012 s. in dem Bericht zum Insolvenzrechtstag, Lührig, AnwBl. 2012, 540. Ablehnend gegenüber einer Konsolidierung wie hier ferner Mankowski/Müller/J. Schmidt-J. Schmidt, EuInsVO 2015, Art. 56 Rz. 5 m. w. N. auch zu anderen Stimmen, Art. 72 Rz. 25 m. w. N.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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Die erwünschte Koordination der Insolvenzverfahren der Mitglieder der Unternehmensgruppe, die zudem effizient sein soll, muss „gleichzeitig die eigene Rechtspersönlichkeit jedes einzelnen Gruppenmitglieds [achten]“ (ErwG 54 Satz 2; englische Fassung: „[…] whilst at the same time respecting each group member’s legal entity“). ErwG 56 Satz 1 EuInsVO betont zugleich die Freiwilligkeit der Beteiligung der einzelnen Gruppenmitglieder, sich an einem Koordinationsverfahren zu beteiligen oder auch nicht, wobei dieser Grundsatz so flexibel gehandhabt wird, dass ein „Opt-in“ nach Art. 69 EuInsVO unter den dortigen Voraussetzungen dem Verwalter eines Verfahrens über das Vermögen eines Gruppen-Unternehmens ermöglicht wird, der zuvor die Koordination abgelehnt hat oder dessen Verfahren erst nach der Eröffnung des Gruppen-Koordinationsverfahrens eröffnet wurde. Aber auch dann bleibt es den Verwaltern und Gläubigern der einzelnen Verfahren vorbehalten, den Empfehlungen des Koordinationsplans nachzukommen oder nicht (Art. 70 EuInsVO). Ziel einer verfahrensmäßigen oder materiellen Konsolidierung ist insbesondere die Auflö- 157 sung der Problemfelder, die sich für die Verfahrensabwicklung ergeben, wenn Vermögensmassen beteiligter Gesellschaften der Unternehmensgruppe „untrennbar“ miteinander verbunden sind oder wenn aus sonstigen Gründen letztlich das Instrument der juristischen Person als Unternehmensträger zulasten der Gläubiger missbraucht wurde. Die Lösung überlässt der europäische Gesetzgeber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, der deutsche Gesetzgeber den Rechtsinstrumenten der InsO (insbesondere dem Anfechtungsrecht oder auch dem Recht der Gesellschafterdarlehen nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) bzw. dem Instrumentarium des Gesellschaftsrechts sowie des allgemeinen Zivilrechts (dort dem Deliktsrecht nach der „Trihotel“-Judikatur zu der Fallgruppe der existenzvernichtenden Haftung nach § 826 BGB, siehe oben Rz. 67 ff.). Der EuGH hat in dem Urteil Rastelli220) in dem dortigen französisch-italienischen Fall, die 158 Einbeziehung einer italienischen Gesellschaft in ein konsolidiertes französisches Insolvenzverfahren der in Frankreich ansässigen Konzernobergesellschaft abgelehnt, aber für das nationale Recht richtigerweise zugelassen, da eine Harmonisierung der nationalen Insolvenzrechte seinerzeit (und bis heute) nicht bestand. Dogmatischer Anknüpfungspunkt des EuGH war das COMI der beteiligten Gesellschaften i. S. des Art. 3 EuInsVO 2000. Allein die (untrennbare) Vermögenvermischung reichte nicht aus, um das COMI der italienischen Gesellschaft in Frankreich, dem Land des insolventen Mutterunternehmens, anzunehmen; dadurch wäre die Einbeziehung in das dortige Verfahren im Wege der Konsolidierung gelungen. Der Verordnungsgeber der EuInsVO 2015 betont in ErwG 22 Satz 1 sogar, es werde die Tatsache anerkannt, dass „aufgrund der großen Unterschiede im materiellen Recht ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Wirkung für die Union nicht realisierbar“ sei. 2.2
Materielles Konzerninsolvenzrecht, „Substantive Consolidation“ in der internationalen Praxis und im Schrifttum
Daneben stehen Überlegungen bzw. Postulate aus Praxis und Schrifttum zu einer formellen 159 oder materiellen Konsolidierung durch Mechanismen der Zusammenfassung der verschiedenen Verfahren oder Vermögensmassen. Die Diskussion wird wie nicht selten auch hier von Rechtsinstrumenten insbesondere des US-amerikanischen Rechts beeinflusst und zwar bei den Konzerninsolvenzen insbesondere unter dem Aspekt der Substantive Consolida-
___________ 220) EuGH, Urt. v. 15.12.2011 – Rs. C-191/10 (Rastelli), Rz. 30 ff., Slg. 2011 I-13209 = ECLI:EU:C: 2011:838.
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tion, bei der die dogmatischen Grundlagen keineswegs gesichert scheinen.221) Dieses Instrument der richterlichen Rechtsfortbildung führt in der Kernstruktur Vermögensmassen verschiedener rechtlich getrennter Unternehmensträger zusammen und bildet eine einheitliche Vermögensmasse, aus der eine ebenfalls einheitliche Quote für alle Insolvenzgläubiger gebildet wird. In der bisherigen Diskussion in Deutschland wird dieses Instrument nur vereinzelt befürwortet.222) 160 UNCITRAL die „United Nations Commission in International Trade Law“, einem weiteren bedeutenden internationalen Protagonisten auf dem Feld der Harmonisierung von Insolvenzrechtsregelwerken durch Entwicklung von „Model Laws“, führt zur Substantive Consolidation in Teil 3 (2010/2012) ihres Modells von Insolvenzrechtsregelwerken folgendes aus „(Recommendation 220); 220. The insolvency law may specify that, at the request of a person permitted to make an application under recommendation 223, the court may order substantive consolidation with respect to two or more enterprise group members only in the following limited circumstances: a. Where the court is satisfied that the assets or liabilities of the enterprise group members are intermingled to such an extent that the ownership of assets and responsibility for liabilities cannot be identified without disproportionate expense or delay; or b. Where the court is satisfied that the enterprise group members are engaged in a fraudulent scheme or activity with no legitimate business purpose and that substantive consolidation is essential to rectify that scheme or activity“.223)
161 Zur Verfolgung dieser Zwecke dient eine Fiktion in Gestalt der Definition von Substantive Consolidation, wenn UNCITRAL formuliert: „[Glossary] (e) ‘Substantive consolidation’: the treatment of the assets and liabilities of two or more enterprise group members as if they were part of a single insolvency estate.“224)
162 Den gegen die materielle Konsolidierung sprechenden Argumenten des Gläubigerschutzes der Gläubiger der jeweiligen Konzerngesellschaften wird entgegengehalten, bei den institutionellen Gläubigern stelle man ohnehin auf den Konzern ab, nicht auf das einzelne Unter___________ 221) S. dazu für die USA Brasher, Substantive Consolidation: A Critical Examination; für die EU s. van Galen/ Dutilh, The European Insolvency Regulation and Groups of Companies; Fromholdt, Group Coordination Proceedings, Rz. 52, 57: vgl. aus der inländischen Literatur Verhoeven, ZInsO 2012, 1757 ff. Allein schon die Vielfalt der von Brasher zusammengefassten Instrumente zeigt den unterschiedlichen Ansatz: „Substantive Consolidation“ in den hier interessant erscheinenden Fällen des Sanierungsplans nach Chapter 11 des US Bankruptcy Code habe nach verabschiedetem („rechtskräftigem“) Plan die Bildung eines einheitlichen Unternehmens zur Folge. Die davon zu unterscheidende „deemed consolidation“ führt nach Verfahrensbeendigung wieder zu rechtlich voneinander getrennt handelnden Gesellschaften. Die „partial consolidation“ berücksichtigt Sonderinteressen von Gläubigern, die sich allein auf die Haftung der konkreten Schuldnergesellschaft bei Eingehung ihres wirtschaftlichen Engagements verlassen haben und die daher allein aus deren Vermögen Befriedigung erlangen sollen (mit Nachteilen für die Gläubiger der gesamten Gruppe, wenn der betreffende Gläubiger weitgehend befriedigt wird und die Quoten für die anderen Gläubiger dadurch sinken). Davon wiederum ist als weitere dogmatische Struktur das „piercing the veil“, der Rückgriff auf die Muttergesellschaft als Folge der Überschreitung der Grenze der rechtlichen Selbstständigkeit jeder einzelnen Gesellschaft, zu unterscheiden. Neben diesen Strukturen steht als „procedural consolidation“ das Instrumentarium der „joint administration“ d. h. der formellen Konsolidierung im oben umrissenen Sinne; s. diese Differenzierungen bei Brasher, Substantive Consolidation: A Critical Examination, S. 3 – 7. 222) Verhoeven, ZInsO 2012, 1757 ff., mit im Ergebnis ablehnender Erörterung der die „materielle Konsolidation“ bezweifelnden Meinungen. 223) S. UNCITRAL, UNCITRAL Legislative Guide on Insolvency Law, Part Three: Treatment of enterprise groups in insolvency, Stand: 2012, p. 72, 73. abrufbar unter https://uncitral.un.org/sites/uncitral. un.org/files/media-documents/uncitral/en/leg-guide-insol-part3-ebook-e.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 224) UNCITRAL, UNCITRAL Legislative Guide on Insolvency Law, Part Three: Treatment of enterprise groups in insolvency, Stand: 2012, p. 2, abrufbar unter https://uncitral.un.org/sites/uncitral.un.org/ files/media-documents/uncitral/en/leg-guide-insol-part3-ebook-e.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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nehmen. Zudem sei das gesellschaftsrechtliche „Trennungsprinzip“ ohnehin in der Rechtsordnung vielfach durchbrochen. Als Beispiel erwähnt Verhoeven etwa Bürgschaften und Patronatserklärungen. Gerade dieses Beispiel widerlegt den Befürworter; der Finanzier und Bürgschaftsgläubiger stelle sicher auch auf den Konzern als solchen ab, zum Teil mit der Erwägung, dieser werde seine Tochter auch ohne Sicherheit zugunsten des Gläubigers schon nicht fallen lassen.225) Diese Überlegungen sind aus dem Blick der Praxiserfahrung teilweise schlicht unrichtig. Zudem fordert der Gläubiger die Bürgschaft oder die „Mitverpflichtung“ möglichst vieler Konzerngesellschaften auch deshalb, weil der gerne übersehenen Vorschrift des § 43 InsO in ihrem weiten Anwendungsbereich (Gesamtschuld und vergleichbare Konstellationen)226) der Grundsatz der Doppel- oder Mehrfachberücksichtigung innewohnt.227) Der Gläubiger bekommt die Quote aus jedem der Verfahren seiner insolventen Schuldner bis hin zur vollen Befriedigung seiner Insolvenzforderungen (§ 38 InsO).228) Ungerechtfertigten Vorteilen (u. a. auch dem Missbrauch der Verwendung einer juristischen 163 Person zur Haftungsbegrenzung und ähnlichen Konstellationen zum Nachteil der Gläubiger) begegnet das inländische Recht z. B. mit der Insolvenzanfechtung bzw. dem Durchgriff auf den Gesellschafter, insbesondere nach Maßgabe der Rechtsprechung des BGH zum existenzvernichtenden Eingriff gemäß § 826 BGB nach der „Trihotel“-Judikatur.229) Die Überschreitung der Schwelle der juristischen Person durch Bildung einheitlicher In- 164 solvenzmassen ist keineswegs nur eine Frage des Insolvenzplans, also der Quotenverteilung ___________ 225) Darauf kann sich der Gläubiger ohne harte Patronatserklärung oder eine sonstige Haftung der Konzernobergesellschaft ihm gegenüber nicht verlassen. Die insolvente Konzerngesellschaft wird von der Konzernspitze ggf. aus übergeordneten ökonomischen Gründen fallen gelassen. Um Risiken nicht bei der Mutter zu generieren oder zu belassen, bedient man sich eben gerade der Haftungsbeschränkung. In diesem Kontext darf zudem an die nicht seltenen „Antipatronatserklärungen“ erinnert werden. Bei einem Blick nach Frankreich hat das Phänomen, dass die Mutter nicht zu der Tochter steht, sondern umgekehrt in der Krise noch ihr Vermögen angreift, zu gesetzgeberischen Initiativen geführt, letztlich das Tochtervermögen durch verschiedene Maßnahmen zu schützen; s. das Dokument No 4411 der Assemblée nationale v. 22.2.2012 zu dem Gesetzesvorschlag No 4400 über eine Ergänzung verschiedener Regelungen, u. a. des Art. L 621-2 Code de Commerce um solche zum Schutz des Vermögens von Konzerngesellschaften, dort S. 5 f. Grund war der Fall einer Raffinerie im insolventen „Petroplus-Konzern“, ein anderer derjenige der „Sodimédical“, eine insolvente Gesellschaft in einem deutsch-österreichischen Konzern, s. zu beiden insbesondere das Dokument No 4400 der Assemblée Nationale, S. 7 ff. Das am 12.3.2012 erlassene Gesetz no 2012-346 wurde durch eine Durchführungsregelung in Art. R 621-8-2 Code de Commerce präzisiert und handhabbar gemacht, Décret no 2012-1190 v. 25.10.2012. Die zitierten Gesetze sind abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr. Ziel der Maßnahmen ist die Bekämpfung von Missbräuchen. 226) S. die Übersicht bei Rattunde/Smid/Zeuner-Smid, InsO, § 43 Rz. 3 – 9. 227) Daher ist es auch nicht zutreffend, wenn Verhoeven, ZInsO 2012, 1757, 1763, meint, es gehe bei den Personalsicherheiten (bei materieller) Konsolidierung nur um die Bewertung der Personalsicherheiten, die aus seinem Blick ohnehin sehr volatil sind. Es ist eben ein erheblicher Unterschied, ob der Bürgschaftsgläubiger etwa vom Darlehensnehmer und 9 ebenfalls insolventen Gesellschaften, die ihm gegenüber haften, bspw. eine Quote von je nur 7 % erhält (also in summa 70 %) oder bei Konsolidierung einmal eine erhöhte Quote von bspw. 40 %. S. die sehr klare Tabelle bei De Franceschi, Substantive consolidation, S. 179, der zutreffend feststellt (S. 180), dass „upon substantive consolidation certain creditors will improve their recoveries and others will suffer.” Zu einer Warnung von Gläubigern gegenüber „Substantive Consolidation“ vgl. DeFrancheschi in: KPMG, Americas Restructuring and Insolvency Guide 2008/2009, S. 175. 228) Daneben steht die Befriedigung aus bestehenden Sachsicherheiten innerhalb des Konzerns, wobei als weitere „Komplikation“ die Beachtung der „Wahlmöglichkeit“ des Gläubigers aus § 44a InsO hinzukommt. 229) BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 ff. = ZIP 2007, 1552 ff., st. Rspr., vgl. u. a. auch BGH, Urt. v. 24.7.2012 – II ZR 177/11, ZIP 2012, 1804 ff.; BGH, Urt. v. 19.11.2019 – II ZR 2334/18, Rz. 18 ff., ZIP 2020, 318 ff.
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oder der „Quotengerechtigkeit“.230) Sie ist vielmehr wirtschaftlich von hoher Bedeutung für die Betriebsfortführung, rechtlich u. a. für das Gesellschaftsrecht. Nach Bildung einer rechtlich einheitlichen Masse stellen sich für die Fortführung zwar keine unüberwindbaren, aber gravierende Hindernisse, ganz abgesehen davon, unter welchen Verfahrensvoraussetzungen diese „materielle Konsolidierung“ geschehen soll. Methodisch könnte das nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung geschehen oder durch Zustimmung aller betroffenen Gläubiger. Im Rahmen dieses Beitrags kann nur auf die Frage des Betriebsübergangs bei materieller Konsolidierung, die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld und steuerliche Gegebenheiten hingewiesen werden. Es würde nicht entfernt genügen, ein solches materiell konsolidiertes Konzerninsolvenzverfahren in einem gesonderten Abschnitt in der InsO zu schaffen, ohne zugleich weitere tiefgreifende Eingriffe in das materielle Insolvenzrecht (z. B. Abschaffung des § 43 InsO), das Arbeitsrecht sowie u. a. das Gesellschaftsund das Steuerrecht vorzunehmen. Es fragt sich auch, was die Konsequenz einer solchen Konsolidierung nach Rechtskraft der Bestätigung eines Insolvenzplans wäre. Müsste nach § 225a InsO eine Verschmelzung der beteiligten Gesellschaften stattfinden oder würde dann über den Plan eine Entflechtung der Vermögensmassen herbeigeführt unter Fortführung der konsolidierten Gesellschaften mit oder ohne Haftung für Leistungen aus dem Insolvenzplan? Dezidiert zu widersprechen ist der Auffassung von Verhoeven, wenn die Gläubiger den vorgelegten Gesamtinsolvenzplan nicht wollten, dann könne man ja wieder zu der Abwicklung der Einzelverfahren übergehen.231) Dafür wäre es dann angesichts der fortgeführten und angepassten Prozessschritte insbesondere als Folge der dynamischen Entwicklung nahezu jeder Betriebsfortführung zu spät. Ausweglose Verflechtungen, einer der aufgeführten Anwendungsfälle der materiellen Konsolidierung mit unaufklärbarer Vermögensvermischung, dürften regelmäßig mit gesetzwidrigem Verhalten der Organe der beteiligten Gesellschaften einhergehen und sind mit den herkömmlichen Rechtsinstrumenten des inländischen Rechts zu lösen. Die bloße Erleichterung der Insolvenzabwicklung ist offenkundig kein geeigneter Grund für eine materielle Konsolidierung.
___________ 230) Brasher, Substantive Consolidation: A Critical Examination, arbeitet sehr deutlich den letztlich im Kern stehenden Ansatz heraus, den er im US-Recht wohl noch nicht hinreichend berücksichtigt sieht, nämlich einer erweiterten Quotengerechtigkeit unter den Gläubigern der Unternehmensgruppe, die deren strukturelles Ungleichgewicht ausgleicht. Er unterscheidet daher konsequent zwischen „voluntary“ und „involuntary creditors“ (in der deutschen Terminologie die aufoktroyierten Gläubiger, die sich ihren Schuldner nicht aussuchen können, wie der Steuerfiskus auf allen Ebenen und die Sozialversicherungsträger bzw. die Gläubiger mit deliktischen Ansprüchen, die auch Brasher, Substantive Consolidation, S. 16 f., 34 f., erwähnt, ebenso wie den Steuerfiskus). Bei den „freiwilligen“ Gläubigern unterscheidet er zwischen Gläubigern, die „sophisticated“ und solchen, die „unsophisticated“ seien (Brasher, Substantive Consolidation, S. 17). Zu der ersten Gruppe gehören Banken und Finanzgläubiger (Brasher, Substantive Consolidation, S. 17). Dieser Klassifizierung muss man zustimmen, sie ist in allen vergleichbaren Volkswirtschaften ganz ähnlich. Eine der Folgerungen von Brasher (unter Conclusions, S. 46 f.) ist, dass „Courts should not allow sophisticated creditors and shareholders to offload the costs of economic activity on involuntary creditors“. Damit verbunden ist zugleich eine Wertung der Funktion des Gesellschaftsrechts und der Gründe, Konzernstrukturen zu wählen, Ansätze, die vorliegend nicht weiter untersucht werden können. Letzten Endes bedeutet eine materielle Konsolidierung in dem hier beschriebenen Sinne eine neue Definition der par condicio creditorum, die sich im Konzern anders darstelle als bei der Einzelinsolvenz als Folge der Konzernverflechtungen. Das ist bei genauer Betrachtung ein wirtschaftsethischer Ansatz, der die Gläubigergleichbehandlung auch auf einen gewissen Ausgleich der unterschiedlichen Handlungsoptionen der unterschiedlichen Gläubiger bezieht sowie auf deren Marktmacht und deren unterschiedliches Knowhow. 231) Verhoeven, ZInsO 2012, 1757, 1764. Folgerichtig aus diesem Blick der materiellen Konsolidierung wird dann auch argumentiert, die Position dissentierender Gläubiger „lediglich einer oder zweier Gesellschaften“ könne seitens des Gerichts durch den Cram-down der §§ 245, 245a InsO erledigt werden.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht 2.3
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Anmerkungen zur Substantive Consolidation und deren Schranken in der Rechtsprechung in den USA bzw. Kanada
Zudem darf keineswegs verkannt werden, dass das Instrument der materiellen Konsolidie- 165 rung in den USA (also das Modell der Befürworter der Einführung der materiellen Konsolidierung in die inländische bzw. europäische Rechtsordnung) nicht nur dogmatisch kaum einheitlich beurteilt wird, sondern dass es auch in der Praxis keineswegs flexibel in der Hand der Parteien liegt. Das Instrument der Substantive Consolidation wird vielfach verfahrensrechtlich abgeleitet; die US-Bankruptcy Courts sehen als Rechtsgrundlage regelmäßig 11 US Code § 105 „Power of Court“, der folgendes bestimmt: „(a) The court may issue any order, process, or judgment that is necessary or appropriate to carry out the provisions of this title. […]“
Die Voraussetzungen für die Anwendung des Instruments sind eng, die Substantive Con- 166 solidation“ ist die Ausnahme, nicht die Regel. Nur beispielhaft soll aus der Entscheidung eines US-Bankruptcy Court vom August 2012 zitiert werden, der wiederum die nachfolgenden Grundsätze zur Substantive Consolidation einer früheren Rechtsmittelentscheidung des US Court of Appeals (3rd Circuit) zur Grundlage seiner Entscheidung nimmt:232) „(1) Limiting the cross-creep of liability by respecting entity separateness is a ‘fundamental ground rule’. […] As a result, the general expectation of state law and of the Bankruptcy Code, and thus of commercial markets, is that courts respect entity separateness absent compelling circumstances calling equity (and even then only possibly substantive consolidation) into play. (2) The harms substantive consolidation addresses are nearly always those caused by debtors (and entities they control) who disregard separateness. […] (3) Mere benefit to the administration of the case (for example, allowing a court to simplify a case […]) is hardly a harm calling substantive consolidation into play. (4) Indeed, because substantive consolidation is extreme (it may effect profoundly creditor’s rights und recoveries) and imprecise, this ‘rough justice’ remedy should be rare and, in any event, one of the last resort after considering and rejecting other remedies […]. (5) While substantive consolidation may be used defensively to remedy the identifiable harms caused by entangled affairs, it may not be used offensively (for example, having a primary purpose to disadvantage tactically a group of creditors in the plan process or to alter creditor rights).”
Diese Rechtsprechung mahnt zur extremen Zurückhaltung bei der Überschreitung der 167 Grenzen der juristischen Person und des Einzelverfahrens durch Umsetzung der Substantive Consolidation.233) In der zitierten Entscheidung „Owens Corning“ hat der Court of ___________ 232) S. zu dem folgenden Zitat die Entscheidung des US Bankruptcy Court, District of Kansas v. 17.8.2012 – Case No. 11-11425-11 u. a. (Schupbach Investments LLC), abrufbar unter https://www.ksb.uscourts. gov/content/re-schupbach-investments-llc-11-11425-doc-305 (Abrufdatum: 3.3.2023), S. 8 ff. der sich mit dem wiedergegebenen Zitat der Auffassung des US Court of Appeals Third Circuit v. 15.8.2005 anschließt – (Re Owens Corning), No. 04-4080, 2005 WL 1939796 (3d. Cir.), pdf-Datei, S. 37 ff., abrufbar unter http://www2.ca3.uscourts.gov/opinarch/044080p.pdf bzw. https://caselaw.findlaw.com/us3rd-circuit/1260551.html (Abrufdatum: 3.3.2023). 233) Vgl. zur Entwicklung der Substantive Consolidation die Entscheidung des US Court of Appeals Third Circuit zu dem Fall „Owens Corning“, No. 04-4080, 2005 WL 1939796 (3d. Cir.); pdf-Datei, S. 22, 23 ff., abrufbar unter http://www2.ca3.uscourts.gov/opinarch/044080p.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). Im Fall „Owens Corning“, einer Gesellschaft nach dem Recht von Delaware, war Streitgegenstand die materielle Konsolidierung in einem Streit zwischen Crédit Suisse First Boston als Konsortialführer eines Konsortiums und Owens Corning. Das Konsortium hatte 1997 Owens Corning und einigen Konzerngesellschaften eine unbesicherte Kreditfazilität i. H. von 2 Mrd. US$ zur Verfügung gestellt, allerdings gegen Drittsicherheiten in Gestalt von Garantien anderer Konzerngesellschaften (Entscheidung „Owens Corning“, S. 7, 8). Der District Court of Delaware hatte einem Konsolidierungsantrag stattgegeben, betreffend die Konsolidierung der „assets and liabilities of the OCD borrowers and guarantors in anticipation of a plan of reorganization“.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
Appeals (Third Circuit)234) die materielle Konsolidierung in einem Fall abgelehnt, der durch umfängliche Garantien von Konzerngesellschaften zur Absicherung eines Teils der Forderungen eines großen Bankkonsortiums gegen die Muttergesellschaft und andere gekennzeichnet war.235) Der Court of Appeals begründete das u. a. wie folgt: „Substantive consolidation at its core is equity. Its exercise must lead to an equitable result. “Communizing” assets of affiliated companies to one survivor to feed all creditors of all companies may to some be equal (and hence equitable). But it is hardly so for those creditors who have lawfully bargained prepetition for unequal treatment by obtaining guarantees of separate entities“ (Entscheidung Owens Corning, Conclusion, S. 50).
168 Die Aufrechterhaltung der Vermögenstrennung könnte nach den Vorgaben der USGerichte übrigens ganz einfach durch eine entsprechende Regelung in der Vertragsdokumentation bewirkt werden, indem der Gläubiger vertraglich erklärt bzw. vereinbart, ihm komme es im Einvernehmen mit dem jeweiligen Schuldner bzw. Verpflichteten oder Garanten auf die Trennung der Vermögensmassen an. 169 In der US-amerikanischen Literatur warnt eine Stimme geradezu die Gläubiger vor der Substantive Consolidation. Sie werden aufgefordert, die notwendigen Sicherungsmaßnahmen für ihr Kreditinvestment zu treffen bis zu dem Rat, wonach „[…] such creditors would be well advised to consult legal counsel to help them navigate the stormy waters of substantive consolidation both outside and inside bankruptcy proceedings.“236)
170 Die Bewilligung der Substantive Consolidation stellt sich unverändert als außerordentliche und seltene Maßnahme dar, wie auch eine Entscheidung des US Bankruptcy Court Central District of Illinois vom 3.8.2015 belegt, die auf der Linie der oben umrissenen anderen Entscheidungen liegt und den Antrag auf materielle Konsolidierung ablehnt.237) Das Gericht stellt dort auch den alleinigen Zweck der Konsolidierung dar – und wozu sie nicht dient: „[…] substantive consolidation operates only to combine the assets of the bankruptcy estates for distributional purposes. It does not serve to merger or consolidate the debtors themselves. […]”
171 Nur am Rande soll ergänzt werden, dass das kanadische Insolvenzrecht, welches wie die USA ebenfalls das Instrument der Substantive Consolidation als Richterrecht kennt, gleichermaßen eine strikte Beschränkung der Anwendung dieses Instrument vorsieht, wie aus einer Entscheidung des Ontario Superior Court of Justice vom 17.10.2014 hervorgeht.238) Dem Begehren auf Substantive Consolidation wurde zwar stattgegeben, wobei aber der Richter das Instrument nur für angemessen hält, „[…] where the directing mind of the bankrupt estates has conducted the affairs of the bankrupt with the total disregard for the niceties of corporate identity und separate judicial personalities.”,
mit anderen Worten in Fällen des Missbrauchs des Rechtsinstituts der juristischen Person. ___________ 234) Zuständig für die US-Bundesstaaten Delaware, New Jersey, Pennsylvania und die United States Virgin Islands. 235) US Court of Appeals, Third Circuit (Owens Corning), No. 04-4080, 2005 WL 1939796 (3d. Cir.); pdf-Datei, S. 7 – 9, abrufbar unter http://www2.ca3.uscourts.gov/opinarch/044080p.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 236) De Franceschi, Substantive Consolidation, S. 175 ff., 182 – unter „Conclusion”. 237) US Bankruptcy Court Central District of Illinois – Cases No. 12-81285, 12-81287 (Bauman/Midwest Asphalt Repair, Inc., 3/8/2015), abrufbar unter https://www.ilcb.uscourts.gov/content/12-81285bauman-and-12-81287-midwest-asphalt-repair-inc (Abrufdatum: 3.3.2023). S. dort zu den Grundzügen der Substantive Consolidation auf S. 10 ff. zur „Analysis“; zur Abwägung für und gegen die Konsolidierung vgl. S. 17 – 19 des Dokuments sowie S. 21 f., Tenor S. 23. 238) Ontario Superior Court of Justice, Court File NO: 13-57904, 2014 ONSC 5875 (CanLII), (Bacic v. Millenium Educational & Research Charitable Foundation), abrufbar unter https://www.canlii.org/en/on/ onsc/doc/2014/2014onsc5875/2014onsc5875.html?autocompleteStr=Bacic%20&autocompletePos=1 (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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In einem in der Entscheidung herangezogenen Fall aus der kanadischen Judikatur war die 172 Sachlage so, dass „[…] the corporate records were so hopelessly confused or non-existent that it was next to impossible to know which fixed assets belonged to which of the respective bankrupt company.”
Voraussetzung der Anordnung der Konsolidierung ist danach eine Abwägung der Vor- 173 und Nachteile: „[…] the test as to substantive consolidation requires the balancing of interests of the affected parties and an assessment whether creditors will suffer greater prejudice in the absence of consolidation and the debtors or any objecting creditor will suffer from its imposition.”
Als Testkriterien, die zur Prüfung der Angemessenheit einer Substantive Consolidation 174 zu berücksichtigen sind, werden aufgeführt „(a) difficulty in segregating assets; (b) presence of consolidated Financial Statements; (c) profitability of consolidation at a single location; (d) commingling of assets and business functions; (e) unity of interests in ownwership; (f) existence of intercorporate loan guarantees, and (g) transfer of assets without observance of corporate formalities.”239)
Exkurs: Materielle Konsolidierung des US-Rechts und anderer Rechte versus gruppen- 175 interne Drittsicherheit des inländischen Rechts und Limitation Language. Die vorstehend zitierte „Conclusion“ des US Court of Appeals zeigt anschaulich, dass die Substantive Consolidation ein Instrument der „Billigkeit“ ist, das wir in unserer Rechtsordnung im Allgemeinen mit § 242 BGB verbinden. Das Instrument zeigt eine generische Verwandtschaft mit dem Instrument der gruppeninternen Drittsicherheit des § 217 Abs. 2 InsO in unserer Rechtsordnung, es wird ebenso wie der Eingriff in die gruppeninterne Drittsicherheit angewandt „ […] in anticipation of a plan of reorganization […].“ Die Billigkeit vermag jedoch in den Fällen der Einbeziehung der gruppeninternen Sicherheit nach InsO (und StaRUG, vgl. dort § 2 Abs. 4) keine Geltung zu beanspruchen. Nach der Begründung der Norm im Regierungsentwurf des § 217 Abs. 2 InsO erfordert die Einbeziehung der gruppeninternen Drittsicherheit in einen Plan nicht nur die Zustimmung der betroffenen Gruppengesellschaft nach § 230 Abs. 4 InsO (um deren unternehmerische Freiheit zu gewährleisten), sondern auch die vollständige Befriedigung des Sicherungsgläubigers.240) Führt also die „Equity“ im Fall „Owens Corning“ zur Abweisung der Konsolidierung, also aus einem Rechtsgrund, so ist es im Falle der „angemessenen“ Entschädigung des § 223a Satz 2 InsO ein tatsächliches Problem, in welcher Weise bzw. welchem Umfang Entschädigung zu leisten ist, so dass der Streit um den Entschädigungsumfang in einen Gutachterstreit einmünden mag. Durch seine Flexibilität geht § 217 Abs. 2 InsO im Einzelfall über die Konsolidierung hinaus, ist also ein Einstieg in eine Konsolidierung unter einem anderen Aspekt als dem der untrennbaren Vermögensvermischung oder der Egalisierung gruppeninterner fraudulenter Machenschaften. Gruppeninterne Sicherheit und Limitation Language241): Hinzu kommt in der Refinanzie- 176 rungspraxis der Unternehmen eine zum Schutz des gezeichneten Kapitals (vgl. § 30 f. GmbHG, § 57 AktG) bzw. zur Vermeidung der Haftung der Geschäftsleiter bei den Finanzgläubigern vielfach durchgesetzte Limitation Language in den Fällen der Upstream bzw. Crossstream-/Sidestream-Besicherung. Bei der Frage, inwieweit der durch Drittsicherheiten von Konzerngesellschaften als Drittsicherungsgeber besicherte Gläubiger diese bei Vereinbarung einer Limitation Language durchsetzen kann, kommt es aus dem zutreffenden ___________ 239) Ontario Superior Court of Justice, Court File NO: 13-57904, 2014 ONSC 5875 (CanLII), (Bacic v. Millenium Educational & Research Charitable Foundation), Rz. 108 f., 113, 114 ff., abrufbar unter https://www.canlii.org/en/on/onsc/doc/2014/2014onsc5875/2014onsc5875.html?autocompleteStr=B acic%20&autocompletePos=1 (Abrufdatum: 3.3.2023). 240) Begr. RegE SanInsFoG z. InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 200. 241) S. zu Upstream-Besicherung und Limitation Language Kollmorgen/Santelmann/Weiß, BB 2009, 1818.
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Blick des BGH auf den Zeitpunkt des Zustandekommens der Besicherung an.242) Da die Limitation Language die Durchsetzung der gruppeninternen Drittsicherheit unterbindet, wenn dadurch das geschützte Kapital in den Upstream- und Sidestreamfällen angegriffen oder eine bilanzielle Überschuldung generiert oder vertieft würde, um die Haftung der Geschäftsleiter des betroffenen Unternehmens zu vermeiden, wäre die Drittsicherheit im Fall der Insolvenz des sicherungsgebenden Unternehmens völlig wertlos. Daher scheidet eine Haftung der Geschäftsleiter für verbotene Einlagenrückgewähr aus, wenn zum Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit der Gesellschafter voraussichtlich zur Rückzahlung in der Lage ist und zudem keine Unterbilanz durch die Bestellung der Sicherheit (persönlich, dinglich) entsteht oder vertieft wird.243) Damit wird die rechtliche Werthaltigkeit der Drittsicherheit nicht eingeschränkt, wenn nicht von Anfang an von einer verbotenen Einlagenrückgewähr auszugehen ist; diese Problematik ist in praxi leicht zu vermeiden. Hierauf muss sich die Limitation Language beschränken.244) 2.4
Materielle Konsolidierung in Frankreich
177 Im französischen Recht besteht – nicht ganz unähnlich der US-amerikanischen Lösung – ebenfalls die Möglichkeit der Einbeziehung von Vermögensmassen in das eröffnete Verfahren eines anderen Rechtsträgers, aber nur „[…] en cas de confusion de leur patrimoine avec celui du débiteur ou de fictivité de la personne morale.“ [Art. L 621-2 alinéa. 2, 3 Code de Commerce [Frankreich]
178 Die Cour de Cassation hat in einer Entscheidung zu der zitierten Norm in dem hier interessierenden Zusammenhang u. a. vom Missbrauch der Rechtsfigur der juristischen Personen durch die Beteiligten gesprochen.245) Maßstab der Vermögensvermischung („confusion de leur patrimoine“) sind anormale finanzielle Beziehungen der Beteiligten („relations financières anormales […]“). Grenzüberschreitend scheidet diese Möglichkeit der Konsolidierung bei der Konzerngesellschaft eines französischen Unternehmens mit Sitz bzw. COMI in einem anderen Mitgliedstaat des Geltungsbereichs der EuInsVO freilich aus den Gründen des oben zitierten Urteils „Rastelli“ des EuGH aus. 2.5
Die Überlegungen zur materiellen Konsolidierung im Unionsrecht (bis zur EuInsVO 2015)
179 Im Rahmen der Reform des europäischen Internationalen Insolvenzrechts hatte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 15.11.2011 u. a. vorgeschlagen, bei nicht ___________ 242) BGH, Urt. v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, BGHZ 214, 258 = ZInsO 2017, 1112 – Entscheidung zu §§ 30, 31 GmbHG. 243) Der BGH, Urt. v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, LS, BGHZ 214, 258 = ZInsO 2017, 1112, hat diese Entlastung des Geschäftsleiters der sicherungsgebenden Konzerngesellschaft negativ ausgedrückt. 244) Zur „Limitation Language“ gibt es wenig veröffentlichte Judikate, vgl. etwa OLG Frankfurt/M., Urt. v. 11.4.2018 – 13 U 31/16, AG 2018, 635 f. = juris Rz. 9 f. zum Text einer solchen, aus Gläubigersicht nicht recht befriedigenden Klausel. 245) Cour de Cassation (chambre commerciale), Arrêt v. 8.10.2012 – No 12-40058, abrufbar unter https:// www.juricaf.org bzw. http://www.legifrance.gouv.fr > Verlinkungen. S. a. Cour de Cassation, Arrêt v. 30.10.2012 – No11-25.560, abrufbar unter http://www.legifrance.gouv.fr > Verlinkungen, zu den „relations financières anormales“ unter 4° der Entscheidung a. E. Vgl. ferner die jüngere Entscheidung der Cour de Cassation (chambre commerciale) v. 16.6.2015 – No du pourvoi: 14-10187, abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr/affichJuriJudi.do?idTexte=JURITEXT000030760165 (Abrufdatum: 3.3.2023) sowie diejenige v. 8.12.2021 N°de pourvoi: Z 20-17.766, Cour de Cassation (chambre commerciale), v. 8.12.2021 – N° du pourvoi: 20-17.766 (Société de Manon SCI, Société Bergerie de Manon, SRL u. a.), ECLI:FR:CCASS:2021:CO0068, abrufbar unter https://www.courdecassation.fr/decision/ 61b058eedc637ddd76c35e84?search_api_fulltext=&date_du=2021-12-08&date_au=2021-12-08& judilibre_juridiction=cc&judilibre_chambre%5B0%5D=comm&op=Rechercher%20sur%20judilibre& previousdecisionpage=&previousdecisionindex=&nextdecisionpage=0&nextdecisionindex=1 (Abrufdatum: 3.3.2023).
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mehr trennbaren Vermögensmassen, den „Grundsatz der materiellen Zusammenfassung“246) anzuwenden, also die Substantive Consolidation in einer eingeschränkten, dem französischen Recht ähnlichen Fassung. In der Novelle der EuInsVO wurde dieser Vorschlag nicht aufgegriffen. Allerdings sollte auch nach diesen Überlegungen die materielle Konsolidierung nur in denjenigen Fällen Platz greifen, in denen ausnahmsweise nicht festgestellt werden kann, welches Vermögen welchem Schuldner gehört und wenn eine Bewertung der „gruppeninternen Forderungen“247) nicht möglich sei. Diese Anregung wurde bisher zutreffend nicht wieder aufgegriffen. Es kann im Interesse einer wohl verstandenen Subsidiarität den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überlassen werden, wie sie sich mit Sachverhalten auseinandersetzen, die auf dem Missbrauch der Rechtsfigur der juristischen Person beruhen und zu einer massiven Schädigung der Gläubigerinteressen führen. Auf das Verhältnis bei grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen zu Drittstaaten mit 180 möglicher materieller Konsolidierung ist im vorliegenden Rahmen nicht einzugehen. Problemfelder an Schnittstellen mögen durch Vereinbarungen der beteiligten Verwalter durch „Protokolle“ im Einklang mit der jeweils anzuwenden Rechtsordnung ausgeräumt werden können (siehe oben zu Protokolle „Protocols“ Rz. 4, 65, 66, 127). Abzuwarten bleibt, ob bzw. wie i. R. der etwa fortschreitenden Harmonisierung der In- 181 solvenzrechtsregelwerke der Union die materielle Konsolidierung Raum beanspruchen kann. Für die Betriebsfortführung in der Konzerninsolvenz ist jedoch die Frage einer Konsolidierung von hoher Bedeutung ebenso wie diejenige des Umgangs mit den erwähnten gruppeninternen Drittsicherheiten. VI.
Zusammenfassung, Thesen
Die Betriebsfortführung in der Konzerninsolvenz führt über die ohnehin bei Betriebsfortführungen bestehenden rechtlichen und ökonomischen Problemfelder hinausgehend zu weitergehenden Aufgabenstellungen für die Planung der Fortführung, da sie die konzerninternen Verflechtungen zu beachten hat. x Die Planung nimmt daher die gesamte Unternehmensgruppe in den Blick und zwar auch aus dem Blickwinkel jeder einzelnen Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere die konzerninternen Beziehungen und die Gegenleistungen dafür, Fragen um die steuerliche Organschaft und die Auswirkungen von Unternehmensverträgen. x Die Fortführung und deren Planung sind Teil des strategischen Abwicklungskonzepts der Insolvenz der einzelnen Gesellschaft und des Konzerns, es bedarf stets eines tragfähigen Konzeptes. x Ein formeller Rahmen zur „Erleichterung“ der Abwicklung der Konzerninsolvenz ist geschaffen. Die EU hat mit der Neufassung der EuInsVO durch die Verordnung (EU) Nr. 2015/848 vom 20.5.2015 ein entsprechendes Regelwerk eingeführt, der inländische Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen“ v. 13.4.2017. x Eine Koordinierung der Verfahren ist, wie die Praxis zeigt, sachgerecht. Sie muss aber die Interessen der Gläubiger jeder einzelnen Gesellschaft wahren. Nicht frei vom Risiko des Interessenkonfliktes ist die Bestellung eines einzigen Konzerninsolvenzverwalters für alle insolventen Gruppen-Gesellschaften. Es darf nicht übersehen ___________
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246) S. dazu das Dokument A7-0355/2011 des europäischen Parlaments, abrufbar unter https://www. europarl.europa.eu/doceo/document/A-7-2011-0355_DE.html (Abrufdatum: 3.3.2023). 247) Anh. Teil 3 Nr. 1 lit. E des Dokuments A7-0355/2011: „Kann nicht ermittelt werden, welche Vermögenswerte welchem Schuldner gehören, oder ist eine Bewertung der gruppeninternen Forderungen nicht möglich, so sollte ausnahmsweise die Möglichkeit bestehen, die Vermögensmassen zusammenzufassen.“
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werden, dass die Vielzahl der etwa erforderlichen Sonderinsolvenzverwalter – oder Sachwalter, soweit dieses Konzept in Eigenverwaltung umgesetzt wird – die Kosten des Verfahrens (vgl. § 53 InsO) in die Höhe treibt. Der Verfahrenskoordinator nach den §§ 259e, 269f InsO dürfte bei entsprechender Auswahl faktisch eine dominierende Rolle einnehmen. In praxi dürfte der Koordinator einen Koordinationsplan ähnlich einem integrierten Masterinsolvenzplan für die Gruppe erarbeiten, wie ihn Literaturstimmen ähnlich schon lange im Auge haben, wenn § 269h Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, 3 InsO auch andere Optionen als einen Masterplan, der unter Nr. 1 der Norm zu subsumieren ist, ermöglicht. Bei diesem Modell handelt es sich dennoch nicht um Konsolidierungsansätze (Zusammenfassung) der Einzelverfahren mit einem führenden Verfahren, das bestimmend ist.248) 187 x Eine materielle Konsolidierung, die für die Betriebsfortführung erhebliche Folgen hätte, ist ebenfalls deutlich abzulehnen, die Verfahrenserleichterung reicht zur Legitimierung nicht aus. Ob man de lege ferenda vor den dogmatischen Hintergrund einer wirtschaftsethisch determinierten „Quotengerechtigkeit“ für alle Gläubiger im Konzern dieses Instrument für Ausnahmefälle in Erwägung zieht, mag eine andere Frage sein, es wäre aber ein Paradigmenwechsel im Insolvenzrecht mit tiefgreifenden Änderungen im materiellen Insolvenzrecht bis hin zum Gesellschafts- und Steuerrecht. Daraus würde sich eine Fülle ungelöster Fragen ergeben, bspw., ob damit ein einziger Betrieb entstünde oder wie § 613a BGB anzuwenden wäre.249) Ferner würde sich die Finanzierungs- bzw. Sicherungspraxis ändern, auch die Praxis der Konzernsteuerung, da die Übertragung von Aufgaben „im Konzern“ zur Risikoauslagerung weitgehend in Frage gestellt würde. Man darf dabei nicht vergessen, dass die „substantive consolidation“ ein Instrument ist, um bei missbräuchlichem, jedenfalls grob fehlerhaftem Handeln im Konzern, die dortigen Problemfelder der Vermögenszuordnung zu dem einen oder anderen Schuldner zu erledigen. Unmittelbare Ursache ist jedenfalls meist ein desolates oder weitgehend fehlendes Rechnungswesen und völliges Fehlen eines Controllings als Steuerungsinstrument der Konzernleitung. Gegebenenfalls ist fraudulentes Handeln der Protagonisten festzustellen. 188 x Sind, wie häufig, ausländische Gruppengesellschaften beteiligt, müssen zudem alle Rechtsvorschriften des ausländischen Rechts bei der Fortführung beachtet werden, nicht nur das dort heranzuziehende Insolvenzrecht, sondern die gesamte Rechtsordnung. Durch unterschiedliche konzernrechtliche Normen bzw. Durchgriffsmöglichkeiten auf die Konzernobergesellschaft können in der Insolvenz unerkannte Risiken entstehen, die den Einsatz von Experten erfordern, die in der entsprechenden Rechtsordnung und in der jeweiligen Branche erfahren sind. Ein solches Outsourcing ist nicht nur zulässig, sondern geboten. 189 x Bestimmendes Element bei all den hier diskutierten Fragen wird u. a. sein, wohin sich das Insolvenzrecht bzw. das Sanierungsrecht, auch angesichts der unionsrechtlichen Restrukturierungsrichtlinie und des StaRUG sowie der weiteren Harmonisierungsüberlegungen der EU-Kommission, entwickeln wird. Wird es eher zu einem Schuldnerschutzverfahren oder stehen jedenfalls der Zweck der Unternehmens- bzw. Schuldnersanierung und derjenige der Gläubigerbefriedigung gleichwertig nebeneinander? ___________ 248) Begr. RegE Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, BT-Drucks. 18/407, S. 16 („Flexible Koordinierungsmechanismen statt Konsolidierungslösungen), S. 17 (ausdrückliche Ablehnung der „verfahrensrechtlichen Zusammenfassung“), S. 22 (ausdrückliche Hervorhebung der „Selbständigkeit der koordinierten Einzelverfahren“). 249) Die „Jungheinrich“-Judikatur der Cour des Cassation in Frankreich ist wohl auch mit dem aktuellen Verständnis als Ausnahme ein Hinwegsetzen über das französische Insolvenzrecht sowie das Insolvenzarbeitsrecht.
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Rückt das Engagement von Investoren (in Eigenkapital) in den Vordergrund (Kapitalmarktunion in der EU) oder wird sich ein Vorrang zum Erhalt von Arbeitsplätzen entwickeln? Der Gesetzesbefehl des § 1 InsO geht aktuell von einem Primat der Gläubigerbefriedigung aus und „verlässt“ sich auf den ökonomischen Sachverstand der Gläubiger, das weitere Schicksal des Schuldnerunternehmens zu bestimmen. Es ist daran zu erinnern, dass das geltende inländische Insolvenzrecht strukturell „Gesamtvollstreckungsrecht“ ist, also Verfahrensrecht, das die Gläubigerbefriedigung zum Gegenstand hat, wobei die Unternehmenssanierung auch nach dem ESUG und dem SanInsFoG (2020) eine der Gläubigerautonomie unterliegende Methode der Abwicklung des Insolvenzverfahrens bleibt. Der Koordinationsplan des § 269h InsO ändert hieran nichts, wie aus der das Prinzip der Freiwilligkeit der Beteiligung an diesem Plan voraussetzenden Norm des § 269i InsO hervorgeht. Ob dieses gläubigerorientierte und marktwirtschaftliche Konzept zukunftsfähig bleiben wird, hängt nicht nur von den in der InsO bereits vorhandenen flexiblen Instrumenten und deren Handhabung ab, sondern u. a. auch von der europäischen Rechtsentwicklung und den dort z. B. im EU-Parlament gesetzten Schwerpunkten. Die in der vorstehenden Darstellung umrissenen Faktoren haben in jeweils unterschiedli- 190 chem Umfang einzelfallabhängig wesentliche Bedeutung für die Unternehmensfortführung in der Insolvenz von Mutterunternehmen und konzernangehörigen Unternehmen der Unternehmensgruppe, insbesondere auch aus dem Blick der Gesamtheit der Gläubiger. Ob ein „Dual-Track“-Investorenprozess gerade in der Konzerninsolvenz aufzusetzen ist 191 (u. a. als Strukturelement der Vergleichsrechnung nach § 220 Abs. 2 Satz 2 InsO im Planverfahren in Eigenverwaltung) – womit wiederum Einflüsse auf die Art und Weise der Betriebsfortführung verbunden sein können – kann in dem vorliegenden Beitrag nicht eingehend behandelt werden.250) Als unkritisch wird man dieses Procedere nicht ohne Weiteres ansehen können. Ausblicke: Die Unternehmensgruppe in der Krise kann sich wie auch die konkurrierenden 192 „gesunden“ Wirtschaftsunternehmen nicht den aktuellen und künftig wachsenden Herausforderungen entziehen, mit denen Gesellschaft, Politik und Stakeholder die Unternehmensgruppe und ihre zugehörigen Gesellschaften konfrontieren. Hierauf kann vorliegend ebenfalls nicht i. E. eingegangen werden, evident ist aber, dass diese Themenfelder auch die Unternehmensfortführung in der Krise zunehmend tangieren werden. Wenige Hinweise sollen aber doch in einem Ausblick zusammengefasst werden: x ESG: Im Brennpunkt wird eine Unternehmensführung unter Einhaltung von ESGKriterien (Environmental Social Governance) stehen (mit einem anderen engeren Terminus auch „Corporate Social Responsibility“), die unternehmerische Verantwortung zu nachhaltiger Unternehmensführung unter Beachtung wirtschaftsethischer Standards. Greift man einmal aleatorisch aus diesem Themenkomplex wenige Aspekte heraus, so ist auch auf die im Gesetzgebungsverfahren befindliche Novellierung der unionsrechtlichen Richtlinie (EU) 2014/95251) (CSR-RL = Ergänzung der Richtlinie (EU) 2013/34 ___________ 250) S. zum Dual Track und zu Alternativen bei Frölich, ZInsO 2022, 186 ff.; Madaus, NZI 2021, 399 f. – zu LG Köln, Beschl. v. 17.12.2020 – 1 T 440/2020, NZI 2021, 397, ebenso wie dem LG Köln ist dahin zuzustimmen, dass jedenfalls eine „echte Marktansprache (Dual Track)“ nicht erforderlich ist, allenfalls eine Marktwertstudie. 251) Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2013/34 im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen (CSR-Richtlinie), ABl. (EU) L 330/1 v. 15.11.2014, umgesetzt durch das Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz – CSRRUG), v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 802.
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[Bilanzrichtlinie]) hinzuweisen. Das CSR-RUG zur geltenden Richtlinie erweitert unter Ergänzung u. a. des HGB die Pflichten bestimmter großer Kapitalgesellschaften zu Angaben im Lagebericht um eine „nichtfinanzielle Erklärung“ (§ 289b HGB252), vgl. Art. 19a Bilanzrichtlinie). Im Fokus stehen die in § 289c HGB kodifizierten Pflichten zur „kurzen Beschreibung des Geschäftsmodells“ (Abs. 1) und zur Berichterstattung über „mindestens“ die Aspekte „Umweltbelange“, „Arbeitnehmerbelange“, „Sozialbelange“, „Achtung der Menschenrechte“ (insbesondere in der Lieferkette) und Bekämpfung der Korruption (Abs. 2). Verfolgt das Unternehmen im Hinblick auf die Angaben in § 289c Abs. 2 HGB kein Konzept, muss es dies „klar und begründet erläutern“ (§ 289c Abs. 4 HGB, ein Comply-or-Explain-Prinzip, vgl. auch § 161 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 AktG)253). Für den Konzernlagebericht enthalten die §§ 15b, 315c HGB die entsprechenden ESG-Pflichten. Die Novelle zur CSR-RL254) erstreckt ihren Anwendungsbereich ab 1.1.2026 auf kleine und mittlere Unternehmen, also eine Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs. Auch der sachliche Umfang der Berichterstattung soll erweitert werden, u. a. um Angaben, wie das Unternehmen sicherstellen will, „[…] dass sein Geschäftsmodell und seine Strategie mit dem Übergang zu einer nachrangigen Wirtschaft und der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris vereinbar sind.“ Die Erklärungen zur Nachhaltigkeit werden nach dem Entwurf deutlich verschärft und erweitert (vgl. Art. 19a Bilanzrichtlinie aktuelle Fassung versus Art. 19a Entwurfsfassung 2021).255) Die Endfassung der Novelle ist als Richtlinie (EU) 2022/2464256) am 14.12.2022 angenommen worden; die Richtlinie ist bis 6.7.2024 in das mitgliedstaatliche Recht umzusetzen. Erfasst werden Berichtszeiträume, gestaffelt nach Geschäftsjahren, ab 2024, im Einzelfall nach den jeweiligen Tatbeständen der Richtlinie später bis 2028. Die Finanzindustrie sieht in diesem Zusammenhang einen bedeutenden Zukunftsmarkt für ESG-gebundene Finanzierungen und stellt auch Anforderungen an solche „ESGgerechte“ Finanzierungen mit eigenen ESG-Kennzahlen (ESG-Covenants),257) die verschiedene Fortschritte in den ESG-Bereichen aufzeigen. Tangiert sind bspw. die Decarbonisierungsthematik, die Lieferkettenproblematik, die Kreislaufwirtschaft.
___________ 252) Für Ausnahmen von der Berichtspflicht bei Gesellschaften, die in den Konzernlagebericht eingebunden sind, s. § 289b Abs. 2, 3 HGB. 253) S. zu § 289c Abs. 4 HGB und die Parallele zu § 161 AktG bei Hopt-Merkt, HGB, § 289c Rz. 16 m. w. N. 254) S. den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinien 2013/34/EU, 2004/109/EG und 2006/43/EG und der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, Dokument COM(2021) 189 final, v. 21.4.2021. 255) S. den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinien 2013/34/EU, 2004/109/EG und 2006/43/EG und der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, Dokument COM(2021) 189 final, S. 1 ff., zur Begründung der Angabe „nichtfinanzieller Informationen“ und zur Umsetzung des „europäischen Grünen Deals“; zum Gegenstand der „Nachhaltigkeitsberichterstattung“ s. dort § 19a und die neuen Art. 19b – 19d des Entwurfs sowie Art. 29a zur Konsolidierten Nachhaltigkeitsberichterstattung im Konzern, Dokument COM(2021) 189 final. Zu den schließlich verabschiedeten Regelungen s. die Richtlinie (EU) 2022/2464 v. 14.12.2022. 256) Richtlinie (EU) 2022/2464 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.12.2022 zur Änderung der Verordnung (EU) 537/2014 und der Richtlinien 2004/109/EG, 2006/43/EG und 2013/34/EU hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, ABl. (EU) L 322/15 v. 16.12.2022. 257) S. zur Illustration nur die ganzseitige Werbeanzeige eines Kreditinstituts „Nachhaltigkeit wird zum Eckpfeiler der Firmenfinanzierung“, FAZ v. 23.6.2022, S. 19, welche den Trend in Gesellschaft, Politik und Gesetzgebung aufnimmt.
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Aspekte der Betriebsfortführung im Konzern aus Gläubigersicht
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Digitalisierung: Eine weitere Herausforderung wird durch die rasante Entwicklung der Digitalisierung auch auf die zu sanierende Unternehmensgruppe zukommen, will sie konkurrenzfähig werden und bleiben. Die Herausforderungen erstrecken sich bis zur Anwendung von Kryptotechnologie und Blockchaintechniken in der Wertschöpfungskette und bis zum Einsatz von Kryptoinhaberschuldverschreibungen als elektronische Wertpapiere (nach § 4 Abs. 3 eWpG)258) zur Refinanzierung der Unternehmensgruppe. Fazit: Alle diese Herausforderungen sind solche, die die Fortführungspraxis und die Fort- 193 führungschancen deutlich berühren und daher zu berücksichtigen sind. Soweit nicht unmittelbare Pflichten bestehen, handelt es sich um Prozesse, die zur endgültigen Gesundung und Markpositionierung auf der Zeitachse erforderlich sind, die aber in keiner Weise eine negative Aussage zu einer „Sanierungswürdigkeit“ treffen. x
___________ 258) Gesetz über elektronische Wertpapiere (eWpG), v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1423.
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§ 24 Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen Undritz/Knof
Übersicht I. II. III. 1.
2.
IV. 1.
Einleitung.................................................. 1 Grenzüberschreitende Insolvenzverfahren ................................................... 2 Modifizierte Universalität nach der EuInsVO ................................... 5 Ausgangspunkt: Universeller Geltungsanspruch...................................... 6 1.1 Durchsetzung des universellen Geltungsanspruchs im Ausland ...... 7 1.2 Einheitliche europäische Kollisionsnorm ................................ 8 1.3 Einheitliche Zuständigkeitsregel: „COMI-Konzept“............... 11 Modifikationen der Universalität des Hauptverfahrens ............................... 29 2.1 Sekundärinsolvenzverfahren ......... 31 2.2 Sonderkollisionsnormen und Sachnormen ................................... 35 Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführung ........................ 45 Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren .................................................. 47 1.1 Unterschiedlicher Verfahrenszweck.............................................. 48
1.2
Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens....................... 53 1.3 Wirkung der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens ....... 59 2. Mehrere Hauptinsolvenzverfahren ........ 62 V. Öffentliche Bekanntmachungen.......... 74 VI. Grenzüberschreitende Befugnisse des Insolvenzverwalters......................... 77 VII. Kooperation der Insolvenzverwalter ...... 82 1. Informationspflichten............................. 83 2. Einwirkungsmöglichkeiten des Hauptinsolvenzverwalters ................................. 86 3. Exkurs: Eigenverwaltung im Sekundärinsolvenzverfahren .................................. 93 VIII. Kooperation der Insolvenzgerichte ..... 96 IX. Ausübung von Wahlrechten ............... 100 X. Austauschverträge zwischen den Verfahren....................................... 102 XI. Masseverbindlichkeiten aus grenzüberschreitender Betriebsfortführung........................................................ 103 XII. Erhalt des Unternehmens als organisatorischer Verbund ......................... 115
Literatur: Adam/Poertzgen, Überlegungen zum Europäischen Konzerninsolvenzrecht, (Teil 1) ZInsO 2008, 281, (Teil 2) ZInsO 2008, 347; Beck, Verteilungsfragen im Verhältnis zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren nach der EuInsVO, NZI 2007, 1; Beck, Verwertungsfragen im Verhältnis von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren nach der EuInsVO, NZI 2006, 609; Bismarck/SchümannKleber, Insolvenz eines ausländischen Sicherungsgebers – Anwendung deutscher Vorschriften auf die Verwertung in Deutschland belegener Kreditsicherheiten, NZI 2005, 147; Duursma-Kepplinger, Einfluss eines Sekundärinsolvenzverfahrens auf die Befriedigung von Masseverbindlichkeiten, ZIP 2007, 752; Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, Europäische Insolvenzverordnung, 2002; Ehricke, Zur Kooperation von Insolvenzgerichten bei grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren, ZIP 2007, 2395; Ehricke, Das Verhältnis des Hauptinsolvenzverwalters zum Sekundärinsolvenzverwalter bei grenzüberschreitenden Insolvenzen nach der EuInsVO, ZIP 2005, 1104; Ehricke, Die Zusammenarbeit der Insolvenzverwalter bei grenzüberschreitenden Insolvenzen nach der EuInsVO, WM 2005, 397; Ehricke, Verfahrenskoordination bei grenzüberschreitenden Unternehmensinsolvenzen in: Festschrift 75 Jahre Max-Planck-Institut für Privatrecht, 2001, S. 337; Eidenmüller, Verfahrenskoordination bei Konzerninsolvenzen, ZHR 169 (2005) 528; Eidenmüller, Der Markt für internationale Konzerninsolvenzen: Zuständigkeitskonflikte unter der EuInsVO, NJW 2004, 3455; Eidenmüller, Der nationale und der internationale Insolvenzverwaltungsvertrag, in: Zeitschrift für Zivilprozess, ZZP 114 (2001) 3; Eidenmüller, Europäische Verordnung über Insolvenzverfahren und zukünftiges deutsches internationales Insolvenzrecht, IPRax 2001, 2; Fehrenbach, Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren, 2014; Fletcher/Wessels, Global Principles for Cooperation in International Insolvency Cases, IILR 2013, 2; Frind, Ein letzter Pin: Zur Ökonomisierung des Prinzips vom gesetzlichen Richter, ZInsO 2008, 614; Frind, Forum shopping – made in Germany?, ZInsO 2008, 261; Göpfert, In re Maxwell Communications – ein Beispiel einer „koordinierten“ Insolvenzverwaltung in parallelen Verfahren, ZZPInt 1 (1996) 269; Haas, Die Verwertung der im Ausland belegenen Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter im Anwendungsbereich der EuInsVO, in: Festschrift für Walter Gerhardt, 2004, S. 319; Herchen, Die Befugnisse des deutschen Insolvenzverwalters hinsichtlich der „Auslandsmasse“ nach Inkrafttreten der EG-Insolvenzverordnung (Verordnung des Rates Nr. 1346/2000), ZInsO 2002, 345; Herchen, Das Übereinkommen über Insolvenzverfahren der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 23.11.1995 – Eine Analyse
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§ 24
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
zentraler Fragen des Internationalen Insolvenzrechts unter besonderer Berücksichtigung dinglichere Sicherungsrechte, 2000; Hirte, Sechs Thesen zur Kodifikation der Konzerninsolvenz in der EuInsVO, ZInsO 2011, 1788; Hirte, Vorschläge für die Kodifikation eines Konzerninsolvenzrechts, ZIP 2008, 444; Hirte, Towards a Framework for the Regulation of Corporate Groups’ Insolvencies, ECFR 2008, 213; Knof/Mock, Noch einmal: Forumshopping in der Konzerninsolvenz, ZInsO 2008, 499; Knof/ Mock, Innerstaatliches Forum Shopping in der Konzerninsolvenz – Cologne Calling?, ZInsO 2008, 253; Lüke, Das europäische internationale Insolvenzrecht, ZZP 111 (1998) 275; Mankowski, Zusicherungen zur Vermeidung von Sekundärinsolvenzen unter Art. 36 EuInsVO – Synthetische Sekundärverfahren, NZI 2015, 961; Meyer-Löwy/Poertzgen, Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) löst Kompetenzkonflikt nach der EuInsVO, ZInsO 2004, 195; Parzinger, Die neue EuInsVO auf einen Blick, NZI 2016, 63, Paulus, Die ersten Jahre mit der Europäischen. Insolvenzverordnung: Erfahrungen und Erwartungen, RabelsZ 2006, 458; Paulus, Das inländische Parallelverfahren nach der Europäischen Insolvenzverordnung, EWS 2002, 497; Paulus, „Protokolle“ – ein anderer Zugang zur Abwicklung grenzüberschreitender Insolvenzen, ZIP 1998, 977; Reinhart, Sanierungsverfahren im internationalen Insolvenzrecht, 1995; Ringstmeier/Homann, Masseverbindlichkeiten als Prüfstein des internationalen Insolvenzrechts, NZI 2004, 354; Smid, Judikatur zum internationalen Insolvenzrecht, DZWIR 2004, 397; Staak, Mögliche Probleme i. R. der Koordination von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren nach der Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO), NZI 2004, 480; Thole, Die Reform der Europäischen Insolvenzverordnung, ZEuP 2014, 39; Vallender, Judicial cooperation within the EC Insolvency Regulation, IILR 2011, 309; Vallender, Die Zusammenarbeit von Richtern in grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren nach der EuInsVO, in:. Festschrift für Hans-Jochem Lüer, 2008, S. 479; Westbrook, The Lessons of Maxwell Communication, Fordham L. Rev. 64 (1996) 2531; Wittinghofer, Der nationale und internationale Insolvenzverwaltungsvertrag, 2004.
I.
Einleitung
1 Die Fortführung des schuldnerischen Betriebes in der Insolvenz stellt eine besondere Herausforderung für alle an dem Insolvenzverfahren Beteiligten dar: Mit einem Schlag ändern sich die tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der unternehmerischen Tätigkeit. Die Verhinderung des Kollapses der unternehmerischen Tätigkeit in den ersten Tagen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. – aus deutscher Sicht – nach Stellung des Insolvenzantrags ist für den (vorläufigen) Insolvenzverwalter in der Regel ein Kraftakt. Die ganz unterschiedlichen rechtlichen, aber vor allem auch betriebswirtschaftlichen Maßnahmen, die es unmittelbar zu ergreifen gilt, werden an anderer Stelle dieses Handbuchs ausführlich dargestellt. Die ohnehin schon komplexe Situation wird aber zusätzlich noch einmal deutlich komplexer, wenn die unternehmerische Tätigkeit des Schuldners die Landesgrenzen überschritten hat. Denn nicht einmal für den europäischen Binnenmarkt gilt ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen für die grenzüberschreitende Betriebsfortführung in der Insolvenz. Eine grenzüberschreitende Betriebsfortführung hat daher regelmäßig die Vorgaben ganz unterschiedlicher Sachrechte zu beachten, d. h. vor allem unterschiedliche nationale Insolvenzrechte, aber auch unterschiedliche Kreditsicherungsrechte oder arbeitsund sozialrechtliche Vorgaben. Damit diese unterschiedlichen Vorgaben für die grenzüberschreitende Betriebsfortführung erfüllt werden können, ist ein koordiniertes Vorgehen erforderlich. Die spezielle Herausforderung der Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführung steht im Folgenden im Mittelpunkt. II.
Grenzüberschreitende Insolvenzverfahren
2 Im Ausgangspunkt hat man zwei Sachverhalte grenzüberschreitender Insolvenz zu unterscheiden: x
Einmal die Insolvenz eines Unternehmens, dessen grenzüberschreitende Tätigkeit mit Niederlassungen ohne eigene Rechtspersönlichkeit organisiert ist und ferner
x
die Insolvenz einer Unternehmensgruppe, deren Tätigkeit unter mehreren Gesellschaften „arbeitsteilig“ aufgeteilt ist.
3 Da auch im Fall der grenzüberschreitenden Insolvenz der Grundsatz „Eine Person, eine Insolvenz, ein Verfahren“ gilt, stellen sich in den beiden unterschiedlichen Konstellationen entsprechend unterschiedliche Herausforderungen im Hinblick auf die Koordination 918
Undritz/Knof
Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen
§ 24
der Verfahren im Allgemeinen bzw. der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung im Besonderen. Im Mittelpunkt stehen hier im Folgenden grenzüberschreitende Insolvenzen, bei denen sich 4 der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners i. S. von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO in einem Mitgliedstaat der EU befindet und ein Bezug zu mindestens einem weiteren Mitgliedstaat gegeben ist.1) Den Rechtsrahmen der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung stellt in diesen Sachverhalten dann die Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (kurz: EuInsVO)2) auf. Die EuInsVO in ihrer aktuellen Fassung ist nach der Übergangsbestimmung in Art. 84 EuInsVO nur auf solche Insolvenzverfahren anzuwenden, die nach dem 26.6.2017 eröffnet worden sind.3) Ferner gilt für Rechtshandlungen des Schuldners, die vor dem 26.6.2017 vorgenommen worden sind, weiterhin das Recht, das für diese Rechtshandlung anwendbar war, als sie vorgenommen wurde. III.
Modifizierte Universalität nach der EuInsVO
Die grenzüberschreitende Insolvenz ist (auch) im Anwendungsbereich der EuInsVO vom 5 Grundsatz der sog. modifizierten Universalität geprägt.4) 1.
Ausgangspunkt: Universeller Geltungsanspruch
Nach diesem Grundsatz gilt zunächst, dass jedes Insolvenzverfahren im Anwendungs- 6 bereich der EuInsVO einen universellen Geltungsanspruch hat, d. h. keine territoriale Begrenzung ihrer Wirkungen kennt.5) Das Insolvenzverfahren erfasst demnach vor allem auch das ausländische Vermögen des Schuldners, das der Verwalter zu der einen Insolvenzmasse zu ziehen hat. Das ergibt sich in den allermeisten Insolvenzrechten an sich bereits daraus, dass der mit der Verfahrenseröffnung einhergehende Vermögensbeschlag keine räumliche Beschränkung der Insolvenzmasse auf das im Inland belegene Vermögen vorsieht, sondern schlicht das gesamte schuldnerische Vermögen erfasst (vgl. für das deutsche Insolvenzverfahren etwa § 35 InsO).6) 1.1
Durchsetzung des universellen Geltungsanspruchs im Ausland
Die Durchsetzung dieses universellen Geltungsanspruchs im Ausland hängt dann freilich 7 davon ab, ob das deutsche Insolvenzverfahren „grenzüberschreitend“ anerkannt wird oder nicht. Diese Frage ist für grenzüberschreitende Insolvenzsachverhalte im räumlichen An___________ 1)
2)
3) 4) 5) 6)
Zu der Frage, wann ein hinreichender Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat gegeben ist, s. statt vieler Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 1 EuInsVO Rz. 31 ff.; Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 1 EuInsVO Rz. 2 ff. Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren, ABl. (EU) L 141/19 ff. v. 5.6.2015; es handelt sich hierbei um die reformierte Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. (EG) Nr. L 160/1 ff. v. 30.6.2000; zur Reform der EuInsVO s. etwa Thole, ZEuP 2014, 39; Parzinger, NZI 2016, 63. In Fällen früherer Verfahrenseröffnung vor dem 26.6.2017 gilt noch die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. (EG) Nr. L 160/1 ff. v. 30.6.2000. Statt vieler Leonhardt/Smid/Zeuner-Smid, Int. InsR, Art. 3 EuInsVO Rz. 5; Kindler in: MünchKommBGB, Art. 3 EuInsVO Rz. 6 – „kontrollierte Universalität“. Derselbe universelle Geltungsanspruch wird im Übrigen regelmäßig außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO erhoben, so etwa auch von dem deutschen Insolvenzrecht. Hier wird freilich nicht die Universalität i. S. des internationalen Insolvenzrechts mit der Universalität der Beschlagwirkung eins gesetzt, vgl. auch den Hinweis zur Verwendung des Begriffes bei Leonhardt/Smid/ Zeuner-Smid, Int. InsR, Art. 16 EuInsVO Rz. 2.
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wendungsbereich der EuInsVO mit Blick auf die Art. 19 und 20 EuInsVO zu bejahen, die im Schrifttum – zu Recht – regelmäßig als Herzstück der EuInsVO bezeichnet werden:7) x
Nach Art. 19 Abs. 1 EuInsVO wird die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Neben der automatischen Anerkennung der Eröffnungsentscheidung nach Art. 19 EuInsVO, bestimmt Art. 32 EuInsVO die Anerkennung und Vollstreckung weiterer gerichtlicher Entscheidungen, die im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren ergehen.
x
Über die automatische Anerkennung der Verfahrenseröffnung hinaus gilt im Anwendungsbereich der EuInsVO auch der Grundsatz der Wirkungserstreckung. Hiernach entfaltet die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens nach Art. 20 Abs. 1 EuInsVO in jedem anderen Mitgliedstaat die Wirkungen, die das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung dem Verfahren beilegt, ohne dass es hierfür irgendwelcher Förmlichkeiten oder „Transformationsakte“ bedürfte.
1.2
Einheitliche europäische Kollisionsnorm
8 Für das Insolvenzverfahren und seine materiell-rechtlichen Wirkungen gilt nach Art. 7 EuInsVO das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird (lex fori concursus). Der Art. 7 EuInsVO statuiert eine einheitliche europäische Kollisionsnorm für das Insolvenzrecht, die als Sachnormverweisung das jeweilige Internationale Privatrecht der Mitgliedstaaten verdrängt.8) Damit ist ein gewisser Gleichlauf von Verfahrensrecht und anwendbarem materiellen Recht hergestellt. Das Gericht des Staates der Verfahrenseröffnung wendet im Ausgangspunkt sein ihm vertrautes nationales Insolvenzrecht an. Die Frage, welche Regelungsgegenstände ganz konkret unter den Anknüpfungsgegenstand der Grundkollisionsnorm des Art. 7 Abs. 1 EuInsVO (= „das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen“) zu subsumieren sind, ist im Wege der Qualifikation zu beantworten. Dabei geht es häufig um die Abgrenzung von Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht.9) Im Ausgangspunkt hilft hier die Auflistung in Absatz 2 des Art. 7 EuInsVO. Hiernach regelt das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt „insbesondere“: 1. bei welcher Art von Schuldnern ein Insolvenzverfahren zulässig ist; 2. welche Vermögenswerte zur Insolvenzmasse gehören und wie die nach der Verfahrenseröffnung vom Schuldner erworbenen Vermögenswerte zu behandeln sind; 3. die jeweiligen Befugnisse des Schuldners und des Verwalters; 4. die Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Aufrechnung; 5. wie sich das Insolvenzverfahren auf laufende Verträge des Schuldners auswirkt; 6. wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten; 7. welche Forderungen als Insolvenzforderungen anzumelden sind und wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen; ___________ 7) 8) 9)
920
Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 19 EuInsVO Rz. 2 – „Grundnorm der EuInsVO“; Leonhardt/Smid/ Zeuner-Smid, Int. InsR, Art. 16 EuInsVO Rz. 1. Zur Verdrängungswirkung des Art. 7 EuInsVO s. Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 7 EuInsVO Rz. 2 ff. Ausführlich dazu Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 7 EuInsVO Rz. 46 ff.; zur Reichweite des Insolvenzstatuts s. a. Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 7 EuInsVO Rz. 3 ff.
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Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen
§ 24
8. die Anmeldung, die Prüfung und die Feststellung der Forderungen; 9. die Verteilung des Erlöses aus der Verwertung des Vermögens, den Rang der Forderungen und die Rechte der Gläubiger, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgrund eines dinglichen Rechts oder infolge einer Aufrechnung teilweise befriedigt wurden; 10. die Voraussetzungen und die Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich; 11. die Rechte der Gläubiger nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens; 12. wer die Kosten des Insolvenzverfahrens einschließlich der Auslagen zu tragen hat; 13. welche Rechtshandlungen nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen. Die lex fori concursus kommt nach der Grundkollisionsnorm des Art. 7 Abs. 1 EuInsVO 9 aber nur zur Anwendung, soweit die EuInsVO nichts anderes bestimmt. Solche „anderen Bestimmungen“ finden sich vor allem in den Art. 8 bis 18 EuInsVO; zu diesen Ausnahmen von der Grundkollisionsnorm siehe sogleich im Folgenden unter Rz. 35 ff. Dieses Konzept einer einheitlichen europäischen Kollisionsnorm lag der EuInsVO von 10 Beginn an zugrunde, und zwar gemäß Art. 4 EuInsVO a. F. und auch mit entsprechenden „anderen Bestimmungen“ in Art. 5 bis 15 EuInsVO a. F. 1.3
Einheitliche Zuständigkeitsregel: „COMI-Konzept“
Nicht zuletzt wegen der Anknüpfung der Grundkollisionsnorm des Art. 7 EuInsVO an 11 das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung steht die Frage der internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens im Zentrum der grenzüberschreitenden Insolvenz. Die Antwort auf diese Frage gibt Art. 3 Abs. 1 EuInsVO: Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen“ – oder in der englischen Fassung „Center of Main Interests“ (kurz: COMI) – beschäftigt die Rechtsprechung und das Schrifttum seit dem Inkrafttreten der Verordnung am 31.5.2002 bis heute. Die zahlreichen Veröffentlichungen legen von dieser europaweit geführten Diskussion beredt Zeugnis ab.10) Bei Gesellschaften und juristischen Personen hilft im Ausgangspunkt noch die Vermu- 12 tungsregel des Unterabs. 2 Satz 1 von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO. Hiernach wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist. In der Rechtssache Eurofood hatte der EuGH11) (noch zur entsprechenden Rechtslage der 13 EuInsVO 2000) die Leitlinien für die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen“ in Art. 3 Abs. 1 EuInsVO festgelegt. Der EuGH hob bei der Auslegung vor allem ErwG 13 der EuInsVO a. F. (Verordnung (EG) Nr. 1346/2000) hervor, wo es heißt:12) „Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist.”
___________ 10) Vgl. etwa die Zusammenstellung des Schrifttums vor der Kommentierung des Art. 3 EuInsVO von Kindler in: MünchKomm-BGB; s. a. die Hinweise bei Leible in: MünchHdb. GesR, Bd. 6, § 35. 11) EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood IFSC Ltd), ZIP 2006, 907 = NZI 2006, 360. 12) EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood IFSC Ltd), Rz. 32, ZIP 2006, 907 = NZI 2006, 360.
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14 Aus dieser Definition des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen durch den EuGH geht hervor, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist.13) Diese Objektivität und diese Möglichkeit der Feststellung durch Dritte sind nach Ansicht des EuGH erforderlich, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Diese Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit seien umso wichtiger, als die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 7 Abs. 1 EuInsVO die des anwendbaren Rechts nach sich ziehe. Mit der Neufassung der EuInsVO in 2015 wurde dem Art. 3 Abs. 1 ein neugefasster Satz 2 angefügt, in dem sich jetzt der Wortlaut der ErwG 13 der EuInsVO a. F. (Verordnung (EG) Nr. 1346/ 2000) in der Norm selbst wiederfindet. 15 In der Rechtssache Interedil präzisierte der EuGH14) (noch zur entsprechenden Rechtslage der EuInsVO 2000) die Vorgaben aus seiner Eurofood-Entscheidung dahingehend, dass er eine „Gesamtbetrachtung“ für maßgeblich erachtet.15) Der EuGH stärkt aber die Vermutungswirkung des satzungsmäßigen Sitzes nach Absatz 1 Unterabs. 1 Satz 1 des Art. 3 EuInsVO: „Wenn sich die Verwaltungs- und Kontrollorgane einer Gesellschaft am Ort ihres satzungsmäßigen Sitzes befinden und die Verwaltungsentscheidungen der Gesellschaft in durch Dritte feststellbarer Weise an diesem Ort getroffen werden, lässt sich die in dieser Vorschrift aufgestellte Vermutung nicht widerlegen.“
16 Die Vermutung kann nach Auffassung des EuGH indessen widerlegt werden, wenn sich der Ort der Hauptverwaltung einer Gesellschaft aus der Sicht von Dritten nicht am Ort des satzungsmäßigen Sitzes befindet. Zu den für die Bestimmung des Ortes des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners maßgeblichen Umstände gehören dann vor allem alle Umstände, die mit der Entfaltung einer operativen Tätigkeit des Schuldners an einem bestimmten Ort zusammenhängen, wie z. B. der Ort der Belegenheit von Geschäftsräumen, Produktionsstätten oder Warenlagern, der Einsatzort von Arbeitnehmern sowie der Ort der Einrichtung von Geschäftskonten für den Zahlungsverkehr mit Gläubigern.16) 17 Die Neufassung der EuInsVO17) sieht eine weitere Konkretisierung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen in ErwG 28 der EuInsVO vor:18) „Bei der Beantwortung der Frage, ob der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners für Dritte feststellbar ist, sollte besonders berücksichtigt werden, welchen Ort die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, an dem der Schuldner der Verwaltung seiner Interessen nachgeht. Hierfür kann es erforderlich sein, die Gläubiger im Fall einer Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen zeitnah über den neuen Ort zu unterrichten, an dem der Schuldner seine Tätigkeiten ausübt, z. B. durch Hervorhebung der Adressänderung in der Geschäftskorrespondenz, oder indem der neue Ort in einer anderen geeigneten Weise veröffentlicht wird.“
___________ 13) Dazu und zum Folgenden EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood IFSC Ltd), Rz. 33, ZIP 2006, 907 = NZI 2006, 360. 14) EuGH, Urt. v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 (Interedil), ZIP 2011, 2153 = NZI 2011, 990 m. Anm. Mankowski. 15) Dazu auch Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 21; Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 31 und 36; s. a. ErwG 30 EuInsVO, der ebenfalls eine „Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren“ für die Zuständigkeitsentscheidung voraussetzt. 16) Zu den unterschiedlichen Kriterien s. a. Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 25; Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 36. 17) Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren, ABl. (EU) L 141/19 ff. v. 5.6.2015. 18) Bei einer natürlichen Person, die eine selbstständige oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, gilt als Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung; bei allen anderen natürlichen Personen gilt als Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts.
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Die Unterrichtung der Gläubiger über einen Wechsel des Mittelpunkts der hauptsächlichen 18 Interessen („COMI-Shift“) war in der Praxis bereits ebenfalls regelmäßig zu beobachten. Somit ist mit der Ergänzung der Begründungserwägungen keine Neuerung verbunden, nicht einmal ein Gewinn an Rechtssicherheit. In Anlehnung an die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Interedil ist zudem ein 19 neuer ErwG 30 in die Neufassung der EuInsVO aufgenommen worden, der (auszugsweise) wie folgt lautet: „[…] (30) Folglich sollten die Annahmen, dass der Sitz, die Hauptniederlassung und der gewöhnliche Aufenthalt jeweils der Mittelpunkt des hauptsächlichen Interesses sind, widerlegbar sein, und das jeweilige Gericht eines Mitgliedstaats sollte sorgfältig prüfen, ob sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners tatsächlich in diesem Mitgliedstaat befindet. Bei einer Gesellschaft sollte diese Vermutung widerlegt werden können, wenn sich die Hauptverwaltung der Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat befindet als in dem Mitgliedstaat, in dem sich der Sitz der Gesellschaft befindet, und wenn eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Faktoren die von Dritten überprüfbare Feststellung zulässt, dass sich der tatsächliche Mittelpunkt der Verwaltung und der Kontrolle der Gesellschaft sowie der Verwaltung ihrer Interessen in diesem anderen Mitgliedstaat befindet. […]“
Konkreter Maßgaben enthält der ErwG 30 der EuInsVO hinsichtlich des Mittelpunkts 20 der hauptsächlichen Interessen natürlicher Personen: „[…] Bei einer natürlichen Person, die keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, sollte diese Vermutung [gemeint in diesem Kontext: die Vermutung, dass der gewöhnliche Aufenthalt der Mittelpunkt des hauptsächlichen Interesses ist] widerlegt werden können, wenn sich z. B. der Großteil des Vermögens des Schuldners außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Schuldners befindet oder wenn festgestellt werden kann, dass der Hauptgrund für einen Umzug darin bestand, einen Insolvenzantrag im neuen Gerichtsstand zu stellen, und die Interessen der Gläubiger, die vor dem Umzug eine Rechtsbeziehung mit dem Schuldner eingegangen sind, durch einen solchen Insolvenzantrag wesentlich beeinträchtigt würden.“
Diese Konkretisierung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen natürlicher Per- 21 sonen soll dem „Restschuldbefreiungs-Tourismus“ in Europa erschweren. In Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 EuInsVO ist im Zuge der Neufassung der EuInsVO 22 eine weitere Hürde für rechtsmissbräuchliches Forumshopping aufgestellt worden: Die Vermutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer Gesellschaft oder juristischen Person ihr Sitz ist, soll nicht gelten, wenn der Schuldner seinen Sitz in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat. Damit hat der europäische Normgeber erstmals eine „période suspecte“ hinsichtlich der Vermutungsregel zugunsten des Sitzes des Schuldners eingefügt. Dies geht über die bisherige Rechtsprechung des EuGH hinaus, mag auch bisher schon gegolten haben, dass die Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen nicht „ad hoc“ durch Verlegung des Satzungssitzes zu bewerkstelligen war, sondern bereits rein faktisch mehr Zeit in Anspruch genommen hat. Auch im Hinblick auf natürliche Personen, die eine selbständige gewerbliche oder frei- 23 berufliche Tätigkeit ausüben, wurde eine solche „période suspecte“ hinsichtlich der Vermutungsregel eingefügt: Hier wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist. Diese Annahme gilt nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 2 EuInsVO aber nur, wenn die Hauptniederlassung der natürlichen Person nicht in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde. Bei allen anderen natürlichen Personen wird die entsprechende „période suspecte“ sogar 24 noch weiter auf sechs Monate ausgedehnt: Hier gilt im Ausgangspunkt nach Art. 3 Abs. 1
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Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils die Vermutung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der nicht gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Personen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist. Diese Annahme gilt nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 2 EuInsVO jedoch nur, wenn der gewöhnliche Aufenthalt nicht in einem Zeitraum von sechs Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde. 25 Es ist zu erwarten, dass diese neu eingefügte „période suspecte“ hinsichtlich der Vermutungsregel in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 EuInsVO über ihren direkten Anwendungsfall hinaus gewisse Weiterungen zeitigt. Es dürften Sitzverlegungen bzw. Verlegungen der Hauptniederlassung oder des gewöhnlichen Aufenthalts in den Zeiträumen von drei bzw. sogar sechs Monaten vor Antragstellung generell besonders kritisch hinterfragt werden, nicht nur in Bezug auf den Vermutungstatbestand. 26 Besondere Schwierigkeiten macht die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in Konzernsachverhalten.19) Wie eingangs bereits betont gilt auch nach der EuInsVO der Grundsatz „Eine Person, eine Insolvenz, ein Verfahren“, sodass für jede Konzerngesellschaft der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen eigenständig bestimmt werden muss.20) In der Praxis wird der Umstand, dass der Schuldner Teil eines Konzernverbundes ist, freilich nicht völlig ausgeblendet. Vielmehr gelangen zahlreiche Gerichte vor wie nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Eurofood in Konzernsachverhalten zu einer schnellen Widerlegung der Vermutung in Unterabs. 2 des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO und damit im Ergebnis zu einem „Konzerngerichtsstand“ für Mutterund Tochtergesellschaften an ein und demselben Ort.21) 27 Die Neufassung der EuInsVO22) hält an dem Grundsatz „Eine Person, eine Insolvenz, ein Verfahren“ auch für Konzernsachverhalte fest. Sie enthält auch keine Ergänzung des Art. 3 EuInsVO um einen einheitlichen Konzerngerichtsstand.23) Allerdings enthält die Neufassung der EuInsVO in Kapitel V umfassende Maßgaben für Insolvenzverfahren über das Vermögen von Mitgliedern einer Unternehmensgruppe, welche die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den mehreren Insolvenzverwaltern (Art. 56 EuInsVO), zwischen den mehreren Gerichten (Art. 57 EuInsVO) und zwischen den Insolvenzverwaltern und den Gerichten (Art. 58 EuInsVO) betreffen. Ferner wird ein (freiwilliges) GruppenKoordinationsverfahren (Art. 61 bis 77 EuInsVO) zur Verfügung gestellt. 28 Die Vorschriften der neugefassten EuInsVO über die Zusammenarbeit, Kommunikation und Koordinierung i. R. von Insolvenzverfahren über das Vermögen von Mitgliedern einer ___________ 19) Dazu und zum Folgenden auch Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 30 ff.; Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 37. 20) Vgl. zu diesem Grundsatz EuGH, Urt. v. 15.12.2011 – Rs. C-191/10 (Rastelli), ZIP 2012, 183 = NZI 2012, 148 m. Anm. Mankowski. 21) Dazu Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 33 f. Ebenso wie in Deutschland unter extensiver Auslegung des § 3 InsO bei nationalen Konzerninsolvenzen de facto ein „Konzerngerichtsstand“ für Mutter- und Tochtergesellschaften begründet wird, s. zu einem reinen Binnensachverhalt vor allem AG Köln, Beschl. v. 1.2.2008 – 73 IN 682/07 (PIN), ZIP 2008, 982 = ZInsO 2008, 215, dazu EWiR 2008, 595 (K. Müller); ferner die Kontroverse zwischen Knof/Mock, ZInsO 2008, 253; Knof/Mock, ZInsO 2008, 499, und Frind, ZInsO 2008, 261, 263; Frind, ZInsO 2008, 614; mit Auslandsbezug dagegen AG Köln, Beschl. v. 19.2.2008 – 73 IE 1/08 (PIN II), ZIP 2008, 423 = ZInsO 2008, 388, dazu EWiR 2008, 531 (Paulus). 22) Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren, ABl. (EU) L 141/19 ff. v. 5.6.2015. 23) Anders der DiskE des BMJ eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen v. 3.1.2013, der für die deutsche Regelung der Zuständigkeit in § 3 InsO eine Ergänzung um einen Konzerninsolvenzgerichtsstand vorschlägt. Die Regelung findet sich auch in dem nachgefolgten RegE v. 28.8.2013.
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Unternehmensgruppe sollten jedoch nur insoweit Anwendung finden, als Verfahren über das Vermögen verschiedener Mitglieder derselben Unternehmensgruppe in mehr als einem Mitgliedstaat eröffnet worden sind. Ausweislich ErwG 53 der EuInsVO sollte durch die Einführung von Vorschriften über die Insolvenzverfahren von Unternehmensgruppen ein Gericht nicht in seiner Möglichkeit eingeschränkt werden, Insolvenzverfahren über das Vermögen mehrerer Gesellschaften, die derselben Unternehmensgruppe angehören, nur an einem Gerichtsstand zu eröffnen, wenn es feststellt, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Gesellschaften in einem einzigen Mitgliedstaat liegt. In diesen Fällen sollte das Gericht für alle Verfahren ggf. dieselbe Person als Verwalter bestellen können, sofern dies mit den dafür geltenden Vorschriften vereinbar ist. Im Hinblick auf die mannigfaltigen Fragen rund um die Auslegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen in Konzernsachverhalten wird mithin alles beim Alten bleiben. 2.
Modifikationen der Universalität des Hauptverfahrens
Die automatische Anerkennung und Wirkungserstreckung erfährt nun in zweifacher Weise 29 eine Modifikation: x
Zum einen durch die Möglichkeit nach Art. 3 Abs. 2 und 3 EuInsVO neben dem bereits eröffneten Hauptinsolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedstaat ein sog. Sekundärinsolvenzverfahren zu eröffnen. Die Einzelheiten des Sekundärinsolvenzverfahrens sind in Art. 34 ff. EuInsVO geregelt.
x
Zum anderen durch Sonderkollisionsnormen und Sachnormen des europäischen Rechts, insbesondere in den Art. 8 bis 18 EuInsVO.
Diese Modifikationen waren schon in der früheren Fassung der EuInsVO vor ihrer Neu- 30 fassung enthalten. x
Die Möglichkeit neben dem bereits eröffneten Hauptinsolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedstaat ein sog. Sekundärinsolvenzverfahren zu eröffnen, war auch vor der Neufassung in Art. 3 Abs. 2 und 3 EuInsVO a. F. zu finden. Die Einzelheiten des Sekundärinsolvenzverfahrens waren in Art. 27 ff. EuInsVO a. F. geregelt.
x
Die Modifikationen durch Sonderkollisionsnormen und Sachnormen des europäischen Rechts finden sich insbesondere in den Art. 5 bis 15 EuInsVO a. F.
2.1
Sekundärinsolvenzverfahren
Im Falle der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens wird zum Schutz der Interessen 31 der „lokalen Gläubiger“ eine territorial begrenzte Ausnahme zur Universalität des Hauptinsolvenzverfahrens gemacht. Die Anwendung des Rechts des Staates der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens wird insoweit zurückgedrängt, als auf das Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 35 EuInsVO sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht das Recht des Mitgliedstaates Anwendung findet, in dessen Gebiet das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet worden ist (lex fori concursus secundarii). Letztlich gilt auch für das Sekundärinsolvenzverfahren die Aussage der Grundkollisionsnorm nach Art. 7 Abs. 1 EuInsVO, dass nämlich für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des „Staats der Verfahrenseröffnung“ anzuwenden ist.24) Die Wirkungen dieses Sekundärinsolvenzverfahrens sind nach Art. 34 Satz 3 EuInsVO 32 auf das im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners be___________ 24) Vgl. etwa Kindler in: MünchKomm-BGB, Art. 35 EuInsVO Rz. 2: „Art. 35 ist daher an sich überflüssig. Fehlte er, so ergäben sich die dort angeordneten Rechtsfolgen aus Art. 7.“; ebenso A. Schmidt-Knof, EuInsVO, Art. 35 Rz. 1.
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schränkt. Die universelle Wirkungserstreckung des Hauptinsolvenzverfahrens wird mithin nicht schlechterdings in Frage gestellt, sondern lediglich territorial begrenzt. Der Insolvenzbeschlag des Hauptinsolvenzverfahrens, der grundsätzlich das gesamte schuldnerische Vermögen erfasst, wird im Hinblick auf die im Mitgliedstaat des Sekundärinsolvenzverfahrens belegenen Gegenstände überlagert. 33 Dass die Wirkungen des Hauptinsolvenzverfahrens nicht ganz entfallen, zeigt auch der in Art. 49 EuInsVO statuierte Anspruch der Hauptverfahrensmasse gegen die Sekundärverfahrensmasse auf Herausgabe eines eventuellen Überschusses im Sekundärinsolvenzverfahren, der dort verbleibt, nachdem alle festgestellten Forderungen befriedigt sind. Dieser Überschuss wird mithin vom Insolvenzbeschlag des Hauptinsolvenzverfahrens erfasst. Die Regelung mag dogmatisch interessant sein, praktisch dürfte sie aber in den allermeisten Fällen irrelevant sein, weil nach Art. 45 EuInsVO jeder Gläubiger in jedem Sekundärinsolvenzverfahren seine Forderung anmelden kann, mit der Folge, dass eine vollständige Befriedigung in einem Sekundärinsolvenzverfahren regelmäßig ausscheidet.25) 34 Auch die territorial begrenzten Wirkungen eines Sekundärinsolvenzverfahrens werden nach Art. 20 Abs. 2 EuInsVO in den anderen Mitgliedstaaten automatisch anerkannt. Deshalb wirkt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 EuInsVO jegliche Beschränkung der Rechte der Gläubiger, insbesondere eine Stundung oder eine Schuldbefreiung infolge des Hauptinsolvenzverfahrens, hinsichtlich des im Gebiet des Sekundärinsolvenzverfahrens belegenen Vermögens nur gegenüber den Gläubigern, die ihre Zustimmung hierzu erteilt haben. Die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens stellt mithin eine ganz zentrale Weichenstellung für die Koordination grenzüberschreitender Insolvenzverfahren dar und gestaltet nicht zuletzt auch die Rahmenbedingungen der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung um. 2.2
Sonderkollisionsnormen und Sachnormen
35 Eine weitere Modifikation der Universalität des Hauptverfahrens ergibt sich aus verschiedenen Einzelregelungen der EuInsVO, z. B. Art. 8 bis 18 EuInsVO oder Art. 21 Abs. 3 EuInsVO. Hier wird in unterschiedlichen Sonderkollisionsnormen und Sachnormen des europäischen Rechts die grundlegende Kollisionsnorm des Art. 7 Abs. 1 modifiziert. Diese Modifikationen gelten unabhängig von der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens. 36 Im Einzelnen sind folgende Regelungsgegenstände betroffen: x
Dingliche Rechte Dritter (Art. 8 EuInsVO);
x
Aufrechnung (Art. 9 EuInsVO);
x
Eigentumsvorbehalt (Art. 10 EuInsVO);
x
Vertrag über einen unbeweglichen Gegenstand (Art. 11 EuInsVO);
x
Zahlungssysteme und Finanzmärkte (Art. 12 EuInsVO);
x
Arbeitsvertrag (Art. 13 EuInsVO);
x
Wirkung auf eintragungspflichtige Rechte (Art. 14 EuInsVO);
x
Gemeinschaftspatente und -marken (Art. 15 EuInsVO);
x
benachteiligende Handlungen (Art. 16 EuInsVO);
x
Schutz des Dritterwerbers (Art. 17 EuInsVO);
x
Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf anhängige Rechtsstreitigkeiten (Art. 18 EuInsVO).
___________ 25) Ebenso Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 49 EuInsVO Rz. 2.
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Besonders weitgehend ist der Schutz dinglicher Rechte, insbesondere der Kreditsicher- 37 heiten, dem Art. 8 EuInsVO dient. Hiernach werden die Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat im Hinblick auf dingliche Rechte eines Gläubigers oder eines Dritten an körperlichen oder unkörperlichen, beweglichen oder unbeweglichen Gegenständen des Schuldners suspendiert („von der Eröffnung des Verfahrens nicht berührt“), wenn sich der Gegenstand zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet. Der Belegenheitsort ist nach Art. 2 Nr. 9 EuInsVO zu bestimmen.26) Die Reichweite der Rechtsfolge des Art. 8 Abs. 1 EuInsVO („nicht berührt“) ist um- 38 stritten. Klar dürfte sein, dass dingliche Rechte nach Art. 8 Abs. 1 EuInsVO ohne jede Rücksicht auf das Insolvenzrecht des ausländischen Hauptinsolvenzverfahrens durchgesetzt werden. Für die Art und Weise der Durchsetzung kommt es nur auf das Belegenheitsrecht an. Unklar und streitig ist aber, ob bei der Verwertung dinglicher Rechte wenigstens auch die Beschränkungen des jeweiligen Insolvenzrechts des Belegenheitsstaates zu beachten sind.27) Die Frage ist zu verneinen.28) Zur Anwendung etwaiger insolvenzrechtlicher Einschränkungen nach dem Insolvenzrecht am Ort der Belegenheit des dinglichen Rechts kommt es erst, wenn hier ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wurde. Für die grenzüberschreitende Betriebsfortführung von erheblicher Bedeutung ist vor allem 39 Art. 13 EuInsVO. Hiernach gilt für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen Arbeitsvertrag und auf das Arbeitsverhältnis ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, das auf den Arbeitsvertrag anzuwenden ist. Die Sonderkollisionsnorm bezweckt den Schutz des Arbeitnehmers und des Arbeitsverhältnisses vor der Anwendung fremder Rechtsvorschriften. Soweit Art. 13 EuInsVO das Recht des Mitgliedstaats, das auf den Arbeitsvertrag anzuwenden ist, zur Anwendung beruft, ist hiermit wegen des in dieser Frage durch die Verordnung über vertragliche Schuldverhältnisse (Rom I) ebenfalls vereinheitlichten Kollisionsrechts die Richtung klar vorgegeben: Im Ausgangspunkt gilt nach Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO der Vorrang der Rechtswahl i. S. des Art. 3 Rom I-VO. Soweit das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist, unterliegt der Arbeitsvertrag nach Absatz 2 des Art. 8 Rom I-VO dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet (lex loci laboris). Der gewöhnliche Arbeitsort kann dort angenommen werden, wo der Arbeitnehmer fest in einen Betrieb eingegliedert ist, in dem er seine Arbeitsleistung erbringt, oder wo das zeitliche und inhaltliche Schwergewicht der Arbeitnehmertätigkeit verortet werden kann.29) Zu der Reichweite des kollisionsrechtlichen Schutzes für die Rechte und Pflichten aus 40 dem Arbeitsvertrag und auf das Arbeitsverhältnis enthält ErwG 72 der EuInsVO wichtige Hinweise: „Zum Schutz der Arbeitnehmer und der Arbeitsverhältnisse sollten die Wirkungen der Insolvenzverfahren auf die Fortsetzung oder Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie auf die Rechte und Pflichten aller an einem solchen Arbeitsverhältnis beteiligten Parteien durch das gemäß den allgemeinen Kollisionsnormen für den jeweiligen Arbeitsvertrag maßgebliche Recht bestimmt werden. Zudem sollte in Fällen, in denen zur Beendigung von Arbeitsverträgen die Zustimmung eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde erforderlich ist, die Zuständigkeit zur Erteilung dieser Zustimmung bei dem Mitgliedstaat verbleiben, in dem sich eine Nieder-
___________ 26) Zur Bestimmung des Belegenheitsortes s. etwa Thole in: MünchKomm-InsO, Art. 2 EuInsVO Rz. 32 ff. 27) So Bismarck/Schümann-Kleber, NZI 2005, 147, 148; Haas in: FS Gerhardt, S. 319, 329; noch weiter gehend Herchen, ZInsO 2002, 345, 347. 28) Undritz in: HambKomm-InsO, Art. 8 EuInsVO Rz. 13 f.; zum Ganzen ausführlich Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 8 EuInsVO Rz. 25 ff., insbes. Rz. 41 i. V. m. Rz. 27. 29) Statt vieler Martiny in: MünchKomm-BGB, Art. 8 Rom I-VO Rz. 48 ff. m. w. N.
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lassung des Schuldners befindet, selbst wenn in diesem Mitgliedstaat kein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Für sonstige insolvenzrechtliche Fragen, wie etwa, ob die Forderungen der Arbeitnehmer durch ein Vorrecht geschützt sind und welchen Rang dieses Vorrecht gegebenenfalls erhalten soll, sollte das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich sein, in dem das Insolvenzverfahren (Haupt- oder Sekundärverfahren) eröffnet wurde, es sei denn, im Einklang mit dieser Verordnung wurde eine Zusicherung gegeben, um ein Sekundärinsolvenzverfahren zu vermeiden.“
41 Für die zuletzt genannte „Rangfrage“ mit Blick auf Lohnforderungen gelten mithin unverändert Art. 7 Abs. 2 lit. g und lit. i EuInsVO. 42 Der Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitsentgeltausfall bei Insolvenz des Arbeitgebers wird hingegen weder von der Sonderkollisionsnorm des Art. 13 EuInsVO noch von der Grundkollisionsnorm des Art. 7 EuInsVO gewährt. Das Arbeitsentgelt wurde zunächst durch die Richtlinie 80/987/EWG vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers europarechtlich abgesichert, die durch die Richtlinie 2002/74/EWG später geändert wurde. Die Frage, ob dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf Insolvenzgeld zusteht, ist nach Maßgabe der §§ 165 ff. SGB III zu beantworten. Ein Anspruch auf Insolvenzgeld besteht gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB III grundsätzlich, wenn der Arbeitnehmer im Inland beschäftigt war. 43 Die entscheidende Voraussetzung ist ein „inländisches Beschäftigungsverhältnis“.30) Ein solches kann auch bei Arbeitnehmern bejaht werden, die i. S. von § 4 SGB IV ins Ausland entsandt sind, solange der Schwerpunkt des Beschäftigungsverhältnisses im Inland liegt. Liegt nämlich der Schwerpunkt des Beschäftigungsverhältnisses im Inland, so gilt das auch für den arbeitsrechtlichen Entgeltanspruch gegen den inländischen Arbeitgeber. Der anspruchsberechtigte Personenkreis ist jedoch nicht auf im Inland beschäftigte oder i. S. von § 4 SGB IV („Ausstrahlung“) entsandte Arbeitnehmer beschränkt. Nach der Rechtsprechung des BSG31) kann ein Anspruch auf Insolvenzgeld darüber hinaus sogar auch dann bestehen, wenn nicht alle Voraussetzungen einer „Entsendung“ erfüllt sind, so etwa, wenn der Arbeitnehmer im Ausland nur für ein Arbeitsverhältnis im Ausland eingestellt worden ist, ohne einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt zu haben. Da der wesentliche Anknüpfungspunkt der arbeitsrechtliche Entgeltanspruch ist, wird der Arbeitnehmer jedenfalls dann erfasst, wenn insoweit erhebliche Berührungspunkte zur deutschen Rechtsordnung bestehen, aus denen zu folgern ist, dass der Schwerpunkt der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers im Inland liegt. Merkmale hierfür sind ein Arbeitsvertrag mit einem inländischen Unternehmen, Befristung der Auslandstätigkeit, Anwendung deutschen Arbeitsrechts, Vereinbarung des deutschen Gerichtsstandes.32) 44 Satz 3 des § 165 Abs. 1 SGB III stellt klar, dass im Inland beschäftigte Arbeitnehmer auch bei einem ausländischen Insolvenzereignis einen Anspruch auf Insolvenzgeld haben.33) IV.
Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführung
45 Im Hinblick auf die Koordination der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung ist stets zwischen folgenden drei Szenarien zu unterscheiden: x
Grenzüberschreitende Betriebsfortführung in einem einheitlichen Insolvenzverfahren,
___________ 30) Dazu und zum Folgenden s. Gagel-Peters-Lange, SGB II/SGB III, Stand: 1.12.2020, § 165 SGB III Rz. 61 m. w. N. 31) S. etwa BSG, Urt. v. 21.9.1983 – 10 RAr 6/82, Rz. 15, ZIP 1984, 469 = BeckRS 1983, 04054. 32) Gagel-Peters-Lange, SGB II/SGB III, Stand: 1.12.2020, § 165 SGB III Rz. 61 a. E. 33) Vgl. auch Fachliche Weisung Insolvenzgeld der Bundesagentur für Arbeit, Rz. 165.24 (Ausländisches Insolvenzereignis), Stand: 20.12.2018, abrufbar unter https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ ba016429.pdf (Abrufdatum: 9.12.2022).
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Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen
§ 24
x
grenzüberschreitende Betriebsfortführung in einem Haupt- und einem bzw. mehreren Sekundärinsolvenzverfahren und
x
grenzüberschreitende Betriebsfortführung in mehreren Hauptinsolvenzverfahren (klassischer Fall der „Konzerninsolvenz“).
Das zuerst genannte Szenario ist der „einfache“ Fall des Insolvenzverfahrens mit univer- 46 sellem Geltungsanspruch. Bis auf die zuvor genannten Modifikationen durch europäisches Sachrecht gilt hier im grenzüberschreitenden Zusammenhang die zuvor bereits dargestellte automatische Anerkennung und Wirkungserstreckung (siehe oben Rz. 7). 1.
Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren
Die Koordination der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung in einem Hauptinsol- 47 venzverfahren und einem bzw. mehreren territorial begrenzten Sekundärinsolvenzverfahren ist der paradigmatische Fall der Koordination nach der EuInsVO. 1.1
Unterschiedlicher Verfahrenszweck
Das Sekundärinsolvenzverfahren ist dem Hauptinsolvenzverfahren als „Hilfsverfahren“ 48 untergeordnet.34) In manchen Konstellationen, in denen der Schuldner in mehreren Mitgliedstaaten Niederlassungen unterhält, können Sekundärinsolvenzverfahren zu einer Entzerrung und Vereinfachung der Verfahrensabwicklung beitragen.35) Es kann aber auch der umgekehrte Effekt eintreten, dass nämlich eine Zersplitterung der Insolvenzverfahren stattfindet, welche die grenzüberschreitende Betriebsfortführung und letztlich auch die Verwertung des schuldnerischen Vermögens als Ganzes stark behindert (zu entsprechenden Vermeidungsstrategien siehe unten Rz. 118). In den meisten Fällen wird bei näherem Hinsehen erkennbar, dass weniger die „Hilfs- 49 funktion“ des Sekundärinsolvenzverfahrens aus Sicht des Hauptinsolvenzverfahrens im Mittelpunkt steht als seine „Schutzfunktion“ aus Sicht der inländischen Gläubiger. Das Sekundärinsolvenzverfahren bezweckt nämlich den Schutz der inländischen Gläubiger, indem sie von den Wirkungen eines ausländischen Insolvenzverfahrens ausgenommen werden. Ohne heimisches Sekundärinsolvenzverfahren müssten die inländischen Gläubiger die Befriedigung ihrer Forderungen in einem fernen Verfahren unter Geltung eines anderen materiellen Insolvenzrechts in einer fremden Sprache suchen.36) ErwG 40 der EuInsVO betont mit Recht, dass Hauptinsolvenzverfahren und Sekundärin- 50 solvenzverfahren nur dann zu einer effizienten Verwertung der Insolvenzmasse beitragen können, wenn die parallel anhängigen Verfahren koordiniert werden. Die Koordination der Verfahren, insbesondere die Zusammenarbeit der verschiedenen Insolvenzverwalter, erfolgt dabei insbesondere durch eine wechselseitige Informations- und Kooperationspflicht (siehe ausführlich Rz. 82 ff.). Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EuInsVO a. F. musste es sich bei den Sekundärinsolvenzver- 51 fahren um ein Liquidationsverfahren handeln.37) Was unter einem Liquidationsverfahren zu verstehen ist, wurde nach Art. 2 lit. c EuInsVO a. F. durch die in Anhang B der EuInsVO a. F. aufgeführten Verfahren beantwortet. Die Aufnahme im Anhang B der EuInsVO a. F. sprach dafür, dass i. R. eines Sekundärinsolvenzverfahrens ein Insolvenzplanverfahren nach ___________ 34) A. Schmidt-Knof, EuInsVO, Art. 34 Rz. 1; monographisch zum Verhältnis von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren Fehrenbach, Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren. 35) Vgl. ErwG 40 der EuInsVO. 36) So auch die Beschreibung von Kindler in: MünchKomm-BGB, Art. 34 EuInsVO Rz. 4. 37) Kritisch Paulus, EWS 2002, 497, 502.
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§§ 217 ff. InsO zulässig ist. Auch aus Art. 34 Abs. 2 EuInsVO a. F. ließ sich eine Zulässigkeit von Beschränkungen der Gläubigerrechte in einem Sekundärinsolvenzverfahren ableiten.38) 52 Nach der Neufassung der EuInsVO ist die Begrenzung des Verfahrenszwecks eines Sekundärinsolvenzverfahrens auf die Liquidation schlicht aufgegeben worden. 1.2
Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens
53 Die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens stellt nach dem zuvor Gesagten eine ganz zentrale Weichenstellung für die Koordination grenzüberschreitender Insolvenzverfahren dar und gestaltet nicht zuletzt auch die Rahmenbedingungen der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung um. Es fragt sich daher, unter welchen Voraussetzungen ein solches territorial begrenztes Insolvenzverfahren zulässig ist. Die Frage beantwortet Art. 3 Abs. 2 EuInsVO: Die Möglichkeit der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens setzt voraus, dass der Schuldner in dem jeweiligen Mitgliedstaat über eine Niederlassung i. S. von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO verfügt. 54 Der Begriff der Niederlassung ist nach dem EuGH39) dahingehend auszulegen, dass er „[…] die Existenz einer auf die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgerichteten Struktur mit einem Mindestmaß an Organisation und einer gewissen Stabilität erfordert. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte oder von Bankkonten genügt dieser Definition grundsätzlich nicht.“
55 Die Definition der Niederlassung in Art. 2 Nr. 10 EuInsVO wird zudem noch um einen Aspekt erweitert. Hiernach bezeichnet der Ausdruck „Niederlassung“ für die Zwecke der Neufassung der EuInsVO: „[…] jeden Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht oder in den drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens nachgegangen ist, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt“.
56 Neu ist, dass ausdrücklich auch eine wirtschaftliche Aktivität in den drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens hinreichend ist, um eine Niederlassung zu begründen. Damit endet mit der Einstellung des Geschäftsbetriebs nicht auch die Möglichkeit, ein Sekundärinsolvenzverfahren zu eröffnen. 57 Neben einer Niederlassung ist ein Insolvenzantrag weitere Voraussetzung der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens. Antragsberechtigt sind die nach nationalem Recht antragsberechtigten Personen sowie der ausländische Hauptinsolvenzverwalter. Dies gibt Art. 37 EuInsVO40) vor. Umstritten ist, ob das Antragsrecht auch dem Schuldner selbst zusteht. Zweifel an einem Antragsrecht des Schuldners selbst sind begründet, weil mit Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens nach dem jeweiligen nationalen Recht regelmäßig die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners auf den Hauptinsolvenzverwalter überwechselt. 58 Die Insolvenz des Schuldners wird allerdings nach Art. 34 Satz 2 EuInsVO41) nicht (noch einmal) geprüft. Entsprechend ist ein Insolvenzgrund für das Sekundärinsolvenzverfahren nicht darzulegen oder sogar zu beweisen. Insofern ersetzt die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens den Insolvenzgrund für das Sekundärinsolvenzverfahren. Dies kann zur Folge haben, dass auf der Grundlage der Feststellung der Insolvenz nach Maßgabe des ___________ 38) Reinhart in: MünchKomm-InsO, 2. Aufl., Art. 27 EuInsVO Rz. 21. 39) EuGH, Urt. v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 (Interedil), ZIP 2011, 2153 = NZI 2011, 990 m. Anm. Mankowski. 40) Dasselbe galt nach Art. 29 EuInsVO a. F. 41) Dasselbe galt nach Art. 27 Satz 2 EuInsVO a. F.
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Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen
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Rechts des Staates der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens anschließend ein Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet wird, der den Insolvenzgrund des Hauptinsolvenzverfahrens nicht kennt.42) 1.3
Wirkung der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens
Die Niederlassung stellt lediglich eine Eingangshürde vor dem Zugang zum Sekundärinsol- 59 venzverfahren dar, ist im Übrigen aber weitgehend funktionslos. Das zeigt sich vor allem mit Blick auf die Wirkungen des Sekundärinsolvenzverfahrens, die sich nach Art. 34 Satz 3 EuInsVO43) auf das im Gebiet des Mitgliedstaates belegene Vermögen des Schuldners begrenzen. Die Abgrenzung der Aktivmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens vollzieht sich demnach 60 rein territorial, ohne dass es irgendeines Bezuges zur Niederlassung des Schuldners bedürfte. Entscheidend ist allein der Ort, an dem sich ein Vermögensgegenstand befindet i. S. von Art. 2 Nr. 9 EuInsVO. Befindet sich der Vermögengegenstand in dem Mitgliedstaat der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens, fällt er in die Insolvenzmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens. Nach Art. 2 Nr. 9 EuInsVO ist z. B. maßgeblich:44) x
bei körperlichen Gegenständen der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Gegenstand belegen ist,
x
bei Gegenständen oder Rechten, bei denen das Eigentum oder die Rechtsinhaberschaft in ein öffentliches Register einzutragen ist, der Mitgliedstaat, unter dessen Aufsicht das Register geführt wird,
x
bei Forderungen der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der zur Leistung verpflichtete Dritte den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen i. S. von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO hat.
Dasselbe gilt im Hinblick auf die Abgrenzung der Passivmassen. Auch insoweit kommt 61 es nicht auf einen Bezug der im Sekundärinsolvenzverfahren angemeldeten Forderungen zur Niederlassung an. Vielmehr kann hier jeder Gläubiger nach Maßgabe des Art. 45 EuInsVO seine Forderung im Hauptinsolvenzverfahren und in jedem Sekundärinsolvenzverfahren anmelden. Damit der Gläubiger im Wege der Doppel- oder sogar Mehrfachanmeldung keine Sondervorteile erzielt, sieht Art. 23 Abs. 2 EuInsVO eine Quotenanrechnung und einen Ausschüttungsstopp vor.45) 2.
Mehrere Hauptinsolvenzverfahren
Den Konzern und folgerichtig ein Insolvenzverfahren über mehrere rechtlich eigenständige, 62 aber konzernangehörige Gesellschaften kannte die EuInsVO bis zu ihrer Neufassung nicht,46) obwohl die Insolvenz gruppengebundener Unternehmen nachgerade der Prototyp der grenzüberschreitenden Insolvenz ist.47) Seit ihrer Neufassung enthält die EuInsVO in ihrem Kapitel V. (Insolvenzverfahren über das Vermögen von Mitgliedern einer Unternehmensgruppe) und den Art. 57 bis 77 EuInsVO umfangreiche Regelungen für Konzerninsolvenzen. Dass es diese zuvor in der EuInsVO a. F. nicht gegeben hat, nimmt freilich ___________ 42) 43) 44) 45)
A. Schmidt-Knof, EuInsVO, Art. 27 Rz. 12. Dasselbe galt nach Art. 27 Satz 3 EuInsVO a. F. Der Katalog in Art. 2 Nr. 9 EuInsVO enthält noch weitere Gegenstände. Zu den Einzelheiten dieses Modus der Quotenanrechnung s. etwa Undritz in: A. Schmidt, EuInsVO, Art. 23 Rz. 9 ff. m. Beispiel. 46) Zu Überlegungen zum Europäischen Konzerninsolvenzrecht s. Adam/Poertzgen, ZInsO 2008, 281 (Teil 1), 347 (Teil 2); s. für konkret formulierte Änderungsvorschläge zur EuInsVO Hirte, ZInsO 2011, 1788; Hirte, ECFR 2008, 213 ff.; zur parallelen Reformdiskussion in Deutschland ebenfalls Hirte, ZIP 2008, 444. 47) Mankowski, NZI 2004, 450, 452; Eidenmüller, ZHR 169 (2005) 528.
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nicht Wunder, weil schon das Europäische Gesellschaftsrecht „den Konzern“ als Regelungsgegenstand nicht kennt.48) Auch der Begriff des Konzerns ist inhaltlich unklar. Für die Koordination der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung in mehreren parallel eröffneten Hauptinsolvenzverfahren hält die EuInsVO daher auch keinen Regelungsrahmen bereit. Auch die Kooperations- und Unterrichtungspflichten nach Art. 31 EuInsVO a. F. waren allein an den (einen) Hauptinsolvenzverwalter und den (einen) bzw. die (mehreren) Sekundärinsolvenzverwalter adressiert. Die Koordination der mehreren Hauptinsolvenzverfahren hatte hier auf privatautonomer Grundlage zu erfolgen. In sog. Drittstaatensachverhalten wurde zuletzt zum Zwecke der Koordination mehrere Insolvenzverfahren auf das Instrument der Insolvenzverwalterverträge49) zurückgegriffen, die im anglo-amerikanischen Rechtsraum als „protocols“ bekannt sind. Bekanntester Fall ist hier das Verfahren Maxwell Communication Corporation p. l. c., über deren Vermögen sowohl in den USA als auch in England das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.50) Verträge des Insolvenzverwalters sind im Grundsatz nicht hoheitlicher oder öffentlichrechtlicher,51) sondern privatrechtlicher Natur. Dasselbe gilt auch für Insolvenzverwalterverträge. Das auf den materiellen Inhalt anwendbare Recht richtet sich deshalb nach dem Vertragsstatut. Jedenfalls sollte eine Konkretisierung der in Art. 41 ff. EuInsVO enthaltenen Kooperationspflichten zulässig sein.52) Im Übrigen macht die EuInsVO keine Vorgaben. Die Frage danach, wer zum Abschluss solcher Insolvenzverwalterverträge befugt ist, beantwortet sich nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung.53) Der deutsche Insolvenzverwalter hat je nach Inhalt des Insolvenzverwaltervertrages die Zustimmung des Gläubigerausschusses nach § 160 InsO einzuholen. Der Abschluss eines Insolvenzverwaltervertrages dürfte hiernach ohne Zustimmung des Gläubigerausschusses zulässig sein, wenn er lediglich das Procedere der Kommunikation und Information der Insolvenzverwalter untereinander festlegt oder Maßgaben für die gemeinsame Gläubigerinformation aufstellt. Anders ist mit Blick auf die Auflistung in § 160 Abs. 2 InsO aber zu entscheiden, z. B. wenn der Insolvenzverwaltervertrag verbindliche Vorgaben für die Verwertung des Unternehmens als Ganzes oder eines Teilbetriebs enthält.54) Die Neufassung der EuInsVO reagierte auf das dringende praktische Bedürfnis nach einer gesetzlichen Regelung der Koordination der Insolvenzverfahren konzernangehöriger Gesellschaften. Die Neufassung widmet den Insolvenzverfahren über das Vermögen von Mitgliedern einer Unternehmensgruppe ein ganz neues Kapitel V. Flankiert wird dieses neue Kapitel durch eine Ergänzung der Begriffsbestimmungen in Art. 2 EuInsVO um die Definitionen der „Unternehmensgruppe“ und des „Mutterunternehmens“.55) ___________ 48) Vgl. dazu Grundmann, Europ. GesR, Rz. 978 ff. 49) Eidenmüller, ZZP 114 (2001) 3, 5; Ehricke, WM 2005, 397, 403; Ehricke, ZIP 2005, 1104, 1111; s. a. Wittinghofer, Der nationale und internationale Insolvenzverwaltungsvertrag, passim.; für eine Bezeichnung als Kooperationsübereinkommen, s. Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 10 ff. 50) Zu diesem Fall s. etwa Göpfert, ZZPInt 1 (1996) 269 ff.; Westbrook, Fordham L. Rev. 64 (1996) 2531; s. a. Paulus, ZIP 1998, 977, 979 ff., sowie Paulus, RabelsZ 2006, 458, 460 f.; weitere Beispiele für Protocols aus der Praxis stellt das International Insolvency Institute zur Verfügung, abrufbar unter http://www.iiiglobal.org (Abrufdatum: 9.12.2022). 51) So aber etwa Eidenmüller, ZZP 114 (2001) 3, 18. 52) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 12 m. w. N. 53) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 12. 54) Ebenso Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 13. 55) Für die Zwecke der EuInsVO bezeichnet „Unternehmensgruppe“ ein Mutterunternehmen und alle seine Tochterunternehmen und „Mutterunternehmen“ ein Unternehmen, das ein oder mehrere Tochterunternehmen entweder unmittelbar oder mittelbar kontrolliert. Ein Unternehmen, das einen konsolidierten Abschluss gemäß der Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates erstellt, wird als Mutterunternehmen angesehen.
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Kern der neuen Regelungen zur „Konzerninsolvenz“ sind umfassende Pflichten zur Ko- 67 operation und Kommunikation unter den Insolvenzverwaltern (Art. 56 EuInsVO), aber auch eine Kommunikation und Zusammenarbeit unter den Gerichten (Art. 57 EuInsVO) und auch zwischen den Insolvenzverwaltern und den Gerichten (Art. 58 EuInsVO). Schließlich erhalten die Insolvenzverwalter nach der Neufassung der EuInsVO die Mög- 68 lichkeit der Einwirkung auf die jeweiligen Insolvenzverfahren der Unternehmensgruppe (Art. 60 EuInsVO). Die Einwirkungsmöglichkeiten dienen dem Erhalt des Unternehmensverbundes und sollen vor allem eine „konzernweite Sanierung“ ermöglichen. Zu diesem Zweck soll jeder Insolvenzverwalter gehört werden, wenn ein weiteres Insolvenzverfahren über das Vermögen eines anderen Mitglieds derselben Unternehmensgruppe eröffnet worden ist. Die Insolvenzverwalter der konzernangehörigen Gesellschaften sollen sogar die Aussetzung jeder Maßnahme im Zusammenhang mit der Verwertung der Insolvenzmasse in jedem anderen Insolvenzverfahren beantragen können. Die Aussetzung soll nicht zuletzt dazu dienen, die Zeit zu gewinnen, die für die Integration des neu eröffneten Insolvenzverfahrens in ein „konzernweites“ Sanierungskonzept erforderlich ist. Jeder Insolvenzverwalter erhält nämlich nach der Neufassung der EuInsVO das Recht, eine koordinierte Verwaltung und Überwachung des Geschäftsbetriebs zu vereinbaren (vgl. Art. 56 Abs. 2 lit. b EuInsVO) oder einen koordinierten Sanierungsplan abzustimmen (vgl. Art. 56 Abs. 2 lit. c EuInsVO). Die neuen Regelungen für die Insolvenz von Mitgliedern einer Unternehmensgruppe sind 69 zwar sehr zu begrüßen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Regelungen der Konzerninsolvenz nur einen sehr allgemeinen verfahrensmäßigen Rahmen für die Koordination der mehreren Hauptinsolvenzverfahren geben und die inhaltliche Ausgestaltung der so koordinierten Insolvenzverfahren weitgehend offenlassen. So bleibt es eine enorme Herausforderung für die Beteiligten, ein „konzernweites“ Sanierungskonzept unter Beachtung der verschiedenen einschlägigen nationalen Insolvenzrechte aufzustellen, z. B. einen einheitlichen, konzernweiten Insolvenzplan zu erarbeiten. Mit der Neufassung der EuInsVO wurde zudem die Möglichkeit der Eröffnung eines 70 Gruppen-Koordinationsverfahrens ganz neu geschaffen (vgl. Art. 61 bis 83 EuInsVO). Dabei handelt es sich um ein freiwilliges Verfahren, das dem Zweck dienen soll, die effektive Führung der Insolvenzverfahren über das Vermögen der verschiedenen Mitglieder der Gruppe zu erleichtern. Die Initiierung steht jedem Insolvenzverwalter eines jeden Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Mitglieds der Unternehmensgruppe frei. Kern des Gruppen-Koordinationsverfahrens ist die Bestellung eines sog. Koordinators, der einen Gruppen-Koordinationsplan vorschlägt. Der Koordinator darf nach Art. 71 Abs. 2 EuInsVO keiner der Verwalter sein, die für ein Mitglied der Gruppe bestellt sind, und es darf kein Interessenkonflikt hinsichtlich der Mitglieder der Gruppe, ihrer Gläubiger und der für die Mitglieder der Gruppe bestellten Verwalter vorliegen. Der Gruppen-Koordinationsplan soll einen umfassenden Katalog geeigneter Maßnahmen 71 für einen integrierten Ansatz zur Bewältigung der Insolvenz der Gruppenmitglieder festlegen, beschreiben und empfehlen. Der Plan kann nach Art. 72 Abs. 1 lit. b EuInsVO insbesondere Vorschläge enthalten zu x
den Maßnahmen, die zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Solvenz der Gruppe oder einzelner Mitglieder zu ergreifen sind;
x
der Beilegung gruppeninterner Streitigkeiten in Bezug auf gruppeninterne Transaktionen und Anfechtungsklagen;
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Vereinbarungen zwischen den Verwaltern der insolventen Gruppenmitglieder.
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72 Allerdings ist der Gruppen-Koordinationsplan ebenso wenig verbindlich wie die Teilnahme an dem Gruppen-Koordinationsverfahren insgesamt. Nach Art. 70 Abs. 2 EuInsVO ist ein Verwalter nicht verpflichtet, den Empfehlungen des Koordinators oder dem GruppenKoordinationsplan ganz oder teilweise Folge zu leisten. 73 Ob die Durchführung eines Gruppen-Koordinationsverfahrens ein probates Mittel zur Bewältigung von Insolvenzen gruppengebundener Unternehmen sein kann, muss die Praxis zeigen. Allerdings bestehen Zweifel, da die Durchführung sehr aufwändig ist, nicht zuletzt die Aufstellung eines Gruppen-Koordinationsplans durch einen bislang nicht involvierten Koordinator, der nicht einmal mit der vollen Unterstützung durch alle beteiligten Insolvenzverwalter rechnen kann, erscheint als eine nur in besonders gelagerten Fällen lösbare Herkulesaufgabe. In der Praxis dürften insbesondere x
die bereits bei Antragstellung geforderte Darstellung der geschätzten Kosten der vorgeschlagenen Gruppen-Koordination und eine Schätzung des von jedem Mitglied der Gruppe zu tragenden Anteils dieser Kosten nur schwer zu liefern sein und
x
die vom Insolvenzgericht geforderte Feststellung, dass nicht zu erwarten ist, dass ein Gläubiger eines Mitglieds der Gruppe, das voraussichtlich am Verfahren teilnehmen wird, durch die Einbeziehung dieses Mitglieds in das Verfahren finanziell benachteiligt wird, nur schwer zu treffen sein.
V.
Öffentliche Bekanntmachungen
74 Nach Art. 28 Abs. 1 EuInsVO ist auf Antrag des Insolvenzverwalters in jedem anderen Mitgliedstaat der wesentliche Inhalt der Entscheidung über die Verfahrenseröffnung entsprechend den Bestimmungen des jeweiligen Staates für öffentliche Bekanntmachungen zu veröffentlichen. In dieser fakultativen Bekanntmachung ist anzugeben, welcher Insolvenzverwalter bestellt wurde und ob es sich um ein Haupt- oder ein Sekundärinsolvenzverfahren handelt. 75 Darüber hinaus kann die öffentliche Bekanntmachung der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens auch obligatorisch sein. So kann nach Art. 29 Abs. 1 EuInsVO jeder Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Schuldner eine Niederlassung besitzt, die obligatorische Bekanntmachung vorsehen. In diesem Fall hat der Verwalter oder jede andere hierzu befugte Stelle des Mitgliedstaats, in dem das Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wurde, die für diese Bekanntmachung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die für eine Bekanntmachungspflicht vorausgesetzte nationale Regelung findet sich für Deutschland etwa in Art. 102c § 7 EGInsO. 76 Die Neufassung der EuInsVO hat sich zudem die Verbesserung der Transparenz auf die Fahne geschrieben. Im Mittelpunkt steht hier die Einrichtung von elektronischen Insolvenzregistern (vgl. Art. 24 EuInsVO) und deren europaweite Vernetzung (vgl. Art. 25 EuInsVO). VI.
Grenzüberschreitende Befugnisse des Insolvenzverwalters
77 Die automatische Anerkennung und Wirkungserstreckung wird durch Art. 21 EuInsVO flankiert, der die „grenzenlosen“ Befugnisse des Insolvenzverwalters ausdrücklich vorsieht.56) Der Insolvenzverwalter des Hauptinsolvenzverfahrens darf im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats alle Befugnisse ausüben, die ihm nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung zustehen. Er kann nach Satz 2 des Art. 21 Abs. 1 EuInsVO insbesondere vorbe___________ 56) Art. 21 EuInsVO ist eine Sachnorm des europäischen Rechts, so der Hinweis etwa auch von Uhlenbruck-Knof, InsO, Art. 21 EuInsVO Rz. 2.
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haltlich der Art. 8 und Art. 10 EuInsVO die zur Masse gehörenden Gegenstände aus dem Gebiet des Mitgliedstaats entfernen, in dem sich die Gegenstände befinden. Als Nachweis der Verwalterstellung ist nach Maßgabe des Art. 22 EuInsVO eine be- 78 glaubigte Abschrift der Entscheidung des Gerichts über die Bestellung oder auch eine andere von dem Gericht ausgestellte Bescheinigung ausreichend. Die Praxis zeigt, dass die niedrige Nachweisschwelle des Art. 22 EuInsVO noch nicht in allen Mitgliedstaaten „gelebt“ wird, sondern je nach den örtlichen Gepflogenheiten etwa noch Beschlüsse mit Apostille oder weitere Dokumente eingefordert werden.57) Jedenfalls sollte sich der Hauptinsolvenzverwalter frühzeitig um eine Übersetzung des Nachweises über seine Bestellung in alle Amtssprachen der Mitgliedstaaten bemühen, zu denen sein Insolvenzverfahren einen Kontakt hat.58) Die Übersetzung sollte in Anlehnung an Art. 57 Abs. 3 EuGVVO von einer in dem Mitgliedstaat befugten Person beglaubigt werden.59) Die Regel der „grenzüberschreitenden Befugnis“ des Hauptinsolvenzverwalters nach 79 Maßgabe der lex fori concursus kennt allerdings zwei Einschränkungen, wenn nämlich x
Verwertungshandlungen oder Befugnisse zur Streitentscheidung in Rede stehen oder
x
in einem anderen Mitgliedstaat ein Sekundärinsolvenzverfahren beantragt und daraufhin Sicherungsmaßnahmen erlassen werden oder das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wird.
Im Fall der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens und der Bestellung eines Sekun- 80 därinsolvenzverwalters stellt sich mit Blick auf die Befugnisse der Insolvenzverwalter die Abgrenzungsaufgabe. Der Sekundärinsolvenzverwalter nimmt seine Befugnisse nach Maßgabe der lex fori concursus secundarii zunächst eigenständig wahr, nur eben territorial begrenzt. Unabhängig von der einschlägigen lex fori concursus secundarii räumt Art. 21 Abs. 2 EuInsVO dem Sekundärinsolvenzverwalter zudem die Befugnis ein, in jedem anderen Mitgliedstaat (auch dem der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens) gerichtlich und außergerichtlich geltend zu machen, dass ein beweglicher Gegenstand nach der Eröffnung „seines“ Sekundärinsolvenzverfahrens aus dem Gebiet des Staates der Verfahrenseröffnung in das Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats verbracht worden ist. Des Weiteren kann er eine den Interessen der Gläubiger dienende Anfechtungsklage erheben. Allerdings muss die Ausübung der Befugnisse, die den verschiedenen Insolvenzverwaltern 81 nach der jeweiligen lex fori eingeräumt sind, im Fall der grenzüberschreitenden Sachverhalte aufeinander abgestimmt werden. Zu dieser Kooperation der Insolvenzverwalter siehe sogleich Rz. 82 ff. VII. Kooperation der Insolvenzverwalter Die Koordination der Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren erfolgt insbesondere durch 82 eine wechselseitige Informations- und Kooperationspflicht der verschiedenen Insolvenzverwalter.60) 1.
Informationspflichten
Nach Art. 41 EuInsVO besteht für den Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens und für 83 die Verwalter der Sekundärinsolvenzverfahren die Pflicht zur gegenseitigen Unterrichtung. Sie haben nach Art. 41 Abs. 2 EuInsVO einander „so bald wie möglich“ alle Informationen ___________ 57) 58) 59) 60)
S. dazu A. Schmidt-Undritz, EuInsVO, Art. 22 Rz. 4. Eine solche Übersetzung kann nach Satz 2 des Art. 22 EuInsVO ohnehin verlangt werden. A. Schmidt-Undritz, EuInsVO, Art. 22 Rz. 3. Dazu und zum Folgenden s. a. Ehricke, WM 2005, 397; Staak, NZI 2004, 480.
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mitzuteilen, die für das jeweilige andere Verfahren von Bedeutung sein können, insbesondere den Stand der Anmeldung und der Prüfung der Forderungen sowie alle Maßnahmen zur Beendigung eines Insolvenzverfahrens.61) 84 Die in Art. 41 Abs. 2 lit. a EuInsVO geforderte „Unverzüglichkeit“ der Information ist autonom auszulegen. Es kann nicht auf die in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB enthaltene Legaldefinition der Unverzüglichkeit als ein Handeln „ohne schuldhaftes Zögern“ und deren Konkretisierung durch die Rechtsprechung in Deutschland zurückgegriffen werden.62) Eine pauschale Bestimmung der Unverzüglichkeit verbietet sich. Vielmehr bemisst sich das Zeitfenster im Einzelfall vor allem nach dem konkreten Gegenstand der Information und nach dem Bezug zum jeweiligen Insolvenzverfahren. Klar dürfte insofern sein, dass übergeordnete, verfahrensleitende Umständen (z. B. bevorstehender Unternehmensverkauf) von den jeweiligen Insolvenzverwaltern eine zügigere Information verlangen als rein territorial begrenzte Sachverhalte. Der Umstand, dass eine Übersetzung erforderlich ist, darf in einem immer weiter fortentwickelten Binnenmarkt keine wesentliche Verzögerung hervorrufen. 85 Die Folgen einer Nichtbeachtung der Pflicht aus Art. 41 Abs. 1 und 2 EuInsVO ist in der EuInsVO nicht normiert. Maßgeblich ist folglich das nach Art. 7 Abs. 1 EuInsVO bzw. Art. 35 EuInsVO anzuwendende Recht des Staates der Verfahrenseröffnung. Nach deutschem Insolvenzrecht dürfte die Pflicht zur wechselseitigen Information eine Pflicht i. S. des § 60 InsO sein, deren schuldhafte Verletzung zur persönlichen Haftung des Insolvenzverwalters führt. Das ist nicht zweifelsfrei, weil § 60 InsO von der Verletzung einer Pflicht „nach diesem Gesetz“ spricht und damit die InsO meint.63) Eine europarechtskonforme Auslegung des § 60 InsO führt aber zu dem Ergebnis, dass § 60 InsO auch auf Verletzung von Pflichten anzuwenden ist, die ihren Ursprung in der EuInsVO haben, die in jedem Mitgliedstaat unmittelbar anwendbares Recht darstellt. 2.
Einwirkungsmöglichkeiten des Hauptinsolvenzverwalters
86 Über die Pflicht zur wechselseitigen Information hinaus ist die Grundordnung der Koordination der Hauptinsolvenzverfahren und Sekundärinsolvenzverfahren aber durch ein Über-/Unterordnungsverhältnis gekennzeichnet. Die dominierende Rolle des Hauptinsolvenzverfahrens wird vor allem durch mehrere Einwirkungsmöglichkeiten des Hauptinsolvenzverwalters auf gleichzeitig anhängige Sekundärinsolvenzverfahren sichergestellt.64) 87 Der Verwalter eines Sekundärinsolvenzverfahrens hat nach Art. 41 Abs. 2 lit. c EuInsVO dem Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens zu gegebener Zeit Gelegenheit zu geben, Vorschläge für die Verwertung oder Verwendung der Masse des Sekundärinsolvenzverfahrens zu unterbreiten. In dieser Regelung zeigt sich der „dienende Charakter“ der Sekundärinsolvenzverfahren. Allerdings ist der Grad der Verbindlichkeit der Vorschläge des Hauptinsolvenzverwalters unklar.65) 88 Die Vorschläge des Hauptinsolvenzverwalters für die Verwertung oder Verwendung der Masse des Sekundärinsolvenzverfahrens haben keinen Weisungscharakter, insbesondere ein Weisungsrecht des Hauptinsolvenzverwalters kann dem Art. 41 Abs. 2 lit. c EuInsVO nicht entnommen werden. Der Sekundärinsolvenzverwalter wird sich aber auch nicht ohne weiteres über einen Vorschlag des Hauptinsolvenzverwalters zur Verwertung oder Verwendung der Masse des Sekundärinsolvenzverfahrens hinwegsetzen dürfen. Denn die Verweigerung ___________ 61) 62) 63) 64) 65)
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Dasselbe galt nach Art. 31 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO a. F. Zum Ganzen auch Mankowski/Müller/J. Schmidt-Mankowski, EuInsVO, Art. 41 Rz. 25. Zu dieser Problematik s. A. Schmidt-Tschentscher, EuInsVO, Art. 41 Rz. 19 und insb. Fn. 35. Vgl. ErwG 20 der EuInsVO. Keine Bindungswirkung: A. Schmidt-Tschentscher, EuInsVO, Art. 41 Rz. 13.
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einer nachgewiesener Maßen besseren Verwertungsmöglichkeit durch den Sekundärinsolvenzverwalter kann eine Schadenersatzpflicht nach Maßgabe des jeweils anzuwenden Rechts des Staates der Verfahrenseröffnung begründen.66) In den Fällen, in denen der Sekundärinsolvenzverwalter einen Gegenstand verwerten möchte, 89 der für die Betriebsfortführung dringend erforderlich ist, kann der Hauptinsolvenzverwalter die avisierte Verwertung sogar nach Art. 46 EuInsVO aussetzen lassen. Die Aussetzung der Verwertung von Gegenständen der Insolvenzmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens soll den drohenden „Zerschlagungsmechanismus“67) dieses Verfahrens stoppen. Die Aussetzung gewährt dem Hauptinsolvenzverwalter gemäß Art. 46 Abs. 1 Satz 4 EuInsVO (höchstens) drei Monate Zeit, wobei die Frist nach Satz 4 für denselben Zeitraum einmal verlängert werden kann. Die „Schonfrist“ dient der Entwicklung alternativer Verwertungsszenarien, insbesondere kann sie die Fortführung des Betriebes bis zu einer sog. übertragenden Sanierung des schuldnerischen Unternehmens als Ganzes bezwecken. In dem zuletzt genannten Fall richtet sich die Aussetzung nach Art. 46 Abs. 1 EuInsVO dann gegen Stilllegungsmaßnahmen des Geschäftsbetriebs durch den Sekundärinsolvenzverwalter. Die Aussetzung der Verwertung ordnet das nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO zuständige Gericht 90 auf Antrag des Hauptinsolvenzverwalters an.68) Die Voraussetzungen der Aussetzung der Verwertung sind nicht besonders streng. Nach Art. 46 Abs. 1 Satz 3 EuInsVO kann der Antrag des Hauptinsolvenzverwalters nur abgelehnt werden, wenn die Aussetzung offensichtlich für die Gläubiger des Hauptinsolvenzverfahrens nicht von Interesse ist. Die Offensichtlichkeit begründet den Ausnahmecharakter der Ablehnung.69) Da die Aussetzung der Verwertung an keine strengen Voraussetzungen geknüpft ist, steht 91 dem zuständigen Gericht das Recht zu, vom Hauptinsolvenzverwalter alle angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Gläubiger des Sekundärinsolvenzverfahrens sowie einzelner Gruppen von Gläubigern zu verlangen. Schließlich kann das Gericht nach Maßgabe des Abs. 2 des Art. 46 EuInsVO die Aussetzung 92 der Verwertung auch wieder aufheben: x
auf Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens,
x
von Amts wegen, auf Antrag eines Gläubigers oder auf Antrag des Verwalters des Sekundärinsolvenzverfahrens, wenn sich herausstellt, dass diese Maßnahme insbesondere nicht mehr mit dem Interesse der Gläubiger des Haupt- oder des Sekundärinsolvenzverfahrens zu rechtfertigen ist.
3.
Exkurs: Eigenverwaltung im Sekundärinsolvenzverfahren
Die Möglichkeit der Anordnung der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO besteht 93 grundsätzlich auch im grenzüberschreitenden Kontext.70) Mit Blick auf ein Sekundärinsolvenzverfahren stellt sich allerdings die Frage, ob der Insolvenzverwalter des Hauptinsolvenzverfahrens als „eigenverwaltender Schuldner“ des Sekundärinsolvenzverfahrens angesehen werden kann. Bejaht man die Frage, wird der Hauptinsolvenzverwalter zum Träger einer „Doppelrolle“, die für die einheitliche Verfahrensabwicklung im Einzelfall erhebliche ___________ 66) Zur nicht ganz unproblematischen Anwendung des § 60 InsO mit Blick auf Pflichten nach Maßgabe der EuInsVO s. o. Rz. 85. 67) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 46 EuInsVO Rz. 1. 68) Ausführlich zum Verfahren s. A. Schmidt-Undritz, EuInsVO, Art. 46 Rz. 2 ff. 69) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 46 EuInsVO Rz. 7. 70) Zum Ganzen statt vieler Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 34 EuInsVO Rz. 44; ausführlich auch Beck, NZI 2006, 609, 616 ff.
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Vorteile mit sich bringen kann.71) Das AG Köln ging in der Rechtssache Automold von der Zulässigkeit der Anordnung der Eigenverwaltung im Sekundärinsolvenzverfahren aus und hat den englischen „Joint Administrators“ des Hauptinsolvenzverfahrens auf diesem Wege auch eine Verwaltung der „Sekundärmasse” ermöglicht.72) Das AG Köln begründete diesen Weg ausdrücklich mit dem Bestreben „[…] die Schwierigkeiten, die sich aus der unterschiedlichen Ausrichtung eines Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahrens ergeben können, zu reduzieren”.
94 Diese Konstruktion kann jedoch ohne Frage Interessenkonflikte mit sich bringen, die dem Sinn und Zweck der Sekundärinsolvenzverfahren, die ja gerade dem Schutz der „lokalen“ Interessen dienen sollen, zuwiderlaufen. Überdies deuten die Vorschriften der Art. 45 ff. EuInsVO darauf hin, dass die EuInsVO von einer jeweils eigenständigen Tätigkeit der Insolvenzverwalter in jedem grenzüberschreitendem Insolvenzverfahren ausgeht. Diese Grenzziehung zwischen „lokalen“ Interessen und Interessen des Hauptinsolvenzverfahrens droht durch eine Anordnung der Eigenverwaltung im Sekundärinsolvenzverfahren verwischt zu werden. Vor diesem Hintergrund lehnen es einige Stimmen auch ab, dass der Hauptinsolvenzverwalter durch die Anordnung der Eigenverwaltung im Sekundärinsolvenzverfahren eine „Doppelrolle“ einnimmt.73) 95 Die Kritik an der Zulässigkeit der Eigenverwaltung darf nicht übersehen, dass die Eigenverwaltung nach nationalem Insolvenzrecht nicht voraussetzungslos angeordnet wird. Sie scheidet vielmehr aus, wenn Nachteile für die Gläubiger drohen (vgl. § 270 InsO). Auch nach der Anordnung sind die Interessen der lokalen Gläubiger noch hinreichend geschützt, weil zum einen ein Sachwalter den eigenverwaltenden Hauptinsolvenzverwalter überwacht und zum anderen das Insolvenzgericht auf Antrag auch einzelner Gläubiger anordnen kann, dass bestimmte Rechtsgeschäfte nur mit Zustimmung des Sachwalters abgeschlossen werden dürfen. Schließlich kann das Insolvenzgericht nach Maßgabe des § 272 InsO die Eigenverwaltung auch wieder aufheben. VIII. Kooperation der Insolvenzgerichte 96 Zu der Frage der Kooperation der Insolvenzgerichte in grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren enthielt sich die EuInsVO bis zu ihrer Neufassung.74) Eine analoge Anwendung der Pflicht der Insolvenzverwalter zur Kooperation und Unterrichtung nach Art. 31 EuInsVO a. F. auf die Insolvenzgerichte sollte nicht in Betracht kommen.75) Die fehlende Pflicht zur Kommunikation schließt das Recht bzw. die Möglichkeit zur Kommunikation selbstverständlich nicht aus.76) 97 Nicht bindende Maßgaben für die Kooperation der Insolvenzgerichte hat INSOL Europe unter Federführung von Miguel Virgos und Bob Wessels entworfen und in einer entsprechenden „Guideline“ veröffentlicht, den European Communication and Cooperation Guidelines for Cross-Border Insolvency (kurz: CoCo-Guidelines). Hier konkretisiert Guide___________ 71) Für die Zulässigkeit der Anordnung einer Eigenverwaltung im Sekundärinsolvenzverfahren etwa MeyerLöwy/Poertzgen, ZInsO 2004, 195; Smid, DZWIR 2004, 397, 406 ff. 72) AG Köln, Beschl. v. 23.1.2004 – 71 IN 1/04 (Automold), ZIP 2004, 471 = NZI 2004, 151. 73) Beck, NZI 2006, 609, 616 f.; Eidenmüller, NJW 2004, 3455, 3458. 74) Eingehend zur Problematik der Kooperationspflicht zwischen Insolvenzgerichten schon vor der Neufassung der EuInsVO: Ehricke, ZIP 2007, 2395; Vallender in: FS Lüer, S. 479, 480. 75) Zur früheren Rechtslage Kindler in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl., Art. 31 EuInsVO Rz. 8. 76) Eidenmüller, IPRax 2001, 2, 9; Ehricke in: FS 75 Jahre Max-Planck-Institut, S. 337, 348. Erste Ansätze der Aufnahme der Kommunikation zwischen den Gerichten finden sich etwa in dem Insolvenzverfahren in der Rechtssache „Nortel“, vgl. High Court of Justice London, Beschl. v. 11.2.2009 – (2009) EWHC 206 (Ch), ZIP 2009, 578 = NZI 2009, 450 m. krit. Anm. Mankowski.
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line 16 i. S. einer nicht bindenden „best practice“ den Rahmen der Kooperation und Kommunikation der Gerichte in grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren.77) Nach der Neufassung der EuInsVO wurde die Kommunikation und Zusammenarbeit 98 unter Gerichten als Regelungsgegenstand in die Verordnung aufgenommen. Nach Art. 42 EuInsVO soll ein Gericht, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befasst ist oder das ein solches Verfahren eröffnet hat, mit jedem anderen Gericht, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befasst ist oder das ein solches Verfahren eröffnet hat, zusammenarbeiten, um die Koordinierung von Hauptinsolvenzverfahren, Partikularverfahren und Sekundärinsolvenzverfahren über das Vermögen desselben Schuldners zu erleichtern. Die Zusammenarbeit steht allerdings ausdrücklich unter dem Vorbehalt, dass sie nach den für jedes dieser Verfahren geltenden nationalen Vorschriften zulässig ist. Ebenso sollen nach Art. 43 EuInsVO die Insolvenzverwalter und die Gerichte zum Zwecke 99 der Koordinierung von Hauptinsolvenzverfahren, Partikularverfahren und Sekundärinsolvenzverfahren über das Vermögen desselben Schuldners zukünftig enger zusammenarbeiten. Details lässt die Regelung indes weitgehend offen. IX.
Ausübung von Wahlrechten
Das Recht des Staates der Eröffnung des Haupt- bzw. Sekundärinsolvenzverfahrens ent- 100 scheidet nach Art. 7 Abs. 2 lit. e EuInsVO darüber, wie sich das Insolvenzverfahren auf laufende Verträge des Schuldners auswirkt. Gewährt das jeweils einschlägige nationale Recht dem Insolvenzverwalter besondere Wahlrechte (im deutschen Recht z. B. nach §§ 103 ff. InsO) stellt sich in der Konstellation, dass ein Hauptinsolvenzverfahren und mehrere Sekundärinsolvenzverfahren über das Vermögen einer (juristischen) Person eröffnet wurde, die Frage nach der Befugnis zur Ausübung dieser Wahlrechte.78) Rechtlich sind die Verträge dem Schuldner als (juristische) Person zugeordnet. Im Fall der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens muss die Zuordnung anders erfolgen, und zwar zum Hauptinsolvenzverfahren oder zu der territorial begrenzten Vermögensmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens. Die Zuordnung beiderseits noch nicht vollständig erfüllter Verträge erfolgt nach Maßgabe der allgemeinen Regeln der Vermögensbelegenheit nach Art. 2 Nr. 9 EuInsVO.79) Im Ergebnis dürfte sich die Belegenheit des schwebenden Vertrages nach der Maßgabe für die Belegenheit von Forderungen bestimmen, also danach, wo die andere Vertragspartei den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen i. S. von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO hat. Es wird hier nicht übersehen, dass auch nach dieser Zuordnung die Befugnis zur Ausübung 101 des Wahlrechts in den „falschen Händen“ liegen kann, wenn über die weitere Erfüllung des Vertragsverhältnisses nicht der Insolvenzverwalter zu befinden hat, dessen Haupt- bzw. Sekundärinsolvenzverfahren auch den entsprechenden wirtschaftlichen Wert der Erfüllung erlangen würde, wenn also z. B. der Hauptinsolvenzverwalter das Erfüllungswahlrecht im Hinblick auf Zulieferungsverträge auch für die Produktionsstätten des Schuldners in unterschiedlichen Niederlassungsstaaten hat. Der Koordinationsbedarf bleibt daher unverändert groß. Vor jeder Ausübung eines Wahlrechts ist die mögliche Betroffenheit des Hauptinsolvenzverfahrens oder eines anderen Sekundärinsolvenzverfahrens zu prüfen und ggf. eine Abstimmung mit dem Insolvenzverwalter des jeweiligen Verfahrens herbeizuführen. ___________ 77) S. a. Vallender, IILR 2011, 309; Fletcher/Wessels, IILR 2013, 2. 78) Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 34 EuInsVO Rz. 50. 79) Uhlenbruck-Hermann, InsO, Art. 34 EuInsVO Rz. 50, der auf die vertragscharakteristische Leistung schaut; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 34 EuInsVO Rz. 35, verweist auf Art. 2 Nr. 9 Ziff. viii EuInsVO und mithin auf den Mittelpunkt der Interessen der anderen Vertragspartei.
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§ 24 X.
Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung Austauschverträge zwischen den Verfahren
102 In den Konstellationen der grenzüberschreitenden Betriebsfortführung findet in aller Regel auch ein grenzüberschreitender Austausch von Lieferungen und Leistungen zwischen mehreren Betriebsstätten des Schuldners statt.80) Rechtlich liegt dem regelmäßig kein Austauschvertrag zugrunde, weil der Niederlassung die eigenständige Rechtspersönlichkeit fehlt. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ändert hieran regelmäßig nichts, weil den verschiedenen Vermögensmassen keine Rechtspersönlichkeit zukommt, insbesondere sind die Insolvenzmassen keine juristischen Personen. Gleichwohl kann eine Gegenleistung als Vermögensausgleich vereinbart werden. Eine solche Vereinbarung ist jedenfalls von der Kooperationspflicht in Art. 41 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO gedeckt.81) Die Neufassung der EuInsVO nennt ausdrücklich den Abschluss von „Vereinbarungen und Verständigungen“ als gangbaren Weg der Zusammenarbeit zwischen den Insolvenzverwaltern (vgl. Art. 41 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO n. F.). XI.
Masseverbindlichkeiten aus grenzüberschreitender Betriebsfortführung
103 Wenn das schuldnerische Unternehmen in der Insolvenz fortgeführt wird, entstehen während der Betriebsfortführung durch Handlungen des Insolvenzverwalters und auch aus gegenseitigen Verträgen, deren Erfüllung unverändert zur Insolvenzmasse verlangt wird (zur Ausübung des Wahlrechts siehe oben Rz. 100), kontinuierlich neue Verbindlichkeiten. Nicht zuletzt laufen auch die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer während der Betriebsfortführung weiter. Diese Forderungen aus der Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind regelmäßig vorrangig aus der Insolvenzmasse zu befriedigen. Der Rang solcher Forderungen, die im Zusammenhang mit der Betriebsfortführung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet werden, ergibt sich im Ausgangspunkt gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. i EuInsVO nach Maßgabe der lex fori concursus. Bei einer Verfahrenseröffnung in Deutschland ergibt sich der Vorrang solcher „Fortführungskosten“ aus ihrer Einordnung als „sonstige Masseverbindlichkeiten“ i. S. des § 55 Abs. 1 InsO. 104 Die Behandlung derartiger Masseverbindlichkeiten im Fall der späteren Eröffnung eines Sekundärverfahrens stellt ein besonderes Problem der Koordination von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren dar.82) Es geht beispielhaft um folgende Fallkonstellation:83) Der Schuldner hat den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in England, wo auch das Hauptinsolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO eröffnet wird. In Deutschland unterhält der Schuldner eine unselbständige Niederlassung. Die Produktionstätigkeit am Ort der Niederlassung wird zunächst vom englischen Insolvenzverwalter unverändert fortgeführt, sodass neue Verbindlichkeiten begründet werden. Einen Monat später wird ein Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO in Deutschland eröffnet. 105 Nach wohl überwiegender Auffassung sind in diesem Fall drei (fiktive) Vermögensmassen zu bilden:84) x
Vermögensmasse 1: Die erste Vermögensmasse bildet das, vom universellen Geltungsanspruch des Hauptinsolvenzverfahrens erfasste, gesamte Vermögen des Schuldners
___________ 80) Dazu und zum Folgenden Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 34 EuInsVO Rz. 35 ff. 81) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 31 EuInsVO Rz. 36. 82) A. Schmidt-Undritz, EuInsVO, Art. 34 Rz. 30 f.; Pannen-Herchen, EuInsVO, Art. 27 Rz. 50 ff.; ausführlich auch Beck, NZI 2007, 1 ff.; Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 752 ff. 83) Vgl. das einfache Beispiel von Ringstmeier/Homann, NZI 2004, 354. 84) S. zu dieser Lösung etwa Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 752, 754.
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§ 24
als die „ursprüngliche“, einheitliche Insolvenzmasse. Diese Vermögensmasse haftet für die Kosten der Betriebsfortführung aus der Zeit, in der (noch) kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet war.85) x
Vermögensmasse 2: Die zweite Vermögensmasse bildet das vom Vermögensbeschlag des Sekundärinsolvenzverfahrens erfasste Vermögen des Schuldners, das im Staat des Sekundärverfahrens belegen ist und auf das sich die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Sekundärinsolvenzverwalters bezieht. Dieses territorial begrenzte Vermögen wird mit der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens aus der einheitlichen Haftungsmasse, die infolge der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens gebildet wurde, herausgelöst.86) Diese Teilmasse haftet für die Kosten der Betriebsfortführung für den Zeitraum ab Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens, soweit die Kosten das Sekundärinsolvenzverfahren betreffen, also insbesondere vom Sekundärinsolvenzverwalter begründet wurden.
x
Vermögensmasse 3: Das vom Vermögensbeschlag des Hauptinsolvenzverfahrens erfasste Vermögen des Schuldners, abzüglich der Vermögensgegenstände, die in einem Mitgliedstaat belegen sind, in dem zwischenzeitlich ein Sekundärverfahren eröffnet wurde und die damit mit der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens in dessen territorial begrenzte Insolvenzmasse fallen. Diese Teilmasse haftet für die Kosten der Betriebsfortführung für den Zeitraum ab Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens, soweit die Kosten das Hauptinsolvenzverfahren betreffen, also insbesondere vom Hauptinsolvenzverwalter begründet wurden.
Im Ergebnis sollen die Masseverbindlichkeiten je nach Zuordnung aus den entsprechenden 106 Vermögensmassen beglichen werden, wobei die Zuordnung nach zeitlichen und nach territorialen Gesichtspunkten erfolgt.87) Diese Zuordnung ist mit Blick auf Masseverbindlichkeiten, die zeitlich nach Eröffnung des 107 Sekundärinsolvenzverfahrens begründet wurden, naheliegend. Je nachdem, ob die Masseverbindlichkeiten sich auf das Haupt- oder Sekundärinsolvenzverfahren beziehen und entsprechend vom Insolvenzverwalter des Haupt- oder Sekundärinsolvenzverfahrens begründet wurden, haftet für sie die zuvor gennannte „Vermögensmasse 2“ oder „Vermögensmasse 3“. Dagegen ist die angenommene Haftung der territorial begrenzten Insolvenzmasse des Se- 108 kundärverfahrens für Masseverbindlichkeiten, die vor der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens bereits begründet wurden, nicht selbstverständlich. Deshalb wird auch vereinzelt eine Einschränkung dieser Haftung in der Weise vorgeschlagen, dass die Haftung für Masseverbindlichkeiten im Verhältnis der Umfänge der Vermögensmassen aufgeteilt werden oder nach dem ganz konkreten Nutzen zugeordnet werden müssten.88) Die zuletzt genannte Aufteilung der Masseverbindlichkeiten zu dem jeweiligen Verfahren, in dem sie einen entsprechenden Mehrwert geschaffen haben, ist nicht praktikabel. Wenn die Haftung generell verneint würde, fallen zwar Aufteilungsschwierigkeiten weg, 109 dann müsste der Hauptinsolvenzverwalter aber von Beginn an auch die Eröffnung eines ___________ 85) Es wird hier davon ausgegangen, dass vor der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens auch noch kein eigenständiges Partikularinsolvenzverfahren i. S. des Art. 3 Abs. 4 EuInsVO eröffnet worden ist. 86) Statt vieler Leonhardt/Smid/Zeuner-Smid, Int. InsR, Art. 27 EuInsVO Rz. 25. Die territorial begrenzte Insolvenzmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens kann dabei auch Vermögensgegenstände erfassen, die zuvor nicht von der Beschlagwirkung des Hauptinsolvenzverfahrens erfasst wurden, insbesondere weil sie unter die Ausnahmetatbestände der Vorschrift des Art. 8 EuInsVO fielen, zu diesem Effekt der „Massemehrung“ s. o. Rz. 38. 87) Grundlegend Herchen, Das Übereinkommen über Insolvenzverfahren, S. 51; Reinhart, Sanierungsverfahren im internationalen Insolvenzrecht, S. 595 f.; Lüke, ZZP 111 (1998) 275, 306. 88) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 27 Rz. 58.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
Sekundärinsolvenzverfahrens und die Herauslösung einer entsprechenden Teilmasse antizipieren und dürfte nur jene Vermögensgegenstände in seine Berechnung der Massekostendeckung miteinbeziehen, die sich am Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen oder in einem Mitgliedstaat befinden, in dem eine Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens in Ermangelung einer Niederlassung von vornherein scheitern muss.89) Anderenfalls würde das schutzwürdige Vertrauen der Massegläubiger in nicht mehr hinnehmbarer Weise verletzt, wenn der Insolvenzverwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die Massezulänglichkeit zunächst an der „Vermögensmasse 1“ bemessen dürfte, die spätere Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens einen Teil der Haftungsmasse dem Zugriff der Massegläubiger aber rückwirkend wieder entziehen können soll. Nicht übersehen werden darf dabei, dass es sich hierbei durchaus um einen erheblichen Teil der Haftungsmasse handeln kann, wenn nämlich z. B. der wesentliche Teil des Vermögens des Schuldners im Mitgliedstaat der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahren belegen ist, während am Ort des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen lediglich die Verwaltungsentscheidungen getroffen werden.90) 110 Geht man im Ergebnis davon aus, dass das vom universellen Geltungsanspruch des Hauptinsolvenzverfahrens erfasste gesamte Vermögen des Schuldners als einheitliche Insolvenzmasse („Vermögensmasse 1“) für die Kosten der Betriebsfortführung aus der Zeit, in der (noch) kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet war haftet, gibt es für einen Innenausgleich zwischen den verschiedenen Vermögensmassen vor der Schlussverteilung wegen der uneingeschränkten Universalität der Passivmasse kein praktisches Bedürfnis der Massegläubiger oder der „einfachen“ Insolvenzgläubiger. Denn nach dem Grundsatz der Doppelanmeldung gemäß Art. 45 Abs. 1 EuInsVO kann jeder Insolvenzgläubiger seine Forderung im Hauptinsolvenzverfahren und in jedem Sekundärinsolvenzverfahren anmelden.91) 111 Die Massegläubiger des Sekundärinsolvenzverfahrens werden dadurch nicht unangemessen benachteiligt, weil sie die ihnen haftende Vermögensmasse schlicht von Beginn an verkürzt um die Masseverbindlichkeiten aus der Zeit bis zur Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens vorfinden.92) 112 Ist die Deckung der Massekosten (Gerichtskosten, Verwaltervergütung, Auslagen) nach nationalem Recht – wie in Deutschland nach § 26 InsO – Voraussetzung für die Verfahrenseröffnung, sind im Fall der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens die Kosten des Hauptinsolvenzverfahrens zu berücksichtigen, soweit die territorial begrenzte Insolvenzmasse für diese Kosten ebenfalls haftet. Nach Art. 40 EuInsVO kann das Gericht vom Antragsteller einen Kostenvorschuss oder eine angemessene Sicherheitsleistung verlangen, wenn Masseunzulänglichkeit besteht. Auch der Hauptinsolvenzverwalter, der nach Art. 37 Abs. 1 lit. a EuInsVO den Antrag zur Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens stellen kann, kommt als Kostenschuldner in Betracht. Die Frage, ob dann eine Masseunzulänglichkeit vorliegt, beurteilt sich nach der lex fori concursus secundariae. 113 Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich im Übrigen auch bei der Abgrenzung der Aktivmasse (siehe dazu bereits oben Rz. 60). Im Ergebnis muss sichergestellt sein, dass den Kosten auch die entsprechenden Einnahmen aus der Betriebsfortführung gegenüberstehen. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Forderungen des Insolvenzschuldners gegen Dritte werden nach Art. 2 Nr. 9 EuInsVO dem Mitgliedstaat zugeordnet, in dessen Gebiet der ___________ 89) Kritisch Ringstmeier/Homann, NZI 2004, 354; ferner Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 752. 90) Zu den für die Begr. des COMI hinreichenden tatsächlichen Umständen s. o. Rz. 16. 91) Ebenso Ringstmeier/Homann, NZI 2004, 354, 357; der Grundsatz der Doppelanmeldung findet sich auch in Art. 45 Abs. 1 EuInsVO n. F. 92) Ebenso Ringstmeier/Homann, NZI 2004, 354, 357.
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Koordination grenzüberschreitender Betriebsfortführungen
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zur Leistung verpflichtete Dritte den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen i. S. von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO hat. Deshalb kann es durchaus sein, dass die Insolvenzmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens, mit den Kosten belastet wird, während die aus der Betriebsfortführung generierten Forderungen in die Insolvenzmasse des Hauptinsolvenzverfahrens fallen, weil der Drittschuldner seinen Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen außerhalb des Mitgliedstaates des Sekundärinsolvenzverfahrens hat. Auf solche Sachverhalte stößt man regelmäßig, wenn die Produktion des Schuldners in einen bestimmten Mitgliedstaat ausgelagert wurde, die produzierten Waren aber schwerpunktmäßig im Inland oder doch zumindest nicht am Standort der Produktionsstätte vertrieben werden. Da eine Produktionsstätte den Niederlassungsbegriff des Art. 2 Nr. 10 EuInsVO ohne weiteres erfüllt, ist die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens möglich und in aller Regel sogar wahrscheinlich (zum Begriff der Niederlassung siehe oben Rz. 54). Vor diesem Hintergrund muss ggf. in einer Fortführungsvereinbarung zwischen dem 114 Hauptverwalter und den betreffenden Sekundärverwalter ein Ausgleich zugunsten der mit den Kosten belasteten Insolvenzmasse des Sekundärinsolvenzverfahrens vereinbart werden. Jedenfalls müssen Haupt- und Sekundärverwalter die Frage der Fortführungsfinanzierung gemeinsam beantworten. Diese Fragen können auch Gegenstand von Insolvenzverwalterverträgen (protocols) sein (zu diesem Instrument siehe oben Rz. 63 ff.). XII. Erhalt des Unternehmens als organisatorischer Verbund Die Betriebsfortführung mündet nicht selten in eine übertragende Sanierung des gesamten 115 Geschäftsbetriebs. Ist ein „grenzüberschreitender“ Geschäftsbetrieb Gegenstand eines solchen Asset Deals, stellt die Koordination des Verkaufsprozesses eine enorme Herausforderung an die Verfahrensbeteiligten dar, für die die EuInsVO keinen geschlossenen Rechtsrahmen bereithält. In diesem Zusammenhang ist erneut zwischen der Koordination mehrerer Hauptinsolvenzverfahren, die über das Vermögen mehrerer Gesellschaften einer Unternehmensgruppe eröffnet wurden („Konzerninsolvenz“), und der Koordination von einem Hauptinsolvenzverfahren und einem bzw. mehrerer Sekundärinsolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft und einer bzw. mehrerer Niederlassungen zu unterscheiden. Insbesondere mit Blick auf die Insolvenzverwalter des Haupt- und der Sekundärinsolvenz- 116 verfahren setzt dies eine unbedingte Bereitschaft zur gegenseitigen Kooperation voraus, und zwar weitgehend auf privatautonomer Basis (zur Kooperationspflicht der Insolvenzverwalter nach der EuInsVO siehe oben Rz. 86 ff.). Es wird regelmäßig sinnvoll sein, gemeinsam eine Investmentbank oder einen M&A-Berater zur Durchführung des erforderlichen Investorenprozesses zu beauftragen.93) Ferner wird die Verhandlung und Gestaltung des Kaufvertrags zentral gesteuert werden müssen. Nicht zuletzt wird sich auch die Frage stellen, wie der erzielte Kaufpreis auf die unterschiedlichen Insolvenzmassen aufzuteilen ist. In diesem Zusammenhang ist sowohl zum Zwecke der Koordination mehrerer Hauptin- 117 solvenzverfahren („Konzerninsolvenz“) als auch eines Hauptinsolvenzverfahrens und eines oder mehrerer Sekundärinsolvenzverfahren auf das Instrument der Insolvenzverwalterverträge94) zurückzugreifen (zu diesem Instrument siehe bereits oben Rz. 63 ff.). Zum Zwecke des Erhalts des Unternehmens als organisatorischer Verbund ist die Ver- 118 meidung der Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren zwar nicht rechtlich zwingend, die ___________ 93) Ebenso Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 40. 94) Eidenmüller, ZZP 114 (2001) 3, 5; Ehricke, WM 2005, 397, 403; Ehricke, ZIP 2005, 1104, 1111; s. a. Wittinghofer, Der nationale und internationale Insolvenzverwaltungsvertrag, passim; für eine Bezeichnung als Kooperationsübereinkommen, s. Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 10.
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Teil IV Konzern und grenzüberschreitende Fortführung
Vermeidung der „verfahrensmäßigen Zersplitterung“ kann hierfür aber faktisch Voraussetzung sein.95) Vor diesem Hintergrund haben englische Gerichte in den Insolvenzverfahren in der Rechtssache Collins & Aikman96) und MG Rover97) den englischen Hauptinsolvenzverwalter dazu ermächtigt, Forderungen ausländischer Gläubiger nach dem in ihrem jeweiligen Land geltenden Recht zu befriedigen, ungeachtet der an sich anwendbaren englischen Verteilungsordnung. Es ging in dem Verfahren MG Rover vor allem darum, Forderungen der Arbeitnehmer der acht europäischen Vertriebsgesellschaften in demselben Rang zu bedienen, den diese Forderungen nach dem jeweils anwendbaren nationalen Insolvenzrecht hätten, welches gelten würde, wenn in dem jeweiligen Mitgliedstaat ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet würde. Ob eine solche Regelung des Ranges nach deutschem Insolvenzrecht auch dem deutschen Hauptinsolvenzverwalter möglich wäre, ist mit Blick auf den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung (par condicio creditorum) zweifelhaft.98) 119 Die neugefasste EuInsVO sieht in Art. 36 EuInsVO ein Instrument vor, dass in seinen Wirkungen der flexiblen Herangehensweise der englischen Gerichte in den vorgenannten Fällen entspricht:99) Um die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu vermeiden, kann der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens in Bezug auf das Vermögen, das in dem Mitgliedstaat, in dem ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden könnte, belegen ist, eine einseitige Zusicherung des Inhalts geben, dass er bei der Verteilung dieses Vermögens oder des bei seiner Verwertung erzielten Erlöses die Verteilungs- und Vorzugsrechte nach nationalem Recht wahrt, die Gläubiger hätten, wenn ein Sekundärinsolvenzverfahren in diesem Mitgliedstaat eröffnet worden wäre. 120 Im Einzelfall wird auch der Verkauf der gesamten Masse des Sekundärverfahrens an den Hauptinsolvenzverwalter im Wege eines Asset Deals in Betracht gezogen, um Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren zu vermeiden.100) Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer solchen „übertragenden Sanierung“ im Sekundärinsolvenzverfahren sind jedoch nicht einmal ansatzweise geklärt, sodass der Hauptinsolvenzverwalter mit dieser Strategie wohl eher vom Regen in die Traufe gerät.
___________ 95) Zu verschiedenen Strategien der Vermeidung von Sekundärinsolvenzverfahren s. etwa A. SchmidtKnof, EuInsVO, Art. 36 Rz. 1 ff. 96) High Court of Justice London, Beschl. v. 9.6.2006 – EWHC 1343 (Collins & Aikman), ZIP 2006, 2093 = NZI 2006, 654 m. Anm. Meyer-Löwy/Plank, NZI 2006, 622. 97) High Court of Justice Birmingham, Beschl. v. 11.5.2005 – 2375 bis 2382/05 (MG Rover II), NZI 2005, 515 m. Anm. Penzlin/Riedemann; High Court of Justice Birmingham, Beschl. v. 30.3.2006 – No. 2377/2006, NZI 2006, 416 m. Anm. Mankowski. 98) So auch Mankowski, NZI 2006, 418 (Urteilsanm.); Penzlin/Riedemann, NZI 2005, 517, 519 (Urteilsanm.). 99) Ausführlich dazu Mankowski, NZI 2015, 961. 100) Dazu und zum Folgenden Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 41 EuInsVO Rz. 41 f.
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Teil V Einzelfragen
§ 25 Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung Dreschers
Übersicht I. Einleitung .................................................... 1 II. Die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungsverfahren ............ 5 1. Die Anordnung eines allgemeinen Zustimmungsvorbehalts .............................. 5 2. Der Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots ....................................... 9 3. Die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen bei Beantragung einer Eigenverwaltung................................ 10 4. Arbeitsrechtliche Besonderheiten des StaRUG ................................................ 11 5. Die Voraussetzungen einer Vorfinanzierung von Insolvenzgeld ................ 13 5.1 Die Insolvenzgeldvorfinanzierung nach herkömmlichem Muster ............................................ 13 5.2 Sonderfall: Die Insolvenzgeldvorfinanzierung im Schutzschirmverfahren ............................. 22 III. Arbeitsrechtsrechtliche Probleme einer Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren ........................ 28 1. Die Freistellung von Arbeitnehmern........ 28 1.1 Zulässigkeit auf individualvertraglicher Ebene........................ 28 1.2 Freistellung und betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung ............................. 40 2. Rechtliche Voraussetzungen einer Änderung der Arbeitsbedingungen................ 43 3. Personalabbau innerhalb einer Betriebsfortführung ................................................. 49 3.1 Das Recht zur Beendigungskündigung ...................................... 49 3.2 Einzelvertragliche, kollektivrechtliche und gesetzliche Formvorschriften .......................... 51 3.3 Die Beschränkung des Rechts zur ordentlichen Kündigung......... 54 3.3.1 Gesetzlicher Sonderkündigungsschutz ............................................. 54 3.3.2 Die Kündigung von Berufsausbildungsverhältnissen............... 59
3.3.3 3.3.4
3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2
3.5 3.6 3.7 3.7.1 3.7.2
3.7.2.1 3.7.2.2 3.7.2.3 3.7.3 3.7.4 3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.2.1 3.8.2.2 3.8.2.3
3.9
Befristete oder auflösend bedingte Arbeitsverhältnisse ........................ 61 Vereinbarter Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts .............................................. 62 Tariflicher Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung......... 63 Kündigungsfristen und -termine in der Insolvenz ............................. 64 Gesetzliche Regelungen ................ 64 Einzelvertragliche Vereinbarungen über Kündigungsfristen und -termine.......................................... 66 Die Nachkündigung durch den Insolvenzverwalter....... 67 Ersatz des „Verfrühungsschadens“ ....................................... 70 Die betriebsbedingte Beendigungskündigung................. 72 Dringende betriebliche Erfordernisse ................................. 73 Die Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung im Insolvenzverfahren................... 82 Allgemeine Grundsätze................. 82 Die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur ............................ 92 Die Leistungsträgerregelung......... 95 Die Anhörung des Betriebsrats .... 96 Beurteilungszeitpunkt, Darlegungs- und Beweislast.......... 98 Der Betriebsübergang gemäß § 613a BGB in der Insolvenz ...... 101 Die Voraussetzungen des Betriebsübergangs ................. 105 Die Rechtsfolgen des Betriebsübergangs ..................................... 109 Das Kündigungsverbot gemäß § 613a Abs. 4 BGB....................... 109 Die Haftungsprivilegierung des Erwerbers............................... 113 Informationspflichten und Widerspruch des Arbeitnehmers gemäß § 613a Abs. 5 und 6 BGB ... 117 Das Verfahren bei Massenentlassungen................................. 127
Literatur: Annuß, Der Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung, NZA 2005, 443; Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, 2005; Annuß/Stamer, Die Kün-
Dreschers
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§ 25
Teil V Einzelfragen
digung des Betriebsveräußerers auf Erwerberkonzept, NZA 2003, 1237; Arens/Brand, Das arbeitsrechtliche Mandat, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, 4. Aufl. 2019; Ascheid, Beschäftigungsförderung durch Einbeziehung kollektivvertraglicher Regelungen in das Kündigungsschutzgesetz, RdA 1997, 333; Ascheid, Die betriebsbedingte Kündigung – § 1 KSchG – § 54 AGB-DDR – § 613a IV 2 BGB, NZA 1991, 873; Aszmonis/Beck, Der Wiedereinstellungsanspruch auf einen Blick – Rechtlicher Umgang und praktische Umsetzung, NZA 2015, 1098; Bayreuther, Sanierungs- und Insolvenzklauseln im Arbeitsverhältnis, ZIP 2008, 573; Berscheid, Vorschläge zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften der Insolvenzordnung, ZInsO 2001, 64; Berscheid, Ausgewählte arbeitsrechtliche Probleme im Insolvenzeröffnungsverfahren, NZI 2000, 1; Berscheid, Arbeitsverhältnisse in der Insolvenz, 1999; Berscheid, Die Kündigung von Arbeitsverhältnissen nach § 113 (Teil I), ZInsO 1998, 115; Berkowsky, Das neue Insolvenz-Kündigungsrecht, NZI 1999, 129; Bertram, Die Kündigung durch den Insolvenzverwalter, NZI 2001, 625; Boemke, Schwerbehinderung und Namensliste in der Insolvenz, NZI 2005, 209; Bothe, Europäisches Arbeitsrecht bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz, ZIP 2017, 2441; Braun/ Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, 1997; Buchalik, Das Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO (incl. Musteranträge), ZInsO 2012, 349; Bütefisch, Die Sozialauswahl, 2000; Deppenkemper, Ziel erreicht? Außergerichtliche Sanierung bereits ab dem 1.1.2021, ZIP 2020, 2432; Düwell, Änderungs- und Beendigungskündigungen nach dem neuen Insolvenzrecht, in: Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl., 2000, S. 1433; Dzida, Der Zeitpunkt der Unterrichtung über eine geplante Betriebsänderung im vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren, ZIP 2022, 1133; Franzen, Begriff der Entlassung nach der Massenentlassungsrichtlinie, NZA 2016, 26; Gaul/Bonanni, Änderungen der Gewerbeordnung – Gesetzliche Niederlegung allgemeiner arbeitsrechtlicher Grundsätze, ArbRB 2002, 234; Gaul/Bonanni/Naumann, Betriebsübergang: Neues zur betriebsbedingten Kündigung aufgrund Erwerberkonzepts, DB 2003, 1902; Henkel, Zur Anwendbarkeit von § 113 InsO bei Neu-Einstellungen durch den Insolvenzverwalter, ZIP 2008, 1265; Henckel, Die Anpassung des Rechts der Betriebsübernahme (§ 613a BGB) an die Insolvenzsituation de lege lata und de lege ferenda, ZGR 1984, 225; Krieger/Willemsen, Der Wiedereinstellungsanspruch nach Betriebsübergang, NZA 2011, 1128; Lauer, Die Gratwanderung bei der Freistellung von Arbeitnehmern im Insolvenzverfahren, ZIP 2006, 983; Leithaus, Zur „Nachkündigung“ nach § 113 InsO und zur Anfechtungsproblematik bei Kündigungen von Arbeitsverhältnissen im Vorfeld eines Insolvenzantrags, NZI 1999, 254; Kleinebrink/Commandeur, Der „neue“ Betriebsbegriff bei Massenentlassungen und dessen Folgen, NZA 2015, 853; Kreitner, Kündigungsrechtliche Probleme beim Betriebsinhaberwechsel, 1989; Lembke, Besonderheiten beim Betriebsübergang in der Insolvenz, BB 2007, 1333; Lipinski, Reichweite der Kündigungskontrolle durch § 613a IV Satz 1 BGB, NZA 2002, 75; Meyer, Die Unterrichtung der Arbeitnehmer vor Betriebsübergang, 2007; Mückl, Der Betriebsübergang nach § 613a BGB in der Insolvenz – jetzt erst Recht ein Sanierungshindernis?, ZIP 2012, 2373; Oetker, Der Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers bei nachträglichem Wegfall des Kündigungsgrundes, ZIP 2000, 643; Opolony, Die Beendigung von Berufsausbildungsverhältnissen, BB 1999, 1706; Pils, Umgehung von § 613a BGB durch Einsatz einer Transfergesellschaft, NZA 2013, 125; Risse, Betriebswirtschaftliche Aspekte der Sanierung durch Unternehmensfortführung nach der Insolvenzordnung, KTS 1994, 465; Salamon, Unterrichtung und Beratung im Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG, NZA 2015, 789; Schubert, Der Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers nach betriebsbedingter Kündigung in der Insolvenz, ZIP 2002, 554; Schulte, Direktionsrecht à la § 106 GewO – mehr Rechtssicherheit? Neue Konturierung des Direktionsrechts, ArbRB 2003, 245; Schumacher-Mohr, Zulässigkeit einer betriebsbedingten Kündigung durch den Veräußerer bei Betriebsübergang, NZA 2004, 629; Seibt/Bulgrin, Entwurf zum Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG) – Kritische Analyse aus gesellschafts- rechtlicher Sicht, DB 2020, 2226; Sieger/Hasselbach, Veräußererkündigung mit Erwerberkonzept, DB 1999, 430; Simon/Greßlin, Eine Sorge weniger beim Personalabbau: Die Entlassungssperre hindert nicht den Ausspruch von Kündigungen, BB 2009, 727; Vossen, Die betriebsbedingte Kündigung durch den bisherigen Arbeitgeber aus Anlaß des Betriebsübergangs, BB 1984, 1557; Warbein, Der Betriebsübergang nach § 613a BGB – ein Sanierungshindernis in der Insolvenz?, DZWIR 2006, 11; Willemsen, Aktuelles zum Betriebsübergang, NJW 2007, 2065.
I.
Einleitung
1 Ungeachtet der Tatsache, dass die Lohn- und Gehaltsforderungen der Arbeitnehmerschaft – statistisch gesehen – in der Mehrzahl der Insolvenzverfahren den geringsten Teil der betroffenen Forderungen ausmachen, steht dennoch regelmäßig die Behandlung von Arbeitnehmerfragen im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit eines jeden in der Betriebsfortführung befindlichen Unternehmens. Nicht zuletzt haben Fälle wie die SchleckerInsolvenz1) gezeigt, dass ohne eine befriedigende Klärung der arbeitsrechtlichen Rahmen___________ 1)
948
Vgl. etwa (exemplarisch) die Zeitungsberichte in der FAZ v. 19.3.2012, v. 30.3.2012 (nach dem Scheitern der Transfergesellschaft) und v. 8.6.2012.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 25
bedingungen – einschließlich einer Finanzierung der für eine Fortsetzung der operativen Tätigkeit notwendigen Personalkosten – eine aussichtsreiche Fortführung zum Scheitern verurteilt ist. Das „Human Capital“ stellt mit wenigen Ausnahmen die wesentliche Ressource dar, ohne die an eine Weiterführung der geschäftlichen Tätigkeit (auch) unter Insolvenzbedingungen nicht zu denken ist. Trotz dieser Erkenntnis trägt das gültige Arbeits- und Sozialrecht diesem Umstand bis heute 2 nur unvollkommen Rechnung. Insbesondere innerhalb des Insolvenzeröffnungsverfahrens fehlen nach wie vor arbeitsrechtliche Sondervorschriften, die z. B. eine schnelle und vor allem rechtssichere Umstrukturierung im Personalbereich ermöglichen. Diese wird jedoch im Regelfall zwingend erforderlich sein, da zumeist eine am Umsatz gemessen zu hohe Fixkostenbelastung – und damit regelmäßig auch die Personalkostenbelastung – einen der wesentlichen Insolvenzgründe darstellt, die es im Interesse einer kostendeckenden Weiterführung des Unternehmens möglichst zeitnah zu beseitigen gilt.2) Hier bedarf es regelmäßig eines Rückgriffs auf allgemeine arbeitsrechtliche Normen, die naturgemäß den Notwendigkeiten des bereits eingeleiteten Insolvenzverfahrens und der Knappheit der finanziellen Mittel nur unzureichend Rechnung tragen. Flankierend hilft hier allenfalls das Sozialrecht, welches über das – auf europäischer Ebene lange Zeit umstrittene – Insolvenzgeld zumindest eine zeitlich befristete Finanzierungshilfe bietet sowie über die finanzielle Förderung von Transfermaßnahmen i. R. der §§ 110 ff. SGB III eine Unterstützungsleistung zur Wiedereingliederung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den (zweiten) Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt. Das klassische „Insolvenzarbeitsrecht“3) setzt in seiner Anwendbarkeit eine Insolvenzer- 3 öffnung zwingend voraus. Jedoch auch innerhalb der sich dann anschließenden Phase beschränken sich die wesentlichen insolvenzrechtlichen Vorschriften des Arbeitsrechts darauf, zu bereits existenten kollektivrechtlichen Phänomenen Sonderregelungen vorzusehen. Aus dieser rechtlichen Unvollkommenheit folgt die Erkenntnis, dass unter Zugrundelegung 4 der derzeitigen Rechtslage die schnelle Schließung eines insolventen Unternehmens und die unterschiedslose Entlassung sämtlicher Arbeitnehmer im Regelfall arbeitsrechtlich unproblematisch zu realisieren ist, hingegen eine Fortsetzung der operativen Tätigkeit, verbunden mit einer auch nur teilweisen Reduktion des Personalbestandes oftmals zu erheblichen Konflikten und Risiken führt. Deren erfolgreiche Bewältigung setzt eine umfassende und vor allem rechtzeitige Einbeziehung der Arbeitnehmerschaft und ihrer Vertretung auf der Grundlage der zu beachtenden Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte im Zuge einer angedachten Betriebsänderung voraus. II.
Die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungsverfahren
1.
Die Anordnung eines allgemeinen Zustimmungsvorbehalts
Folgt die InsO – gleichermaßen wie vorher die KO – dem Grundsatz, dass die Eröffnung 5 eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers keinerlei Einfluss auf die Fortgeltung des allgemeinen Arbeitsrechts hat,4) gilt dies erst recht für die vorgeschaltete Phase des Insolvenzeröffnungsverfahrens. Der Schutz des zwingenden Arbeitsrechts soll den Arbeitnehmern auch in der Insolvenz des Arbeitgebers erhalten bleiben, soweit insol___________ 2) 3) 4)
Risse, KTS 1994, 465, 475 ff.; dazu auch schon R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 846. Vgl. hierzu die bereits 1997 veröffentlichte zusammenfassende Darstellung bei Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenzen, S. 101 ff. Vgl. statt vieler etwa Küttner-Kania, Personalbuch 2022, Insolvenz des Arbeitgebers Rz. 3.
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§ 25
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venzrechtliche Ausnahmebestimmungen keine abweichenden Regelungen enthalten.5) Ist damit die Frage nach dem anwendbaren Arbeitsrecht mit einem Verweis auf die allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen (insbesondere des KSchG, des Betriebsverfassungsrechts sowie sonstiger arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen zugunsten spezieller Personengruppen) schnell geklärt, stellt sich regelmäßig innerhalb dieser frühen Phase des Insolvenzverfahrens die Frage nach der Person des Arbeitgebers als Adressat der arbeitsrechtlichen Bestimmungen. 6 Nach Eingang des Insolvenzantrags hat das Insolvenzgericht alle Maßnahmen zur Verhütung nachteiliger Veränderungen in der Vermögenslage der Insolvenzschuldnerin zu treffen (vgl. § 21 Abs. 1 InsO); insbesondere ist regelmäßig gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO ein vorläufiger Verwalter zu bestellen. Dessen Rechtsstellung hängt gemäß § 22 InsO davon ab, ob ihm die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übertragen wird oder nicht. 7 Wird dem Insolvenzschuldner kein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt, bestimmt das Insolvenzgericht die Befugnisse des vorläufigen Verwalters und dessen Pflichten (§ 22 Abs. 2 Satz 1 InsO, sog. „schwacher“ vorläufiger Verwalter). Diese dürfen nicht über die Pflichten eines starken vorläufigen Verwalters gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 InsO hinausgehen (vgl. § 22 Abs. 2 Satz 2 InsO). Der vorläufige Insolvenzverwalter ist in diesen Fällen nicht allgemeiner Vertreter des Schuldners, sondern hat (nur) die Aufgabe, durch Überwachung des Schuldners dessen Vermögen zu sichern und zu erhalten. 8 Der „schwache“ vorläufige Verwalter wird damit nicht Arbeitgeber und ist deshalb auch nicht Adressat der arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften. Die Arbeitgeberfunktion verbleibt beim schuldnerischen Unternehmen und somit bei der dortigen jeweiligen Geschäftsführung, die jedoch aufgrund des regelmäßig gleichzeitig angeordneten Zustimmungsvorbehalts arbeitsrechtliche Maßnahmen – insbesondere den Ausspruch von Kündigungen – nur mit der vorherigen Zustimmung des vorläufigen Verwalters umsetzen kann.6) Die Einwilligung des vorläufigen Verwalters ist beim Ausspruch der Kündigung dem Arbeitnehmer schriftlich vorzulegen.7) Unterbleibt dies, kann der Arbeitnehmer die Kündigung gemäß § 182 Abs. 3 i. V. m. § 111 Sätze 2 und 3 BGB zurückweisen. 2.
Der Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots
9 Mit der Bestellung eines vorläufigen Verwalters mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gemäß § 22 Abs. 1 InsO verliert der Schuldner (auch) seine Arbeitgeberfunktion vollständig. Damit ist ausschließlich der vorläufige Verwalter Adressat der arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften, insbesondere auch der Kündigungsbefugnis.8) 3.
Die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen bei Beantragung einer Eigenverwaltung
10 Im Falle der Anordnung einer Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO durch das Insolvenzgericht verbleibt die Position des Arbeitgebers naturgemäß beim Insolvenzschuldner; allerdings kann das Insolvenzgericht auch hier anordnen, dass für bestimmte Rechtsgeschäfte ___________ 5) 6)
7) 8)
950
Küttner-Kania, Personalbuch 2022, Insolvenz des Arbeitgebers Rz. 2. Auch die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses stellt eine Vermögensverfügung dar, vgl. dazu BAG, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZA 2003, 909 ff. = ZIP 2003, 1161; LAG Düsseldorf, Urt. v. 24.8.2001 – 18 Sa 671/01, LAG-Report 2002, 38 ff. BAG, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZA 2003, 909, 910 re. Sp. = ZIP 2003, 1161. Grundlegend BAG, Urt. v. 17.9.1974 – 1 AZR 16/74, AP Nr. 1 zu § 113 BetrVG 1972 m. Anm. Richardi; LAG Baden-Württemberg v. 18.6.1996 – 10 Sa 98/94, ZIP 1996, 1387, dazu auch EWiR 1996, 855 (Uhlenbruck); Berscheid, NZI 2000, 1, 2 m. w. N.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 25
die Zustimmung des Sachwalters erforderlich ist (§ 277 InsO). Hieran hat auch die Neuregelung der Eigenverwaltung durch das ESUG9) zum 1.3.2012 nichts geändert. 4.
Arbeitsrechtliche Besonderheiten des StaRUG
Das zum 1.1.2021 in Kraft getretene Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungs- 11 rahmen für Unternehmen (StaRUG)10) schafft einen präventiven Restrukturierungsrahmen, der Unternehmen die Möglichkeit eröffnen soll, außerhalb eines Insolvenzverfahrens Sanierungsmaßnahmen unter schützenden Bedingungen in einheitlicher Weise mit den Betroffenen abzustimmen und umzusetzen (siehe dazu im Übrigen auch oben Vallender/Uhlenbruck, § 1). Die Herstellung eines umfassenden Konsenses im Gläubigerkreis ist hierzu nicht zwingend erforderlich; einzelnen Gläubigern ist es nicht möglich, eine Unternehmenssanierung i. R. eines „Hold-out“ zu unterbinden.11) Der Gesetzgeber hat sich dabei bewusst dagegen entschieden, im StaRUG für den Bereich 12 des Arbeitsrechts Sanierungserleichterungen vorzusehen.12) Gemäß § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG sind Forderungen von Arbeitnehmern aus oder im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis einschließlich der Rechte aus Zusagen auf betriebliche Altersversorgung vom möglichen Regelungskatalog eines Restrukturierungsplans ausdrücklich ausgenommen.13) Damit unterfallen diese auch nicht der Vollstreckungs- und Verwertungssperre des § 49 Abs. 1 StaRUG (vgl. § 49 Abs. 2 Satz 1 StaRUG). Arbeitnehmer können ihre titulierten Forderungen daher auch i. R. des vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens weiterhin vollstrecken. 5.
Die Voraussetzungen einer Vorfinanzierung von Insolvenzgeld
5.1
Die Insolvenzgeldvorfinanzierung nach herkömmlichem Muster
Hängt die Möglichkeit einer Fortführung des operativen Geschäftsbetriebs der Insolvenz- 13 schuldnerin mithin regelmäßig von einer Aufrechterhaltung der hierfür erforderlichen vertraglichen Beziehungen ab, ist neben der Kontaktierung der Lieferanten und Versorgungsträger auch für eine Finanzierung der laufenden Löhne der Arbeitnehmerschaft Sorge zu tragen, um diese von der Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts oder sogar vom Ausspruch von (außerordentlichen) Eigenkündigungen abzuhalten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht gegenüber der Agentur für Arbeit ein An- 14 spruch auf Insolvenzgeld zu, wenn x
sie im Inland beschäftigt waren und
___________ 9) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. Zur Arbeitgeberposition des Schuldners im Fall einer (vorläufigen) Eigenverwaltung vgl. auch BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19 (Air Berlin), ZIP 2020, 1771 = ZInsO 2020, 1780. 10) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). Es dient der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 11) Dazu i. E. etwa Deppenkemper, ZIP 2020, 2432; Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226. 12) Der Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen bietet für die Um- und Durchsetzung solcher Maßnahmen keine Hilfe, so ausdrücklich Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 115; dazu auch Dzida, ZIP 2022, 1133. 13) Granetzny/Derksen in: Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Abschn. L Rz. 98; dazu auch Dzida, ZIP 2022, 1133 ff.
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§ 25
Teil V Einzelfragen
x
bei einem Insolvenzereignis
x
für die vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben (vgl. § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB III).
15 Als „Insolvenzereignis“ gilt x
entweder die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1),
x
die Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2) oder
x
die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland ohne Stellung eines Insolvenzantrags und offensichtlicher Undurchführbarkeit eines Insolvenzverfahrens mangels Masse (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3)14).
16 Diese deutsche gesetzliche Regelung widersprach lange Zeit den einschlägigen europarechtlichen Bestimmungen der Art. 3 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 80/987/EWG.15) Nach dieser Richtlinie ist x
entweder der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers oder
x
der Zeitpunkt der Kündigung zwecks Entlassung des betreffenden Arbeitnehmers wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers bzw.
x
der Beendigung des Arbeitsvertrags oder des Arbeitsverhältnisses des betreffenden Arbeitnehmers wegen Zahlungsunfähigkeit i. R. der Bestimmung des „Insolvenzereignisses“
maßgebend.16) Im Rahmen einer Modifikation des Gemeinschaftsrechts durch die Richtlinie 2002/74/EG17) wurde dieser Widerspruch aufgehoben: Gemäß Art. 2 Abs. 1 dieser geänderten Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn x
die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaates vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist […] und
x
die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde entweder x
die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat oder
x
festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen.
___________ 14) Vgl. zur Sperrwirkung des Insolvenzereignisses i. S. einer vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III gegenüber einer späteren Insolvenzeröffnung LSG München, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 12/12, ZIP 2015, 1699. 15) Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. (EG) L 283/23 v. 28.10.1980. 16) Vgl. dazu auch EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 (Mau/Bundesanstalt für Arbeit), ZIP 2003, 1000 = NZA 2003, 713 ff., wo festgestellt wurde, dass die nationale deutsche Regelung über den Insolvenzgeldzeitraum (damals § 183 Abs. 1 SGB III, seit 1.4.2012 § 165 Abs. 1 SGB III) nicht europarechtskonform sei. 17) Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und Rats v. 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. (EG) L 270/10 v. 8.10.2002.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 25
Damit dürfte die Europarechtswidrigkeit der deutschen gesetzlichen Regelung jedenfalls 17 derzeit ausgeräumt sein.18) Aus der gesetzlichen Regelung folgt jedoch zwingend, dass die Zahlung von Insolvenzgeld 18 zunächst eine gerichtliche Entscheidung über die Insolvenzeröffnung voraussetzt. Da dieser Zeitpunkt die Phase des Insolvenzeröffnungsverfahrens naturgemäß beendet, kommt die reguläre Auszahlung des Insolvenzgeldes regelmäßig zu spät, um dem Versorgungsinteresse der Arbeitnehmerschaft innerhalb des überwiegend mehrere Monate andauernden Insolvenzeröffnungsverfahrens Rechnung zu tragen. Gerade in dieser finanziell angespannten Situation wird jedoch kaum ein Mitarbeiter des schuldnerischen Unternehmens über ausreichende Rücklagen verfügen, um den Zeitraum bis zur Eröffnung zu überbrücken. Im Interesse einer Abmilderung dieser Situation ergeben sich folgende Alternativen: x
Die Zahlung eines Vorschusses auf das Insolvenzgeld setzt nach § 168 SGB III neben der Stellung eines Insolvenzantrags und der hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Erfüllung der Voraussetzungen des Insolvenzgeldanspruchs voraus, dass das Arbeitsverhältnis bereits beendet ist (§ 168 Satz 1 Nr. 2 SGB III); bereits aus diesem Grunde stellt der Vorschuss regelmäßig keine Möglichkeit der Zwischenfinanzierung einer (auch) dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienenden Betriebsfortführung dar.
x
Als Alternative verbleibt die in der Praxis häufig praktizierte Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes innerhalb der Eröffnungsphase. Hierzu wird seitens des Arbeitgebers mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters ein Darlehen bei einer finanzierenden Bank aufgenommen; aus dessen Valuta werden sodann die Nettolöhne der Arbeitnehmerschaft ausbezahlt. Zur Absicherung des Rückzahlungsanspruchs lässt sich der vorläufige Insolvenzverwalter bzw. die finanzierende Bank seitens der Arbeitnehmerschaft den zukünftigen Insolvenzgeldanspruch gegen die Agentur für Arbeit abtreten. Diese Verfügung über das Insolvenz- bzw. Arbeitsentgelt bedarf zu ihrer Wirksamkeit einer vorherigen Zustimmung seitens der Agentur für Arbeit, die nur erfolgen darf, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass durch die Vorfinanzierung der Arbeitsentgelte ein erheblicher Teil der Arbeitsstellen erhalten bleibt (§ 170 Abs. 4 Satz 2 SGB III).
Nach Maßgabe der derzeit gültigen Durchführungsanweisungen der Agentur für Arbeit 19 ist vom Erhalt eines erheblichen Teils der Arbeitsplätze auszugehen, wenn unter Berücksichtigung des bisherigen arbeitstechnischen Zwecks die betriebliche Funktion zumindest teilweise erhalten bleibt (die betriebliche Tätigkeit insoweit fortgeführt wird).19) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist hierbei zu beachten. Zur Orientierung wird seitens der Agentur für Arbeit einheitlich für alle Betriebe die Grenze des § 112a Abs. 1 Satz 1 BetrVG zugrunde gelegt: Ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze bleibt demzufolge dann erhalten, soweit deren Umfang die Mindestgrenze von 10 % zu erhaltender Arbeitsplätze erreicht oder überschreitet.20) Nach Maßgabe der Vorschrift des § 169 SGB III gehen Ansprüche auf Arbeitsentgelt, 20 die einen Anspruch auf Insolvenzgeld begründen, mit dem Antrag auf Insolvenzgeld auf ___________ 18) Dauert die in einem ersten Insolvenzverfahren nachgewiesene Zahlungsunfähigkeit trotz dessen Aufhebung i. R. eines Insolvenzplanverfahrens an, gilt das sodann eröffnete (zweite) Insolvenzverfahren nicht als neues Insolvenzereignis i. S. des § 165 SGB III; so zur Vorgängervorschrift des § 183 SGB III BSG, Urt. v. 6.12.2012 – B 11 AL 11/11R, NZI 2013, 454. 19) Fachliche Weisungen Insolvenzgeld, gültig ab 20.12.2018 zu § 170 SGB III Nr. 2.4, abrufbar unter: https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba016429.pdf (Abrufdatum: 19.11.2022). 20) Fachliche Weisungen Insolvenzgeld, gültig ab 20.12.2018 zu § 170 SGB III Nr. 2.4, abrufbar unter: https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba016429.pdf (Abrufdatum: 19.11.2022).
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Teil V Einzelfragen
die Bundesagentur über. Durch die Neuregelung des § 55 Abs. 3 InsO21) ist der anfangs bestehende Streit darüber, ob durch den Anspruchsübergang auf die Bundesagentur für Arbeit der Regressanspruch als Masseverbindlichkeit oder als einfache Insolvenzforderung zu qualifizieren ist,22) im letzteren Sinne entschieden worden. 21 Teilweise macht es Sinn, zur Motivationserhöhung der Arbeitnehmerschaft und zur Vermeidung von Abwanderungsbestrebungen i. R. der allgemeinen arbeitsrechtlichem Zulässigkeitsvoraussetzungen innerhalb des Eröffnungsverfahrens zusätzliche Prämien (Anwesenheitsprämien, Durchhalteprämien) auszuloben. Diese sind jedoch nicht insolvenzgeldfähig.23) 5.2
Sonderfall: Die Insolvenzgeldvorfinanzierung im Schutzschirmverfahren
22 Das bereits durch das ESUG zum 1.3.2012 eingeführte Schutzschirmverfahren ist durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG)24) mit Wirkung zum 1.1.2021 modifiziert worden. Als Sonderfall der Eigenverwaltung sieht § 270d InsO25) die Möglichkeit vor, die angestrebte Sanierung eines Unternehmens über einen zeitlich befristet vorzulegenden Insolvenzplan durchzuführen. Ein erfolgversprechender Antrag zur Einleitung des Schutzschirmverfahrens setzt dabei das Bestehen einer (lediglich) drohenden Zahlungsunfähigkeit i. S. des § 18 InsO oder einer Überschuldung i. S. des § 19 InsO voraus; darüber hinaus bedarf es einer diesbezüglichen Bescheinigung eines externen Fachmanns verbunden mit der Aussage, dass die angestrebte Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist (vgl. § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO). 23 Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang das Vorliegen eines für den Insolvenzgeldanspruch und damit auch für dessen Vorfinanzierung maßgeblichen Insolvenzereignisses; darüber hinaus besteht in den Fällen einer (nur) drohenden Zahlungsunfähigkeit bei Eigenverwaltung regelmäßig auch die Gefahr einer Rücknahme des Insolvenzantrags. 24 Die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele und Vorteile eines Schutzschirmverfahrens würden jedoch ins Gegenteil verkehrt, wenn hier in Anbetracht der aufgezeigten Risiken keine Insolvenzgeldvorfinanzierung zur Verfügung stünde. Im Rahmen einer Ergänzung ihrer Durchführungsanweisungen zum Insolvenzgeld in Nr. 3.2 Abs. 2 zu § 170 SGB III26) hatte die Bundesagentur für Arbeit daher bereits im April 2012 zur Vorgängervorschrift § 270b InsO klargestellt, dass auch i. R. eines Schutzschirmverfahrens die Vorfinanzierung von Arbeitsentgeltansprüchen möglich sein soll, sobald das Gericht eine entsprechende Anordnung nach dieser Norm getroffen hat. Im Rahmen dieser Durchführungsanweisung
___________ 21) Eingefügt durch das Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze (InsOÄndG) v. 26.10.2001, BGBl. I 2001, 2710. 22) Durch einen Forderungsübergang wird die Rechtsqualität eines Anspruchs grundsätzlich nicht tangiert (§§ 412, 401 Abs. 2 BGB); dazu auch LAG Hamm, Urt. v. 10.1.2000 – 19 Sa 1638/99, ZIP 2000, 590 = NZI 2000, 189; LAG Köln, Urt. v. 25.2.2000 – 12 Sa 1512/99, ZIP 2000, 805 = NZI 2000, 288. 23) LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 29.5.2018 – L 7 AL 6/17, ZInsO 2918, 2772; dazu auch Arens/ Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 3 Rz. 260. 24) Bestandteil dieses Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) ist als Art. 1 das oben zitierte StaRUG v. 22.12.2020 (BGBl. I 2020, 3256), durch das das StaRUG als eigenständiges Gesetz eingeführt wurde; in Art. 5 einhält das SanInsFoG u. a. Änderungen zum Eigenverwaltungsverfahren in der InsO. 25) An Stelle des durch das ESUG eingeführten § 270b InsO. 26) HEGA 06/15 – 04, Geschäftszeichen AV 32-75165/75167/7317; Insg-DA zu § 170 SGB III Nr. 3.2 Abs. 2, (Stand: 2016); die Fachlichen Weisungen Insolvenzgeld, gültig ab 20.12.2018 zu § 170 SGB III Nr. 2.4 lassen allerdings das Schutzschirmverfahren unberücksichtigt und stellen im Wesentlichen auf die Zahlungsunfähigkeit als maßgebliches Kriterium für das Insolvenzereignis ab; abrufbar unter: https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba016429.pdf (Abrufdatum: 5.2.2023).
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 25
wurde jedoch ebenfalls unterstrichen, dass im Falle einer Sanierung des Unternehmens ohne Entscheidung über den Insolvenzantrag die Gewährung von Insolvenzgeld ausscheidet.27) Da die Vorschrift des § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO a. F. für das Schutzschirmverfahren aus- 25 drücklich lediglich eine entsprechende Geltung des § 55 Abs. 2 InsO anordnete, war in der Insolvenzpraxis – und damit insbesondere bei den das Insolvenzgeld vorfinanzierenden Banken – die Frage nach einer entsprechenden Anwendbarkeit der Vorschrift des § 55 Abs. 3 InsO im Schutzschirmverfahren aufgekommen. In der Praxis haben in der unmittelbaren Folgezeit innerhalb der zweiten Jahreshälfte 26 2012 offensichtlich einige kreditierende Banken versucht, sich diese scheinbare Gesetzeslücke zunutze zu machen und in ihren Rahmenvereinbarungen die Forderung aufgestellt, dass „es sich bei den angekauften Nettoarbeitsentgelten um Masseforderungen handeln muss und die Insolvenzschuldnerin vor Durchführung der Ankäufe daher einen Beschluss des zuständigen AG vorzulegen hat, nachdem die zum Ankauf vorgesehene Nettoarbeitsentgelte Masseforderungen sind“.28)
In der Folgezeit hat sich jedoch rasch die Auffassung durchgesetzt, das ungeachtet der 27 gesetzgeberischen Lücke innerhalb des § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO a. F. die Anwendbarkeit des § 55 Abs. 3 InsO auch i. R. eines Schutzschirmverfahrens gegeben ist.29) Auch die Bundesagentur für Arbeit geht i. R. einer Stellungnahme vom 16.7.2012 in Abstimmung mit dem BMJ von einer entsprechenden Anwendbarkeit des § 55 Abs. 3 InsO (auch) auf das Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO a. F. aus.30) Neuere Entwicklungen haben sich seither nicht ergeben, so dass aktuell auch i. R. des Schutzschirmverfahrens nach § 270d InsO die Gewährung von Insolvenzgeld möglich ist. III.
Arbeitsrechtsrechtliche Probleme einer Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren
1.
Die Freistellung von Arbeitnehmern
1.1
Zulässigkeit auf individualvertraglicher Ebene
Eine erfolgreiche Betriebsfortführung mit dem Ziel einer Reduzierung (auch) der Personal- 28 kosten führt zwangsläufig zur Notwendigkeit, dem durch den Auftragsrückgang reduzierten Beschäftigungsvolumen möglichst zeitnah durch eine Personalreduzierung Rechnung zu tragen. Selbst wenn die im Vorfeld des Ausspruchs einer Kündigung zu beachtenden formalen Hürden (Betriebsratsanhörung, ggf. Einholung von Behördenzustimmungen im Falle des Sonderkündigungsschutzes, Abschluss eines Interessenausgleichs bei Betriebsänderung) erfüllt sind, setzt eine ordentliche Kündigung erst eine in der Regel mehrmonatige Kündigungsfrist in Lauf, während derer das Arbeitsverhältnis mit seinen wechselseitigen Pflichten fortbesteht. Dies mag innerhalb der Phase des Insolvenzeröffnungsverfahrens zu vernachlässigen sein, da eine Finanzierung der Lohn- und Gehaltskosten über das Insolvenzgeld erfolgt, spätestens jedoch nach der Insolvenzeröffnung stellen diese Kosten Masseschulden dar, die i. R. einer Fortführungsplanung zu berücksichtigen sind. Dabei lässt sich in der Praxis beobachten, dass die Weiterbeschäftigung von Arbeitneh- 29 mern auf mittelfristig nicht mehr benötigten Arbeitsplätzen regelmäßig wenig sinnvoll er___________ 27) HEGA 06/15 – 04, Geschäftszeichen AV 32-75165/75167/7317; Insg-DA zu § 170 SGB III Nr. 3.2 Abs. 2 (Stand: 2016). 28) So u. a. der Bericht aus der Insolvenzpraxis unter www.buchalik-broemmekamp.de (Abrufdatum: 5.2.2023). 29) Vgl. dazu Buchalik, ZInsO 2012, 349, 356. 30) So der Erfahrungsbericht abrufbar bei www.buchalik-broemmekamp.de (Abrufdatum: 5.2.2023).
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Teil V Einzelfragen
scheint. Zum einen fehlt es oftmals an der Motivation der betroffenen Arbeitnehmer, zum anderen ist angesichts der Knappheit der Ressourcen auf Arbeitgeberseite nur ein geringes Interesse vorhanden, vakante Arbeitsverhältnisse gezwungenermaßen bis zum vertraglich geschuldeten Ende abzuwickeln. Auch hier stellt es im eröffneten Insolvenzverfahren ein weiteres Mittel der (Zwischen-)Finanzierung der Fortführung dar, Arbeitnehmer vorzeitig von ihrer Verpflichtung zur Arbeitsleistung freizustellen. Auf Arbeitgeber- und damit Insolvenzverwalterseite birgt dies den Vorteil, i. R. der aufoktroyierten Masseschulden die entsprechenden Lohn- und Gehaltskosten nicht mehr i. R. der Rangklasse des § 55 Abs. 1 Nr. 1, sondern nunmehr i. R. der Rangklasse des § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO berücksichtigen zu müssen; erfolgt darüber hinaus die Freistellung unwiderruflich, hat dies auf Arbeitgeberseite gleichzeitig den Vorzug, dass durch diese Freizeitgewährung bei entsprechender Formulierung im Freistellungstext etwaige noch offene Resturlaubsansprüche verbraucht werden31) und damit zum Beendigungszeitpunkt nicht mehr abgegolten werden müssen.32) Um eine Urlaubsabgeltung während der Freistellung herbeizuführen, ist es mithin zum einen erforderlich, dass der Insolvenzverwalter die unwiderrufliche Freistellung ausdrücklich unter Anrechnung der Resturlaubsansprüche erklärt. Ferner muss deutlich werden, in welchem Umfang der Arbeitgeber die Urlaubsansprüche erfüllen will. Erklärt er sich nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit, geht dies zu seinen Lasten.33) Es ist daher anzuraten, den Urlaubszeitraum im Freistellungstext möglichst konkret zu datieren. 30 Seit Februar 2015 wird weiterhin von der höchstrichterlichen Rechtsprechung gefordert, dass es zur wirksamen Urlaubsgewährung zur Vermeidung eines Abgeltungsanspruchs auch gehört, dem Arbeitnehmer die Urlaubsvergütung vor Urlaubsantritt entweder zu zahlen oder aber wenigstens vorbehaltslos zuzusagen.34) Die Auswirkung dieser Rechtsprechung auf die insolvenzrechtliche Praxis ist bislang noch ungeklärt. Eine derartige Zusage dürfte jedenfalls in masseunzulänglichen Insolvenzverfahren zu Problemen führen. 31 Auf Arbeitnehmerseite bietet die vorzeitige Freistellung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung den Vorteil, i. R. der sog. Gleichwohlgewährung gemäß § 157 Abs. 3 SGB III ungeachtet des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses bereits Arbeitslosengeld beanspruchen zu können, da die Zahlungsansprüche aus der Insolvenzmasse tatsächlich nicht erfüllt werden. 32 Ungeachtet der wirtschaftlichen Vor- und Nachteile einer Freistellung vor oder auch nach Ausspruch einer Kündigung stellt sich die Frage der arbeitsrechtlichen Zulässigkeit einer derartigen einseitigen Maßnahme. Das BAG hat insoweit in zwei maßgeblichen Entscheidungen vom 11.10.195535) und 27.2.198536) auf Arbeitnehmerseite das Bestehen eines Beschäftigungsanspruchs dem Grunde nach bestätigt. Nach Auffassung des BAG stellt die Arbeitsleistung nicht nur ein Wirtschaftsgut dar, sondern ist regelmäßig auch Ausdruck des Persönlichkeitsrechts des Mitarbeiters; dieses findet seine Verankerung in der Verfassung und konkurriert mit den ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechten des Arbeitgebers (Art. 12, Art. 14 GG). Nach Ansicht des BAG ist das Konkurrenzverhältnis jedenfalls im ungekündigten Arbeitsverhältnis zugunsten der Interessen des Beschäftigten zu lösen. Seine Rechtsposition überwiegt grundsätzlich diejenige des Arbeitgebers.37) Treten ___________ 31) BAG, Urt. v. 19.3.2002 – 9 AZR 16/01, ZIP 2002, 2186, 2188. 32) Es ist bei vakanten Urlaubsansprüchen im Übrigen sinnvoll, im Zuge der Freistellungserklärung den genauen Urlaubstermin konkret festzulegen, vgl. dazu BAG, Urt. v. 17.5.2011 – 9 AZR 189/10, NZA 2011, 1032. 33) BAG, Urt. 17.5.2011 – 9 AZR 189/10, NZA 2011, 1032 = NJW 2011, 3386. 34) BAG, Urt. v. 10.2.2015 – 9 AZR 455/13, NZA 2015, 998 = ZIP 2015, 1753 (LS). 35) BAG, Urt. v. 11.10.1955 – 2 AZR 591/54, BAGE 2, 221 = NJW 1956, 359. 36) BAG, Beschl. v. 27.2.1985 – GS 1/84, ZIP 1985, 1214. 37) So ausdrücklich LS 1 Abs. 2 Satz 2 des Urteils des BAG, Beschl. v. 27.2.1985 – GS 1/84, ZIP 1985, 1214.
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auf Seiten des Unternehmens jedoch weitere Umstände hinzu, kann die Abwägung der Rechtspositionen anders ausfallen. Dies gilt namentlich dann, wenn auf Arbeitgeberseite ein berechtigtes Interesse besteht, einen Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen.38) Mithin gelten im Insolvenzeröffnungsverfahren im Falle einer Freistellung durch den 33 bisherigen Arbeitgeber mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters im Vorfeld des Ausspruchs einer etwaigen Kündigung die allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätze. Für das eröffnete Insolvenzverfahren folgt der Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit einer 34 Freistellung aus dem Beschluss des Großen Senats des BAG vom 27.2.1985. Im Rahmen der dortigen Entscheidung wurde der arbeitsrechtliche Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers auf der Grundlage von § 242 BGB hergeleitet; ferner führte der Große Senat i. R. eines obiter dictum mehrere Beispiele dafür an, wann konkret die Interessen des Arbeitgebers an einer Freistellung des Arbeitnehmers die Beschäftigungsinteressen des Arbeitnehmers überwiegen. Dies soll u. a. dann der Fall sein, wenn Auftragsmangel besteht.39) Hierauf wird sich ein Insolvenzverwalter – jedenfalls im Regelfall – ohne weiteres berufen können.40) Auf einen Rückgriff auf das seitens des LAG Hamm in seinen beiden Urteilen vom 27.9.200041) und vom 7.9.200142) formulierte insolvenzspezifische Freistellungsrecht kommt es mithin voraussichtlich nicht an.43) Nach Auffassung des LAG Nürnberg44) ist der Insolvenzverwalter bei der Ausübung seines 35 Freistellungsrechts an die Grenzen des billigen Ermessens gemäß § 315 BGB gebunden. Insoweit können i. R. der Auswahl der freizustellenden Mitarbeiter auch soziale Gesichtspunkte i. S. von § 1 KSchG wie etwa Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und besonderer finanzielle Interessen sowie Sonderkündigungsschutztatbestände von Bedeutung sein.45) Vonseiten des vom BAG in seinen beiden Entscheidungen von 1955 und 1985 hergeleiteten 36 allgemeinen Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers ist der betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG zu unterscheiden: Hat der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung frist- und ordnungsgemäß widersprochen und der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erhoben, ist der Arbeitgeber – und damit auch der Insolvenzverwalter – verpflichtet, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen. Von dieser Beschäftigungsverpflichtung kann sich auch ein Insolvenzverwalter lediglich unter den Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 – 3 BetrVG im Wege einer einstweiligen Verfügung des ArbG entbinden lassen. Wird ein Teil der Belegschaft durch den Insolvenzverwalter mangels ausreichender Masse 37 von der Arbeit freigestellt, besteht die Rechtsschutzmöglichkeit der betroffenen Arbeit___________ 38) BAG, Beschl. v. 27.2.1985 – GS 1/84, ZIP 1985, 1214, 1221. 39) BAG, Beschl. v. 27.2.1985 – GS 1/84, ZIP 1985, 1214, 1221. 40) Berscheid, ZInsO 2001, 64; Weisemann, DZWIR 2001, 151 (Urteilsanm.); Bertram, NZI 2001, 625; Lauer, ZIP 2006, 983; Bayreuther, ZIP 2008, 573; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 252 m. w. N. 41) LAG Hamm, Urt. v. 27.9.2000 – 2 Sa 1178/00, ZIP 2001, 435 ff. 42) LAG Hamm, Urt. v. 6.9.2001 – 4 Sa 1276/01, ZInsO 2002, 45 ff. 43) In seiner Entscheidung vom 10.4.2017 hat demgegenüber das LAG Hessen ein Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters aus insolvenzspezifischen Gründen abgelehnt und lediglich die Alternative einer Beurlaubung des Arbeitnehmers nach erfolgter Kündigung eingeräumt, welche jedoch die Verpflichtung zur Zahlung des Urlaubsentgelts einschließt (vgl. LAG Hessen, Urt. v. 10.4.2017 – 7 Sa 650/16, NZI 2017, 902). 44) LAG Nürnberg, Beschl. v. 30.8.2005 – 6 Sa 273/05, ZIP 2006, 256 (LS); Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 263. 45) So etwa Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 264 m. w. N.
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nehmer über eine einstweilige Verfügung im Übrigen lediglich dann, wenn die Auswahlentscheidung des Insolvenzverwalters willkürlich war oder offensichtlich unwirksam ist und besondere Beschäftigungsinteressen dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den freigestellten Arbeitnehmer erfordern.46) 38 Aufgrund einer Handhabung der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger hatte sich die unwiderrufliche Freistellung im Interesse einer Erfüllung der etwaigen Resturlaubsansprüche und Freizeitguthaben der freigestellten Arbeitnehmer vorübergehend als problematisch erwiesen: Im Rahmen der gemeinsamen Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen, des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und der Bundesagentur für Arbeit am 5. und 6.7.2005 schlussfolgerten diese aus einer solchen Freistellung, auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung des BSG, ein Ende der Versicherungspflicht mit der Folge, dass damit die Pflichtmitgliedschaft der betroffenen freigestellten Arbeitnehmer in der Krankenversicherung und auch in der Arbeitslosenversicherung ende.47) Nach Auffassung der Organisationen und Spitzenverbände verzichte der Arbeitgeber im Falle einer unwiderruflichen Freistellung auf sein Direktionsrecht; damit werde die ein sozialversicherungsrechtliches Beschäftigungsverhältnis i. S. von § 7 SGB IV kennzeichnende zweiseitige Beziehung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgehoben.48) 39 Das BSG hat dieser Auffassung jedoch mit zwei Entscheidungen vom 24.9.2008 eine Absage erteilt und das Fortbestehen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses trotz (unwiderruflicher) Freistellung festgestellt.49) 1.2
Freistellung und betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung
40 Im Falle der ersatzlosen Freistellung eines Arbeitnehmers von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung werden diesem seine bisherigen Arbeitsaufgaben entzogen, ohne dass ihm gleichzeitig neue Tätigkeiten zugewiesen werden. Mithin liegt hierin keine mitbestimmungspflichtige Versetzung i. S. von §§ 99 Abs. 1, 95 Abs. 3 Satz 1 BetrVG.50) 41 Die Freistellung eines Arbeitnehmers während der Laufzeit der Kündigungsfrist führt nach der Rechtsprechung auch nicht zur Mitbestimmung des Betriebsrates vor dem Hintergrund einer vorübergehenden Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit i. S. von § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG oder infolge der Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans sowie der Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG51). 42 Für Aufsehen gesorgt hat insoweit eine Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg vom 2.3.2012:52) Stellt der Insolvenzverwalter alle Arbeitnehmer unwiderruflich von der Arbeit frei, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, so ___________ 46) LAG Hamm, Urt. v. 27.9.2000 – 2 Sa 1178/00, ZIP 2001, 435 = NZI 2001, 499; a. A. ArbG Kaiserslautern, Entsch. v. 4.5.2001 – 7 Ca 193/01, ZInsO 2002, 96; LAG Hamm, Urt. v. 6.9.2001 – 4 Sa 1276/01, ZInsO 2002, 45; zum Ganzen auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 267 ff. 47) Vgl. zur einschlägigen Rspr. des BSG etwa Urt. v. 25.4.2002 – B 11 AL 65/01 R, NZA-RR 2003, 105; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 296. 48) Besprechung über Fragen des sog. Beitragseinzugs zur Kranken-, Pflege-, Renten und Arbeitslosenversicherung vom 5./6.7.2005, zit. bei Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 297. 49) BSG, Urt. v. 24.9.2008 – B 12 KR 22/07 R, BB 2009, 782 = NZA-RR 2009, 272, und BSG, Urt. v. 24.9.2008 – B 12 KR 27/07 R, NZA 2009, 559 = NZA-RR 2009, 269. 50) So BAG, Beschl. v. 28.3.2000 – 1 ABR 17/99, NZA 2000, 1355. 51) LAG Köln, Urt. v. 16.3.2000 – 10 (11) Sa 1280/99, ZInsO 2000, 571; so auch LAG Hamm, Beschl. v. 20.9.2002 – 10 TaBV 95/02, ZInsO 2003, 531; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 305. 52) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.3.2012 – 13 Sa 2187/11, ZIP 2012, 1429.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
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liege hierin bereits der Beginn einer Betriebsänderung, der den Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs i. S. von § 113 Abs. 3 BetrVG – als Masseschuld – entstehen lässt. Gleichermaßen wie eine Kündigung als einseitig gestaltende Willenserklärung sei die unwiderrufliche Freistellung nicht mehr umkehrbar. Dieser Konflikt lässt sich im (drohend) masseunzulänglichen Verfahren bei fehlenden finanziellen Mitteln zur Darstellung sämtlicher Löhne und Gehälter daher einmal mehr nur im Wege der verständnisvollen Kooperation mit dem amtierenden Betriebsrat lösen. Allerdings stellt das Unterlassen einer Freistellung durch den Insolvenzverwalter bei Masseunzulänglichkeit keine zum Schadensersatz nach §§ 60, 61 InsO führende (insolvenzspezifische) Pflichtverletzung dar.53) 2.
Rechtliche Voraussetzungen einer Änderung der Arbeitsbedingungen
Die Betriebsfortführung im vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahren stellt regelmäßig 43 keinen Selbstzweck dar, sondern dient jeweils der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung als Hauptziel eines jeden Insolvenzverfahrens.54) Unabhängig davon, ob dies i. R. einer x
„zerschlagenden“ Sanierung durch Einstellung des Geschäftsbetriebs durch Liquidation i. S. einer Veräußerung der Betriebsmittel und Beendigung der Arbeitsverhältnisse,
x
einer „übertragenden“ Sanierung i. S. einer Veräußerung der Assets des Unternehmens in der Regel durch Einzelrechtsnachfolge auf einen anderen Rechtsträger55) oder
x
einer „investiven“ Verwertung i. S. einer Sanierung und Erhaltung des Rechtsträgers infolge eines Insolvenzplans
geschieht, bedarf es regelmäßig bei allen drei Optionen (auch) einer Umstrukturierung im Personalbereich, um möglichst zeitnah eine Kostensenkung zu realisieren. Als mildestes Mittel einer personellen Umstrukturierung ist im Vorfeld einer ersatzlosen 44 Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses an eine Änderung der Arbeitsbedingungen zu denken, die – sofern eine einvernehmliche Regelung nicht möglich ist – notfalls in Form des Ausspruchs einer Änderungskündigung zu erfolgen hat.56) Eine Änderungskündigung enthält zunächst gleichermaßen wie die Beendigungskündigung 45 die Erklärung, dass das (bisherige) Arbeitsverhältnis sein Ende findet. Insoweit kommt die Änderungskündigung wie die Beendigungskündigung in ordentlicher wie auch außerordentlicher/fristloser Form in Betracht. Der Unterschied zur ersatzlosen Beendigungskündigung besteht darin, dass im Vorfeld oder – spätestens gleichzeitig – mit der Kündigung ein Änderungsangebot unterbreitet wird, das nach dem Willen des Arbeitgebers im Falle seiner Annahme nach Ablauf der Kündigungsfrist seine Rechtswirkungen entfaltet. Eine Änderungskündigung ist indes rechtlich nur zulässig und wirksam, wenn die Ände- 46 rung der Arbeitsbedingungen nicht auf milderem Wege, z. B. durch Ausübung des Direktionsrechts57) erreicht werden kann. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die Umschreibung des Arbeitsgebiets im Arbeitsvertrag (auch) die erstrebte Änderung zulässt und durch die Änderung der Tätigkeit kein wesentlicher Ansehens-, Status- oder auch finanzieller Verlust eintritt. Vermag mithin eine geringer dotierte Tätigkeit durch bloße Ausübung ___________ 53) BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, NZI 2013, 234 = ZIP 2013, 638; zum Nachteilsausgleich als Altmasseschuld im masseunzulänglichen Verfahren vgl. auch BAG, Urt. v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848. 54) So statt vieler Schmerbach in: FK-InsO, § 1 Rz. 12; Bruns in: MünchKomm-InsO, § 1 Rz. 20. 55) Hierzu etwa Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 2 – 5 m. w. N. 56) „Vorrang der Änderungskündigung“; st. Rspr. d. BAG, vgl. etwa BAG, Urt. v. 27.9.1984 – 2 AZR 62/83, BAGE 47, 26; BAG, Urt. v. 29.11.1990 – 2 AZR 282/90, n. v.; zum Ganzen auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 373, 389 ff.; Annuß, NZA 2005, 443. 57) Vgl. § 106 GewO; hierzu Gaul/Bonanni, ArbRB 2002, 234 ff.; Schulte, ArbRB 2003, 245.
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des Direktionsrechts nicht zugewiesen zu werden, verbleibt lediglich der Ausspruch einer Änderungskündigung i. S. einer einseitig gestaltenden Willenserklärung. 47 Im Zuge einer Betriebsfortführung innerhalb eines Insolvenzverfahrens wird die Änderung der Arbeitsbedingungen im Regelfall entweder zur Herabsetzung des Entgelts oder aber zur (zusätzlichen) Übertragung eines weiteren Aufgabengebietes gewollt sein. Derartige Maßnahmen sind typischerweise nicht vom arbeitgeberseitigen Direktionsrecht umfasst. 48 Im Übrigen gelten (auch) innerhalb der Insolvenz unabhängig davon, ob es sich um das Insolvenzeröffnungsverfahren oder das eröffnete Insolvenzverfahren handelt, die allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätze. Dies gilt insbesondere für das nach § 623 BGB einzuhaltende Schriftformerfordernis, das sich nicht nur auf die Beendigungserklärung, sondern auch auf das Änderungsangebot bezieht.58) Weiterhin muss das Änderungsangebot eindeutig formuliert sein, wobei der Vorbehalt einer näheren Gestaltung der geänderten Arbeitsbedingungen i. R. einer späteren Klärung zulässig ist. 3.
Personalabbau innerhalb einer Betriebsfortführung
3.1
Das Recht zur Beendigungskündigung
49 Spätestens mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Berechtigung, die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis wahrzunehmen, vom Insolvenzschuldner auf den Insolvenzverwalter über. Der Insolvenzverwalter ist Partei kraft Amtes.59) Da innerhalb der nunmehr beginnenden Phase des Insolvenzverfahrens die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmerschaft nicht mehr über Drittmittel (Insolvenzgeld) finanziert werden, hat dieser regelmäßig ein Interesse daran, zur Vermeidung eines Masseverzehrs sowie im Interesse einer Optimierung des Verfahrensergebnisses personelle Umstrukturierungsmaßnahmen zeitnah umzusetzen. 50 Die Arbeitsverhältnisse im Unternehmen der Insolvenzschuldnerin bestehen nach Verfahrenseröffnung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO unverändert, d. h. mit allen Rechten und Pflichten, fort,60) so dass spätestens zu diesem Zeitpunkt mit den Vorbereitungen zum Ausspruch von Beendigungskündigungen begonnen werden sollte. Im Interesse eines Zeitgewinns erscheint es darüber hinaus sinnvoll, entsprechende Vorbereitungsmaßnahmen bereits innerhalb des Eröffnungsverfahrens zu beginnen; dies gilt namentlich dann, wenn im Unternehmen ein Betriebsrat vorhanden ist, mit dem sowohl auf individueller (siehe Rz. 96 f.) als auch auf kollektiver Ebene (siehe dazu C. Mönning, § 26 Rz. 1 ff.) Verhandlungen durchzuführen sind. Zwar beginnen – rein formal – sämtliche einzuhaltenden Konsultationspflichten mit der Insolvenzeröffnung mit dem hierdurch vollzogenen, gesetzlich angeordneten Arbeitgeberwechsel erneut und sind grundsätzlich ein zweites Mal durchzuführen, jedoch wird im Zweifelsfalle ein verständiger Betriebsrat dazu bereit sein, angesichts einer innerhalb des Eröffnungsverfahrens bereits ausführlich behandelten und
___________ 58) Vgl. BAG, Urt. v. 16.9.2004 – 2 AZR 628/03, ZIP 2005, 366 = DB 2005, 395. 59) H. M. „Amtstheorie“, st. Rspr. seit RG, Urt. v. 30.3.1892 – Rep. V. 255/91, RGZ 29, 29; vgl. etwa BGH, Urt. v. 26.1.2006 – IX ZR 282/03, ZInsO 2006, 260; BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, ZIP 2005, 1034 = WM 2005, 1084; Kübler/Prütting/Bork-Lüke, InsO, § 80 Rz. 34 ff., 37. Hieraus folgt auch die Passivlegitimation für etwaige Kündigungsschutzklagen, vgl. etwa BAG, Urt. v. 18.10.2012 – 6 AZR 41/11, DB 2013, 586. Diese Passivlegitimation endet, wenn der Verwalter von seinem Freigaberecht aus § 35 Abs. 2 InsO Gebrauch macht, vgl. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, DB 2014, 667. 60) Statt vieler Berscheid, ZInsO 1998, 115; Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 215.
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diskutierten Umstrukturierungsmaßnahme auf das Verhandlungsergebnis Bezug zu nehmen und die erneut anlaufenden Anhörungsfristen zu verkürzen.61) 3.2
Einzelvertragliche, kollektivrechtliche und gesetzliche Formvorschriften
Da die in verschiedenen Gesetzen verstreuten arbeitsrechtlichen Bestimmungen durch die 51 Insolvenzeröffnung nicht tangiert werden, hat auch der Insolvenzverwalter bei Ausspruch einer Kündigung die vertraglich vereinbarten oder kollektivrechtlich vorgeschriebenen Formvorschriften einzuhalten; § 113 Satz 1 InsO eröffnet lediglich das Recht zur jederzeitigen Kündigungsmöglichkeit, enthält jedoch nicht gleichzeitig auch eine Freistellung von vertraglich vereinbarten Formerfordernissen.62) Mithin ist auch seitens des Insolvenzverwalters gemäß § 623 BGB die gesetzlich postu- 52 lierte Schriftform der Kündigung zu beachten; die Nichteinhaltung dieser oder der durch Gesetz, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung vorgeschriebenen ergänzenden Formvorschriften hat gemäß § 125 Satz 1 BGB die Nichtigkeit der ausgesprochenen Kündigung zur Folge. Im Hinblick auf eine Bestimmtheit der Kündigungserklärung gelten die allgemeinen Grund- 53 sätze: Der Empfänger muss insoweit erkennen können, wann das Arbeitsverhältnis enden soll. Ausreichend ist hier regelmäßig eine Angabe des Kündigungstermins oder der Kündigungsfrist, zu der Fristberechnung zugrundeliegenden rechtlichen Erwägungen oder Bestimmungen müssen im Regelfall nicht angegeben werden.63) 3.3
Die Beschränkung des Rechts zur ordentlichen Kündigung
3.3.1 Gesetzlicher Sonderkündigungsschutz Enthält § 113 InsO ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen verein- 54 barten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung das jederzeitige Kündigungsrecht des Insolvenzverwalters verbunden mit einer Maximalfrist (Kappungsgrenze) von drei Monaten zum Monatsende, folgt daraus im Umkehrschluss, dass ein etwaig bestehender gesetzlicher Sonderkündigungsschutz in der Insolvenz nicht ausgeschlossen werden sollte. Damit ist der Sonderkündigungsschutz namentlich folgender Arbeitnehmergruppen zu beachten:64) x
Schwerbehindertenschutz bei Schwerbehinderten und Gleichgestellten gemäß § 168 SGB IX,
___________ 61) Selbst wenn sich der der Kündigungsentscheidung zugrunde liegende Sachlage alleine durch die Insolvenzeröffnung nicht geändert hat, hört nunmehr i. S. d. § 102 BetrVG – formal – ein neuer Arbeitgeber an; i. R. der Informationspflichten ist zwingend darauf zu achten, dass insbesondere auch die auf durch § 113 InsO nunmehr geänderte Kündigungsfrist und deren Auswirkung auf jeden Einzelfall hingewiesen wird. 62) So etwa Düwell in: Kölner Schrift, S. 1433, 1454, Rz. 62; Berscheid, Arbeitsverhältnisse in der Insolvenz, Rz. 542 m. w. N. 63) Umgekehrt reicht bei Nichtangabe des konkreten Beendigungstermins ein Hinweis auf die maßgebliche gesetzliche Regelung im Kündigungstext aus, wenn der Erklärungsempfänger durch eigene Subsumtion unschwer ermitteln kann, zu welchem Termin sein Arbeitsverhältnis enden soll; vgl. zu einer Kündigung durch einen Insolvenzverwalter BAG, Urt. v. 20.6.2013 – 6 AZR 805/11, ZIP 2013, 1835 = DB 2013, 2093; zur ausreichenden Bestimmtheit des Ausspruchs einer Kündigung „zum nächstmöglichen Termin“ vgl. auch BAG, Urt. v. 10.4.2014 – 2 AZR 647/13, NZA 2015, 162. 64) Es handelt sich um einen Auszug der wichtigsten einen Sonderkündigungsschutz genießenden Personengruppen; weitere Vorschriften wie z. B. zum Schutz von Personen während der Ableistung von Wehr- oder Zivildienst (gemäß § 2 ArbPlSchG/§ 78 ZDG) oder von Kämpfern gegen den Faschismus und Verfolgte des Faschismus (§ 58 Abs. 1a i. V. m. § 59 Abs. 2 AGB-DDR) spielen heute in der Praxis keine maßgebliche Rolle mehr.
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Sonderkündigungsschutz von Inhabern eines Bergmannsversorgungsscheins (§ 1 BVSG Nds.; §§ 11, 12 BVSG NRW; §§ 11, 12 BVSG Saarland), Sonderkündigungsschutz für Immissionsschutz- und Störfallbeauftragte (§ 58 Abs. 2 BImSchG und § 58d i. V. m. § 58 Abs. 2 BImSchG), amtsbezogener Kündigungsschutz für Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (§ 9 Abs. 3 ASiG) und sonstige Betriebsbeauftragte, amtsbezogener Kündigungsschutz für Datenschutzbeauftragte (§ 6 Abs. 4 BDSG), Sonderkündigungsschutz von Mitgliedern des Betriebsrats oder anderer Organe der Betriebsverfassung (§ 15 Abs. 1 KSchG, ferner nach § 15 Abs. 3 KSchG von Mitgliedern des Wahlvorstandes sowie Wahlbewerbern, Mitgliedern einer Jugendvertretung etc.),
Sonderkündigungsschutz von Mitgliedern der Schwerbehindertenvertretung (§ 179 Abs. 3 SGB IX unter Verweis auf den Kündigungsschutz des Betriebsrats), x Mutterschutz (§ 17 Abs. 1 MuSchG), x Elternzeit (vormals: Erziehungsurlaub) gemäß § 18 BEEG, x pflegende Angehörige nach § 5 PflegeZG. Der Schutz dieser Personengruppen ist grundsätzlich insolvenzfest, es sei denn, es kann seitens des Insolvenzverwalters nachgewiesen werden, dass der betreffende Arbeitsplatz insolvenzbedingt entfällt. Teilweise kann sodann ordentlich zum Zeitpunkt des Wegfalls des Arbeitsplatzes, teilweise muss außerordentlich mit einer der maßgeblichen ordentlichen Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist, gekündigt werden.65) In einigen Fällen – namentlich im Falle der Schwerbehinderten sowie des Mutterschutzes/Erziehungsurlaubes – bedarf der Insolvenzverwalter gleichermaßen wie der Arbeitgeber vor Verfahrenseröffnung zur Kündigung der vorherigen Zustimmung von Behörden. Weiterhin bleibt zu beachten, dass die Kündigung im Bereich des Mutterschutzes schriftlich unter Angabe der Kündigungsgründe zu erfolgen hat (§ 17 Abs. 2 Satz 2 MuSchG). Mitglieder des Betriebsrats können nach Maßgabe der § 15 Abs. 4 und 5 KSchG ordentlich frühestens zum Zeitpunkt einer Betriebs- oder Betriebsteilstilllegung gekündigt werden. Im Falle der Betriebsfortführung führt dies regelmäßig zur zwingenden Weiterbeschäftigung des (gesamten) Betriebsrats, es sei denn, ein abgrenzbarer Betriebsteil wird vorzeitig geschlossen. Behinderten Arbeitnehmern bzw. Gleichgestellten i. S. von § 2 Abs. 3 SGB IX kommt ein besonderer Kündigungsschutz zu, indem – falls das Arbeitsverhältnis mit dem Schwerbehinderten/Gleichgestellten zum Zeitpunkt der Kündigung länger als sechs Monate andauerte – der Kündigung durch den Arbeitgeber/Insolvenzverwalter gemäß § 168 SGB IX die Erteilung einer vorherigen Zustimmung durch das Integrationsamt vorausgehen muss. Dabei setzt der Bestand des Sonderkündigungsschutzes dann ein, wenn dem Arbeitgeber dieser im Zeitpunkt der Kündigung nachgewiesen ist (§ 173 Abs. 3 SGB IX). Die rein präventive Stellung eines Antrags auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft ins Blaue hinein im Vorfeld einer erwarteten Kündigung macht angesichts dieser zum 1.4.2004 in Kraft getretenen Neuregelung keinen Sinn mehr. Die Kündigungsfrist beträgt gemäß § 169 SGB IX mindestens vier Wochen. Im Übrigen gelten für das sodann vom Insolvenzverwalter durchzuführende Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt keine Besonderheiten. Allerdings ergeben sich Sonderregelungen für den Fall der Durchführung einer interessenausgleichspflichtigen Betriebsänderung im eröffneten Insolvenzverfahren: Hier soll das Integrationsamt die Zustimmung erteilen, wenn der Schwerbehinderte im Interessenaus___________ x
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65) So etwa Berufsausbildungsverhältnisse im Falle einer Betriebsstilllegung, BAG, Urt. v. 27.5.1993 – 2 AZR 601/92, ZIP 1993, 1316.
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gleich mit Namensliste bezeichnet ist, die Schwerbehindertenvertretung beim Zustandekommen des Interessenausgleichs beteiligt wurde, der Anteil der nach dem Interessenausgleich zu entlassenden schwerbehinderten Menschen an der Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten nicht größer ist als der Anteil der zu entlassenden übrigen Arbeitnehmer und die Gesamtzahl der schwerbehinderten Menschen, die nach dem Interessenausgleich im Unternehmen der Insolvenzschuldnerin verbleiben sollen, zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht nach § 154 SGB IX ausreicht (vgl. hierzu i. E. § 172 Abs. 3 SGB IX). Im Falle einer völligen Betriebsstilllegung (auch im Insolvenzverfahren) besteht für das Integrationsamt kein Ermessensspielraum. Die Zustimmung ist in diesem Fall zu erteilen, wenn zwischen der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Lohn oder Gehalt bezahlt wird, mindestens drei Monate liegen (§ 172 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). 3.3.2 Die Kündigung von Berufsausbildungsverhältnissen Ausbildungsverhältnisse können (auch) durch den Insolvenzverwalter gemäß § 22 Abs. 1 59 BBiG innerhalb der ein- bis dreimonatigen Probezeit ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden. Nach deren Ablauf bedarf (auch) ein Insolvenzverwalter eines wichtigen Grundes zur Kündigung (§ 22 Abs. 2 BBiG). Für den Fall des Vorliegens einer Betriebsstilllegung ist es dem Insolvenzverwalter erlaubt, 60 eine außerordentliche Kündigung des Ausbildungsverhältnisses unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfristen in entsprechender Anwendung des § 622 BGB auszusprechen.66) 3.3.3 Befristete oder auflösend bedingte Arbeitsverhältnisse Befristete und auflösend bedingte Arbeitsverhältnisse enden gemäß § 620 Abs. 1 BGB mit 61 dem Ablauf der Zeit, für die sie eingegangen sind. Sofern vertraglich nicht noch zusätzlich das Recht zur ordentlichen Kündigung vorbehalten wurde, ist daher nach allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen innerhalb der Laufzeit nur eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB möglich. Die Vorschrift des § 113 InsO ermöglicht es dem Insolvenzverwalter, ein Dienstverhältnis ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer jederzeit zu kündigen.67) Aufgrund dieser gesetzgeberischen Anordnung sind auch tarifvertragliche Kündigungsbeschränkungen bei befristeten und auflösend bedingten Arbeitsverhältnissen im Insolvenzverfahren unbeachtlich.68) 3.3.4 Vereinbarter Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts Durch § 113 Satz 1 InsO wird klargestellt, dass eine einzelvertraglich vereinbarte Unkünd- 62 barkeit in der Insolvenz generell unbeachtlich ist.69) Die Kündigungsfrist bemisst sich nach den maßgeblichen gesetzlichen oder tariflichen Fristen, wenn diese kürzer als drei Monate sind, ansonsten gilt als Kappungsgrenze die Höchstfrist bis § 113 Satz 2 InsO von drei Monaten zum Monatsende. 3.3.5 Tariflicher Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung Manche Tarifverträge sehen unter gewissen Voraussetzungen (Dauer der Betriebszugehörig- 63 keit, Lebensalter) eine ordentliche Unkündbarkeit betroffener Mitarbeiter vor;70) in diesen ___________ 66) Für das z. Zt. einer Geltung der KO maßgebliche Recht BAG, Urt. v. 27.5.1993 – 2 AZR 601/92, ZIP 1993, 1316; für eine entsprechende Anwendung im Insolvenzverfahren auch Opolony, BB 1999, 1706, 1707. 67) So bereits für das Konkursrecht LAG Frankfurt/M., Entsch. v. 13.9.1985 – 13 Sa 332/85, EWiR 1985, 899 (Grunsky), dazu auch Berscheid, Arbeitsverhältnisse in der Insolvenz, Rz. 554. 68) Berscheid, Arbeitsverhältnisse in der Insolvenz, Rz. 554. 69) Vgl. zur Rechtslage z. Zt. der KO Berscheid, Arbeitsverhältnisse in der Insolvenz, Rz. 556. 70) So etwa § 20 Nr. 4 Satz 1 MTV Metall NRW.
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Fällen der Kündigung eines sog. „altersgeschützten“ Arbeitnehmers bedurfte es früher nach allgemeinen rechtlichen Grundsätzen mithin eines wichtigen Grundes i. S. von § 626 BGB, um dennoch eine Beendigungsmöglichkeit – mit entsprechender Auslauffrist – zu eröffnen. Wie im Falle der Auszubildenden hat auch hier das BAG die Konstellation einer Betriebsstilllegung als solchen wichtigen Grund anerkannt, um eine außerordentliche Kündigung ausnahmsweise zu rechtfertigen. In diesem Fall sollte eine außerordentliche Kündigung gegenüber einem tariflich unkündbaren Arbeitnehmer aus betriebsbedingten Gründen unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zulässig sein, wenn der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers weggefallen und auch unter Einsatz aller zumutbaren Mittel, ggf. durch Umorganisation eines Betriebes oder eine Versetzung, eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ausgeschlossen war.71) Mithin war im Falle einer Kündigung als Auslauffrist die bis dahin erdiente gesetzliche/tarifliche Kündigungsfrist einzuhalten, die gegolten hätte, wenn die ordentliche Kündigung nicht ausgeschlossen gewesen wäre.72) Nach aktueller Rechtsprechung des BAG auf der Grundlage der InsO ist nunmehr eine tarifvertraglich vereinbarte Unkündbarkeit älterer Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit als ein vereinbarter Kündigungsausschluss i. S. von § 113 Satz 1 InsO anzusehen.73) Die insbesondere unter Hinweis auf Art. 9 Abs. 3 GG erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken haben sich in der Praxis nicht durchsetzen können.74) 3.4
Kündigungsfristen und -termine in der Insolvenz
3.4.1 Gesetzliche Regelungen 64 Die Vorschrift des § 113 Satz 2 InsO bestimmt, dass die Kündigungsfrist im eröffneten Insolvenzverfahren maximal drei Monate zum Monatsende beträgt, sofern nicht eine kürzere Frist maßgeblich ist. Damit ist für das Insolvenzverfahren eine Höchstfrist bestimmt; sie kommt nur zur Anwendung, wenn außerhalb des Insolvenzverfahrens keine kürzere einzelvertragliche, tarifliche oder gesetzliche Kündigungsfrist zur Anwendung gelangt.75) Mithin bedarf es in jedem Einzelfall einer Überprüfung der (einzel-)vertraglichen Kündigungsfristenregelung; selbst wenn jedoch im Individualvertrag eine kurze Kündigungsfrist niedergelegt ist, hat in Anbetracht des im Arbeitsrecht geltenden Günstigkeitsprinzips noch eine parallele Überprüfung anhand der gesetzlichen Kündigungsfristenregelung des § 622 BGB zu erfolgen, die in Absatz 2 für den Fall der Arbeitgeberkündigung i. R. einer Bemessung der Frist auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers zurückgreift. Entgegen der derzeit noch im Gesetz befindlichen Anordnung sind (auch) Zeiten,
___________ 71) So bejaht für den Fall einer Betriebsstilllegung (außerhalb des Konkurses/der Insolvenz) BAG, Urt. v. 28.3.1985 – 2 AZR 113/84, ZIP 1985, 1351; so nachfolgend auch BAG, Urt. v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, ZIP 1998, 1119. 72) BAG, Urt. v. 28.3.1985 – 2 AZR 113/84, ZIP 1985, 1351. 73) BAG, Urt. v. 19.1.2000 – 4 AZR 70/99, NZA 2000, 658, 659 = ZIP 2000, 985, so auch zuvor schon zur Verkürzung längerer tarifvertraglicher Kündigungsfristen durch die Kappungsgrenze des § 113 Satz 2 InsO BAG, Urt. v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, ZIP 1999, 1933 = NZA 1999, 1331. 74) Vgl. etwa ArbG Limburg, Entsch. v. 2.7.1997 – 1 Ca 174/97, InVo 1998, 46; ArbG Stuttgart, Beschl. v. 4.8.1997 – 18 Ca 1752/97, 1758/97, ZIP 1997, 2013, darauffolgend BVerfG v. 8.2.1999 – 1 BvL 25/97, ZIP 1999, 1221; zum Ganzen auch Kübler/Prütting/Bork-Moll, InsO, § 113 Rz. 95 ff. 75) Berscheid, ZInsO 1998, 159, 162; Düwell in: Kölner Schrift, S. 1433, 1449 Rz. 47; sie kommt auch bei der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in einem amerikanischen Chapter-11-Verfahren zur Anwendung, wenn nach Maßgabe der Bestimmungen des internationalen Insolvenzrechts (hier § 337 InsO mit seinem Verweis auf Rom I-VO) deutsches Recht auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet, vgl. BAG, Urt. v. 24.9.2015 – 6 AZR 492/14, ZIP 2015, 2387.
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die vor Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen, voll berücksichtigungsfähig.76) Im Übrigen gelten jenseits der Kappungsgrenze von drei Monaten für eine Insolvenzkün- 65 digung keine Besonderheiten; insbesondere sind die Sonderkündigungsfristen besonderer Personengruppen (Kündigungsfristen in Heimarbeitsverhältnissen, Heuerverhältnissen, Kündigungsfristen für Schwerbehinderte, Kündigungsfristen für Ersatzkräfte für Erziehungsurlaub etc.) auch in der Insolvenz bis zur Maximalfrist von drei Monaten zu beachten.77) 3.4.2 Einzelvertragliche Vereinbarungen über Kündigungsfristen und -termine Vom einzelvertraglich vereinbarten Kündigungsausschluss ist die einzelvertragliche Modi- 66 fikation der Kündigungsfrist zu unterscheiden. Die – auch nach dem Günstigkeitsprinzip ohne weiteres zulässige – vertragliche Überschreitung der gesetzlichen Kündigungsfristen des § 622 BGB wird durch die Maximalfrist von drei Monaten des § 113 Satz 2 InsO begrenzt.78) Dem gegenüber beurteilt sich die Zulässigkeit einer Unterschreitung der gesetzlichen Kündigungsfristen – insolvenzunabhängig – nach § 622 Abs. 5 BGB. 3.5
Die Nachkündigung durch den Insolvenzverwalter
Jedes Insolvenzverfahren zeichnet sich von Beginn an durch eine gewisse Dynamik aus. 67 Dabei kann es vorkommen, dass gegenüber ein- und demselben Arbeitnehmer im Zuge des zeitlichen Verlaufs wiederholt eine Kündigung ausgesprochen werden muss. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn der Insolvenzschuldner bereits vor Beginn des Verfahrens im Interesse einer Sanierung seines notleidenden Unternehmens Kündigungen ausgesprochen hatte und sich nunmehr innerhalb des Eröffnungsverfahrens oder des eröffneten Insolvenzverfahrens diese Notwendigkeit verfestigt. Die Notwendigkeit des Ausspruchs einer erneuten Kündigung (Nachkündigung) kann insbesondere dann gegeben sein, wenn entweder die erste Kündigung an formalen oder materiellen Mängeln leidet, die durch eine Nachkündigung geheilt werden sollen oder etwa der Ausspruch der erneuten Kündigung lediglich vor dem Hintergrund erfolgt, die Kappungsgrenze des § 113 Satz 2 InsO im Interesse einer weitergehenden Kostenminimierung zur Anwendung zu bringen. Insbesondere im Zuge einer Betriebsfortführung kann es erforderlich sein, vom Insolvenzschuldner bereits im Vorfeld eingeleitete Sanierungsmaßnahmen durch überholende zweite Kündigungen in ihrer Kostenfolge zu beschleunigen. Das ArbG Köln hatte in einer viel beachteten Entscheidung der Wirksamkeit einer Nach- 68 kündigung unter ausschließlicher Ausnutzung der privilegierten (kürzeren) Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO eine Absage erteilt.79) Das BAG hat sich seinerseits einige Jahre später mit der Problematik beschäftigt und die Nachkündigung in der Insolvenz auch für ___________ 76) EuGH, Urt. v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 (Seda Kücükdeveci/Swedex GmbH & Co KG), NJW 2010, 427 = Slg. 2010, I-365; nachfolgend BAG, Urt. v. 1.9.2010 – 5 AZR 700/09, ZIP 2011, 140 = NJW 2010, 3740; BAG, Urt. v. 9.9.2010 – 2 AZR 714/08, ZIP 2011, 444 = NJW 2011, 1626; die von der Beschäftigungsdauer abhängige Staffelung der Kündigungsfristen stellt jedoch im Übrigen keine verbotene Altersdiskriminierung dar, vgl. BAG, Urt. v. 18.9.2014 – 6 AZR 636/13, ZIP 2015, 91 = NZA 2014, 1400. 77) So lehnt etwa das BAG einen Anspruch einer in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmerin aus Art. 6 GG auf Verlängerung der Kappungsgrenze des § 113 Satz 2 InsO ab, vgl. BAG, Urt. v. 27.2.2014 – 6 AZR 301/12, ZIP 2014, 1685 = DB 2014, 1145. 78) Dies gilt – verfassungsrechtlich unbedenklich – auch für längere tarifliche Kündigungsfristen, vgl. BAG, Urt. v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, ZIP 1999, 1933 = NZA 1999, 1331. 79) ArbG Köln, Urt. v. 8.12.1998 – 4 (15) Ca 5991/98, NZI 1999, 282; dazu auch Leithaus, NZI 1999, 254; Berscheid, NZI 2000, 1, 5; zur Zulässigkeit und Unzulässigkeit von sog. Nach- oder Wiederholungskündigungen – auch in der Insolvenz – s. zuvor auch schon LAG Hamm, Urt. v. 13.8.1997 – 14 Sa 566 – 568/97, ZIP 1998, 161; LAG Hamm, Urt. v. 23.9.1999 – 4 Sa 1007/98, ZIP 2000, 246; LAG Düsseldorf, Urt. v. 13.1.1999 – 12 Sa 1810/98, ZInsO 1999, 544.
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den Fall der bloßen Ausnutzung der kürzeren Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO für zulässig erklärt und das Vorliegen einer unzulässigen Wiederholungskündigung verneint.80) Ob dies angesichts der Arbeitgeberidentität auch für den Fall einer Eigenverwaltung gilt, ist bislang nicht geklärt.81) 69 Im Zuge der Dynamik einer Betriebsfortführung kann es umgekehrt auch vorkommen, dass es erforderlich wird, neue Arbeitskräfte einzustellen. Hier hat sich in der Vergangenheit die Frage gestellt, ob auch in dieser Konstellation im Falle der Notwendigkeit einer anschließenden Kündigung das Privileg der Kappungsgrenze des § 113 Satz 2 InsO Anwendung findet. Das LAG Berlin-Brandenburg hat diese Frage – gleichermaßen wie der Großteil des arbeitsrechtlichen Schrifttums – bejaht.82) In der Praxis wird diese Problematik kaum relevant sein, da ein neu eingestellter Arbeitnehmer jedenfalls im Regelfall (noch) über keine die Grundperiode von vier Wochen überschreitende Kündigungsfrist verfügen wird. 3.6
Ersatz des „Verfrühungsschadens“
70 Als Ausgleich für die gesetzliche Anordnung, der zufolge die durch mehrjährige Betriebszugehörigkeit erdienten längeren Kündigungsfristen auf eine Maximalfrist von drei Monate reduziert werden, hat der Gesetzgeber in § 113 Satz 3 InsO dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Schadensersatz zugebilligt (sog. „Verfrühungsschaden“). Dieser Schadenersatzanspruch begründet allerdings keine Masseschuld, sondern ist entsprechend der eindeutigen gesetzlichen Anordnung i. S. von § 174 InsO als Insolvenzforderung zur Tabelle anzumelden.83) 71 Im Rahmen der Schadensberechnung ist grundsätzlich die Differenz zur – durch § 113 Satz 1 InsO auf drei Monate verkürzten – Kündigungsfrist zugrunde zu legen. Ein innerhalb der hypothetischen längeren Kündigungsfrist anderweitig erzielter oder erzielbarer Verdienst ist i. R. der Schadensberechnung anzurechnen.84) Falls der Arbeitnehmer mit dem Insolvenzverwalter einen (vorzeitigen) Aufhebungsvertrag abschließt, soll dies allerdings nicht gelten.85) Im Falle des vertraglichen/tarifvertraglichen Ausschlusses der ordentlichen Kündbarkeit bspw. eines altersgeschützten Arbeitnehmers ist i. R. der Bemessung des Schadens die ohne die vereinbarte Unkündbarkeit geltende längste ordentliche Kündigungsfrist maßgebend.86) 3.7
Die betriebsbedingte Beendigungskündigung
72 Während noch innerhalb des Insolvenzeröffnungsverfahrens eine Darstellung der Arbeitnehmerlöhne regelmäßig über das Insolvenzgeld (ggf. unter Inanspruchnahme einer Vor___________ 80) BAG, Urt. v. 8.4.2003 – 2 AZR 15/02, ZIP 2003, 1260; BAG, Urt. v. 22.5.2003 – 2 AZR 255/02, ZIP 2003, 1670; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 592 – 595 m. w. N. 81) Im Ergebnis jedoch wohl anzunehmen; vgl. dazu Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 595. 82) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.7.2007 – 23 Sa 450/07, ZIP 2007, 2002; Arens/Brand, Arbeitsund Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 329; Kübler/Prütting/Bork-Moll, InsO, § 113 Rz. 88; Caspers in: MünchKomm-InsO, § 113 Rz. 13a; ablehnend Henkel, ZIP 2008, 1265. 83) Angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung des § 113 Satz 3 InsO und der Kompensation in Form des Verfrühungsschadens verweigert das BAG auch in Fällen des Sonderkündigungsschutzes einen Anspruch auf Verlängerung der Kündigungsfrist, so etwa zur Elternzeit BAG, Urt. v. 27.2.2014 – 6 AZR 301/12, ZIP 2014, 1685 = DB 2014, 1145. 84) Hierzu etwa Berkowsky, NZI 1999, 129, 131; Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 249; etwaige Nachteile durch den eventuell früher endenden Bezugszeitraum für Arbeitslosengeld sind nicht zu berücksichtigen; vgl. dazu etwa LAG Hessen, Urt. v. 22.1.2013 – 13 Sa 1108/12, NZI 2013, 363. 85) BAG, Urt. v. 25.4.2007 – 6 AZR 622/04, ZIP 2007, 1875. 86) BAG, Urt. v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829.
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finanzierung) gesichert ist, stellt sich das Problem einer Finanzierung der Betriebsfortführung in seiner gesamten Schärfe ab dem Stichtag der Verfahrenseröffnung. Ab diesem Zeitpunkt übernimmt der Insolvenzverwalter die Arbeitgeberfunktion und rückt damit in den gesamten Pflichtenkreis ein, zu dem insbesondere auch eine Erfüllung der Lohnzahlungsverpflichtung als Masseschuld gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO gehört.87) Im Interesse einer Optimierung des Fortführungsergebnisses gehört daher die zeitnahe Umsetzung von personellen Anpassungsmaßnahmen regelmäßig zu den Grundvoraussetzungen der Rentabilität einer Betriebsfortführung.88) Jenseits der Bestimmungen des kollektiven Arbeitsrechts (siehe hierzu nachfolgend C. Mönning, § 26) ergeben sich hier dem Grunde nach für das Kündigungsrecht innerhalb des Insolvenzverfahrens keine Besonderheiten. 3.7.1 Dringende betriebliche Erfordernisse In denjenigen Fällen, in denen der Anwendungsbereich des KSchG eröffnet ist,89) unterfällt 73 eine im Interesse der Erhaltung/Optimierung der Rentabilität ausgesprochene Kündigung dem Bereich der betriebsbedingten Kündigung i. S. von § 1 Abs. 2 Satz 1 Alt. 3 KSchG. Nach der gesetzlichen Vorgabe bedarf es mithin „dringender betrieblicher Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers im Betrieb entgegenstehen“, um die Kündigung sozial zu rechtfertigen. Derartige dringende betriebliche Erfordernisse liegen regelmäßig dann vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen (Organisations-)Entscheidung auf der betrieblichen Ebene spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Diese Prognose muss schon im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv berechtigt sein (siehe dazu auch unten Rz. 98 ff.).90) Wurde mit der Umsetzung der organisatorischen Maßnahmen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch nicht begonnen, müssen zumindest die Absicht und der Wille des Arbeitgebers, diese Maßnahmen vorzunehmen, zu diesem Zeitpunkt schon vorhanden und abschließend gebildet worden sein.91) Die zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs führenden dringenden betrieblichen Erforder- 74 nisse können sich dabei aus innerbetrieblichen oder aus außerbetrieblichen Umständen ergeben:92) x
Zu außerbetrieblichen Gründen gehören etwa Auftragsmangel, Umsatzrückgang oder Absatzschwierigkeiten;
x
innerbetriebliche Gründe bestehen regelmäßig in einer von der Geschäftsleitung/dem Insolvenzverwalter geplanten Umstrukturierungsmaßnahme aus Kostengründen, Betriebseinschränkungen, einer Verlagerung der Produktion ins Ausland oder einer (Teil-) Betriebsstilllegung.93)
Auf der Grundlage entsprechender innerbetrieblicher oder außerbetrieblicher Gründe muss 75 sich der Insolvenzverwalter im Wege einer unternehmerischen Entscheidung zu organisa___________ Allg. Ansicht, statt vieler etwa Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 4 Rz. 3. So schon R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 852. Vgl. die Anwendbarkeitsvoraussetzungen gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG. BAG, Urt. v. 23.2.2010 – 2 AZR 268/08, ZIP 2010, 1461 = NZA 2010, 944; BAG, Urt. v. 7.7.2005 – 2 AZR 399/04, NZA 2006, 266; BAG, Urt. v. 31.7.2014 – 2 AZR 422/13, ZIP 2014, 2525. 91) BAG, Urt. v. 31.7.2014 – 2 AZR 422/13, ZIP 2014, 2525; BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105= NZA 2015, 679. 92) Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 338. 93) Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 340; vgl. auch zur betriebsbedingten Kündigung bei Betriebsstillegung BAG Urt. v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 = NZA 2014, 336. 87) 88) 89) 90)
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torischen Maßnahmen entschließen, als deren Folge das Bedürfnis für die weitere Beschäftigung der betroffenen Arbeitnehmer gänzlich entfällt.94) Ob eine solche unternehmerische Entscheidung tatsächlich getroffen wurde, ist von den ArbG i. R. einer Beweisaufnahme voll überprüfbar. In der Praxis empfiehlt sich hier regelmäßig eine entsprechende schriftliche Dokumentation bspw. in Form eines Protokolls der Sitzung eines (vorläufigen) Gläubigerausschusses. Ob sodann die unternehmerische Entscheidung angesichts der wirtschaftlichen Situation sachlich gerechtfertigt oder zweckmäßig ist, unterliegt hingegen nicht der richterlichen Überprüfung; diese beschränkt sich vielmehr i. R. eines eingeschränkten Prüfungsmaßstabs auf eine Willkürkontrolle.95) 76 Insbesondere für den Bereich der außerbetrieblichen Gründe hat das BAG klargestellt, dass eine soziale Rechtfertigung der Kündigung in diesem Sinne dann vorliegt, wenn bei Ausspruch der Kündigung aufgrund einer vernünftigen betriebswirtschaftlichen Prognose zu erwarten ist, dass zum Zeitpunkt des Kündigungstermins mit einiger Sicherheit der Eintritt des die Entlassung erforderlich machenden, betrieblichen Grundes gegeben ist und keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr besteht.96) In dieser Konstellation wird der Rückgang der Beschäftigung dem Insolvenzverwalter gleichsam von außen „aufgezwungen“, ohne dass er selbst gestaltend eingewirkt hat. Hier trifft der Insolvenzverwalter in der Konsequenz eine sich selbst bindende Entscheidung, die im Streitfall insbesondere auch hinsichtlich der außerbetrieblichen Zwänge und deren Auswirkungen auf den einzelnen betroffenen Arbeitsplatz gerichtlich voll überprüft werden kann.97) 77 Einen bislang in der Praxis eher selteneren Sonderfall stellt insoweit die betriebsbedingte Druckkündigung dar. Hier sieht sich der Insolvenzverwalter als Arbeitgeber aufgrund des Drucks von Vertragspartnern der Insolvenzschuldnerin bzw. Gläubigern gezwungen, zur Vermeidung schwerer wirtschaftlicher Schäden für das Unternehmen (etwa infolge der Notwendigkeit zur Betriebsstillegung mangels Bereitschaft einer Bank zu einer Verlustübernahme98)) ein oder mehrere Arbeitsverhältnisse zu kündigen. Die Rechtsprechung hat diese betriebsbedingte Druckkündigung als „echte Druckkündigung“99) grundsätzlich für zulässig erklärt, auch wenn sie – der „unechten Druckkündigung“ insoweit vergleichbar – hohen Anforderungen unterliegt: Der Arbeitgeber bzw. Insolvenzverwalter hat sich auch hier zunächst schützend vor den betroffenen Arbeitnehmer zu stellen. Nur wenn auf diese Weise die Drohung nicht abgewendet werden kann und bei Verwirklichung der Drohung ___________ 94) BAG, Urt. v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, ZIP 1997, 122; Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 345. Im Fall von angesichts einer Betriebsstilllegung mit der Maximalfrist des § 113 InsO ausgesprochenen Kündigungen sind die nach Fristablauf noch verbleibenden insolvenzspezifischen Abwicklungstätigkeiten grundsätzlich als i. R. des § 1 Abs. 2 KSchG zu berücksichtigende, ggf. zeitlich befristete, Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für dafür geeignete Arbeitnehmer anzusehen, vgl. LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13.12.2018 – 5 Sa 1257/18 (Air Berlin), ZIP 2019, 341. 95) BAG, Urt. v. 17.6.1999 – 2 AZR 141/99, ZIP 1999, 1721; im Zuge mehrerer Entscheidungen v. 17.6.1999 hat das BAG hinsichtlich der „Unternehmerentscheidung“ die abgestufte Darlegungs- und Beweislast klar umrissen. Insbesondere muss die Umsetzung der Maßnahme im Zweifelsfalle durch ein nachvollziehbares Konzept aufgezeigt werden können. 96) BAG, Urt. v. 12.4.2002 – 2 AZR 255/01, ZInsO 2003, 51; BAG, Urt. v. 12.4.2002 – 2 AZR 256/01, BB 2002, 2184 = NJW 2002, 3795; BAG, Urt. v. 12.4.2002 – 2 AZR 740/00, NZA 2002, 1175; bestätigt durch BAG, Urt. v. 13.2.2008 – 2 AZR 543/06, ZIP 2008, 2091; instruktiv hierzu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 342. 97) Ascheid, NZA 1991, 873, 876 unter 4. b) und c). 98) So etwa die Fallkonstellation der Entscheidung des BAG, Urt. v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, ZIP 2014, 391. 99) Diese ist zu unterscheiden von der „unechten“ Druckkündigung: Während bei der „echten“ Druckkündigung die Kündigungsnotwendigkeit ausschließlich auf das Verhalten Dritter zurückzuführen ist, führt bei der „unechten“ Druckkündigung ein (Fehl-)Verhalten des betroffenen Arbeitnehmers oder ein bei ihm liegender personenbedingter Grund zum Druck von dritter Seite (vgl. etwa BAG, Urt. v. 19.6.1986 – 2 AZR 563/85, B. II. 2. a) der Gründe, NJW 1987, 211 = DB 1986, 2498).
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schwere wirtschaftliche Schäden für den Arbeitgeber drohen, kann die Kündigung sozial gerechtfertigt sein.100) In der Praxis hat sich die Heranziehung von außerbetrieblichen Gründen zur Rechtfertigung 78 einer Kündigung angesichts der Notwendigkeit einer quasi rechnerischen Herleitung des Wegfalls einer Beschäftigungsmöglichkeit infolge Auftragsmangels regelmäßig als problematisch erwiesen. Oftmals ist es einfacher, innerbetriebliche Gründe – bspw. eine Umstrukturierung aus Kostengründen – zur Rechtfertigung für das Entfallen eines Arbeitsplatzes heranzuziehen. In den Fällen innerbetrieblicher Gründe wirkt die Unternehmerentscheidung gestaltend. Der Insolvenzverwalter hat in diesem Falle vorzutragen, wie er sich die Umsetzung der unternehmerischen Maßnahme vorstellt und wie sich diese betrieblich auswirken wird, insbesondere, wie der unternehmerische Entschluss organisatorisch und betrieblich umgesetzt wird.101) Auch hier stellt sich einmal mehr die Entscheidung zur Fortsetzung der operativen Tätigkeit 79 unter Einsatz eines Teils der Arbeitnehmerschaft mit gleichzeitiger Personalreduzierung als gegenüber einer vollständigen Betriebsstilllegung weitaus anspruchsvollere Maßnahme dar; für die Rechtfertigung letzterer genügt demgegenüber eine Dokumentation des Entschlusses des Arbeitgebers, ab sofort keine neuen Aufträge mehr anzunehmen, allen Arbeitnehmern zum nächstmöglichen Termin zu kündigen, zur Abarbeitung der vorhandenen Aufträge einige Arbeitnehmer nur noch während der jeweiligen Kündigungsfristen einzusetzen und so den Betrieb schnellst möglichst stillzulegen.102) Im Rahmen der Überprüfung, ob ein dringendes betriebliches Erfordernis für die Kündi- 80 gung von Arbeitnehmern vorliegt, kommt es darauf an, ob unter Respektierung einer bindenden Unternehmerentscheidung mit dem geringeren Arbeitsanfall auch das Bedürfnis einer Weiterbeschäftigung für die gekündigten Arbeitnehmer entfallen oder innerhalb einer Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer gesunken ist.103) Im Vorfeld der Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung im Zusammenhang 81 mit einer Personalreduzierung zur Ermöglichung einer Betriebsfortführung bedarf es regelmäßig einer ins Einzelne gehenden Darstellung des „unternehmerischen Konzepts“, welches insbesondere die Belastungen bzw. die Kapazitätsreserven der verbliebenen Arbeitnehmer detailliert darstellt.104) 3.7.2 Die Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung im Insolvenzverfahren 3.7.2.1
Allgemeine Grundsätze
Für die nach § 1 Abs. 3 KSchG sodann durchzuführende Sozialauswahl gelten für eine 82 vom Insolvenzverwalter auszusprechende ordentliche, betriebsbedingte Kündigung grundsätzlich keine Besonderheiten. Sofern keine kollektivrechtlich verankerten Vermutungstatbestände greifen (vgl. dazu etwa § 1 Abs. 5 KSchG, § 125 InsO) ergeben sich regelmäßig an dieser Stelle erhebliche Risiken für eine erfolgreiche soziale Rechtfertigung der betriebsbedingten Kündigung. In der Praxis lässt sich die allgemeine Tendenz feststellen, das erstmals innerhalb des Insolvenzverfahrens längst überfällige Umstrukturierungen im Personalbereich in Angriff genommen werden; oftmals wird dabei erst jetzt quasi in letzter ___________ 100) BAG, Urt. v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, ZIP 2014, 391. 101) Zum Ganzen auch Ascheid, NZA 1991, 873, 876. 102) So etwa BAG, Urt. v. 18.1.2001 – 2 AZR 514/99, ZIP 2001, 1022; BAG, Beschl. v. 7.3.2002 – 2 AZR 147/01, NZA 2002, 1111 (LS); dazu ausführlich auch BAG, Urt. v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 = NZA 2014, 336; Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 349. 103) BAG, Urt. v. 24.4.1997 – 2 AZR 352/96, NZA 1997, 1047. 104) So auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 346.
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Minute auch noch versucht, leistungsbezogene Aspekte mit den maßgeblichen Kriterien einer betriebsbedingten Kündigung zu vermengen. 83 Auch innerhalb des Insolvenzverfahrens sind bei einer Auswahl des von einer betriebsbedingten Kündigung betroffenen Personenkreises die vom Gesetz in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorgegebenen Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und eine etwaige Schwerbehinderung zu berücksichtigen.105) Die soziale Auswahl ist dabei betriebsbezogen, also immer abteilungsübergreifend, nicht jedoch unternehmens- oder konzernbezogen durchzuführen.106) 84 Unter Zugrundelegung der aktuellen, seit dem 1.1.2004 geltenden Fassung des KSchG107) ist die Sozialauswahl dabei in drei Stufen zu prüfen: x
an erster Stelle bleibt festzustellen, welche Arbeitnehmer überhaupt miteinander vergleichbar und damit in die Sozialauswahl einzubeziehen sind;
x
hieran schließt sich die Feststellung an, wie sich deren soziale Schutzbedürftigkeit anhand der vom Gesetz vorgegebenen Kriterien (Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten, etwaige Schwerbehinderung) darstellt;
x
außerdem ist zu überprüfen, welche berechtigten betrieblichen Interessen der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl zusätzlich zu berücksichtigen hat.
85 Bevor eine ins Einzelne gehende Auswahl unter Berücksichtigung der Kriterien Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und etwaiger Schwerbehinderung durchgeführt wird, hat mithin zunächst an erster Stelle eine Feststellung der Gruppen der vergleichbaren Arbeitnehmer stattzufinden.108) Wer in den Kreis der von einer sozialen Auswahl betroffenen Arbeitnehmer einzubeziehen ist, richtet sich dabei nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen und mithin nach der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit.109) Vergleichbar sind demnach Arbeitnehmer, die sowohl aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse als auch nach dem Inhalt der von Ihnen vertraglich geschuldeten Aufgaben austauschbar sind.110) Je enger und konkreter die Tätigkeit des Arbeitnehmers im Arbeitsvertrag definiert und umbeschrieben ist, umso kleiner ist auch die Gruppe der vergleichbaren Arbeitnehmer.111) Der Vergleich vollzieht sich dabei ausschließlich auf derselben Ebene der Betriebshierarchie (sog. „horizontale Vergleichbarkeit“); eine Erweiterung durch die Bereitschaft des betroffenen Arbeitnehmers, ggf. freiwillig auch auf einer geringer dotierten Stufe der Betriebs___________ 105) Vgl. dazu auch Boemke, NZI 2005, 209. 106) BAG, Urt. v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 = NZA 2014, 336; BAG, Urt. v. 22.3.2001 – 8 AZR 565/00, NZA 2002, 1349; BAG, Urt. v. 21.2.2002 – 2 AZR 749/00, BB 2002, 2335, zur möglichen Weiterbeschäftigung in einem anderen konzernangehörigen Unternehmen; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 404; die Betriebsbezogenheit der Sozialauswahl ist selbst dann gegeben, wenn sich der Arbeitgeber selbst vertraglich ein betriebsübergreifendes Versetzungsrecht vorbehalten hat (BAG, Urt. v. 2.6.2005 – 2 AZR 158/04, ZIP 2005, 2077 = NZA 2005, 1175). 107) BGBl. I 2003, 3002 ff.; hierzu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 426; während früher innerhalb der zweiten Stufe i. R. der Sozialauswahlkriterien ohne weiteres auch weitere Gesichtspunkte wie etwa Doppelverdienerehe, Berufskrankheiten, unverschuldete Arbeitsunfälle und Chancen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden konnten; ist diese Möglichkeit seit dem 1.1.2004 ausgeschlossen; hierzu auch Küttner-Eisemann, Personalbuch 2018, Kündigung, betriebsbedingte Rz. 34. 108) Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 426. 109) BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120; BAG, Urt. v. 18.10.2006 – 2 AZR 676/05, NZA 2007, 798. 110) St. Rspr. des BAG, vgl. etwa BAG, Urt. v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040; BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, ZIP 2012, 1623 = NZA 2012, 1044; BAG, Urt. v. 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, ZIP 2014, 145 = NZA 2013, 837. 111) Hierzu etwa BAG, Urt. v. 17.9.1998 – 2 AZR 725/97; BAG, Urt. v. 17.2.2000 – 2 AZR 142/99, ZIP 2000, 1069; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 407.
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hierarchie zu arbeiten, führt nicht zu einer Erweiterung des Kreises der vergleichbaren Arbeitnehmer.112) Die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmerschaft ist dabei i. S. einer Austauschbarkeit zu ver- 86 stehen, die ihrerseits wiederum zum einen die Zuweisung der Tätigkeit ohne Notwendigkeit einer Änderungskündigung und zum anderen das Fehlen einer längeren Einarbeitungszeit voraussetzt.113) Eine Vergleichbarkeit liegt mithin nicht vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmern nicht einseitig aufgrund seines arbeitgeberseitigen Direktionsrechts auf einen anderen Arbeitsplatz versetzen kann.114) Alleine aus dem Umstand, dass der betroffene Arbeitnehmer jahrelang immer am gleichen Arbeitsort eingesetzt wurde, ergibt sich noch keine die Austauschbarkeit ausschließende nachträgliche Beschränkung des Einsatzortes.115) Kann jedoch ein Arbeitnehmer aufgrund der mit ihm getroffenen vertraglichen Vereinbarung nur innerhalb eines bestimmten Arbeitsbereichs versetzt werden, ist im Falle des Wegfalls dieses Arbeitsbereichs keine soziale Auswahl unter Einbeziehung der vom Tätigkeitsfeld her vergleichbaren Arbeitnehmer anderer Arbeitsbereiche vorzunehmen.116) Im Rahmen einer Durchführung der Sozialauswahl sind Vollzeit- und Teilzeitkräfte 87 grundsätzlich nicht miteinander vergleichbar. Eine Vergleichbarkeit ist ausnahmsweise dann eröffnet, wenn in einem bestimmten Bereich lediglich die Zahl der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden abgebaut werden soll, ohne dass eine konkrete, auf Arbeitsplätze bezogene Organisationsentscheidung vorliegt. In dieser Konstellation sind sämtliche in diesem Bereich gleichartig beschäftigten Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf ihre Arbeitszeitvolumen in die soziale Auswahl einzubeziehen.117) Innerhalb des Kreises der Teilzeitbeschäftigten ist eine soziale Auswahl jedenfalls dann 88 möglich, wenn sich hinsichtlich der geschuldeten Arbeitszeit nur geringfügige Unterschiede ergeben und der kündigungsbedrohte Arbeitnehmer die fortbestehende Stelle eines anderen Arbeitnehmers übernehmen kann, ohne dass eine Anpassung anderer Arbeitsverträge erforderlich wird.118) Die vier Auswahlkriterien sind dabei abschließend und untereinander vollkommen gleich- 89 wertig. Die Berücksichtigung des Lebensalters als Auswahlkriterium verstößt dabei auch nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000.119) ___________ 112) BAG, Urt. v. 17.9.1998 – 2 AZR 725/97, NZA 1998, 1332. 113) Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 406; dazu auch BAG, Entsch. v. 5.5.1995 – 2 AZR 91/93, EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 31. 114) BAG, Entsch. v. 5.5.1995 – 2 AZR 91/93, EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 31. 115) BAG, Urt. v. 3.6.2004 – 2 AZR 577/03, NZA 2005, 175. 116) BAG, Urt. v. 17.2.2000 – 2 AZR 142/99, ZIP 2000, 1069 = NZA 2000, 822; beschränkt sich etwa das vertragliche Einsatzgebiet einer Verkäuferin auf ein konkretes Filialgeschäft, kommt die Einbeziehung der Verkäufer einer benachbarten Filiale nicht in Betracht. 117) BAG, Urt. v. 3.12.1998 – 2 AZR 341/98, NJW 1999, 1733; BAG, Urt. v. 12.8.1999 – 2 AZR 12/99, NJW 2000, 533 = NZA 2000, 30; hierzu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 418. 118) LAG Niedersachsen, Urt. v. 11.6.2001 – 5 Sa 1832/00, BB 2001, 2379 unter Hinweis auf BAG, Entsch. v. 3.12.1998 – 2 AZR 341/98, BB 1999, 847, und EuGH, Urt. v. 26.9.2000 – Rs. C-322/98 (Kachelmann/ Bankhaus Lampe), ZIP 2000, 1947 = NZA 2000, 1155. 119) Vgl. etwa BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044, 1048 ff. = ZIP 2012, 1623; BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 87, 89 = ZIP 2013, 234; so auch ausdrücklich auch für die Möglichkeit, über einen Interessenausgleich mit Namensliste i. S. von § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO eine – altersbezogen – ausgewogene Personalstruktur zu schaffen, vgl. BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 = NZA 2014, 909, sowie zur von der Beschäftigungsdauer abhängigen Kündigungsfristenregelung in § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB vgl. BAG, Urt. v. 18.9.2014 – 6 AZR 636/13, ZIP 2015, 91 = NZA 2014, 1400.
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90 Durch die Formulierung in § 1 Abs. 3 Satz 1 „[…] nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat“ ist klargestellt, dass dem Arbeitgeber bei der Sozialauswahl ein gewisser Bewertungsspielraum zusteht und der gekündigte Arbeitnehmer sich nur dann erfolgreich auf eine Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl berufen kann, wenn er sich i. R. seines Vergleichs auf einen mit ihm austauschbaren, nicht gekündigten Arbeitnehmer zu beziehen vermag, der deutlich ungünstigere Sozialdaten aufweist.120) Die Auswahlentscheidung muss daher lediglich vertretbar sein und nicht unbedingt der Entscheidung entsprechen, die das Gericht getroffen hätte, wenn es eigenverantwortlich soziale Erwägungen hätte anstellen müssen.121) Der dem Arbeitgeber – und mithin auch dem Insolvenzverwalter – vom Gesetz eingeräumte Wertungsspielraum führt dazu, dass nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer mit Erfolg die Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl rügen können.122) 91 Der vom BAG in der Vergangenheit als „Dominotheorie“ aufgestellte Grundsatz, demzufolge im Falle eines Sozialauswahlfehlers automatisch die Kündigungen aller sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmer als unwirksam angesehen wurden, auch wenn bei fehlerfreier Erstellung der Rangfolge ggf. nur ein einziger Arbeitnehmer von der Kündigungsliste zu streichen gewesen wäre, wurde zwischenzeitlich wieder aufgegeben. Nunmehr können sich nur noch diejenigen Arbeitnehmer auf eine fehlerhafte Sozialauswahl berufen, deren Position auf einer Kündigungsliste sich bei korrekter Rangfolge tatsächlich konkret verbessert hätte.123) 3.7.2.2
Die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur
92 Auch im Zuge einer Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren erscheint es oftmals sinnvoll, die Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens in personeller Hinsicht zu sichern, um es für eine spätere Übertragung an einen Investor attraktiver zu gestalten. Insoweit erkennt das Gesetz in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG u. a. die Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur i. R. der Sozialauswahl als „sonstige berechtigte betriebliche Bedürfnisse“ an. Das Gesetz selbst enthält darüber hinaus jedoch keine konkreten Vorgaben zu deren Umsetzung. 93 In der Praxis wird – in Übereinstimmung mit einer mittlerweile umfangreichen Rechtsprechung – versucht, dieses anerkannte Ziel auf der Grundlage einer Altersgruppenbildung zu erreichen. Insoweit kommt dem Arbeitgeber bei deren Bildung grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu.124) Demgegenüber unterliegt die Frage, ob die im konkreten Fall vorgenommene Altersgruppenbildung tatsächlich zur Sicherung der bestehenden Personalstruktur geeignet ist, einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung.125) Im Interesse einer Bewahrung der bestehenden Personalstruktur muss die bisherige Verteilung der Beschäftigten auf die Altersgruppen ihre prozentuale Entsprechung in der Anzahl der in der jeweiligen Altersgruppe zu Kündigenden finden.126) Lediglich dann, wenn die Anzahl der Ent___________ 120) BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791; BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120; BAG, Urt. v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 = NZA 2014, 336. 121) BAG, Urt. v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 = NZA 2014, 336. 122) BAG, Urt. v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 = NZA 2014, 336; BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 2 AZR 476/10; BAG, Urt. v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, ZIP 2007, 2433 = NZA 2008, 33. 123) Zur (veralteten) Dominotheorie: BAG, Urt. v. 18.10.1984 – 2 AZR 543/83, ZIP 1985, 953 = NJW 1985, 2046; BAG, Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, BB 2007, 1393. 124) BAG, Beschl. v. 20.4.2005 – 2 AZR 201/04, ZIP 2005, 1803; zu einer in einer Altersgruppenbildung etwaig liegenden Altersdiskriminierung vgl. BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 = NZA 2014, 909. 125) BAG, Urt. v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040; BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 87, 89 = ZIP 2013, 234. 126) BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 87, 89 = ZIP 2013, 234.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
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lassungen vergleichbarer Arbeitnehmer innerhalb einer Altersgruppe im Verhältnis zur Anzahl aller Arbeitnehmer des Betriebs die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, wird ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Beibehaltung der Altersstruktur – widerlegbar – indiziert.127) Im Übrigen trifft den Arbeitgeber – und mithin auch den Insolvenzverwalter – die volle Beweis- und Darlegungslast.128) Im Interesse der Erzielung einer größeren Übersichtlichkeit und damit einer Erleichterung 94 der Sozialauswahl werden in der Praxis häufig vom Arbeitgeber/Insolvenzverwalter einseitig erstellte Punktesysteme verwendet. Die rechtlichen Wirkungen einer auf kollektiver Ebene abgeschlossenen Vereinbarung i. S. von § 1 Abs. 4 KSchG ist hiermit allerdings nicht verbunden; vielmehr ist dieses Schema und die daraus folgende Auswahlentscheidung gerichtlich voll überprüfbar,129) sie kann aber jedenfalls zur Orientierung dienen. 3.7.2.3
Die Leistungsträgerregelung
Entsprechend der Regelung in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG sind Arbeitnehmer nicht in die 95 Sozialauswahl einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen im berechtigten betrieblichen Interesse liegt (sog. Leistungsträgerregelung)130). Nach aktuellem, seit dem 1.1.2004 geltendem Recht ist die Erfüllung eines der drei genannten Kriterien (Kenntnisse, Fähigkeiten, Leistungen) unter Nützlichkeitsgesichtspunkten ausreichend;131) dabei kann die Herausnahme einzelner Mitarbeiter aus der Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer auch aufgrund von Kriterien erfolgen, die mit dem Arbeitsverhältnis in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen.132) Je schwerer das soziale Interesse wiegt, desto gewichtiger müssen allerdings die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein.133) Der Hinweis auf eine höhere Krankheitsquote eines an sich sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmers kann die Ausklammerung eines Leistungsträgers alleine nicht begründen.134) 3.7.3 Die Anhörung des Betriebsrats Auch bei einer durch den Insolvenzverwalter ausgesprochenen Kündigung ist die Anhörung 96 des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unabdingbare Voraussetzung. Dies gilt auch im Falle einer Nachkündigung, die bspw. zur Heilung formaler Fehler oder zur Erzielung einer kürzeren Kündigungsfrist gemäß § 113 Satz 1 InsO gestützt auf denselben (und dem Betriebsrat an sich bereits bekannten) Kündigungsgrund wiederholt wird.135) Im Übrigen ___________ 127) BAG, Urt. v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040, 1043; BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, NZA 2012, 1044, 1051 = ZIP 2012, 1623; BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 87, 89 = ZIP 2013, 234. 128) BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 87, 89 = ZIP 2013, 234. 129) BAG, Urt. v. 18.10.1984 – 2 AZR 543/83, ZIP 1985, 953; hierzu auch Ascheid, RdA 1997, 333, 335. 130) Nach früherem Recht war die Herausnahme eines Leistungsträgers zur Sozialauswahl nur möglich, wenn die Leistungsunterschiede derart erheblich waren, dass der Arbeitgeber im Interesse eines geordneten Betriebsablaufs auf ihn nicht verzichten konnte; vgl. etwa BAG, Urt. v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, ZIP 1983, 1105; BAG, Urt. v. 12.4.2002 – 2 AZR 706/00, NJW 2002, 3797 = NZA 2003, 42. 131) Vgl. dazu Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 442; nach BAG, Urt. v. 7.12.2006 – 2 AZR 748/05, NZA 2008, 72 (LS) = NZA-RR 2007, 460, setzt das „berechtigte betriebliche Interesse“ keine Zwangslage voraus. 132) BAG, Urt. v. 7.12.2006 – 2 AZR 748/05, NZA 2008, 72 (LS) = NZA-RR 2007, 460 – für den Fall eines als Reinigungskraft beschäftigten Mitglieds der freiwilligen Feuerwehr. 133) BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120, 1122 – unter Hinweis auf das Regel-/Ausnahmeprinzip. 134) BAG, Urt. v. 31.5.2007 – 2 AZR 306/06, NZA 2007, 1362. 135) BAG, Urt. v. 10.11.2005 – 2 AZR 623/04, NZA 2006, 491.
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Teil V Einzelfragen
gelten zum Umfang der Anhörung keinerlei Besonderheiten; in der Regel sind hier daher die notwendigen Angaben zu den Sozialdaten der betroffenen Arbeitnehmer, die Kündigungsgründe sowie im Falle einer betriebsbedingten Kündigung die Aspekte der Sozialauswahl ins Einzelne gehend darzulegen. In diesem Zusammenhang hat eine Erläuterung der Kündigungsgründe so ausführlich zu erfolgen, dass die Betriebsratsmitglieder in die Lage versetzt werden, ohne zusätzliche eigene Nachforschungen die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu überprüfen und sich darüber klar zu werden, wie die Reaktion auf die Kündigungsabsicht des Arbeitgebers aussehen soll.136) Maßgeblich ist insoweit die subjektive Sichtweise des Arbeitgebers; er hat daher die nach seiner Ansicht maßgeblichen Kündigungsgründe vorzutragen (sog. „subjektive Determination“).137) 97 Auch wenn das Gesetz in § 102 BetrVG keine Form vorsieht, empfiehlt es sich bereits aus Beweisgründen die Anhörung schriftlich zu formulieren und parallel i. R. eines persönlichen Gesprächs zu erläutern. Bei der betriebsbedingten Kündigung ist der Entschluss des Insolvenzverwalters möglichst detailliert zu schildern, und zwar hinsichtlich des Zeitpunkts und der näheren Umstände, in deren Folge Arbeitsplätze im insolventen Betrieb entfallen. Hier ist plausibel darzulegen, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die Erfüllung der bislang von den entfallenden Arbeitsplätzen zu erbringende Leistung hat und wie die in der Vergangenheit erbrachte Arbeitsleistung künftig erfüllt werden soll. Fällt der Arbeitsplatz ersatzlos fort, muss dargelegt werden, dass die Arbeit nicht mehr das ursprüngliche Volumen erreicht. In diesem Zusammenhang kann es zu einer Arbeitsverdichtung kommen, ggf. folgt hieraus jedoch auch eine Überbelastung, die die Kündigung nicht rechtfertigt. 3.7.4 Beurteilungszeitpunkt, Darlegungs- und Beweislast 98 Zur Beurteilung der Wirksamkeit einer ausgesprochenen Kündigung kommt es grundsätzlich auf die Sachlage zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung an.138) Erforderlich ist etwa im Falle einer geplanten (teilweisen) Betriebsstilllegung, dass der Arbeitgeber – und mithin auch der Insolvenzverwalter – zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den betroffenen Betrieb endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen.139) Wird zum Kündigungszeitpunkt etwa noch über eine Veräußerung von Gesellschaftsanteilen verhandelt, scheidet eine Kündigung wegen geplanter Betriebsstilllegung aus.140) 99 War die Kündigung zu diesem Zeitpunkt sozial gerechtfertigt, können spätere Änderungen der Umstände hieran nichts mehr ändern.141) Die zur sozialen Rechtfertigung der Kündigung herangezogenen Gründe sind in ihrer Natur nach zukunftsbezogen; in der Folgezeit eintretende Veränderungen der Prognose haben auf ihre Wirksamkeit als Gestaltungserklärung im Interesse der Rechtssicherheit grundsätzlich keinen Einfluss.142) Auswirkungen ergeben sich insoweit in diesem Zusammenhang allerdings im Bereich der Beweislast: Wird ___________ 136) St. Rspr. des BAG, vgl. etwa BAG, Urt. v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, ZIP 1996, 648. 137) BAG, Urt. v. 6.2.1997 – 2 AZR 265/96, NZA 1997, 656 = MDR 1994, 697. 138) St. Rspr. des BAG; vgl. etwa BAG, Urt. v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, ZIP 1989, 326 = NZA 1989, 265; BAG, Urt. v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, ZIP 1989, 1012 = NZA 1989, 461; BAG, Urt. v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, ZIP 1997, 122 = NZA 1997, 251. 139) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA 2012, 999. 140) BAG, Urt. v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, ZIP 1997, 122 = NZA 1997, 251. 141) BAG, Urt. v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, ZIP 1989, 326 = NZA, 1989, 265; i. Ü. BAG, Urt. v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, ZIP 1989, 1012 = NZA 1989, 461; BAG, Urt. v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, ZIP 1997, 122 = NZA 1997, 251; hierzu auch Krieger/Willemsen, NZA 2011, 1128. 142) Krieger/Willemsen, NZA 2011, 1128; vgl. etwa zur personenbedingten Kündigung BAG, Urt. v. 17.6.1999 – 2 AZR 639/98, NZA 1999, 1328; zur Verdachtskündigung vgl. etwa BGH, Urt. v. 13.7.1956 – VI ZR 88/55, NJW 1956, 1513.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
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der Betrieb etwa nach der wegen geplanter Betriebsstilllegung ausgesprochenen Kündigung von einem Erwerber fortgeführt, begründet dies eine gegen die Stilllegungsabsicht sprechende Vermutung, die der Arbeitgeber/Insolvenzverwalter dadurch widerlegen kann, indem er substantiiert darlegt, dass die Veräußerung zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung weder vorhersehbar noch geplant war. Dabei ist es ohne Belang, ob die Betriebsfortführung durch den Erwerber vor oder nach Ablauf der Kündigungsfrist stattgefunden hat.143) Als weiteres Korrektiv hat die Rechtsprechung im Interesse der Vermeidung von unange- 100 messenen Rechtsfolgen auf der Grundlage des Grundsatzes von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB unter bestimmten Voraussetzungen einen Wiedereinstellungs- oder Fortsetzungsanspruch entwickelt, auf dessen Grundlage der Arbeitnehmer eine Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses verlangen kann, sofern sich durch nachträglich eintretende Umstände eine dauerhafte Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ergibt, der Arbeitgeber noch keine anderweitigen Dispositionen getroffen hat sowie ihm die unveränderte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist.144) Der Wiedereinstellungs- oder Fortsetzungsanspruch wurde dabei vom BAG anhand von Konkurs- bzw. Insolvenzfällen entwickelt.145) Jedenfalls in dieser Konstellation ist nach der Rechtsprechung ein Wiedereinstellungsanspruch auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen sich die nachträglich eintretenden Umstände innerhalb der Kündigungsfrist (mithin maximal innerhalb des Drei-Monats-Zeitraums des § 113 Satz 2 InsO) ergeben; nach Ablauf der Kündigungsfrist hat das BAG einen Wiedereinstellungsanspruch – jedenfalls für Insolvenzfälle – abgelehnt.146) Gleichermaßen ist ein Wiedereinstellungsanspruch dann nicht gegeben, wenn das Arbeitsverhältnis wirksam befristet war oder das KSchG nicht anwendbar ist.147) In seiner Entscheidung vom 25.5.2022 erteilt jedenfalls der 6. Senat des BAG dem Bestehen eines Wiedereinstellungsanspruchs in der InsO eine generelle Absage.148) 3.8
Der Betriebsübergang gemäß § 613a BGB in der Insolvenz
Die Fortführung der operativen Tätigkeit eines Schuldnerunternehmens stellt regelmäßig 101 keinen Selbstzweck dar, sondern dient – jenseits der Erwirtschaftung eines Überschusses zur bestmöglichen Gläubigerbefriedigung – regelmäßig der Vorbereitung von Verwertungsmaßnahmen, entweder in Form der Sanierung des Rechtsträgers i. R. eines Insolvenzplans gemäß §§ 217 ff. InsO oder der Vorbereitung einer übertragenden Sanierung i. S. der Ver___________ 143) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA 2012, 999. 144) Vgl. zum Wiedereinstellungsanspruch nach (wirksamer) Kündigung die Grundsatzentscheidung des BAG, Urt. v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, DB 1997, 1414 = NJW 1997, 2257; BAG, Urt. v. 6.8.1997 – 7 AZR 557/96, BB 1998, 538 = NZA 1998, 254; BAG, Urt. v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, BB 1998, 1108; BAG, Urt. v. 12.11.1998 – 8 AZR 265/97, ZIP 1999, 670 = NZA 1999, 311; zum ganzen auch Oetker, ZIP 2000, 643; Schubert, ZIP 2002, 554; in jüngerer Zeit Aszmonis/Beck, NZA 2015, 1098; Arens/ Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 543 ff. 145) Vgl. etwa BAG, Urt. v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, DB 1997, 1414 = NJW 1997, 2257. 146) BAG, Urt. v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, ZIP 2004, 1610; dazu Berkowsky, NZI-aktuell 1/2005; vgl. auch die ausführliche Darstellung der Rspr. der BAG-Senate bei Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 543 ff.; zur Geltung der KO so schon BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97 (Dörries Scharmann I), ZIP 1999, 320 = NZA 1999, 422. Im Bereich der Instanzenrechtsprechung ist das Vorliegen eines Fortsetzungs- oder Wiedereinstellungsanspruchs im Insolvenzfall nach wie vor umstritten; nach Auffassung des LAG Frankfurt soll etwa ein Fortsetzungsanspruch hier generell nicht bestehen (vgl. LAG Frankfurt/M., Entsch. v. 25.1.2001 – 11 Sa 908/99, ZInsO 2002, 48; so auch LAG Hessen, Urt. v. 27.2.2003 – 11 Sa 799/02, ZInsO 2003, 1060; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 559. 147) BAG, Urt. v. 20.2.2002 – 7 AZR 600/00, ZIP 2002, 1162; LAG Hessen, Entsch. v. 7.3.2000 – 9 Sa 1077/99, ZInsO 2000, 625; LAG Hamm, Entsch. v. 26.8.2003 – 5/11 Sa 589/03, NZA-RR 2004, 76; Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 560. 148) BAG, Urt. v. 25.5.2022 – 6 AZR 224/21, ZIP 2022, 1658.
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äußerung des Unternehmens oder von Unternehmensteilen, in der Regel durch Einzelrechtsnachfolge i. R. eines Asset Deals.149) 102 Ungeachtet der Erleichterung einer Restrukturierung durch eine Modifikation des Insolvenzplanverfahrens durch das ESUG mit Wirkung zum 1.3.2012 bzw. durch das SanInsFoG mit Wirkung zum 1.1.2021 wird in der Praxis auch zum heutigen Zeitpunkt in der überwiegenden Zahl der Fälle die zweite Alternative gewählt.150) Bei jeder Übertragung von Vermögenswerten des schuldnerischen Unternehmens taucht sodann automatisch die Frage nach dem Vorliegen eines (Teil-) Betriebsüberganges i. S. des § 613a BGB auf, der sich in der Vergangenheit angesichts seiner empfindlichen Rechtsfolgen oftmals als Sanierungshindernis erwiesen hat.151) 103 Dabei war die Anwendbarkeit des § 613a BGB in der Insolvenz lange Zeit durchaus umstritten:152) Eingeführt wurde die Vorschrift durch die EG-Richtlinie Nr. 77/187/EWG vom 14.2.1977;153) die dieser nachfolgende Richtlinie Nr. 98/50/EG des Rates vom 29.6.1998154) bestimmt in ihrem Art. 4a, dass die insoweit maßgeblichen Art. 3 und 4 der Ausgangsrichtlinie vom 14.2.1977 – sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen – nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen gelten, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde. 104 Die hierdurch eröffnete Chance wurde jedoch spätestens durch die gesetzliche Neuregelung im Zuge einer Einführung der InsO zum 1.1.1999 vertan: In § 128 InsO wird die Anwendbarkeit des § 613a BGB in der Insolvenz vom Gesetzgeber ausdrücklich anerkannt bzw. vorausgesetzt, so dass jedenfalls hiermit der Vorbehalt einer mitgliedstaatlichen Regelung i. S. von Art. 4a der Richtlinie Nr. 98/50/EG ausgefüllt wurde.155)
___________ 149) Dazu auch Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 2 – 5 m. w. N. 150) Ausweislich der auf der Grundlage einer Insolvenzverwalterbefragung vorgenommenen Ermittlungen von Prof. Bitter (Universität Mannheim) betrug im Jahre 2007 bei fortgeführten Unternehmen mit einem Umsatzvolumen zwischen 5 Mio. bis 50 Mio. der Anteil von Insolvenzplänen 10 % zu 56 % übertragender Sanierungen, s. die vom Zentrum für Insolvenz und Sanierung (ZIS) und der Euler Hermes Kreditversicherungs-AG durchgeführte Studie „Rettung aus der Insolvenz“, abrufbar unter www.zis.uni-mannheim.de (Abrufdatum 19.11.2022). Vgl. zum per 10.10.2018 veröffentlichten Evaluationsbericht betr. das zum 1.3.2012 in Kraft getretene ESUG von Jacoby/Madaus/Sack/H. Schmidt/Thole, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/101018_Gesamtbericht_Evaluierung _ESUG.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Abrufdatum: 19.11.2022). 151) Hierzu etwa Warbein, DZWiR 2006, 11 – 17; Mückl, ZIP 2012, 2373. 152) Gegen eine Anwendbarkeit des § 613a BGB für das Insolvenzverfahren etwa LAG Hamm, Entsch. v. 4.4.2000 – 4 Sa 1220/99, ZInsO 2000, 292. 153) Richtlinie 77/187/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer bei Übergang von Unternehmen, Betrieben und Betriebsteilen v. 14.2.1977, ABl. (EG) L 61/26 v. 5.3.1977. 154) Richtlinie 98/50/EG des Rates v. 29.6.1998 zur Änderung der Richtlinie 77/187/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. (EG) L 201/88 v. 17.7.1998. 155) Hierzu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 673; die grundsätzliche Anwendbarkeit des § 613a BGB wird in der Rspr. seither auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen; vgl. etwa BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = ZInsO 2004, 1325; BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387; BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027; BAG, Urt. v. 26.1.2021 – 3 AZR 139/17, NZA 2021, 1099 = ZIP 2021, 918.
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§ 25
3.8.1 Die Voraussetzungen des Betriebsübergangs Die zuverlässige Beurteilung der Frage, ob ein Betriebsübergang vorliegt bzw. stattfindet, 105 ist in der Vergangenheit in der Praxis nicht zuletzt in Anbetracht des Einflusses der Rechtsprechung des EuGH immer wieder auf Schwierigkeiten gestoßen.156) Innerhalb der letzten Jahre hat die Rechtsprechung des insoweit zuständigen 8. Senats des BAG im Zuge eines stetigen Wandels unter dem Einfluss der Urteile des EuGH eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die es i. R. einer Überprüfung zu beachten gilt: Auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH definiert das BAG in ständiger Recht- 106 sprechung den Betriebsbegriff i. S. von § 613a BGB als eine „auf Dauer angelegte wirtschaftliche Einheit“; ein Betriebsübergang liegt vor, wenn diese wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität auf einem neuen Inhaber übergeht. Maßgeblich ist insoweit eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände.157) In diesem Zusammenhang wird insbesondere abgestellt auf x
den Übergang oder Nichtübergang der materiellen Aktiva (Gebäude, bewegliche Güter, Produktionsanlagen),158)
x
den Wert der übergehenden immateriellen Aktiva (Patente, Geschmacksmuster, Knowhow, Goodwill etc.),
x
die Übernahme der maßgeblichen Belegschaft,159)
x
den Übergang der Kundschaft/des Kundenstammes,160)
x
den Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten operativen Tätigkeiten,161)
___________ 156) Vgl. etwa das vielbeachtete Urteil des EuGH i. S. „Christel Schmidt“ EuGH, Urt. v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 (Schmidt/Spar- und Leihkasse der früheren Ämter Bordesholm, Kiel und Cronshagen), ZIP 1994, 1036. Zur Thematik aus europäischer Sicht auch Bothe, ZIP 2017, 2441. 157) Vgl. dazu unter Übernahme fast gleichlautender Formulierungen etwa BAG, Urt. v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, ZIP 2011, 2023 = NZA 2011, 1143; BAG, Urt. v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, 1314; hierzu auch Küttner-Kreitner, Personalbuch 2018, Betriebsübergang Rz. 10. 158) Maßgeblich insb. bei sog. „betriebsmittelintensiven“ Betrieben; vgl. hierzu im Anschluss an EuGH, Urt. v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 (Abler), ZIP 2003, 2315 = NZA 2003, 1384; sowie EuGH, Urt. v. 15.12.2005 – Rs. C-232/04, C-233/04 (Güney-Görres), ZIP 2006, 95 m. Anm. Kock = NZA 2006, 29 etwa BAG, Urt. v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, ZIP 2006, 1268 = NZA 2006, 723; BAG, Urt. v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, ZIP 2006, 1917 = NZA 2006, 1101; BAG, Urt. v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06, ZIP 2007, 1382 = NZA 2007, 793; BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021. 159) Insbesondere maßgeblich bei „betriebsmittelarmen“ Betrieben; hierzu etwa EuGH, Urt. v. 26.11.2015 – Rs. C-509/14 (Aira Pascual u. a.), ZIP 2015, 2434; BAG, Urt. v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, NZA 2011, 1162; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, ZIP 2009, 1128 = NZA 2009, 485. Insoweit kommt es nach der besagten Rspr. maßgeblich darauf an, dass ein „nach Zahl und Sachkunde wesentlicher Teil der Belegschaft vom Erwerber übernommen bzw. neu eingestellt worden ist“; so BAG, Urt. v. 23.9.2010 – 8 AZR 567/09, NZA 2011, 197; BAG, Urt. v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96, ZIP 1998, 666 = NZA 1998, 534; zum fehlenden Betriebsübergang beim unterbliebenen Wechsel der verantwortlichen Betriebsleitung BAG, Urt. v. 25.1.2018 – 8 AZR 338/16, NJ 2018, 498. Umgekehrt kann aus einer unterbliebenen Übernahme von Personal jedoch nicht grundsätzlich darauf geschlossen werden, dass ein Betriebsübergang nicht vorliegt, so etwa LAG Köln, Urt. v. 8.3.2004 – 4 Sa 1115/03, NZA-RR 2004, 464. 160) Die ausschließliche Übernahme nur des Kundenstammes eines Unternehmens begründet für sich betrachtet allerdings noch keinen Betriebsübergang, so etwa ArbG Frankfurt, Entsch. v. 5.11.2002 – 7/12 Ca 2593/02, n. v.; hierzu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 722; allerdings kann die Übertragung einer Kundenkartei oder der Übergang einer Vertriebsberechtigung für ein bestimmtes Gebiet bei der Frage der Wahrung der wirtschaftlichen Einheit Berücksichtigung finden; dazu etwa EuGH, Urt. v. 7.3.1996 – Rs. C-171/94, C-172/94 (Cour du Travail Brüssel), Slg. 1996, I-1253 = ZIP 1996, 882; zur Neuvergabe eines Bewachungsauftrags EuGH, Urt. v. 19.10.2017 – Rs. C-200/16 (Securitas), ZIP 2017, 2421. 161) Hierzu BAG, Urt. v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95, ZIP 1998, 36 = NZA 1998, 31; BAG, Urt. v. 2.12.1999 – 8 AZR 796/98, ZIP 2000, 711 = NZA 2000, 369; BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 331/05, ZIP 2006, 2181 = NZA 2006, 1357; BAG, Urt. v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06, ZIP 2007, 1382 = NZA 2007, 793; BAG, Urt. v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, ZIP 2007, 2233 m. Anm. Kock = NZA 2007, 1431.
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Teil V Einzelfragen
sowie schließlich die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser betrieblichen Tätigkeit.162)
107 Demgegenüber stellt die bloße Auftrags- oder Funktionsnachfolge i. S. der Übernahme einer bestimmten Tätigkeit beim Erwerber ohne Übertragung eines betrieblichen Substrats regelmäßig keinen Betriebsübergang dar.163) 108 Der Verweis auf die einzelnen Hilfskriterien darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl die Rechtsprechung des EuGH als auch des BAG die Frage nach dem Vorliegen eines Betriebsübergangs i. S. eines identitätswahrenden Übergangs einer wirtschaftlichen Einheit als organisierter Gesamtheit von Personen und Sachen regelmäßig im Zuge einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls vornimmt. 3.8.2 Die Rechtsfolgen des Betriebsübergangs 3.8.2.1
Das Kündigungsverbot gemäß § 613a Abs. 4 BGB
109 Lässt sich i. R. einer Gesamtbetrachtung aller Umstände unter Beachtung der vorstehend genannten Kriterien das Vorliegen eines Betriebsübergangs nicht in Abrede stellen, ist insoweit bei in zeitlicher Nähe zu einer Veräußerung erfolgenden Kündigungen die Verbotsvorschrift des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB zu beachten. Eine Kündigung wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils ist demzufolge unwirksam; allerdings bleibt das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen unberührt (§ 613a Abs. 4 Satz 2 BGB). Demzufolge ist der Ausspruch einer i. S. von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigten Kündigung aus personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen ohne weiteres zulässig; für die Beurteilung kommt es insoweit nach allgemeinen Grundsätzen auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung an. Ist etwa zum betreffenden Zeitpunkt der betriebsbedingten Kündigung eine (Teil-)Betriebsstilllegung endgültig geplant und eingeleitet, wird diese ursprünglich sozial gerechtfertigte Kündigung nicht etwa dadurch ___________ 162) BAG, Urt. v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, ZIP 1997, 1555 = NZA 1997, 1050; die für die Ablehnung eines Betriebsübergangs maßgebliche Dauer der Unterbrechung ist dabei abhängig vom jeweiligen Unternehmensgegenstand; bei einer Kindertagesstätte kann bereits eine dreimonatige Unterbrechung gegen einen Betriebsübergang sprechen, vgl. etwa LAG Köln, Urt. v. 2.10.1997 – 10 Sa 643/97, NZA-RR 1998, 290; hierzu auch ausführlich Küttner-Kreitner, Personalbuch 2018, Betriebsübergang Rz. 12 ff. Bei Betrieben des Saisongeschäfts führt bspw. eine reguläre Schließung und Fortführung zur nächsten Saison für sich alleine noch nicht zum Identitätsverlust der wirtschaftlichen Einheit, so EuGH, Urt. v. 17.12.1987 – Rs. 287/86 (Ny Molle Kro), Slg. 1987, 5465 = EAS RL 77/187/EWG Art. 1 Nr. 3; bei Modefachgeschäften hat das BAG jedenfalls eine neun Monate währende tatsächlich Einstellung jeglicher Verkaufstätigkeit als erhebliche Zeitspanne angesehen, vgl. BAG, Urt. v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, ZIP 1997, 1555 = NZA 1997, 1050. 163) EuGH, Urt. v. 20.1.2011 – Rs C-463/09 (CLECE), ZIP 2011, 488 – Gebäudereinigung; BAG, Urt. v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, ZIP 1998, 167 = NZA 1998, 251 – Gebäudereinigung im Krankenhaus; BAG, Urt. v. 13.11.1997 – 8 AZR 52/96, EzA BGB § 613a Nr. 166 – Verpackungsabteilung; BAG, Urt. v. 11.12.1997 – 8 AZR 699/96, AuR 1998, 202 – Buchhalter; BAG, Urt. v. 22.1.1998 – 8 AZR 197/95 n. v. – Reinigungskraft im Schuhgeschäft; BAG, Entsch. v. 23.4.1998 – 8 AZR 665/96 n. v. – Auslieferungsfahrer im Einzelhandel; BAG, Urt. v. 14.5.1998 – 8 AZR 418/96, NZA 1999, 483 – Bewachungsauftrag; zum Betriebsübergang beim Bewachungsauftrag, s. auch EuGH, Urt. v. 19.10.2017 – Rs. C-200/16 (Securitas), ZIP 2017, 2421; BAG, Entsch. v. 4.6.1998 – 8 AZR 644/96, n. v. – Kinderklinik; BAG, Urt. v. 3.9.1998 – 8 AZR 306/97, NZA 1999, 147 – Möbelauslieferung und -montage; BAG, Urt. v. 16.5.2007 – 8 AZR 693/06, NZA 2007, 1296 – Handling auf Großflughafen; BAG, Urt. v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, ZIP 2007, 2233 m. Anm. Kock = NZA 2007, 1431 – technische Dienstleistung in Universitätsklinik; BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021 – Lagerbetrieb; BAG, Urt. v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 98 – Tankstellenpächter; LAG Köln, Urt. v. 24.7.2003 – 10 Sa 86/03, NZA-RR 2004, 236 – Kinderbetreuung; zur Weiterführung eines öffentlichen Transportunternehmens durch einen öffentlichen Auftraggeber mit denselben (eigenen) Betriebsmitteln nach Beendigung des Vertrags mit privatem Anbieter EuGH, Urt. v. 26.11.2015 – Rs. C-509/14 (Aira Pascual u. a.), ZIP 2015, 2434; vgl. i. Ü. auch die ausführliche Darstellung bei Küttner-Kreitner, Personalbuch 2018, Betriebsübergang Rz. 12.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 25
unwirksam, dass es später doch noch zu einer Betriebsveräußerung kommt.164) Zum Korrektiv des Fortsetzungs- oder Wiedereinstellungsanspruchs siehe oben unter Rz. 100. Der in der Praxis (oftmals im Zusammenhang mit der Durchführung von Transfermaß- 110 nahmen i. S. des § 110 SGB III und dem Übertritt der Arbeitnehmerschaft in eine BQG) unternommene Versuch, das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB durch den Abschluss eines Aufhebungsvertrags beim (alten) Arbeitgeber und den gleichzeitigen Abschluss eines Neuvertrags beim Erwerber zu umgehen, ist jedenfalls dann zum Scheitern verurteilt, wenn dem Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Abschluss des Aufhebungsvertrags vom Betriebserwerber bereits ein neues Arbeitsverhältnis verbindlich in Aussicht gestellt wurde oder es für den Arbeitnehmer nach den gesamten Umständen klar gewesen ist, dass er vom Betriebserwerber eingestellt werde.165) Da die Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren regelmäßig (auch) dem Zweck 111 dient, das Unternehmen für einen Investor attraktiv und verkaufsfähig zu gestalten, gelten für zu diesem Zweck ausgesprochene – betriebsbedingte – Kündigungen die allgemeinen Grundsätze.166) Insoweit war es bereits in der Vergangenheit dem bisherigen Betriebsinhaber (und mithin auch dem Insolvenzverwalter) vor der Veräußerung des Betriebs unbenommen, ein eigenes Sanierungskonzept zu entwickeln und umzusetzen.167) Die Absicht einer dauerhaften anschließenden eigenen Fortsetzung der operativen Tätigkeit ist dabei nicht zwingende Voraussetzung.168) In konsequenter Fortsetzung dieser Rechtsprechung hat das BAG in der Folgezeit seit dem Jahre 2003 die Kündigung eines Insolvenzverwalters als Betriebsveräußerer (auch) auf der Grundlage eines Erwerberkonzepts akzeptiert. Diese wird als betriebsbedingt und nicht gegen das Verbot des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB verstoßend angesehen, sofern ein verbindliches Konzept oder ein Sanierungsplan des Erwerbers vorliegt, dessen Durchführung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung (zulässigerweise auch des Insolvenzverwalters) bereits greifbare Formen angenommen hat;169) hierbei soll es für die Wirksamkeit der betriebsbedingten Kündigung – jedenfalls in der Insolvenz – nicht maßgeblich darauf ankommen, ob das Konzept auch beim Veräußerer hätte durchgeführt werden können.170)
___________ 164) BAG, Urt. v. 3.9.1998 – 8 AZR 306/97, NZA 1999, 147. 165) Nach der Rspr. des BAG wird die vom Schutzzweck des § 613a BGB gewollte Kontinuität des Arbeitsverhältnisses hier im Falle des Fehlens eines „Risikogeschäfts“ für den Arbeitnehmer künstlich unterbrochen; der Aufhebungsvertrag ist in einem solchen Fall wegen Umgehung des § 613a Abs. 4 BGB nichtig gemäß § 134 BGB; vgl. etwa BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203; zur Entwicklung der Rspr. in diesem Zusammenhang vgl. BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, (Dörries Scharmann I) ZIP 1999, 320 = NZA 1999, 422; BAG, Urt. v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, ZIP 2006, 148 = NZA 2006, 145; BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = NZA 2007, 866; BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 313/10, ZInsO 2012, 291 (Losverfahren); zum Ganzen auch Pils, NZA 2013, 125. 166) Hierzu BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. 167) Dazu etwa BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, ZIP 1983, 1377. 168) BAG, Urt. v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, ZIP 1996, 2028, dazu EWiR 1996, 1115 (Joost). 169) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671; BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. Die auszusprechenden Kündigungen dürfen dabei nicht alleine durch den Druck des Erwerbers motiviert sein, den Betrieb nicht zu übernehmen, da die dort beschäftigen Arbeitnehmer „zu teuer“ seien; vgl. die genannten BAG-Entscheidungen. Vgl. zum letzteren Aspekt auch das Urteil des EuGH v. 22.6.2017 – Rs. C-126/16 (Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a.), ZIP 2017, 1289, der ein „cherry picking“ des Erwerbers als Verstoß gegen die Richtlinie 2001/23 EG ansieht; dazu auch Bothe, ZIP 2017, 2441. 170) BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387, dazu auch EWiR 2007, 363 (Grimm/Michaelis).
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§ 25
Teil V Einzelfragen
112 Trotz des seit der grundlegenden Entscheidung des BAG vom 20.3.2003 vergangenen Zeitraums sind bis heute eine Reihe damit zusammenhängender Fragen höchstrichterlich noch ungeklärt: x Soweit die Kündigung (noch) vom veräußernden Insolvenzverwalter ausgesprochen wird, ist es allerdings allg. M., dass insoweit die (verkürzte) Kündigungsfrist des § 113 InsO zur Anwendung kommt.171) Hierbei handelt es sich um eine automatische Folge der im Insolvenzverfahren vorgesehenen Erleichterungen.172) x Ebenso dürfte es keinen Bedenken begegnen, dass vor Ausspruch der Kündigung ausschließlich der beim veräußernden Insolvenzverwalter bestehende Betriebsrat und nicht etwa auch diejenige des Erwerbers gemäß § 102 BetrVG zu beteiligen ist.173) x Auch hinsichtlich des Verhandlungsmandats für einen abzuschließenden Interessenausgleich nach § 125 InsO, der das Erwerberkonzept ggf. im Zuge der erstellten Namensliste umsetzt, ist die ausschließliche Beteiligung des Insolvenzverwalters auf Arbeitgeberseite ohne Berücksichtigung des Erwerbers bislang unbestritten.174) Auch im Zuge einer Beurteilung des flankierend verhandelten Sozialplanvolumens dürfte es insoweit ausschließlich auf die Spezialvorschrift des § 123 InsO und nicht etwa auf die Leistungsfähigkeit des Erwerbers ankommen.175) x Umfassendere Auseinandersetzungen gibt es auf der Ebene des arbeitsrechtlichen Schrifttums in Bezug auf die personelle Reichweite der durchzuführenden Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG: Nach ganz h. M. im Schrifttum176) soll diese – nicht zuletzt unter formaler Bezugnahme auf den Betriebsbegriff – per se ausschließlich auf den Betrieb des Veräußerers und damit auf den Betrieb der Insolvenzschuldnerin beschränkt sein. Andere Auffassungen differenzieren: So gibt es Meinungen, die in Fällen der eingliedernden Betriebs(Teil-)übernahme (alleine) die Arbeitnehmer des aufnehmenden Betriebs bei der Sozialauswahl berücksichtigen wollen;177) andere wiederum vertreten in diesen Fällen generell eine unternehmensübergreifende Sozialauswahl unter Einbeziehung der Arbeitnehmer des Erwerbers.178) Eine weitere Literaturmeinung differenziert danach, ob das zur Kündigung führende Sanierungskonzept (auch) vom veräußernden Insolvenzverwalter hätte durchgeführt und umgesetzt werden können: In diesem Fall soll es sich materiell-rechtlich um eine Kündigung des Veräußerers mit entsprechender Beschränkung der Sozialauswahl auf den abgebenden (insolventen) Betrieb handeln.179) Ist dies nicht gegeben, wird die Kündigung der Sphäre des Erwerbers zugerechnet mit entsprechender Ausdehnung des Sozialauswahlkreises (auch) auf den aufnehmenden Betrieb.180) Eine höchstrichterliche Entscheidung zu diesem Punkt ist bislang nicht bekannt.181) ___________ 171) Dies findet bereits Anklang in der Entscheidung v. 20.3.2003, vgl. BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, unter ee), ZIP 2003, 1671, 1674. 172) So auch Annuß/Stamer, NZA 2003, 1237, 1248. 173) So auch Annuß/Stamer, NZA 2003, 1237, 1248. 174) Annuß/Stamer, NZA 2003, 1237, 1248. 175) Annuß/Stamer, NZA 2003, 1237, 1248. 176) Sieger/Hasselbach, DB 1999, 430, 434; Henckel, ZGR 1984, 225, 234 ff.; Vossen, BB 1984, 1557, 1560; Lipinski, NZA 2002, 75, 79; für eine umfassende, auch den aufnehmenden Erwerberbetrieb einbeziehende Sozialauswahl Kreitner, Kündigungsrechtliche Probleme beim Betriebsinhaberwechsel, S. 110 ff.; zum Ganzen auch Küttner-Kreitner, Personalbuch 2018, Betriebsübergang Rz. 80 ff. 177) Bütefisch, Die Sozialauswahl, S. 99. 178) So etwa Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 172 m. w. N. 179) So Schumacher-Mohr, NZA 2004, 629, 632. 180) Schumacher-Mohr, NZA 2004, 629, 632; dazu auch Gaul/Bonanni/Naumann, DB 2003, 1902. 181) Vgl. zur Instanzenrechtsprechung ArbG München, Entsch. v. 19.10.2011 – 1 Ca 496/11, abrufbar unter https://www.rechtsportal.de/Suche?search%5BsearchTerm%5D=1+Ca+496%2F11&LocationCd=63 (Abrufdatum: 5.2.2023).
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung 3.8.2.2
§ 25
Die Haftungsprivilegierung des Erwerbers
Nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung in § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt der neue 113 Inhaber kraft Gesetzes in die Rechte und Pflichten aus den zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Für den Fall eines (Teil-)Betriebsübergangs nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gilt allerdings eine in ihren Grundzügen bereits zur Zeit der KO entwickelte Haftungserleichterung:182) Wird ein Betrieb oder ein Betriebsteil vom Insolvenzverwalter i. R. eines eröffneten Insolvenzverfahrens veräußert, haftet der Betriebserwerber nicht für vor Insolvenzeröffnung entstandene Verbindlichkeiten (sog. „Altverbindlichkeiten“).183) Begründet wird dieses Haftungsprivileg mit einem Vorrang der Verteilungsgrundsätze des Insolvenzverfahrens im Interesse einer gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung.184) Insbesondere auch für den Bereich der Versorgungsleistungen tritt für die bis zur Insolvenzeröffnung erdienten unverfallbaren Anwartschaften der Arbeitnehmer der Pensionssicherungsverein (PSVaG) ein.185) Vom Grundsatz der Haftungsbeschränkung eines Betriebserwerbers in der Insolvenz werden 114 Urlaubsansprüche allerdings lediglich dann erfasst, sofern sie – angesichts einer bereits erfolgten zeitlichen Festlegung – der Zeitspanne vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens zugeordnet werden können.186) Bringt der (übernommene) Arbeitnehmer noch nicht erfüllte Urlaubsansprüche in das übergegangene Arbeitsverhältnis mit, haftet der Erwerber für deren Erfüllung, sofern diese nach dem Stichtag des Betriebsübergangs vom Arbeitnehmer geltend gemacht werden. Dies gilt gleichermaßen für die Urlaubsabgeltung.187) Zu beachten bleibt allerdings, dass der Erwerber jenseits des Haftungsprivilegs auch für nach 115 Insolvenzeröffnung entstandene und bereits vor Betriebsübergang fällig gewordene Masseschulden aus dem Arbeitnehmerbereich haftet. So tritt er nach der Rechtsprechung des BAG in die zwar gekündigten, aber noch bestehenden Arbeitsverhältnisse mit allen Rechten und Pflichten ein; hierzu zählt auch der beim früheren Betriebsinhaber begründete Annahmeverzug aus dem Zeitraum vor Betriebsübergang.188) Es ist vor diesem Hintergrund dringend davon abzuraten, einen Betrieb oder Betriebsteil 116 vor Verfahrenseröffnung zu übernehmen. Die Haftungsprivilegierung findet lediglich nach Insolvenzeröffnung Anwendung; auch erscheint es im Interesse einer Vermeidung der Erwerberhaftung sinnvoll, eine Konkretisierung bzw. zeitliche Festlegung der Urlaubsansprüche vor dem Stichtag des Betriebsübergangs herbeizuführen.
___________ 182) Vgl. dazu bereits zur Zeit der KO BAG, Urt. v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94, ZIP 1996, 1914. 183) BAG, Urt. v. 13.11.1986 – 2 AZR 771/85, ZIP 1987, 525; BAG, Urt. v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, ZIP 1992, 1247; so auch zur InsO BAG, Entsch. v. 9.12.2009 – 3 AZR 384/07, BB 2010, 191. 184) BAG, Urt. v. 13.11.1986 – 2 AZR 771/85, ZIP 1987, 525; BAG, Urt. v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, ZIP 1992, 1247; ergänzende Rspr. zur InsO auch BAG, Urt. v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, ZIP 2003, 222; hierzu auch Berscheid, NZI 2000, 1, 5; Kübler/Prütting/Bork-Moll, InsO, § 128 Rz. 4 ff. 185) Vgl. dazu bereits BAG, Urt. v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, ZIP 1992, 1247. So haftet etwa der Betriebserwerber nur für diejenigen Anwartschaften aus betrieblicher Altersversorgung, die nach Insolvenzeröffnung erdient worden sind, BAG, Urt. v. 26.1.2021 – 3 AZR 139/17, NZA 2021, 1099 = ZIP 2021, 918 – nach EuGH-Vorlage gemäß EuGH, Urt. v. 9.9.2020 – Rs. C-674/18 und C-675/18, ZIP 2020, 1930. 186) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 347/03, ZIP 2004, 1011 = NZA 2004, 654; dazu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 1019. 187) Vgl. BAG, Urt. v. 18.3.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013. 188) BAG, Urt. v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, ZIP 2010, 849; BAG, Urt. v. 23.9.2009 – 5 AZR 518/08, NZA 2010, 781; so zur Zeit der KO schon BAG, Urt. v. 4.12.1986 – 2 AZR 246/86, ZIP 1987, 454 = NJW 1987, 1966.
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§ 25 3.8.2.3
Teil V Einzelfragen Informationspflichten und Widerspruch des Arbeitnehmers gemäß § 613a Abs. 5 und 6 BGB
117 Das in der Vergangenheit auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH189) sowie des BAG190) entwickelte Widerspruchsrecht angesichts eines Betriebsübergangs ist seit dem 1.4.2002191) durch eine Neuaufnahme der Absätze 5 und 6 in § 613a BGB gesetzlich normiert. Zur Ermöglichung der Beurteilung, ob ein Widerspruch des Arbeitnehmers erfolgen soll oder nicht, hat der Gesetzgeber dem bisherigen Arbeitgeber und dem Erwerber in § 613a Abs. 5 BGB Informationspflichten auferlegt, die vor dem Übergang in Textform zu erfüllen sind. 118 Demzufolge müssen die vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer über die im Gesetz angesprochenen Umstände unterrichtet werden, namentlich also über x
den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Überganges,
x
den Grund für den Übergang,
x
die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer (z. B. die Haftungsregelung gemäß § 613a Abs. 1, 2 BGB),
x
die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen und
x
die Identität des Erwerbers (vollständiger Name, Vertretungsverhältnisse, Anschrift und Kontaktmöglichkeiten).192)
119 Die Unterrichtung erfordert dabei eine verständliche, arbeitsplatzbezogene und inhaltlich zutreffende Information i. R. einer konkreten, betriebsbezogenen Darstellung in einer auch für einen juristischen Laien möglichst verständlichen Sprache.193) 120 Nach Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung hat der 8. Senat des BAG den Umfang der Unterrichtungsverpflichtung in einer Fülle von Entscheidungen sukzessive konkretisiert.194) Dabei lässt sich nicht verhehlen, dass die vom BAG stetig i. R. von Einzelfallentscheidungen ausgeweitete Unterrichtungsverpflichtung in gewissem Gegensatz zum gleichzeitig aufgestellten Gebot der sprachlichen Verständlichkeit für einen juristischen Laien steht.195) 121 Jenseits der im Gesetzestext konkret aufgeführten Punkte empfiehlt es sich, die Unterrichtungsverpflichtung in Form eines möglichst umfassenden Standardschreibens zu erfüllen, welches – trotz der Standardisierung – auch tatsächliche oder rechtliche Unter___________ 189) Vgl. etwa EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-171/94, C-172/94 (Cour du Travail Brüssel), Slg. 1996, I-1253 = ZIP 1996, 882; EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – Rs. C-51/00 (Tempco), Slg. 2002, I-969 = BB 2002, 464. 190) BAG, Urt. v. 22.4.1993 – 2 AZR 313/92, ZIP 1994, 391 = DB 1994, 941; BAG, Urt. v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, ZIP 1998, 1080. 191) Eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze, v. 23.3.2002, BGBl. I 2002, 1163. 192) Hierzu i. E. mit Beispielen Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 873 ff. 193) Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 883; Meyer, Die Unterrichtung der Arbeitnehmer vor Betriebsübergang, Rz. 309 ff.; instruktiv auch Willemsen, NJW 2007, 2065; LAG Düsseldorf, Urt. 19.9.2007 – 7 Sa 769/07, FA 2008, 59; BAG, Urt. V. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, BB 2007, 1340 = NZA 2007, 682. 194) Vgl. etwa BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 277/10, abrufbar unter www.bundesarbeitsgericht.de; BAG, Urt. v. 21.8.2008 – 8 AZR 407/07, ZIP 2009, 1295 = NZA-RR 2009, 62; BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, ZIP 2010, 46 = NZA 2010, 89; BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, ZIP 2006, 2143 = NZA 2006, 1273; BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, ZIP 2006, 2050 = NZA 2006, 1268; BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, BB 2007, 1340 = NZA 2007, 682; BAG, Urt. v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547; BAG, Urt. v. 27.11.2008 – 8 AZR 174/07, ZIP 2009, 929 = NZA 2009, 552; BAG, Urt. v. 27.11.2008 – 8 AZR 188/07, NZA 2009, 752 (LS) = DB 2009, 1077; BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1016/06, NZA 2008, 1354; BAG, Urt. v. 15.12.2016 – 8 AZR 612/15, ZIP 2017, 1129. 195) Kritisch zur zum Perfektionismus tendierenden Auslegung der Informationspflicht auch Willemsen, NJW 2007, 2065, 2068.
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Arbeitsrechtliche Probleme im Rahmen der Betriebsfortführung
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schiede, die nur einzelne Bereiche oder einzelne Arbeitsverhältnisse betreffen, ausreichend berücksichtigt. Unterbleibt die Unterrichtung bzw. wird diese nicht vollständig und ordnungsgemäß vor- 122 genommen,196) bleibt den Arbeitnehmern die Möglichkeit unbenommen, das in § 613a Abs. 6 BGB enthaltene Widerspruchsrecht unbeachtlich der darin festgelegten Monatsfrist auch noch nach dem Betriebsübergang zu einem späteren Zeitpunkt auszuüben; die Frist für die Erhebung des Widerspruchs wird in dieser Konstellation nicht ausgelöst.197) Der Widerspruchsmöglichkeit ist sodann in zeitlicher Hinsicht – jenseits der Verwirkungsgrundsätze – keine Grenze gesetzt.198) Zur Verwirkung des Widerspruchsrechts des Arbeitnehmers hat es in der Zwischenzeit eine Reihe von Entscheidungen des BAG gegeben, die tendenziell eine Verwirkung lediglich in engen Grenzen annehmen. Nach herkömmlichen Grundsätzen reicht alleine das Zeitmoment nicht aus; i. Ü. ist die Tatsache, dass der Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang zunächst seine Tätigkeit bei dem (neuen) Betriebsinhaber weitergeführt hat, für das Vorliegen eines Umstandsmoments alleine nicht ausreichend.199) Wurde der Arbeitnehmer zwar nicht ordnungsgemäß i. S. von § 613a Abs. 5 BGB unterrichtet, aber i. R. einer Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB von dem bisherigen Arbeitgeber oder dem neuen Inhaber zumindest über den mit dem Betriebsübergang verbundenen Übergang seines Arbeitsverhältnisses unter Mitteilung des Zeitpunkts oder des geplanten Zeitpunkts sowie des Gegenstands des Betriebsübergangs und des Betriebsübernehmers (sog. „Grundlegende Informationen“)200) in Textform in Kenntnis gesetzt und über sein Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB belehrt, führt hingegen eine widerspruchslose Weiterarbeit bei dem neuen Inhaber über einen Zeitraum von sieben Jahren zur Verwirkung des Widerspruchsrechts.201) Jenseits der Möglichkeit der Verwirkung kann auf das Widerspruchsrecht auch durch 123 einseitige Erklärung verzichtet werden.202) Denkbar ist insoweit sowohl ein Verzicht auf das Widerspruchsrecht als solches als auch ein zeitweiliger Verzicht auf dessen Ausübung. Voraussetzung eines Verzichts auf das Widerspruchsrecht ist allerdings das Bewusstsein des Arbeitnehmers, über ein solches Recht zu verfügen.203) Ob ein Verzicht auf das Widerspruchsrecht oder dessen Ausübung wiederum seinerseits eine ordnungsgemäße Unterrichtung i. S. von § 613a Abs. 6 Satz 1 i. V. m. § 613a Abs. 5 BGB204) oder jedenfalls eine zutreffende Unterrichtung in Textform über die grundlegenden Informationen voraussetzt, ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden.205) ___________ 196) Eine auf anderem Wege erlangte (vollständige) Kenntnis des Arbeitnehmers von den Umständen des Betriebsübergangs ist wohl unbeachtlich, so Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 930. 197) Vgl. etwa BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, ZIP 2006, 2050 = NZA 2006, 1268. 198) Vgl. etwa Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 89; so auch BAG, Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, ZIP 2009, 2310 = ZInsO 2010, 496. 199) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, BB 2007, 1340 = NZA 2007, 682; zur Verwirkung i. Ü. BAG, Urt. v. 25.4.2001 – 5 AZR 497/99, ZIP 2001, 1647 = NZA 2001, 966; BAG, Urt. v. 18.12.2003 – 8 AZR 621/02, ZIP 2004, 1068 = NZA 2004, 791; BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, ZIP 2007, 87. 200) Zum Umfang der grundlegenden Informationen auch BAG, Urt. v. 19.11.2015 – 8 AZR 773/14, ZIP 2016, 990. 201) BAG, Urt. v. 24.8.2017 – 8 AZR 265/16, ZIP 2018, 193. 202) BAG, Urt. v. 28.2.2019 – 8 AZR 208/18; BAG, Urt. v. 28.2.2019 – 8 AZR 201/18, ZIP 2019, 1631; BAG, Urt. v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06, ZIP 2007, 1382 = NZA 2007, 793; BAG, Urt. v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97 ZIP 1998, 1080 = NJW 1998, 3138; zu den verwandten Möglichkeiten der Vereinbarung bzw. einer einseitig vom Arbeitnehmer erklärten Zusage; vgl. auch Müller-Glöge in: MünchKomm-BGB, § 613a Rz. 115; Preis in ErfK, § 613a BGB Rz. 104. 203) BAG, Urt. v. 15.2.2007 – 8 AZR 431/06, ZIP 2007, 1382 = NZA 2007, 793; BAG, Urt. v. 28.2.2019 – 8 AZR 208/18. 204) Dafür LAG Saarland, Urt. v. 12.8.2009 – 2 Sa 52/09; dagegen LAG Niedersachsen, Urt. v. 5.2.2018 – 8 Sa 833/17, jew. abrufbar unter www. dejure.org. 205) Ausdrücklich offengelassen in BAG, Urt. v. 28.2.2019 – 8 AZR 208/18.
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124 Das Widerspruchsrecht ist dabei gegenüber dem neuen Inhaber (= dem Erwerber) oder dem bisherigen Arbeitgeber, nicht aber – bei mehreren aufeinanderfolgenden Betriebsübergängen – gegenüber einem früheren Arbeitgeber auszuüben.206) 125 Im Falle einer Inanspruchnahme des Widerspruchsrechts durch den Arbeitnehmer kommt ein Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber nicht zustande; vielmehr bleibt das alte Arbeitsverhältnis zum veräußernden Betrieb – mithin vorliegend mit dem insolventen Unternehmen – bestehen.207) 126 Im Falle der fristgerechten Ausübung des Widerspruchsrechts ist sodann der Insolvenzverwalter als neuerlicher Arbeitgeber berechtigt, das wiedererlangte Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zu kündigen, da im insolventen Unternehmen angesichts der Veräußerung kein vakanter Arbeitsplatz mehr vorhanden ist. Bei dieser betriebsbedingten Kündigung ist eine Sozialauswahl nicht erneut durchzuführen, da im Regelfall eine Vergleichsmöglichkeit mangels weiterbeschäftigter anderer Arbeitnehmer nicht gegeben sein wird. Für diese Kündigung gilt gleichermaßen die Kappungsgrenze des § 113 InsO.208) Dies mag allenfalls dann anders sein, wenn der Insolvenzverwalter lediglich einen Betriebsteil veräußert und der widersprechende Arbeitnehmer geltend macht, in der Vergangenheit auch in einer anderen – im Insolvenzverfahren noch fortgeführten – Betriebsabteilung beschäftigt gewesen zu sein. In dieser Konstellation dürften die allgemeinen Grundsätze einer betriebsbedingten Kündigung einschließlich der nach § 1 Abs. 3 KSchG durchzuführenden Sozialauswahl gelten. 3.9
Das Verfahren bei Massenentlassungen
127 Soweit die Anzahl der durchzuführenden Entlassungen in Betrieben den Schwellenwert des § 17 KSchG erfüllen, muss der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigungen den Betriebsrat konsultieren und der örtlichen Agentur für Arbeit unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats diese Massenentlassung schriftlich anzeigen.209) Durch die Massenentlassungsanzeige soll der Agentur für Arbeit die Möglichkeit geschaffen werden, rechtzeitig Maßnahmen zur Einleitung oder wenigstens zum Aufschub von Belastungen des Arbeitsmarktes einzuleiten und für anderweitige Beschäftigungen der Betroffenen zu sorgen.210) 128 Auch in der Insolvenz des Arbeitgebers ist das Verfahren der Konsultation des Betriebsrats und der Massenentlassungsanzeige uneingeschränkt vom Insolvenzverwalter zu beachten bzw. durchzuführen.211) Inhaltlich übereinstimmend mit der Regelung in § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG ersetzt allerdings auch hier entsprechend der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung in § 125 Abs. 2 InsO der Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrats. 129 Der Betriebsbegriff bestimmte sich dabei in der Vergangenheit nach betriebsverfassungsrechtlichen Maßstäben unter Berücksichtigung von §§ 1, 4 BetrVG.212) Bildeten etwa zwei ___________ 206) 207) 208) 209)
BAG, Urt. v. 11.12.2014 – 8 AZR 943/13, NZA 2015, 481. Statt vieler Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 937. Zum Ganzen Lembke, BB 2007, 1333. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob der Massenentlassung eine Entscheidung zur vollständigen Stilllegung des Geschäftsbetriebs oder nur zur Kündigung eines Teils der Arbeitsverhältnisse zugrunde liegt; vgl. EuGH, Urt. v. 3.3.2011 – C-235/10 bis C-239/10 (Claes u. a.) Rz. 33, Slg. 2011, I-1113; BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 14, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 210) Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. (EG) L 225/16 v. 12.8.1998. 211) EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-250/97, NZA 1999, 305 = NZI 1999, 227; hierzu auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz 1050. 212) BAG, Vers.-Urt v. 14.3.2013 – 8 AZR 153/12, Rz. 47, DB 2013, 2687m. w. N.; dazu auch Salamon, NZA 2015, 789.
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Unternehmen einen Gemeinschaftsbetrieb,213) war bislang die Zahl aller Arbeitnehmer in diesem Betrieb maßgeblich für die Ermittlung des Schwellenwertes des § 17 KSchG.214) Der EuGH hat in mehreren im Frühsommer des Jahres 2015 ergangenen Entscheidungen seinerseits den Betriebsbegriff auf der Grundlage der Massenentlassungsrichtlinie konkretisiert.215) Demzufolge ist nunmehr der Begriff „Betrieb“ unionsrechtlicher Natur und einer Bestimmung anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten entzogen. Er ist daher in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen. Besteht ein Unternehmen etwa aus mehreren Einheiten, wird der „Betrieb“ von der Einheit gebildet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind.216) In seinen Air Berlin-Entscheidungen217) hat das BAG diese Rechtsprechung aufgegriffen und ungeachtet des Firmensitzes Berlin die Agentur für Arbeit in Düsseldorf für die am Flughafen Düsseldorf stationierten Piloten für zuständig erachtet. Neben den herkömmlichen Kündigungen (ordentlich und außerordentlich) zählen zu den 130 Entlassungen auch andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses, die vom Arbeitgeber veranlasst werden (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG). Hierzu gehören u. a. auch Aufhebungsverträge auf Veranlassung des Arbeitgebers218) oder das Zuvorkommen einer sonst erforderlichen betriebsbedingten Arbeitgeberkündigung durch Eigenkündigung des Arbeitnehmers.219) Wesentlich hierbei ist, dass die zur Beendigung führende Handlung bzw. „Veranlassung“ des Arbeitgebers vor der Entlassung liegt.220) Unter Berücksichtigung eines jüngeren Urteils des EuGH221) stellt bereits eine wesentliche Veränderung der Vertragsbedingungen durch den Arbeitgeber, die nicht auf Gründen in der Person des Arbeitnehmers beruht, eine Entlassung i. S. des § 17 KSchG dar; für die Rechtslage in Deutschland ergibt sich hierdurch jedoch keine wesentliche Änderung, da nach Maßgabe der aktuellen Rechtsprechung des BAG Änderungskündigungen ohnehin i. R. des § 17 Abs. 1 KSchG zu berücksichtigen sind.222) Die inhaltlichen Vorgaben der Konsultation des Betriebsrates ergeben sich aus § 17 Abs. 2 131 Nr. 1 – 6 KSchG; die Mindestinhalte der schriftlichen Massenentlassungsanzeige gegenüber ___________ 213) Vgl. etwa BAG, Beschl. v. 22.6.2005 – 7 ABR 57/04, NZA 2005, 1248 – zu einem gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen. 214) Vgl. hierzu die Darstellung bei Kleinebrink/Commandeur, NZA 2015, 853. 215) EuGH, Urt. v. 30.4.2015 – Rs. C-80/14 (US-DAW u. a./WW Realisation 1 Ltd. in Liquidation u. a.), NZA 2015, 601; EuGH, Urt. v. 13.5.2015 – Rs. C-392/13 (Andrés Rabal Cañas/Nexea Gestión Documental SA), NZA 2015, 669; EuGH, Urt. 13.5.2015 – Rs. C-182/13 (Valerie Lyttle, Sarah Louise Halliday, Clara Lyttle, Tanya McGerty/Bluebird UK Bidco 2 Ltd.), NZA 2015, 731. 216) Dies führte in der englischen Woolworths-Insolvenz dazu, dass einzelne Geschäfte im Einzelhandel als eigenständige Betriebe oder Einheiten definiert und damit aufgrund ihrer geringen Mitarbeiterzahl einem Anwendungsbereich der Massenentlassungsrichtlinie entzogen wurden, vgl. EuGH, Urt. v. 30.4.2015 – Rs. C-80/14 (US-DAW u. a./WW Realisation 1 Ltd. in Liquidation u. a.), NZA 2015, 601; dazu auch Kleinebrink/Commandeur, NZA 2015, 853. 217) Vgl. etwa stellvertretend BAG, Urt. v. 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006 = ZIP 2020, 1569; zur Air Berlin-Thematik unter dem Blickwinkel eines Betriebsübergangs auch BAG, Urt. v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303 = ZIP 2020, 1569. 218) Vgl. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 48, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029 m. w. N.; BAG, Urt. v. 19.3.2015 – 8 AZR 119/14, Rz. 46, DB 2015, 2029. 219) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029; BAG, Urt. v. 19.3.2015 – 8 AZR 119/14, DB 2015, 2029. 220) BAG, Urt. v. 19.3.2015 – 8 AZR 119/14, Rz. 40, DB 2015, 2029; das LAG Sachsen-Anhalt als Vorinstanz (LAG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 21.6.2013 – 6 Sa 444/11) hatte noch für die Entlassung i. S. des § 17 KSchG gefordert, das der Aufhebungsvertrag das Arbeitsverhältnis zum identischen Zeitpunkt einer ordentlichen Kündigung beenden müsse. 221) EuGH, Urt. v. 11.11.2015 – Rs. C-422/14 (Pujante Rivera/Gestora Clubs Dir SL u. a.), NZA 2015, 1441. 222) BAG, Urt. v. 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, ZIP 2014, 1691 = NZA 2014, 1069; zum Ganzen auch Franzen, NZA 2016, 26.
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der Agentur für Arbeit folgen aus § 17 Abs. 3 KSchG, der insoweit zwischen Pflicht- und Sollangaben223) unterscheidet. 132 In einer Vielzahl von gerichtlichen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit wurden die inhaltlichen Voraussetzungen des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG konkretisiert: 133 Jenseits des in § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 – 6 KSchG beschriebenen Umfangs der Unterrichtung besteht gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG weiterhin eine Verpflichtung zur Beratung der Maßnahme mit dem Betriebsrat. Diese Pflicht geht dabei über eine bloße Anhörung des Betriebsrats deutlich hinaus. Der Arbeitgeber – und damit auch der Insolvenzverwalter – hat mit dem Betriebsrat über die Entlassungen bzw. die Möglichkeiten ihrer Vermeidung ernstlich zu verhandeln bzw. ihm dies zumindest anzubieten.224) 134 In der Regel liegen bei anzeigepflichtigen Massenentlassungen i. S. des § 17 KSchG parallel auch die Voraussetzungen einer Betriebsänderung i. S. von § 111 BetrVG vor; die Konsultationspflicht gegenüber dem Betriebsrat ist der Sache nach daher regelmäßig dann erfüllt, wenn der Insolvenzverwalter einen Interessenausgleich abschließt und dann erst kündigt.225) Soweit die Informationspflichten aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit denen nach § 111 BetrVG übereinstimmen, können sie zeitlich gleichzeitig erfüllt werden.226) Dabei kommt es allerdings wesentlich darauf an, dass für den Betriebsrat erkennbar ist, dass die stattfindenden Beratungen (auch) der Erfüllung der Konsultationspflicht des Arbeitgebers aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG dienen sollen.227) 135 Da die Beteiligungsrechte des Betriebsrats im Vorfeld der Durchführung von massenentlassungspflichtigen Betriebsänderungen regelmäßig auf verschiedener rechtlicher Grundlage parallel stattfinden (Verhandlung eines Interessenausgleichs nach § 111 BetrVG, Verhandlung eines Sozialplans bzw. ggf. Gründung einer Transfergesellschaft i. S. von § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2a BetrVG i. V. m. § 110 SGB III, Maßnahmen i. R. von §§ 99 ff. BetrVG), empfiehlt es sich, eine gleichzeitig stattfindende Beratung im Zuge der Konsultation gemäß § 17 KSchG schriftlich zu dokumentieren.228) 136 Neben der Konsultation des Betriebsrats hat die Massenentlassungsanzeige weiterhin auch ihrem Inhalt nach die gesetzlichen Vorgaben gemäß § 17 Abs. 3 KSchG zu erfüllen. Üblicherweise wird die Massenentlassungsanzeige auf der Grundlage von seitens der Bundesagentur für Arbeit angebotenen Formularen ausgefüllt.229) 137 Jenseits der im Formular der Agentur für Arbeit regelmäßig standarisiert abgefragten Informationen zählt zu ihrem Umfang gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG als Wirksamkeits___________ 223) In seiner Entscheidung vom 19.5.2022 stellte das BAG klar, dass ein Fehlen der Sollangaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führt, BAG, Urt. v. 19.5.2022 – 2 AZR 467/21, ZIP 2022, 1559. 224) BAG, Urt. v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, Rz. 15, ZIP 2013, 1589 = NZA 2013, 966; BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 57, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029; BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 15, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 225) BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, Rz. 46, NZA 2013, 1040; BAG, Urt. v. 18.9.2003 – 2 AZR 79/02, B. III. 1 b), ZIP 2004, 677 = NZA 2004, 375; BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 17, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 226) BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 17, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 227) BAG, Urt. v. 26.2.1015 – 2 AZR 955/13, Rz. 17, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881; so auch bereits BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, Rz. 47, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32; BAG, Urt. v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, Rz. 34, ZIP 2012, 1193 = NZA 2012, 817; zurückhaltend zum Konsultationsverfahren bei Interessenausgleich LAG Hannover, Urt. v. 26.2.2015 – 5 Sa 1318/14, ZIP 2015, 1604. 228) So konnte im Fall des BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881, ungeachtet des abgeschlossenen Interessenausgleichs eine Beratung speziell zu den Massenentlassungen nicht nachgewiesen werden. 229) Abrufbar unter www.arbeitsagentur.de.
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voraussetzung230) auch die Beifügung einer Stellungnahme des Betriebsrats als Ergebnis der mit ihm durchgeführten Beratungen. Sofern ein Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen wurde, ersetzt dieser aufgrund der gesetzlichen Anordnung in § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG, § 125 Abs. 2 InsO (siehe oben Rz. 82) dessen Stellungnahme. Liegt ein derartiger qualifizierter Interessenausgleich hingegen nicht vor, muss die Stellungnahme des Betriebsrats bestimmte aus dem Gesetz nicht ohne weiteres ersichtliche Mindestanforderungen erfüllen. Um entsprechend dem Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige der zuständigen Agentur für Arbeit Auskunft darüber geben zu können, ob und welche Möglichkeiten er sieht, die angezeigten Kündigungen zu vermeiden und zugleich zu belegen, dass soziale Maßnahmen mit ihm beraten und ggf. getroffen worden sind muss sich der Betriebsrat in einer Weise äußern, die erkennen lässt, das er seine Beteiligungsrechte als gewahrt ansieht und das es sich um eine abschließende Erklärung zu den vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigungen handelt.231) Eine etwaige – im Regelfall der Sphäre des Betriebsrats zuzuordnende – Unklarheit i. R. der Formulierung der Stellungnahme führt zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige.232) Zu den inhaltlichen Vorgaben des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG gehört u. a. auch die Angabe 138 der vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Selbst bei Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste auf der Grundlage eines Erwerbermodells ist diese Voraussetzung dann nicht erfüllt, wenn diese Liste lediglich das Ergebnis der Sozialauswahl, nicht aber für die Agentur für Arbeit nachvollziehbar den auf den Sozialauswahlkriterien basierenden Weg dorthin im Einzelnen darlegt.233) Fordert die gesetzliche Regelung in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG die Vorlage der Massenent- 139 lassungsanzeige vor Durchführung einer „Entlassung“, wurde dies in der Vergangenheit mit dem Zeitpunkt gleichgesetzt, in welchem das Arbeitsverhältnis seine rechtliche Beendigung fand und der Arbeitnehmer aus dem Betrieb ausschied.234) Der EuGH hat in seinem Urteil vom 27.1.2005235) (Junk-Entscheidung) festgelegt, dass entgegen der bisherigen deutschen Rechtsprechung die Konsultation des Betriebsrats und die Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit bei Massenentlassungen i. S. von § 17 KSchG vor Ausspruch der Kündigungen stattzufinden hat, mithin als „Entlassung“ die Abgabe der Kündigungserklärung anzusehen ist. Die Praxis der Vergangenheit, zunächst die Kündigungen auszusprechen und sodann innerhalb des Laufs der Kündigungsfristen das Anzeigeverfahren bei der Agentur für Arbeit einzuleiten, ist damit obsolet. Das BAG hat sich in der Folgezeit dieser Rechtsprechung angeschlossen und allenfalls für Altfälle, in denen bis zum Bekanntwerden der Entscheidung des EuGH auf der Grundlage der nationalen Rechtsprechung vorgegangen worden war, spezielle Grundsätze des Vertrauensschutzes aufgestellt.236) ___________ 230) BAG, Urt. v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, Rz. 34, ZIP 2013, 1589 = NZA 2013, 966; BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, Rz. 64, NZA 2013, 1040; BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 34, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 231) BAG, Urt. v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, Rz. 33, ZIP 2012, 1259 = NZA 2012, 1058; BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 38, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 232) BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, Rz. 39 ff., ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 233) So jedenfalls LAG Düsseldorf, Urt. v. 26.9.2013 – 5 Sa 530/13, ZIP 2014, 47 = BB 2014, 125. 234) Vgl. BAG, Urt. v. 6.12.1973 – 2 AZR 10/73, BAGE 25, 430 = NJW 1974, 1263; BAG, Urt. v. 24.10.1996 – 2 AZR 895/95, BAGE 84, 267 = NJW 1997, 2131; BAG, Urt. v. 11.3.1999 – 2 AZR 461/98, ZIP 1999, 1568. 235) EuGH, Urt. v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 (Junk/Kühnel), ZIP 2005, 230. 236) Vgl. etwa BAG, Urt. v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, ZIP 2006, 1644 = NZA 2006, 971; BAG, Urt. v. 6.7.2006 – 2 AZR 520/05, ZIP 2006, 2329; BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, ZIP 2006, 2396; BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387; BAG, Urt. v. 29.11.2007 – 2 AZR 763/06, ZIP 2008, 1598 = BB 2008, 1460. Das BVerfG hat in der Folgezeit den vom BAG in Einzelfällen gewährten Vertrauensschutz als Verstoß des BAG gegen die Pflicht zur Vorlage an den EuGH gewertet; vgl. BVerfG, Urt. v. 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07, ZIP 2015, 335. Zum Ganzen auch Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 1062 ff., 1069.
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§ 25
Teil V Einzelfragen
140 Gemäß § 18 KSchG werden Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit nur mit deren Zustimmung wirksam (sog. „Entlassungssperre“). Die Zustimmung kann dabei auch rückwirkend bis zum Tage der Antragstellung erteilt werden. Ferner kann die Agentur für Arbeit im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach Eingang der Anzeige wirksam werden (§ 18 Abs. 2 KSchG). 141 Infolge der Junk-Entscheidung des EuGH war es unklar, welche Auswirkungen dem modifizierten Entlassungsbegriff im Hinblick auf die in § 18 KSchG enthaltene Entlassungssperre zukommt. Teilweise wurde hierzu die Auffassung vertreten, angesichts des neuen Entlassungsbegriffs könnten die Kündigungen erst zeitversetzt nach Ablauf der Sperrfrist ausgesprochen werden.237) Das LAG Berlin-Brandenburg ging davon aus, dass die Kündigungsfrist nach Vorlage der Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1 KSchG erst nach Ablauf der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG beginne.238) Das BAG hat zwischenzeitlich klargestellt, dass die Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG weder den Ausspruch einer Kündigung (unmittelbar) nach Vorlage der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit während des Laufs der Sperrfrist nach § 18 Abs. 1 oder 2 KSchG hindere, noch die Sperrfrist die gesetzlichen Kündigungsfristen verlängere.239) 142 Eine – auch unter dem Blickwinkel der aktuellen Rechtsprechung des EuGH und nachfolgend des BAG – unterbliebene, fehlerhafte oder verspätete Massenentlassungsanzeige führt in ihrer Rechtsfolge gemäß § 134 BGB zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung, wenn sich der gekündigte Arbeitnehmer im Prozess hierauf beruft.240) 143 Der Arbeitnehmer ist insoweit darlegungs- und beweispflichtig für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen einer Anzeigeflicht nach § 17 KSchG. Steht die Anzeigepflicht fest, trifft die Darlegungs- und Beweislast für die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens nach § 17 KSchG den Arbeitgeber, weil dieses Verfahrens Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung ist.241) In der Praxis lässt sich indes beobachten, dass viele Arbeitsrichter dazu tendieren, die Ordnungsgemäßheit der Massenentlassungsanzeige auch bei Fehlen jeglicher Rüge seitens der Arbeitnehmervertretung242) vollumfänglich von Amts wegen zu prüfen.
___________ 237) Hierzu etwa die Darstellung des Meinungsstands bei Arens/Brand, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz, § 1 Rz. 1090, 1094. 238) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.12.2007 – 6 Sa 1846/07, AE 2008, 112 = DB 2009, 236; vgl. auch LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 23.2.2007 – 6 Sa 2152/06, BB 2007, 2296. 239) BAG, Urt. v. 6.11.2008 – 2 AZR 935/07, ZIP 2009, 487; vgl. dazu auch die Anm. Simon/Greßlin, BB 2009, 727. 240) So BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 219/06, n. v.; BAG, Urt. v. 12.7.2007 – 2 AZR 619/05, n. v.; BAG, Urt. v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, ZIP 2008, 428; BAG, Urt. v. 8.11.2007 – 2 AZR 554/05, BB 2008, 563; BAG, Urt. v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, ZIP 2010, 246; BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, NZA 2013, 845 = ZIP 2013, 742; BAG Urt. v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, NZA 2013, 966 = ZIP 2013, 1589; vgl. zur Beweislastverteilung auch BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZA 2013, 864. 241) BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZA 2013, 864. 242) Die konkreten Anforderungen an den Vortrag richten sich dabei nach den allgemeinen Regelungen zur Verteilung der Darlegungslast nach § 138 Abs. 2 ZPO. Trägt etwa der Insolvenzverwalter ohne Rüge des Arbeitnehmers zu dem von ihm durchgeführten Verfahren nach § 17 KSchG vor und ist daraus ersichtlich, dass den Anforderungen des § 17 KSchG nicht genügt ist, hat das Gericht nach den allgemeinen zivilprozessualen Regeln unabhängig von einer ausdrücklichen Rüge des Arbeitnehmers derartige Unwirksamkeitsgründe von Amts wegen zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt, wenn sich solche Unwirksamkeitsgründe aus vom Arbeitgeber/Insolvenzverwalter in das Verfahren eingeführten Unterlagen eindeutig ergeben; vgl. BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZA 2013, 864.
988
Dreschers
§ 26 Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme C. Mönning
Übersicht I. 1.
2.
3.
Betriebsverfassungsrechtliche Probleme ...................................................... 1 Der Betriebsrat im insolvenzabwendenden Restrukturierungsverfahren ........... 1 1.1 Grundsätze....................................... 1 1.2 Zeitpunkt der Beteiligung ............. 10 Der Betriebsrat im Insolvenzverfahren .... 16 2.1 Allgemeine Stellung des Betriebsrates ............................ 16 2.2 Allgemeine Rechte des Betriebsrates im Insolvenzverfahren.......... 19 2.3 Kostentragungspflicht des Insolvenzverwalters ................ 31 2.4 Rechte des Betriebsrates in der Betriebsfortführung............ 38 2.4.1 Rechte des Betriebsrates bei Betriebsänderungen im Insolvenzverfahren................... 38 2.4.2 Rechte des Betriebsrates beim Betriebsübergang gemäß § 613a BGB in der Betriebsfortführung (übertragende Sanierung) ...................................... 87 2.5 Betriebsvereinbarungen in der Betriebsfortführung.......... 107 2.5.1 Beratungsgebot gemäß § 120 InsO ............................................. 111 2.5.2 Kündigungsmöglichkeiten von Betriebsvereinbarungen ....... 117 2.5.2.1 Ordentliche Kündigung .............. 118 2.5.2.2 Außerordentliche Kündigung..... 128 2.5.2.3 Wegfall der Geschäftsgrundlage...................................... 132 2.5.3 Nachwirkung ............................... 133 2.5.4 Anfechtung von Betriebsvereinbarungen ............................ 137 2.5.5 Schicksal der Betriebsvereinbarungen bei übertragender Sanierung...................................... 138 Interessenausgleich und Sozialplan in der Insolvenz........................................ 143 3.1 Betriebsänderung nach §§ 121, 122 InsO ...................................... 155 3.2 Interessenausgleich nach § 125 InsO ............................................. 171 3.2.1 Zustandekommen des Interessenausgleiches.................................... 177 3.2.1.1 Voraussetzungen ......................... 177 3.2.1.2 Zuständige Betriebsparteien ....... 178
3.2.1.3 Erfordernis einer Betriebsänderung....................................... 186 3.2.1.4 Zeitpunkt ..................................... 188 3.2.1.5 Anforderungen an die Namensliste ...................... 194 3.2.2 Wirkung des Interessenausgleiches mit Namensliste........................... 201 3.2.2.1 Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse ......... 201 3.2.2.2 Sozialauswahl ............................... 203 3.3 Beschlussverfahren nach § 126 InsO ............................................. 220 3.4 Bindungswirkung nach § 127 InsO ............................................. 236 3.5 Betriebsänderung ohne Interessenausgleich ............ 243 3.6 Der Nachteilsausgleich ............... 245 3.6.1 Abweichung von einem Interessenausgleich............................. 246 3.6.2 Unterbliebener Versuch eines Interessenausgleiches......... 250 3.6.3 Entstehung des Nachteilsausgleichsanspruchs..................... 256 3.6.4 Entlassung von Arbeitnehmern ... 261 3.6.5 Andere wirtschaftliche Nachteile ...................................... 263 3.6.6 Höhe des Nachteilsausgleichs und Verhältnis zu einem Sozialplan ............................................... 264 3.6.7 Nachteilsausgleich als Masseverbindlichkeit ............................. 269 3.7 Betriebsveräußerung nach § 128 InsO ............................................. 270 3.8 Sozialplan nach §§ 123, 124 InsO ............................................. 275 3.8.1 Absolute Obergrenze.................. 286 3.8.2 Relative Obergrenze.................... 295 3.8.3 Verteilung des Sozialplanvolumens ...................................... 298 3.8.4 Zeitpunkt des Abschlusses des Sozialplans ............................. 313 3.8.5 Widerruf des Sozialplans............. 317 3.8.6 Verjährung von Sozialplanforderungen ................................. 328 3.9 Transfermaßnahmen ................... 341 II. Tarifrechtliche Probleme ....................... 351 1. Tarifgebundenheit des Insolvenzverwalters.................................................. 351 1.1 Begriff der Tarifgebundenheit .... 352
C. Mönning
989
§ 26
Teil V Einzelfragen
1.2 1.3 1.4 1.5
Mitglieder der Tarifvertragsparteien ........................................ 353 Beginn und Ende der Mitgliedschaft in der Tarifvertragspartei.... 355 Beendigung der Mitgliedschaft per Gesetz .................................... 359 Auswirkungen der Beendigung der Mitgliedschaft auf die Tarifgebundenheit ............................... 363
1.5.1
2.
Auswirkungen auf die Tarifgebundenheit des Schuldners ..... 363 1.5.2 Auswirkungen auf die Tarifgebundenheit des Insolvenzverwalters ..................................... 364 1.6 Nachwirkung ............................... 367 Sanierungstarifverträge ............................ 371
Literatur: Annuß/Hohenstadt, Betriebsidentität und Sozialauswahl beim gemeinsamen Betrieb, NZA 2004, 420; Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl., 2021; Eisemann, Sozialplan „zero“?, NZA 2019, 81; Gaul, Kostenerstattungsansprüche des Betriebsrates, Aktuelles Arbeitsrecht 2015, Bd. 2, S. 599; Giesen, Die Betriebsverfassung nach dem neuen Insolvenzrecht, ZIP 1998, 142; Göpfert/Giese, Die Arbeitnehmer im Gefüge des StaRUG, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 55; Griese, Weitergeltung des Sanierungstarifvertrages nach Betriebsübergang, Arbeitsrecht Aktiv 2009, 194; Hidalgo/Kobler, Die betriebsverfassungsrechtlichen Folgen des Widerspruchs bei einem Betriebsübergang, NZA 2014, 290; Karthaus, Betriebsübergang als interessenausgleichspflichtige Maßnahme nach der Richtlinie 2004/14/EG, AuR 2007, 114; Mückl/Krings, Rettung des durch den vorläufigen Insolvenzverwalter abgeschlossenen Interessenausgleichs mit Namensliste, ZIP 2012, 106; Mückl/Krings, Betriebsvereinbarungen und Insolvenzanfechtung, ZIP 2015, 1714; Oetker/Friese, Massebelastende Betriebsvereinbarungen in der Insolvenz (§ 120 InsO), DZWIR 2000, 397; Pott, Verjährung von Sozialplanansprüchen in der Insolvenz, NZI 2015, 535; Wenner/Jauch, Die Verjährung von Masseverbindlichkeiten im Insolvenzverfahren, ZIP 2009, 1894; Wroblewski, Arbeitnehmervertreter im (vorläufigen) Gläubigerausschuss, ZInsO 2014, 115.
I.
Betriebsverfassungsrechtliche Probleme
1.
Der Betriebsrat im insolvenzabwendenden Restrukturierungsverfahren
1.1
Grundsätze
1 Das Restrukturierungsverfahren nach dem Gesetz über die Stabilisierung und Restrukturierung von Unternehmen (StaRUG)1) enthält keine Bestimmungen über die Fortführung des Unternehmens, sondern setzt diese als selbstverständlich voraus. Insoweit bleibt es während der Fortführung bei den Beteiligungsrechten des Betriebsrates nach den allgemeinen Grundsätzen des BetrVG. Das Insolvenzarbeitsrecht findet keine Anwendung. 2 Die Richtlinie (EU) 2019/1023 vom 20.6.20192) (folgend: Restrukturierungsrichtlinie) die sich zum Ziel gesetzt hat, zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes beizutragen, führt bereits in ErwG 1 aus, dass die Grundrechte und Grundfreiheiten der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt werden dürfen, wenn Unternehmen und Unternehmer Zugang zu wirksamen nationalen präventiven Restrukturierungsrahmen haben sollen, um ihren in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Betrieb fortzusetzen. Um die Unterstützung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter zu verstärken, sollen die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass die Arbeitnehmervertreter Zugang zu relevanten und aktuellen Informationen über die Verfügbarkeit von Frühwarnsystemen erhalten, und es sollte ihnen auch möglich sein, die
___________ 1)
2)
990
Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.
C. Mönning
Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
Arbeitnehmervertreter bei der Bewertung der wirtschaftlichen Situation des Schuldners zu unterstützen (ErwG 23).3) Gemäß Art. 13 der Restrukturierungsrichtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, 3 dass die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeitnehmer nach dem Arbeitsrecht der Union und dem nationalen Arbeitsrecht durch den präventiven Restrukturierungsrahmen nicht beeinträchtigt werden. Dazu gehört neben dem Recht auf Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen auch das Recht x
auf Unterrichtung und Anhörung über die jüngste Entwicklung und die wahrscheinliche Weiterentwicklung der Tätigkeit und der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens oder des Betriebes, damit sie dem Schuldner ihre Bedenken hinsichtlich der Geschäftssituation und in Bezug auf die Notwendigkeit, Restrukturierungsmechanismen in Betracht zu ziehen, mitteilen können;
x
auf Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter über alle präventiven Restrukturierungsmaßnahmen, die sich auf die Beschäftigung auswirken können, etwa auf die Möglichkeit der Arbeitnehmer, ihre Löhne und etwaige zukünftige Zahlungen, auch i. R. der betrieblichen Altersversorgung, einzutreiben;
x
auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertreter zu Restrukturierungsplänen bevor sie den betroffenen Parteien (Art. 9 Restrukturierungsrichtlinie) zur Annahme oder den Justiz- und Verwaltungsbehörden (Art. 10 Restrukturierungsrichtlinie) vorgelegt werden.
Diese Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie wurden mit Wirkung zum 1.1.2021 über 4 das StaRUG umgesetzt. Gemäß § 92 StaRUG bleiben die Verpflichtungen des Schuldners gegenüber den Arbeitnehmervertretungsorganen und deren Beteiligungsrechte nach dem BetrVG von diesem Gesetz unberührt. Damit schafft das StaRUG kein eigenes Beteiligungsrecht für Arbeitnehmer und deren Vertreter, abgesehen vom Gläubigerbeirat gemäß § 93 StaRUG. Es verbleibt damit im Wesentlichen bei den Beteiligungsrechten aus dem BetrVG (§§ 106 ff., 111 BetrVG). In der Literatur wird geäußert, dass sich durch das StaRUG zwar keine neuen Beteiligungsrechte (abgesehen vom Gläubigerbeirat) ergeben, die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Beteiligung von Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss dennoch steigen dürften.4) Gemäß der Anlage (zu § 5 Satz 2 StaRUG) sind im Restrukturierungsplan u. a. die wirt- 5 schaftliche Situation des Schuldners und die Position der Arbeitnehmer zu beschreiben (Nr. 2 der Anlage), sowie die Auswirkungen des Restrukturierungsvorhabens auf die Beschäftigungsverhältnisse sowie Entlassungen und Kurzarbeiterregelungen und die Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertretung darzulegen (Nr. 7 der Anlage). Fehlen diese Angaben im Restrukturierungsplan, weil der Arbeitgeber z. B. die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertretung zu den Auswirkungen des Restrukturierungsvorhabens auf die Beschäftigungsverhältnisse unterlassen hat, kann die Bestätigung des Restrukturierungsplanes von Amts wegen versagt werden (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG). Die Verletzung der Aufklärungs- oder Auskunftspflichten gemäß §§ 106 Abs. 2, 108 Abs. 5, 6 110 oder 111 BetrVG stellen Ordnungswidrigkeiten dar, die mit einer Geldbuße bis zu 10 000 € geahndet werden können (§ 121 BetrVG). Setzt das Gericht gemäß § 93 StaRUG einen Gläubigerbeirat ein, dürfte nun – anders als 7 nach Inkrafttreten des ESUG – unstreitig sein, dass dem Gläubigerbeirat auch ein Arbeit___________ 3) 4)
Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18, 22 v. 26.6.2019. Göpfert/Giese, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 55, 56.
C. Mönning
991
§ 26
Teil V Einzelfragen
nehmervertreter und auch Gewerkschaftsvertreter angehören können. Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 StaRUG gilt § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO entsprechend. Gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO in der gemäß Art. 5 SanInsFoG5) geänderten Fassung kann das Gericht einen vorläufigen Gläubigerausschuss einsetzen, für den § 67 Abs. 2 und 3 InsO entsprechend gilt. Gemäß § 67 Abs. 2 InsO soll dem Gläubigerausschuss ein Vertreter der Arbeitnehmer angehören. Gemäß § 67 Abs. 3 InsO können zu Mitgliedern des Gläubigerausschusses auch Personen bestellt werden, die keine Gläubiger sind. 8 Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 3 StaRUG können in dem Beirat auch „nicht planbetroffene Gläubiger“ vertreten sein. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass diese Klarstellung in Satz 3 notwendig sei, da Arbeitnehmerforderungen im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen vor planbasierten Eingriffen geschützt sind.6) Da aber § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO mit Inkrafttreten des SanInsFoG zum 1.1.2021 auch auf § 67 Abs. 3 InsO verweist, hätte es dieser Klarstellung nicht bedurft. Die nicht planbetroffenen Gläubiger dürften bereits vom Wortlaut des § 67 Abs. 3 InsO (Personen, die keine Gläubiger sind) erfasst sein. Darin eingeschlossen dürften auch die nicht planbetroffenen Gläubiger sein. Während sich die Einbeziehung der Arbeitnehmer als „nicht planbetroffene Gläubiger“ (§ 4 StaRUG) mit § 93 Abs. 3 StaRUG begründen lässt, führt dies bei der Bestellung von Gewerkschaftsvertretern in den Gläubigerbeirat u. U. schon zu Schwierigkeiten, da es sich bei Gewerkschaftsvertretern keinesfalls um Gläubiger, auch nicht um nicht planbetroffene Gläubiger handelt. Hier hilft aber die neue Verweisung in § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO auf § 67 Abs. 3 InsO, gemäß dem auch Personen bestellt werden dürfen, die keine Gläubiger sind, also auch Gewerkschaftsvertreter. Auch insoweit hätte es § 93 Abs. 1 Satz 3 StaRUG nicht zwingend bedurft. Auch wenn die individuellen und kollektiven Arbeitnehmerrechte durch den präventiven Restrukturierungsrahmen nicht beeinträchtigt werden dürfen, empfiehlt sich, dass sich Arbeitnehmer und ihre Vertreter um die Mitgliedschaft im Gläubigerausschuss bemühen, um auf die Sanierung Einfluss nehmen zu können. 9 Die Bestellung von Gewerkschaftsvertretern in den Gläubigerbeirat ist zu begrüßen, da ein Gewerkschaftsvertreter von der wirtschaftlichen Schieflage des Unternehmens regelmäßig nicht unmittelbar persönlich betroffen ist und bereits durch die berufliche Tätigkeit mit Sanierungs- und Restrukturierungsfragen vertraut ist (siehe hierzu auch Rz. 25 f.). 1.2
Zeitpunkt der Beteiligung
10 Das StaRUG regelt kein eigenes Beteiligungsverfahren für Arbeitnehmer und ihre Gremien im vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren. § 92 StaRUG bestimmt lediglich, dass „die Verpflichtungen des Schuldners gegenüber den Arbeitsnehmervertretungsorganen und deren Beteiligungsrechte nach dem BetrVG […] von diesem Gesetz unberührt […]“
bleiben. Damit sind Wirtschaftsausschuss, sofern vorhanden, (vgl. §§ 106, 109a BetrVG) und Betriebsrat über geplante Sanierungsmaßnahmen inhaltlich und zeitlich gemäß den Vorschriften des BetrVG (insbesondere §§ 106, 109a, 110, 111 ff. BetrVG) zu unterrichten. 11 Gemäß ErwG 10 der Restrukturierungsrichtlinie sollen insbesondere größere Restrukturierungen mit erheblichen Auswirkungen auf der Grundlage eines Dialogs mit den Beteiligten erfolgen. Dieser Dialog sollte die Wahl der in Betracht gezogenen Maßnahmen im Verhältnis zu den Zielen und zu Alternativen der Restrukturierung abdecken und für eine ___________ 5) 6)
992
Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. Bericht d. Ausschusses R/V z. RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/25353, S. 11.
C. Mönning
Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
angemessene Einbindung der Arbeitnehmervertreter im Einklang mit dem Unionsrecht und dem nationalen Recht sorgen. Gemäß ErwG 60 der Restrukturierungsrichtlinie werden die Verpflichtungen zur Unter- 12 richtung und Anhörung der Arbeitnehmer nach den zur Umsetzung der Richtlinien erlassenen nationalen Rechtsvorschriften in keiner Weise berührt. Das soll auch die Verpflichtung einschließen, die Arbeitnehmervertreter gemäß der Richtlinie 2002/14 EG7) über den Beschluss, ein präventives Restrukturierungsverfahren in Anspruch zu nehmen, zu unterrichten und anzuhören. ErwG 61 der Restrukturierungsrichtlinie sieht vor, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmer- 13 vertreter Informationen zu dem vorgeschlagenen Restrukturierungsplan erhalten sollen, soweit dies im Unionsrecht vorgesehen ist, damit sie die verschiedenen Szenarien eingehend prüfen können. Darüber hinaus sollen Arbeitnehmer und ihre Vertreter in dem Maß einbezogen werden, wie dies zur Erfüllung der im Unionsrecht vorgesehenen Anhörungserfordernisse notwendig ist. Nach Art. 13 der Restrukturierungsrichtlinie muss die Unterrichtung der Arbeitnehmer- 14 vertreter über die jüngste Entwicklung und die wahrscheinliche Weiterentwicklung der Tätigkeit und der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens oder des Betriebes erfolgen, damit sie dem Schuldner ihre Bedenken hinsichtlich der Geschäftssituation und in Bezug auf die Notwendigkeit, Restrukturierungsmechanismen in Betracht zu ziehen, mitteilen können. Die Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter hat über alle präventiven Restrukturierungsmaßnahmen, die sich auf die Beschäftigung auswirken können (einschließlich Auswirkungen auf Löhne und betriebliche Altersversorgung), zu erfolgen. Die Restrukturierungsrichtlinie stellt mithin auf eine sehr frühzeitige Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertreter ab. Hinsichtlich des Zeitpunktes der Beteiligung wird man wohl auf die Rechtsprechung zur Frage der rechtzeitigen Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 111 BetrVG zurückgreifen müssen. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass die geforderte frühzeitige Unterrichtung und Information der Arbeitnehmervertretung mit interner Festlegung des Planangebots gemäß § 17 StaRUG zu erfolgen hat.8) Wie auch die Richtlinie 2002/14/EG auf Art. 13 der Restrukturierungsrichtlinie Bezug 15 nimmt, wurde auch die Restrukturierungsrichtlinie nicht bzw. nur unzureichend in nationales Recht umgesetzt. Der Gesetzgeber war im Jahre 2002 der Auffassung, dass die Richtlinie 2002/14/EG ausreichend durch das BetrVG umgesetzt war. Dementsprechend wurde auch Art. 13 der Restrukturierungsrichtlinie lediglich durch § 92 StaRUG, der wiederum lediglich einen Verweis auf das BetrVG enthält, umgesetzt. 2.
Der Betriebsrat im Insolvenzverfahren
2.1
Allgemeine Stellung des Betriebsrates
Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens allein hat auf den Bestand von Arbeitsverhält- 16 nissen keinen Einfluss. Damit bleiben auch die gewählten Betriebsratsmitglieder bis zur Auflösung des Betriebsrates oder der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses im Amt.9) ___________ 7)
8) 9)
Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft – Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zur Vertretung der Arbeitnehmer (Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der EG), ABl. (EG) L 80/29 v. 23.3.2002. Göpfert/Giese, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 55, 56. Fitting, BetrVG, § 24 Rz. 30.
C. Mönning
993
§ 26
Teil V Einzelfragen
17 Die Bestimmungen des BetrVG – insbesondere über Interessenausgleich, Sozialplan und Nachteilsausgleich – und das SprAUG10) gelten auch in der Insolvenz des Unternehmens.11) Der Betriebsrat behält somit seine betriebsverfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte, die auch im Insolvenzverfahren nur durch den Betriebsrat als Gremium und nicht durch den Vorsitzenden allein ausgeübt werden können.12) 18 Dies gilt – mit wenigen Ausnahmen (siehe Rz. 150, 155 ff.) – auch dann, wenn der Betriebsrat erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gewählt wurde (zur Unterrichtungspflicht des Insolvenzverwalters bei Betriebsänderung siehe Rz. 38 ff.). 2.2
Allgemeine Rechte des Betriebsrates im Insolvenzverfahren
19 Spätestens mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (ggf. auch bereits mit Beschluss des Gerichtes gemäß § 22 Abs. 1 InsO) übernimmt der Insolvenzverwalter (bzw. der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter) die Arbeitgeberstellung. Dieser gesetzlich geregelte Arbeitgeberwechsel hat jedoch keine einschränkenden Auswirkungen auf die im BetrVG geregelten Rechte des Betriebsrates. Der Betriebsrat übt die betriebsverfassungsrechtlichen Informations-, Beratungs-, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte nun allerdings ausschließlich gegenüber dem „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter oder dem Insolvenzverwalter aus. 20 Die betriebsverfassungsrechtlichen Rechte des Betriebsrates werden im eröffneten Insolvenzverfahren durch sein Recht, im Berichtstermin (erste Gläubigerversammlung) zum Bericht des Insolvenzverwalters Stellung nehmen zu können (§ 156 Abs. 2 InsO) erweitert. 21 Entscheidend für eine Sanierung ist aber bereits das Eröffnungsverfahren (vorläufiges Insolvenzverfahren), da hier schon die Weichen für eine Betriebsfortführung oder Stilllegung gestellt werden. Mit Inkrafttreten des ESUG13) am 1.3.2012 wurde die Gläubigerautonomie im Eröffnungsverfahren gestärkt. So werden dem vorläufigen Gläubigerausschuss wichtige Entscheidungskompetenzen eingeräumt (z. B. Auswahl des vorläufigen Insolvenzverwalters, § 56a InsO), was zwangsläufig zu der Diskussion führt, wer an diesen frühen Entscheidungen zu beteiligen ist. 22 Mit dem ESUG wurde § 67 Abs. 2 Satz 2 InsO dahingehend geändert, dass zwar nach wie vor dem Gläubigerausschuss ein Vertreter der Arbeitnehmer angehören soll, es jedoch nicht mehr zwingend erforderlich ist, dass die vertretenen Arbeitnehmer Insolvenzgläubiger mit „nicht unerheblichen Forderungen“ sind. Der Gesetzgeber begründet die Änderung wie folgt: „In der Praxis hat sich in den vergangenen Jahren seit dem Inkrafttreten der InsO die Beteiligung eines Vertreters der Arbeitnehmer im Gläubigerausschuss durchweg als sinnvoll erwiesen. Die Arbeitnehmer verfügen meist über vertiefte Kenntnisse des Unternehmens. Insbesondere bei einer Fortführung und Sanierung im Insolvenzverfahren ist die Einbindung von Vertretern der Arbeitnehmer unerlässlich. Künftig soll dem Gläubigerausschuss ebenso wie die anderen genannten Gläubigergruppen stets ein Vertreter der Arbeitnehmer angehören.“14)
23 In der Literatur wurde mit Inkrafttreten des ESUG kontrovers diskutiert, ob zu Mitgliedern des vorläufigen Gläubigerausschusses gemäß §§ 21 Abs. 2 Nr. 1a, 22a InsO ausschließlich Personen bestellt werden dürfen, die bereits Gläubiger sind, oder zumindest mit Er___________ 10) Gesetz über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten (Sprecherausschußgesetz – SprAuG), v. 20.12.1988, BGBl. I 1998, 2312, 2316. 11) BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. 12) BAG, Beschl. v. 14.11.1978 – 6 ABR 85/75, BB 1979, 522. 13) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 14) Begr. RegE ESUG z. § 67 InsO, BT-Drucks. 17/5712, S. 27.
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C. Mönning
Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
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öffnung des Insolvenzverfahrens werden und wer Vertreter der Arbeitnehmer sein kann. Da mit der Änderung des § 67 Abs. 2 Satz 2 InsO durch das ESUG der Halbs. 2 weggelassen wurde („wenn diese als Insolvenzgläubiger mit nicht unerheblichen Forderungen beteiligt sind“), wurde überwiegend vertreten, dass ein Arbeitnehmervertreter stets dem Gläubigerausschuss angehören kann, unabhängig davon, ob und in welcher Höhe Arbeitnehmerforderungen bestehen. Die Diskussion, ob nur Gläubiger, oder auch andere Personen in den vorläufigen Gläubiger- 24 ausschuss bestellt werden können, wurde durch Art. 5 Nr. 12 SanInsFoG mit Wirkung zum 1.1.2021 beigelegt, indem § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO dahingehend geändert wurde, dass der Verweis auf § 67 Abs. 2 InsO um den Verweis auf § 67 Abs. 3 InsO ergänzt wurde. Damit steht nun außer Streit, dass zu den Mitgliedern des vorläufigen Gläubigerausschusses auch Personen bestellt werden können, die keine Gläubiger sind.15) Mit dem durch Art. 1 des SanInsFoG in Kraft getretenen StaRUG wird geregelt, dass die 25 Verpflichtungen des Schuldners gegenüber den Arbeitnehmervertretungsorganen und deren Beteiligungsrechte nach dem BetrVG von diesem Gesetz unberührt bleiben (§ 92 StaRUG). Der Begriff des „Vertreters der Arbeitnehmer“ wird weder im Gesetz noch in der Gesetzesbegründung definiert. Mit der Neufassung des § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO durch das SanInsFoG können auch Personen ohne Gläubigerstellung Mitglied im Gläubigerausschuss sein. Das Gesetz kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass mit dem Begriff des Vertreters der Arbeitnehmer lediglich der im Betrieb der Schuldnerin gewählte Betriebsrat gemeint ist. Eine solche enge Fassung wurde durch den Rechtsausschuss nicht in das Gesetz aufgenommen.16) Wroblewski kommt zu dem Ergebnis, dass eine im Betrieb des Schuldners vertretene Gewerkschaft (§ 2 Abs. 1 BetrVG) als nichtrechtsfähiger Verein, der juristischen Personen gleichsteht, Mitglied des vorläufigen Gläubigerausschusses sein kann. Vertreten wird die Gewerkschaft dann durch einen lokalen Gewerkschaftssekretär.17) Dieser Auffassung ist u. a. auch im Hinblick darauf, dass im Betriebsverfassungsrecht der Gewerkschaft neben dem Betriebsrat das Recht zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen zuerkannt wird, zu folgen. Wroblewski erachtet es zudem auch für sinnvoller, eine betriebszuständige Gewerkschaft 26 an Stelle des/der Vorsitzenden des Betriebsrates als Arbeitnehmervertreter zu bestellen, da Gewerkschaftssekretäre regelmäßig durch die Insolvenz nicht unmittelbar persönlich betroffen sind, insbesondere nicht durch Kündigung oder Freistellung den Kontakt zum Betrieb und zum Insolvenzverfahren verlieren.18) Einheitlich wird vertreten, dass mangels Rechtsfähigkeit für die Tätigkeit als vorläufiges 27 Ausschussmitglied nicht der Betriebsrat als Vertretungsorgan und Gremium, sondern allenfalls ein Mitglied des Betriebsrates als natürliche Person in Frage kommt. Die Auskunftsrechte des Betriebsrates ergeben sich im Wesentlichen aus § 80 Abs. 2 28 BetrVG. Die wesentlichen Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates ergeben 29 sich bei personellen Maßnahmen aus §§ 99, 102 BetrVG, bei Betriebsänderungen aus §§ 111 ff. BetrVG und bei sozialen Angelegenheiten aus § 87 BetrVG. Missachtet der Insolvenzverwalter die betriebsverfassungsrechtlichen Rechte des Be- 30 triebsrates, kann der Betriebsrat diese in der gleichen Art und Weise wie zuvor gegen den ___________ 15) 16) 17) 18)
Hölzle, Praxisleitfaden SanInsFoG, § 22a InsO Rz. 82, 90. Kübler/Prütting/Bork-Blankenburg, InsO, § 21 Rz. 80. Wroblewski, ZInsO 2014, 115 ff. Wroblewski, ZInsO 2014, 115.
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schuldnerischen Arbeitgeber durchsetzen (arbeitsgerichtliches Erkenntnisverfahren nach § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, arbeitsgerichtliches Vollstreckungsverfahren nach § 23 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 BetrVG, Einigungsstellenverfahren nach §§ 76 f. BetrVG). Der Insolvenzverwalter handelt ordnungswidrig, wenn er die u. a. in § 106 Abs. 2, § 108 Abs. 5, § 110 oder § 111 BetrVG bezeichneten Aufklärungs- oder Auskunftspflichten nicht, wahrheitswidrig, unvollständig oder verspätet erfüllt. Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu 10 000 € geahndet werden (§ 121 BetrVG). 2.3
Kostentragungspflicht des Insolvenzverwalters
31 Die Pflicht des Insolvenzverwalters, die Kosten für notwendige Aufwendungen des Betriebsrates zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben zu tragen, ergibt sich aus § 40 BetrVG. Der Betriebsrat kann zudem gemäß § 80 Abs. 3 BetrVG einen Sachverständigen hinzuziehen, der die beim Betriebsrat ggf. fehlende Sachkunde ersetzt, wobei Rechtsanwälte zur rechtlichen Beratung des Betriebsrats als Sachverständige zu bewerten sind. Der 7. Senat des BAG hat mit Urteil vom 25.6.2014 klargestellt, dass die Heranziehung eines Rechtsanwaltes als Sachverständiger i. S. des Gesetzes voraussetzt, dass er dem Betriebsrat spezielle Rechtskenntnisse vermitteln soll, die in der konkreten Situation, in der der Betriebsrat seine Aufgaben zu erfüllen hat, als erforderlich anzusehen sind. Nicht erforderlich ist nach dieser Entscheidung die Hinzuziehung eines externen Sachverständigen, wenn sich der Betriebsrat die fehlende Sachkunde kostengünstiger als durch die Beauftragung des Sachverständigen verschaffen kann. 32 Der Betriebsrat kann gegen den Willen des Arbeitgebers die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes als Sachverständiger nach § 80 Abs. 3 BetrVG nicht in Fällen beanspruchen, in denen zwischen den Betriebsparteien ein konkreter Streit über das Bestehen und den Umfang von Mitbestimmungsrechten hinsichtlich eines bestimmten Regelungsgegenstandes besteht. Vielmehr ist in einer solchen Situation der betriebsverfassungsrechtlich für den Betriebsrat vorgesehene Weg, die ihm durch § 40 Abs. 1 BetrVG eröffnete Beauftragung eines Rechtsanwaltes, der i. R. eines solchen Mandats zunächst das Bestehen und den Umfang des in Betracht kommenden Mitbestimmungsrechts prüft. Dadurch wird regelmäßig dem berechtigten Interesse des Betriebsrates an der Klärung einer zwischen ihm und dem Arbeitgeber streitigen betriebsverfassungsrechtlichen Frage weniger zeitaufwendig, effizienter und in der Regel auch kostensparender Rechnung getragen (Orientierungssatz des Gerichtes)19). Die Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf jedoch einer Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Insolvenzverwalter gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, anderenfalls muss der Insolvenzverwalter diese Kosten nicht übernehmen.20) Verweigert der Insolvenzverwalter als Arbeitgeber eine solche Vereinbarung trotz der Erforderlichkeit der Hinzuziehung des Sachverständigen, so kann der Betriebsrat die fehlende Zustimmung des Arbeitgebers durch eine arbeitsgerichtliche Entscheidung ersetzen lassen.21) 33 Hat ein vom Betriebsrat beauftragtes Beratungsunternehmen gegenüber dem Betriebsrat in einem Zivilprozess vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit einen Zahlungstitel wegen seiner Honorarforderung erstritten und zur Durchsetzung des Zahlungstitels einen Pfändungsund Überweisungsbeschluss hinsichtlich des Freistellungsanspruchs des Betriebsrates nach § 40 Abs. 1 BetrVG gegenüber dem Arbeitgeber erwirkt, kann sich der Arbeitgeber als Drittschuldner gegenüber dem Beratungsunternehmen darauf berufen, der Betriebsrat habe die ___________ 19) BAG, Beschl. v. 25.6.2014 – 7 ABR 70/12, NZA 2015, 629. 20) BAG, Beschl. v. 19.4.1989 – 7 ABR 87/87, NZA 1989, 936. 21) BAG, Beschl. v. 25.6.2014 – 7 ABR 70/12, NZA 2015, 629; Bestätigung und Fortentwicklung durch BAG, Beschl. v. 14.12.2016 – 7 ABR 8/15, NZA 2017, 514.
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durch die Einschaltung des Beratungsunternehmens entstandenen Kosten nicht für erforderlich halten dürfen. Die Entscheidung in dem Zivilprozess entfaltet insoweit für den an diesem Prozess nicht als Partei beteiligten Arbeitgeber keine präjudizielle Bindungswirkung.22) Für den Anspruch des Betriebsrats gegen den Arbeitgeber auf Freistellung von Honorarkosten eines Beratungsunternehmens aus § 40 BetrVG gilt die dreijährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB. Die Verjährungsfrist beginnt nach § 199 Abs. 1 BGB frühestens mit dem Schluss des Jahres, in dem die Forderung, von der zu befreien ist, gegenüber dem Betriebsrat fällig wird.23) Hinzuweisen ist auch auf die Entscheidung des BGH vom 25.10.2012, wonach Betriebs- 34 ratsmitglieder, die einen Beratungsvertrag mit einem Beratungsunternehmen abschließen und hierbei Aufgaben vereinbaren, die nicht zur Erfüllung der Betriebsratsaufgaben erforderlich sind, nach § 179 BGB gegenüber den Beratungsunternehmen haften können. Ein Freistellungs- und Kostenerstattungsanspruch gegen den Arbeitgeber (und damit auch gegen den Insolvenzverwalter) besteht nur i. R. der erforderlichen Beratungstätigkeit i. H. des marktüblichen Honorars. Bezüglich des überschießenden Betrages kommt eine Haftung der Betriebsratsmitglieder in Frage, es sei denn, das Beratungsunternehmen kannte die mangelnde Erforderlichkeit der Beratung oder hätte sie zumindest kennen müssen (§ 179 Abs. 3 BGB).24) Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Kostenerstattungsansprüche sind 35 einfache Insolvenzforderungen, die innerhalb der vom Gericht bestimmten Frist beim Insolvenzverwalter schriftlich zur Tabelle angemeldet werden müssen (§§ 28, 174 f. InsO). Bei Honoraransprüchen eines Rechtsanwalts aus einem Beratungsvertrag ist zu prüfen, welche Beratungsleistungen vor und welche Beratungsleistungen nach Insolvenzeröffnung erbracht wurden. Es handelt sich insoweit um eine teilbare Leistung i. S. von § 105 InsO.25) Setzt allerdings der Insolvenzverwalter ein vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begonnenes Beschlussverfahren zur Feststellung der Nichtigkeit der Betriebsratswahl fort, so handelt es sich bei den entstandenen Verfahrenskosten auf Seiten des Rechtsanwaltes des Betriebsrates um Masseschulden gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Dies gilt auch dann, wenn sämtliche Gebühren vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind.26) Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Kostenerstattungsansprüche 36 sind Masseschulden i. S. von § 55 InsO und vorab zu befriedigen. Dies gilt auch für Verbindlichkeiten, die von einem sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter (mit Vertretungsund Verfügungsbefugnis) begründet worden sind (§ 55 Abs. 2 InsO).27) Das BAG hat mit Urteil vom 18.3.201528) entschieden, dass der Arbeitgeber nur diejenigen 37 Kosten einer anwaltlichen Tätigkeit zu tragen hat, die auf eine Beauftragung aufgrund eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses zurückgehen. Dabei ist der ordnungsgemäße Betriebsratsbeschluss ungeachtet einer Verfahrensvollmacht nach § 81 ZPO i. V. m. § 46 Abs. 2 ArbGG für jede Instanz gesondert erforderlich. Fehlt ein solcher Beschluss, kann das Rechtsmittel bei entsprechender Verfahrensvollmacht zwar wirksam eingelegt sein, jedoch besteht für den Arbeitgeber keine Pflicht zur Tragung der Anwaltskosten für dieses Rechtsmittel.29) ___________ 22) 23) 24) 25) 26) 27) 28) 29)
BAG, Beschl. v. 18.11.2020 – 7 ABR 37/19, NZA 2021, 657. BAG, Beschl. v. 18.11.2020 – 7 ABR 37/19, NZA 2021, 657. BGH, Urt. v. 25.10.2012 – III ZR 266/11, ZIP 2012, 2363 = NZA 2012, 1382. BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 70/07, NZA 2010, 461. BAG, Beschl. v. 17.8.2005 – 7 ABR 56/04, NZA 2006, 109; Fitting, BetrVG, § 40 Rz. 102. BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 70/07, NZA 2010, 461. BAG, Urt. v. 18.3.2015 – 7 ABR 4/13, NZA 2015, 954. Vgl. auch Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht, 2015, Bd. 2, S. 599 ff.
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§ 26 2.4
Teil V Einzelfragen Rechte des Betriebsrates in der Betriebsfortführung
2.4.1 Rechte des Betriebsrates bei Betriebsänderungen im Insolvenzverfahren 38 Reorganisation und übertragende Sanierung sind Verfahrensziele (§ 1 InsO). In diesen Fällen sind notwendigerweise Betriebe fortzuführen. Mit dem Erhalt des Unternehmens ist der Erhalt von Arbeitsplätzen verbunden. Im Insolvenzeröffnungsverfahren hilft im Wesentlichen die Zahlung des Insolvenzgeldes bei der Fortführung des Unternehmens, da während des dreimonatigen Insolvenzgeldzeitraumes (§ 165 SGB III) das schuldnerische Unternehmen die Löhne nicht zahlen muss. Während der Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren bleibt zunächst die Geschäftsführung des schuldnerischen Unternehmens weiterhin verantwortlich, so dass der Betriebsrat die vorgenannten Auskunfts-, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte gegenüber der Geschäftsführung ausübt. Der Betriebsrat hat jedoch zu beachten, dass jede Verfügung der bisherigen Geschäftsleitung des Unternehmens über die schuldnerische Masse der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters bedarf, sofern das Gericht gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 2 InsO einen vorläufigen Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt bestellt. Legt das Gericht dem Schuldner bereits im vorläufigen Insolvenzverfahren ein allgemeines Verwaltungs- und Verfügungsverbot auf (§ 22 Abs. 1 InsO), führt allein der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter den Betrieb fort und ist alleiniger Verhandlungspartner des Betriebsrates. 39 Die Betriebsfortführung ist regelmäßig mit Betriebsänderungen i. S. des § 111 BetrVG verbunden, d. h. mit x
Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebes oder von wesentlichen Betriebsteilen,
x
Verlegung des ganzen Betriebes oder von wesentlichen Betriebsteilen,
x
Zusammenschluss mit anderen Betrieben oder die Spaltung von Betrieben,
x
grundlegende Änderung der Betriebsorganisation, des Betriebszweckes oder der Betriebsanlagen,
x
Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren.
40 Sowohl im vorläufigen als auch im eröffneten Insolvenzverfahren muss der Betriebsrat über geplante vorgenannte Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend durch den Insolvenzverwalter unterrichtet werden. Für die Beteiligungsrechte des Betriebsrates ist es dabei unerheblich, ob sich die Betriebsänderung zwingend aus der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens ergibt.30) 41 Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates bei Betriebsänderungen sind von einer bestimmten Größe des Unternehmens abhängig. Sie bestehen nur dann, wenn im Unternehmen in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden. Unerheblich ist, ob diese Arbeitnehmer eines Unternehmens in einer oder mehreren Betriebseinheiten eingesetzt werden. Damit sind auch in kleineren Betrieben ein Interessenausgleich zu versuchen und ein Sozialplan abzuschließen, sofern im Unternehmen regelmäßig mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt sind.31) 42 Bei den vorgenannten, in § 111 BetrVG aufgezählten, Betriebsänderungen handelt es sich um eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung. Die Eröffnung des Insolvenz___________ 30) Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 33. 31) Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 18 ff.; BAG, Urt. v. 9.11.2010 – 1 AZR 708/09, ZIP 2011, 730 = NZA 2011, 466, dazu EWiR 2011, 269 (Joost); LAG Düsseldorf, Urt. v. 19.8.2014 – 17 Sa 67/14, AuR 2014, 440.
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
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verfahrens selbst ist aber keine Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG, weshalb der Betriebsrat bei der Stellung des Insolvenzantrages nicht zu beteiligen ist.32) Die Unterrichtungspflicht des Betriebsrates setzt voraus, dass mit der Betriebsänderung 43 wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft verbunden sind. Diese Nachteile können sowohl materieller Art (Entgeltminderung, Entstehung von Fahrtkosten durch längere Arbeitswege, Verlust des Arbeitsplatzes und Eintritt von Arbeitslosigkeit) als auch immaterieller Art (Leistungsverdichtung oder geringere Anforderungen an die auszuführenden Tätigkeiten, verstärkte Kontrollen) sein.33) Bei den in § 111 Satz 3 BetrVG genannten Betriebsänderungen wird der Eintritt solcher Nachteile fingiert, da mit der Aufzählung der Betriebsänderungen in § 111 Satz 3 BetrVG nur solche genannt werden, die nach § 111 Satz 1 BetrVG auch beteiligungspflichtig sind.34) Ob der in § 111 Satz 1 BetrVG verlangte „erhebliche Teil der Belegschaft“ von der Betriebs- 44 änderung betroffen ist, richtet sich nach den Schwellenwerten des § 17 Abs. 1 KSchG, wobei aber mindestens 5 % der Belegschaft betroffen sein müssen. Die Grenzwerte des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG passen allerdings nicht für Betriebe mit weniger als 21 Arbeitnehmern, in denen – sofern das Unternehmen mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt – eine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung möglich ist. Hier liegt eine Betriebsänderung bereits dann vor, wenn durch den Personalabbau mindestens 6 Arbeitnehmer betroffen sind.35) Zudem muss es sich um eine einheitliche unternehmerische Planung handeln.36) Der Vier-Wochen-Zeitraum nach § 17 Abs. 1 KSchG ist allerdings unerheblich, da auch mehrere Personalabbaumaßnahmen hintereinander und in einem Zeitraum von nur wenigen Wochen auf einer einheitlichen unternehmerischen Planung beruhen können.37) Der Betriebsrat ist nur dann rechtzeitig unterrichtet, wenn er mit der Unterrichtung 45 noch in die Lage versetzt wird, auf das „Ob“ und „Wie“ der geplanten Betriebsänderung Einfluss nehmen zu können. Allerdings hat der Betriebsrat bei der Frage „ob“ und „wie“ der Insolvenzverwalter eine Betriebsänderung durchführt lediglich ein eingeschränktes Mitwirkungsrecht, d. h. er kann die Durchführung der Betriebsänderung gegen den Willen des Insolvenzverwalters als Arbeitgeber weder verhindern, noch eine andere Durchführung erzwingen.38) Der Insolvenzverwalter ist somit lediglich verpflichtet, den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend über die geplante Betriebsänderung zu unterrichten und hat diese mit ihm zu beraten. Ziel der Beratung ist ein Interessenausgleich (§ 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, siehe hierzu Rz. 143 ff.). Es ist unschädlich, wenn der Arbeitgeber – und so auch der Insolvenzverwalter – den Ent- 46 schluss zur Betriebsänderung bereits gefasst hat, ohne diesen zuvor mit dem Betriebsrat zu beraten.39) Um eine sinnvolle Information des Betriebsrates zu ermöglichen, muss der Insolvenzverwalter den Betriebsrat noch nicht über erste Vorüberlegungen unterrichten, da diese noch keine Planung darstellen. Die Unterrichtung des Betriebsrates ist jedoch
___________ Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 33. Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 37. Kania in: ErfK, § 111 BetrVG Rz. 8. BAG, Urt. v. 9.11.2010 – 1 AZR 708/09, ZIP 2011, 730 = NZA 2011, 466. BAG, Beschl. v. 28.3.2006 – 1 ABR 5/05, ZIP 2006, 1460 = NZA 2006, 932; LAG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 25.11.2021 – 5 TaBV 10/21, BeckRS 2021, 51388. 37) BAG, Urt. v. 17.3.2016 – 2 AZR 182/15, NZA 2016, 1073; BAG, Beschl. v. 28.3.2006 – 1 ABR 5/05, ZIP 2006, 1460 = NZA 2006, 932. 38) Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 98. 39) BAG, Urt. v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, ZIP 2006, 1510; Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 105 ff.
32) 33) 34) 35) 36)
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nicht mehr rechtzeitig, wenn mit der Durchführung der Betriebsänderung bereits begonnen wurde.40) 47 Gerade bei Betriebsänderungen im Insolvenzverfahren, deren kurzfristige Umsetzung erforderlich ist, um eine erfolgreiche Betriebsfortführung zu gewährleisten, stellt sich die Frage, welche Maßnahmen der Insolvenzverwalter einleiten darf, bevor er den Betriebsrat von der Betriebsänderung unterrichtet und die Interessenausgleichsverhandlungen abgeschlossen sind. Diese Frage ist im Insolvenzverfahren gerade deshalb von Bedeutung, da trotz der Beschleunigungsregelungen in den §§ 121, 122 InsO der Insolvenzverwalter verpflichtet ist, mit dem Betriebsrat den Versuch eines Interessenausgleiches zu unternehmen. Er kann sich nicht darauf berufen, die Beteiligung des Betriebsrates sei wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation ausnahmsweise entbehrlich.41) Dies gilt auch, wenn der Betriebsrat erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens errichtet wurde42) (siehe aber Rz. 150). 48 Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Unternehmer mit der Durchführung einer Betriebsänderung beginnt, wenn er „[…] unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft […]“.43) Im Falle einer Betriebsstilllegung ist die tatsächliche Einstellung der betrieblichen Tätigkeit allein noch kein Beginn der Betriebsstilllegung, da diese rückgängig gemacht werden könne.44) Von einer Durchführung der Betriebsänderung ist aber jedenfalls dann auszugehen, wenn der Unternehmer die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zwecke der Betriebsstilllegung kündigt.45) Auch wenn hinsichtlich einer geplanten Betriebsänderung zunächst nur die Arbeitsverhältnisse der leitenden Angestellten gekündigt werden, ist von der Durchführung der Betriebsänderung auszugehen, da insoweit mit der Aufgabe der Betriebsorganisation begonnen wird.46) 49 Noch kein Beginn der Betriebsstilllegung wird in der Fassung des Stilllegungsbeschlusses und dessen Verlautbarung, in der Einstellung der Produktion und der widerruflichen Freistellung von Arbeitnehmern gesehen.47) Die Anhörung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG und die Einreichung der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG werden bislang vom BAG noch nicht als Beginn einer Betriebsstilllegung gewertet.48) Auch die Kündigung einiger Ausbildungsverhältnisse wird nicht mit dem Beginn der Betriebsänderung gleichgesetzt.49) 50 Wenngleich der Betriebsrat die Betriebsänderung an sich nicht verhindern bzw. eine andere Durchführung erzwingen kann, so kann er doch im Wege der einstweiligen Verfügung gemäß §§ 85 Abs. 2 ArbGG, 935, 940 ZPO sein Informationsrecht erzwingen. 51 Die umstrittene Frage, ob dem Betriebsrat ein durchsetzbarer Anspruch auf Unterlassung einer Betriebsänderung bis zum Abschluss der Verhandlungen über den Interessenausgleich im Wege der einstweiligen Verfügung zusteht, oder ob ein solcher Unterlassungsanspruch i. R. des § 111 BetrVG bereits vom Grundsatz her nicht gegeben ist, ist höchstrichterlich noch nicht entschieden. Da die Verfahren regelmäßig im einstweiligen Rechts___________ 40) 41) 42) 43) 44) 45) 46) 47) 48) 49)
BAG, Urt. v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, ZIP 2006, 1510. BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, ZIP 2004, 235 = NZA 2004, 220. BAG, Urt. v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, Rz. 22, NZA 2015, 1147. BAG, Urt. v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, NZA 2015, 1147; BAG, Urt. v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/15, NZA 2017, 1618. BAG, Urt. v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, NZA 2015, 1147. BAG, Urt. v. 4.6.2003 – 10 AZR 586/02, NZA 2003, 1087. BAG, Urt. v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, Rz. 24, NZA 2018, 464. BAG, Urt. v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, Rz. 22 ff., NZA 2015, 1147. BAG, Urt. v. 22.11.2005 – 1 AZR 407/04, NZA 2006, 736; BAG, Urt. v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, NZA 2006, 1122 m. w. N.; BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93.
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schutzverfahren entschieden werden, sind die jeweiligen LAG die letzte Instanz (§ 72 Abs. 4 ArbGG). Das LAG Hamm hat mit Beschluss vom 28.8.2003 seine bis dahin einen Unterlassungsanspruch verneinende Auffassung aufgegeben, da bessere Argumente dafürsprächen, einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates zu bejahen.50) Dem Betriebsrat stehe ein Anspruch auf Unterlassung der Betriebsänderung bis zum Zustandekommen oder endgültigen Scheitern eines Interessenausgleiches zu. Dem Unterlassungsanspruch des Betriebsrates steht nach Auffassung des LAG Hamm auch nicht der Umstand entgegen, dass der Betriebsrat letztlich die Durchführung der Betriebsänderung nicht verhindern kann. Wenn der Betriebsrat schon keine direkte Einflussnahme auf die unternehmerische Entscheidung habe, so sei es umso notwendiger, dem Betriebsrat ein abgesichertes Verfahren zur Verfügung zu stellen, um die Arbeitnehmerinteressen in den Entscheidungsprozess des Arbeitgebers einfließen zu lassen. Im Juni 2010 bestätigte das LAG Hamm die Rechtsprechung, der Betriebsrat habe einen 52 Anspruch darauf, dass Betriebsänderungen zu unterlassen sind, „bis von Seiten des Arbeitgebers den Anforderungen des § 111 Abs. 1 BetrVG Rechnung getragen worden ist“. Nur so kann nach Auffassung des LAG Hamm sichergestellt werden, dass der Betriebsrat die ihm durch §§ 111, 112 BetrVG zugewiesenen Aufgaben wahrnehmen kann. Bei der Gewährung des Unterlassungsanspruches gehe es ausschließlich darum, den Weg bis zum ordnungsgemäßen Zustandekommen eines Interessenausgleiches oder seines Scheiterns verfahrensrechtlich abzusichern. Anderenfalls würde man den Betriebsrat hinsichtlich seiner Rechte auf rechtzeitige und umfassende Unterrichtung im Ergebnis schutzlos stellen.51) Nach LAG Hamm korrespondiert mit dem Verhandlungsanspruch des Betriebsrates bei einer Betriebsänderung ein Unterlassungsanspruch, der sich gegen jede einseitige Durchführung der Betriebsänderung richten soll.52) Hieran anschließend hat das LAG Hamm am 17.2.2015 entschieden, dass ein Unterlassungsanspruch grundsätzlich besteht, dieser aber auf die Sicherung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrates beschränkt ist, da die Durchführung einer Betriebsänderung zur wirtschaftlichen Entscheidungskompetenz des Arbeitgebers gehört, die der Mitbestimmung entzogen ist. Dieser Unterlassungsanspruch kann allerdings nicht mehr durchgesetzt werden, wenn die Betriebsänderung bereits durchgeführt worden ist.53) Das LAG Köln hat mit Urteil vom 30.8.2004 bei einem Teilbetriebsübergang als Betriebs- 53 änderung i. S. des § 111 BetrVG keinen Unterlassungsanspruch gesehen.54) Es vertritt die Auffassung, dass grundsätzlich ein im Wege des Beschlussverfahrens oder einer einstweiligen Verfügung durchsetzbarer Anspruch des Betriebsrates gegen den Arbeitgeber auf Einhaltung des Interessenausgleichs nicht besteht, weil es dem Arbeitgeber gemäß § 113 BetrVG gestattet ist, von Vereinbarungen im Interessenausgleich abzuweichen und die vom Arbeitgeber im Interessenausgleich eingegangenen Verpflichtungen nur als Naturalobligationen anzusehen sind. Dem Betriebsrat steht nach Auffassung des LAG auch kein gerichtlich durchsetzbarer Unterlassungsanspruch vor Aufnahme von Verhandlungen über einen Interessenausgleich zu. Dies gelte umso mehr in einem Fall, in dem aufgrund einer bevorstehenden Betriebsänderung (Teilbetriebsübergang) für die davon betroffenen Arbeitnehmer wegen des umfassenden Schutzes gemäß § 613a BGB keine mit einer Kündi___________ 50) LAG Hamm, Beschl. v. 28.8.2003 – 13 TaBV 127/03, NZA-RR 2004, 80. 51) LAG Hamm, Beschl. v. 28.6.2010 – 13 Ta 372/10, openJur 2011, 72536. 52) LAG Hamm, Beschl. v. 20.4.2012 – 10 TaBVGa 3/12, openJur 2012, 85955 m. ausführl. Nachw. zum Streitstand. 53) LAG Hamm, Beschl. v. 17.2.2015 – 7 TABVGa 1/15, NZA-RR 2015, 247 = BeckRS 2015, 66619; BAG, Beschl. v. 8.3.2022 – 1 ABR 19/21, NZA 2022, 1068. 54) LAG Köln, Beschl. v. 30.8.2004 – 5 Ta 166/04, ZIP 2004, 2155.
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gung des Arbeitsverhältnisses vergleichbaren Nachteile drohen. Das Gericht sieht lediglich für Fälle einer mit Kündigung verbundenen Betriebsänderung einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates. Das Gericht weist zugleich darauf hin, dass bei Durchführung der Betriebsänderung im Wege des Teilbetriebsübergangs Verhandlungen über den Ausgleich der hiermit ggf. drohenden Nachteile für die Arbeitnehmer auch noch nach dem Betriebsübergang geführt werden können, ohne dass dadurch die Verhandlungsposition des Betriebsrates wesentlich geschwächt wird. Das LAG Köln hat mit Beschluss vom 21.5.2021 entschieden, dass der Unterlassungsanspruch des Betriebsrates i. R. einer Betriebsänderung nur zur Sicherung des Verhandlungsanspruchs, nicht aber zur Unterlassung der Betriebsänderung an sich dient. Allerdings ist das Mitwirkungsrecht des Betriebsrates verletzt, wenn der Arbeitgeber ihn vor einer Betriebsspaltung (hier Auflösung eines Gemeinschaftsbetriebes) nicht anhört.55) 54 Das LAG Berlin-Brandenburg hat mit Beschluss vom 19.6.201456)einen Anspruch des Betriebsrates auf Unterlassung einer Betriebsänderung nur für den Fall der Sicherung eines Verhandlungsanspruches für den Interessenausgleich gesehen und diese Auffassung mit Beschluss vom 10.12.2020 bestätigt.57) Die Untersagung der Betriebsänderung selbst sei jedoch nicht möglich. Durch den Erlass einer einstweiligen Verfügung können demnach nur solche (unumkehrbaren) Maßnahmen des Arbeitgebers untersagt werden, die den Verhandlungsanspruch des Betriebsrates rechtlich oder faktisch in Frage stellen.58) 55 Nach Auffassung des LAG Rheinland-Pfalz besteht kein allgemeiner Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei Betriebsänderungen, der im Wege einer einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden kann. 56 Das LAG Düsseldorf hat mit Beschluss vom 6.1.2021 seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben und eine Unterlassungsverfügung zur Sicherung der Beteiligungsrechte des Betriebsrates aus §§ 111, 112 BetrVG auf Unterrichtung, Beratung und Verhandlung über eine geplante Betriebsänderung schon aus europarechtlichen Gründen grundsätzlich in Betracht gezogen. Allerdings stehen nach Auffassung LAG Düsseldorf einem Betriebsrat, der erst zu einem Zeitpunkt gewählt wird, zu dem die Planung über die Betriebsänderung bereits abgeschlossen und mit der Durchführung des Planes begonnen worden ist, die Ansprüche aus §§ 111 ff. BetrVG nicht zu. Das materiell-rechtliche Beteiligungsrecht des Betriebsrates aus §§ 111 ff. BetrVG ist jedenfalls in der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung nach Maßgabe der RL 2002/14/EG vom 11.3.2002 gerichtlich effektiv durchsetzbar und steht nicht zur Disposition des Arbeitgebers59).60) 57 Auch Fitting sieht bei der Verletzung der Beteiligungsrechte des Betriebsrates nach § 111 BetrVG materiell-rechtlich keinen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Unterlassung der Durchführung der Betriebsänderung, da das BetrVG einen derartigen Anspruch nicht regelt.61) Fitting zeigt zur effektiven Durchsetzung der Unterrichtungs- und Beratungsrechte des Betriebsrates bei Betriebsänderungen den Weg des einstweiligen Rechtsschutzes auf.62) ___________ 55) BAG, Beschl. v. 8.3.2022 – 1 ABR 19/21, NZA 2022, 1068. 56) LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.6.2014 – 7 TaBVGa 1219/14, BeckRS 2014, 71664, bestätigt durch LAG Hamm, Beschl. v. 17.2.2015 – 7 TaBVGa 1/15, NZA-RR 2015, 247 = BeckRS 2015, 66619. 57) LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 10.12.2020 – 26 TaBVGa 1498/20, NZA-RR 2021, 183. 58) LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.6.2014 – 7 TaBVGa 1219/14, BeckRS 2014, 71664, bestätigt durch LAG Hamm, Beschl. v. 17.2.2015 – 7 TaBVGa 1/15, NZA-RR 2015, 247 = BeckRS 2015, 66619. 59) LAG Düsseldorf, Beschl. v. 6.1.2021 – 4 TaBVGa 6/20, Rz. 35, BeckRS 2021, 2240. 60) Eine umfassende Übersicht hinsichtlich der Instanzenrechtsprechung zum Unterlassungsanspruch des Betriebsrates findet man bei Richardi-Annuß, BetrVG, § 111 Rz. 166 bis 166b. 61) Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 135. 62) Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 138, 160.
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Danach hat das Gericht im Wege der einstweiligen Verfügung gemäß § 85 Abs. 2 ArbGG und § 935 ZPO i. V. m. § 938 Abs. 1 ZPO nach freiem Ermessen die erforderlichen Anordnungen zu treffen, die auch darin liegen können, eine Handlung zu verbieten, konkret also die einstweilige Durchführung der Betriebsänderung zu verhindern. Diese Auffassung wird auch vom LAG Hamm vertreten.63) Der Insolvenzverwalter sollte prüfen, welche Auffassung das jeweilige LAG hinsichtlich 58 des Unterlassungsanspruchs des Betriebsrates vertritt, um seine Taktik in Verhandlungen mit dem Betriebsrat darauf abstellen zu können. Allerdings ergeben sich gemäß §§ 121 ff. InsO Besonderheiten im Interesse einer zügigen 59 Abwicklung des Insolvenzverfahrens, worauf unten, siehe Rz. 155 ff., näher eingegangen wird. Sehr oft bedingen Betriebsänderungen im Insolvenzverfahren Personalabbaumaßnahmen, 60 bei denen die Schwellenwerte des § 17 KSchG überschritten werden, so dass der Insolvenzverwalter vor den Kündigungen die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit abzugeben hat. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff „Entlassung“ in § 17 Abs. 1 KSchG auch Änderungskündigungen erfasst. Diese zählen nach der Entscheidung des 2. Senates des BAG vom 20.2.2014 bei der Berechnung der für eine Anzeige maßgebenden Zahl zu entlassender Arbeitnehmer mit, wobei es nicht darauf ankommt, ob von einer Änderungskündigung betroffene Arbeitnehmer das ihnen unterbreitete Änderungsangebot bei oder nach Zugang der Kündigungserklärung abgelehnt oder ggf. unter Vorbehalt des § 2 KSchG angenommen haben.64) Auch das Angebot von Aufhebungsverträgen zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist eine die „Veranlassung des Arbeitgebers“ i. S. von § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG kennzeichnende unmittelbare Willensäußerung des Arbeitgebers. Aufhebungsverträge, die damit auf Veranlassung des Arbeitgebers/Insolvenzverwalters geschlossen werden, sind deshalb bei der Berechnung des Schwellenwertes zu berücksichtigen.65) In Fällen, in denen das Arbeitsverhältnis ruhend fortgesetzt wird, z. B. bei Inanspruchnahme von Elternzeit, Einführung von Kurzarbeit und Beurlaubung, handelt es sich nicht um Entlassungen i. S. des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG, da lediglich die Hauptleistungspflichten außer Vollzug gesetzt, die Arbeitsverhältnisse aber nicht beendet werden.66) Werden Arbeitsverhältnisse beendet (unerheblich ob durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag), weil der Arbeitnehmer in den Ruhestand oder Vorruhestand wechselt, jedenfalls nicht arbeitslos wird und deshalb dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht, handelt es sich ebenfalls nicht um eine anzeigepflichtige Entlassung i. S. des § 17 Abs. 1 KSchG.67) Umstritten war, ob Arbeitnehmer, die zu einer Transfergesellschaft wechseln, bei der Be- 61 rechnung des Schwellenwertes nach § 17 KSchG mitzuzählen sind. Das BAG hat mit Urteil vom 28.6.2012 ausgeführt, dass jedenfalls die Arbeitnehmer, bei denen im Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige noch nicht feststeht, dass sie in eine Transfergesellschaft wechseln werden, bei der Berechnung des Schwellenwertes mitzuzählen sind, da für die Arbeitsverwaltung im Zeitpunkt der Erstattung der Massenentlassungsanzeige noch nicht absehbar
___________ 63) LAG Hamm, Beschl. v. 28.6.2010 – 13 Ta 372/10, openJur 2011, 72536; LAG Hamm, Beschl. v. 17.2.2015 – 7 TaBVGa 1/15, NZA-RR 2015, 247 = BeckRS 2015, 66619. 64) BAG, Urt. v. 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, Rz. 27 ff., ZIP 2014, 1691; Spelge in: MünchHdb. ArbR, § 121 Rz. 62 f. 65) BAG, Urt. v. 19.3.2015 – 8 AZR 119/14, ZInsO 2015, 2601. 66) Ascheid/Preis/I. Schmidt-Moll, KSchG, § 17 Rz. 26c. 67) Ascheid/Preis/I. Schmidt-Moll, KSchG, § 17 Rz. 29.
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ist, ob und wann die zu diesem Personenkreis gehörenden Arbeitnehmer den Arbeitsmarkt belasten werden.68) 62 Die Anzeigepflicht aus § 17 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 KSchG gilt uneingeschränkt auch für den Insolvenzverwalter.69) 63 Beabsichtigt der Insolvenzverwalter, anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er gemäß § 17 Abs. 2 KSchG auch dem Betriebsrat rechtzeitig zweckdienliche Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere zu unterrichten über x
die Gründe für die geplanten Entlassungen,
x
die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
x
die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
x
den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
x
die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,
x
die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
64 In dem vorgenannten Katalog gemäß § 17 Abs. 2 KSchG ist der notwendige Inhalt der Unterrichtung nicht bestimmt.70) Das Konsultationsverfahren soll dem Betriebsrat Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen. Welche Informationen dabei erforderlich sind, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Hat der Betriebsrat, etwa durch Verhandlungen über den Interessenausgleich oder auf andere Weise, schon Kenntnisse über die Umstände der beabsichtigten Massenentlassung erlangt, genügen auch schlagwortartige Informationen. Die danach erforderlichen Auskünfte sind seitens des Arbeitgebers zwar nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultation zu erteilen, er hat sie aber „im Verlauf des Verfahrens“ zu vervollständigen und alle einschlägigen Informationen bis zu dessen Abschluss zu erteilen. Der Arbeitgeber darf jedoch noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und keine vollendeten Tatsachen geschaffen haben.71) 65 Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG hat der Insolvenzverwalter (als Arbeitgeber) mit dem Betriebsrat in einem Konsultationsverfahren Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. § 17 KSchG regelt nicht ausdrücklich, welche Rechtsfolge ein Verstoß gegen die Pflicht zur Durchführung des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat gemäß Absatz 2 der Bestimmung hat. Ebenso wenig lässt sich dies aus § 18 KSchG entnehmen. Auch die Richtlinie 98/59/EG (MERL) bestimmt nicht selbst die Rechtsfolgen eines Unterbleibens des nach Art. 2 MERL vorgesehenen Konsultationsverfahrens.72) Nach BAG-Rechtsprechung ist eine i. R. der Massenentlassung ausgesprochene Kündigung – unabhängig von dem Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anzeige bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 KSchG – wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i. S. von § 134 BGB rechtsunwirksam ist, wenn kein Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt wird. Die
___________ 68) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 43 f., ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029; LAG BadenWürttemberg, Urt. v. 23.10.2013 – 10 Sa 32/13, BeckRS 2014, 65870. 69) BAG, Urt. v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, Rz. 13, ZIP 2012, 1259 = NZA 2012, 1058. 70) Zur Frage, welche Informationen und Auskünfte zweckdienlich und erforderlich sind, um den Katalog gemäß § 17 Abs. 2 KSchG zu erfüllen vgl. Spelge in: MünchHdb. ArbR, § 121 Rz. 137 – 142. 71) Spelge in: MünchHdb. ArbR, § 121 Rz. 128 ff. 72) Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie – MERL), ABl. (EG) L 225/16 v. 12.8.1998.
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Durchführung des Konsultationsverfahrens ist ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung.73) Zuständig für die Beteiligung nach § 17 Abs. 2 KSchG ist der Betriebsrat als Gremium. 66 Bloße Gespräche mit dem Betriebsratsvorsitzenden oder dem Wirtschaftsausschuss genügen nicht, wenngleich der Betriebsratsvorsitzende für die Entgegennahme der Unterrichtung zuständig ist (§ 26 Abs. 2 BetrVG).74) Die Auskünfte nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 – 6 KSchG hat der Arbeitgeber/Insolvenz- 67 verwalter dem Betriebsrat schriftlich zu erteilen. Während das BAG mit Urteil vom 20.9.201275) und mit Urteil vom 9.6.201676) offengelassen hatte, ob die Unterrichtung des Betriebsrates der Schriftform gemäß § 126 BGB bedarf, hat das BAG in seiner Entscheidung vom 22.9.2016 klargestellt, dass die Unterrichtung entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung nicht den Anforderungen des § 126 BGB genügen muss. Die Wahrung der Textform entsprechend § 126b BGB reicht nach Ansicht des 2. Senates aus, da sich die aus § 126 BGB ergebenden formellen Anforderungen auf die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG schon deshalb keine Anwendung finden, weil § 126 BGB nicht unmittelbar für geschäftsähnliche Erklärungen gilt. Um eine solche handelt es sich aber bei der Unterrichtung des Betriebsrates über die in § 17 Abs. 2 Satz 1 Halb. 2 Nr. 1 – 6 KSchG bezeichneten Tatsachen.77) Nach Auffassung des BAG ist eine analoge Anwendung von § 126 BGB nicht geboten. Der Zweck des § 17 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 KSchG und die Interessenlage der Beteiligten verlangen nicht die Übermittlung eines vom Arbeitgeber eigenhändig unterzeichneten Schriftstücks an den Betriebsrat. Die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 KSchG soll es dem Betriebsrat ermöglichen, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, um eine geplante Massenentlassung zu verhindern oder einzuschränken. Die dem Betriebsrat dabei obliegenden Prüfpflichten sind auch dann gewährleistet, wenn die vom Arbeitgeber übermittelten Informationen in Textform erfolgen und insoweit für ihn auch dauerhaft verfügbar sind.78) Das BAG hält die Vorlage des Entwurfes eines Interessenausgleiches zunächst als ausrei- 68 chend für eine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrates nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Durch die Rechtsprechung des EuGH sei geklärt, dass die Verbindung der Interessenausgleichsverhandlung mit der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrates richtlinienkonform ist. Aus dem Wortlaut der MERL79) folgt, dass die Auskünfte des Arbeitgebers gegenüber der Arbeitnehmervertretung im Verlauf und nicht unbedingt im Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultationen zu erteilen sind. Der Arbeitgeber hat der Arbeitnehmervertretung nach dem Grundgedanken der Richtlinienvorgabe während der gesamten Konsultation die entsprechenden Informationen zu geben.80) Dieser Prozess kann und sollte auch unmittelbar vor Schluss der Konsultation nochmals schriftlich dokumentiert werden.81) ___________ 73) BAG, Vorlagebeschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21 (A), Rz. 22, NZA 2022, 491; BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, Rz. 36, NZA 2017, 175; BAG, Urt. v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, ZIP 2013, 1589 = NZA 2013, 966. 74) BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881, dazu EWiR 2015, 423 (Fuhlrott). 75) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32. 76) BAG, Urt. v. 9.6.2016 – 6 AZR 405/15, Rz. 27, NZA 2016, 1198. 77) BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, Rz. 42 f., NZA 2017, 175. 78) BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, Rz. 44 f., NZA 2017, 175. 79) Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie – MERL), ABl. (EG) Nr. L 225/16 v. 12.8.1998. 80) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32; BAG, Urt. v. 9.6.2016 – 6 AZR 405/15, Rz. 24, NZA 2016, 1198. 81) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, Rz. 53, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32.
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69 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG stehen das Interessenausgleichsverfahren und das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG selbstständig nebeneinander, können jedoch miteinander verbunden werden.82) Dabei muss der Betriebsrat allerdings klar erkennen können, dass die stattfindenden Beratungen (auch) der Erfüllung der Konsultationspflicht aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG dienen sollen, d. h., für den Betriebsrat muss die Absicht des Arbeitgebers, Massenentlassungen vornehmen zu wollen, klar erkennbar sein.83) Da die Interessenausgleichsverhandlungen nach §§ 111 ff. BetrVG zulässigerweise regelmäßig mündlich begonnen und durchgeführt werden, die Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 17 Abs. 2 KSchG aber schriftlich zu erfolgen hat, ist der Betriebsrat im Laufe der Verhandlungen zum Interessenausgleich schriftlich gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1-6 KSchG zu unterrichten. Dabei ist es ausreichend, wenn dem Betriebsrat ein schriftlicher Entwurf des Interessenausgleiches zugeht und dieser die Anforderungen des Katalogs gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 – 6 KSchG erfüllt.84) 70 Weder in § 17 Abs. 2 KSchG noch in Art. 2 MERL ist eine bestimmte Dauer für die Beteiligung des Betriebsrates vorgesehen. Aus § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ist zu schlussfolgern, dass der Arbeitgeber für die Dauer des Konsultationsverfahrens mindestens zwei Wochen berücksichtigen muss, da er für den Fall, dass der Betriebsrat keine Stellungnahme abgibt, gegenüber der Arbeitsagentur glaubhaft machen muss, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige unterrichtet hat. Erklärt der Betriebsrat das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG vor Ablauf von zwei Wochen nach seiner Unterrichtung für abgeschlossen, oder, dass er keine weiteren Beratungen mehr wünscht, kann die Massenentlassungsanzeige eingereicht werden. Ihr steht dann das Erfordernis der rechtzeitigen Unterrichtung des Betriebsrates nicht mehr entgegen.85) 71 Der EuGH hat bislang nicht entschieden, wann der Arbeitgeber seine Pflichten im Konsultationsverfahren erfüllt hat und somit das Konsultationsverfahren beendet werden kann. Eine Vorlage an den EuGH ist aber dennoch nicht möglich, da sich für das deutsche Recht aus dem Zweck des Konsultationsverfahrens sowie aus dessen Verzahnung mit der Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG eine Mindestdauer von zwei Wochen ergibt.86) Im Rahmen des Konsultationsverfahrens ist es mithin Sache des Arbeitgebers zu entscheiden, wann er den Betriebsrat für ausreichend unterrichtet hält und damit seine Verpflichtungen als erfüllt ansieht. Er kann es ablehnen, gestellte Fragen zu beantworten oder geforderte Informationen nachzureichen, wenn er die Forderungen des Betriebsrates hierzu nach Abwägung mit seinen eigenen Vorstellungen für nicht zielführend hält oder wenn sich der Betriebsrat nicht auf die Grundbedingungen einlässt, die der Arbeitgeber i. R. seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit zur Grundlage der Beratung gemacht hat.87) Ein Einigungszwang besteht somit nicht. Aus dieser Ausgestaltung des Konsultationsverfahrens ergibt sich, dass der Arbeitgeber und nicht der Betriebsrat „Herr des Konsultationsverfahrens“ ist.88) 72 Vorsicht ist geboten. Sollte der Betriebsrat erklären, dass er auf ein Konsultationsverfahren verzichtet, z. B. weil er ohnehin keine Vorschläge zur Vermeidung oder Abschwächung der Betriebsänderung machen kann, ist der Arbeitgeber gut beraten, das Konsultationsverfahren dennoch gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführen. Nach der Rechtsprechung ___________ 82) 83) 84) 85) 86) 87) 88)
Vgl. BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, Rz. 140, NZA 2020, 1091 m. w. N. BAG, Urt. v. 9.6.2016 – 6 AZR 638/15, Rz. 19, NZA 2016, 1202 Rz. 19. BAG, Urt. v. 9.6.2016 – 6 AZR 405/15, NZA 2016, 1198. BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, NZA 2013, 1040 = BeckRS 2013, 68180. Spelge in: MünchHdb. ArbR, § 121 Rz. 149. BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, Rz. 143, NZA 2020, 1091. Spelge in: MünchHdb. ArbR, § 121 Rz. 149.
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des BAG genügt selbst eine Erklärung des Betriebsrates im Interessenausgleich, dass er rechtzeitig und umfassend über die anzeigepflichtigen Entlassungen unterrichtet worden sei, noch nicht zum Nachweis der Erfüllung der Konsultationspflicht aus. Wenn auch die Verhandlungen zum Interessenausgleich und das Konsultationsverfahren zeitgleich durchgeführt werden können, unterliegt die Unterrichtung des Betriebsrates keinen erleichterten Anforderungen.89) Der Arbeitsagentur ist gleichzeitig mit der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrates 73 (Beginn des Konsultationsverfahrens) eine Abschrift der Mitteilung zuzuleiten. In Literatur und Rechtsprechung wurde bislang die Auffassung vertreten, dass ein Verstoß gegen die Pflicht, der Arbeitsagentur eine Durchschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten, keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Anzeige habe, da § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG kein Verbotsgesetz i. S. des § 134 BGB sei. Der 6. Senat des BAG hat mit Vorlagebeschluss vom 27.1.202290) den EuGH um die Auslegung des Zwecks der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL festgelegten Verpflichtung, der Arbeitsverwaltung eine Abschrift von Teilen der Mitteilung an den Betriebsrat im Konsultationsverfahren zu übermitteln, ersucht. Der 6. Senat hat vorgelegt, weil er nicht feststellen kann, ob eine Verletzung von § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG ebenfalls wie andere Fehler bei der Massenentlassung (z. B. Erstattung der Anzeige bei der unzuständigen Arbeitsagentur91) zur Nichtigkeit der damit im Zusammenhang stehenden Kündigung führt. Der EuGH hat zu entscheiden, ob die Pflicht aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL dem Individualschutz von Arbeitnehmern dient. Der Charakter einer Norm als Verbotsgesetz i. S. von § 134 BGB muss sich nicht unmittelbar aus ihrem Wortlaut ergeben. Er kann auch aus Sinn und Zweck der verletzten Vorschrift zu schlussfolgern sein. Entscheidend dafür ist die Reichweite ihres Schutzzwecks.92) Nach bisheriger Auffassung des 6. Senats des BAG ist § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG weder Teil des Anzeigenoch des Konsultationsverfahrens, sondern eine bloß verfahrensordnende Vorschrift, deren Verletzung damit nicht die Nichtigkeit der Kündigung des von der Massenentlassung betroffenen einzelnen Arbeitnehmers nach sich ziehen würde.93) Bis zur abschließenden Erklärung durch den EuGH ist zu empfehlen, die schriftliche Mitteilung an den Betriebsrat zur Eröffnung des Konsultationsverfahrens gleichzeitig, d. h. am selben Tag, bei der zuständigen Arbeitsagentur einzureichen. Mit der Massenentlassungsanzeige, für welche das Formular der Bundesagentur für Arbeit 74 (Anzeige von Entlassungen gemäß § 17 KSchG) ausgefüllt werden sollte, ist auch eine Stellungnahme des Betriebsrates zu den Entlassungen zu übermitteln (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG). Wird der Massenentlassungsanzeige keine Stellungnahme des Betriebsrates beigefügt und sind auch die Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nicht erfüllt (Glaubhaftmachung des Insolvenzverwalters, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige unterrichtet hat), führt dies zur Unwirksamkeit der Kündigung. Die Beifügung der Stellungnahme ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die Massenentlassungsanzeige.94) Die Massenentlassungsanzeige ist auch dann unwirksam, wenn der Arbeitgeber in Ermangelung einer Stellungnahme des Betriebsrates die Darlegungen zum ___________ 89) BAG, Urt. v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, NZA 2012, 817; BAG, Urt. v. 9.6.2016 – 6 AZR 405/15, NZA 2016, 1198. 90) BAG, Vorlagebeschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21 (A), NZA 2022, 491. 91) Vgl. BAG, Urt. v. 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006. 92) Vgl. BAG, Vorlagebeschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21, Rz. 20, NZA 2022, 491. 93) Vgl. BAG, Vorlagebeschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21, Rz. 30, NZA 2022, 491. 94) BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, Rz. 136, NZA 2020, 1091; BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029; BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447 = NZA 2013, 864.
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Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG unterlässt oder den Stand der Beratungen in einer Weise irreführend darstellt, die geeignet ist, eine für den Arbeitgeber günstige Entscheidung der Behörde zu erwirken.95) 75 Die Stellungnahme des Betriebsrates muss nicht zwingend in einem eigenständigen Schriftstück niedergelegt sein. Kommt zwischen den Betriebsparteien im Zusammenhang mit den beabsichtigten Kündigungen ein Interessenausgleich nach §§ 111, 112 BetrVG zustande, kann die Stellungnahme in diesen Interessenausgleich integriert sein. Dazu bedarf es allerdings einer ausdrücklichen abschließenden Erklärung im Interessenausgleich, dass sich der Betriebsrat mit den angezeigten Kündigungen befasst hat.96) Eine Stellungnahme i. S. von § 17 Abs. 3 KSchG liegt aber nur vor, wenn sich der Erklärung entnehmen lässt, dass der Betriebsrat seine Beteiligungsrechte als gewahrt sieht und er eine abschließende Meinung zu den beabsichtigten Kündigungen geäußert hat.97) 76 Ob eine Stellungnahme des Betriebsrates für eine wirksame Massenentlassungsanzeige ausreichend ist, ist in der Praxis u. U. schwierig zu beurteilen, da § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht den erforderlichen Inhalt der Stellungnahme des Betriebsrates regelt. Die Stellungnahme des Betriebsrates soll aber gegenüber der Arbeitsverwaltung belegen, ob und welche Möglichkeiten dieser sieht, die angezeigten Kündigungen zu vermeiden bzw. welche sozialen Maßnahmen mit dem Betriebsrat beraten und ggf. gefunden wurden.98) Aus der Stellungnahme des Betriebsrates muss die Arbeitsverwaltung damit zumindest beurteilen können, ob die Betriebsparteien tatsächlich über eine Massenentlassung beraten haben, auch wenn die Parteien keine Möglichkeit sehen, eine solche zu vermeiden, ob der Betriebsrat mit einer Massenentlassung nicht einverstanden ist, oder hierzu keine Stellungnahme abgeben will. Auch eine eindeutige Äußerung des Betriebsrates, keine Stellung nehmen zu wollen, ist für eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ausreichend.99) 77 Gibt der Betriebsrat nur eine ungenügende Stellungnahme ab, hat der Insolvenzverwalter gleichwohl die Möglichkeit, eine wirksame Massenentlassungsanzeige einzureichen. Auch in diesem Fall bleibt es dem Insolvenzverwalter unbenommen, glaubhaft zu machen, dass er den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat. Der Massenentlassungsanzeige ist in diesem Fall die (ggf.) ungenügende Stellungnahme des Betriebsrates, das Empfangsbekenntnis des Betriebsrates zu dessen Unterrichtung gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und eine Darstellung über den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat beizufügen. Auf das bereits mit Beginn der Unterrichtung des Betriebsrates an die Agentur gerichtete Infoschreiben kann Bezug genommen werden. In der Massenentlassungsanzeige hat der Arbeitgeber aber den Stand der Beratung ausgehend vom tatsächlichen Ablauf des Konsultationsverfahrens darzulegen. Dabei hat er zusammenfassend auch anzugeben, ob der Betriebsrat seinen Konsultationsanspruch als ausreichend erfüllt angesehen hat oder nicht und ob das Verfahren vom Arbeitgeber abgebrochen worden ist, weil er aus seiner Sicht den Betriebsrat ausreichend informiert hat. Stellt sich der Betriebsrat – zu Recht oder zu Unrecht – auf den Standpunkt, dass er wegen unzureichender Infor___________ 95) BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, Rz. 136, NZA 2020, 1091; BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, Rz. 24, NZA 2017, 175. 96) BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = NZA 2013, 845, dazu EWiR 2013, 395 (Göpfert/Pfister). 97) BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881. 98) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029; BAG, Urt. v. 21.3.2013 – 2 AZR 60/12, ZIP 2013, 1589 = NZA 2013, 966; LAG Düsseldorf, Urt. v. 25.4.2013 – 15 Sa 1892/12, openJur 2013, 31827 = BeckRS 2013, 70903. 99) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029.
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mation nicht beraten könne, so entspricht das dem in der Massenentlassungsanzeige anzugebenden Beratungsstand.100) Von der Zuleitung einer Stellungnahme des Betriebsrates an die Agentur für Arbeit kann 78 nur in folgenden Fällen abgesehen werden: x
Ein Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 1 Abs. 5 KSchG (im vorläufigen Insolvenzverfahren) oder gemäß § 125 Abs. 1 InsO (im eröffneten Verfahren) wird abgeschlossen und dieser der Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit beigefügt. Gemäß §§ 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG und 125 Abs. 2 InsO ersetzt der Interessenausgleich mit einer Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Da sich Arbeitgeber und Betriebsrat in einem Interessenausgleich mit Namensliste auf namentlich genannte Arbeitnehmer einigen, die von der Betriebsänderung betroffen und deren Arbeitsverhältnis gekündigt werden soll, entspricht dies einer Stellungnahme des Betriebsrates zu den beabsichtigten Entlassungen.
x
Wird ein Interessenausgleich ohne Namensliste abgeschlossen, ersetzt die Beifügung dieses Interessenausgleiches die Stellungnahme des Betriebsrates nur dann, wenn der Interessenausgleich eine eindeutige Feststellung enthält, dass mit Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen auch die Beteiligung des Betriebsrates nach § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen ist und dass dieser Interessenausgleich zugleich die Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG sein soll. Fehlt eine solche eindeutige Feststellung im Interessenausgleich ohne Namensliste, ist dessen Beifügung zur Massenentlassungsanzeige allein nicht ausreichend.101)
x
Kommt lediglich ein Interessenausgleich ohne Namensliste zustande und enthält dieser Interessenausgleich auch nicht die vorgenannte eindeutige Feststellung zum Abschluss der Beteiligung des Betriebsrates nach § 17 Abs. 2 KSchG, muss der Insolvenzverwalter gegenüber der Agentur für Arbeit glaubhaft machen, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG, d. h. schriftlich, unterrichtet hat. Zeitgleich muss der Insolvenzverwalter den Stand der Beratungen zum Zeitpunkt der Massenentlassung darlegen.
In einem Interessenausgleich ohne Namensliste sollte zur Wahrung der erforderlichen 79 Stellungnahme des Betriebsrates folgende Regelung aufgenommen werden: „Die gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erforderlichen Auskünfte wurden dem Betriebsrat am (TTMMJJ) vom Insolvenzverwalter erteilt. Der Betriebsrat sieht abschließend keine Möglichkeit, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG ist somit abgeschlossen. Der Interessenausgleich dient als Stellungnahme des Betriebsrates gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG.“
Zeichnet sich ein destruktives Verhalten des Betriebsrates ab, welches sich meistens schon 80 im vorläufigen Insolvenzverfahren und vor Beginn der Interessenausgleichsverhandlungen zeigt, muss sich der Insolvenzverwalter die Möglichkeit offenhalten, die Massenentlassungsanzeige ohne Stellungnahme des Betriebsrates, aber mit Glaubhaftmachung dessen rechtzeitiger Unterrichtung bei der Arbeitsagentur einzureichen. Auch hierfür ist es ratsam, den Betriebsrat bei Beginn der Interessenausgleichsverhandlungen schriftlich und unter Berücksichtigung der in § 17 Abs. 2 Nr. 1 – 5 KSchG geforderten Angaben zu unterrichten. Für eine eventuell notwendige Glaubhaftmachung, dass der Betriebsrat auch rechtzeitig, 81 d. h. mindestens zwei Wochen vor der Massenentlassungsanzeige unterrichtet wurde, sollte die Übergabe der schriftlichen Unterrichtung an den Betriebsrat mittels Empfangsbekenntnis dokumentiert werden. ___________ 100) BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, Rz. 144, NZA 2020, 1091. 101) BAG, Urt. v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, ZIP 2015, 1307 = NZA 2015, 881.
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82 Gibt der Betriebsrat nur eine ungenügende Stellungnahme ab, hat der Insolvenzverwalter gleichwohl die Möglichkeit, eine wirksame Massenentlassungsanzeige einzureichen. Auch in diesem Fall bleibt es dem Insolvenzverwalter unbenommen, glaubhaft zu machen, dass er den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat. Der Massenentlassungsanzeige ist in diesem Fall die (ggf.) ungenügende Stellungnahme des Betriebsrates, das Empfangsbekenntnis des Betriebsrates zu dessen Unterrichtung gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und eine Darstellung über den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat beizufügen. Auf das bereits mit Beginn der Unterrichtung des Betriebsrates an die Agentur gerichtete Infoschreiben kann Bezug genommen werden. 83 Es war in der Vergangenheit umstritten, ob Fehler, die dem Arbeitgeber und damit auch dem Insolvenzverwalter bei der Erstattung der Massenentlassungsanzeige unterlaufen, durch einen Verwaltungsakt der Arbeitsverwaltung geheilt werden können. 84 Das BAG hat mit Urteil vom 28.6.2012102) entschieden, dass auch ein bestandskräftiger Verwaltungsakt nach § 18 KSchG vorangegangene Fehler des Arbeitgebers (und so auch des Insolvenzverwalters) bei der Massenentlassungsanzeige nicht heilen kann. Der Bescheid der Arbeitsverwaltung entfaltet zunächst weder gegenüber dem gekündigten Arbeitnehmer noch gegenüber der Arbeitsgerichtsbarkeit (entgegen bisheriger Rechtsprechung des BAG) materielle Rechtskraft. Zudem umfasst die Bindungswirkung des Bescheides der Arbeitsagentur nach § 20 KSchG nur den eigentlichen Inhalt des Bescheides (Sperrfrist, Zeitpunkt des Ablaufs der Sperrfrist oder die Genehmigung, Entlassungen vor Ablauf der Sperrfrist vorzunehmen), nicht aber die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige selbst. Die Einhaltung der formalen Anforderungen des § 17 KSchG ist nach jetziger Auffassung des BAG nur eine Vorfrage des Bescheides nach § 20 KSchG und gehört damit nach den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen nicht zum Regelungsinhalt des Bescheides. Da weder Arbeitnehmer noch Betriebsrat am Verwaltungsverfahren beteiligt sind und ihnen damit der Klageweg gegen Bescheide der Arbeitsverwaltung nicht offensteht, würde dem Arbeitnehmer die Möglichkeit genommen, sich im Kündigungsschutzprozess auf Formfehler bei den Anforderungen des § 17 Abs. 3 KSchG zu berufen, sofern ein Bescheid nach §§ 18, 20 KSchG vorangegangene Fehler des Arbeitgebers heilen würde. Damit wäre auch das von Art. 6 MERL geforderte Schutzniveau unterschritten.103) 85 Das LAG Nürnberg hat mit Urteil vom 10.12.2014104) die Einholung einer amtlichen Auskunft durch die Agentur für Arbeit zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung für zulässig und sachdienlich erachtet. Bestreitet der Arbeitnehmer, dass die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß vor Ausspruch der Kündigung erfolgt ist und behauptet der Arbeitgeber, die Anzeige ordnungsgemäß erstattet zu haben, ist zur Vorbereitung der streitigen Verhandlung die Einholung einer amtlichen Auskunft bei der zuständigen Agentur für Arbeit über Inhalt und Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige nach § 56 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG zulässig und naheliegend. 86 Die aktuelle Rechtsprechung zeigt, dass auch und gerade in Insolvenzverfahren, in denen es auf schnelle Entscheidungen zu Betriebsänderungen und deren Umsetzung im Interesse einer Betriebsfortführung ankommt, die Beteiligungsrechte des Betriebsrates sorgfältig beachtet werden müssen, wenn die Wirksamkeit von Kündigungen nicht gefährdet werden soll.
___________ 102) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. 103) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 77, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. 104) LAG Nürnberg, Urt. v. 10.12.2014 – 2 Sa 379/14, ZIP 2015, 702 (LS) = BeckRS 2015, 66522.
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2.4.2 Rechte des Betriebsrates beim Betriebsübergang gemäß § 613a BGB in der Betriebsfortführung (übertragende Sanierung) Für den Fall, dass eine Reorganisation des schuldnerischen Unternehmens ausscheidet 87 (wegen fehlender finanzieller Möglichkeiten oder weil die Gesellschafter an einem weiteren finanziellen Engagement nicht interessiert sind), ist die übertragende Sanierung der dann einzig noch mögliche Weg, das schuldnerische Unternehmen zu sanieren und Arbeitsplätze zu erhalten. Regelmäßig ist der Insolvenzverwalter bestrebt, das Unternehmen als Ganzes oder, wenn auch dies nicht möglich sein sollte, zumindest einen wesentlichen Teil des Betriebes auf einen neuen Betriebsinhaber zu übertragen. Geht ein Betrieb als Ganzes auf einen Erwerber über, liegt allein darin nach ganz überwie- 88 gender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur keine Betriebsänderung i. S. der §§ 111 ff. BetrVG vor. Er kann eine sein, wenn er sich nicht allein in dem Wechsel des Betriebsinhabers erschöpft, sondern gleichzeitig Maßnahmen ergriffen werden, welche eines oder mehrere der Tatbestandsmerkmale des § 111 BetrVG erfüllen.105) Die Übertragung des ganzen Betriebes auf einen neuen Betriebsinhaber ist nicht mitbestimmungspflichtig. Allerdings kann der Betriebsübergang auch mit Maßnahmen verbunden sein, die eine Be- 89 triebsänderung darstellen und bei denen der Betriebsrat zu beteiligen ist.106) Das kann z. B. der Fall sein, wenn im Zusammenhang mit einem Betriebsteilübergang Teile eines Betriebes abgespalten werden und sich dadurch die Betriebsorganisation oder der Betriebszweck ändern (§ 111 Satz 3 Nr. 3, 4 BetrVG).107) Das Beteiligungsrecht des Betriebsrates besteht gegenüber dem Unternehmer, der die Be- 90 triebsänderung plant.108) Veräußert der Insolvenzverwalter den Betrieb als Ganzes, ist dieser Betriebsübergang nicht mitbestimmungspflichtig, da das Beteiligungsrecht nur dann ausgelöst wird, wenn es sich um eine Betriebsänderung gemäß dem Katalog des § 111 Satz 3 BetrVG handelt. Plant der Betriebserwerber allerdings nach dem Betriebsübergang die Verlegung oder den Zusammenschluss mit einem anderen Betrieb oder die grundlegende Änderung der Betriebsorganisation, hat der Betriebserwerber den Betriebsrat zu beteiligen. Zur Frage, welcher Betriebsrat zu beteiligen ist, siehe Rz. 91 ff. Zeichnet sich ab, dass lediglich ein Betriebsteil der Schuldnerin auf einen neuen Betriebs- 91 erwerber übertragen werden kann, der verbleibende Betrieb aber stillgelegt werden muss, besteht das Beteiligungsrecht des Betriebsrates der Schuldnerin gegenüber dem Insolvenzverwalter.109) Dabei ist es unerheblich, ob der Insolvenzverwalter die Betriebsänderung nur deshalb durchführt, weil sie vom zukünftigen Erwerber zur Voraussetzung einer Betriebsübernahme erklärt wird (Erwerberkonzept). Von einer Betriebsänderung in Form einer Betriebsaufspaltung sind alle Arbeitnehmer des ursprünglich einheitlichen Betriebes der Insolvenzschuldnerin betroffen. Der Betriebsrat der Insolvenzschuldnerin ist mithin zuständig für Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan für die verbleibenden und die übergehenden Arbeitnehmer (Einzelheiten hierzu siehe Rz. 155 ff.). Ob und welche wirtschaftlichen Nachteile für die Arbeitnehmer entstehen (insbesondere der auf den Betriebserwerber übergehenden Arbeitnehmer) und ausgeglichen oder gemildert werden ___________ 105) BAG, Urt. v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, Rz. 14, NZA 2015, 1147; BAG, Urt. v. 11.11.2010 – 8 AZR 169/09, Rz. 33, BeckRS 2011, 69270; BAG, Beschl. v. 25.1.2000 – 1 ABR 1/99, NZA 2000, 1069; Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 40 ff., a. A. Karthaus, AuR 2007, 114, 118 f. 106) Richardi-Annuß, BetrVG, § 111 Rz. 128 – 131; Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 42. 107) BAG, Beschl. v. 10.12.1996 – 1 ABR 32/96, NZA 1997, 898. 108) Richardi-Annuß, BetrVG, § 111 Rz. 129. 109) BAG, Urt. v. 4.12.1979 – 1 AZR 863/76, AP BetrVG 1972, § 111 Nr. 6.
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müssen, haben der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat zu prüfen und ggf. die Einigungsstelle hierzu anzurufen.110) 92 Mit der übertragenden Sanierung des Betriebes der Schuldnerin als Ganzes oder in Teilen ist nicht nur zu klären, ob und wann die Beteiligungspflichten der Schuldnerin entstehen, sondern auch, ob und wie lange der Betriebsrat der Schuldnerin nach einer Spaltung, Zusammenlegung oder auch Stilllegung des Betriebes oder Betriebsteile noch mit welchen Rechten und Pflichten im Amt bleibt. 93 Durch das seit 2001 im BetrVG gesetzlich geregelte Übergangsmandat soll sichergestellt werden, dass die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte während einer betrieblichen Umgestaltung erhalten bleiben und betriebsratslose Zeiten vermieden werden. Ein Übergangsmandat kommt nicht in Betracht bei einer ausschließlich räumlichen Verlegung des Betriebes, einer Änderung des Betriebszwecks unter Beibehaltung der Betriebsorganisation, bei einem bloßem Betriebsinhaberwechsel, bei einem Gesellschafterwechsel oder einer Änderung der Rechtsform des Unternehmens.111) Geht der Betrieb als Ganzes gemäß § 613a BGB durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Arbeitgeber über (gilt auch im Insolvenzverfahren), behält der Betriebsrat das ihm durch die Wahl übertragene Vollmandat zur Vertretung der dem Betrieb zugehörenden Arbeitnehmer. Widerspricht in einem solchen Fall der Arbeitnehmer dem Übergang des Arbeitsverhältnisses (§ 613a Abs. 6 BGB), endet seine Zugehörigkeit zu dem auf den Erwerber übergegangenen Betrieb. Eine nach Betriebsübergang durch den Betriebsveräußerer (Insolvenzverwalter) erklärte Kündigung des Arbeitsverhältnisses bedarf nicht der Anhörung des im übergegangenen Betrieb fortbestehenden Betriebsrates, da dieser insoweit weder ein Übergangsmandat (§ 21a BetrVG), sondern ein Restmandat (§ 21b BetrVG) hat.112) Dies gilt auch für den Fall, dass ausnahmslos alle Arbeitnehmer sich gegen die Veräußerung des Betriebes durch den Insolvenzverwalter stellen und jeweils dem Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 6 BGB widersprechen sollten, da der Insolvenzverwalter nach der Betriebsveräußerung über keinen Betrieb verfügt, in welchem die widersprechenden Arbeitnehmer eingegliedert werden können. Allein die Rückkehr der widersprechenden Arbeitnehmer kann – ohne einen arbeitstechnischen Zweck, ohne organisatorische Einheit und ohne technische und immaterielle Betriebsmittel – keinen Betrieb begründen.113) Auch die widersprechenden Betriebsratsmitglieder stehen dann in einem Arbeitsverhältnis zum Insolvenzverwalter, der über keinen Betrieb mehr verfügt. Durch den Widerspruch eines Betriebsratsmitgliedes endet deshalb das Betriebsratsmandat mit dem Übergang des Betriebes gemäß § 24 Nr. 4 BetrVG.114) Der Insolvenzverwalter kann die Arbeitsverhältnisse aller widersprechenden Arbeitnehmer ohne Beteiligung des Betriebsrates kündigen. 94 Das Übergangsmandat setzt voraus, dass die neu entstandene Einheit betriebsratsfähig ist. Werden in der neu entstandenen Einheit weniger als fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt oder werden die Arbeitnehmer auf eine Einrichtung einer Religionsgemeinschaft übertragen (§ 118 Abs. 2 BetrVG), kann ein Restmandat in Betracht kommen (§ 21b BetrVG). 95 Ein Übergangsmandat kann nur bei Eingliederung in einen betriebsratslosen Betrieb entstehen. Kein Übergangsmandat entsteht, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil in einem Be___________ 110) 111) 112) 113) 114)
BAG, Beschl. v. 16.6.1987 – 1 ABR 41/85, NZA 1987, 671. Fitting, BetrVG, § 21a Rz. 7. BAG, Urt. v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, NZA 2015, 889. Hidalgo/Kobler, NZA 2014, 290. Hidalgo/Kobler, NZA 2014, 290; a. A. Fitting, BetrVG, § 1 Rz. 213, der den Fortbestand des Betriebsrates im bisherigen (betriebsmittelarmen) Betrieb, oder ein Restmandat in analoger Anwendung von § 21b BetrVG in betriebsmittelgeprägten Betrieben sieht.
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trieb eingegliedert wird, für den bereits ein Betriebsrat gewählt ist (§ 21a Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Die übernommenen Arbeitnehmer werden vom Betriebsrat des übernehmenden Betriebes vertreten. Wird ein kleinerer Betrieb in einen größeren Betrieb mit Betriebsrat eingegliedert, entsteht ebenfalls kein Übergangsmandat, weil der Betriebsrat des größeren Betriebes oder Betriebsteils das Übergangsmandat wahrnimmt (§ 21a Abs. 2 BetrVG). Ein Nebeneinander zweier Betriebsräte ist vom Gesetzgeber nicht gewollt, es widerspräche dem Prinzip einer einheitlichen betriebsbezogenen Interessenvertretung.115) Die Spaltung, gemäß der ein Übergangsmandat nach § 21a BetrVG entstehen kann, setzt 96 voraus, dass zwei neue Einheiten entstehen. Es ist allerdings nicht erforderlich, dass wesentliche Betriebsteile von der Spaltung betroffen sind.116) Wird somit lediglich ein Betriebsteil des schuldnerischen Unternehmens stillgelegt, um den restlichen Betrieb im Wege der Reorganisation fortführen zu können, wird keine Spaltung bewirkt. Wird ein Betriebsteil auf einen Erwerber übertragen, d. h. bestimmte Teilbereiche aus dem 97 schuldnerischen Betrieb ausgegliedert (Abspaltung) und der verbleibende Betrieb im Wege der Reorganisation fortgeführt, bleibt der gewählte Betriebsrat im Amt, da zwar der abgespaltene Betriebsteil entweder als eigenständiger Betrieb fortgeführt wird oder in einem anderen Betrieb eingegliedert wird, oder zu einem Betrieb zusammengefasst wird (Übergangsmandat nach § 21a Abs. 2 Satz 1 BetrVG), die Organisation des Ursprungsbetriebes sich aber nicht verändert.117) Wird jedoch der Ursprungsbetrieb aufgelöst und die aus ihm gebildeten neuen Einheiten 98 entweder als eigenständige Betriebe geführt, in bereits bestehende Betriebe eingegliedert, oder zu einem Betrieb zusammengefasst, handelt es sich um eine Aufspaltung, bei der auch ein Übergangsmandat gemäß § 21a Abs. 2 Satz 1 BetrVG entstehen kann.118) Die Dauer des Übergangsmandates ist auf die Höchstdauer von sechs Monaten zeitlich 99 befristet, sofern diese nicht durch eine Kollektivvereinbarung um ein weiteres halbes Jahr verlängert wird. Der Fristbeginn wird durch das BetrVG nicht geregelt. Es ist hierfür an die tatsächliche Änderung bestehender betrieblicher Strukturen anzuknüpfen.119) Das Übergangsmandat endet vor Ablauf der geregelten Höchstdauer von sechs Monaten 100 sobald in dem neuen, noch betriebsratslosen, Betrieb ein Betriebsrat gewählt und das Wahlergebnis bekannt gegeben wurde. Wird der Betrieb in mehrere selbstständige Betriebsteile zergliedert und damit das Übergangsmandat auf mehrere Betriebe erstreckt, endet das Übergangsmandat mit der letzten Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Die Rechte und Befugnisse des Betriebsrates während des Übergangsmandates sind nicht 101 eingeschränkt. Dem Betriebsrat obliegt nicht nur die Betriebsratsneuwahl. Er behält alle Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte und bleibt zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen befugt. Der Betriebsrat bleibt befugt, Beschlussverfahren zu führen, auch dann, wenn eine gerichtliche Entscheidung erst nach Ende des Übergangsmandates ergehen sollte. Allerdings wird das Verfahren nach Ablauf des Übergangsmandates vom neu gewählten Betriebsrat als Funktionsnachfolger fortgesetzt.120) Das Übergangsmandat an sich umfasst allerdings nicht die automatische Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen der Schuldnerin in der neuen Einheit (siehe Rz. 138 ff.). ___________ 115) 116) 117) 118) 119) 120)
Fitting, BetrVG, § 21a Rz. 14. BAG, Beschl. v. 18.3.2008 – 1 ABR 77/06, NZA 2008, 957. Fitting, BetrVG, § 21a Rz. 9a. BAG, Urt. v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, NZA 2013, 617. Fitting, BetrVG, § 21a Rz. 24. Fitting, BetrVG, § 21a Rz. 20.
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102 Ist unsicher, ob es sich bei der übertragenden Sanierung um einen Betriebs- oder Betriebsteilübergang gemäß § 613a BGB oder aber um eine Betriebsänderung i. S. von § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG (Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebes oder von wesentlichen Betriebsteilen) handelt, kann vorsorglich ein Sozialplan für den Fall vereinbart werden, dass entgegen der Annahme der Betriebsparteien kein Betriebsübergang vorliegt und in den vorsorglich ausgesprochenen Kündigungen eine Betriebsänderung zu sehen ist,121) oder im Sozialplan eine auflösende Bedingung für den Fall vereinbart werden, dass es wegen des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs nicht zu einer Stilllegung des Betriebes oder des Betriebsteils kommt.122) 103 Das Restmandat gemäß § 21b BetrVG unterscheidet sich vom Übergangsmandat dadurch, dass der Betriebsrat das Restmandat gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber ausübt, während das Übergangsmandat in der neu geschaffenen Einheit ausgeübt wird.123) Das Restmandat setzt voraus, dass ein Betrieb durch Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung untergeht. Das Restmandat ist kein Vollmandat, sondern lediglich ein nachwirkendes Teilmandat. Es soll im Falle des Eingreifens einer der in § 21b BetrVG beschriebenen Tatbestände (Untergang des Betriebes durch Stilllegung, Spaltung oder Zusammenlegung) gewährleisten, dass die zur Abwicklung nötigen betrieblichen Regelungen noch getroffen werden können. Das Restmandat begründet kein allgemeines Mandat für alle der im Zeitpunkt der betrieblichen Umstrukturierung noch nicht erledigten Betriebsratsaufgaben. Es umfasst auch keine Aufgaben, die erst nach einer Betriebsspaltung in den durch sie geschaffenen neuen Einheiten anfallen. Solche Aufgaben können allenfalls Gegenstand des Übergangsmandates sein.124) 104 Wird der schuldnerische Betrieb i. R. der Sanierung gespalten und die abgespaltenen Betriebsteile als eigenständige Betriebe fortgeführt (mit mindestens jeweils fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind), steht dem Betriebsrat der Schuldnerin sowohl das Übergangsmandat gemäß § 21a Abs. 1 Satz 1 BetrVG, als auch das Restmandat gemäß § 21b BetrVG zu. Das Restmandat wird in diesem Fall im Wesentlichen die Aufstellung und/oder die Erfüllung des noch nicht erfüllten Sozialplanes betreffen. 105 Werden die durch die Spaltung des schuldnerischen Betriebes entstandenen Betriebsteile in einen Betrieb, in dem bereits ein Betriebsrat gewählt wurde, eingegliedert, entsteht lediglich das Restmandat des Betriebsrates der Schuldnerin, welches er gegenüber dem Insolvenzverwalter auszuüben hat. Das können auch Aufgaben sein, die der Betriebsrat bezüglich der Arbeitnehmer, die noch mit Abwicklungsarbeiten beschäftigt sind, zu erfüllen hat.125) 106 Die Ausübung des Restmandats ist zeitlich unbeschränkt. Es endet mit Erfüllung der dem Restmandat zugeordneten Aufgaben.126) Das Restmandat endet ggf. auch, wenn die ausübenden Betriebsratsmitglieder hierzu nicht mehr bereit sind.127)
___________ 121) 122) 123) 124)
BAG, Beschl. v. 1.4.1998 – 10 ABR 17/97, NZA 1998, 768. S. a. Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 45. Koch in: ErfK, § 21a BetrVG Rz. 1. BAG, Urt. v. 24.9.2015 – 2 AZR 562/14, Rz. 64, ZIP 2016, 488; BAG, Beschl. v. 22.3.2016 – 1 ABR 10/14, NZA 2016, 969. 125) BAG, Urt. v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, Rz. 49, NZA-RR 2008, 367. 126) BAG, Beschl. v. 6.12.2006 – 7 ABR 62/05, AP BetrVG 1972, § 21b Nr. 5. 127) BAG, Urt. v. 5.10.2000 – 1 AZR 48/00, NZA 2001, 849.
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§ 26
Betriebsvereinbarungen in der Betriebsfortführung
Die Betriebsvereinbarung ist ein eigenes Rechtsinstrument der Betriebsverfassung und die 107 wichtigste Form der Einigung zwischen den Organen der Betriebsverfassung (Arbeitgeber und Betriebsrat). Sie ist das durch die Betriebsparteien geschaffene Gesetz des Betriebes.128) Betriebsvereinbarungen sind gemäß § 77 Abs. 2 BetrVG schriftlich niederzulegen und 108 von beiden Seiten zu unterzeichnen, es sei denn, dass die Betriebsvereinbarung auf einem Spruch der Einigungsstelle beruht. Die Betriebsvereinbarung hat gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG Normwirkung, d. h. sie wirkt wie eine Rechtsnorm auf Arbeitsverhältnisse. Die normativen Regelungen einer Betriebsvereinbarung gelten ebenso wie die Tarifnormen gemäß § 4 Abs. 1 und 3 TVG unmittelbar und zwingend. Auch beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen handelt der Betriebsrat als Kollegial- 109 organ. Er bildet seinen gemeinsamen Willen durch Beschluss gemäß § 33 BetrVG. Eine vom Vorsitzenden des Betriebsrates unterzeichnete Betriebsvereinbarung kommt nicht wirksam zustande, wenn es an einem – zumindest (nachträglich) genehmigenden – Beschluss des Gremiums für deren Abschluss fehlt. Die vom Vorsitzenden abgegebene Erklärung kann dem Betriebsrat nicht nach den Grundsätzen einer Anscheinsvollmacht zugerechnet werden. Da das BetrVG die Rechtsstellung des Betriebsratsvorsitzenden in besonderer Weise ausgestaltet, scheidet eine unmittelbare Anwendung dieser Grundsätze aus. Auch ihre entsprechende Anwendung kommt nicht in Betracht, weil es sich bei einer Betriebsvereinbarung um ein kollektives und objektives Recht setzenden Normenvertrag handelt.129) Der Betriebsrat kann eine von seinem Vorsitzenden ohne einen wirksamen Betriebsratsbeschluss unterschriebene Betriebsvereinbarung aber entsprechend § 184 Abs. 1 BGB durch eine ordnungsgemäße Beschlussfassung genehmigen. Die Genehmigung wirkt auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung zurück.130) Bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung hat der Betriebsrat die sich aus § 77 Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 BetrVG ergebende Nebenpflicht, dem Arbeitgeber auf dessen zeitnah geltend zu machendes Verlangen eine Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift auszuhändigen, aus dem sich diese die Wirksamkeit der von seinem Vorsitzenden abgegebenen Erklärung notwendige Beschlussfassung des Gremiums ergibt.131) Ob der Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung dieses „Kontrollrecht“ hinsichtlich belastender Betriebsvereinbarungen, die vor Verfahrenseröffnung geschlossen wurden, noch zeitnah ausüben kann, musste durch den 1. Senat des BAG132) aufgrund des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhaltes nicht geprüft und entschieden werden. Bestehen Zweifel, dass Betriebsvereinbarungen wirksam zustande gekommen sind, sollten diese vorsorglich gekündigt werden (siehe hierzu Rz. 117 ff.). Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf die 110 Fortgeltung der Betriebsvereinbarungen. Besonderheiten ergeben sich allenfalls aus § 120 InsO. In der Eigenverwaltung gelten die Vorschriften über die Erfüllung gegenseitiger Verträge und die Mitwirkung des Betriebsrates (§§ 103 – 128) mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Insolvenzverwalters der Schuldner tritt, welcher seine Rechte im Einvernehmen mit dem Sachwalter ausüben soll.
___________ 128) 129) 130) 131) 132)
Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 11 f. BAG, Urt. v. 8.2.2022 – 1 AZR 233/21, Rz. 23 ff., BeckRS 2022, 14050. BAG, Urt. v. 8.2.2022 – 1 AZR 233/21, Rz. 33, BeckRS 2022, 14050. BAG, Urt. v. 8.2.2022 – 1 AZR 233/21, Rz. 40 ff., BeckRS 2022, 14050. BAG, Urt. v. 8.2.2022 – 1 AZR 233/21, BeckRS 2022, 14050.
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§ 26
Teil V Einzelfragen
2.5.1 Beratungsgebot gemäß § 120 InsO 111 Betriebsvereinbarungen gemäß § 77 Abs. 2 BetrVG, insbesondere freiwillige Betriebsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, enthalten oft Verpflichtungen des Arbeitgebers, die das Unternehmen finanziell erheblich belasten. Gerade in der Betriebsfortführung und unabhängig davon, ob eine Reorganisation oder eine übertragende Sanierung im Wege des Betriebsübergangs gemäß § 613a BGB angestrebt wird, ist es kaum möglich, in Betriebsvereinbarungen geregelte Sonderleistungen, wie z. B. Beihilfen im Krankheitsfall, Essensgeldzuschüsse, Gratifikationszahlungen, Jubiläumszuwendungen, Belegschaftsaktien, Treueprämien, Zusatzurlaube zu gewähren. Es muss daher möglich sein, das schuldnerische Unternehmen kurzfristig von solchen Verbindlichkeiten zu entlasten, wenn das Unternehmen nicht ohnehin stillgelegt, sondern fortgeführt werden soll. Gerade bei einer beabsichtigten übertragenden Sanierung gemäß § 613a BGB wird es für den Investor maßgeblich darauf ankommen, welche Betriebsvereinbarungen auf die übernommenen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden. Da die Identität des Betriebes bei der übertragenden Sanierung erhalten bleibt, gelten die geschlossenen Betriebsvereinbarungen bei dem Erwerber fort.133) Das BAG hat in 2009 entschieden, dass die Kollektivnormen eines Tarifvertrages in dem Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Erwerber ihren kollektivrechtlichen Charakter behalten.134) Danach werden die Kollektivnormen zwar in das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Erwerber transformiert, behalten jedoch ihren kollektivrechtlichen Charakter.135) Versteht man § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als Anordnung einer kollektivrechtlichen Rechtsnachfolge entsprechend dieser Rechtsprechung des BAG, gelten auch Betriebsvereinbarungen für die übernommenen Arbeitnehmer in der im Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Fassung normativ beim Erwerber fort. Nur in Ausnahmefällen werden diese Rechte und Pflichten aus einer Betriebsvereinbarung beim Erwerber individualrechtlich fortgelten.136) 112 Der (vorläufige) Insolvenzverwalter sollte sich umgehend einen Überblick über Umfang und Inhalt geschlossener Betriebsvereinbarungen verschaffen und Beratungen mit dem Betriebsrat aufnehmen, welche Betriebsvereinbarungen beibehalten werden können und welche Betriebsvereinbarungen dringend geändert oder beendet werden müssen. Das Beratungsgebot gemäß § 120 InsO ist eine Soll-Vorschrift. Es wird keine Einigungspflicht normiert und Kündigungen von Betriebsvereinbarungen sind auch ohne vorherige Verhandlung mit dem Betriebsrat wirksam. Gleichwohl sollte möglichst eine Einigung erzielt werden, wenn die im Laufe der Sanierung später noch notwendig werdenden Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan nicht unnötig erschwert werden sollen. In der Eigenverwaltung obliegt diese Aufgabe dem Schuldner mit der Maßgabe, dass es zur Wirksamkeit der Kündigung einer Betriebsvereinbarung der Zustimmung des Sachwalters bedarf (§ 279 Satz 3 InsO). Die Zustimmung muss bei Zugang der Kündigung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung bereits vorliegen und kann nicht als Genehmigung nachgereicht werden.137) 113 § 120 InsO findet auf belastende freiwillige und erzwingbare Betriebsvereinbarungen, auch Gesamtbetriebsvereinbarungen, die ein Gesamtbetriebsrat gemäß § 50 Abs. 1 BetrVG unternehmensbezogen abgeschlossen hat, Anwendung. Eine belastende Betriebsvereinbarung liegt vor, wenn sich aus ihr eine unmittelbare Leistungspflicht ergibt, die die Insolvenz___________ 133) 134) 135) 136) 137)
BAG, Beschl. v. 27.7.1994 – 7 ABR 37/93, ZIP 1995, 235 = NZA 1995, 222. BAG, Urt. v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = NZA 2010, 41. BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, ZIP 2010, 545 (LS) = NZA 2010, 173. Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 116. Fiebig in: HambKomm-InsO, § 279 Rz. 3; Bierbach in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 8 Rz. 63.
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masse (§ 35 InsO) belastet. Jedoch ist nicht jede Leistung zugleich auch eine Belastung der Insolvenzmasse. Eine Belastung liegt aber stets dann vor, wenn durch die Leistungspflicht der Insolvenzmasse Finanz- und/oder Sachmittel entzogen oder solche gebunden werden.138) Der Vorschrift selbst ist nicht zu entnehmen, welche konkreten Leistungen von der Regelung des § 120 InsO erfasst werden.139) Auch Regelungsabreden mit belastenden Leistungen werden von § 120 InsO erfasst. 114 Dabei handelt es sich um formlose Einigungen zwischen den Betriebsparteien, die als Regelungsabrede, Regelungsabsprache, Betriebsabrede oder Betriebsabsprache bezeichnet werden. Die Regelungsabreden sind schuldrechtliche Verträge zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat und haben keine normative Auswirkung auf den Inhalt der einzelnen Arbeitsverhältnisse. Der Inhalt der Regelungsabreden muss gesondert in die einzelnen Arbeitsverträge transformiert werden, welches ggf. durch Ausübung des Direktionsrechtes oder durch den Abschluss von einvernehmlichen Änderungsverträgen möglich ist. Die Regelungsabrede ist an keine bestimmte Form gebunden, gleichwohl ist nicht jede wegen fehlender Schriftform unwirksame Betriebsvereinbarung eine Regelungsabrede. Es kommt darauf an, ob die Vereinbarung zwischen den Betriebsparteien unmittelbar und zwingend auf die Arbeitsverhältnisse wirken soll.140) Regelungsabreden werden häufig zur Regelung von Einzelfällen und Angelegenheiten, die keine Dauerwirkung haben, abgeschlossen. In Regelungsabreden werden häufig organisatorische Fragen der Betriebsratstätigkeit geregelt (Zeit und Ort der Sprechstunden des Betriebsrates, Ort der Betriebsratssitzungen, Durchführung von Betriebsversammlungen, Umgang mit Beschwerden, Teilnahme von Betriebsratsmitgliedern an Schulungsmaßnamen). Der Betriebsrat hat einen Rechtsanspruch darauf, dass der Arbeitgeber die Regelungsab- 115 reden einhält und umsetzt, was ggf. im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren durchgesetzt werden kann.141) Regelmäßig enden Regelungsabreden durch Zweckerreichung, Zeitablauf oder auflösende 116 Bedingung. Sie können jedoch auch durch Aufhebungsvertrag einvernehmlich beendet werden. Die Kündigung der Regelungsabrede ist in analoger Anwendung des § 77 Abs. 5 BetrVG möglich. Hieraus wird in der Literatur abgeleitet, dass § 120 InsO auch auf Regelungsabreden anzuwenden ist, nicht jedoch auf die in Umsetzung einer Regelungsabrede geänderten Arbeitsverträge (siehe auch Rz. 126).142) 2.5.2 Kündigungsmöglichkeiten von Betriebsvereinbarungen Kann zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat keine einvernehmliche Regelung zur 117 Herabsetzung der in Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden enthaltenen Leistungen herbeigeführt werden, können gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO Betriebsvereinbarungen mit einer Frist von drei Monaten gekündigt werden. Gemäß § 120 Abs. 2 InsO bleibt das Recht, eine Betriebsvereinbarung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen, unberührt. In der Eigenverwaltung obliegt das Kündigungsrecht dem Schuldner mit der Maßgabe, dass es zur Wirksamkeit der Kündigung einer Betriebsvereinbarung der Zustimmung des Sachwalters bedarf (§ 279 Satz 3 InsO). Die Zustimmung
___________ 138) 139) 140) 141) 142)
So wörtlich Oetker/Friese, DZWIR 2000, 397, 398; s. a. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 6. Vgl. Katalog belastender Leistungen: Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 7. Vgl. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 218 ff. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 221. Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 5; Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 154b.
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Teil V Einzelfragen
muss bei Zugang der Kündigung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung bereits vorliegen und kann nicht als Genehmigung nachgereicht werden.143) 2.5.2.1
Ordentliche Kündigung
118 Es können sowohl freiwillige (§ 88 BetrVG) als auch erzwingbare Betriebsvereinbarungen (§ 87 BetrVG) gemäß § 120 InsO gekündigt werden, sofern sich aus diesen eine unmittelbare Belastung der Insolvenzmasse ergibt (siehe Rz. 113 ff.). Damit sollen Betriebsvereinbarungen z. B. über Schichtpläne oder Fragen der Betriebsordnung und auch Betriebsvereinbarungen, die tarifvertragliche Leistungspflichten lediglich ergänzen oder konkretisieren, nicht von § 120 InsO erfasst werden.144) 119 Die Kündigungsmöglichkeit des Insolvenzverwalters nach § 120 InsO ist lex specialis zu § 77 Abs. 5 BetrVG, d. h. im Insolvenzverfahren können Betriebsvereinbarungen auch dann mit der Maximalkündigungsfrist von drei Monaten gekündigt werden, wenn eine längere Kündigungsfrist in der Betriebsvereinbarung vereinbart ist, die nach § 77 Abs. 5 BetrVG zwingend zu berücksichtigen wäre, wobei im Gegensatz zu § 113 Satz 2 InsO (Kündigung von Arbeitsverhältnissen) die Kündigung von Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden nicht zum Monatsende ausgesprochen werden muss. 120 Ist in Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden eine kürzere als dreimonatige Kündigungsfrist vereinbart, gilt diese auch für den Insolvenzverwalter. 121 In der Literatur ist umstritten, ob § 120 InsO ein eigenes Kündigungsrecht oder nur eine Verkürzung der Kündigungsfristen normiert (ablehnend Fitting, bejahend Zobel)145) Im letzteren Fall wären Kündigungen von Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden, die eine Kündigung ausschließen oder für die bestimmte Kündigungstermine vorgesehen sind, nicht gemäß § 120 InsO ordentlich kündbar. Dies widerspräche dem Gesetzeszweck. In der Begründung zu § 138 RegE heißt es, dass „solche Betriebsvereinbarungen […]„ (gemeint sind belastende Betriebsvereinbarungen nach § 120 Abs. 1 InsO) „stets mit der gesetzlichen Frist des § 77 Abs. 5 BetrVG gekündigt“ werden können.146) Daher sind ausnahmslos alle belastenden Betriebsvereinbarungen im Insolvenzverfahren gemäß § 120 InsO ordentlich kündbar. 122 Für Fristbeginn und Fristende gelten für Kündigungen nach § 120 InsO die Vorschriften der §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB. 123 Nach § 120 InsO ist auch eine Teilkündigung von Betriebsvereinbarungen möglich, sofern die Betriebsvereinbarung entweder eine Teilkündigung ausdrücklich zulässt oder die Betriebsvereinbarung einen selbstständigen Teilkomplex enthält, der Leistungen regelt, die die Insolvenzmasse belasten. Dieser Teil der Betriebsvereinbarung kann gemäß § 120 InsO mit der Maximalkündigungsfrist von drei Monaten gekündigt werden, während der restliche Teil der Betriebsvereinbarung entweder mit der in der Betriebsvereinbarung vereinbarten Kündigungsfrist gekündigt oder ungekündigt fortgesetzt wird.147) 124 Die Kündigungserklärung gemäß § 120 InsO ist an keine Form gebunden. Ist in der Betriebsvereinbarung ausdrücklich die Schriftform der Kündigung vereinbart, aber auch zu Beweiszwecken, sollte der Insolvenzverwalter die Kündigung generell schriftlich erklären. ___________ 143) 144) 145) 146) 147)
Fiebig in: HambKomm-InsO, § 279 Rz. 3; Bierbach in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 8 Rz. 63. Vgl. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 154a. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 156; Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 14. Vgl. Begr. RegE z. § 138 InsO, BR-Drucks. 1/92, S. 153. Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 14, und Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 156.
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Die Kündigungsmöglichkeit gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO besteht unabhängig davon, 125 ob Insolvenzverwalter und Betriebsrat zuvor eine einvernehmliche Herabsetzung der Leistungen beraten haben, da § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO als Sollvorschrift ausgestaltet ist.148) Teilweise wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass der bei Kündigungen von Dauerschuldverhältnissen zu beachtende ultima-ratio-Grundsatz verlangt, dass auch vor der Kündigung von Betriebsvereinbarungen durch den Insolvenzverwalter gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO die gesetzlich geregelte Beratung und Verhandlung gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO durchzuführen ist.149) Gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO „sollen“ Insolvenzverwalter und Betriebsrat über eine einvernehmliche Herabsetzung der Leistungen beraten. Hieraus ergibt sich aber weder ein Beratungsanspruch des Betriebsrates, noch eine Beratungspflicht des Insolvenzverwalters. Zudem regelt § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht, dass die Kündigung erst nach erfolgloser Beratung ausgesprochen werden kann150) (siehe aber auch Rz. 112). Da eine (zumindest) analoge Anwendung des § 120 InsO auch auf Regelungsabreden, die 126 sich belastend auf die Insolvenzmasse auswirken, geboten ist, kann der Insolvenzverwalter auch derartige Regelungsabreden kündigen. Die Rechtswirkung ist jedoch eine andere als bei Betriebsvereinbarungen. Da Regelungsabreden nicht unmittelbar und zwingend auf die Arbeitsverhältnisse einwirken, hat die Kündigung der Regelungsabrede zumindest dann keine unmittelbare Auswirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse, wenn die Regelungsabrede auf der arbeitsvertraglichen Ebene bereits umgesetzt wurde. In diesem Fall muss der Insolvenzverwalter auch die Herabsetzungsvereinbarung und die Kündigung der Regelungsabrede auf der Arbeitsvertragsebene umsetzen, so dass § 120 Abs. 1 InsO nicht voll durchschlägt.151) Die Kündigung von Betriebsvereinbarungen und Regelungsabreden ist während der ge- 127 samten Dauer des Insolvenzverfahrens möglich. Die Kündigung einer Betriebsvereinbarung oder Regelungsabrede bedarf – wie auch außerhalb des Insolvenzverfahrens – keiner Rechtfertigung und unterliegt keiner inhaltlichen Kontrolle. Dies gilt unabhängig vom Regelungsgegenstand, also auch dann, wenn es um eine betriebliche Altersversorgung geht.152) 2.5.2.2
Außerordentliche Kündigung
Gemäß § 120 Abs. 2 InsO kann der Insolvenzverwalter eine Betriebsvereinbarung aus 128 wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Wie jedes Dauerschuldverhältnis kann auch eine Betriebsvereinbarung dann außerordentlich 129 gekündigt werden, wenn das Festhalten an der Betriebsvereinbarung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist oder dem vereinbarten Ende der Betriebsvereinbarung nicht zumutbar ist. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens an sich und das Fehlen von Geldmitteln zur Erbringung der in der Betriebsvereinbarung vereinbarten Leistungen stellen allerdings noch keinen außerordentlichen Kündigungsgrund dar.153) Unter Beachtung der gesetzlichen Höchstkündigungsfrist gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO 130 (drei Monate) wird der Insolvenzverwalter vor Ausspruch einer außerordentlichen Kün___________ 148) Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 12; offengelassen LAG Baden-Württemberg, Beschl. v. 15.6.2005 – 12 TaBV 6/04, BeckRS 2005, 31049687. 149) Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 12. 150) Vgl. auch Giesen, ZIP 1998, 142; Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 155, der für eine außerordentliche Kündigung Beratung als notwendige Voraussetzung sieht. 151) Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 5; Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 154b. 152) BAG, Urt. v. 11.5.1999 – 3 AZR 21/98, ZIP 2000, 421. 153) Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 151.
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digung beurteilen müssen, ob ihm die Durchführung der Betriebsvereinbarung auch nicht bis zum Ablauf der dreimonatigen Kündigungsfrist möglich ist. Eine außerordentliche Kündigung der Betriebsvereinbarung kann auch dem Insolvenzverwalter nur dann empfohlen werden, wenn der Nachweis gelingt, dass auch bei nur dreimonatiger Durchführung der Betriebsvereinbarung die Fortführungssanierung oder die übertragende Sanierung unmöglich wird. 131 Auch hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass unter Berücksichtigung des ultima-ratio-Grundsatzes vor deren Ausspruch die Beratung des Insolvenzverwalters mit dem Betriebsrat über eine einvernehmliche Herabsetzung der Leistungen gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO erforderlich ist.154) Dies ist mit der oben genannten Begründung (siehe unter Rz. 125 ff.) zu verneinen. Da jedoch die außerordentliche Kündigung zu ihrer Wirksamkeit eines wichtigen Grundes bedarf, der nicht in der Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbst und dem damit verbundenen Geldmangel besteht, sind einvernehmliche Regelungen mit dem Betriebsrat zur sofortigen Beendigung der Betriebsvereinbarungen unerlässlich und zumeist einzige Chance einer schnellen und rechtssicheren Lösung im Interesse der Betriebsfortführung. 2.5.2.3
Wegfall der Geschäftsgrundlage
132 Auch für Betriebsvereinbarungen (insbesondere für Sozialpläne) ist anerkannt, dass diese eine Geschäftsgrundlage haben können, bei deren Wegfall die getroffene Regelung den geänderten tatsächlichen Umständen anzupassen ist, wenn dem Vertragspartner im Hinblick auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage das Festhalten an der Vereinbarung nicht mehr zuzumuten ist.155) Der Wegfall der Geschäftsgrundlage einer Betriebsvereinbarung führt jedoch nicht dazu, dass diese von selbst und ggf. auch rückwirkend unwirksam wird. Folge ist vielmehr, dass die Regelung der Betriebsvereinbarung den geänderten tatsächlichen Umständen anzupassen ist, so dass das Festhalten an der getroffenen Regelung dem Vertragspartner noch zuzumuten ist. Damit unterscheidet sich der Wegfall der Geschäftsgrundlage einer Betriebsvereinbarung von der außerordentlichen Kündigung insoweit, dass der Wegfall der Geschäftsgrundlage nicht zur Beendigung der Betriebsvereinbarung führt, sondern diese mit einem anderen Inhalt fortbestehen lässt. Die Anpassung der Regelung müssen die Betriebspartner jedoch vereinbaren. Beruft sich der Insolvenzverwalter also auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage, hat er gegenüber dem Betriebsrat einen Anspruch auf Verhandlungen über die Anpassung der Betriebsvereinbarung. Verweigert der Betriebsrat eine solche Anpassung oder kann diese nicht einvernehmlich vereinbart werden, verbleibt dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit, den Spruch der Einigungsstelle herbei zu führen. 2.5.3 Nachwirkung 133 Gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG gelten Betriebsvereinbarungen, die durch Anrufung der Einigungsstelle erzwungen werden können, bei vorzeitiger Kündigung weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Dies gilt auch im Insolvenzverfahren, da § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO lediglich lex specialis zu § 77 Abs. 5 BetrVG ist, nicht aber zu § 77 Abs. 6 BetrVG. Der Grundsatz der Nachwirkung beendeter erzwingbarer Betriebsvereinbarungen bleibt durch die Vorschrift des § 120 InsO unberührt. Werden vom Insolvenzverwalter erzwingbare Betriebsvereinbarungen gekündigt, gelten sie grundsätzlich so lange fort, bis sie durch eine neue Betriebsvereinbarung oder eine Entscheidung der Einigungsstelle ersetzt werden. Es handelt sich hierbei insbesondere um Betriebsvereinbarungen, ___________ 154) Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 155. 155) BAG, Beschl. v. 10.8.1994 – 10 ABR 61/93, ZIP 1995, 1037 = NZA 1995, 314.
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die soziale Angelegenheiten gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG regeln. Die Nachwirkung besteht auch im Falle der außerordentlichen Kündigung erzwingbarer Betriebsvereinbarungen. Freiwillige Betriebsvereinbarungen können bei fehlender Einigung zwischen den Be- 134 triebsparteien nicht durch einen Spruch der Einigungsstelle ersetzt werden. Sie unterliegen daher nicht dem Nachwirkungsgrundsatz gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG. Diese Betriebsvereinbarungen kann der Insolvenzverwalter ordentlich kündigen, ohne dass dies eine Nachwirkung entfaltet. Die in der freiwilligen Betriebsvereinbarung geregelten Leistungen entfallen mit Ablauf der Kündigungsfrist. Entfallene Ansprüche können auch nicht zur Insolvenztabelle angemeldet werden, da § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO keinen Schadenersatzanspruch analog des in § 113 Satz 3 InsO geregelten sog. Verfrühungsschadens vorsieht.156) Haben die Betriebsparteien in einer erzwingbaren Betriebsvereinbarung deren Nachwir- 135 kung im Falle der Beendigung ausgeschlossen, so sind sie auch im Insolvenzverfahren an diese Vereinbarung gebunden.157) Hingegen entfalten gewillkürte Nachwirkungsvereinbarungen in freiwilligen Betriebsvereinbarungen im Falle einer insolvenzspezifischen Kündigung gemäß § 120 InsO keine Wirkung. Dies würde dem Normzweck des § 120 InsO zuwiderlaufen. Die Regelungen des § 120 InsO sollen der Entlastung der Insolvenzmasse dienen. Wäre der Insolvenzverwalter an freiwillige Vereinbarungen der Betriebsparteien, die über dem gesetzlichen Mindestgebot liegen (z. B. im Fall der Vereinbarung längerer Kündigungsfristen als in § 77 Abs. 5 BetrVG oder auch gesetzlich nicht vorgeschriebener Nachwirkungsvereinbarungen), gebunden, führe dies zwangsläufig zu einer Belastung der Insolvenzmasse, was dem Gesetzeszweck zuwiderlaufen würde.158) Regelungsabreden entfalten, da § 77 Abs. 6 BetrVG die Nachwirkung ausdrücklich nur 136 für erzwingbare Betriebsvereinbarungen regelt, keine Nachwirkung i. S. von § 77 Abs. 6 BetrVG. Dies gilt auch dann, wenn in einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit eine Regelungsabrede statt einer erzwingbaren Betriebsvereinbarung geschlossen wurde.159) Wegen der fehlenden normativen Wirkung der Regelungsabrede besteht keine Notwendigkeit der Nachwirkung von Regelungsabreden. Wurde die Regelungsabrede arbeitsvertraglich umgesetzt, löst die Beendigung der Regelungsabrede auch keinen regelungslosen Zustand aus, da die auf der Grundlage einer Regelungsabrede getroffenen vertraglichen Vereinbarungen vom Ablauf der Regelungsabrede unberührt bestehen bleiben. 2.5.4 Anfechtung von Betriebsvereinbarungen Betriebsvereinbarungen können grundsätzlich gemäß §§ 129 ff. InsO vom Insolvenzver- 137 walter angefochten werden. Dies gilt grundsätzlich auch für Sozialpläne, wobei wegen der Möglichkeit des Widerrufs nach § 124 Abs. 1 InsO die Anfechtung von Sozialplänen an Bedeutung verloren hat.160) Für die Sanierungspraxis dürfte allerdings die Anfechtung von massebelastenden Betriebsvereinbarungen, welche parallel zur Kündigung nach § 120 InsO möglich ist, von Bedeutung sein, insbesondere wenn die Nachwirkung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG vermieden werden soll. Zu beachten ist allerdings, dass Anfechtungsgegner der Betriebsrat und die aus der Betriebsvereinbarung anspruchsberechtigten Arbeitnehmer sind. Da der Sanierungserfolg in vielen Fällen vom „Können und Wollen“ der Belegschaft und
___________ 156) 157) 158) 159) 160)
Giesen, ZIP 1998, 142. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 16. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 156a; Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 18. Vgl. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 226. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 120 Rz. 22; a. A. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 33.
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dem Betriebsfrieden abhängt, sollten die Gründe einer Anfechtung frühzeitig mit dem Betriebsrat erörtert werden.161) 2.5.5 Schicksal der Betriebsvereinbarungen bei übertragender Sanierung 138 Der Wechsel des Betriebsinhabers als solcher berührt nicht den Bestand von Betriebsvereinbarungen, wenn der Betrieb des Unternehmens oder Unternehmensteils unverändert auf einen neuen Inhaber überführt wird. Auch ein Betriebsübergang gemäß § 613a BGB hat keinen Einfluss auf den Bestand der Betriebsvereinbarungen, wenn die Identität des Betriebes erhalten bleibt.162) Wird der Betrieb der Insolvenzschuldnerin unter Verlust seiner Selbstständigkeit in einen anderen Betrieb eingegliedert und bestehen in diesem Betrieb bereits Betriebsvereinbarungen über dieselben Regelungsbereiche, gelten nur die Betriebsvereinbarungen des aufnehmenden Betriebes weiter.163) 139 Gibt es im aufnehmenden Betrieb keine entsprechenden Betriebsvereinbarungen, gelten die Betriebsvereinbarungen des eingegliederten Betriebes weiter, können aber durch die Betriebspartner des aufnehmenden Betriebes aufgehoben oder durch andere Betriebsvereinbarungen ersetzt werden.164) 140 Wird wegen der Betriebsänderung, die die Eingliederung des Betriebes oder eines Betriebsteils der Schuldnerin zur Folge hat, ein Sozialplan geschlossen, gilt dieser weiter.165) 141 Wird der Betrieb der Schuldnerin in zwei oder mehrere neue Betriebe geteilt und diese Betriebe im Wege der Reorganisation weitergeführt, gelten die im Betrieb der Schuldnerin vereinbarten Betriebsvereinbarungen in den neuen Betrieben weiter.166) Nach Fitting umfasst die Betriebsvereinbarung nach der Spaltung in den neu entstandenen Einheiten weniger aber keine anderen Arbeitnehmer, was die normative Fortgeltung der Betriebsvereinbarung rechtfertigt.167) 142 Wird vom Betrieb der Schuldnerin nur ein Betriebsteil abgespalten, gelten im fortbestehenden Betrieb der Schuldnerin, der im Wege der Reorganisation fortgeführt wird, die bisherigen Betriebsvereinbarungen weiter. Ob die Betriebsvereinbarungen auch im abgespaltenen Betriebsteil weitergelten ist davon abhängig, ob dieser Betriebsteil als selbstständiger Betrieb weitergeführt wird oder in einen anderen Betrieb, mit oder ohne Betriebsrat, eingegliedert oder mit diesem zusammengelegt wird. Hierzu wird auf die Ausführungen oben verwiesen (siehe vorhergehende Rz. 138 ff.). 3.
Interessenausgleich und Sozialplan in der Insolvenz
143 Die Vorschriften des BetrVG über Interessenausgleich, Sozialplan und Nachteilsausgleich bei Betriebsänderungen (§§ 111 – 113 BetrVG) gelten auch in der Insolvenz des Unternehmens. 144 Im Eröffnungsverfahren hat der Schuldner die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates zu beachten und Interessenausgleichs- sowie Sozialplanverhandlungen zu führen, sofern ___________ 161) Vgl. zu den Voraussetzungen und Hindernissen einer erfolgreichen Anfechtung von Betriebsvereinbarungen Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714. 162) Vgl. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 167 f. m. w. N. 163) Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 163. 164) Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 163a. 165) BAG, Beschl. v. 21.3.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG, Urt. v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04, BeckRS 2005, 43356; BAG, Urt. v. 28.3.2007 – 10 AZR 719/05, NZA 2007, 1096. 166) BAG, Beschl. v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670; Richardi-Richardi/Picker, BetrVG, § 77 Rz. 229 – 232; Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 165. 167) Fitting, BetrVG, § 67 Rz. 165; a. A. Thüsing, DB 2004, 2474 ff.
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ihm kein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wurde. Verfügungen des Schuldners bedürfen dann jedoch der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO. Geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über (§ 22 InsO), hat der sog. „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter die Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen im Eröffnungsverfahren zu führen. Mit Verfahrenseröffnung ist der Schuldner wegen des Übergangs der Verwaltungs- und 145 Verfügungsbefugnisse auf den Insolvenzverwalter nicht mehr berechtigt, Verhandlungen mit dem Betriebsrat zum Abschluss von Interessenausgleich und Sozialplan zu führen. Da der Insolvenzverwalter mit Verfahrenseröffnung in die Rechtsstellung des Arbeitgebers eintritt, obliegen ihm mit Verfahrenseröffnung alle Rechte und Pflichten des Arbeitgebers. Im Falle der (vorläufigen) Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO tritt an die Stelle des 146 Insolvenzverwalters der Schuldner, welcher gemäß § 279 InsO seine Rechte im Einvernehmen mit dem (vorläufigen) Sachwalter ausüben soll (siehe auch Rz. 112). Die Rechte nach §§ 120, 122 und 126 InsO kann der Schuldner nur mit Zustimmung des (vorläufigen) Sachwalters ausüben (§ 279 Satz 3 InsO). Der Insolvenzverwalter hat mit der Verfahrenseröffnung die Mitbestimmungsrechte des 147 Betriebsrates zu beachten und bei beabsichtigten Betriebsänderungen die Regelungen der §§ 111, 112 BetrVG einzuhalten, wenn er Nachteilsausgleichsansprüche der Arbeitnehmer vermeiden will. Der Insolvenzverwalter hat in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern bei Betriebsänderungen gemäß § 111 BetrVG den Betriebsrat zu unterrichten und den Versuch eines Interessenausgleiches zu unternehmen. Er kann sich nicht darauf berufen, die Beteiligung des Betriebsrates sei wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation ausnahmsweise entbehrlich168) (siehe hierzu auch Rz. 47 ff.). Unterlässt der Insolvenzverwalter den Versuch eines Interessenausgleiches, haben die Ar- 148 beitnehmer gemäß § 113 Abs. 3 Satz 1 BetrVG einen Anspruch auf Nachteilsausgleich.169) Der „Versuch“ ist im Gesetz nicht definiert. Will der Insolvenzverwalter Nachteilsausgleichsansprüche nach § 113 BetrVG, welche Masseverbindlichkeiten i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO begründen, vermeiden, muss er nach Verfahrenseröffnung und vor Durchführung einer Betriebsänderung grundsätzlich die Einigungsstelle anrufen, wenn keine Einigung mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich möglich ist.170) Ob die Anrufung der Einigungsstelle ggf. dann unterbleiben kann, wenn die Betriebsparteien einvernehmlich hiervon Abstand nehmen und der Betriebsrat eindeutig erklärt, seinen Informations- und Beratungsanspruch gemäß § 111 BetrVG auch ohne Durchführung des Verfahrens nach § 112 Abs. 2 BetrVG als erfüllt anzusehen, hat das BAG in der Entscheidung vom 7.11.2017 offengelassen.171) Der Versuch eines Interessenausgleiches i. S. von § 113 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 BetrVG setzt 149 aber nicht voraus, dass die Einigungsstelle das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen förmlich durch Beschluss feststellen muss.172) Die Verpflichtung des Insolvenzverwalters, den Betriebsrat über eine geplante Betriebs- 150 änderung zu unterrichten, diese mit ihm zu beraten und den Versuch eines Interessenausgleiches zu unternehmen, besteht auch dann, wenn der Betriebsrat erst nach der Verfah___________ 168) BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. 169) BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. 170) BAG, Urt. v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, NZA 2018, 464 (Fortführung zu BAG, Urt. v. 18.12.1984 – 1 AZR 176/82, NZA 1985, 400). 171) Vgl. hierzu auch BAG, Urt. v. 26.10.2004 – 1 AZR 493/03, NZA 2005, 237; Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 18. 172) BAG, Urt. v. 16.8.2011 – 1 AZR 44/10, NZA 2012, 640 (LS) = NJOZ 2012, 498.
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renseröffnung gewählt wurde.173) Voraussetzung für die Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Unterrichtung, Beratung und zum Versuch eines Interessenausgleiches ist allerdings, dass der Betriebsrat zu dem Zeitpunkt besteht, zu welchem der Insolvenzverwalter mit der Durchführung der Betriebsänderung beginnt. Ein hingegen erst während der Durchführung der Betriebsänderung gewählter Betriebsrat kann weder den Versuch eines Interessenausgleiches noch den Abschluss eines Sozialplanes verlangen.174) Selbst, wenn dem Insolvenzverwalter im Zeitpunkt der Durchführung der Betriebsänderung bekannt ist, dass im Unternehmen ein Betriebsrat gewählt werden soll und mit den Vorbereitungen zur Wahl des Betriebsrates begonnen wurde, ist er nicht gehindert, mit der Durchführung der Betriebsänderung zu beginnen.175) 151 Zuständiges Betriebsverfassungsorgan ist grundsätzlich der Betriebsrat des betroffenen Betriebes. Wenn die Betriebsänderung mehrere Betriebe betrifft, wie z. B. bei einer Zusammenlegung von Betrieben, und deshalb betriebsübergreifende Regelungen notwendig werden, ist der Gesamtbetriebsrat zuständig.176) 152 Allerdings folgt aus der Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates für einen Interessenausgleich nicht zwingend auch seine Zuständigkeit für den Abschluss eines Sozialplanes. Vielmehr ist hierfür Voraussetzung, dass die Regelung des Ausgleichs oder der Milderung der durch die Betriebsänderung entstehenden Nachteile zwingend unternehmenseinheitlich oder betriebsübergreifend erfolgen muss.177) Kommt es i. R. der übertragenden Sanierung zu einem Betriebsteilübergang, der regelmäßig mit einer mitbestimmungspflichtigen Spaltung des Betriebes i. S. von § 111 Satz 3 Nr. 3 BetrVG einhergeht178) und in diesem Fall Interessenausgleich und Sozialplan für die verbleibenden und auch die übergehenden Arbeitnehmer verhandelt werden müssen, ist der Betriebsrat des bisherigen Betriebes zuständig.179) In diesem Fall sind in einem durch Spruch der Einigungsstelle zustande kommenden Sozialplan (gilt nicht für einvernehmlich vereinbarte Sozialpläne) nur die Nachteile auszugleichen, die durch die Betriebsaufspaltung verursacht werden, nicht dagegen diejenigen, die durch den Betriebsteilübergang entstehen.180) 153 Wird ein von zwei Unternehmen geführter Gemeinschaftsbetrieb aufgelöst, weil eines der beiden Unternehmen seine betriebliche Tätigkeit einstellt, führt dies grundsätzlich nicht zur Beendigung der Amtszeit des für den Gemeinschaftsbetrieb gewählten Betriebsrates. Dieser nimmt für die verbleibenden Arbeitnehmer des anderen Unternehmens weiterhin die ihm nach dem BetrVG zustehenden Rechte und Pflichten wahr. Das BetrVG beruht auf der Annahme einer ausschließlich betriebsbezogenen Interessenvertretung. Der Betriebsrat ist mithin für denjenigen Betrieb zuständig, für den er gewählt wurde. So lange die Identität des Betriebes fortbesteht, behält der Betriebsrat das ihm durch die Wahl übertragene Mandat.
___________ 173) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, ZIP 2004, 235 = NZA 2004, 220. 174) BAG, Beschl. v. 20.4.1982 – 1 ABR 3/80, ZIP 1982, 982; BAG, Beschl. v. 28.10.1992 – 10 ABR 75/91, ZIP 1993, 289; BAG, Beschl. v. 8.2.2022 – 1 ABR 2/21, NZA 2022, 870. 175) BAG, Beschl. v. 28.10.1992 – 10 ABR 75/91, ZIP 1993, 289; BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, ZIP 2004, 235 = NZA 2004, 220. 176) BAG, Beschl. v. 3.5.2006 – 1 ABR 15/05, ZIP 2006, 1596; BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498. 177) BAG, Beschl. v. 3.5.2006 – 1 ABR 15/05, ZIP 2006, 1596; BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498. 178) BAG, Beschl. v. 10.12.1996 – 1 ABR 32/96, NZA 1997, 898; Bestätigung durch BAG, Beschl. v. 18.3.2002 – 1 ABR 77/06, NZA 2008, 957. 179) BAG, Beschl. v. 16.6.1987 – 1 ABR 41/85, NZA 1987, 671. 180) Fitting, BetrVG, § 111 Rz. 43; BAG, v. 25.01.2000 – 1 ABR 1/99, NZA 2000, 1069.
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Geht die Identität des Betriebes hingegen in Folge organisatorischer Änderung verloren 154 und entsteht dadurch ein neuer Betrieb, endet das Amt des Betriebsrates (z. B. bei Spaltung oder Zusammenlegung von Betrieben). Führt einer von mehreren Arbeitgebern den bisherigen Gemeinschaftsbetrieb allein weiter, wird durch diese Veränderung in der Betriebsführung die betriebliche Organisationseinheit, für die der Betriebsrat gewählt wurde, nicht berührt.181) Auch die bloße Stilllegung eines Betriebsteils des Gemeinschaftsbetriebes hat grundsätzlich keinen Einfluss auf die Betriebsidentität. Die betrieblichen Strukturen werden dadurch nicht verändert und der Betriebsrat nimmt deshalb für die verbleibenden Arbeitnehmer weiterhin die ihm zustehenden Rechte und Pflichten wahr.182) Während der 7. Senat des BAG im Urteil v. 19.11.2003 davon ausging, dass die Insolvenzeröffnung allein nicht zur Auflösung des gemeinsamen Betriebes führt, hat der 6. Senat mit Urteil v. 13.6.2019183) festgestellt, dass mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Gemeinschaftsbetrieb im Hinblick auf den Insolvenzschuldner gemäß § 728 Abs. 2 Satz 1 BGB endet.184) 3.1
Betriebsänderung nach §§ 121, 122 InsO
Die §§ 112, 112a BetrVG regeln die Voraussetzungen, das Zustandekommen und den In- 155 halt von Interessenausgleich und Sozialplan. Diese Vorschriften finden auch im Insolvenzverfahren grundsätzlich Anwendung. Insbesondere im Eröffnungsverfahren ist das Prozedere des § 112 BetrVG uneingeschränkt einzuhalten. Im eröffneten Insolvenzverfahren und im Falle der (vorläufigen) Eigenverwaltung wird 156 § 112 Abs. 2 Satz 1 BetrVG dahingehend geändert, dass der Vermittlungsversuch des Präsidenten des Landesarbeitsamtes nur bei einem übereinstimmenden Ersuchen von Insolvenzverwalter und Betriebsrat stattfinden muss. Beide Parteien sind also berechtigt, unmittelbar die Einigungsstelle anzurufen, wenn die Verhandlungen über einen Interessenausgleich oder den Sozialplan scheitern (§ 121 InsO). Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber die Dauer der Interessenausgleichsverhandlung abkürzen, um im Interesse einer Betriebsfortführung oder übertragenden Sanierung schnellstmöglich mit der Betriebsänderung beginnen zu können. Die Vorschrift ist jedoch wenig praxiswirksam, da auch die Einschaltung des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 112 Abs. 2 Satz 1 BetrVG keine Voraussetzung für die Anrufung der Einigungsstelle ist und die Einigungsstelle gemäß § 112 Abs. 2 Satz 2 BetrVG von jeder Seite angerufen werden kann, wenn es nicht zu einem Vermittlungsversuch kommt.185) Von größerer Bedeutung ist die in § 122 InsO geregelte Möglichkeit zur Beschleunigung 157 der Betriebsänderung im Insolvenzverfahren. Hiernach kann der Verwalter die Zustimmung des ArbG dazu beantragen, dass die Betriebsänderung durchgeführt wird, ohne dass das Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG vorangegangen ist. In der Eigenverwaltung obliegt diese Aufgabe dem Schuldner mit der Maßgabe, dass er hierfür die Zustimmung des Sachwalters bedarf (§ 279 Satz 3 InsO). Dieser Antrag kann bereits drei Wochen nach Verhandlungsbeginn oder schriftlicher Aufforderung des Betriebsrates zur Aufnahme von Verhandlungen gestellt werden. Dabei muss der Insolvenzverwalter weder die Vermittlung durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes versucht, noch zuvor die Einigungsstelle angerufen haben (§ 112 Abs. 2 BetrVG). Allerdings muss der Insolvenzverwalter den Be___________ 181) BAG, Urt. v. 19.11.2003 – 7 AZR 11/03, ZIP 2004, 426 = NZA 2004, 435. 182) BAG, Urt. v. 19.11.2003 – 7 AZR 11/03, ZIP 2004, 426 = NZA 2004, 435; vgl. auch Annuß/ Hohenstadt, NZA 2004, 420 ff. 183) BAG, Urt. v. 13.6.2019 – 6 AZR 459/18, NZA 2019, 1638. 184) So auch LAG Köln, Urt. v. 28.6.2018 – 7 Sa 794/17, NZI 2019, 47; a. A. Kreft in: MünchHdb. ArbR, § 115 Rz. 60 f. 185) Vgl. Fitting, BetrVG, §§ 112, 112a Rz. 27 ff.
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triebsrat nach § 111 Satz 1 BetrVG rechtzeitig und umfassend unterrichtet haben. Für den Beginn der Drei-Wochen-Frist ist entweder die Aufnahme tatsächlicher Beratungen der Betriebsparteien oder die schriftliche Aufforderung an den Betriebsrat zur Aufnahme der Beratungen entscheidend. 158 Werden Beratungen mit dem Betriebsrat aufgenommen, empfiehlt es sich, im gemeinschaftlich unterzeichneten Protokoll der ersten Sitzung festzuhalten, dass mit diesem Datum die Beratungen hinsichtlich des Abschlusses eines Interessenausgleiches und Sozialplanes begonnen wurden, um damit den Beginn der Drei-Wochen-Frist gemäß § 122 Abs. 1 InsO eindeutig zu bestimmen. Der Betriebsrat könnte anderenfalls behaupten, dass es sich bei diesem Termin nur um die Ankündigung demnächst aufzunehmender Verhandlungen gehandelt hat. Wird der Betriebsrat zur Aufnahme der Beratungen schriftlich aufgefordert, sollte das Aufforderungsschreiben dem Vorsitzenden des Betriebsrates gegen Empfangsbekenntnis ausgehändigt werden. 159 Zeichnet sich bereits im Vorfeld ein destruktives Verhalten des Betriebsrates ab, sollte der Betriebsrat vor dem ersten Sitzungstermin schriftlich zur Aufnahme von Beratungen aufgefordert werden. Zusammen mit dieser Aufforderung empfiehlt sich die schriftliche Unterrichtung über den Inhalt und den Umfang der vom Insolvenzverwalter geplanten Betriebsänderung unter Vorlage entsprechender Unterlagen an den Betriebsrat (siehe hierzu auch die Ausführungen zur Unterrichtung des Betriebsrates vor Massenentlassungsanzeige, Rz. 63 ff.). Der Zugang des Schreibens sollte durch ein Empfangsbekenntnis nachgewiesen werden können. 160 Versucht der Betriebsrat sodann erkennbar, den Beginn der Beratungen über die Betriebsänderung zu verzögern oder erklärt er gar dem Insolvenzverwalter, dass er nicht bereit sei, mit ihm über die geplante Betriebsänderung zu verhandeln, kann der Insolvenzverwalter drei Wochen nach Zugang des vorgenannten Schreibens das Scheitern der Verhandlungen erklären und das Verfahren vor der Einigungsstelle einleiten. 161 Das Fristende bestimmt sich nach § 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB. Sie endet mit dem Ablauf desjenigen Tages der dritten Woche, welcher dem Tag entspricht, an dem die Beratungen tatsächlich begonnen worden oder die schriftliche Aufforderung zur Beratung dem Betriebsrat zugegangen ist. Ist dieser letzte Tag der Frist ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag, tritt an dessen Stelle der nächste Werktag (§ 193 BGB). 162 Das Verfahren vor dem ArbG muss im beschleunigten Beschlussverfahren nach § 122 Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO nach Maßgabe des § 61a Abs. 3 – 6 ArbGG entschieden werden. Demnach gilt gemäß § 83 ArbGG der Untersuchungsgrundsatz. Das bedeutet, dass das ArbG den Sachverhalt zu erforschen hat, um entscheiden zu können, ob „[…] die wirtschaftliche Lage des Unternehmens auch unter Berücksichtigung der sozialen Belange der Arbeitnehmer erfordert, dass die Betriebsänderung ohne vorheriges Verfahren nach § 112 Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes durchgeführt wird.“ (Gesetzestext § 122 Abs. 2 Satz 1 InsO).
163 Im normalen Beschlussverfahren dürfte damit keine nennenswerte Beschleunigung zu erwarten sein. Entscheidet sich der Insolvenzverwalter zu einem Antrag gemäß § 122 InsO, sollte er den Weg des einstweiligen Verfügungsverfahrens (§ 85 Abs. 2 a ArbGG) wählen. Da § 122 Abs. 2 InsO generell auf die Vorschriften des ArbGG über das Beschlussverfahren verweist, dürfte der Erlass einer einstweiligen Verfügung nach § 85 Abs. 2 AGG zulässig sein.186) In der Literatur wird allerdings auch vertreten, dass eine solche einstweilige Verfügung nur in seltenen Ausnahmefällen möglich ist, da gegen das Verbot der Vorwegnahme ___________ 186) Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 121, 122 Rz. 90 ff.
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der Hauptsache verstoßen wird.187) Die einstweilige Verfügung soll dann zulässig sein, wenn anderenfalls die Einstellung des Verfahrens nach § 207 Abs. 1 InsO drohen würde, weil die Insolvenzmasse bei Durchführung des Hauptverfahrens soweit aufgezehrt wird, dass eine die Kosten des Verfahrens deckende Masse nicht mehr vorhanden wäre.188) Die Vorschrift des § 122 InsO soll aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur den Weg zur Einigungsstelle abkürzen (§ 121 InsO), sondern der Eilbedürftigkeit der Durchführung der Betriebsänderung Rechnung tragen. Die Eilbedürftigkeit darf dabei nicht nur in extremen Ausnahmefällen bejaht werden. Denn wenn bereits eine Einstellung des Insolvenzverfahrens mangels Masse nach § 207 Abs. 1 InsO droht, dürften die sich an das Verfahren gemäß § 122 InsO anschließenden Sozialplanverhandlungen als reine Formalität erweisen. Die Zustimmung des ArbG bewirkt, dass der Verwalter trotz Nichtabschlusses des Ver- 164 fahrens nach §§ 111 ff. BetrVG keinen Nachteilsausgleich gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG zahlen muss (§ 122 Abs. 1 Satz 2 InsO). Das ArbG entscheidet allerdings nicht, ob die Betriebsänderung zulässig ist, sondern lediglich wann mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen werden kann. Zudem bleibt die Pflicht zur Verhandlung und zum Abschluss eines Sozialplanes gemäß § 112 BetrVG auch nach Abschluss des Verfahrens gemäß § 122 InsO bestehen. Soll die Betriebsänderung im Interesse einer Erhaltungslösung zügig umgesetzt werden, 165 ist der sicherste Weg die Herstellung einer einvernehmlichen Regelung mit dem Betriebsrat. Umfassende, wenn auch zeitintensive Besprechungen mit dem Betriebsrat führen meist schneller zum Ziel als die vom Gesetzgeber vorgesehenen Beschlussverfahren, zumal mit den Informationen gegenüber dem Betriebsrat bereits im Eröffnungsverfahren begonnen werden kann. Unabhängig vom Antrag auf gerichtliche Zustimmung zur Durchführung der Betriebsände- 166 rung gemäß § 122 InsO hat der Insolvenzverwalter das Recht, einen besonderen Interessenausgleich nach § 125 InsO zustande zu bringen oder einen Feststellungsantrag nach § 126 InsO zu stellen (§ 122 Abs. 1 Satz 3 InsO). Die Bestimmung des § 122 Abs. 1 Satz 3 InsO, die das Recht des Insolvenzverwalters, einen 167 Interessenausgleich nach § 125 InsO zu schließen oder einen Feststellungsantrag nach § 126 InsO zu stellen, parallel zum Antrag an das ArbG auf Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung zulässt, gestattet dem Betriebsrat auch, das Einigungsstellenverfahren zur Herbeiführung eines Interessenausgleiches zu führen. Wegen der Möglichkeit, dass das ArbG den Antrag des Insolvenzverwalters nach § 122 InsO zurückweist, aber auch wegen der Wirkungen eines Interessenausgleiches mit Namensliste gemäß § 125 InsO (siehe hierzu Rz. 171 ff.), ist die Weiterverhandlung mit dem Betriebsrat dringend zu empfehlen. Stimmt das ArbG gemäß § 122 InsO zu, bevor der Insolvenzverwalter einen Interessenaus- 168 gleich mit Namensliste gemäß § 125 InsO mit dem Betriebsrat vereinbart hat, kann mit der Durchführung der Betriebsänderung, die im Regelfall mit betriebsbedingten Kündigungen verbunden ist, begonnen werden. Der Zustimmungsbeschluss hat Gestaltungswirkung und schließt Nachteilsausgleichsansprüche der betroffenen Arbeitnehmer nach § 113 Abs. 3 BetrVG aus. Der Betriebsrat hat keinen Anspruch auf Unterlassung der Betriebsänderung, wenngleich die Frage des Unterlassungsanspruchs des Betriebsrates in Rechtsprechung und Literatur ohnehin umstritten ist (siehe oben Rz. 51 ff.).
___________ 187) Giesen, ZIP 1998, 142. 188) Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 121, 122 Rz. 91; Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 122 Rz. 62.
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169 Kommt es nach Zustimmung des ArbG zur Durchführung der Betriebsänderung doch noch zum Abschluss eines Interessenausgleiches mit Namensliste gemäß § 125 InsO, ist fraglich, welche Rechtsfolgen dieser nachträglich zustande gekommene Interessenausgleich hat. § 122 Abs. 1 Satz 3 InsO enthält hierzu keine Regelung. Nach dem Wortlaut des § 125 InsO kann die dort geregelte Vermutungswirkung nur dann entstehen, wenn mit der Durchführung der Betriebsänderung im Zeitpunkt des Zustandekommens des besonderen Interessenausgleiches noch nicht begonnen wurde. In der Literatur wird angenommen, dass eine analoge Anwendung der Norm auf einen nachträglich zustande gekommenen Interessenausgleich wegen des Ausnahmecharakters dieser Norm ausscheidet.189) 170 Mit der Zustimmung des ArbG zur Durchführung der Betriebsänderung muss der Insolvenzverwalter entscheiden, ob er die Kündigungen ausspricht und Kündigungsschutzverfahren ohne die für ihn günstige Vermutungswirkung des § 125 InsO führt, oder aber das präventive Beschlussverfahren gemäß § 126 InsO einleitet (siehe Rz. 220 ff.). 3.2
Interessenausgleich nach § 125 InsO
171 Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren ist häufig nur dann gewährleistet, wenn gleichwohl Arbeitsplätze abgebaut und Arbeitnehmer entlassen werden. Oft sind Massenentlassungen unumgänglich. Um eine Betriebsfortführung nicht zu gefährden, muss der Insolvenzverwalter schnell Sicherheit erlangen können, ob das Unternehmen nach Durchführung der Änderungsmaßnahmen fortgeführt und ggf. auf einen potentiellen Erwerber übertragen werden kann, der genau wissen muss, welche Arbeitsverhältnisse mit dem Betrieb gemäß § 613a BGB auf ihn übergehen werden. Langwierige Kündigungsschutzprozesse stehen dem entgegen. 172 Im Interessenausgleich wird mit dem Betriebsrat vereinbart, ob, wann und wie die Betriebsänderung durchgeführt wird. 173 Der Rechtscharakter des Interessenausgleichs ist umstritten. Das BAG definiert ihn als „kollektive Vereinbarung besonderer Art“, deren Rechtsqualität nicht abschließend geklärt sei und nicht als zweiseitigen Vertrag zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.190) Der Interessenausgleich ist keine Betriebsvereinbarung i. S. des § 77 Abs. 4 BetrVG. Er entfaltet nur dann normative Wirkung auf Einzelarbeitsverhältnisse, wenn die Betriebsparteien dies eindeutig und unmissverständlich vereinbaren und den Interessenausgleich als Betriebsvereinbarung qualifizieren. Den Verwalter trifft keine Pflicht, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen. Ein solcher Interessenausgleich ist jedoch in jedem Fall empfehlenswert (siehe Rz. 175, 201 ff.). Der Interessenausgleich mit Namensliste ersetzt gemäß § 125 Abs. 2 InsO die Stellungnahme des Betriebsrates. In diesem Fall genügt die Beifügung des Interessenausgleiches. Dies gilt selbst dann, wenn der Interessenausgleich keine Bekundungen des Betriebsrates zu den Beratungen mit dem Arbeitgeber enthält.191) Kommt ein Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 Abs. 1 InsO nicht zustande, wird die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen in Kündigungsschutzverfahren nach den Grundsätzen des KSchG geprüft. (§ 1 KSchG). Das Angebot des Insolvenzverwalters/Sachwalters, einen Interessenausgleich zu verhandeln, umfasst zudem auch konkludent das Beratungsgebot nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG.192) ___________ 189) Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 121, 122 Rz. 79. 190) BAG, Urt. v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, Rz. 24, NZA 2012, 1058 – unter Verw. auf BAG, Beschl. v. 3.5.2006 – 1 ABR 15/05, Rz. 27, NZA 2007, 1245; ebenso BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 28, ZIP 2012, 1822 = NZA 2011, 1029; a. A. Uhlenbruck/Zobel, InsO, § 125 Rz. 7, 9. 191) BAG, Urt. v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, Rz. 15, NZA 2012, 1058. 192) LAG Niedersachsen, Urt. v. 26.2.2015 – 5 SA 1318/14, ZIP 2015, 1604 = ZInsO 2015, 1065.
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Ein Interessenausgleich ohne Namensliste kann mangels gesetzlicher Anordnung die 174 Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht ersetzen, aber eine im Interessenausgleich integrierte Stellungnahme des Betriebsrates ist möglich, da die Stellungnahme nicht im eigenen Dokument abgegeben werden muss.193) Kommt ein Interessenausgleich gemäß § 125 Abs. 1 InsO i. V. m. §§ 112, Abs. 1 – 3, 111 175 BetrVG zustande, können die Prozessrisiken erheblich eingeschränkt werden, da bei wirksamem Abschluss eines solchen Interessenausgleiches x
vermutet wird, dass die Kündigung der Arbeitsverhältnisse durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO),
x
die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten und insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden kann,
x
sich die Vermutung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 auch darauf erstreckt, dass im Falle eines Betriebsübergangs nach Verfahrenseröffnung die Kündigung der Arbeitsverhältnisse nicht wegen des Betriebsübergangs erfolgt (§ 128 Abs. 2 InsO).
x
die Zuordnung der einzelnen Arbeitnehmer zu einem bestimmten Betrieb oder Betriebsteil bei einer Betriebsteilung ebenfalls nur auf grobe Fehlerhaftigkeit geprüft wird (§ 323 Abs. 2 UmwG analog)
Kommt bei einer Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG ein Interessenausgleich mit 176 Namensliste gemäß § 125 Abs. 1 InsO zustande, muss der Insolvenzverwalter in einem Kündigungsschutzverfahren zunächst lediglich darlegen x
dass der Interessenausgleich wegen einer Betriebsänderung wirksam zustande gekommen ist,
x
der Arbeitnehmer wegen dieser Betriebsänderung gekündigt wurde, und
x
der Arbeitnehmer in diesem Interessenausgleich auf der Namensliste, die Bestandteil des Interessenausgleiches ist, namentlich genannt ist.
3.2.1 Zustandekommen des Interessenausgleiches 3.2.1.1
Voraussetzungen
Voraussetzung für die Verpflichtung des Insolvenzverwalters zum Versuch eines Interessen- 177 ausgleiches ist, dass der Betriebsrat zu dem Zeitpunkt besteht, zu welchem mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen werden soll. Ein erst während der Durchführung der Betriebsänderung gewählter Betriebsrat kann weder den Versuch eines Interessenausgleiches noch den Abschluss eines Sozialplanes verlangen. Dagegen hängen die Beteiligungsrechte des Betriebsrates nach § 111 BetrVG nicht davon ab, ob der Betriebsrat bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits bestand.194) Das LAG Köln vertritt jedoch die Auffassung, dass auch dann, wenn ein Betriebsrat erstmalig gewählt wird, nachdem die Betriebsänderung bereits begonnen hat, eine Einigungsstelle zur Errichtung eines Sozialplanes nicht offensichtlich unzuständig ist und übt damit Kritik an der Rechtsprechung des BAG v. 22.10.1991.195) Das BAG hatte bereits 1991 entschieden, dass keine Sozialplanpflicht besteht, wenn kein Interessenausgleich abgeschlossen werden konnte, da in diesem Fall der Anknüpfungspunkt für die Sozialplanpflicht nicht gegeben sei196) (zur Sozialplanpflicht siehe auch Rz. 275 ff.). ___________ 193) 194) 195) 196)
BAG, Urt. v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, Rz. 17 ff., NZA 2012, 1058. BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, ZIP 2004, 235 = NZA 2004, 220. LAG Köln, Beschl. v. 5.3.2007 – 2 TaBV 10/07, ArbuR 2007, 395 = BeckRS 2007, 43861. BAG, Beschl. v. 22.10.1991 – 1 ABR 17/91, BeckRS 1991, 30738989.
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§ 26
Teil V Einzelfragen
Auch wenn dem Insolvenzverwalter bekannt sein sollte, dass im schuldnerischen Unternehmen Betriebsratswahlen vorbereitet werden, hindert dies ihn nicht an der Durchführung der Betriebsänderung, wenn im Zeitpunkt des Beginns der Durchführung der Betriebsänderung der Betriebsrat noch nicht konstituiert ist. Der Insolvenzverwalter ist also nicht verpflichtet, mit der Betriebsänderung zu warten, bis sich ein Betriebsrat konstituiert hat.197) 3.2.1.2
Zuständige Betriebsparteien
178 Nur der Insolvenzverwalter, nicht aber der vorläufige Insolvenzverwalter, ist berechtigt, einen Interessenausgleich gemäß § 125 InsO abzuschließen.198) 179 Auch in der Eigenverwaltung gemäß § 270f InsO darf der Interessenausgleich erst nach Verfahrenseröffnung abgeschlossen werden, wenn die Vermutungswirkung des § 125 InsO genutzt werden soll. 180 Auch im Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO, welches mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens (entweder unter Anordnung der Eigenverwaltung oder als Regelverfahren) endet, gleichwohl aber auch nach Verfahrenseröffnung umgangssprachlich weiter als Schutzschirmverfahren bezeichnet wird, darf der Interessenausgleich mit der Vermutungswirkung nach § 125 InsO erst nach Verfahrenseröffnung abgeschlossen werden. Dies bedeutet, dass der Insolvenzplan bereits vor Unterzeichnung des Interessenausgleiches bei Gericht eingereicht wird und in diesem daher umfangreich dargelegt werden muss, aus welchen Gründen der geplante Personalabbau auch umsetzbar ist. Ob ggf. der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Schuldner geschlossene Interessenausgleich mit Namensliste nach Verfahrenseröffnung in der Eigenverwaltung von ihm genehmigt werden kann, um somit rückwirkend die Vermutungswirkung des § 125 InsO zu entfalten, ist umstritten (siehe hierzu Rz. 188 ff.) 181 Wurde im schuldnerischen Unternehmen ein Gesamtbetriebsrat gewählt, ist zu prüfen, ob dieser evtl. entsprechend den Regelungen der §§ 50, 59 BetrVG für die Verhandlungen zum Interessenausgleich zuständig ist. Nach § 50 Abs. 1 BetrVG i. V. m. § 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist eine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung mit dem Gesamtbetriebsrat zu vereinbaren, wenn sich die geplante Maßnahme auf alle oder mehrere Betriebe auswirkt und deshalb einer einheitlichen Regelung bedarf. Dies kann i. R. einer Betriebsfortführung bei Zusammenlegung von Betrieben der Fall sein.199) Der betriebsübergreifende Regelungsbedarf bestimmt sich nach der vom Insolvenzverwalter geplanten Maßnahme. Liegt ein unternehmenseinheitliches Konzept vor, ist der Interessenausgleich mit dem Gesamtbetriebsrat zu vereinbaren.200) 182 Wird ein geplanter Personalabbau auf der Grundlage eines unternehmenseinheitlichen Konzeptes durchgeführt und sind mehrere Betriebe von der Betriebsänderung betroffen, ist der Gesamtbetriebsrat nach § 50 Abs. 1 BetrVG originär zuständig für den Abschluss eines betriebsübergreifenden Interessenausgleiches mit Namensliste i. S. von § 125 InsO. Der Interessenausgleich mit Namensliste ersetzt in einem solchen Fall die Stellungnahme des Gesamtbetriebsrates nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG.201) 183 Der Gesamtbetriebsrat kann gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 BetrVG auch für betriebsratslose Betriebe zuständig sein, sofern er gemäß § 50 Abs. 1 BetrVG für die Behandlung von An___________ 197) 198) 199) 200)
Richardi-Annuß, BetrVG, § 111 Rz. 27. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, Rz. 25, ZIP 2012, 1822 = NZA 2021, 1029. BAG, Urt. v. 24.1.1996 – 1 AZR 542/95, ZIP 1996, 1391 = NZA 1996, 1107. BAG, Urt. v. 20.4.1994 – 10 AZR 186/93, ZIP 1994, 1466; BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498. 201) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32.
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
gelegenheiten, die das Gesamtunternehmen oder mehrere Betriebe betreffen, originär zuständig ist. Ein mit dem unzuständigen Betriebsrat abgeschlossener Interessenausgleich ist unwirksam.202) 184 Bestehen Zweifel, ob der Einzelbetriebsrat oder der Gesamtbetriebsrat zuständig ist, muss der Arbeitgeber die in Betracht kommenden Gremien zur Klärung der Zuständigkeitsfrage auffordern. Einigen sich die Gremien auf die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates, ist dieser in der Regel schon deshalb der richtige Verhandlungspartner, weil dann zumindest eine Beauftragung des Gesamtbetriebsrates nach § 50 Abs. 2 BetrVG anzunehmen ist.203) Einigen sich die Gremien auf die Zuständigkeit eines oder mehrerer Einzelbetriebsräte, ist 185 die Einigung allerdings rechtlich nicht bindend, falls tatsächlich die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates gegeben wäre, da das Gesetz in diesem Fall eine entsprechende Delegation nicht vorsieht.204) Verhandelt der Insolvenzverwalter mit dem unzuständigen Betriebsrat, ist der Interessenausgleich unwirksam, allerdings ist dem Insolvenzverwalter nicht der fehlende Versuch einer Vereinbarung vorzuwerfen, wenn er zuvor mit den in Betracht kommenden Betriebsvertretungen die Zuständigkeitsfrage klären wollte und im Ergebnis dessen sich die Gremien entweder auf den unzuständigen Betriebsrat geeinigt haben oder keine Einigung herbeigeführt werden konnte. Nachteilsausgleichsansprüche gemäß § 113 BetrVG dürften dann zumindest ausgeschlossen sein.205) 3.2.1.3
Erfordernis einer Betriebsänderung
Die Anwendung des § 125 Abs. 1 InsO setzt voraus, dass der Interessenausgleich wegen 186 einer bestimmten Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG abgeschlossen wird. Die Vermutungswirkung gilt nicht, wenn der Interessenausgleich abgeschlossen wird, weil den Arbeitnehmern aus Gründen, die keine Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG darstellen, gekündigt werden soll. Ebenso wenig gilt die Vermutungswirkung bei Abschluss eines Interessenausgleiches in Betrieben mit weniger als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern oder wenn nur ein geringer Personalabbau geregelt werden soll, der noch keine Betriebsänderung darstellt, weil er unterhalb der Werte gemäß § 17 Abs. 1 KSchG liegt. Die Schwelle der Sozialplanpflichtigkeit nach § 112a BetrVG muss allerdings nicht überschritten werden.206) Siehe auch Rz. 281. Die Vermutungswirkung des § 125 InsO gilt nicht bei lediglich freiwillig abgeschlossenen 187 Interessenausgleichen.207) 3.2.1.4
Zeitpunkt
Der Interessenausgleich mit Namensliste muss vor Ausspruch der Kündigung zustande 188 gekommen sein. Würde man Betriebsrat und Insolvenzverwalter die Möglichkeit eröffnen, bereits ausgesprochene Kündigungen durch einen nachträglichen Interessenausgleich zu sanktionieren, führe dies zu Rechtsunsicherheit und eröffnete zudem die Möglichkeit, vom Arbeitgeber geschaffene Fakten nachträglich zu sanktionieren.208) ___________ 202) Vgl. BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498. 203) BAG, Urt. v. 24.1.1996 – 1 AZR 542/95, ZIP 1996, 1391 = NZA 1996, 1107; kritisch hierzu: RichardiAnnuß, BetrVG, § 50 Rz. 48; beachte auch sie Ausführungen des BAG zum Gebot der Rechtsquellenklarheit BAG, Urt. v. 19.11.2019 – 3 AZR 127/18, Rz. 23, NZA 2020, 452. 204) BAG, Urt. v. 24.1.1996 – 1 AZR 542/95, unter II. 1. b), ZIP 1996, 1391 = NZA 1996, 1107. 205) So auch Richardi-Annuß, BetrVG, § 50 Rz. 48. 206) Gallner in: ErfK, § 125 InsO Rz. 3; Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 17. 207) Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 18. 208) Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 11.
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§ 26
Teil V Einzelfragen
189 Häufig verlangt der Betriebsrat zeitgleich mit dem Abschluss des Interessenausgleiches die Unterzeichnung eines Sozialplanes, um der Belegschaft nicht nur den im Interessenausgleich geregelten Stellenabbau erklären zu müssen, sondern auch Abfindungszahlungen oder die Errichtung einer Transfergesellschaft in Aussicht stellen zu können. Betriebsräte meinen schon mal, mit der Forderung nach zeitgleichem Abschluss eines Sozialplanes ein Druckmittel zu haben, wenn der Insolvenzverwalter einen Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 InsO beabsichtigt. Allerdings wird dabei die Beschränkung der Sozialplanhöhe gemäß § 123 InsO übersehen, ebenso wie die Tatsache, dass unter den Voraussetzungen des § 112a BetrVG ein Sozialplan erzwingbar ist, ein Interessenausgleich jedoch nicht (siehe hierzu auch Rz. 275 ff.). 190 Der Betriebsrat sollte bereits zu Beginn der Interessenausgleichsverhandlungen über die gesetzlichen Beschränkungen zur Höhe des Sozialplanes im Insolvenzverfahren informiert werden. Gleichzeitig sollte dem Betriebsrat mitgeteilt werden, dass der Insolvenzverwalter bereit ist, bereits im Interessenausgleich die Höhe des geplanten Sozialplanvolumens zu regeln. Dies erleichtert die weiteren Verhandlungen mit dem Betriebsrat, insbesondere zur Namensliste. 191 Der Interessenausgleich muss nach Verfahrenseröffnung abgeschlossen werden, wenn der Insolvenzverwalter die Vermutungswirkung des § 125 InsO für sich nutzen will. Vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und damit auch im Eröffnungsverfahren findet § 125 InsO keine Anwendung209) (siehe Rz. 178 ff.). 192 Der ggf. im Eröffnungsverfahren vom Schuldner mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters geschlossene Interessenausgleich mit Namensliste entfaltet allerdings die Wirkung nach § 1 Abs. 5 KSchG und bietet damit ebenfalls weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten.210) Ob allerdings der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschlossene Interessenausgleich mit Namensliste vom Insolvenzverwalter nach der Eröffnung genehmigt werden kann und in diesem Fall rückwirkend auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung die Vermutungswirkung des § 125 InsO entfaltet, ist höchstrichterlich nicht entschieden. Nach Auffassung von Mückl/Krings soll ein vom vorläufigen Verwalter abgeschlossener Interessenausgleich nach § 125 InsO vom endgültigen Verwalter zumindest mittels ausdrücklicher Genehmigung, die auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung zurückwirken soll, „gerettet“ werden können.211) Auch mit Urteil vom 28.6.2012 hat das BAG die Beantwortung dieser Frage dahinstehen lassen.212) Bis zur Beantwortung dieser Frage durch das BAG muss dem Insolvenzverwalter dringend empfohlen werden, nach Verfahrenseröffnung einen neuen Interessenausgleich gemäß § 125 InsO abzuschließen. Dies ist nicht zeitaufwendig, wenn die Interessenausgleichsverhandlung im Eröffnungsverfahren soweit vorbereitet wird, dass diese in nur einer weiteren Besprechung mit dem Betriebsrat zum Abschluss gebracht und der Interessenausgleich unterzeichnet werden kann. 193 Das BAG hat allerdings mit Urteil vom 14.5.2020 entschieden, dass die dortige Schuldnerin (Air Berlin) berechtigt war, i. R. der vorläufigen Eigenverwaltung die Stilllegung des Unternehmens zu beschließen und dass sich der später bestellte Insolvenzverwalter diese Stilllegungsentscheidung zu eigen machen und umsetzen kann.213)
___________ 209) 210) 211) 212) 213)
LAG Hamm, Urt. v. 22.5.2002 – 2 SA 1560/01, NZA-RR 2003, 378 = ZInsO 2002, 1104. Vgl. Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 108. Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 111; s. a. Caspers in: MünchKomm-InsO, Vorb. §§ 113 – 128 Rz. 30. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. BAG, Urt. v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, Rz. 94 ff., NZA 2020, 1091.
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme 3.2.1.5
§ 26
Anforderungen an die Namensliste
Voraussetzung für die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO ist, dass die 194 zu kündigenden Arbeitnehmer im schriftlich abgeschlossenen Interessenausgleich namentlich genannt sind. Aus der Namensliste muss eindeutig hervorgehen, welcher Arbeitnehmer gemeint ist. Es empfiehlt sich daher, Vor- und Nachnamen anzugeben. Bei Namensidentitäten sollten die Abteilungen, in denen die Arbeitnehmer beschäftigt sind und ggf. auch das Geburtsdatum der Arbeitnehmer hinzugefügt werden. Der Interessenausgleich ist schriftlich niederzulegen und vom Insolvenzverwalter und 195 Betriebsrat zu unterschreiben (§ 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Das Schriftformerfordernis des Insolvenzverwalters erstreckt sich auch auf die Namensliste214)Da gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO die zu kündigenden Arbeitnehmer „im“ Interessenausgleich namentlich zu bezeichnen sind, ist es erforderlich, die Arbeitnehmer entweder im Text des Interessenausgleiches zu benennen, oder die Namensliste als Anlage zum Interessenausgleich mit Bezugnahme auf den Interessenausgleich gesondert zu unterschreiben. Eine einheitliche Urkunde von Interessenausgleich und getrennt erstellter Namensliste kann vorliegen, wenn der von den Betriebsparteien unterschriebene Interessenausgleich auf die zu erstellende Namensliste Bezug nimmt und die von den Betriebsparteien unterzeichnete Namensliste ihrerseits eindeutig auf den Interessenausgleich (rück-)verweist.215) Wird die nicht unterschriebene Namensliste als Anlage zum Interessenausgleich beigefügt, sind beide Dokumente fest zu verbinden.216) Wird die Namensliste z. B. mittels Heftmaschine fest mit dem Interessenausgleich verbunden, muss sie nicht ausdrücklich als Anlage zum Interessenausgleich bezeichnet werden.217) Allerdings muss die Namensliste dann bereits vor der Unterzeichnung fest mit dem Interessenausgleich verbunden werden, damit eine Gesamturkunde erkennbar ist. Das Zusammenheften der nicht unterschriebenen Namensliste mit dem Interessenausgleich erst nach dessen Unterzeichnung ist nicht ausreichend.218) Eine Verbindung der nicht unterschriebenen Namensliste mit dem Interessenausgleich mittels Büroklammer ist nicht ausreichend, da zur Wahrung des Schriftformerfordernisses erkennbar sein muss, dass die Verbindung von Interessenausgleich und Namensliste endgültig und dauerhaft gewollt ist. Eine Verbindung durch Büroklammer kann jederzeit ohne Substanzzerstörung aufgehoben werden.219) Die Unterzeichnung des Interessenausgleiches auf dem letzten Blatt der Vertragsurkunde ist ausreichend.220) Allerdings muss die Unterschrift unter der letzten Textzeile stehen. Auch wenn der überwiegende Teil der Belegschaft gekündigt werden muss und nur eine 196 sehr geringe Anzahl der Arbeitnehmer im fortzuführenden Betrieb verbleiben sollte, ist es dringend erforderlich, in der Namensliste die zu kündigenden und nicht die im Unternehmen verbleibenden Arbeitnehmer zu benennen. Der Wortlaut des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO ist insoweit eindeutig, denn es wird gefordert, dass die zu entlassenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnet werden. Praktikabilitätsgründe sind dabei unerheblich.221) Auch die Stilllegung ganzer Abteilungen oder eines Betriebsteiles erfordert die namentliche Benennung der einzelnen zu kündigenden Arbeitnehmer, wenn die Vermutungswirkung nach § 125 InsO nicht entfallen soll. ___________ 214) 215) 216) 217) 218) 219) 220) 221)
BAG, Urt. v. 12.5.2010 – 2 AZR 551/08, ZIP 2011, 539 = BeckRS 2010, 74033. BAG, Urt. v. 12.5.2010 – 2 AZR 551/08, 2. OS, ZIP 2011, 539 = BeckRS 2010, 74033. BAG, Urt. v. 6.7.2006 – 2 AZR 520/05, NZA 2007, 266 = ZIP 2006, 2329. BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, ZIP 1998, 1885. BAG, Urt. v. 6.7.2006 – 2 AZR 520/05, NZA 2007, 266 = ZIP 2006, 2329. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 26. LAG Hamm, Urt. v. 23.3.2000 – 4 SA 1554/99, ZInsO 2000, 571. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 24.
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§ 26
Teil V Einzelfragen
197 Die Namensliste muss in einem Interessenausgleich vereinbart sein. Zwar ist es zulässig und üblich, Interessenausgleich und Sozialplan in einer Urkunde nieder zu legen und diese ggf. auch nur als Sozialplan zu bezeichnen, allerdings ist eine Ausdehnung des § 125 auf Sozialpläne, die durch den Spruch der Einigungsstelle festgelegt worden sind, nicht zulässig, da der Interessenausgleich nicht erzwingbar ist (§ 112 Abs. 4 Satz 1 BetrVG).222) Zu beachten ist außerdem, dass es sich bei der Verteilungsliste des Sozialplanes und der Entlassungsliste des § 125 InsO um unterschiedliche und nicht vergleichbare Namenslisten handelt.223) 198 Um ganz sicher zu gehen, sollte im Text des Interessenausgleiches auf die Namensliste und in der Namensliste auf den Interessenausgleich verwiesen, beide Dokumente vor der Unterzeichnung mittels Heftmaschine fest verbunden und danach beide Dokumente auf jeder Seite paraphiert und auf der jeweils letzten Seite unter der letzten Textzeile unterschrieben werden. 199 Teil-Namenslisten oder „partielle Namenslisten“ lösen nur dann die Vermutungswirkung nach § 125 InsO aus, wenn die Betriebsänderung in mehreren Stufen erfolgen soll und für jede Stufe eine eigene (Teil-)Namensliste aufgestellt wird, die dann aber alle von einer Kündigung bedrohten Arbeitnehmer der jeweiligen Stufe benennt.224) Nicht entschieden wurde, ob eine Namensliste i. S. von § 125 InsO auch dann mit der entsprechenden Vermutungswirkung geschlossen werden kann, wenn sich die Betriebsparteien namentlich nur auf einen Teil der zur Entlassung vorgesehenen Beschäftigten einigen konnten und deshalb weitere Verhandlungen geplant sind.225) 200 Das BAG hat diese Frage auch im Urteil vom 26.3.2009 offengelassen, aber entschieden, dass ein Interessenausgleich noch „zeitnah“ (hier sechs Wochen) um die Namensliste ergänzt werden kann.226) 3.2.2 Wirkung des Interessenausgleiches mit Namensliste 3.2.2.1
Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse
201 Gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 wird vermutet, dass die Kündigung der Arbeitsverhältnisse der im Interessenausgleich namentlich bezeichneten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist. Trotz dieses Wortlautes spricht der Gesetzeszweck des § 125 dafür, die Vermutungswirkung auch auf das Fehlen von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten in anderen Betrieben des Unternehmens zu erstrecken.227) Dies gilt jedenfalls dann, wenn i. R. der Interessenausgleichsverhandlungen mit dem Betriebsrat erörtert wurde, ob anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Betrieben des Unternehmens bestehen. Vorsorglich sollte das Ergebnis dieser Prüfung im Interessenausgleich dargelegt werden.228) Die Vermutungsregel des § 125 InsO erfasst auch die fehlende Beschäftigungsmöglichkeit zu veränderten Bedingungen, wenngleich der Wortlaut in § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nur fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten zu „unveränderten Arbeitsbedingungen“ nennt.229) ___________ 222) 223) 224) 225) 226) 227) 228) 229)
Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 28. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 29. BAG, Urt. v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, NZA 2006, 64 (LS) = BeckRS 2004, 40629. BAG, Urt. v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, unter C. III. 5., NZA 2006, 64 (LS) = BeckRS 2004, 40629 – zu § 1 Abs. 5 KSchG. BAG, Urt. v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151. Vgl. auch BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. BAG, Urt. v. 6.9.2007 – 2 AZR 715/06, NZA 2008, 633. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 30 ff.; BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, NZA 2013, 797 (Weiterentwicklung der Rspr. des BAG zur Reichweite der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO: BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387).
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
Die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO ändert die allgemeine Beweis- 202 lastregel. Der Insolvenzverwalter hat zunächst lediglich darzulegen, dass die Kündigung aufgrund einer Betriebsänderung erfolgte, wegen der ein Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen wurde, in welchem der gekündigte Arbeitnehmer namentlich benannt ist und welcher schriftlich niedergelegt wurde. Hat der Insolvenzverwalter dies dargelegt, wird vermutet, dass ein dringendes betriebliches Erfordernis besteht. Die Vermutung ist allerdings durch den Arbeitnehmer widerlegbar. Es gilt § 292 Abs. 1 ZPO (§ 46 Abs. 2 Satz 1 AGG). Die Vermutung kann nur durch Beweis des Gegenteils beseitigt werden. Der Arbeitnehmer muss dabei aber substantiierten Sachvortrag leisten, der das dringende betriebliche Erfordernis ausschließt und nicht nur in Zweifel zieht.230) Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich die Betriebsänderung und die von den Betriebsparteien vorgenommene Sozialauswahl aus dem prozessualen Vorbringen des Kündigenden oder aus dem Interessenausgleich selbst ergeben müssen. Kann in Ermangelung dessen der gekündigte Arbeitnehmer die Vermutungswirkung nicht widerlegen und die grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nicht darlegen, ist eine auf einen Interessenausgleich mit Namensliste nach § 125 InsO gestützte Kündigung wirksam. Eine bloße Erschütterung der Vermutung reicht nicht aus.231) 3.2.2.2
Sozialauswahl
Gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nur 203 im Hinblick auf x
die Dauer der Betriebszugehörigkeit,
x
das Lebensalter und
x
die Unterhaltspflichten insoweit auch nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden.
Während sich die Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter der Arbeitnehmer 204 auch im Insolvenzverfahren schnell ermitteln lassen, entstehen bei der Feststellung der Unterhaltspflichten immer wieder Schwierigkeiten. Bei einem Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 InsO kann sich die Berücksichtigung von unterhaltspflichtigen Kindern auf diejenigen beschränken, die aus der (elektronischen) Lohnsteuerkarte entnommen werden können. Dagegen darf die Gewährung von Familienunterhalt gemäß § 1360 BGB nicht gänzlich außer Betracht bleiben.232) Vorsorglich sollten die Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Sozialdaten befragt werden (siehe hierzu Rz. 216). Grob fehlerhaft ist eine Sozialauswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer 205 Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede Ausgewogenheit vermissen lässt.233) Bei der Gewichtung der sozialen Daten Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten besteht keine Rangfolge. Dem Insolvenzverwalter bleibt insoweit ein Wertungsspielraum. Die Sozialauswahl ist jedoch dann grob fehlerhaft, wenn eines der Auswahlkriterien vollständig außer Acht gelassen wird.234) Grob fehlerhaft ist die Sozialauswahl auch dann, wenn bei der Bestimmung des Kreises 206 der vergleichbaren Arbeitnehmer die Austauschbarkeit offensichtlich verkannt wird oder ___________ 230) BAG, Urt. v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, ZIP 2007, 2136; BAG, Urt. v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, NZA 2009, 1023. 231) BAG, Urt. v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, NZA 2013, 595. 232) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, NZA 2012, 1090. 233) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, NZA 2013, 94 = BeckRS 2012, 75601; BAG, Urt. v. 21.9.2006 – 2 AZR 284/06, BeckRS 2007, 44268 m. w. N.; BAG, Urt. v. 17.1.2008 – 2 AZR 405/06, DB 2008, 1688. 234) BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120.
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§ 26
Teil V Einzelfragen
bei der Anwendung des Ausnahmetatbestandes des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG (keine Einbeziehung von Arbeitnehmern in die Sozialauswahl, deren Weiterbeschäftigung wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur im berechtigten betrieblichen Interesse liegt) die betrieblichen Interessen augenfällig überdehnt worden sind.235) 207 Vergleichbar sind die Arbeitnehmer, die austauschbar sind. Die Austauschbarkeit bestimmt sich in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, d. h. nach der ausgeübten Tätigkeit. Die Notwendigkeit einer kurzen Einarbeitungszeit steht der Vergleichbarkeit nicht entgegen, allerdings muss der Arbeitgeber berechtigt sein, den Arbeitnehmer einseitig, d. h. im Wege seines Direktionsrechtes, auf einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen bzw. zu versetzen, um von einer arbeitsvertraglichen Austauschbarkeit sprechen zu können. 208 Eine Sozialauswahl, die infolge der Verkennung des Betriebsbegriffs durchgeführt wurde, ist nur dann grob fehlerhaft, wenn im Interessenausgleich der Betriebsbegriff selbst grob verkannt worden ist, seine Fehlerhaftigkeit also „ins Auge springt“. Auch bei Abschluss eines Interessenausgleiches mit Namensliste gemäß § 125 InsO können die Betriebsparteien den Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer über die Definition des Betriebsbegriffs im Interessenausgleich nicht enger oder weiterziehen, als es das Kündigungsschutzgesetz zulässt. Die gesetzlichen Grundbedingungen der Sozialauswahl stehen nicht zur Disposition der Betriebspartner.236) 209 Auch ein mangelhaftes Auswahlverfahren kann zu einem richtigen Auswahlergebnis führen, weshalb die Sozialauswahl in diesem Fall nicht unwirksam ist.237) 210 Die soziale Auswahl ist zudem nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder sogar erst geschaffen wird. Die im Insolvenzverfahren eröffnete Möglichkeit, über einen Interessenausgleich mit Namensliste eine ausgewogene Personalstruktur zu schaffen, ist mit dem Antidiskriminierungsrecht der EU vereinbar.238) Dem Insolvenzverwalter ist es damit gemäß § 125 InsO nicht nur möglich, die vorhandene Personalstruktur zu erhalten (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG), sondern es steht ihm frei, bei der Prüfung der Fortführungsaussichten von einer Personalstruktur auszugehen, die mit der Durchführung der Betriebsänderung erst geschaffen wird. Gerade in insolventen Unternehmen ist häufig eine überalterte Personalstruktur anzutreffen, da vorangegangene Rationalisierungsmaßnahmen meist zur Kündigung der jüngeren Belegschaft geführt haben. Um für diese Betriebe einen Investor zu finden, ist es zumeist nicht ausreichend, die vorhandene Personalstruktur lediglich zu sichern. Aus § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO geht jedoch nicht hervor, wie eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird.239) Ein im Allgemeininteresse liegendes legitimes Ziel aus dem Bereich der Sozialpolitik, das die Benachteiligung älterer Arbeitnehmer durch eine Altersgruppenbildung rechtfertigt, liegt auch dann vor, wenn die Sozialauswahl nach Altersgruppen dazu dienen soll, den Betrieb aus der Insolvenz heraus verkaufsfähig zu machen.240) 211 Der Begriff der Personalstruktur ist nicht identisch mit dem der Altersstruktur. Bei der Erhaltung bzw. Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur dürfen weitere Aspekte ___________ 235) BAG, Urt. v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, ZIP 2006, 774. 236) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, NZA 2013, 94 = BeckRS 2012, 75601; BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, Rz. 26, ZIP 2013, 2476 = NZA 2014, 46. 237) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, NZA 2013, 94 = BeckRS 2012, 75601; BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, Rz. 26, ZIP 2013, 2476 = NZA 2014, 46. 238) BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, ZIP 2014, 536 = NZA 2014, 909, dazu EWiR 2014, 295 (Mückl). 239) S. hierzu ausführlich Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 77 – 104. 240) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, 2. OS, NZA 2012, 1090.
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
wie Ausbildung und Qualifikation, Funktionsfähigkeit eingespielter Arbeitsgruppen berücksichtigt werden.241) In der Praxis wird die Personalstruktur im Wesentlichen durch die Bildung von Altersgruppen bei der Sozialauswahl erhalten oder geschaffen.242) Dabei ist zu beachten, dass die Bildung von Altersgruppen auch bei einem Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 InsO grob fehlerhaft sein kann, wenn diese Altersgruppen in völlig wahllos getroffenen Zeitsprüngen gebildet werden und der Schluss naheliegt, dass sie nur gebildet wurden, um bestimmte Arbeitnehmer wegen ihrer ansonsten zu berücksichtigenden Sozialdaten nicht kündigen zu müssen. Der Insolvenzverwalter kann in diesem Fall aber auch die Regelung des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG nutzen, wonach er Arbeitnehmer, die über besondere Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen verfügen, nicht in die Sozialauswahl einbeziehen muss, wenn deren Weiterbeschäftigung im Betrieb im berechtigten betrieblichen Interesse liegt.243) Auch bei der Herausnahme von sog. Leistungsträgern gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG 212 findet der Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Anwendung.244) Der Insolvenzverwalter muss allerdings konkret darlegen und beweisen, welche konkreten Erwägungen zur Herausnahme des Leistungsträgers geführt haben. Eine schlagwortartige Bezeichnung der besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten ist dafür jedoch nicht ausreichend. Es reicht nicht, dass die Weiterbeschäftigung einzelner Arbeitnehmer bloß vorteilhaft oder nützlich ist.245) Der Insolvenzverwalter kann mit dem Betriebsrat allerdings auch Auswahlrichtlinien über 213 die Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte vereinbaren (§ 1 Abs. 4 KSchG). Dies gilt auch beim Abschluss eines Interessenausgleiches mit Namensliste gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO. Die Betriebsparteien haben bei der Festlegung der Auswahlrichtlinien einen sehr weiten Gestaltungsspielraum, sofern sie sich an den Vorgaben des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG orientieren und dabei nicht eines der genannten Sozialkriterien völlig außer Acht lassen.246) Zudem ist es möglich, von einer evtl. zuvor vereinbarten Auswahlrichtlinie beim Abschluss des Interessenausgleiches mit Namensliste abzuweichen, ohne dass deshalb die Sozialauswahl grob fehlerhaft wäre. Setzen sich die Betriebsparteien in einem bestimmten Punkt gemeinsam über die Auswahlrichtlinie hinweg, ist die Namensliste zumindest dann maßgeblich, wenn Interessenausgleich und Auswahlrichtlinie von denselben Betriebsparteien stammen.247) Das BAG hat allerdings offengelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Betriebsparteien nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO vereinbaren können, die Altersstruktur zu verbessern.248) Weitere als die in § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO genannten Sozialauswahlkriterien (Betriebszu- 214 gehörig, Lebensalter und Unterhaltspflichten) sollten von den Betriebsparteien nicht berücksichtigt werden, wenn der Prüfungsmaßstab auf die grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt bleiben soll. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Kündigung schwerbehinderter ___________ 241) BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, Rz. 49, NZA-RR 2014, 185. 242) Vgl. zum Erhalt der vorhandenen Altersstruktur BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, Rz. 29 ff., NZA 2012, 1090. 243) Zu den Maßstäben für eine ausgewogene Altersstruktur vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 125 Rz. 86 ff. 244) LAG Köln, Urt. v. 10.5.2005 – 1 Sa 1510/04, ZIP 2005, 1524; BAG, Urt. v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, ZIP 2006, 774. 245) Vgl. dazu im Einzelnen LAG Niedersachsen, Urt. v. 30.6.2006 – 10 Sa 1816/05, openJur 2012, 44478; BAG, Urt. v. 10.2.1999 – 2 AZR 716/98, NJW 1999, 3796 = NZA 1999, 702. 246) BAG, Urt. v. 18.10.2006 – 2 AZR 473/05, NZA 2007, 504; s. a. Rspr.-Änderung zur Sozialauswahl anhand Punktesystem – Ende der Domino-Theorie bei betriebsbedingter Kündigung, BAG, Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549. 247) BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, ZIP 2013, 2476 = NZA 2014, 46. 248) BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, 5. OS, ZIP 2013, 2476 = NZA 2014, 46.
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Menschen. Die Schwerbehinderung ist – anders als bei § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG – nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kein Kriterium bei der ohnehin eingeschränkten Nachprüfung der Sozialauswahl.249) Es steht den Betriebsparteien allerdings frei, schwerbehinderte Menschen aus dem auswahlrelevanten Personenkreis herauszunehmen. Ob der Insolvenzverwalter die Zustimmung zur Kündigung schwerbehinderter Menschen beantragt, liegt in seinem Ermessen. Er darf den Sonderkündigungsschutz akzeptieren.250) Nach LAG Hamm ist es rechtlich zulässig, dass der Insolvenzverwalter bei einigen schwerbehinderten Arbeitnehmern die Zustimmung zur Kündigung beantragt und bei anderen dagegen nicht, ohne dass dies gerichtlich überprüft werden kann.251) 215 Die Sozialauswahl darf nicht objektiv falsch sein, d. h. der Insolvenzverwalter muss die richtigen Sozialdaten kennen und darf sich dabei nicht nur auf Informationen durch den Betriebsrat, den Personalleiter oder die Buchhaltung verlassen. In Anbetracht dessen, dass für Sozialplanverhandlungen und damit auch die Durchführung der Sozialauswahl nach Verfahrenseröffnung meist wenig Zeit bleibt, ist es ratsam, dass bereits der vorläufige Insolvenzverwalter bei sich abzeichnenden Personalmaßnahmen jeden Arbeitnehmer konkret nach seinen aktuellen Sozialdaten befragt. Dies klingt zunächst aufwendig, kann jedoch durch folgenden Fragebogen kurzfristig umgesetzt werden. Fragebogen zu den Sozialdaten
216 1. Name: 2. Geburtsdatum:
3. Betriebszugehörigkeit seit: … 4. Familienstand: ledig/verheiratet/geschieden/verwitwet 5. Anzahl der unterhaltsberechtigten Kinder:
Ƒ ja
6. Vorliegen einer Schwerbehinderung
Ƒ nein
wenn ja: Grad der Behinderung: … % Gleichstellung beantragt: Gleichstellung festgestellt: 7. Schwerbehinderung beantragt, die noch nicht rechtskräftig entschieden wurde:
Ƒ ja Ƒ ja Ƒ ja
wenn ja: Datum des Antrags: Datum des Widerspruchs: 8. Schwangerschaft: 9. Erziehungsurlaub:
Ƒ ja Ƒ ja
Ƒ nein Ƒ nein
wenn ja: Dauer des Erziehungsurlaubes: Datum, Unterschrift:
___________ 249) BAG, Urt. v. 16.5.2019 – 6 AZR 329/18, Rz. 40, NZA 2019, 1198. 250) LAG Hamm, Urt. v. 6.7.2000 – 4 Sa 233/00, ZInsO 2001, 336 = BeckRS 2000, 30785685. 251) LAG Hamm, Urt. v. 6.7.2000 – 4 Sa 233/00, ZInsO 2001, 336 = BeckRS 2000, 30785685.
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Ƒ nein Ƒ nein Ƒ nein
Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG hat der Arbeitnehmer zwar grundsätzlich hin- 217 sichtlich der Frage nach der Schwerbehinderteneigenschaft ein „Recht zur Lüge“ und braucht diese auch bei der Einstellung nicht zu offenbaren. Nach einem Urteil des BAG vom 16.2.2012 besteht hiervon jedoch eine Ausnahme, wenn zulässigerweise nach der Schwerbehinderteneigenschaft gefragt wurde und hierauf wahrheitswidrige Angaben gemacht worden sind. Für die Frage des Insolvenzverwalters nach der Schwerbehinderung besteht jedenfalls dann, wenn das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate besteht, ein berechtigtes Interesse, wenn die Frage im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer betriebsbedingten Kündigung steht, da vor einer Kündigung bei der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG die Schwerbehinderung und der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX zu beachten ist.252) Bei wahrheitswidriger Beantwortung der rechtmäßig gestellten Frage nach der Schwerbehinderung ist es dem Arbeitnehmer unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens verwehrt, sich auf seine Schwerbehinderteneigenschaft im Kündigungsschutzprozess zu berufen. Es liegt dann der Fall einer unzulässigen Rechtsausübung vor.253) Ein Punkteschema für die soziale Auswahl ist gemäß § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungs- 218 pflichtig.254) Lässt der Insolvenzverwalter das mit dem Betriebsrat vereinbarte Punkteschema unbeachtet, kann die Sozialauswahl grob fehlerhaft sein. Die Betriebsparteien können Auswahlrichtlinien i. S. von § 1 Abs. 4 Var. 2 KSchG bei späterer oder schon bei zeitgleicher Gelegenheit – etwa bei Abschluss eines Interessenausgleiches mit Namensliste – ändern. Setzen sie sich in einem bestimmten Punkt gemeinsam über die Auswahlrichtlinie hinweg, ist die Namensliste zumindest dann maßgeblich, wenn Interessenausgleich und Auswahlrichtlinie von denselben Betriebsparteien stammen (siehe Rz. 213). Ein Punkteschema für die soziale Auswahl ist auch dann eine nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG mitbestimmungspflichte Auswahlrichtlinie, wenn der Arbeitgeber es nicht generell auf alle künftigen betriebsbedingten Kündigungen, sondern nur auf konkret bevorstehende Kündigung anwenden will. Das Punktesystem einer Auswahlrichtlinie muss keine individuelle Abschlussprüfung des Arbeitgebers vorsehen. Der Arbeitgeber braucht neben den in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ausdrücklich bezeichneten Grunddaten keine weiteren Gesichtspunkte berücksichtigen.255) § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO gilt nicht, soweit sich die Sachlage nach Zustandekommen des 219 Interessenausgleiches wesentlich geändert hat. Eine wesentliche Änderung der Sachlage liegt z. B. vor, wenn eine ursprünglich entschiedene Betriebsstilllegung, die zu einem Interessenausgleich geführt hat, nicht umgesetzt wird, weil ein Interessent gefunden wurde, der einen reorganisierten Betrieb übernimmt. Nicht wesentlich hingegen sind Einzelfalländerungen, die z. B. dazu führen, dass einzelne Arbeitnehmer, die auf der Namensliste genannt sind, nicht mehr gekündigt werden müssen, weil z. B. andere Arbeitnehmer den Betrieb durch Eigenkündigung verlassen256) oder einzelne Maschinen entgegen ursprünglicher Überlegungen außer Betrieb genommen werden wird. Wesentlich ist eine Änderung der Sachlage dann, wenn die Betriebsparteien in Kenntnis dieser Sachlage einen Interessenausgleich mit anderem Inhalt abgeschlossen hätten. Die Änderung der Sachlage muss jedoch vor dem Ausspruch der Kündigung eingetreten sein.257) Ändert sich die Sachlage nach Ausspruch der Kündigungen, kann ein Wiedereinstellungsanspruch bestehen.258) ___________ 252) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 6 AZR 553/10, ZIP 2012, 1572 = NZA 2012, 155. 253) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 6 AZR 553/10, ZIP 2012, 1572 = NZA 2012, 155. 254) BAG, Beschl. v. 26.7.2005 – 1 ABR 29/04, NZA 2005, 1372; BAG, Urt. v. 6.7.2006 – 2 AZR 443/05, NZA 2007, 197. 255) BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, ZIP 2013, 2476 = NZA 2014, 46, dazu EWiR 2014, 125 (Dahlbender); vgl. auch BAG, Urt. v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13, NZA 2015, 1122. 256) BAG, Urt. v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, NZA 2009, 1023. 257) BAG, Urt. v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, NZA 2006, 64 (LS) = BeckRS 2004, 40629. 258) BAG, Urt. v. 21.2.2001 – 2 AZR 39/00, ZIP 2001, 1825.
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§ 26 3.3
Teil V Einzelfragen Beschlussverfahren nach § 126 InsO
220 Besteht im Betrieb der Insolvenzschuldnerin kein Betriebsrat oder kommt es innerhalb von drei Wochen nach Verhandlungsbeginn mit dem Betriebsrat oder schriftlicher Aufforderung an den Betriebsrat zur Aufnahme von Verhandlungen nicht zum Abschluss eines Interessenausgleiches nach § 125 Abs. 1 InsO (Interessenausgleich mit Namensliste), obwohl der Verwalter den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend nach § 111 BetrVG informiert hat, so kann der Insolvenzverwalter beim ArbG beantragen festzustellen, dass die Kündigung der namentlich genannten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und sozial gerechtfertigt ist. In der Eigenverwaltung obliegt diese Aufgabe dem Schuldner mit der Maßgabe, dass er hierfür der Zustimmung des Sachwalters bedarf (§ 279 Satz 3 InsO). 221 Der Insolvenzverwalter kann den Antrag gemäß § 126 InsO auch dann stellen, wenn die geplante Betriebsänderung erst nach einer Betriebsveräußerung durchgeführt werden soll. In diesem Fall ist der Erwerber des Betriebes am Verfahren nach § 126 InsO zu beteiligen (§ 128 Abs. 1 InsO). 222 Die soziale Auswahl der Arbeitnehmer kann dabei gemäß § 126 Abs. 1 Satz 2 InsO nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten nachgeprüft werden. Die Überprüfung ist allerdings nicht auf grobe Fehlerhaftigkeit begrenzt. 223 Das Verfahren vor dem ArbG ist im Wege des Beschlussverfahrens zu führen. Beteiligte des Verfahrens sind der Insolvenzverwalter, der Betriebsrat und die namentlich bezeichneten Arbeitnehmer, soweit sie nicht mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder mit den geänderten Arbeitsbedingungen einverstanden sind. Zwar gilt der Untersuchungsgrundsatz (Ermittlung des Sachverhaltes von Amts wegen), das Gericht kann allerdings an den Sachvortrag anknüpfen und ist nicht zur „uferlosen Ermittlungstätigkeit ins Blaue“ verpflichtet.259) 224 Der Insolvenzverwalter muss somit wie in einem Kündigungsschutzverfahren zum Grund der Kündigung und zur Sozialauswahl umfassend vortragen, da nach § 1 Abs. 2 KSchG geprüft wird. Die Vermutungswirkung aus § 125 InsO gilt nicht. Es gilt allerdings die Leistungsträgerklausel aus § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG (in die soziale Auswahl sind Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung – nicht Schaffung! – einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt) und die Erleichterung durch kollektivrechtliche Vereinbarungen aus § 1 Abs. 4 KSchG (ist in einem Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG oder in einer entsprechenden Richtlinie nach den Personalvertretungsgesetzen festgelegt, wie die sozialen Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so kann die Bewertung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden). 225 Sonstige Unwirksamkeitsgründe, wie z. B. die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates, werden nicht geprüft, wenngleich sich das empfehlen würde, um einen späteren Kündigungsschutzprozess, der sich wegen der Bindungswirkung des § 127 InsO nur auf sonstige Unwirksamkeitsgründe stützen kann, eventuell zu vermeiden.260) 226 Hat der Insolvenzverwalter wegen der Zustimmung des ArbG gemäß § 122 InsO die Arbeitnehmer gekündigt und diese Kündigungsschutzklage vor dem ArbG erhoben, so ist die rechtskräftige Entscheidung im Verfahren nach § 126 InsO für die Parteien bindend. ___________ 259) Germelmann/Matthes/Prütting-Matthes/Spinner, ArbGG, § 83 Rz. 83 – 85. 260) Ahrendt in: HambKomm-InsO, § 126 Rz. 16.
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
Das Kündigungsschutzverfahren ist ggf. bis zur Rechtskraft im Verfahren nach § 126 InsO auszusetzen (siehe auch Rz. 229). Umstritten ist, ob der Insolvenzverwalter das Beschlussverfahren zum Kündigungsschutz 227 auch dann einleiten kann, wenn weniger als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer im Unternehmen beschäftigt sind. Das BAG hat diese Frage bislang nicht beantwortet.261) In der Literatur wird einerseits darauf hingewiesen, die Vorschrift setze voraus, dass ein Interessenausgleich nach § 125 InsO nur im Falle einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG und damit nur in Unternehmen mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern abgeschlossen werden kann.262) Andererseits wird vertreten, dass der Antrag nach § 126 InsO ohne Rücksicht auf die Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer gestellt werden kann, da der Wortlaut des § 126 InsO auch ausdrücklich den betriebsratslosen Betrieb erfasse.263) Der ersten Auffassung ist zu folgen, da in § 126 InsO auf die Regelung des § 125 Abs. 1 InsO Bezug genommen wird, wonach eine Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG geplant sein muss. Betriebsänderungen gemäß § 111 BetrVG sind nur solche, die in Betrieben mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern durchgeführt werden sollen. Auch diese Unternehmen können, ungeachtet ihrer Arbeitnehmerzahl, betriebsratslos sein. In der Antragsschrift des Insolvenzverwalters nach § 126 InsO ist u. a. auch die Kündi- 228 gungsbefugnis darzulegen. Die Kündigungsberechtigung ist durch das BAG zur Voraussetzung einer wirksamen Antragstellung erhoben worden.264) Wird ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und dem Schuldner gleichzeitig ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt, geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO). Damit gehen zwingend auch die Arbeitgeberstellung und die Kündigungsbefugnis auf den sog. „starken“ vorläufigen Verwalter über. Dass der vorläufige „starke“ Insolvenzverwalter in die Arbeitgeberstellung mit den entsprechenden Kompetenzen einrückt, führt jedoch nicht zur Anwendbarkeit der Normen der §§ 113, 120 ff. InsO. Von der Spezialregelung dieser Normen kann nur der Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung Gebrauch machen.265) Die arbeitsrechtlichen Vorschriften der InsO (§§ 113, 120 – 122, 125 – 128) stehen im 3. Teil der InsO unter „Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens“. Nach der Systematik der InsO gelten sie demgemäß nur ab der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nicht für das Eröffnungsverfahren. Auch fehlt – im Gegensatz zu § 279 InsO für den Schuldner im Fall der Eigenverwaltung – in den Vorschriften für den vorläufigen Insolvenzverwalter ein ausdrücklicher Verweis auf diese Normen.266) Antragsberechtigt sind damit allein der Insolvenzverwalter oder in der Eigenverwaltung der Schuldner mit Zustimmung des Sachwalters (§ 279 InsO) nach Verfahrenseröffnung. Das Beschlussverfahren nach § 126 InsO kann aber der Feststellung dienen, dass die ggf. im vorläufigen Insolvenzverfahren ausgesprochenen Kündigungen wirksam sind, vorausgesetzt, der vorläufige Insolvenzverwalter war kündigungsberechtigt (z. B. durch Einzelermächtigung des schwachen vorläufigen Verwalters durch das Insolvenzgericht). Der Insolvenzverwalter kann das spezielle Beschlussverfahren nach § 126 InsO zum 229 Kündigungsschutz sowohl für beabsichtigte als auch bereits ausgesprochene Kündigungen nutzen.267) Dass der Insolvenzverwalter zunächst die Kündigungen aussprechen darf ___________ 261) 262) 263) 264) 265) 266) 267)
BAG, Beschl. v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, ZIP 2000, 1588 = NZA 2000, 1180. Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 126, 127 Rz. 7, 8 m. w. N. Vgl. Gallner in: ErfK, § 126 InsO Rz. 1. BAG, Beschl. v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, ZIP 2000, 1588 = NZA 2000, 1180 ff. Vgl. BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352. BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352. BAG, Beschl. v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, ZIP 2000, 1588 = NZA 2000, 1180.
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und abwarten kann, welche Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erheben, bevor er den Antrag nach § 126 InsO stellt, ergibt sich auch aus § 127 Abs. 2 InsO, wonach der Kündigungsausspruch zumindest vor Rechtskraft der Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 126 InsO vorausgesetzt wird. Hieraus wird allerdings nicht abzuleiten sein, dass der Insolvenzverwalter zunächst das Verfahren nach § 126 InsO einleiten muss, bevor er die Kündigungen aussprechen darf. Der Gesetzgeber will dem Insolvenzverwalter eine weitere Möglichkeit geben, in einem vom Gericht beschleunigt durchzuführenden Verfahren die soziale Rechtfertigung mehrerer Kündigungen, die aufgrund einer Betriebsänderung notwendig werden, prüfen zu lassen. Zudem widerspräche es den allgemeinen Grundsätzen der Verfahrensökonomie, wäre der Verwalter zunächst gehalten, das Verfahren nach § 126 InsO hinsichtlich aller ausgesprochenen Kündigungen einzuleiten, bevor ihm überhaupt bekannt ist, ob und welche Arbeitnehmer beabsichtigen, Kündigungsschutzklage zu erheben. Eine weitere Antragsvoraussetzung ist die fehlgeschlagene Interessenausgleichsverhandlung. Es kommt allerdings nicht darauf an, warum kein Interessenausgleich zustande gekommen ist. Der Insolvenzverwalter muss jedoch nachweisen, dass bei Vorhandensein eines Betriebsrates dieser rechtzeitig und umfassend nach § 111 Satz 1 BetrVG über die beabsichtigte Betriebsänderung unterrichtet wurde und dass innerhalb von drei Wochen nach tatsächlichem Verhandlungsbeginn oder schriftlicher Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen kein Interessenausgleich nach § 125 Abs. 1 InsO zustande gekommen ist. Der Insolvenzverwalter kann das Verfahren nach § 126 InsO somit auch dann führen, wenn lediglich ein Interessenausgleich ohne Namensliste geschlossen wurde.268) Auch in § 126 InsO wird die Verpflichtung des Insolvenzverwalters wiederholt, den Betriebsrat „rechtzeitig und umfassend zu unterrichten“. Der Betriebsrat muss also auch nach dieser Vorschrift die Möglichkeit haben, auf das „Ob“ und das „Wie“ der geplanten Betriebsänderung Einfluss zu nehmen. Hinsichtlich der Form der Unterrichtung und des Ablaufs der Drei-Wochen-Frist kann auf die Ausführungen zu § 122 InsO verwiesen werden (siehe Rz. 157 ff.) Tritt der Insolvenzverwalter in die Verhandlungen mit dem Betriebsrat ein, die entweder bereits der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter oder der Schuldner vor Verfahrenseröffnung begonnen haben, und haben diese vorangegangenen Verhandlungen im Eröffnungsverfahren bereits länger als drei Wochen gedauert, kann er unmittelbar die Zustimmung des ArbG zur vorzeitigen Durchführung der Betriebsänderung nach § 122 Abs. 1 InsO beantragen bzw. das präventive Kündigungsschutzverfahren nach § 126 Abs. 1 InsO einleiten. Zudem wird hinsichtlich des Ablaufs der Drei-Wochen-Frist nicht auf den Zeitpunkt der Einleitung des Beschlussverfahrens, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung im Beschlussverfahren abgestellt (§ 83 ArbGG).269) Gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 InsO bleibt das Recht des Insolvenzverwalters, einen Interessenausgleich nach § 125 InsO zustande zu bringen oder einen Feststellungsantrag nach § 126 InsO zu stellen, unberührt. Dies bedeutet, dass der Insolvenzverwalter nach dem Willen des Gesetzgebers das Verfahren nach § 126 InsO zeitgleich mit dem Verfahren auf gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung einleiten kann. Grundsätzlich ist die Reihenfolge der Verfahren nach §§ 122 und 126 InsO beliebig austauschbar. Da die Wirksamkeit der Kündigungen, die Gegenstand des Verfahrens nach § 126 InsO sind, nicht von dem ordnungsgemäßen Versuch eines Interessenausgleiches abhängen, muss das Verfahren nach § 122 InsO nicht dem Verfahren nach § 126 InsO vorausgehen.270) ___________ 268) Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 126, 127 Rz. 10. 269) Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 126, 127 Rz. 13. 270) Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 122 Rz. 65, § 126 Rz. 33.
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Betriebsverfassungsrechtliche und tarifrechtliche Probleme
§ 26
Da nach § 127 InsO das präventive Kündigungsschutzverfahren gemäß § 126 InsO auch 234 für zu diesem Zeitpunkt bereits ausgesprochene Kündigungen geführt werden kann, bleibt es dem Insolvenzverwalter unbenommen, zeitgleich mit dem Antrag auf gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung die vorgesehenen Kündigungen auszusprechen. Es verbleibt jedoch das nicht zu vernachlässigende Risiko, dass das ArbG den Antrag des Insolvenzverwalters nach § 122 InsO auf Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen nach § 112 BetrVG zurückweist. Hat in diesem Fall der Insolvenzverwalter die Kündigungen bereits ausgesprochen, ohne dass ein Interessenausgleich zustande gekommen ist, drohen Nachteilsausgleichsansprüche gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG.271) Will der Insolvenzverwalter Nachteilsausgleichsansprüche der Arbeitnehmer verhindern, 235 sollte die gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung gemäß § 122 InsO abgewartet werden, um nicht zu riskieren, dass auch bei erfolgreichem Beschlussverfahren nach § 126 InsO die Kündigungen verfrüht ausgesprochen wurden und Nachteilsausgleichsansprüche begründen. 3.4
Bindungswirkung nach § 127 InsO
Erhebt ein im Verfahren nach § 126 InsO beteiligter Arbeitnehmer Kündigungsschutz- 236 klage, so sind die Feststellungen des Beschlussverfahrens für die Parteien des Kündigungsschutzrechtsstreites bindend, sofern sich die Sachlage nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung nicht wesentlich geändert hat, § 127 Abs. 1 InsO (siehe unten Rz. 240). Der im Antrag nach § 126 InsO benannte Arbeitnehmer ist von Amts wegen am Verfahren 237 zu beteiligen (§ 83 ArbGG). Wird er aufgrund eines Verfahrensfehlers nicht beteiligt, ist die Entscheidung aufzuheben, andernfalls kann wegen fehlenden rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) auch keine Bindungswirkung eintreten.272) Die Bindungswirkung nach Absatz 1 umfasst sowohl positive als auch negative Feststel- 238 lungen des Gerichtes. Wird im Beschlussverfahren festgestellt, dass die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, werden im individuellen Kündigungsschutzprozess weder die Betriebsbedingtheit noch die Sozialauswahl geprüft. Die Kündigungsschutzklage kann somit nur auf sonstige Unwirksamkeitsgründe (Nichtzustimmung des Integrationsamtes bei Schwerbehinderung, Missachtung des Mutterschutzes oder Erziehungsurlaubes, nicht ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates) gestützt werden. Hat das ArbG hingegen im Beschlussverfahren entschieden, dass die beantragte Kündigung 239 nicht sozial gerechtfertigt ist, wird sich der Insolvenzverwalter daran auch im individuellen Kündigungsschutzverfahren festhalten lassen müssen, sofern er keine wesentliche Änderung der Sachlage vortragen kann. Die Bindungswirkung entfällt, wenn sich die Sachlage vor Ausspruch der Kündigung 240 wesentlich geändert hat. Wesentlich ist die Änderung dabei nur, wenn sich die Gesamtlage geändert hat. Dies kann z. B. eintreten, wenn die vom Insolvenzverwalter geplante Betriebsfortführung im Wege der Reorganisation nicht mehr möglich ist, aber gleichzeitig ein potentieller Erwerber gefunden wurde. Die Bindungswirkung entfällt allerdings nur, wenn im Zeitpunkt der Änderung der Sachlage die Kündigung noch nicht ausgesprochen war, da für die Beurteilung der Rechtswirksamkeit der Kündigung immer auf den Zeitpunkt der Kündigungserklärung abzustellen ist.273) ___________ 271) Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 126, 127 Rz. 14. 272) Vgl. auch Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 127 Rz. 17. 273) St. Rspr., so z. B. BAG, Urt. v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, ZIP 1997, 122 = NZA 1997, 251; BAG, Urt. v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, Rz. 52, NZA 2016, 35.
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§ 26
Teil V Einzelfragen
241 Im Falle eines Betriebsübergangs gilt die Bindungswirkung für den individuellen Kündigungsschutzprozess auch für den Erwerber (§ 128 Abs. 1 Satz 1 InsO), wenn er die Kündigungen ausspricht. Die Bindungswirkung erstreckt sich dann auch auf die Feststellung des Beschlussverfahrens, dass die Kündigung nicht wegen des Betriebsübergangs i. S. des § 613a BGB erfolgt ist (§ 128 Abs. 2 InsO).274) Will der Arbeitnehmer geltend machen, dass die beabsichtigte oder bereits ausgesprochene Kündigung wegen des Betriebsübergangs gemäß § 613a Abs. 4 BGB unwirksam ist, muss er diese Einwendungen bereits im Beschlussverfahren erheben.275) 242 Hat der Arbeitnehmer die Kündigung bereits vor der Rechtskraft der Entscheidung des Beschlussverfahrens nach § 126 InsO erhalten und Kündigungsschutzklage erhoben, so wird die Verhandlung über die Kündigungsschutzklage auf Antrag des Verwalters bis zum Abschluss des Beschlussverfahrens nach § 126 InsO ausgesetzt (§ 127 Abs. 2 InsO). Dieser Antrag ist dem Insolvenzverwalter dringend zu empfehlen, da er anderenfalls Gefahr läuft, in beiden Verfahren unterschiedliche Entscheidungen zu erlangen. Ihm bleibt dann nur die Möglichkeit einer Restitutionsklage nach § 580 Abs. 6 ZPO.276) 3.5
Betriebsänderung ohne Interessenausgleich
243 Lediglich in den Fällen, in denen im Betrieb der Insolvenzschuldnerin und auch im Unternehmen weniger als 21 wahlberechtigte Arbeitnehmer (Kopfzahl) beschäftigt werden oder ein Betriebsrat vor Beginn der Durchführung der Betriebsänderung nicht gewählt wurde, kann der Insolvenzverwalter sanktionslos die Betriebsänderung durchführen, ohne zuvor einen Interessenausgleich schließen zu müssen (siehe Rz. 41 ff.). 244 Ist der Insolvenzverwalter jedoch gemäß §§ 111, 112 BetrVG zur Beratung mit dem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleiches verpflichtet, muss er mit empfindlichen Sanktionen rechnen, wenn er die geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben (§ 113 Abs. 3 BetrVG) oder von dem geschlossenen Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund abweicht (§ 113 Abs. 1 BetrVG) und die Arbeitnehmer infolge der Abweichung vom Interessenausgleich andere wirtschaftliche Nachteile erleiden (§ 113 Abs. 2 BetrVG). 3.6
Der Nachteilsausgleich
245 Die Vorschrift des § 113 BetrVG gilt auch im Insolvenzverfahren. Weicht der Insolvenzverwalter im Laufe des Verfahrens von einem geschlossenen Interessenausgleich ab oder unterlässt er den Versuch des Abschlusses eines Interessenausgleiches, haben die von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer ggf. einen individual-rechtlichen Nachteilsausgleichsanspruch. Bei der Vorschrift des § 113 BetrVG handelt es sich um eine Sanktionsnorm, die betriebsverfassungsrechtliche Rechte des Betriebsrates sichern soll. Als Sanktionsmittel werden allerdings nicht dem Betriebsrat, sondern den Arbeitnehmern individualrechtliche Ausgleichsansprüche eingeräumt, welche unabhängig vom Verschulden des Insolvenzverwalters und damit ggf. auch unabhängig von Ansprüchen aus einem abgeschlossenen Sozialplan bestehen.277)
___________ 274) 275) 276) 277)
Ahrendt in: HambKomm-InsO, § 127 Rz. 5. Ahrendt in: HambKomm-InsO, § 127 Rz. 5; Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 126, 127 Rz. 43 ff. Ahrendt in: HambKomm-InsO, § 127 Rz. 6; Gallner in: ErfK, § 127 InsO Rz. 5. Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 1 ff.
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§ 26
3.6.1 Abweichung von einem Interessenausgleich Gemäß § 113 Abs. 1 BetrVG führt aber nicht jede Abweichung von einem Interessen- 246 ausgleich zu Sanktionen. Bestehen zwingende Gründe für den Insolvenzverwalter, von der geplanten Betriebsänderung abzuweichen, kann dies ggf. ohne die gesetzliche Sanktion des § 113 BetrVG erfolgen. Als zwingende Gründe kommen allerdings nur nachträglich entstandene oder erkennbar gewordene Umstände in Betracht.278) Es müssen zudem zwingende und nicht nur wichtige Gründe vorliegen. Ein zwingender Grund wird dann zu bejahen sein, wenn es dem Insolvenzverwalter nach Treu und Glauben nicht mehr möglich ist, an der Vereinbarung festzuhalten, ihm insbesondere zur Abwendung drohender Gefahren praktisch keine andere Wahl bleibt (z. B. Insolvenz eines Hauptkunden, Verlust von Großaufträgen, Kündigung eines Massekredits).279) Der Insolvenzverwalter ist darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass ein zwingender 247 Grund für die Abweichung von dem geschlossenen Interessenausgleich besteht. Die Abweichung vom Interessenausgleich muss nicht zwingend mit einer neuen Betriebs- 248 änderung verbunden sein, weshalb auch nicht zwingend ein neuer Interessenausgleich abzuschließen ist. Neue Interessenausgleichsverhandlungen werden jedoch dann erforderlich, falls sich der Insolvenzverwalter statt zur geplanten Betriebsfortführung doch noch zu einer Stilllegung entschließt.280) Keine Abweichung vom Interessenausgleich liegt allerdings vor, wenn der Insolvenzverwalter die geplante Betriebsänderung schließlich unterlässt, was allerdings in der Praxis selten vorkommen dürfte. Sollten sich nach Abschluss des Interessenausgleiches Umstände ergeben, die eine Abwei- 249 chung vom Interessenausgleich erfordern, sollte vorsorglich mit dem Betriebsrat erneut verhandelt und ein neuer Interessenausgleich zur Ablösung des alten Interessenausgleiches vereinbart werden. 3.6.2 Unterbliebener Versuch eines Interessenausgleiches Gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG steht der unterbliebene Versuch eines Interessenausgleiches 250 dem Abweichen vom Interessenausgleich gleich. Führt der Insolvenzverwalter ohne ausreichenden Versuch eines Interessenausgleiches die Betriebsänderung durch und erleiden die hierdurch entlassenen Arbeitnehmer wirtschaftliche Nachteile, tritt die Sanktionswirkung des § 113 BetrVG ein. Der Insolvenzverwalter muss, um einen „hinreichenden Versuch“ eines Interessenausgleiches nachweisen zu können, alle Möglichkeiten einer Einigung über den Interessenausgleich ausschöpfen. Das Gesetz verpflichtet den Insolvenzverwalter – wie jeden Arbeitgeber –, mit dem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleiches mit dem ernsthaften Willen einer Verständigung zu beraten. Der Betriebsrat muss in diesen Beratungen die Möglichkeit haben, Alternativen zu der 251 geplanten Betriebsänderung vorzuschlagen und der Insolvenzverwalter muss sich darauf einlassen und damit argumentativ auseinandersetzen. Daher setzen die Verhandlungen über einen Interessenausgleich eine hinreichend bestimmte, in Einzelheiten bereits absehbare Maßnahme voraus, deren Durchführung der Insolvenzverwalter anstrebt. Dazu müssen Art und Umfang der Betriebsänderung bekannt sein, denn deren Gestaltung soll der zuständige Betriebsrat gezielt beeinflussen können. Hierfür sieht § 111 BetrVG i. V. m. § 112 BetrVG ein gestuftes Verfahren vor. Es beginnt mit der Information des Betriebsrates über die geplante Betriebsänderung und setzt sich fort mit den Beratungen der Betriebsparteien ___________ 278) Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 8. 279) Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 8. 280) Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 10.
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Teil V Einzelfragen
über deren Einzelheiten und deren Durchführung. Es endet nach § 112 Abs. 2 Satz 2 BetrVG mit der Anrufung der Einigungsstelle, falls die Betriebsparteien keine Einigung über den Interessenausgleich erzielen können281) (zum Versuch siehe auch Rz. 148, zu Beginn der Betriebsänderung siehe auch Rz. 48). 252 Können sich Insolvenzverwalter und Betriebsrat nicht auf einen Interessenausgleich verständigen, kann der Insolvenzverwalter entweder unmittelbar die Einigungsstelle anrufen (ohne den Vermittlungsversuch des Präsidenten des Landesarbeitsamtes, § 121 InsO) oder die Zustimmung des ArbG beantragen, dass die Betriebsänderung durchgeführt werden kann, ohne dass das Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG vorangegangen ist (§ 122 InsO). § 122 InsO eröffnet dem Insolvenzverwalter daher die Möglichkeit, nach dreiwöchigen ergebnislosen Verhandlungen über einen Interessenausgleich Betriebsänderungen durchzuführen, ohne die Einigungsstelle anzurufen, wenn er zuvor die Zustimmung des ArbG eingeholt hat. Das Gericht hat nach § 122 Abs. 2 InsO den Antrag vorrangig zu erledigen und die Zustimmung zu erteilen, wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens unter Berücksichtigung der sozialen Belange der Arbeitnehmer die Durchführung der Betriebsänderung ohne vorheriges Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG erfordert (siehe Rz. 155 ff.). 253 Hat der Insolvenzverwalter die Interessenausgleichsverhandlungen zugleich mit dem Ziel des Abschlusses eines Interessenausgleiches gemäß § 125 Abs. 1 aufgenommen (was empfehlenswert ist, siehe Rz. 175 ff.), kann er im Falle des Scheiterns dieser Verhandlungen gemäß § 126 InsO beim ArbG beantragen festzustellen, dass die Kündigungen der im Antrag benannten Arbeitsverhältnisse durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und sozial gerechtfertigt sind. 254 Diese vorgenannten Vorschriften regeln die Abweichungen vom ansonsten einzuhaltenden Beteiligungsverfahren, die wegen der Besonderheiten der Insolvenz geboten sind, abschließend.282) 255 Der Insolvenzverwalter sollte zeitgleich mit seinem Antrag beim ArbG gemäß § 122 InsO die Einigungsstelle anrufen. Sollte das ArbG die Zustimmung zur Betriebsänderung versagen, kann ggf. das eingeleitete Einigungsstellenverfahren kurzfristig zu einem Erfolg führen. 3.6.3 Entstehung des Nachteilsausgleichsanspruchs 256 Der Anspruch entsteht, sobald der Insolvenzverwalter mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit einem Betriebsrat versucht zu haben. 257 Nach ständiger Rechtsprechung beginnt der Unternehmer mit der Durchführung einer Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft.283) Nach der Rechtsprechung des LAG Berlin-Brandenburg kann die Durchführung auch mit einer unwiderruflichen Freistellung der Arbeitnehmer beginnen.284) In dem entschiedenen Fall hatte der Insolvenzverwalter nach einer Stilllegungsentscheidung die Interessenausgleichsverhandlungen aufgenommen und noch vor Unterzeichnung des Interessenausgleiches alle Arbeitnehmer der Betriebsstätte unwiderruflich von der Pflicht zur Erbringung von Arbeitsleistungen freigestellt. Nach Auffassung des LAG Berlin___________ 281) BAG, Urt. v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/14, Rz. 28, NZA 2017, 1618. 282) BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, unter I. 2. b) aa), NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. 283) BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93; BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, ZIP 2004, 235 = NZA 2004, 220; BAG, Urt. v. 22.11.2005 – 1 AZR 407/04, NZA 2006, 736; vgl. BAG, Urt. v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, ZIP 2006, 1510; zum Zeitpunkt der Betriebsänderung bei Stilllegung vgl. BAG, Urt. v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/15, Rz. 38 ff., NZA 2017, 1618. 284) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.3.2012 – 13 Sa 2187/11, ZIP 2012, 1429.
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Brandenburg ist die unwiderrufliche Freistellung nicht mehr umkehrbar, da der Arbeitgeber damit selbst bindend erklärt, dass er auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers „für immer“ verzichtet. Anders als im Fall einer widerruflichen Freistellung, über welche das BAG am 30.5.2006 zu entscheiden hatte oder im Fall einer befristeten unwiderruflichen Freistellung (welche das LAG als typische Fallkonstellation im Insolvenzverfahren nennt), kann der Insolvenzverwalter bei unwiderruflicher Freistellung der Arbeitnehmer einseitig den Betrieb nicht mehr fortführen, da er hierfür das Einverständnis der Arbeitnehmer benötigt.285) Das LAG hat in seiner Entscheidung zwar berücksichtigt, dass der Insolvenzverwalter durch die unwiderrufliche Freistellung vor Abschluss des Interessenausgleiches den Arbeitnehmern die Möglichkeit des Bezuges von Arbeitslosengeld im Wege der sog. Gleichwohlgewährung gemäß § 143 Abs. 3 SGB III (jetzt: § 157 Abs. 1 SGB III) eröffnet hat. Dies wirkt sich nach Auffassung des LAG allenfalls auf die Höhe des Nachteilsausgleiches, nicht jedoch auf den entstandenen Anspruch an sich aus. Auch bei der Betriebsfortführung, die im Insolvenzverfahren regelmäßig nur nach einer 258 Massenentlassung möglich sein wird, ist es oft erforderlich, Arbeitnehmer bereits vor Ausspruch der Kündigung von der Pflicht zur Erbringung von Arbeitsleistungen freizustellen. Nach der bisherigen Rechtsprechung sind Freistellungen vor Abschluss des Interessenausgleiches durch den Insolvenzverwalter nur widerruflich, oder allenfalls befristet unwiderruflich möglich, wenn Nachteilsausgleichsansprüche vermieden werden sollen. Die widerrufliche Freistellung führt allerdings nicht zum Erlöschen des Urlaubsanspruchs,286) 259 ist jedoch (anders als die Einführung von Kurzarbeit) nicht mitbestimmungspflichtig, da durch die Freistellung nicht in die Arbeitszeit eingegriffen wird.287) In der befristet unwiderruflichen Freistellung kann der Urlaubsanspruch erfüllt werden. Es besteht allerdings keine insolvenzspezifische Pflicht, Arbeitnehmer zu einem bestimm- 260 ten Zeitpunkt freizustellen, um ihnen zu ermöglichen, die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld zu erfüllen. Eine solche Pflicht wird in der Rechtsprechung allenfalls dann gesehen, wenn durch die Beschäftigung der Arbeitnehmer keinerlei Wertschöpfung zu Gunsten der Insolvenzmasse eintritt, die Beschäftigung aber zu einer erheblichen Minderung der Masse führt und eine künftige Wertschöpfung auch nicht zu erwarten ist.288) 3.6.4 Entlassung von Arbeitnehmern Entlassungen i. S. des § 113 BetrVG sind nicht nur arbeitgeberseitig bedingte Kündigungen, 261 sondern auch Aufhebungsverträge oder Eigenkündigungen von Arbeitnehmern, die aufgrund der beabsichtigten Betriebsänderung vom Arbeitgeber und damit vom Insolvenzverwalter veranlasst wurden. Entscheidend ist, ob das Arbeitsverhältnis hierdurch beendet wird.289) Der Anspruch auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BetrVG erfasst aber nur solche Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis von der Betriebsänderung unmittelbar nachteilig betroffen sein kann.290)
___________ 285) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 2.3.2012 – 13 Sa 2187/11, ZIP 2012, 1429. 286) Vgl. BAG, Urt. v. 19.5.2009 – 9 AZR 433/08, Rz. 15, NZA 2009, 1121. 287) BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 9 AZR 80/01, unter II. 1. d), NZA 2002, 902; vgl. auch Kübler/Prütting/ Bork-Moll, InsO, § 113 Rz. 46. 288) BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, NZI 2013, 284 m. Anm. Jansen. 289) Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 21 ff. 290) BAG, Urt. v. 22.1.2013 – 1 AZR 873/11, DB 2013, 1500.
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262 Keine Entlassung liegt vor, wenn i. R. eines Kündigungsschutzverfahrens die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung festgestellt wird, oder die Kündigung vom Insolvenzverwalter im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer zurückgenommen wird.291) 3.6.5 Andere wirtschaftliche Nachteile 263 Auch wenn Arbeitnehmer aufgrund der Abweichung vom Interessenausgleich oder beim unterbliebenen Versuch des Interessenausgleiches nicht entlassen werden, hat der Unternehmer gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG ggf. andere entstehende wirtschaftliche Nachteile bis zu einem Zeitraum von zwölf Monaten auszugleichen. Hierunter können nur vermögensrechtliche Nachteile gefasst werden, wie z. B. erhöhte Fahrtkosten oder Umzugskosten bei Betriebsverlagerungen oder Lohneinbußen bei anderen Arbeitsaufgaben.292) 3.6.6 Höhe des Nachteilsausgleichs und Verhältnis zu einem Sozialplan 264 Werden Arbeitnehmer entlassen, ohne dass der Insolvenzverwalter einen Interessenausgleich versucht hat oder weil der Insolvenzverwalter von einem geschlossenen Interessenausgleich ohne zwingenden Grund abgewichen ist, können die Arbeitnehmer eine Abfindung beanspruchen, deren Höhe sich aus § 10 KSchG ergibt. Damit erhält der Arbeitnehmer je nach Lebensalter und Beschäftigungsdauer Abfindungen bis zu 12, 15 oder 18 Monatsverdiensten. Die Insolvenzsituation ist bei der Festlegung der Höhe ohne Bedeutung.293) 265 Bei der Festlegung der Höhe der jeweiligen Abfindung sind x
das Lebensalter,
x
die Betriebszugehörigkeit und
x
die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt
zu berücksichtigen.294) 266 Das Gericht kann darüber hinaus das Ausmaß des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens des Insolvenzverwalters berücksichtigen. Auch im Insolvenzverfahren gilt § 10 KSchG uneingeschränkt und ist nicht etwa in analoger Anwendung des § 123 InsO auf zweieinhalb Monatsverdienste begrenzt.295) 267 Nach der Rechtsprechung des BAG sind Abfindungen aufgrund eines Sozialplanes und aufgrund eines gesetzlichen Nachteilsausgleichsanspruchs verrechenbar. Das BAG hat das im Urteil vom 12.2.2019296) mit der Erfüllungswirkung gemäß § 362 Abs. 1 BGB begründet. Zwischen dem Anspruch auf Sozialplanabfindungen nach § 112 BetrVG und dem Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG besteht insoweit Zweckidentität, als sie beide dem Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile dienen. Diese Zweckidentität hat zur Folge, dass eine gezahlte Sozialplanabfindung auch auf einen Anspruch auf gesetzlichen Nachteilsausgleich anzurechnen ist und ihr insoweit Erfüllungswirkung zukommt.297) In der Literatur wird kritisiert, dass damit der Sanktionscharakter des § 113 BetrVG leerläuft, zumindest in den Fällen, in denen die Höhe des Sozialplananspruchs der Höhe des Nachteilsausgleichs___________ 291) 292) 293) 294) 295) 296) 297)
BAG, Urt. v. 14.12.2004 – 1 AZR 504/03, ZIP 2005, 1174 = NZA 2005, 818. Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 25. BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZI 2004, 99 = NZA 2004, 93. BAG, Urt. v. 12.2.2019 – 1 AZR 279/17, NZA 2019, 719. BAG, Urt. v. 12.2.2019 – 1 AZR 279/17, NZA 2019, 719; BAG, Urt. v. 20.11.2001 – 1 AZR 97/01, NZA 2002, 992.
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anspruchs entspricht oder diese übersteigt.298) Im Insolvenzverfahren wird dies wegen der in § 123 InsO geregelten Obergrenzen für Sozialpläne, die aber nicht für den Nachteilsausgleich gilt, weniger bedeutsam sein. Den Betriebsparteien steht es frei, im Sozialplan zu vereinbaren, dass und in welcher Höhe 268 Ansprüche aus dem Sozialplan auf Abfindungsansprüche aus einem gerichtlichen Vergleich im Kündigungsschutzverfahren, auf evtl. gerichtlich festgesetzte Abfindungen (§§ 9, 10 KSchG), auf Abfindungen gemäß § 1a KSchG299) und auch den Nachteilsausgleich (§ 113 BetrVG) anrechenbar sind, bzw. ob ein Verrechnungsverbot besteht (siehe auch Rz. 294).300) Ob der Senat daran festhält, dass ein Verrechnungsverbot vereinbart werden kann, ist dem Urteil vom 12.2.2019 nicht zu entnehmen. Da diese Rechtsprechung bislang nicht aufgegeben wurde, sollte eine solche Klausel zur Klarstellung, ob Anrechnung oder keine Anrechnung erfolgen soll, in jedem Sozialplan aufgenommen werden.301) Im Interesse aller Gläubiger sollte aber ohnehin kein Verrechnungsverbot vereinbart werden. 3.6.7 Nachteilsausgleich als Masseverbindlichkeit Nachteilsausgleichsansprüche sind Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO 269 und können im Wege der Leistungsklage gegen den Insolvenzverwalter verfolgt werden, wenn das betriebsverfassungswidrige Verhalten des Insolvenzverwalter der Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuzuordnen ist. x
Wird der Anspruch auf Nachteilsausgleich zwar nach Verfahrenseröffnung, aber vor einer Masseunzulänglichkeitsanzeige des Insolvenzverwalters begründet, ist der Anspruch im Wege der Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO geltend zu machen, da nach § 210 InsO die Vollstreckung einer zuvor begründeten Masseverbindlichkeit nach § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig ist.
x
Wird der Anspruch auf Nachteilsausgleich aber erst nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige begründet, handelt es sich um Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO, die regelmäßig im Wege der Leistungsklage verfolgt werden können.302)
3.7
Betriebsveräußerung nach § 128 InsO
Gemäß § 128 Abs. 1 sind die Vorschriften der §§ 125 – 127 (Interessenausgleich mit Namens- 270 liste, Beschlussverfahren zum Kündigungsschutz, Bindungswirkung des Beschlussverfahrens) auch dann anwendbar, wenn die im Interessenausgleich zwischen den Betriebsparteien oder dem Feststellungsantrag nach § 126 InsO zugrunde liegende Betriebsänderung erst nach einer Betriebsveräußerung durchgeführt werden soll. Gemäß § 128 Abs. 2 InsO erstreckt sich die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO, 271 sowie die gerichtliche Feststellung gemäß § 126 Abs. 1 Satz 1 InsO auch darauf, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht wegen des Betriebsüberganges erfolgt ist. Der Arbeitnehmer trägt im Kündigungsschutzprozess die Darlegungs- und Beweislast, dass ein Betriebsübergang vorliegt, die Kündigung wegen des Betriebsübergangs ausgesprochen wurde, nicht auf einem Sanierungskonzept beruht und deshalb gegen § 613a Abs. 4 BGB verstößt. Die ohnehin für den Arbeitnehmer bestehende Darlegungs- und Beweislast wird
___________ 298) 299) 300) 301) 302)
Kania in: ErfK, § 113 BetrVG Rz. 1 – 3. BAG, Urt. v. 19.7.2016 – 2 AZR 536/15, NZA 2017, 121. So zumindest BAG, Urt. v. 20.11.2001 – 1 AZR 97/01, NZA 2002, 992. Vgl. hierzu auch Fitting, BetrVG, § 113 Rz. 33. BAG, Urt. v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, ZIP 2006, 1510.
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Teil V Einzelfragen
durch § 128 InsO verstärkt, da durch diese Vorschrift der ansonsten ausreichende Anscheinsbeweis entkräftet wird.303) 272 Die Vermutungswirkung setzt voraus, dass Insolvenzverwalter und Betriebsrat den Interessenausgleich gemäß § 125 InsO bereits vor dem Betriebsübergang abgeschlossen haben oder der Feststellungsantrag nach § 126 gestellt wurde. Im Interessenausgleich oder im Beschlussverfahren nach § 126 muss zudem auf die Betriebsveräußerung hingewiesen werden, wenn nicht riskiert werden soll, dass durch eine Änderung der Sachlage die Bindungswirkung entfällt (§§ 125 Abs. 1 Satz 2; 127 Abs. 1 Satz 2).304) 273 Gemäß § 279 InsO gilt die Vorschrift des § 128 InsO auch bei der Eigenverwaltung (§ 270f InsO). An die Stelle des Insolvenzverwalters tritt jedoch der Schuldner, der seine Rechte nach dieser Vorschrift im Einverständnis mit dem Sachwalter ausüben soll. 274 Der vorläufige Insolvenzverwalter hingegen kann die Vorschrift des § 128 InsO nicht für sich in Anspruch nehmen. Die Vorschriften des 3. Teils der InsO gelten nur im eröffneten Insolvenzverfahren. 3.8
Sozialplan nach §§ 123, 124 InsO
275 Während im Interessenausgleich zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat geregelt wird, wie im Einzelnen die geplante Betriebsänderung durchgeführt werden soll, regelt der Sozialplan den Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern infolge der Betriebsänderung entstehen.305) 276 Im Gegensatz zum Interessenausgleich ist ein Sozialplan unter den Voraussetzungen des § 112 Abs. 4 bzw. § 112a BetrVG erzwingbar. 277 Voraussetzung für die Aufstellung eines Sozialplanes ist die Existenz eines Betriebsrates. Wird in einem bislang betriebsratslosen Betrieb ein Betriebsrat erst gebildet, nachdem der Arbeitgeber/Insolvenzverwalter mit der Betriebsänderung begonnen hat, steht dem Betriebsrat kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht auf Abschluss eines Sozialplanes zu. Das Betriebsverfassungsgesetz enthält keine generelle Verpflichtung des Arbeitgebers, mit einer an sich beteiligungspflichtigen Maßnahme zu warten, bis im Betrieb ein funktionsfähiger Betriebsrat gebildet ist. Das gilt selbst dann, wenn seine Konstituierung schon absehbar war.306) 278 Ein existierender Gesamtbetriebsrat ist nur zuständig, wenn betriebsübergreifende Regelungen getroffen werden müssen. Aus der Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates für die Vereinbarung eines Interessenausgleiches folgt allerdings nicht zwangsläufig die gesetzliche Zuständigkeit für den Abschluss eines Sozialplanes. Dafür ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 50 Abs. 1 BetrVG gesondert zu prüfen. Nach § 50 Abs. 1 BetrVG i. V. m. § 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist eine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung mit dem Gesamtbetriebsrat zu vereinbaren, wenn sich die geplante Maßnahme auf alle oder mehrere Betriebe auswirkt und deshalb einer einheitlichen Regelung bedarf. Dies kann im Fall der Betriebsfortführung bei einer Zusammenlegung von Betrieben der Fall sein.307) 279 Regelt ein mit dem Gesamtbetriebsrat nach § 50 Abs. 1 BetrVG vereinbarter Interessenausgleich Betriebsänderungen, die einzelne Betriebe unabhängig voneinander betreffen oder solche, die sich auf einen Betrieb beschränken, ist ein unternehmensweit zu findender ___________ 303) 304) 305) 306) 307)
Uhlenbruck-Zobel, InsO, § 128 Rz. 25 ff. BAG, Urt. v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720. Ahrendt in: HambKomm-InsO, § 123 Rz. 4; Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 123, 124 Rz. 9 ff. BAG, Beschl. v. 8.2.2022 – 1 ABR 2/21, NZA 2022, 870. BAG, Urt. v. 24.1.1996 – 1 AZR 542/95, ZIP 1996, 1391 = NZA 1996, 1107.
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Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile im Sozialplan nicht zwingend. Erfassen die im Interessenausgleich vereinbarten Betriebsänderungen mehrere oder gar sämtliche Betriebe des Unternehmens und ist die Durchführung des Interessenausgleichs abhängig von betriebsübergreifend einheitlichen Kompensationsregelungen in dem noch abzuschließenden Sozialplan, so kann diese Aufgabe von den Betriebsräten der einzelnen Betriebe nicht mehr wahrgenommen werden; sie ist dem Gesamtbetriebsrat zugewiesen.308) Der Sozialplan ist eine Betriebsvereinbarung besonderer Art309) gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 280 BetrVG. Sozialpläne bedürfen der Schriftform gemäß § 112 BetrVG. Die Schriftform ist Wirksamkeitsvoraussetzung310) und wird auch durch die elektronische Form nach § 126a BGB gewahrt, sofern beide Betriebsparteien dasselbe Dokument elektronisch signieren.311) Gemäß § 112 Abs. 4 und 5 BetrVG ist ein Sozialplan erzwingbar im Falle einer Betriebs- 281 änderung gemäß § 111 BetrVG. Besteht die geplante Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG allein in einem Personalabbau, so findet § 112 Abs. 4 und 5 BetrVG nur Anwendung, wenn die Grenzwerte des § 112a BetrVG überschritten werden, wobei auch ein stufenweiser Personalabbau erzwingbar sozialplanpflichtig sein kann, wenn er auf einer einheitlichen unternehmerischen Entscheidung beruht. Zu beachten ist, dass nach § 112a BetrVG auf die Unternehmensgröße abzustellen ist, während § 17 KSchG hinsichtlich einer interessenausgleichspflichtigen Maßnahme auf die Betriebsgröße abstellt. In Kleinbetrieben mit bis zu 20 Arbeitnehmern müssen für eine Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG durch alleinigen Personalabbau mindestens sechs Arbeitnehmer betroffen sein.312) Wann eine Betriebsänderung in Form von Personalreduzierungen nur interessenausgleichspflichtig und wann auch sozialplanpflichtig ist, kann der Übersicht von Annuß entnommen werden.313) Ist ein Sozialplan nicht erzwingbar, sollte der Insolvenzverwalter auch keinen Sozialplan 282 aufstellen, da er sich ansonsten schadenersatzpflichtig gemäß § 60 InsO machen könnte.314) In einem Sozialplan werden regelmäßig Abfindungszahlungen für die Arbeitnehmer ver- 283 einbart, die aufgrund der geplanten Betriebsänderung entlassen werden müssen. Entlassungen i. S. des § 123 InsO sind dabei nicht nur die vom Insolvenzverwalter ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen, sondern auch Aufhebungsverträge, die auf Veranlassung des Insolvenzverwalters wegen der Betriebsänderung mit den Arbeitnehmern geschlossen werden (§ 112a Abs. 1 Satz 2 BetrVG) und ggf. auch Eigenkündigungen der Arbeitnehmer, soweit nachweisbar ist, dass der Arbeitnehmer mit der Eigenkündigung lediglich einer beabsichtigten betriebsbedingten Kündigung durch den Insolvenzverwalter zuvorgekommen ist. Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis, weil ihm die Situation des Betriebes unsicher erscheint, er hingegen ein anderes Arbeitsangebot erhalten hat, ist das nicht ausreichend, um diesen Arbeitnehmer zum Kreis der Berechtigten hinzuzuziehen. Gemäß der Rechtsprechung des BAG liegt eine Veranlassung zur Eigenkündigung oder zum Abschluss eines Aufhebungsvertrages nur dann vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer im Hinblick auf eine konkret geplante Betriebsänderung bestimmt, selbst zu kündigen oder einen Aufhebungsvertrag zu schließen, um so eine ansonsten notwendig werdende Kündigung zu vermeiden. Ein bloßer Hinweis des Arbeitgebers auf eine unsichere Lage des ___________ 308) 309) 310) 311) 312) 313) 314)
BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498 = NZA 2002, 688. Fitting, BetrVG, §§ 112, 112a Rz. 174 m. w. N. Richardi-Annuß, BetrVG, § 112 Rz. 27 – 30, 78. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 21e und §§ 112, 112a Rz. 129. BAG, Urt. v. 9.11 2010 – 1 AZR 708/09, ZIP 2011, 730 = NZA 2011, 466. Richardi-Annuß, BetrVG, § 112a Rz. 9 – 11. Ahrendt in: HambKomm-InsO, § 123 Rz. 2.
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Unternehmens, auf notwendig werdende Betriebsänderungen oder der Rat, sich eine neue Stelle zu suchen, genügt nicht.315) 284 Ist unklar, ob ein Betriebs-(teil)übergang nach § 613a BGB, oder eine Betriebs-(teil)stilllegung nach § 111 BetrVG vorgenommen wird, können Insolvenzverwalter und Betriebsrat einen vorsorglichen Sozialplan für den Fall, dass kein Übergang gemäß § 613a BGB vorliegt, sondern eine Betriebsänderung, oder eine auflösende Bedingung für den Fall, dass keine Stilllegung sondern ein Übergang erfolgt, vereinbaren.316) 285 Ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang eines Sozialplanes, dass mit diesem solche Nachteile ausgeglichen werden sollen, die infolge einer Einschränkung oder Stilllegung des ganzen Betriebes oder von wesentlichen Betriebsteilen i. S. von § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG entstehen, spricht dies für ein betriebsbezogenes Verständnis des Begriffs „Personalabbau“. Danach ist ein solcher nicht gegeben, wenn der Betrieb vollständig, d. h. ohne Personalreduzierung, auf einen Betriebserwerber übergeht.317) 3.8.1 Absolute Obergrenze 286 Nach § 123 Abs. 1 InsO kann in einem Sozialplan, der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgestellt wird, ein Gesamtbetrag von bis zu zweieinhalb Monatsverdiensten der von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer vorgesehen werden (absolute Obergrenze). Die Berechnung des der Abfindung zugrunde liegenden Monatsverdienstes richtet sich nach § 10 Abs. 3 KSchG. Demgemäß sind bei der Berechnung des Monatsverdienstes sämtliche Geld- und Sachleistungen, die dem betroffenen Arbeitnehmer unter Berücksichtigung seiner regelmäßigen Arbeitszeit zustehen, zu beachten. Hierzu zählen x
neben dem monatlichen Gehalt,
x
dem Stundenlohn,
x
dem Fixum oder Akkordverdienst,
x
auch Zulagen und Zuschläge, wie z. B. Erschwerniszuschläge, Schicht- und Nachtarbeitszuschläge, Gefahrenzulagen.
287 Nicht zu berücksichtigen sind reine Aufwandsentschädigungen wie z. B. Fahrtkostenerstattung und Spesen. 288 Unregelmäßig geleistete Überstunden werden nicht berücksichtigt. Kurzarbeit wirkt sich nicht anspruchsmindernd aus. Sonderzuwendungen mit Entgeltcharakter (13. Monatsgehalt) werden anteilig hinzu gerechnet. 289 Für die Bestimmung des Monatsverdienstes gilt der Monat, in dem das jeweilige Arbeitsverhältnis des einzelnen Arbeitnehmers endet. Hinsichtlich der regelmäßigen Arbeitszeit ist auf die individuelle und nicht betriebsübliche Arbeitszeit abzustellen. Die so ermittelten einzelnen Monatsverdienste der Arbeitnehmer werden addiert und mit dem Faktor 2,5 multipliziert, um die Obergrenze zu errechnen. 290 Umstritten ist, ob bei der Berechnung des Gesamtvolumens für den Sozialplan gemäß § 123 Abs. 1 InsO auch die Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind, die zwar wegen der geplanten Betriebsänderung wirtschaftliche Nachteile erleiden, aber nicht entlassen werden. Hierzu zählen z. B. Arbeitnehmer, die wegen einer Zusammenlegung von Betrieben versetzt werden und höhere Fahrtkosten in Kauf nehmen müssen oder wegen veränderter Arbeitsaufgaben geringeres Entgelt erzielen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann in einem ___________ 315) Vgl. BAG, Urt. v. 19.7.1995 – 10 AZR 885/94, ZIP 1995, 1915 = NZA 1996, 271. 316) BAG, Beschl. v. 1.4.1998 – 10 ABR 17/97, NZA 1998, 768. 317) BAG, Urt. v. 9.11.2021 – 1 AZR 278/20, NZI 2022, 533.
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Sozialplan nach Verfahrenseröffnung für den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die durch die Betriebsänderung entstehen, ein Gesamtbetrag von bis zu zweieinhalb Monatsverdiensten der von einer Entlassung betroffenen Arbeitnehmer vorgesehen werden. Einerseits wird vertreten, dass § 123 InsO auch für Sozialpläne nach Verfahrenseröffnung gilt, die andere wirtschaftliche Nachteile, die nicht mit einer Entlassung verbunden sind, ausgleichen soll, da nach Abs. 1 auf Nachteile abgestellt wird, die durch die Betriebsänderung entstehen und es sich hierbei nicht zwingend um Entlassungen handeln muss. Auf die Entlassung nimmt die Vorschrift nur Bezug, um das Gesamtvolumen des Sozialplans absolut zu begrenzen.318) Diese Literaturmeinung berücksichtigt nicht, dass das Sozialplanvolumen gemäß § 123 291 InsO nur durch die Monatsverdienste der von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer gebildet werden kann. Für nicht von der Entlassung betroffene Arbeitnehmer könnte ein Sozialplan somit gar nicht dotiert werden. Sind von der Betriebsänderung sowohl entlassene Arbeitnehmer als auch Arbeitnehmer mit anderen wirtschaftlichen Nachteilen (z. B. höhere Fahrtkosten durch Versetzung) betroffen, würde der Sozialplan durch die Höhe der Monatsverdienste der entlassenen Arbeitnehmer dotiert, dass insoweit gebildete Sozialplanvolumen aber auch auf die nicht entlassenen Arbeitnehmer mit anderen Nachteilen verteilt. Da das nicht sachgerecht ist, wird andererseits vertreten, dass die Vorschrift des § 123 InsO nur für Entlassungssozialpläne Anwendung finden kann.319) Wird die absolute Obergrenze überschritten, ist der Sozialplan gemäß § 134 BGB nichtig. 292 Ob eine Gesamtnichtigkeit vorliegt, oder eine sog. geltungserhaltende Reduktion erfolgt, wird unterschiedlich beantwortet. Einerseits wird vertreten, dass der gesamte Sozialplan nichtig ist und von den Betriebsparteien neu verhandelt werden muss. Andererseits soll die Überschreitung der absoluten Obergrenze des Sozialplanvolumens nicht zu einer Gesamtnichtigkeit des Sozialplanes führen, wenn entsprechend § 140 BGB die Verteilungsmaßstäbe des Sozialplanes erkennbar sind, diese von einer Reduzierung des Sozialplanvolumens unberührt bleiben und Anhaltspunkte bestehen, dass die Beteiligten den Sozialplan bei einem reduzierten Volumen mit gleichen Verteilungsmaßstäben abgeschlossen hätten. In diesem Fall ist der Sozialplan mit dem Volumen aufrechtzuerhalten, welches § 123 Abs. 1 InsO entspricht.320) Regelmäßig wird die geltungserhaltende Reduktion statt der erneuten Verhandlung eines Sozialplanes anzustreben sein, damit die Arbeitnehmer schnell Klarheit über die Höhe der zu beanspruchenden Abfindung aus einem Sozialplan haben, was sich positiv auf Vergleichsgespräche in Kündigungsschutzverfahren auswirkt. Zur Vermeidung eines nichtigen Sozialplanes sollte deshalb eine eindeutige Regelung auf- 293 genommen werden, dass zwischen beiden Parteien beabsichtigt ist, die gesetzliche Höchstgrenze gemäß § 123 Abs. 1 InsO nicht zu überschreiten und welche Wirkung eintreten soll, falls die Obergrenze dennoch ungewollt überschritten wurde. Zwischen einer Sozialplanabfindung und einer Abfindung wegen betriebsbedingter Kün- 294 digung gemäß § 1a KSchG besteht keine generelle Anspruchskonkurrenz. Die mit den Zahlungen von Abfindungen aus einem Sozialplan gemäß § 112 BetrVG und gemäß § 1a KSchG verfolgten Zwecke sind nicht deckungsgleich.321) Die gemäß § 1a KSchG mögliche Abfindungszahlung soll eine unbürokratische Alternative zum Kündigungsschutzprozess schaffen und vom Verzicht des Arbeitnehmers auf Erhebung einer Kündigungsschutzklage abhängig gemacht werden. Sozialplanleistungen hingegen dürfen von solch einem Verzicht ___________ 318) 319) 320) 321)
Vgl. Caspers in: MünchKomm-InsO, § 123 Rz. 27; Fitting, BetrVG, §§ 112, 112a Rz. 308 m. w. N. Vgl. Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 123 Rz. 30 ff. ArbG Düsseldorf, Beschl. v. 24.4.2006 – 2 BV 2/06, DB 2006, 1384. BAG, Urt. v. 19.7.2016 – 2 AZR 536/15, NZA 2017, 346.
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nicht abhängig gemacht werden,322) da ein solcher Verzicht gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt.323) 3.8.2 Relative Obergrenze 295 Nach § 123 Abs. 2 InsO darf für die Berichtigung von Sozialplanforderungen, wenn ein Insolvenzplan nicht zustande kommt, nicht mehr als ein Drittel der Masse verwendet werden, die ohne den Sozialplan für die Verteilung an die Gläubiger zur Verfügung stünde (relative Obergrenze). 296 Übersteigt der Gesamtbetrag aller Sozialplanforderungen diese Grenze, sind die einzelnen Forderungen anteilig zu kürzen. In der Literatur wird teilweise vertreten, dass der wegen der Kürzung ggf. verbleibende Differenzbetrag nach Abschluss des Insolvenzverfahrens gegenüber dem Insolvenzschuldner geltend gemacht werden kann (§§ 215 Abs. 2, 201 Abs. 1 InsO).324) 297 Beim Zustandekommen eines Insolvenzplanes findet zwar die absolute, nicht jedoch die relative Obergrenze des Sozialplanvolumens Anwendung. Nur § 123 Abs. 2 InsO, der die relative Obergrenze regelt, verweist auf den Wegfall der Grenze, wenn ein Insolvenzplan zustande kommt.325) 3.8.3 Verteilung des Sozialplanvolumens 298 Bei der Verteilung des Sozialplanvolumens haben die Betriebsparteien insbesondere § 75 BetrVG zu beachten, wonach alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden müssen, insbesondere jede Benachteiligung von Personen aus Gründen x
ihrer Rasse oder wegen ihrer ethnischen Herkunft,
x
ihrer Abstammung oder sonstigen Herkunft,
x
ihrer Nationalität,
x
ihrer Religion oder Weltanschauung,
x
ihrer Behinderung,
x
ihres Alters,
x
ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder
x
ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität
unterbleiben muss. 299 Bei der Verteilung des Sozialplanvolumens sind nach der Rechtsprechung insbesondere Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten, Teilzeitbeschäftigung und Schwerbehinderteneigenschaft zu berücksichtigen. Jedoch müssen die Abfindungen nicht nach bestimmten Formeln berechnet werden, sondern können auch für jeden Arbeitnehmer einzeln individuell bestimmt werden.
___________ 322) BAG, Urt. v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997. 323) Vgl. zu möglichen Klageverzichtsprämien – zumindest für nicht insolvente Unternehmen – BAG, Urt. v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, NZA 2022, 281. 324) Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 123, 124 Rz. 23; a. A. Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 201 Rz. 3, der das Nachforderungsrecht nur für Insolvenzgläubiger sieht. 325) So auch Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 123, 124 Rz. 42; Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 123 Rz. 78 f.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG haben die Betriebspartner bei der Aufstellung 300 der Verteilungsregelungen im Sozialplan einen weiten Ermessensspielraum in den Grenzen von Recht und Billigkeit. Sozialpläne haben nach der ständigen Rechtsprechung des BAG eine zukunftsbezogene 301 Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion. Die von ihnen vorgesehenen Leistungen stellen kein zusätzliches Entgelt für die in der Vergangenheit erbrachten Dienste dar, sondern sollen die künftigen Nachteile ausgleichen, die dem Arbeitnehmer durch die Betriebsänderung entstehen können.326) Daher ist es unzulässig, in einem Sozialplan ausschließlich auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit des jeweils betroffenen Arbeitnehmers abzustellen.327) Arbeitnehmer, auf deren Arbeitsverhältnis der Kündigungsschutz noch keine Anwendung findet, sind nicht vom Kreis der Berechtigten auszuschließen. Ausschließlich auf die Betriebszugehörigkeit abzustellen ist nur dann unbedenklich, wenn sich die übrigen sozialplanrelevanten Faktoren wie etwa Lebensalter und Unterhaltspflichten nicht wesentlich unterscheiden.328) Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist die Beschäftigungszeit ein grundsätzlich 302 zulässiges Kriterium für die Bemessung der Abfindung. Zwar ist der Zweck einer Abfindung auf die künftige Lage der Arbeitnehmer bezogen, wofür die Dauer der Betriebszugehörigkeit nicht ausschlaggebend ist, jedoch muss berücksichtigt werden, dass mit zunehmender Betriebszugehörigkeit einerseits die berufliche Qualifikation steigt, andererseits sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt mindern.329) Auch hängt der Umfang erworbener Besitzstände vor allem von der Dauer der Beschäftigung ab. Der Verlust von Besitzständen ist ein auch noch nach dem Ausscheiden fortwirkender Nachteil. Angesichts der Unsicherheit über den genauen Umfang der im Einzelfall zu erwartenden Nachteile hat der Rückgriff auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit den Vorzug hoher Transparenz und Praktikabilität. Durch ihn wird damit die Sozialplanabfindung noch nicht zu einer bloßen Entschädigung für den Verlust des Besitzstandes oder zu einer nachträglichen Vergütung der in der Vergangenheit geleisteten Dienste.330) Den Betriebsparteien in einem Sozialplan ist eine Gruppenbildung dahingehend verwehrt, 303 dass dem Arbeitgeber eine eingearbeitete und qualifizierte Belegschaft erhalten bleiben soll. Ein solches Ziel entspricht nach Rechtsprechung des BAG nicht dem Ziel eines Sozialplans. Dieser dient nach seiner ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung in § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dem Ausgleich oder der Milderung der den Arbeitnehmern durch die Betriebsänderung entstehenden wirtschaftlichen Nachteile. Betriebliche Interessen an der Erhaltung der Belegschaft oder von Teilen derselben sind daher nicht geeignet Differenzierungen bei der Höhe der Sozialplanabfindungen zu rechtfertigen.331) Die Zahlung einer Sozialplanabfindung darf auch nicht davon abhängig gemacht werden, 304 dass der Arbeitnehmer gegen die ausgesprochene Kündigung nicht gerichtlich vorgeht. Die Betriebsparteien können aber zusätzlich zu einem Sozialplan in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung sog. „Turboprämien“ vereinbaren für den Fall, dass der Arbeitnehmer von einer Kündigungsschutzklage absieht.332) Es ist zulässig, die Fälligkeit der Sozialplanab___________ 326) BAG, Urt. v. 11.11.2008 – 1 AZR 475/07, ZIP 2009 = NZA 2009, 210, 336; BAG, Urt. v. 20.1.2009 – 1 AZR 740/07, NZA 2009, 495. 327) Vgl. BAG, Beschl. v. 14.9.1994 – 10 ABR 7/94, ZIP 1995, 771 = NZA 1995, 440. 328) BAG, Urt. v. 12.11.2002 – 1 AZR 58/02, ZIP 2003, 1463 = NZA 2003, 1287. 329) BAG, Urt. v. 14.8.2001 – 1 AZR 760/00, ZIP 2002, 94 = NZA 2002, 451. 330) BAG, Urt. v. 14.8.2001 – 1 AZR 760/00, ZIP 2002, 94 = NZA 2002, 451. 331) BAG, Urt. v. 6.11.2007 – 1 AZR 960/06, NZA 2008, 232 – zur Aufgabe bisheriger Rspr., vgl. Rz. 19). 332) Vgl. BAG, Urt. v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997; BAG, Urt. v. 9.12.2014 – 1 AZR 146/13, NZA 2015, 438.
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findung von dem rechtskräftigen Abschluss eines Kündigungsschutzverfahrens abhängig zu machen.333) Das BAG hat mit Urteil vom 8.12.2015334) entschieden, dass ein Sozialplan die Zahlung einer Abfindung auf Arbeitnehmer beschränken kann, die wegen der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Hingegen darf eine Betriebsvereinbarung, nach der Arbeitnehmer eine Sonderprämie erhalten, wenn sie auf die Erhebung der Kündigungsschutzklage verzichten, nicht solche Arbeitnehmer ausschließen, die im Anschluss an ihre Entlassung anderweitig beschäftigt werden und deshalb von der Durchführung eines Kündigungsschutzverfahrens absehen. 305 Die Betriebsparteien können in einem Sozialplan eine Stichtagsregelung vereinbaren, die diejenigen Arbeitnehmer von Sozialplanleistungen ausnimmt, die auf eigene Veranlassung ihr Arbeitsverhältnis beenden, bevor das Ausmaß einer sie treffenden Betriebsänderung konkret absehbar und der Umfang der daran anknüpfenden wirtschaftlichen Nachteile prognostizierbar ist.335) 306 Zulässig ist es, Arbeitnehmer von Sozialplanleistungen auszunehmen, die einen angebotenen zumutbaren Arbeitsplatz ablehnen.336) Dies gilt auch für den Fall, dass ein Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses gemäß § 613a BGB auf den Betriebserwerber widerspricht, da der Erhalt des Arbeitsplatzes bei dem Betriebserwerber nach einem Betriebsübergang gemäß § 613a BGB in der Regel als zumutbar angesehen wird.337) Allerdings ist es nicht zulässig, die Zahlung der Sozialplanabfindung vom Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit dem Betriebsübernehmer abhängig zu machen.338) 307 In einem Sozialplan können Arbeitnehmer von Abfindungsleistungen ausgeschlossen werden, die nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I rentenberechtigt sind und zuvor die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses an einem anderen Unternehmensstandort abgelehnt haben.339) Sozialpläne können auch geringere Abfindungen für Arbeitnehmer in rentennahen Jahrgängen vorsehen.340) 308 Es verstößt nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn die Zahlung eines Zuschlages für unterhaltsberechtigte Kinder von deren Eintragung auf der (elektronischen) Lohnsteuerkarte abhängig gemacht wird.341) 309 Zulässig ist es, bei der Bemessung der Sozialplanabfindung Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung gesondert zu berücksichtigen.342) 310 Die Betriebsparteien haben auch einen erheblichen Gestaltungsspielraum bei der Frage, ob und in welcher Höhe in der Vergangenheit liegende Schwankungen der monatlichen Vergütung zu berücksichtigen sind. Die künftigen Nachteile werden auch dadurch bestimmt, in welcher Höhe bislang erzielte Vergütung ggf. nicht mehr erzielt werden kann.343) ___________ 333) 334) 335) 336) 337) 338) 339) 340) 341) 342) 343)
Vgl. BAG, Urt. v. 20.6.1985 – 2 AZR 427/84, NZA 1986, 258. BAG, Urt. v. 8.12.2015 – 1 AZR 595/14, ZIP 2015, A 99. BAG, Urt. v. 12.4.2011 – 1 AZR 505/09, ZIP 2011, 2074. BAG, Urt. v. 19.10.1999 – 1 AZR 838/98, ZIP 2000, 815 = NZA 2000, 732; LAG Köln, Urt. v. 4.12.2000 – 8 Sa 914/00, ZInsO 2001, 1072. Vgl. Uhlenbruck-Zobel, InsO, §§ 123, 124 Rz. 30. LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.9.1997 – 8 Sa 77/97, NZA-RR 1998, 358. BAG, Urt. v. 9.12.2014 – 1 AZR 102/13, ZIP 2015, 492, dazu EWiR 2015, 361 (Schewiola). BAG, Urt. v. 20.1.2009 – 1 AZR 740/07, NZA 2009, 495; vgl. zu Ausschluss rentennaher Jahrgänge auch LAG Hamm, Urt. v. 29.8.2012 – 4 Sa 668/11, openJur 2013, 5244. BAG, Urt. v. 12.3.1997 – 10 AZR 648/96, NZA 1997, 1058; LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 21.2.2013 – 11 Sa 130/12, openJur 2013, 27520. BAG, Urt. v. 13.2.2007 – 9 AZR 729/05, NZA 2007, 860; BAG, Urt. v. 14.8.2001 – 1 AZR 760/00, ZIP 2002, 94 = NZA 2002, 451. BAG, Urt. v. 26.9.2017 – 1 AZR 137/15, BeckRS 2017, 134468.
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Eine unmittelbar an die Behinderung knüpfende Bemessung einer Sozialplanabfindung ist 311 unwirksam, wenn sie schwerbehinderte Arbeitnehmer gegenüber anderen Arbeitnehmern, die in gleicher Weise wie sie von einem sozialplanpflichtigen Arbeitsplatzverlust betroffen sind, schlechterstellt. In der Regelung über den pauschalierten Abfindungsbetrag für Arbeitnehmer die wegen ihrer Schwerbehinderung rentenberechtigt sind, liegt eine unmittelbar an das Merkmal der Behinderung knüpfende Ungleichbehandlung.344) Eine Sozialplanregelung, die zur Berechnung der Höhe einer Abfindung auf den „frühestmöglichen“ Bezug einer gesetzlichen Rente abstellt, bewirkt eine mittelbare Benachteiligung schwerbehinderter Menschen.345) Der vollständige Ausschluss der Arbeitnehmer von Sozialplanabfindungsansprüchen, die das 312 sofortige Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis und dem Wechsel in eine Beschäftigungsund Qualifizierungsgesellschaft durch den Abschluss eines Dreiseitigen Vertrages abgelehnt haben, verstößt gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Sinn und Zweck des Sozialplanes ist es nicht, dem Insolvenzverwalter die Durchführung des Insolvenzverfahrens zu erleichtern und ihm Kosten durch ein vorzeitiges Ausscheiden der Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis zu ersparen, so dass diese Umstände die unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer wegen des Wechsels bzw. dessen Ablehnung sachlich nicht rechtfertigen können.346) 3.8.4 Zeitpunkt des Abschlusses des Sozialplans Der Sozialplan muss nicht wie der Interessenausgleich vor Beginn der Betriebsänderung 313 abgeschlossen sein. Es ist sogar für den Insolvenzverwalter ratsam, den Sozialplan erst nach Durchführung der Betriebsänderung abzuschließen, da zu diesem Zeitpunkt die tatsächlich für die einzelnen Arbeitnehmer mit der Betriebsänderung entstehenden Nachteile besser erkennbar sind. Zudem ist der Umfang der Insolvenzmasse, die der Verteilung für Sozialplanansprüche zur Verfügung steht, im weiteren Verlauf des Insolvenzverfahrens besser absehbar, wobei der tatsächliche Umfang ja sogar erst im Schlusstermin feststeht. Ein späterer Abschluss des Sozialplanes kann auch vor zu frühen Abschlagszahlungen schützen. Der Insolvenzverwalter soll gemäß § 123 Abs. 3 InsO mit Zustimmung des Insolvenzge- 314 richtes Abschlagszahlungen auf die Sozialplanforderungen leisten, so oft hinreichende Barmittel in der Masse vorhanden sind. Die Abschlagszahlung kann sowohl von den Arbeitnehmern, als auch vom Gläubigerausschuss, dem der Betriebsrat angehören kann, gefordert werden, was regelmäßig erfolgt, sobald ein Sozialplan abgeschlossen ist. Zwar handelt es sich bei der Vorschrift des § 123 Abs. 3 InsO um eine Sollvorschrift, es besteht kein Anspruch auf Abschlagszahlungen, auch eine Zwangsvollstreckung in die Masse ist unzulässig. Dies hindert Arbeitnehmer und Betriebsrat gleichwohl nicht, Abschlagszahlungen zu fordern, insbesondere dann, wenn das Insolvenzverfahren noch längere Zeit nach Abschluss des Sozialplanes andauert. Regelmäßig fordern Betriebsräte und ihre Vertreter die zeitgleiche Verhandlung von Inte- 315 ressenausgleich und Sozialplan und nutzen dies als Druckmittel insbesondere dann, wenn vom Insolvenzverwalter ein Interessenausgleich mit Namensliste angestrebt wird. Der Betriebsrat kann jedoch überzeugt werden, dass ein späterer Abschluss des Sozialplanes wegen der dann besser erkennbaren tatsächlichen Nachteile der Arbeitnehmer sachdienlicher ist. Dies wird vom Betriebsrat erfahrungsgemäß akzeptiert, wenn im Interessenausgleich eine Regelung dahingehend aufgenommen wird, in welcher konkreten Höhe (Anzahl der ___________ 344) BAG, Urt. v. 17.11.2015 – 1 AZR 938/13, NZA 2016, 501. 345) BAG, Urt. v. 16.7.2019 – 1 AZR 842/16, NZA 2019, 1432. 346) LAG Hamm, Urt. v. 14.5.2014 – 2 Sa 1652/13, ZIP 2015, 193, dazu EWiR 2015, 161 (Grimm).
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Gehälter der betroffenen Arbeitnehmer) das Sozialplanvolumen innerhalb der absoluten Höchstgrenze gebildet wird. 316 Die Verbindlichkeiten aus einem Sozialplan im Insolvenzverfahren sind Masseverbindlichkeiten (§ 123 Abs. 2 Satz 1 InsO). Die relative Begrenzung des Sozialplanvolumens (§ 123 Abs. 2 Satz 2 InsO) hat zur Folge, dass die Sozialplanforderungen im Nachrang zu herkömmlichen Masseforderungen stehen, d. h. nur erfüllt werden können, wenn die Kosten des Insolvenzverfahrens (§ 54 InsO) und die sonstigen Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO) berichtigt werden konnten. Führt die hiernach für die Insolvenzgläubiger verbleibende Teilungsmasse zur Kürzung der Sozialplanforderungen gemäß § 123 Abs. 2 Satz 3 InsO, besteht das Risiko, dass die Zahlung des gekürzten Teilbetrages des Sozialplanes vom Betriebserwerber gefordert werden kann. In der Praxis wird oft davon ausgegangen, dass die Haftung gemäß § 613a Abs. 2 BGB in der Insolvenz beschränkt ist auf die Ansprüche von Gläubigern für den Zeitraum nach dem Betriebsübergang bzw. nach Übernahme der Leitungsmacht und dass Masseforderungen gemäß § 55 InsO für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber vor Übernahme der Leitungsmacht durch den Betriebserwerber, nicht gegenüber Letzterem geltend gemacht werden können. Das BAG hat aber u. a. mit Urteil vom 22.10.2009347) entschieden, dass der Betriebserwerber auch in die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs zwar gekündigten, aber bis zum Ablauf der Kündigungsfrist noch bestehenden Arbeitsverhältnisse mit allen Rechten und Pflichten eintritt (§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB). Hierzu gehöre nach der zitierten Entscheidung des BAG auch der beim früheren Betriebsinhaber begründete Annahmeverzug und gelte gleichfalls, wenn ein Erwerber den Betrieb in der Insolvenz übernimmt. Aus dieser Rechtsprechung des BAG wird auch abzuleiten sein, dass verbleibende Sozialplandifferenzen, welche Masseverbindlichkeiten sind, vom Betriebserwerber gefordert werden können, vorausgesetzt der Sozialplan wurde nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschlossen und das Arbeitsverhältnis des von der Kürzung betroffenen Arbeitnehmers nach dem Betriebsübergang beendet. 3.8.5 Widerruf des Sozialplans 317 Ein Sozialplan, der vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, jedoch nicht früher als drei Monate vor dem Eröffnungsantrag aufgestellt worden ist, kann sowohl vom Insolvenzverwalter als auch vom Betriebsrat widerrufen werden (§ 124 Abs. 1 InsO). 318 Für die Ausübung des Widerrufsrechtes bedarf es keines Grundes. Der Widerruf ist deshalb auch nicht zu begründen; er ist an keine Form und Frist gebunden. Der Widerruf kann allerdings verwirkt werden. Das LAG Köln sieht das für die Verwirkung neben dem Umstandsmoment erforderliche Zeitmoment nach Ablauf von über einem Jahr nach Insolvenzeintritt als gegeben an.348) 319 Der Widerruf ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung und muss dem jeweils anderen Betriebspartner zugehen, auch dann, wenn der Sozialplan durch den Spruch einer Einigungsstelle zustande gekommen ist.349) 320 Der Insolvenzverwalter ist berechtigt, aber nicht verpflichtet, einen Sozialplan, welcher innerhalb von drei Monaten vor Eröffnungsantrag vereinbart wurde, zu widerrufen. Durch den Widerruf werden die sich aus dem widerrufenen Sozialplan ergebenden Ansprüche gegenstandslos. Die in dem widerrufenen Sozialplan aufgestellten Verteilungskriterien sind obsolet. Wird der Sozialplan nicht widerrufen, bleiben die Sozialplanforderungen aus diesem Sozialplan als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO bestehen, falls der Sozial___________ 347) BAG, Urt. v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, ZIP 2010, 849. 348) LAG Köln, Beschl. v. 17.10.2002 – 5/4 TaBV 44/02, NZI 2003, 335. 349) Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 123 Rz. 122.
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plan nicht von einem sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter geschlossen wurde (§ 55 Abs. 2 InsO).350) Für den Widerruf des Sozialplanes durch den Insolvenzverwalter ist auch nicht entscheidend, 321 ob dieser Sozialplan die Obergrenzen gemäß § 123 InsO einhält und ob der Insolvenzverwalter diesen Sozialplan evtl. in seiner Funktion als vorläufiger Insolvenzverwalter selbst abgeschlossen hat. Ausschlaggebend für den Widerruf durch den Insolvenzverwalter ist, ob Forderungen aus dem vorinsolvenzlichen Sozialplan bereits erfüllt wurden. Gemäß § 124 Abs. 3 InsO können Leistungen, die ein Arbeitnehmer vor der Eröffnung des Verfahrens auf seine Forderung aus dem widerrufenen Sozialplan erhalten hat, nicht wegen des Widerrufs zurückgefordert werden. Wird im Insolvenzverfahren ein neuer Sozialplan aufgestellt, so können die Arbeitnehmer, die bereits unter den Geltungsbereich des vorinsolvenzlichen Sozialplanes fielen, erneut bei der Aufstellung des Sozialplanes im Insolvenzverfahren berücksichtigt werden (§ 124 Abs. 2 InsO). Sie müssen auch berücksichtigt werden.351) Es war Ziel des Gesetzgebers, die aus einem „alten“ Sozialplan begünstigten Arbeitnehmer denjenigen Arbeitnehmern gleichzustellen, denen Forderungen aus einem nach Verfahrenseröffnung geschlossenen Sozialplan zustehen, da mit dem insolvenznahen Sozialplan (drei Monate vor Verfahrenseröffnung) regelmäßig Nachteile ausgeglichen werden sollen, die mit dem Eintritt der Insolvenz im Zusammenhang stehen.352) Hat ein Arbeitnehmer aus dem widerrufenen vorinsolvenzlichen Sozialplan bereits Leis- 322 tungen erhalten und wird er im Sozialplan nach Verfahrenseröffnung wieder berücksichtigt, ist die Abfindung, die er bereits aus dem vorinsolvenzlichen Sozialplan erhalten hat, bei der Berechnung des Gesamtbetrages der Sozialplanforderung im Insolvenzverfahren nach § 123 Abs. 1 InsO bis zur Höhe von zweieinhalb Monatsverdiensten abzusetzen. Sofern geprüft werden muss, ob überhaupt eine Sozialplanpflicht im Insolvenzverfahren besteht, sind diese Arbeitnehmer aber hinzuzurechnen. Dies hat zur Folge, dass die Arbeitnehmer, die aus dem vorinsolvenzlichen Sozialplan be- 323 reits einen höheren Abfindungsbetrag erhalten haben, als ihnen aus dem Sozialplan im Insolvenzverfahren zusteht, die Differenz nicht zurückzahlen müssen. Arbeitnehmer, die aus dem Sozialplan im Insolvenzverfahren einen höheren Anspruch erwerben, erhalten die Differenz unter Beachtung der insolvenzrechtlichen Verteilungsregelungen. In der Literatur wird vertreten, dass der Insolvenzverwalter Arbeitnehmer aus dem wider- 324 rufenen Sozialplan nicht in den Insolvenzsozialplan aufnehmen muss, sofern es sich bei dem vorinsolvenzlichen Sozialplan um einen freiwilligen Sozialplan handelte. Wurde hingegen ein erzwingbarer Sozialplan widerrufen, besteht die Sozialplanpflicht nach Widerruf unverändert fort und die Aufnahme dieser Arbeitnehmer in den Insolvenzsozialplan ist zwingend und erzwingbar.353) Dem Insolvenzverwalter wird der Widerruf eines vorinsolvenzlichen Sozialplans nur dann 325 anzuraten sein, wenn Leistungen aus diesem Sozialplan nicht oder nur unwesentlich geflossen sind, und wenn der vorinsolvenzliche Sozialplan weit über den Höchstgrenzen des § 123 InsO liegt und die Insolvenzmasse damit erheblich schmälert. Für den Betriebsrat wird der Widerruf dann von Interesse sein, wenn ein vorinsolvenzlicher 326 Sozialplan gerade wegen der versuchten Sanierung des Unternehmens die maximalen Obergrenzen des § 123 Abs. 1 InsO wesentlich unterschreitet. ___________ 350) 351) 352) 353)
BAG, Urt. v. 31.7.2002 – 10 AZR 275/01, NZA 2002, 1332. Vgl. auch Eisemann, NZA 2019, 81. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 155. Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 123 Rz. 128 m. w. N.
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327 Sozialpläne, die außerhalb des Drei-Monats-Zeitraums vor Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen wurden, unterliegen nicht dem Widerrufsrecht gemäß § 124 InsO. Soweit Leistungen aus diesen Sozialplänen noch nicht geflossen sind, sind die Forderungen gemäß § 38 InsO zur Insolvenztabelle anzumelden. Diese Sozialpläne sind weder ordentlich noch außerordentlich kündbar; ebenso wenig finden die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage Anwendung.354) 3.8.6 Verjährung von Sozialplanforderungen 328 Nach der Rechtsprechung des BAG unterliegen Ansprüche auf Zahlung einer Sozialplanabfindung der dreijährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB.355) 329 Die Verjährungsfrist des § 195 BGB ist auch dann anzuwenden, wenn es sich bei dem Sozialplananspruch um eine Masseforderung handelt. 330 Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den Tatsachen, die den Anspruch begründen, Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit Kenntnis erlangen musste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). 331 Ein Anspruch ist entstanden, sobald er im Wege der Klage geltend gemacht werden kann, was wiederum grundsätzlich voraussetzt, dass der Anspruch fällig ist.356) 332 Ein Anspruch auf Zahlung einer Sozialplanabfindung wird, wenn eine Fälligkeitsregelung im Sozialplan fehlt, regelmäßig am Ende des Arbeitsverhältnisses fällig.357) Das gilt auch für Sozialpläne im Insolvenzverfahren. 333 Gemäß § 123 InsO darf, wenn kein Insolvenzplan zustande kommt, für die Berichtigung von Sozialplanforderungen nicht mehr als 1/3 der Masse verwendet werden, die ohne den Sozialplan für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung steht (relative Obergrenze, siehe auch Rz. 295 ff.). Wird diese Grenze überschritten, sind die einzelnen Sozialplanforderungen anteilig zu kürzen. Die tatsächliche Höhe der Sozialplanansprüche kann somit erst festgestellt werden, wenn alle anderen Masseverbindlichkeiten berichtigt sind, denn erst dann lässt sich 1/3 der fiktiven Teilungsmasse berechnen.358) 334 Generell können Ausschüttungen auf Sozialplanforderungen nur erfolgen, wenn vorab die vorrangigen Masseschulden und Massekosten (§§ 54, 55 Abs. 1 – 3 InsO) befriedigt sind. Daraus folgt, dass im Falle einer Masseunzulänglichkeit keine Sozialplanansprüche bestehen, da diese nicht berichtigt werden können, weil die Masse schon nicht ausreicht, um alle Masseverbindlichkeiten und Massekosten gemäß § 53 InsO vorweg zu berichtigen.359) Das in §§ 123 Abs. 2, 209 InsO geregelte Verfahren soll nach der Rechtsprechung dazu führen, dass eine Bezifferung der Sozialplanansprüche der Arbeitnehmer nicht möglich ist, solange das Volumen der Insolvenzmasse nicht feststeht. Aus diesen Umständen folge, dass die Zeit für die Leistung aus dem Sozialplan erst dann eintritt, wenn die nach § 209 InsO zu berichtigenden Masseverbindlichkeiten feststehen.360) ___________ 354) Vgl. Fitting, BetrVG, §§ 112, 112a, Rz. 328 ff. 355) Vgl. BAG, Urt. v. 13.2.2007 – 1 AZR 184/06, ZIP 2007, 1129 = NZA 2007, 825 – 829, dazu EWIR 2007, 615 (Urban). 356) Vgl. Grüneberg-Ellenberger, BGB, § 199 Rz. 3. 357) BAG, Urt. v. 30.3.2004 – 1 AZR 85/03, NZA 2004, 1183 (LS). 358) BAG, Urt. v. 21.1.2010 – 6 AZR 785/08, NZA 2010, 413, dazu EWiR 2010, 301 (Moll/Krahforst). 359) LAG Düsseldorf v. 10.10.2013 – 5 Sa 747/13, ZIP 2013, 2482 = ZInsO 2014, 514.; BAG, Urt. v. 21.1.2010 – 6 AZR 785/08, NZA 2010, 413. 360) LAG Düsseldorf v. 10.10.2013 – 5 Sa 747/13, ZIP 2013, 2482 = ZInsO 2014, 514.
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Das LAG Düsseldorf lässt unentschieden, wann bei einem möglichen Wegfall der Masse- 335 unzulänglichkeit und damit Rückkehr in das reguläre Insolvenzverfahren der Anspruch auf Zahlung der Sozialplanabfindung fällig wird. Denkbar ist, dass bei hinreichenden Barmitteln und beendeten Arbeitsverhältnissen im Zeitpunkt des Wegfalls der Masseunzulänglichkeit die Sozialplanansprüche entstehen und fällig werden, sofern der Sozialplan keine anderslautende Fälligkeit bestimmt. Der Auffassung des LAG Düsseldorf, dass die Verjährung auch bei Fälligkeit der Abfindung 336 mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht begonnen hat, da für den Arbeitnehmer aufgrund der angezeigten Masseunzulänglichkeit nicht vorhersehbar sei, ob überhaupt eine Zahlung erfolgen und wie hoch diese sein wird, kann nicht gefolgt werden, da für den Verjährungsbeginn im Allgemeinen eine solche Kenntnis ausreicht, die es dem Geschädigten erlaubt, eine hinreichend aussichtsreiche – wenn auch nicht risikolose – und ihm daher zumutbare Feststellungsklage zu erheben. Die Bezifferbarkeit ist keine zwingende Voraussetzung für die Entstehung des Anspruches und die relative Obergrenze nach § 123 Abs. 2 Satz 2, 3 InsO ist nur eine Verteilungssperre, aber keine Wirksamkeitsschranke.361) Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter führt nicht dazu, 337 dass die Verjährung von Altmasseverbindlichkeiten gehemmt wird. Die Parteien können dann ein die Verjährung hemmendes Stillhalteabkommen vereinbaren, wenn der Insolvenzverwalter sich aufgrund der Anzeige der Masseunzulänglichkeit auf ein gesetzliches Leistungsverweigerungsrecht berufen kann. In diesem Fall genügt es für ein Stillhalteabkommen nicht, wenn der Gläubiger Hinweise auf das nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit bestehende Leistungsverweigerungsrecht unwidersprochen hinnimmt.362) Mit dieser Klarstellung durch den BGH führt weder die Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter nach § 208 Abs. 1 InsO noch die Aufnahme einer Altmasseforderung in eine vom Insolvenzverwalter geführte Liste zur Hemmung der Verjährung. Eine entsprechende Anwendung der §§ 205, 206 BGB scheidet aus.363) Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter ist auch kein Akt höherer Gewalt (§ 206 BGB) und hindert den Gläubiger nicht allgemein an der Rechtsverfolgung und damit der Hemmung der Verjährung, da dem Gläubiger zumindest eine Feststellungsklage offensteht. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit kann auch nicht als Verhandlung über den Anspruch gemäß § 203 BGB gewertet werden. Mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erklärt der Insolvenzverwalter nur, dass nunmehr eine „Notbefriedigung“ auf Kosten der Altmassegläubiger einsetzt und dass nicht klar ist, ob und wer befriedigt wird.364) Da Sozialplanansprüche in der Insolvenz aber nur im Wege der Feststellungsklage verfolgt 338 werden können (§§ 123 Abs. 3 Satz 2, 210 InsO) und ein Feststellungsinteresse nur dann besteht, wenn dem Recht des Gläubigers eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit dadurch droht, dass der Insolvenzverwalter das Recht des Gläubigers ernstlich bestreitet und das erstrebte Urteil in Folge seiner Rechtskraft geeignet wäre, diese Gefahr zu beseitigen,365) wird in der Literatur geschlussfolgert, dass es einer Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung nicht bedarf, weil in diesen Fällen der Verjährungsbeginn gemäß § 199 ___________ 361) Klasen, EWiR 2014, 195 zu LAG Düsseldorf v. 10.10.2013 – 5 Sa 823/13, ZIP 2013, 2482 = ZInsO 2014, 514 – Parallelentscheidung zu LAG Düsseldorf v. 10.10.2013 – 5 Sa 747/13. 362) BGH, Urt. v. 14.12.2017 – IX ZR 118/17, NZI 2018, 154 – unter Aufhebung der Urteile des OLG Düsseldorf v. 25.4.2017 und des LG Duisburg vom 30.5.2016. 363) BGH, Urt. v. 14.12.2017 – IX ZR 118/17, NZI 2018, 154 – unter Aufhebung der Urteile des OLG Düsseldorf v. 25.4.2017 und des LG Duisburg vom 30.5.2016. 364) Wenner/Jauch, ZIP 2009, 1894 ff. 365) Vgl. BAG, Urt. v. 21.1.2010 – 6 AZR 785/08, NZA 2010, 413.
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Abs. 1 Nr. 1 BGB (ein Anspruch ist entstanden, sobald er im Wege der Klage geltend gemacht werden kann) noch nicht eingetreten ist.366) 339 Infolge der Beseitigung jeglicher Vorrechte einzelner Gläubiger durch die InsO sind Arbeitnehmer und sonstige Gläubiger uneingeschränkt gleichzubehandeln. Deshalb wird sich der Insolvenzverwalter ggf. auf die Einrede der Verjährung auch gegenüber Arbeitnehmern berufen müssen. Gleichzeitig liegt es aber auch im Interesse des Insolvenzverwalters und der Gläubiger, keine unnötigen Gerichts- und Anwaltskosten (beachte Kostentragungspflicht gemäß § 12a ArbGG) für an sich unstreitige Sozialplanforderungen aufzuwenden. Zur Vermeidung kostenintensiver Feststellungsklagen (soweit ein Feststellungsinteresse im Einzelfall bestehen sollte) oder einer zeitaufwendigen Vielzahl verjährungshemmender Einzelerklärungen ist es ratsam, die Fälligkeit der Sozialplanansprüche im Sozialplan ausdrücklich zu regeln. 340 Eine Verjährungseinrede kann allerdings gegen Treu und Glauben verstoßen (§ 242 BGB). Eine unzulässige Rechtsausübung liegt vor, wenn der Schuldner den Gläubiger durch sein Verhalten von der Erhebung einer Klage abhält oder ihn nach objektiven Maßstäben zu der Annahme veranlasst, er werde auch ohne Rechtsstreit eine vollständige Befriedigung seines Anspruchs erzielen.367) Hat der Insolvenzverwalter im Einzelfall dem Arbeitnehmer mitgeteilt, dass er seinen Abfindungsanspruch durch Zahlung unter Berücksichtigung des Verlaufs des Insolvenzverfahrens und unter Beachtung der Verteilungsregeln der Insolvenzordnung erfüllen werde, sobald die Masseunzulänglichkeit beseitigt ist und Barmittel in ausreichender Höhe zur Verfügung stehen, wird der Arbeitnehmer im Regelfall davon ausgehen können, dass sein Anspruch dem Grunde nach unstreitig ist und der Insolvenzverwalter den Ausgleich auch ohne weitere verjährungshemmende Maßnahmen, insbesondere ohne Rechtsstreit und nur in Abhängig von der Höhe der zur Verteilung zur Verfügung stehenden Masse zu gegebener Zeit, auch nach Eintritt der Verjährung, vornehmen wird. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter die Sozialplanansprüche als unstreitige Ansprüche regelmäßig in den Halbjahresberichten benennt.368) 3.9
Transfermaßnahmen
341 Gerade in Insolvenzverfahren, die eine Betriebsfortführung zum Ziel haben, ist eine kurzfristige Umsetzung der geplanten Betriebsänderung erforderlich. Die Kurzfristigkeit scheitert meist daran, dass in schuldnerischen Unternehmen mit einer überalterten Personalstruktur für einen Großteil der Belegschaft die Maximalkündigungsfrist von drei Monaten gemäß § 113 InsO zu beachten und einzuhalten ist. Dies kann eine übertragende Sanierung erheblich erschweren und das Investoreninteresse senken. Daher empfiehlt es sich, nicht nur Sozialplanabfindungen, sondern auch über Transfermaßnahmen/Transferkurzarbeitergeldmaßnahmen mit dem Betriebsrat zu verhandeln. 342 Hierbei beraten die Agenturen für Arbeit die Betriebsparteien im Vorfeld der Entscheidung über die Einführung von Transfermaßnahmen, insbesondere i. R. der Verhandlungen über einen die Integration der Arbeitnehmer fördernden Interessenausgleich oder Sozialplan. Diese Transferberatungen durch die Agenturen für Arbeit sind seit dem 1.1.2011 (Einführung des Beschäftigungschancengesetzes in das SGB III) eine eigenständige Anspruchsvoraussetzung für die Förderung durch die Arbeitsagenturen (vgl. § 110 Abs. 1 Nr. 1, § 111 Abs. 1 Nr. 4 SBG III). ___________ 366) Pott, NZI 2015, 535 ff. 367) BAG, Urt. v. 7.11.2007 – 5 AZR 910/06, NZA 2008, 399. 368) LAG Düsseldorf, Urt. v. 10.10.2013 – 5 Sa 747/13, ZIP 2013, 2482 = ZInsO 2014, 514.
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Transfermaßnahmen sind gemäß § 110 Abs. 1 Satz 2 SGB III alle Maßnahmen zur Ein- 343 gliederung von Arbeitnehmern in den Arbeitsmarkt, an deren Finanzierung sich der Arbeitgeber angemessen beteiligt. Diese sehr weit gefasste Formulierung eröffnet einen sehr großen Gestaltungsspielraum. Zu diesen Maßnahmen gehören u. a. das Profiling, Bewerbungs- und Orientierungstraining, Praktika, Kurzqualifizierungsmaßnahmen und Maßnahmen der arbeitsplatzbezogenen Qualifizierung (Gabelstaplerschein, Schweißerpass), Existenzgründer- und Outplacementberatungen. Grundlage für die Regelung von Transfermaßnahmen ist der Sozialplan. Ziel des Transfer- 344 sozialplanes ist es, Arbeitnehmern, die von der Betriebsänderung betroffen sind, nicht nur einen finanziellen Ausgleich durch Zahlung einer Abfindung zu verschaffen, sondern ihnen die Möglichkeit einzuräumen, durch Vermittlungs- und Qualifizierungsangebote den Übergang in eine andere Beschäftigung zu ermöglichen. Das Angebot zum Übertritt in die Transfergesellschaft ist aber kein zumutbares Arbeitsplatzangebot i. S. von § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG.369) Der Insolvenzverwalter verpflichtet sich in dem Transfersozialplan, die erforderlichen Mittel zur Finanzierung der Durchführung von Transfermaßnahmen/Einrichtung einer Beschäftigungsgesellschaft mit Anspruch auf Transferkurzarbeitergeld bereitzustellen (§ 110 Abs. 1 Nr. 4 und § 111 Abs. 3 Nr. 3 SGB III). Regelungen über Transfermaßnahmen und Transferkurzarbeitergeld bieten sowohl für 345 den Insolvenzverwalter als auch für die Arbeitnehmer Vorteile: x
Die Vorteile für den Insolvenzverwalter liegen im Wesentlichen in der Vermeidung von Kündigungsfristen, da die Arbeitnehmer mit Abschluss des dreiseitigen Vertrages (Aufhebungsvertrag zwischen Arbeitnehmer und Verwalter, befristeter Arbeitsvertrag mit Transfergesellschaft) unverzüglich in die Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft wechseln. Die Aufhebungsverträge zwischen Insolvenzverwalter und Arbeitnehmer vermeiden Kündigungsschutzklagen. Die Kosten des Personalabbaus sind damit besser kalkulierbar. Zudem kann die Errichtung einer Transfergesellschaft die Kosten des Personalabbaus erheblich minimieren, da der Insolvenzverwalter nicht die Löhne der Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist, sondern lediglich die sog. Remanenzkosten (= remanente Kosten, die dem Insolvenzverwalter mindestens bleiben), d. h. die Beiträge zur Sozialversicherung, ausgehend von 80 % des Bruttoentgeltes, den mit dem Betriebsrat ausgehandelten Aufstockungsbetrag zum Kurzarbeitergeld (in der Regel auf 80 % des Nettoentgeltes), Zahlung für Urlaubstage und Feiertage, evtl. vereinbarte Sonderzahlungen für die jeweilige Verweildauer der Arbeitnehmer in der Transfergesellschaft tragen muss. Die Remanenzkosten betragen ca. 35 % der Personalkosten, fallen aber unter Beachtung der Urlaubs- und Feiertage und der freiwilligen Aufstockungsbeträge meist höher aus.
x
Die Vorteile für den Arbeitnehmer liegen in der Hinauszögerung oder sogar in der Vermeidung des Eintrittes von Arbeitslosigkeit. Die Verweildauer in der Transfergesellschaft kann bis zu zwölf Monate betragen. Der Wechsel in die Transfergesellschaft löst keine Sperrfrist aus.370) Der Arbeitnehmer erhält zudem die Möglichkeit zur Teilnahme an Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen und professionelle Unterstützung bei der Vorbereitung von Bewerbungsgesprächen. Führen diese Bewerbungsgespräche zu einer Arbeitserprobung bei einem neuen Arbeitgeber, muss das Arbeitsverhältnis mit der Transfergesellschaft nicht beendet werden, sondern ruht, damit der Arbeitnehmer ggf. bei erfolgloser Arbeitserprobung in die Transfergesellschaft zurückkehren kann. Da sich der Arbeitnehmer während der Verweildauer in Kurzarbeit befindet, kann er
___________ 369) S. a. Kübler/Prütting/Bork-Schöne, InsO, § 122 Rz. 73. 370) Gagel-Bieback, SGB III, § 111 Rz. 173.
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die Freistellungszeiten aktiv für eine berufliche Neuorientierung nutzen. Führt die professionelle Betreuung bei der beruflichen Neuorientierung während der Verweildauer in der Transfergesellschaft nicht zu einer Vermittlung in ein neues Arbeitsverhältnis, tritt die Arbeitslosigkeit somit erst nach Ablauf der befristeten Verweildauer in der Transfergesellschaft ein. Eine Sperrfrist wird nicht verhängt, da das Arbeitsverhältnis mit der Transfergesellschaft auf der Grundlage einer wirksamen Befristung endet. Das Arbeitslosengeld wird auf der Basis der Verdienste bei der Insolvenzschuldnerin vor Eintritt in die Transfergesellschaft berechnet.371) Eine etwaig vom Arbeitgeber/Insolvenzverwalter mit Wechsel in die Transfergesellschaft gezahlte Abfindung führt nicht zum Ruhen des Arbeitslosengeldanspruches nach Beendigung des befristeten Arbeitsverhältnisses mit der Transfergesellschaft; § 143a SGB III ist nicht anwendbar. 346 Ein Transfersozialplan kann auch durch eine Gewerkschaft mit einem Streik erzwungen werden, da Gewerkschaften auch zu Streiks für einen Tarifvertrag aufrufen können, in welchem die wirtschaftlichen Nachteile, die durch eine Betriebsänderung entstehen, ausgeglichen oder gemildert werden sollen.372) Gewerkschaften können hierdurch die Betriebsräte bei den Verhandlungen zu einem Transfersozialplan unterstützen (§ 2 Abs. 3 BetrVG), wenngleich der Transfersozialplan selbst vom Insolvenzverwalter und Betriebsrat auszuhandeln und zu unterzeichnen ist. 347 Der Transfersozialplan regelt neben der Zahlung einer Abfindung für ausscheidende Mitarbeiter auch Transferleistungen, z. B. durch Outplacementberatung und/oder Übertritt in eine Transfergesellschaft. Der Transfersozialplan lässt somit den Arbeitnehmern die Wahl, verschiedene Transferangebote wahrzunehmen oder aber die Zahlung einer Abfindung zu maximieren. Wegen der geringen finanziellen Möglichkeiten im Insolvenzverfahren werden regelmäßig Sozialpläne abgeschlossen, die eine Anrechnung der Kosten für die Transfergesellschaft auf das Sozialplanvolumen vorsehen, dennoch ist die Hinauszögerung des Eintritts in die Arbeitslosigkeit für die meist älteren Arbeitnehmer in insolventen Betrieben von größerer Bedeutung als eine Abfindungszahlung. 348 Die oben genannten förderungsfähigen Maßnahmen können im Transfersozialplan vereinbart werden, sofern folgende betriebliche Voraussetzungen erfüllt sind: x
wenn die Arbeitnehmer aufgrund von Betriebsänderungen von Arbeitslosigkeit bedroht sind,
x
wenn eine arbeitsmarktpflichtzweckmäßige Maßnahme zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt von einem Dritten durchgeführt wird, wobei dieser ein internes System zur Qualitätssicherung anwenden muss,
x
wenn der Dritte eine Trägerzulassung nach § 178 SGB III hat,
x
wenn die Durchführung der Maßnahme bis zu deren planmäßigem Ende gesichert ist und
x
der Arbeitgeber mindestens 50 % der ihm verbleibenden Maßnahmekosten trägt.
349 Als Betriebsänderungen gelten solche i. S. des § 111 BetrVG, unabhängig von der Unternehmensgröße und der Anwendbarkeit des BetrVG im jeweiligen Betrieb. 350 Eine Förderung ist für jene Arbeitnehmer ausgeschlossen, die eine solche der vorgenannten Maßnahmen nicht benötigen, weil sie unverzüglich in ein neues Arbeitsverhältnis vermittelt werden können. Die Förderung ist ebenfalls ausgeschlossen, wenn die vorgenannten Maßnahmen lediglich dazu dienen sollen, die Arbeitnehmer auf eine Anschlussbeschäftigung ___________ 371) BSG, Urt. v. 4.7.2012 – B 11 AL 9/11 R, NZA-RR 2013, 103, 104. 372) BAG, Urt. v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, ZIP 2007, 1768.
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im gleichen Betrieb oder einem anderen Betrieb des gleichen Unternehmens vorzubereiten. Eine Förderung ist ebenfalls nicht möglich in Betrieben des öffentlichen Dienstes, es sei denn, die Beschäftigung erfolgt in Unternehmen, die in selbstständiger Rechtsform erwerbswirtschaftlich betrieben werden. Die Arbeitsagenturen fördern die vorgenannten Maßnahmen durch einen Zuschuss i. H. von 50 % der erforderlichen und angemessenen Maßnahmekosten, maximal i. H. von 2 500 € je Arbeitnehmer. Auf diesen Zuschuss besteht bei Erfüllung der Voraussetzungen ein Rechtsanspruch.373) II.
Tarifrechtliche Probleme
1.
Tarifgebundenheit des Insolvenzverwalters
Tarifliche Regelungen zur Entlohnung aber auch zu den Rahmenbedingungen von Beschäf- 351 tigungsverhältnissen können für eine Betriebsfortführung belastend sein. Ob und in welchem Umfang Insolvenzverwalter tarifgebunden sind, ist damit für die Frage einer möglichen Änderung vorn Arbeitsbedingungen von entscheidender Bedeutung. 1.1
Begriff der Tarifgebundenheit
Gemäß § 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien 352 und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrages ist, tarifgebunden. Rechtsnormen des Tarifvertrages über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden sind. Die Tarifgebundenheit bleibt bestehen, bis der Tarifvertrag endet (§ 3 Abs. 3 TVG). 1.2
Mitglieder der Tarifvertragsparteien
Tarifgebunden sind nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien (Arbeitgeberverbände, 353 Gewerkschaften). Die Tarifvertragsparteien sind als rechtsfähige oder nichtrechtsfähige Vereine organisiert. Für die Mitgliedschaft ist das Satzungsrecht des Vereins maßgeblich. Die Mitgliedschaft des schuldnerischen Unternehmens in einem Arbeitgeberverband ist für den Insolvenzverwalter meist schnell festgestellt. Allerdings muss auch der Mitgliedschaftsstatus ermittelt werden, da es möglich sein kann, dass das Unternehmen lediglich ein sog. „OT-Mitglied“ (ohne Tarifbindung) ist.374) In diesem Fall läge trotz Mitgliedschaft keine Tarifbindung vor. Ob dieser Status allerdings wirksam begründet wurde, oder nicht doch Tarifbindung vorliegt, weil z. B. durch eine fristlose Kündigung der Status gewechselt wurde, ist sofort zu Beginn des Verfahrens zu prüfen, um realistisch einschätzen zu können, welche Ansprüche der Arbeitnehmer bestehen.375) Schwieriger gestaltet sich die Feststellung, welche Arbeitnehmer Mitglied welcher Gewerk- 354 schaft sind. Zwar ist die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit vor der Einstellung des Arbeitnehmers nicht zulässig, jedoch darf die Frage im bestehenden Arbeitsverhältnis gestellt werden. Finden sich in den Arbeitsverträgen, die bereits zu Beginn des vorläufigen Insolvenzverfahrens zu prüfen sind, keine Bezugnahmeklauseln auf die für den Arbeitgeber geltenden Tarifverträge, sollten im Falle der Tarifbindung des Arbeitgebers die Arbeitnehmer nach ihrer Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft befragt werden. Ebenso wichtig ist es für den (vorläufigen) Insolvenzverwalter, unverzüglich den Kontakt zur zuständigen Gewerkschaft herzustellen. ___________ 373) Vgl. auch Merkblatt 8c der Bundesagentur für Arbeit (Transferleistungen), Stand: 1.11.2021, abrufbar unter www.arbeitsagentur.de und Fachliche Weisungen Transfermaßnahme, gültig ab 26.4.2022, abrufbar unter www.arbeitsagentur.de (Abrufdatum: 18.11.2022). 374) BAG, Urt. v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521. 375) Vgl. hierzu z. B. BAG, Urt. v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; BAG, Urt. v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, NZA-RR 2012, 260.
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§ 26 1.3
Teil V Einzelfragen Beginn und Ende der Mitgliedschaft in der Tarifvertragspartei
355 Der Erwerb der Mitgliedschaft erfordert einen Antrag und die Aufnahme durch die Organisation. Die Mitglieder der Tarifvertragspartei sind zum Austritt aus dem Verein berechtigt (§ 39 Abs. 1 BGB). Der Insolvenzverwalter selbst ist im Regelfall nicht tarifgebunden, da er nicht Mitglied eines Unternehmerverbandes ist. 356 Die Insolvenz des Mitgliedes berührt die Mitgliedschaft nicht, es sei denn, die Satzung des Vereins bestimmt etwas anderes oder Grundlage der Mitgliedschaft ist eine Geschäftsbesorgung. Die InsO enthält keine Vorschriften über die Geltung von Tarifnormen während des Insolvenzverfahrens. In Literatur und Rechtsprechung wird jedoch übereinstimmend vertreten, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nicht beseitigt. Soweit aus der Satzung des Arbeitgeberverbandes bzw. aus § 116 InsO (siehe Rz. 359 ff.) folgt, dass die Mitgliedschaft des Schuldnerunternehmens durch die Insolvenz endet, bleibt die Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 3 TVG bis zum Ende des Tarifvertrages bestehen. 357 Gemäß § 38 BGB ist die Mitgliedschaft nicht übertragbar. Die Ausübung der Mitgliedschaftsrechte kann nicht einem anderen überlassen werden, wenn die Verbandssatzung insoweit nicht etwas anderes bestimmt (§ 40 BGB). Der Insolvenzverwalter kann sich in einem Rechtsstreit vor Gericht deshalb jedenfalls dann nicht durch den Vertreter eines Arbeitgeberverbandes vertreten lassen, wenn nach der Verbandssatzung die Mitgliedschaft des Gemeinschuldners geendet hat und der Verwalter nicht selbst Mitglied des Verbandes ist.376) 358 Wird ein Betrieb von dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages erfasst, so müssen die Rechtsnormen dieses allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages auch über die Insolvenzeröffnung hinaus eingehalten werden (§ 5 Abs. 4 TVG). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Insolvenzverwalter die Arbeitnehmer weiter in der bisherigen betriebsüblichen Weise oder nur noch mit Abwicklungsarbeiten beschäftigt.377) 1.4
Beendigung der Mitgliedschaft per Gesetz
359 Erlischt mit Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die Mitgliedschaft des schuldnerischen Unternehmens im Arbeitgeberverband gemäß §§ 115, 116 InsO? 360 Geschäftsbesorgung i. S. des § 675 BGB ist eine selbständige Tätigkeit wirtschaftlicher Art, für die ursprünglich der Geschäftsherr selbst zu sorgen hat, die ihm aber durch einen anderen (den Geschäftsführer) abgenommen wird. Der Geschäftsbesorger besorgt somit fremde Geschäfte für fremde Rechnungen im eigenen oder fremden Namen, aber immer unter Wahrung seiner Selbständigkeit. Dienst- oder Werkverträge, denen diese Merkmale fehlen, fallen nicht unter § 116 InsO. 361 Regelmäßig besteht der Zweck eines Arbeitgeberverbandes in der Wahrnehmung der Interessen seiner Mitglieder auf allen Gebieten des Tarifwesens, des Arbeits- und Sozialrechts und der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, der Bildungs- und Gesellschaftspolitik sowie der branchenspezifischen Regional- und Strukturpolitik. In Erfüllung dieses Zweckes des Verbandes gehört es zu seinen Hauptaufgaben, Vereinbarungen mit den zuständigen Gewerkschaften zu kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen zu treffen (Abschluss von Tarifverträgen) und die Mitglieder auf allen genannten Gebieten zu beraten, zu unterstützen und zu vertreten, sowie den Erfahrungsaustausch unter den Mitgliedern zu fördern. Die Tätigkeit eines Arbeitgeberverbandes ist mithin auf rechtsgeschäftliches Handeln gerichtet. Sie ___________ 376) BAG, Urt. v. 20.11.1997 – 2 AZR 52/97, ZIP 1998, 437 = NZA 1998, 334, Koch in: ErfK, § 11 ArbGG Rz. 5 – 6. 377) Vgl. BAG, Urt. v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, ZIP 1987, 727 = NZA 1987, 455.
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ist auch selbständig, da genügend Raum für eigenverantwortliche Überlegungen und Willensbildungen des Verbandes bleibt. Die Tätigkeit des Verbandes ist auch wirtschaftlicher Art, da sie, insbesondere bei Tarifabschlüssen Bezug zum Vermögen der Mitglieder des Verbandes hat. Die Tätigkeit des Verbandes erfolgt darüber hinaus in fremdem Interesse, d. h., sie ist auf solche Geschäfte gerichtet, für die die Mitglieder des Verbandes selbst sorgen könnten (z. B. Abschluss eines Tarifvertrages aufgrund bestehender Tariffähigkeit des Mitgliedes), die dem Mitglied aber durch den Verband abgenommen werden (Verband ist regelmäßig Tarifvertragspartei). Die Tätigkeit des Verbandes erfolgt entgeltlich. Gemäß den Satzungen werden zur Aufbringung der durch die Erfüllung des Verbandszweckes entstehenden Kosten von den Verbandsmitgliedern Beiträge erhoben. Dem Mitgliedschaftsverhältnis im Unternehmerverband liegt somit ein Geschäftsbesor- 362 gungsvertrag zugrunde. Es gilt § 115 InsO entsprechend, weshalb mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Mitgliedschaft im Unternehmerverband erlischt. 1.5
Auswirkungen der Beendigung der Mitgliedschaft auf die Tarifgebundenheit
1.5.1 Auswirkungen auf die Tarifgebundenheit des Schuldners Auch das Ende der Mitgliedschaft des schuldnerischen Unternehmens im Arbeitgeberver- 363 band berührt zunächst nicht die Tarifgebundenheit, welche bestehen bleibt, bis der Tarifvertrag endet (§ 3 Abs. 3 TVG). Diese Nachbindung endet, sobald z. B. der Tariflohn im Tarifgebiet geändert wird. Das BAG hat sich aus Gründen der Rechtsklarheit dahingehend geäußert, dass viel dafürspräche, dass jede Änderung eines Tarifvertrages als Beendigung i. S. des § 3 Abs. 3 TVG – auch hinsichtlich der unveränderten Bestimmungen – anzusehen sei.378) 1.5.2 Auswirkungen auf die Tarifgebundenheit des Insolvenzverwalters Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Insolvenzverwalter durch 364 den Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO keine weitergehenden Rechte als der Schuldner erlangt. Er ist vielmehr an die Rechtslage gebunden, die bei Eröffnung des Verfahrens besteht. Der Insolvenzverwalter rückt in die Arbeitgeberposition ein mit der Folge, dass er sämtliche Rechte und Pflichten hat, die sich aus der Arbeitgeberstellung des Insolvenzschuldners ergeben. Somit ist der Insolvenzverwalter auch an die im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geltenden Tarifverträge und/oder Betriebsvereinbarungen in gleicher Weise wie die Gemeinschuldnerin gebunden, selbst dann, wenn nur noch Restaufträge abgewickelt werden.379) Die Rechtsprechung des BAG entspricht der Auffassung der Vertreter der Amtstheorie, 365 wonach der Verwalter kraft des ihm übertragenen Amtes die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse im eigenen Namen ausübt. Das heißt, er handelt als Amtswalter in eigenem Namen und im Prozess als Partei kraft Amtes, wobei er ein privates Amt ausübt. Da der Insolvenzverwalter trotz Beendigung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband 366 an die Bestimmungen des Tarifvertrages bis zu dessen Ablauf gebunden bleibt, sind hinsichtlich möglicher Masseverbindlichkeiten ggf. entstandene Differenzen zwischen Tariflohn und gezahltem Lohn zu ermitteln und Rückstellungen zu bilden. Bei der Höhe der ___________ 378) BAG, Urt. v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 – 701; vgl. auch BAG, Urt. v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105; BAG, Urt. v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53. 379) BAG, Urt. v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, ZIP 1987, 727 = NZA 1987, 455; vgl. auch Plössner in: BeckOK-ArbR, § 113 InsO Rz. 1 – 5, wonach der Insolvenzverwalter gemäß § 80 Abs. 1 InsO auch die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband wahrnehmen soll.
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Rückstellungen sind nicht nur die Bruttolohndifferenzen für die Arbeitnehmer, sondern auch die abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge zu berücksichtigen. 1.6
Nachwirkung
367 Nach Ablauf des Tarifvertrages tritt die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein. Die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ist jedoch statisch, d. h., sie beschränkt sich darauf, den materiell-rechtlichen Zustand für das Arbeitsverhältnis beizubehalten, der bei Eintritt der Nachwirkung bestand.380) An weiteren Änderungen nehmen die nachwirkenden Tarifnormen nicht teil. 368 Nach § 4 Abs. 5 TVG gelten die Rechtsnormen eines Tarifvertrages nach seinem Ablauf weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Eine „andere Abmachung“ i. S. des § 4 Abs. 5 TVG kann nach ständiger Rechtsprechung des BAG auch eine einzelvertragliche Abrede sein. Der Sinn der Nachwirkung besteht darin, ein inhaltsloses Arbeitsverhältnis zu verhindern. Daher kann gemäß der Rechtsprechung des BAG eine „andere Abmachung“ nur eine rechtlich relevante Vereinbarung sein, die auf das konkrete Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Die andere Abmachung muss den nachwirkenden Tarifvertrag ersetzen, sollte daher in zeitlicher Hinsicht erst nach Ablauf des Tarifvertrages getroffen werden. Allerdings wird in der Literatur auch vertreten, dass es genüge, wenn die andere Abmachung bereits im Zeitpunkt der noch normativen und zwingenden Wirkung des Tarifvertrages, aber bereits im Hinblick auf das Ende des Tarifvertrages und auf die Nachwirkung vereinbart wird.381) 369 Gemäß ständiger Rechtsprechung des BAG erstreckt sich die Nachwirkung von Inhaltsnormen eines Tarifvertrages nach § 4 Abs. 5 TVG trotz Tarifbindung der Parteien aber nicht auf ein erst im Nachwirkungszeitraum begründetes Arbeitsverhältnis, sondern besteht nur für solche Arbeitsverhältnisse, die in der Laufzeit des Tarifvertrages bestanden haben und ihm unterlagen,382) weshalb mit Arbeitnehmern, die im Nachwirkungszeitraum eingestellt werden, Löhne wirksam vereinbart werden können, die unter dem Tariflohn liegen. Insoweit ist allenfalls zu berücksichtigen, dass die vereinbarten Löhne dem Mindestlohngesetz entsprechen. 370 Andere Abmachungen als individualrechtliche Vereinbarungen können auch Tarifverträge (Sanierungstarifvertrag mit der Gewerkschaft im Wege eines Haustarifvertrags) und Betriebsvereinbarungen in den Grenzen des § 77 Abs. 3 BetrVG sein. In größeren Betrieben sollte zur Vermeidung vieler individual-rechtlicher Änderungsvereinbarungen geprüft werden, ob durch den Abschluss eines Sanierungstarifvertrages die Bedingungen der Arbeitsverhältnisse geändert werden kann. 2.
Sanierungstarifverträge
371 Regelmäßig dienen Sanierungstarifverträge dem tarifgebundenen Arbeitgeber bei der Aussetzung von Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) und der Hinauszögerung von Entgelterhöhungen. Aber auch die Flexibilisierung von Arbeitszeiten kann Gegenstand des Sanierungstarifvertrages sein. Hierbei ist an die Erhöhung von Arbeitszeiten ohne ___________ 380) Vgl. BAG, Urt. v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 – 458; BAG, Urt. v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, NJOZ 2012, 1507 = BeckRS 2012, 70498. 381) BAG, Urt. v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, DB 2005, 2305 = AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG, Urt. v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 40; BAG, Urt. v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265; vgl. hierzu auch weiterführend Franzen in: ErfK, § 4 TVG Rz. 64. 382) BAG, Urt. v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 – 1288; BAG, Urt. v. 7.5.2008 – 4 AZR 288/07, NZA 2008, 886.
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Lohnausgleich bei guter Auslastung des Unternehmens, an den Aufbau von Mehrarbeitsstunden ohne Zuschläge bei absehbar nur vorübergehend erhöhter Auslastung und den Aufbau von Minusstunden bei absehbar nur vorübergehender Stagnation der Auftragslage, zu denken. Dazu schließen – meist im Vorfeld und zur Vermeidung einer Insolvenz – die Arbeitgeber regelmäßig mit der Gewerkschaft des Verbandstarifes abweichende Haustarifverträge. Möglich ist auch, dass der Arbeitgeberverband und Gewerkschaft einen unternehmensbezogenen Verbandstarifvertrag abschließen. Im Gegenzug verlangt die Gewerkschaft vom Arbeitgeber meist Investitionen und einen 372 Verzicht auf den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen während der Laufzeit des Tarifvertrages, oder zumindest die Regelung konkreter Ausnahmetatbestände für betriebsbedingte Kündigungen. Der im Sanierungstarifvertrag vereinbarte Kündigungsverzicht hat nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen § 113 InsO keine Bedeutung. Ist im Sanierungstarifvertrag allerdings der Ausspruch der Kündigung von der Zustimmung des Betriebsrates abhängig, verdrängt § 113 InsO nach bisheriger Auffassung des BAG dieses Zustimmungserfordernis nicht. Es ist nach dem BAG ggf. zu prüfen, ob dieses Erfordernis auch im Falle einer Betriebsstilllegung durch den Insolvenzverwalter gilt.383) Hingegen werden Unkündbarkeitsklauseln in Betriebsvereinbarungen durch § 113 InsO verdrängt.384) Allein die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist kein wichtiger Grund, einen Haustarif- 373 vertrag zu kündigen. Es ist durch Auslegung des Tarifvertrages zu ermitteln, ob und welche Tarifnormen in der Insolvenz gelten.385) Ein Sanierungstarifvertrag kann auch bereits entstandene tarifliche Ansprüche rückwirkend 374 beseitigen, soweit die betroffenen Arbeitnehmer nicht auf den Fortbestand dieser Ansprüche vertrauen durften.386) Ebenso ist es möglich, dass Insolvenzverwalter und Gewerkschaft nach Verfahrenseröff- 375 nung einen Sanierungstarifvertrag schließen, um die Reorganisation oder die übertragende Sanierung überhaupt zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern. Im Falle eines Betriebsübergangs auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber kann dieser 376 Sanierungstarifvertrag nicht durch Gewerkschaft oder Arbeitnehmer beendet werden. Nach einem Betriebsübergang gilt auch ein Firmentarifvertrag beim Erwerber lediglich nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, nicht aber tarifrechtlich weiter. Ein anderes gilt nur dann, wenn der Erwerber die tarifrechtliche Geltung mit der am Tarifvertragsabschluss beteiligten Gewerkschaft in der Form des § 1 Abs. 2 TVG vereinbart. Das zum schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrags gehörende Kündigungsrecht ist nicht Bestandteil der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Rechte und Pflichten. Eine auf die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Normen eines Tarifvertrags begrenzte Kündigung eines Arbeitnehmers ist als Teilkündigung unzulässig (Orientierungssätze des BAG).387) Ob der Sanierungstarifvertrag wegen „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ nach einem Be- 377 triebsübergang gegenstandslos geworden ist, hat das BAG nicht entschieden. Der Erwerb des Betriebes durch den neuen Inhaber allein lässt die Geschäftsgrundlage zumindest nicht entfallen.388) Geschäftsgrundlage einer Transformation der arbeitsvertraglichen Rechte und Pflichten nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist allein die normative Geltung der Tarifrege___________ 383) BAG 19.1.2000 – 4 AZR 911/98, BeckRS 2009, 68954; Müller-Glöge in: ErfK, § 113 InsO Rz. 6 – 7b; abweichend LAG Düsseldorf, Urt. v. 18.11.2015 – 4 Sa 478/15, ZIP 2016, 737 = NZA 2016, 368. 384) BAG, Urt. v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, ZIP 2006, 631= NZA 2006, 658. 385) Müller-Glöge in: ErfK, Einf. InsO Rz. 57; BAG, Urt. v. 19.1.2000 – 4 AZR 911/98, BeckRS 2009, 68954. 386) BAG, Urt. v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444. 387) BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, ZIP 2010, 344 = NZA 2010, 238, dazu EWiR 2010, 111 (Schreiner/Parotat). 388) Griese, Arbeitsrecht Aktiv 2009, 194.
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lungen im Arbeitsverhältnis vor dem Betriebsübergang. Ein Betriebsübergang führt nicht dazu, dass der Erwerber Partei des Sanierungstarifvertrages wird, wenn er nicht tarifgebunden ist. Die Kündigung des Tarifvertrages kann daher nicht gegenüber einem nicht tarifgebundenen Erwerber erfolgen.389) 378 Das gilt auch für bereits vereinbarte, aber erst später wirksam werdende Rechte und Pflichten, die in Normen eines vor Betriebsübergang in Kraft gesetzten Sanierungstarifvertrags geregelt sind. Auch diese werden bei einem nicht tarifgebundenen Erwerber zum Inhalt des mit dem Arbeitnehmer bestehenden Arbeitsverhältnisses (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). Die erst beim – nicht tarifgebundenen – Erwerber eintretende Fälligkeit von bereits vor dem Betriebsübergang in einem Sanierungstarifvertrag vereinbarten Ansprüchen widerspricht nicht dem Grundsatz der negativen Koalitionsfreiheit. Das BAG geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass Kollektivnormen statisch fortgelten, jedoch eine in der Norm selbst angelegte Entwicklung aufrechterhalten bleibt und dass alle Rechtspositionen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs den Inhalt des Arbeitsverhältnisses bestimmen, von der Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erfasst sind. Rechte und Pflichten, die in einem vor dem Betriebsübergang abgeschlossenen Tarifvertrag geregelt sind, die erst zu einem Zeitpunkt fällig werden, der nach dem Betriebsübergang liegt, sind als Bestandteil der zwischen den Arbeitsvertragsparteien unmittelbar und zwingend geltenden Rechte und Pflichten nicht von der Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ausgenommen. So ist u. a. eine bereits festgelegte Dynamik, bei der es ausschließlich auf den Zeitablauf ankommt, davon miterfasst. Von dieser in der vereinbarten Norm bereits festgelegten Dynamik ist aber eine Dynamik zu unterscheiden, die einer nachträglichen Veränderung der Norm geschuldet ist. Letztere wirkt sich nicht auf den Inhalt der transformierten Norm aus. Ansprüche aus einem Tarifvertrag, der zwar vor einem Betriebsübergang abgeschlossen worden ist, jedoch erst danach in Kraft tritt, gehören mithin nicht zu den Rechten und Pflichten aus dem im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnisses i. S. von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB und werden deshalb nicht nach § 613 Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses mit dem neuen Betriebsinhaber.390) 379 Sanierungstarifverträgen wird in der Praxis zu wenig Beachtung geschenkt. Gewerkschaften und Arbeitnehmer sind im Interesse des Erhaltens von Arbeitsplätzen zu Zugeständnissen bereit, Erwerber möchten die ausgehandelten und für sie günstigeren Arbeitsbedingungen für die Zukunft gesichert wissen. Der Sanierungstarifvertrag kann damit die Veräußerungschancen deutlich erhöhen. 380 Im Falle der Betriebsfortführung eines tarifgebunden Schuldners sind unverzüglich Verhandlungen mit der zuständigen Gewerkschaft zum Abschluss eines Sanierungstarifvertrages zu empfehlen. Da der Sanierungstarifvertrages aber nur für Mitglieder der Gewerkschaft gilt und für nicht organisierte Arbeitnehmer einzelvertragliche Regelungen gefunden werden müssen, wenn die Arbeitsverträge keine wirksame Bezugnahmeklausel enthalten, sind in den Verhandlungen möglichst die Namen der Gewerkschaftsmitglieder zu ermitteln. Ist dies nicht möglich, sollte nach Abschluss des Sanierungstarifvertrages mit jedem Arbeitnehmer individualrechtlich vereinbart werden, dass der Sanierungstarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. ___________ 389) Vgl. Giesen in: BeckOK-ArbR, § 613a BGB Rz. 250a; BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, ZIP 2010, 344 = NZA 2010, 238; BAG, Urt. v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = NZA 2010, 41. 390) BAG, Urt. v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, Rz. 26, ZIP 2008, 378 = NZA 2008, 241; s. a. BAG, Urt. v. 22.9.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = NZA 2010, 41, dazu EWiR 2010, 213 (Haußmann), und BAG, Urt. v. 16.5.2012 – 4 AZR 321/10, Rz. 32, ZIP 2012, 1727 = NZA 2012, 923, dazu EWiR 2012, 617 (Krüger).
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§ 27 Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz Wohlleben/Daniels
Übersicht I. 1.
2.
Begriffliche Grundlagen ............................ 1 Insolvenzgesicherte betriebliche Altersversorgung.......................................... 2 1.1 Zusage des Arbeitgebers ................. 3 1.2 Betriebliche Altersversorgung i. S. des Gesetzes.............................. 4 1.3 Gesicherte Altersversorgungsansprüche ......................................... 7 1.4 Versorgungsfall.............................. 10 1.5 Erfasste Durchführungswege ....... 12 1.6 Abgrenzung zu nicht gesicherten Ansprüchen ................................... 13 Sicherungsfall.............................................. 16 2.1 Eröffnung des gerichtlichen Insolvenzverfahrens ...................... 17 2.2 Abweisung mangels Masse............ 19 2.3 Vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit ohne gerichtliches Insolvenzverfahren.............. 20 2.4 Zustimmung des PSVaG zu einem außergerichtlichen Vergleich ........................................ 21 2.5 Exkurs: StaRUG ............................ 26
II. Abwicklung im Regelinsolvenzverfahren .................................................... 29 1. Leistungserbringung durch den PSVaG ... 30 2. Forderungs- und Vermögensübergang; Vermögensübertragung (§ 9 BetrAVG)...... 36 3. Kapitalisierte Forderungsanmeldung (§ 9 Abs. 2 BetrAVG)................................ 44 4. Nachträgliche Berichtigung der PSVaG-Forderungen ........................... 51 5. Mitwirkung in Gläubigerausschüssen und Gläubigerversammlungen................... 57 III. Handlungsoption Insolvenzplan ............ 63 1. Allgemeines zum Planverfahren................ 63 2. Berücksichtigung der Forderungen des PSVaG im Insolvenzplan .................... 69 3. Fortführung von betrieblicher Altersversorgung durch den Arbeitgeber ........... 72 3.1 Aufteilung von betrieblicher Altersversorgung zwischen PSVaG und Arbeitgeber................ 75 3.2 Besserungsklausel .......................... 83 4. Eigene Gruppe............................................ 90 IV. Zusammenfassung und Ausblick ............ 94
Literatur: Berenz, Insolvenz eines Trägerunternehmens der Pensionskasse – Vermögensübertragung auf den PSVaG, BetrAV 2021, 205; Birkenbeul, Praxisgesichtspunkte für die Sicherung betrieblicher Versorgungszusagen in einer Großinsolvenz, BetrAV 2006, 227; Borgers, Insolvenzschutz von Zusagen über Pensionskassen aus Sicht des PSVaG, BetrAV 2021, 687; Borgers, Systematik der Insolvenzsicherung von Pensionskassenzusagen nach § 30 Abs. 3 BetrAVG, BetrAV 2021, 96; Brambach, Gläubigermitwirkung weiterhin ausbaufähig, INDat-Report 02/2022, 51; Brambach, Außergerichtlicher Vergleich könnte Restrukturierungsplan flankieren, INDat-Report 01/2020, 64; Feldkamp, Die Rolle der Versicherungsmathematik beim PSVaG, BetrAV 2006, 232; Harig/Harder, Der IDW S 2 und das SanInsFoG: Neuer Standard für Insolvenzpläne, ZRI 2021, 67; Holthusen, Die Regelung des § 7 IV BetrAVG im Insolvenzplanverfahren, NZI 2021, 705; Küppers, Kongruent rückgedeckte Versorgungen in der Insolvenz, BetrAV 2018, 101; Reus/Höfer/Harig, Voraussetzungen und Ablauf eines Eigenverwaltungsverfahrens, NZI 2019, 57; Rieger, Verpflichtungen aus betrieblicher Altersversorgung in Insolvenzplänen, NZI 2013, 671; Uhlenbruck, Die Bedeutung des § 7 IV 5 BetrAVG im Insolvenzplanverfahren, NZI 2020, 878; Wohlleben, Die Rolle des PSVaG im Insolvenzplanverfahren, BetrAV 2013, 393; Wohlleben, Insolvenzschutz für geschäftsführende Gesellschafter – Eine Kurzbetrachtung der Trennlinie zwischen Eigenverantwortung und Sozialschutz, in: Festschrift für Sigmar-Jürgen Samwer, 2008, S. 281.
I.
Begriffliche Grundlagen
Der Pensions-Sicherungs-Verein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (PSVaG) ist der 1 gesetzliche Träger der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung. Sein alleiniger Zweck liegt in der Gewährleistung der betrieblichen Altersversorgung im Falle der Insolvenz des Arbeitgebers. Die Mittel für die Durchführung der Insolvenzsicherung werden gemäß § 10 des Betriebsrentengesetzes (BetrAVG) aufgrund öffentlich-rechtlicher Verpflichtung durch Beiträge aller insolvenzsicherungspflichtigen Arbeitgeber aufgebracht. Die Leistungspflicht des PSVaG setzt voraus, dass es sich um insolvenzgesicherte betriebliche Altersversorgung handelt und ein Sicherungsfall gemäß § 7 BetrAVG vorliegt.
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§ 27 1.
Teil V Einzelfragen Insolvenzgesicherte betriebliche Altersversorgung
2 Der Insolvenzschutz durch den PSVaG1) ist gegeben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. 1.1
Zusage des Arbeitgebers
3 Voraussetzung für die Insolvenzsicherung ist zunächst eine Zusage des Arbeitgebers (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG). Der Arbeitgeber muss selbst vertragliche Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitnehmer oder der nach § 17 BetrAVG versorgungsberechtigten Person eingehen. Bevor der Arbeitgeber – oder bei Tarifverträgen der für ihn handelnde Arbeitgeberverband – dies tut, wird er die in Rede stehende Versorgung regelmäßig einer Plausibilitätskontrolle unterziehen sowie die Bonität und Seriosität der Anbieter von Finanzprodukten hinterfragen. Dabei wird er sich zumindest kursorisch mit den sehr unterschiedlichen Möglichkeiten betrieblicher Altersversorgung beschäftigen und auch im Eigeninteresse die wichtigen Themen der Kapitalanlage und der Kostenbelastung im Auge behalten. 1.2
Betriebliche Altersversorgung i. S. des Gesetzes
4 Insolvenzgesichert ist nur betriebliche Altersversorgung i. S. von § 1 BetrAVG. Der Gesetzeswortlaut „Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung“ schließt bloße Sparvorgänge aus und setzt die Absicherung eines biometrischen Risikos voraus, nämlich den Schutz vor den Folgen x
des Erreichens der Altersgrenze,
x
einer Invalidität oder
x
des Versterbens des (früheren) Arbeitnehmers bei Hinterbliebenenleistungen.
5 Von praktischer Bedeutung sind auch so manche Fragen, die sich aus der Begriffserweiterung in § 1 Abs. 2 BetrAVG etwa zum Thema der Entgeltumwandlung ergeben. Nicht jede sog. Deferred Compensation unterfällt dem Betriebsrentengesetz. Sind aufgeschobene Lohnzahlungsansprüche vererblich, so kann es am Versorgungscharakter fehlen, weil die Leistungen an kein biometrisches Ereignis anknüpfen. Dann besteht kein PSVaG-Schutz. 6 § 1 BetrAVG bildet einen gewissen Filter zur Abgrenzung insolvenzgesicherter betrieblicher Altersversorgung von reinen Kapitalanlageprodukten. Er ist die Schlüsselvorschrift des Betriebsrentenrechts sowohl aus arbeits- und steuerrechtlicher als auch aus insolvenzrechtlicher Sicht. 1.3
Gesicherte Altersversorgungsansprüche
7 Einen gesetzlichen Anspruch gegen den PSVaG haben nur Versorgungsempfänger (Rentner) gemäß § 7 Abs. 1 BetrAVG sowie Personen, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über eine gesetzlich unverfallbare Versorgungsanwartschaft (§ 7 Abs. 2 i. V. m. § 1b BetrAVG) verfügen. 8 Für die Unverfallbarkeit arbeitgeberfinanzierter Versorgungszusagen bedarf es gemäß § 1b Abs. 1 Satz 1 BetrAVG der Vollendung des 21. Lebensjahres und einer mindestens dreijährigen Zusagedauer.2) Bei einer nachträglichen Verbesserung der Versorgungszusage schützt darüber hinaus die zweijährige Ausschlussfrist des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG den PSVaG davor, dass der Arbeitgeber, kurz vor der Insolvenz, seine Beschäftigten mit frei___________ 1) Jeweils aktuell dazu die Merkblätter des PSVaG, abrufbar auf der Homepage des PSVaG. 2) Für Zusagen, die vor dem 1.1.2018 erteilt wurden, gelten höhere Voraussetzungen für die gesetzliche Unverfallbarkeit, vgl. § 30f BetrAVG sowie PSVaG Merkblatt 300/M 12, abrufbar unter https://www. psvag.de/fileadmin/doc/merkblaetter/300/300m12.pdf (Abrufdatum: 26.11.2022).
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Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz
§ 27
gebigen Versorgungsversprechen – gleichsam mittels eines Vertrages zulasten Dritter – vergüten kann. Mit der Zusage sofort unverfallbar und auch sofort gesetzlich insolvenzgeschützt ist be- 9 triebliche Altersversorgung insoweit, als sie durch Entgeltumwandlung i. S. von § 1 Abs. 2 Nr. 3 BetrAVG finanziert wird. Seit dem 1.1.2002 hat der Arbeitnehmer gemäß § 1a BetrAVG einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass Teile seines Barlohns in eine wertgleiche Anwartschaft auf betriebliche Versorgungsleistungen umgewandelt werden. Aufgrund dieser mit dem Altersvermögensgesetz3) erfolgten Ausweitung des insolvenzgesicherten Bereichs der betrieblichen Altersversorgung sowie der Ausdehnung des gesetzlichen Insolvenzschutzes auf Pensionskassenzusagen (siehe unten Rz. 12) seit dem 1.1.2022 hat sich die Zahl der Mitgliedsunternehmen des PSVaG von rund 40 000 im Jahre 2001 auf mittlerweile über 100 000 erhöht. 1.4
Versorgungsfall
Zur Inanspruchnahme von Leistungen des PSVaG bedarf es weiterhin eines Versorgungs- 10 falls, der in der Versorgungsordnung oder der Versorgungszusage festgelegt wird. Der häufigste Anwendungsfall ist sicherlich das Erreichen der in der Versorgungszusage festgelegten Altersgrenze. Bereits vorher können die Voraussetzungen einer Invaliditäts- bzw. Hinterbliebenenversorgung erfüllt sein, wenn eine solche Leistung durch den Arbeitgeber zugesagt wurde. Ein Anspruch auf eine – vorzeitige – Abfindung von Rentenansprüchen oder Versorgungs- 11 anwartschaften besteht nicht. Zwar ist der PSVaG nach § 8a BetrAVG seinerseits zur Abfindung von Anwartschaften berechtigt, was sich insbesondere bei niedrigen Anwartschaften4) und in Fällen mit Auslandsbezug als wirtschaftlich sinnvoll erweisen kann und deswegen von diesem auch praktiziert wird. Die Versorgungsberechtigten ihrerseits können aber keine Abfindung verlangen. 1.5
Erfasste Durchführungswege
Nach § 7 BetrAVG besteht für folgende Durchführungswege der betrieblichen Altersver- 12 sorgung ein gesetzlicher Insolvenzschutz: x
Unmittelbare Versorgungszusagen (Direktzusagen) des Arbeitgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG),
x
Direktversicherungen, sofern Ausfälle entstehen, weil das Bezugsrecht widerrufen wird oder weil die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag abgetreten, verpfändet oder beliehen sind (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BetrAVG),
x
Unterstützungskassen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BetrAVG),
x
Pensionsfonds oder Pensionskassen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BetrAVG). Durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12.6.20205) wurde die gesetzliche Insolvenzsicherung um den Durchführungsweg der Pensionskasse erweitert sowie beim Pensionsfonds modifiziert. Nunmehr werden
___________ 3) Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvermögens (AVmG), v. 26.6.2001, BGBl. I 2001, 1310. 4) 2023, alte Länder bis zu 33,95 € Monatsrente entsprechend 1 % der Bezugsgröße gemäß § 18 SGB IV. 5) Siebtes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, v. 12.6.2020, BGBl. I 2020, 1248.
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§ 27
Teil V Einzelfragen
bei Sicherungsfällen, die ab dem 1.1.20226) eintreten, Zusagen über Pensionsfonds und Pensionskassen größtenteils einheitlich behandelt.7) Der gesetzliche Insolvenzschutz durch den PSVaG umfasst keine Pensionskassen, deren Leistungen bereits anderweitig gesichert sind.8) Dem Grunde nach besteht Insolvenzschutz, sofern über das Vermögen des Arbeitgebers, dessen Zusagen auf betriebliche Altersversorgung über einen Pensionsfonds oder eine Pensionskasse durchgeführt wurden, das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Der Höhe nach besteht eine Leistungspflicht des PSVaG, soweit der Pensionsfonds oder die Pensionskasse die vom Arbeitgeber aufgrund der Versorgungszusage versprochene Leistung nicht erbringt. In Höhe der Differenz zwischen der Leistung nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers zum Zeitpunkt der Insolvenz und der geringeren Leistung durch den Pensionsfonds oder die Pensionskasse nach Eintritt des Versorgungsfalls greift dann die Ausfallhaftung des PSVaG. Somit unterscheidet sich die Regelung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BetrAVG von den Sicherungsmechanismen in den anderen Durchführungswegen, bei denen der PSVaG die Leistungen ab der Insolvenzeröffnung i. d. R. vollumfänglich übernimmt. Zu beachten ist ferner, dass bei Pensionsfonds oder Pensionskassen die Leistungspflicht des PSVaG ggf. erst Jahre nach der Insolvenzeröffnung eintreten kann, sofern erst zu diesem Zeitpunkt eine Kürzung in den arbeitsrechtlich zugesagten Teil der Leistung erfolgt.9) 1.6
Abgrenzung zu nicht gesicherten Ansprüchen
13 Nicht gemäß § 7 BetrAVG durch den PSVaG geschützt sind Ansprüche der Versorgungsberechtigten, soweit x
sie keine betriebliche Altersversorgung i. S. von § 1 BetrAVG darstellen, wie z. B. Guthaben auf Zeitkonten,
x
sie auf reinen Beitragszusagen gemäß §§ 21-25 BetrAVG beruhen (§ 1 Abs. 2 Nr. 2a BetrAVG),
x
die gesetzlichen Unverfallbarkeitsvoraussetzungen (§ 1b BetrAVG) nicht erfüllt sind,
x
die Höchstgrenzen des § 7 Abs. 3 BetrAVG überschritten wurden,
x
es sich um Zusagen an Unternehmer oder beherrschende Gesellschaftergeschäftsführer10) handelt (vgl. § 17 Abs. 1 BetrAVG),
x
Zusagen erst bei bereits absehbarer Inanspruchnahme des PSVaG bzw. innerhalb der Zwei-Jahres-Frist gegeben wurden (§ 7 Abs. 5 BetrAVG) oder
x
Versorgungsteile erst nach Eintritt der Insolvenz erdient wurden.
___________ 6) Für Sicherungsfälle, die vor dem 1.1.2022 eingetreten sind, gelten für Pensionsfonds die entsprechenden Regelungen im BetrAVG in der am 31.12.2019 geltenden Fassung (§ 30 Abs. 4 BetrAVG). Bei Pensionskassen besteht für den Versorgungsberechtigten bei Sicherungsfällen vor dem 1.1.2022 lediglich ein Mindestschutz gemäß § 30 Abs. 3 BetrAVG; hierzu Borgers, BetrAV 2021, 96 ff. 7) Zur gesetzlichen Insolvenzsicherung bei Pensionskassen und Pensionsfonds ab dem 1.1.2022 vgl. PSVaG Merkblatt 300/M 16, abrufbar unter https://www.psvag.de/fileadmin/doc/merkblaetter/300/300m16.pdf (Abrufdatum: 26.11.2022). 8) Kein Insolvenzschutz besteht daher bei Pensionskassen, die Mitglied des Sicherungsfonds „Protektor“ sind, die als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 4 TVG organisiert sind und wenn eine Zusatzversorgungseinrichtung des öffentlichen Dienstes die Versorgung durchführt. Ausführlich zum Insolvenzschutz von Zusagen über Pensionskassen aus Sicht des PSVaG: Borgers, BetrAV 2021, 687 ff. 9) Borgers, BetrAV 2021, 687, 688. 10) Hierzu Wohlleben in: FS Samwer, S. 281 ff. m. w. N. sowie PSVaG Merkblatt 300/M 1, abrufbar unter https://www.psvag.de/fileadmin/doc/merkblaetter/300/300m1.pdf (Abrufdatum: 26.11.2022).
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Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz
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Solche Rechte sind von den Berechtigten selbst im Insolvenzverfahren geltend zu machen. 14 Nach Eröffnung eines gerichtlichen Insolvenzverfahrens erdiente Anwartschaften auf 15 Leistungen der betrieblichen Altersversorgung richten sich gegen die Insolvenzmasse. Der Insolvenzverwalter kann sie jedoch nach der Spezialregelung des § 3 Abs. 4 BetrAVG abfinden, sofern die Anwartschaften nicht i. R. eines Betriebsübergangs (§ 613a BGB) auf einen Erwerber übergehen. 2.
Sicherungsfall
Vor einer Inanspruchnahme des PSVaG muss ein Sicherungsfall bei dem jeweiligen Arbeit- 16 geber vorliegen. Nur wenn einer der in § 7 Abs. 1 Sätze 1 und 4 BetrAVG genannten Sicherungsfälle vorliegt, muss die Solidargemeinschaft der im PSVaG zusammengeschlossenen Unternehmen einstehen. 2.1
Eröffnung des gerichtlichen Insolvenzverfahrens
Die weit überwiegende Zahl der Sicherungsfälle beim PSVaG sind Fälle der Eröffnung eines 17 gerichtlichen Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers. Bei mittleren und größeren Unternehmen mit aktiver Belegschaft dauert es von der Stellung des Insolvenzantrags bei dem hierfür zuständigen Amtsgericht bis zur Verfahrenseröffnung regelmäßig drei Monate. Gründe hierfür sind zum einen die notwendige Prüfung der Insolvenzgründe (Zahlungsunfähigkeit, drohende Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung) und die erforderliche Feststellung und Sicherung einer zur Durchführung des Insolvenzverfahrens ausreichenden Masse durch den vom Gericht eingesetzten vorläufigen Verwalter oder Gutachter. Vor allem geht es der Praxis aber um den nur bis zur Verfahrenseröffnung möglichen Bezug 18 von Insolvenzgeld. Das Insolvenzgeld wird maximal drei Monate gewährt und ist ein wichtiger Baustein für die Betriebsfortführung. 2.2
Abweisung mangels Masse
Ein gesetzlicher Sicherungsfall ist ebenfalls gegeben, wenn der Antrag auf Eröffnung eines 19 gerichtlichen Insolvenzverfahrens zwar gestellt, vom Amtsgericht aber mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse oder eines von dritter Seite gestellten Massekostenvorschusses abgewiesen wird. Zu solchen Fällen sog. Masselosigkeit kann es kommen, wenn entweder überhaupt kein Vermögen vorhanden oder das vorhandene Vermögen aufgrund bestehender Sicherungsrechte dem Zugriff durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter soweit entzogen ist, dass er hieraus die Verfahrenskosten nicht decken kann. Die Fälle der Masselosigkeit betreffen im Bereich der durch den PSVaG insolvenzgeschützten betrieblichen Altersversorgung regelmäßig weniger als 5 % der jährlichen Sicherungsfälle und sind somit von geringer Bedeutung. 2.3
Vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit ohne gerichtliches Insolvenzverfahren
Wird kein Insolvenzantrag bei Gericht gestellt, weil ein gerichtliches Insolvenzverfahren 20 mangels einer die Verfahrenskosten deckenden Masse von vornherein nicht in Betracht kommt, so ist der Auffangtatbestand der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit in Betracht zu ziehen. Solche Fälle der Masselosigkeit treten hauptsächlich bei kleinen, bereits vor Längerem stillgelegten Betrieben auf. Volumenmäßig sind diese Fälle freilich nur von untergeordneter Bedeutung.
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§ 27 2.4
Teil V Einzelfragen Zustimmung des PSVaG zu einem außergerichtlichen Vergleich
21 Der außergerichtliche Vergleich des Arbeitgebers mit seinen Gläubigern führt nur dann zu einer Eintrittspflicht des PSVaG, wenn dieser dem Vergleich freiwillig zustimmt.11) Im Unterschied zu den zuvor erläuterten Sicherungsfällen handelt es sich beim außergerichtlichen Vergleich somit um einen Sicherungsfall kraft Zustimmung. 22 Der Antrag auf Zustimmung des PSVaG muss konkret und hinreichend bestimmt sein. Insbesondere muss sich aus dem Antrag ergeben, ob das Unternehmen liquidiert oder fortgeführt werden soll und welchen Beitrag die Anspruchsberechtigten aus betrieblicher Altersversorgung und somit der PSVaG leisten soll. Weiterhin ist die Erforderlichkeit von dessen Beitrag zwecks Abwendung eines gerichtlichen Insolvenzverfahrens darzulegen. Die notwendigen Unterlagen fordert der PSVaG nach Antragseingang bezogen auf den Einzelfall an. Zu beachten ist, dass ausreichend Zeit für eine sorgfältige Analyse der maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen durch die Beschäftigten des PSVaG verbleiben muss. Daher sollte der Antrag nicht erst kurzfristig vor Eintritt der oder sogar erst bei bereits bestehender Insolvenzantragspflicht gestellt werden. 23 Unabdingbare Voraussetzung für eine Zustimmung des PSVaG ist die Ausgewogenheit des Vergleiches. Von den Versorgungsberechtigten und somit vom PSVaG dürfen keine Sonderopfer verlangt werden. Vielmehr müssen sich auch andere Gläubiger sowie insbesondere die Anteilseigner entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beteiligen. Im Falle der angestrebten Sanierung der Antragstellerin sollen darüber hinaus auch die aktiven Arbeitnehmer einbezogen werden, so dass es insgesamt zu einer gerechten Verteilung der Sanierungslasten zur Erhaltung des Unternehmens kommt.12) 24 Darüber hinaus muss sich der PSVaG bei einem außergerichtlichen Fortführungsvergleich von der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens überzeugen können. Hierfür ist in der Regel ein Sanierungskonzept nach dem IDW-Standard „Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6)13)“ beizubringen. Der IDW S 6 berücksichtigt die verschiedenen Urteile des BGH zu wesentlichen Aspekten von Sanierungskonzepten und konkretisiert diese in betriebswirtschaftlicher Hinsicht.14) 25 Bei Zustimmung des PSVaG zu einem außergerichtlichen Fortführungsvergleich übernimmt dieser im Regelfall die Versorgungsverpflichtungen nicht auf Dauer. Vielmehr sollte die Unterstützung der Sanierung nach Möglichkeit auf die Erstattung der insolvenzgeschützten Betriebsrentenzahlungen innerhalb des Sanierungszeitraums beschränkt bleiben. In Abhängigkeit von der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung wird zudem regelmäßig ein Besserungsschein zugunsten des PSVaG vereinbart. 2.5
Exkurs: StaRUG
26 Zum 1.1.2021 ist das SanInsFoG15) in Kraft getreten, dessen Herzstück in Art. 1 das StaRUG16) darstellt. Das dadurch neu geschaffene Restrukturierungsverfahren bietet einen ___________ 11) Zu den wesentlichen Grundsätzen für die Übernahme betrieblicher Versorgungsleistungen aufgrund der Zustimmung des PSVaG i. R. eines außergerichtlichen Vergleichs vgl. PSVaG Merkblatt 110/M 1, abrufbar unter https://www.psvag.de/fileadmin/doc/merkblaetter/110/110_m1.pdf (Abrufdatum: 26.11.2022). 12) BAG, Urt. v. 24.4.2001 – 3 AZR 402/00, ZIP 2001, 1886, 1888. 13) IDW Standard, Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, S. 813 ff. 14) F&A zu IDW S 6, Stand: 16.5.2018, Nr. 2.6, IDW Life 8/2018, 826 ff. 15) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 16) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256.
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Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz
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expliziten Rechtsrahmen für insolvenzabwendende Sanierungen. Dieser Rahmen soll es drohend zahlungsunfähigen Unternehmen erleichtern, sich auf Basis eines Restrukturierungsplans zu sanieren.17) Das Gesetz soll die Lücke schließen zwischen der auf dem Konsens aller Beteiligten beruhenden freien Sanierung einerseits und der streng verfahrensgebundenen Sanierung im Insolvenzverfahren auf der anderen Seite.18) Nach § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG sind Arbeitnehmerforderungen, einschließlich der An- 27 sprüche auf betriebliche Altersversorgung, vom Anwendungsbereich des StaRUG ausdrücklich ausgenommen. Sie unterliegen keiner Gestaltung i. R. des StaRUG. Demnach kann ein Restrukturierungsverfahren nach StaRUG auch keinen Sicherungsfall für den PSVaG darstellen. Ob der PSVaG in geeigneten Fällen als flankierende Maßnahme zu dem eigentlichen Re- 28 strukturierungsplan einem außergerichtlichen Vergleichsantrag gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 BetrAVG zustimmen kann,19) um das Unternehmen (temporär) von Zahlungen der betrieblichen Altersversorgung zu entlasten, ist nicht geregelt. II.
Abwicklung im Regelinsolvenzverfahren
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt für den PSVaG zu zwei zentralen Rechts- 29 folgen. Einerseits erhält der Versorgungsberechtigte mit einer insolvenzgeschützten Zusage auf betriebliche Altersversorgung einen gesetzlichen Anspruch gegen den PSVaG (§ 7 Abs. 1, 2 BetrAVG). Da der Versorgungsberechtigte seine Leistungen vom PSVaG erhält, ordnet andererseits § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG einen gesetzlichen Forderungsübergang seines Anspruchs gegen den nunmehr insolventen Arbeitgeber auf den PSVaG an.20) Somit rückt der PSVaG in die Stellung eines Insolvenzgläubigers, der eine entsprechende Forderung im Insolvenzverfahren anmeldet.21) 1.
Leistungserbringung durch den PSVaG
Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens werden gemäß § 7 Abs. 1, 2 BetrAVG Ansprüche 30 der Versorgungsberechtigten gegen den PSVaG begründet.22) Diese entstehen nach § 7 Abs. 1a Satz 1 BetrAVG mit dem Beginn des Kalendermonats, der auf den Eintritt des Sicherungsfalles folgt. Umfasst sind auch rückständige Versorgungsleistungen von bis zu einem Jahr davor (§ 7 Abs. 1a Satz 3 BetrAVG). Erst wenn alle den Einzelansprüchen zugrunde liegenden, relevanten Daten dem PSVaG 31 zugeleitet wurden, kann dieser damit beginnen, die individuellen Rentenansprüche dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen.23) Die hierzu erforderlichen Informationen – wie z. B. Name, Anschrift und Kontoverbindung, die Höhe der Betriebsrente und ggf. der Zeitpunkt der letzten Zahlung – hat der Insolvenzverwalter24) dem PSVaG schnellstmöglich mitzuteilen (§ 11 Abs. 3 BetrAVG).25) ___________ Harig/Harder, ZRI 2021, 67, 73. Allg. Begr. RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 89. In diese Richtung Brambach, INDat-Report 01/2020, 64 f. Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 9 Rz. 14. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 3. Für die Durchführungswege Pensionsfonds und Pensionskasse entsteht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BetrAVG nach Eintritt des Sicherungsfalles erst dann eine Leistungspflicht des PSVaG, soweit der Pensionsfonds oder die Pensionskasse die durch den Arbeitgeber zugesagte Leistung nicht erbringt (s. oben Rz. 12). 23) Birkenbeul, BetrAV 2006, 227, 228. 24) In der Eigenverwaltung erfolgt die Meldung durch den Insolvenzschuldner. 25) Zu den Mitteilungspflichten bei Insolvenzverfahren vgl. Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-RehmBerenz, BetrAVG, § 11 Rz. 55 ff.
17) 18) 19) 20) 21) 22)
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32 Wenngleich diese gesetzliche Mitteilungspflicht erst mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens entsteht, kontaktiert der PSVaG – sofern ihm der Insolvenzantragsbeschluss vorliegt – inzwischen regelmäßig bereits im Insolvenzantragsverfahren den vorläufigen Insolvenzverwalter und bei guter Datenlage auch schon die Versorgungsempfänger zwecks Datenerhebung. Durch Nutzung dieser Vorlaufzeit für die Erfassung und den Transfer der Daten soll – im Interesse der Versorgungsberechtigten – eine etwaige Unterbrechung der Betriebsrentenzahlungen aufgrund der Insolvenz so kurz wie möglich ausfallen. Das kommt im Übrigen auch dem Insolvenzverwalter bzw. dem insolventen Unternehmen entgegen, da diese somit von häufigen Anfragen und Beschwerden verschont bleiben.26) 33 Darüber hinaus besteht bei Großinsolvenzen in geeigneten Fällen die Möglichkeit, dem Insolvenzverwalter die Betriebsrenten für einen Übergangszeitraum ohne vorherige Einzelfallprüfung zur Auszahlung an die Berechtigten zur Verfügung zu stellen. Eine entsprechende Vereinbarung wird ebenfalls sinnvollerweise schon vor der Verfahrenseröffnung getroffen, damit – ggf. auch rückwirkende – Zahlungen mit Eintritt des Sicherungsfalls unverzüglich auf den Weg gebracht werden können. Ausgeführt wird die Zahlung normalerweise zunächst über Sonderkonten des Insolvenzverwalters unter Nutzung der personellen und organisatorischen Strukturen des insolventen Arbeitgebers. 34 Nach der Einzelfallbearbeitung werden die Renten dann üblicherweise gegen Einmalbeitrag bei dem Versicherungskonsortium für den PSVaG versichert und von dort ausgezahlt. Kapitalzahlungen und Abfindungszahlung erbringt der PSVaG hingegen zumeist selbst. 35 Eine Besonderheit i. R. der Bearbeitung der Versorgungsangelegenheiten stellt die Möglichkeit der Fortführung einer kongruenten Rückdeckungsversicherung nach § 8 Abs. 2 BetrAVG dar.27) Sofern der Versorgungsberechtigte hiervon Gebrauch macht und als Versicherungsnehmer in eine bestehende kongruente Rückdeckungsversicherung eintritt, wird der PSVaG von seiner Leistungspflicht befreit.28) Die Möglichkeit der Übertragung einer Rückdeckungsversicherung auf den Versorgungsberechtigten wurde durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz29) mit Wirkung ab dem 1.1.2018 eröffnet.30) Bei Ausübung des Wahlrechts kann der Versorgungsberechtigte die Versicherung fortsetzen und mit eigenen Beiträgen weiter aufbauen. Dies ist oftmals vorteilhafter als der Leistungsanspruch gegen den PSVaG, da der Versorgungsberechtigte hier von etwaigen Überschüssen profitieren kann, die nach dem Insolvenzstichtag der Rückdeckungsversicherung zufließen. 2.
Forderungs- und Vermögensübergang; Vermögensübertragung (§ 9 BetrAVG)
36 Kraft Gesetzes gehen bestimmte Rechte der Versorgungsempfänger und Anwärter mit Eintritt des Sicherungsfalles auf den PSVaG über, da der PSVaG nach § 7 BetrAVG die Ansprüche und Anwartschaften auf betriebliche Versorgungsleistungen zu befriedigen hat und aus den übergegangenen Rechten zumindest teilweise schadlos gestellt werden soll. 37 Der Forderungsübergang nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG umfasst auch alle akzessorischen Sicherungsrechte, welche der Verstärkung der Forderung dienen.31) Die größte praktische ___________ 26) 27) 28) 29)
Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 11 Rz. 56. Dazu ausführlich Küppers, BetrAV 2018, 101 ff. Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 8 Rz. 29. Gesetz zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung und zur Änderung anderer Gesetze (Betriebsrentenstärkungsgesetz), v. 17.8.2017, BGBl. I 2017, 3214. 30) Zu den Grenzen der Anwendung Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 8 Rz. 43 ff., sowie Küppers, BetrAV 2018, 101, 103 ff. 31) Im Unterschied hierzu gehen vom Arbeitgeber eingeräumte nicht akzessorische Sicherungsrechte (z. B. Grundschuld) nicht nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG auf den PSVaG über. Jedoch kann der PSVaG unter dem Aspekt der Schadenminderung vom Versorgungsberechtigten die Abtretung verlangen; Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 9 Rz. 21.
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Bedeutung haben hierbei Pfandrechte der Versorgungsberechtigten an Rückdeckungsversicherungen. Weitere Beispiele sind sonstige Pfandrechte (z. B. an einem Wertpapierdepot), Bürgschaften, Hypotheken oder der Schuldbeitritt eines Dritten zur Absicherung der Ansprüche des Versorgungsberechtigten auf betriebliche Altersversorgung.32) Mit Urteil vom 22.9.202033) entschied das BAG, dass auch Ansprüche der Versorgungsbe- 38 rechtigten aus einem sog. Contractual Trust Arrangement (CTA) gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG i. V. m. §§ 412, 401 Abs. 1 BGB analog auf den PSVaG übergehen, soweit dieser eintrittspflichtig ist. In diesem Rahmen wirkt der PSVaG im Verhältnis zum CTA auf eine Ausschüttung des freien Vermögens des CTA hin, sofern und soweit der PSVaG wirtschaftlich Berechtigter ist. Hierzu wird dann im Regelfall eine individuelle Abwicklungsvereinbarung geschlossen. Bei Unterstützungskassen eines insolventen Arbeitgebers geht kraft Gesetzes deren 39 Vermögen einschließlich der Verbindlichkeiten auf den PSVaG über (§ 9 Abs. 3 BetrAVG). Ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Unterstützungskasse aufgrund der Insol- 40 venz eines Trägerunternehmens scheidet in aller Regel aus. Bei den Verbindlichkeiten der Unterstützungskasse handelt es sich im Wesentlichen um Versorgungsverpflichtungen, für die der PSVaG gemäß § 7 BetrAVG nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers eintrittspflichtig ist. Insoweit liegt diesbezüglich kein Insolvenzgrund vor.34) Nur in Ausnahmefällen kann ein Insolvenzantrag begründet sein, weil z. B. die Büromiete nicht gezahlt werden kann.35) Bei den sog. Gruppenunterstützungskassen mehrerer Arbeitgeber kommt es hingegen nicht 41 zum Vermögensübergang. Dort hat der PSVaG nur einen Zahlungsanspruch gegen die Kasse, der der Höhe nach dem anteiligen Kassenvermögen des insolventen Trägerunternehmens entspricht (§ 9 Abs. 3 Satz 3 BetrAVG). Für Pensionskassen sieht § 9 Abs. 3a BetrAVG im Falle der Insolvenz eines Trägerunter- 42 nehmens ab dem 1.1.2022 ein abgestimmtes Verfahren zwischen der BaFin als Aufsichtsbehörde, dem PSVaG sowie der Pensionskasse vor. Im Rahmen des Verfahrens entscheidet die BaFin, ob das dem Trägerunternehmen der Pensionskasse zuzuordnende Vermögen – ggf. teilweise – auf den PSVaG übertragen wird.36) Für Pensionsfonds gilt nach § 9 Abs. 3b Satz 1 BetrAVG für Sicherungsfälle ab dem 1.1.2022 43 das gleiche Prozedere wie bei Pensionskassen – mit einer Ausnahme. Bei nicht versicherungsförmigen Pensionsplänen hat die BaFin stets das dem Arbeitgeber zuzuordnende Vermögen einschließlich der Verbindlichkeiten auf den PSVaG zu übertragen (§ 9 Abs. 3b Satz 2 BetrAVG).37) Somit verbleibt der BaFin kein Ermessensspielraum, ob eine Vermögensübertragung auf den PSVaG erfolgen soll oder nicht. 3.
Kapitalisierte Forderungsanmeldung (§ 9 Abs. 2 BetrAVG)
Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens gehen die Ansprüche der Versorgungsberechtigten 44 gegen den Arbeitgeber nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG auf den PSVaG über. Damit rückt dieser in die Stellung eines Insolvenzgläubigers gemäß § 38 InsO, der seine Forderungen im Insolvenzverfahren anmeldet. ___________ 32) 33) 34) 35)
Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 9 Rz. 18 f. BAG, Urt. v. 22.9.2020 – 3 AZR 303/18, ZIP 2021, 145. Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 9 Rz. 33. Zur Insolvenz der Unterstützungskasse vgl. PSVaG Merkblatt 110/M 7, abrufbar unter https://www. psvag.de/fileadmin/doc/merkblaetter/110/110_m7.pdf (Abrufdatum: 26.11.2022). 36) Zur Systematik der Vermögensübertragung auf den PSVaG vgl. Berenz, BetrAV 2021, 205 ff. 37) Borgers, BetrAV 2021, 687, 690.
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§ 27
Teil V Einzelfragen
45 Die versicherungsmathematische Berechnung der Forderung zum Insolvenzstichtag setzt das Zusammenspiel verschiedener Beteiligter voraus. Zunächst muss der Insolvenzverwalter seinen Meldepflichten gegenüber dem PSVaG hinsichtlich der für den gesetzlichen Insolvenzschutz in Frage kommenden Versorgungsberechtigten vollumfänglich nachkommen (§ 11 Abs. 1, 3 BetrAVG). Oftmals sind mit den Versorgungsberechtigen selbst oder den Versorgungsträgern (Unterstützungskassen, Pensionsfonds, Pensionskassen, Lebensversicherungsgesellschaften) diverse Einzelfragen zu klären. Weiterhin erfordert die Prüfung und Feststellung der Ansprüche des PSVaG eine intensive Einarbeitung in die Details des betrieblichen Versorgungswerks. Dabei sind unter Umständen sowohl komplexe Sachverhalts- als auch schwierige Rechtsfragen zu klären. Im Ergebnis können gerade bei Großinsolvenzen mitunter mehrere Jahre vergehen, bis sämtliche Versorgungsangelegenheiten abschließend bearbeitet und etwaige Forderungs- und Vermögensrechte (siehe oben Rz. 37 ff.) verwertet sind. 46 Um dennoch termingerecht als Gläubiger im Verfahren beteiligt zu sein, meldet der PSVaG nach Verfahrenseröffnung zunächst eine sachverständig geschätzte Forderung an.38) Die Basis hierfür bilden die von der Insolvenzschuldnerin i. R. der Beitragserhebung nach § 10 BetrAVG gemachten Angaben und die zugrunde liegenden Kurztestate über den Umfang der bei ihr bestehenden insolvenzgeschützten Versorgungsverpflichtungen. Dabei handelt es sich um bloße Summenmeldungen, denen sich lediglich die Anzahl der Versorgungsberechtigten und die Summe der Kapitalwerte aller Versorgungsansprüche und Versorgungsanwartschaften des jeweiligen Durchführungsweges der betrieblichen Altersversorgung (siehe oben Rz. 12) entnehmen lassen. Diesen sog. Beitragsbemessungsgrundlagen liegt ein Rechnungszins von 6 % bzw. 5,5 % zugrunde. 47 Das BAG hat mit Urteil v. 18.5.202139) entschieden, dass die Abzinsung bei der Forderungsbezifferung des PSVaG mit dem gesetzlichen Zinsfuß von 4 % (§ 41 Abs. 2 Satz 1 InsO, § 246 BGB) zu erfolgen hat. 48 Durch den niedrigeren Zinssatz wird sich die Forderung laut versicherungsmathematischen Stichtagsgutachten, welches der PSVaG erst nach abschließender Bearbeitung aller Einzelansprüche erstellen kann, im Vergleich zur Höhe der Beitragsbemessungsgrundlage deutlich erhöhen. Um diese Erhöhung bereits in der initialen Schätzforderung realistisch abzubilden, werden die Werte laut Erhebungsbogen mit versicherungsmathematisch ermittelten Faktoren in Abhängigkeit vom Durchführungsweg40) und davon, ob es sich um Rentner oder Anwärter handelt, multipliziert. Diese geänderte Anmeldepraxis ist auch i. S. des Insolvenzverwalters und etwaiger Sanierungsberater, da diese bereits frühzeitig ein realistisches Bild über die Forderungen des PSVaG, welcher oftmals einer der Hauptgläubiger im Insolvenzverfahren ist, erhalten. 49 In der sachverständig geschätzten Forderungsanmeldung weist der PSVaG darauf hin, dass bei der endgültigen Forderungsermittlung auf Basis eines versicherungsmathematischen Gutachtens etwaige Sicherungsrechte von Versorgungsberechtigen oder Vermögensübergänge forderungsmindernd berücksichtigt werden. Weiterhin sichert der PSVaG zu, dass er im Falle einer Forderungsverringerung eine entsprechende Forderungsrücknahme erklären wird. Vor diesem Hintergrund kann der Verwalter die Forderung des PSVaG, welche die bestmögliche Schätzung zum Anmeldezeitpunkt darstellt, feststellen, ohne Nachteile für die Insolvenzmasse befürchten zu müssen. ___________ 38) Feldkamp, BetrAV 2006, 232, 233. 39) BAG, Urt. v. 18.5.2021 – 3 AZR 317/20, ZRI 2021, 685 = ZIP 2021, 1670. 40) Bei Pensionsfonds- und Pensionskassenzusagen werden die Werte im Erhebungsbogen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen für die Beitragserhebung lediglich mit rund. 20 % des vollen Kapitalwertes der Verpflichtungen ausgewiesen.
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Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz
§ 27
Die Schätzforderung des PSVaG umfasst – ebenso wie die endgültige Forderung – nicht 50 nur die per Insolvenzeröffnung bereits laufenden Leistungen, sondern auch die auf den PSVaG übergehenden unverfallbaren Anwartschaften (§ 9 Abs. 2 Satz 3 BetrAVG), welche ebenfalls nach § 45 InsO mit dem Wert geltend zu machen sind, der für die Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschätzt werden kann. Die übergegangenen Anwartschaften werden hierbei als unbedingte Forderungen einbezogen. Die kapitalisierte Anmeldung sowohl der Betriebsrenten als auch der Anwartschaften ist schließlich auch insofern systemgerecht, als der PSVaG mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hierfür insgesamt eintrittspflichtig wird und als bilanzierungspflichtiger Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit sowohl die bereits feststehenden Versorgungsverpflichtungen als auch die Anwartschaften mit ihrem Kapitalwert zu passivieren hat. Beide fließen gemäß § 10 BetrAVG mit ihrem Kapitalwert in die Beitragskalkulation des PSVaG ein und müssen von den Mitgliedsunternehmen sofort ausfinanziert werden. 4.
Nachträgliche Berichtigung der PSVaG-Forderungen
Wie zuvor erwähnt, meldet der PSVaG nach Verfahrenseröffnung zunächst eine Forderung 51 als sachverständige Schätzung im Insolvenzverfahren an, um rechtzeitig als Gläubiger am Verfahren beteiligt zu sein (siehe oben Rz. 46). Erst nachdem der Insolvenzverwalter seinen Mitteilungspflichten nach § 11 Abs. 1, 3 52 BetrAVG nachgekommen ist und der PSVaG in der Folge sämtliche Versorgungsangelegenheiten sowie etwaige Forderungs- und Vermögensübergänge (siehe oben Rz. 37 ff.) abschließend bearbeitet hat, kann die versicherungsmathematische Berechnung der einzelnen Renten- und Anwartschaftsbarwerte zum Insolvenzstichtag nebst Korrektur der Forderungen erfolgen. Der stichtagsgenauen endgültigen Bezifferung der Forderung des PSVaG liegt gemäß Urteil 53 des BAG v. 18.5.202141) ein Rechnungszins von 4 % zugrunde. Als Rechnungsgrundlage können die im Bereich der betrieblichen Altersversorgung allgemein anerkannten und zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aktuellen „Heubeck-Richttafeln“ verwendet werden. Diese Rechnungsgrundlagen beruhen auf langjährigen statistischen Erwartungswerten und berücksichtigen als sog. Generationentafeln auch die steigende Lebenserwartung der Menschen. Abhängig vom Geburtsjahr werden somit angemessene Rechnungsgrundlagen verwandt. Liegen bei dem insolventen Unternehmen Besonderheiten vor, kann die Verwendung einer vorsichtigeren Sterbetafel angemessen sein. Bei der Ermittlung der Forderung des PSVaG sind gemäß § 45 Satz 1 InsO solche Tatsachen 54 nicht zu berücksichtigen, die erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eintreten. Insbesondere mindert deshalb das Ableben von Versorgungsberechtigten nach dem Insolvenzstichtag die Forderung des PSVaG nicht. Dies ist sowohl im Ergebnis richtig als auch systemgerecht. Denn die Sterbewahrscheinlichkeit wird bereits in den versicherungsmathematischen Rechnungsgrundlagen berücksichtigt. Forderungsmindernd zu berücksichtigen sind Erlöse aus der Verwertung von akzessori- 55 schen Sicherungsrechten oder aus dem Übergang von zweckgebundenen Vermögensmassen auf den PSVaG.42) Etwaige vom PSVaG übernommene rückständige Versorgungsleistungen gemäß § 7 Abs. 1a Satz 3 BetrAVG sowie die bis zur Insolvenzeröffnung ggf. noch offenen Mitgliedsbeiträge (§§ 10, 11 BetrAVG) erhöhen hingegen die korrigierte Gesamtforderung des PSVaG, sofern diese nicht vorab bereits gesondert zur Tabelle angemeldet wurden. ___________ 41) BAG, Urt. v. 18.5.2021 – 3 AZR 317/20, ZRI 2021, 685 = ZIP 2021, 1670. 42) Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 14.
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56 Auf Basis des endgültigen versicherungsmathematischen Gutachtens wird der PSVaG bei einer Erhöhung im Vergleich zu der nach Verfahrenseröffnung angemeldeten Schätzforderung eine nachträgliche Anmeldung vornehmen. Im Falle einer Forderungsverringerung erklärt der PSVaG eine entsprechende Forderungsrücknahme oder bei bereits erfolgter Feststellung einen partiellen Verzicht an einer Verteilung. 5.
Mitwirkung in Gläubigerausschüssen und Gläubigerversammlungen
57 Nach § 1 Satz 1 InsO stellt die gemeinschaftliche und – auch wenn nicht ausdrücklich in der Norm angesprochen – „bestmögliche“ Gläubigerbefriedigung das einheitliche und vorrangige Ziel eines jeden Insolvenzverfahrens dar.43) Auch das ESUG44) hält hieran ausdrücklich fest.45) Dieses oberste Ziel gilt nicht nur in der Fremdverwaltung, sondern auch für den eigenverwaltenden Schuldner, welcher die Führung seiner Geschäfte jederzeit vorrangig an den Interessen der Gläubiger auszurichten hat.46) Von daher ist es folgerichtig, dass es im Insolvenzverfahren bei Entscheidungen über wirtschaftliche Angelegenheiten grundsätzlich auf das Urteil der Gläubiger ankommt und diese maßgeblichen Einfluss auf das Verfahren haben („Gläubigerautonomie“).47) Letztlich stehen deren Vermögenswerte auf dem Spiel, so dass auch sie die Folgen von Fehlentscheidungen zu tragen haben.48) Die Gläubigerautonomie ist durch die Gläubigerversammlung und den Gläubigerausschuss wahrzunehmen.49) 58 Die vom Insolvenzgericht einberufene Gläubigerversammlung entscheidet über die Grundlinien des Ablaufs des Insolvenzverfahrens, insbesondere im Hinblick auf die Zulässigkeit und Dauer einer Betriebsfortführung sowie die Einleitung oder den Abbruch von Sanierungsbemühungen (§§ 157, 159, 217 InsO).50) In Abhängigkeit von der eigenen Forderungshöhe, der Gläubigerstruktur und den zu treffenden Entscheidungen nimmt der PSVaG durch einen Vertreter aus dem eigenen Hause oder durch Bevollmächtigung eines Dritten an einer Gläubigerversammlung teil. Dies betrifft im Regelinsolvenzverfahren sowohl den Berichtstermin nach § 156 InsO als auch eine etwaige im späteren Verlauf des Verfahrens anberaumte Gläubigerversammlung aufgrund besonders bedeutsamer Rechtshandlungen (§ 160 InsO). Im Insolvenzplanverfahren nimmt der PSVaG sein Stimmrecht regelmäßig im Erörterungs- und Abstimmungstermin nach § 235 InsO war, welcher ebenfalls eine Gläubigerversammlung ist. 59 Im Unterschied zur Gläubigerversammlung haben die Mitglieder des Gläubigerausschusses nach § 69 InsO den Verwalter bei seiner Geschäftsführung zu unterstützen und zu überwachen, um so den ständigen Einfluss der Gläubiger auf den Ablauf des Insolvenzverfahrens sicherzustellen.51) Der PSVaG als Insolvenzsicherer der betrieblichen Altersversorgung zählt besonders bei Insolvenzen mit größerer Mitarbeiterzahl oftmals zu den Hauptgläubigern. Im Falle nennenswerter betrieblicher Altersversorgung entsendet der PSVaG im ___________ 43) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 108; Ganter/Bruns in: MünchKomm-InsO, § 1 Rz. 20, 44; Reus/Höfer/Harig, NZI 2019, 57, 58. 44) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 45) Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 17. 46) Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 42; Hammes, Der Gläubigerausschuss in der Eigenverwaltung, Rz 30; Reus/Höfer/Harig, NZI 2019, 57, 58. 47) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 108. 48) Hammes, Der Gläubigerausschuss in der Eigenverwaltung, Rz. 1. 49) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 99. 50) Hammes, Der Gläubigerausschuss in der Eigenverwaltung, Rz. 2. 51) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 131.
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Wege der Institutsmitgliedschaft eigene Mitarbeitende mit entsprechender Sachkunde und Erfahrung in den Gläubigerausschuss. Vor dem Hintergrund, dass zentrale Weichenstellungen bereits im vorläufigen Insolvenz- 60 verfahren getroffen werden, hat der Gesetzgeber im Zuge des durch das ESUG neu eingeführten § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO eine wichtige Klarstellung getroffen. Demnach kann bereits im Insolvenzantragsverfahren ein vorläufiger Gläubigerausschuss eingesetzt und in diesen können auch Mitglieder bestellt werden, die erst mit Insolvenzeröffnung Gläubiger werden.52) Dies trifft insbesondere für den PSVaG zu, welcher die Stellung des Insolvenzgläubigers erst mit Eintritt des Sicherungsfalles, also mit Insolvenzeröffnung, erlangt.53) Im Unterschied zu den wichtigsten Kreditgebern, Kunden oder Lieferanten des Unter- 61 nehmens ist der PSVaG mit diesem bis zum Insolvenzantrag so gut wie gar nicht vorbefasst. Dessen Kenntnisse beschränken sich auf die i. R. der Mitgliedschaft beim PSVaG jährlich eingereichten Summenmeldungen zu den insolvenzgeschützten Versorgungsverpflichtungen. Umso wichtiger ist daher eine frühzeitige Kontaktaufnahme bzw. die Anfrage zur Mitwirkung im vorläufigen Gläubigerausschuss noch vor Antragstellung.54) Generell liegt die frühzeitige Einbeziehung der Erfahrung und des Sachverstandes professioneller Gläubiger nicht nur in deren Interesse. Vielmehr trägt sie zu einer schnellen wie erfolgreichen Unternehmenssanierung bei.55) Fälle, in denen der PSVaG trotz hoher Pensionsverpflichtungen des Arbeitsgebers nicht bezüglich einer Mitwirkung im vorläufigen Gläubigerausschuss angefragt wird und zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Beschluss über die Antragsstellung konfrontiert wird, wirken wenig vertrauensbildend. Gegebenenfalls beantragt der PSVaG dann im Nachgang beim zuständigen Amtsgericht, dass der vorläufige Gläubigerausschuss um diesen erweitert wird. Sofern der betrieblichen Altersversorgung in dem Unternehmen nur eine weit unterge- 62 ordnete Bedeutung zukommt, wird der PSVaG auch künftig regelmäßig keine Mitglieder in die Gremien der Gläubigerbeteiligung entsenden. III.
Handlungsoption Insolvenzplan
1.
Allgemeines zum Planverfahren
Der Sechste Teil der InsO (§§ 217 – 269 InsO) enthält die Regelungen zum Insolvenzplan- 63 verfahren. Dieses stellt eine Alternative zur Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse i. R. eines Regelinsolvenzverfahrens dar, die keinen Gläubiger schlechter stellen darf, als er ohne Insolvenzplan stünde.56) Gemäß § 1 Satz 1 Alt. 2 InsO soll der Insolvenzplan insbesondere dazu dienen, das Unter- 64 nehmen zu erhalten. Der klassische Anwendungsfall der §§ 217 ff. InsO ist daher der Sanierungsplan,57) welcher den Erhalt des bisherigen Rechtsträgers und die Sanierung des Unternehmens zum Ziel hat.58) Im Unterschied zur übertragenden Sanierung kann bei einer Sanierung mittels Insolvenzplan die ansonsten erforderliche Einzelübertragung aller Ver___________ 52) Brambach, INDat-Report 02/2022, 51. 53) Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 24. 54) Entsprechende Anfragen werden stets vertraulich behandelt. Die Mitarbeitenden des PSVaG unterliegen nach § 15 BetrAVG einer Verschwiegenheitspflicht. 55) Wohlleben, BetrAV 2013, 393, 394. 56) Harig/Harder, ZRI 2021, 67, 68 f. 57) Der Sanierungsplan wird auch als Fortführungsplan bezeichnet; so z. B. Wienberg/Dellit in: Bork/Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, Kap. 13 Rz. 26. 58) Weitere Planarten sind Liquidationspläne, Übertragungspläne und verfahrensbegleitende Pläne. Vgl. zu den verschiedenen Planarten: Andres/Leithaus-Andres, InsO, § 217 Rz. 12 ff.
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mögenswerte und relevanten Vertragsbeziehungen unterbleiben, was besonders bei bestehenden Übertragungshemmnissen bedeutsam ist. 65 Der Gesetzgeber hat durch das am 1.3.2012 in Kraft getretene ESUG59) diese Verfahrensart in wesentlichen Punkten geändert, um die Nutzbarkeit, Attraktivität und Effektivität des Planverfahrens im Hinblick auf eine erfolgreiche Sanierung zu steigern.60) Der PSVaG konnte seitdem eine deutliche Zunahme an Insolvenzplanverfahren feststellen. Inzwischen beträgt ihr Anteil etwa 10 % aller Insolvenzfälle, mit denen sich der PSVaG zu befassen hat.61) Da es sich hierbei oftmals um größere Unternehmen handelt, ist der Anteil am Gesamtschaden des PSVaG noch deutlich höher. 66 Durch Art. 5 Nr. 21 – 35 SanInsFoG wurden die Regelungen zum Insolvenzplanverfahren an einigen Stellen erneut modifiziert. So wurde z. B. in § 220 Abs. 2 InsO erstmals die Vergleichsrechnung als zentrale Entscheidungsgrundlage der Beteiligten ausdrücklich normiert.62) Demnach ist i. R. der Ermittlung der voraussichtlichen Befriedigung ohne Insolvenzplan bei Sanierungsplänen grundsätzlich eine Fortführung des Unternehmens zu unterstellen. Hierdurch soll vermieden werden, dass lediglich das Liquidationsszenario als einzige Alternative zum Plan angeführt und dabei die Quote kleingerechnet wird.63) 67 Das Insolvenzplanverfahren betrifft beim PSVaG fast ausschließlich Sanierungspläne. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Mehrheit der Insolvenzpläne i. R. der Eigenverwaltung aufgestellt und umgesetzt wird. Das Schutzschirmverfahren als Variante der vorläufigen Eigenverwaltung zielt nach § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO explizit auf die Vorlage eines Plans ab. Insolvenzplanverfahren mit einem Insolvenzverwalter (Fremdverwaltung) stellen die Ausnahme dar. 68 Während im Regelinsolvenzverfahren der PSVaG zum Ausgleich seiner Forderungen nach § 9 Abs. 2 BetrAVG eine Quotenzahlung erhält, kann in einem Insolvenzplan die Rechtsstellung des PSVaG abweichend von den Vorschriften der InsO geregelt werden (§ 217 InsO). In der fallbezogenen Behandlung der betrieblichen Altersversorgung liegt eine der großen Gestaltungschancen des Insolvenzplanverfahrens. Dabei ist eine frühzeitige Abstimmung mit dem PSVaG sehr wichtig, um individuell passende und sachgerechte Lösungen für die betriebliche Altersversorgung zu erörtern und im Plan zu vereinbaren.64) Somit können ggf. notwendige spätere Planänderungen vermieden werden. 2.
Berücksichtigung der Forderungen des PSVaG im Insolvenzplan
69 Wie zuvor erläutert, meldet der PSVaG nach Verfahrenseröffnung zunächst eine sachverständig geschätzte Forderung an, bevor diese zu einem späteren Zeitpunkt auf Basis eines versicherungsmathematischen Gutachtens zum Insolvenzstichtag abschließend beziffert werden kann (siehe oben Rz. 51 f.). ___________ 59) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 60) Kübler/Prütting/Bork-Spahlinger, InsO, § 217 Rz. 3. 61) Der bisherige Höchstwert lag im Jahr 2020 mit insgesamt 62 Insolvenzplänen, bei denen unter Beteiligung des PSVaG ein Erörterungs- und Abstimmungstermin anberaumt wurde. 62) Auch schon vor Inkrafttreten des SanInsFoG ergab sich die Notwendigkeit einer Vergleichsrechnung – wenngleich nicht ausdrücklich in der InsO benannt – mittelbar aus § 220 Abs. 2 InsO a. F. sowie den verschiedenen Vorschriften zum Schlechterstellungsverbot gemäß §§ 245 Abs. 1 Nr. 1, 251 Abs. 1 Nr. 2, 253 Abs. 2 Nr. 3 InsO. 63) Harig/Harder, ZRI 2021, 67, 72. 64) Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 63. Zu den Besonderheiten der Insolvenzsicherung durch den PSVaG bei Durchführung eines Insolvenzplans vgl. PSVaG Merkblatt 110/M 2, abrufbar unter https://www.psvag.de/fileadmin/doc/merkblaetter/110/110_m2.pdf (Abrufdatum: 26.11.2022).
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Im Unterschied zum Regelinsolvenzverfahren liegt ein maßgeblicher Vorteil des Insolvenz- 70 planverfahrens in der Möglichkeit zur schnellen Verfahrensaufhebung kurzfristig nach Rechtskraft der Planbestätigung. Vor diesem Hintergrund ist es dem PSVaG jedoch nur in sehr seltenen Fällen möglich, seine Forderungen innerhalb des förmlichen Insolvenzverfahrens auf einen exakten Wert zu korrigieren. Daher wird in der Praxis regelmäßig eine Formulierung in den Insolvenzplan aufgenommen, welche dem PSVaG auch nach der Aufhebung des Verfahrens eine endgültige Forderungsbezifferung auf Basis des nachträglich erstellten versicherungsmathematischen Gutachtens zum Insolvenzstichtag ermöglicht (sog. forderungserhaltende Klausel).65) Die Klausel enthält u. a. Regelungen zum Prozedere bis zur Anerkennung der Forderungen, zur Quotenpartizipation des PSVaG in Bezug auf die zunächst auf Schätzbasis angemeldete Forderung und zu einem Spitzenausgleich nach Vorlage des versicherungsmathematischen Gutachtens durch den PSVaG.66) Die insolvenzrechtlichen Vorschriften für die Forderungsfeststellung im förmlichen Verfahren sind dabei als planfeste, d. h. durch den Plan nicht änderbare, Normen zu beachten.67) Im Ergebnis stellt die Klausel einen fairen Ausgleich zwischen dem Interesse des Arbeit- 71 gebers an einem zügigen, insolvenzbefreiten Neustart nach Verfahrensaufhebung und dem Anliegen des PSVaG nach einer angemessenen Berücksichtigung seiner zunächst nur auf Schätzbasis angemeldeten Forderungen im Insolvenzplan dar.68) Darüber hinaus liegt eine abschließende, korrekte Bezifferung der Forderungen des PSVaG, welche auch etwaige Erlöse aus der Verwertung von akzessorischen Sicherungerechten oder aus Vermögensübergängen forderungsmindernd berücksichtigt, im Interesse beider Seiten und auch der anderen Gläubiger. 3.
Fortführung von betrieblicher Altersversorgung durch den Arbeitgeber
Auf der Grundlage von § 217 InsO kann in einem Insolvenzplan auch die Rechtsstellung 72 des PSVaG abweichend von den Vorschriften der InsO geregelt werden.69) Für den Fall der Unternehmensfortführung mittels Insolvenzplan enthält § 7 Abs. 4 BetrAVG Sonderregelungen, welche eine teilweise oder vollständige Fortführung von betrieblicher Altersversorgung durch den Arbeitgeber vorsehen. Hintergrund ist, dass der PSVaG bzw. die dahinterstehende Solidargemeinschaft der Arbeitgeber bei Eintritt eines Sicherungsfalles nicht stärker belastet werden sollen, als erforderlich.70) Dem Missverständnis einer formalistischen Gläubigergleichbehandlung hat der Gesetzgeber 73 insoweit in § 7 Abs. 4 BetrAVG explizit mehrere Riegel vorgeschoben. Von daher erübrigen sich auch Diskussionen mit dem Tenor, dass der PSVaG nicht anders als andere Insolvenzgläubiger behandelt werden dürfe. Eine solche vereinfachende Betrachtung verbietet sich schon deshalb, weil es nicht nur um die Befriedigung des Gläubigers PSVaG, sondern in erster Linie um eine wettbewerbs- und sozialpolitisch angemessene Behandlung betrieblicher Versorgungswerke in der Insolvenz geht. Die Fortführung von betrieblicher Altersversorgung durch den Arbeitgeber kann als Auf- 74 teilung der Leistungspflicht zwischen dem PSVaG und dem Arbeitgeber nach § 7 Abs. 4 Satz 2, 3 BetrAVG erfolgen sowie auf der Grundlage der sog. Besserungsklausel nach § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG.71) ___________ 65) 66) 67) 68) 69) 70) 71)
Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 16. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 16. BGH, Urt. v. 5.2.2009 – IX ZB 230/07, ZIP 2009, 480, 482. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 17. Krings in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 38 Rz. 88. Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 7 Rz. 191. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 27.
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§ 27 3.1
Teil V Einzelfragen Aufteilung von betrieblicher Altersversorgung zwischen PSVaG und Arbeitgeber
75 § 7 Abs. 4 Satz 2, 3 BetrAVG eröffnen dem Planersteller die Möglichkeit, den gesetzlichen Forderungsübergang auf den PSVaG nicht durch eine Quotenzahlung, sondern durch Rückübertragung von Versorgungsverpflichtungen auf den Schuldner auszugleichen.72) Die Verpflichtungen sollen – anders als im Regelinsolvenzverfahren – nicht schematisch in vollem Umfang auf den PSVaG übergehen, sondern zukünftig wieder in Teilen oder vollständig durch den insolvenzbefreiten und wirtschaftlich erstarkten Arbeitgeber getragen werden.73) Ein wesentlicher Beweggrund für die Aufteilung ist die Liquiditätsersparnis bei den insgesamt an die Gläubiger auszuschüttenden Beträgen zwecks Erreichung einer bestimmten Planquote.74) Für den Planersteller handelt es sich daher um eine wertvolle Gestaltungsalternative zum Volleintritt durch den PSVaG im Regelinsolvenzverfahren.75) 76 Die Kriterien zur Aufteilung der Leistungspflicht zwischen dem PSVaG und dem Arbeitgeber sind vielfältig. Die nachfolgend erwähnten Aufteilungsmöglichkeiten besitzen die größte Praxisrelevanz, sind jedoch keinesfalls abschließend.76) 77 Bei der Aufteilung nach bestimmten Personenkreisen können z. B. die Versorgungsanwartschaften durch den Arbeitgeber fortgeführt werden, während der PSVaG die laufenden Leistungen der Rentner sichert. Dies schont in den ersten Jahren nach der Insolvenz die Liquidität des Unternehmens, da sich die Versorgungsfälle erst nach und nach aufbauen.77) 78 Weiterhin ist die Aufteilung nach Durchführungswegen möglich. Existieren in einem Unternehmen mehrere Durchführungswege, so könnte bspw. im Plan vereinbart werden, dass der PSVaG die unmittelbaren Versorgungzusagen sichert und die Unterstützungskassenzusagen durch die Schuldnerin fortgeführt werden.78) 79 Ferner kann die Aufteilung danach vorgenommen werden, ob die Altersversorgung arbeitgeber-, arbeitnehmer- oder mischfinanziert ist oder ob entsprechende Sicherungsrechte wie Rückdeckungsversicherungen existieren.79) Ein häufiger Anwendungsfall der Aufteilung nach § 7 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG betrifft die Fortführung von kongruent rückgedeckten Unterstützungskassenzusagen der Versorgungsanwärter, welche die Zusagen ggf. durch Entgeltumwandlung finanziert haben. Dieses Beispiel zeigt, dass häufig die zuvor erwähnten Aufteilungskriterien kombiniert werden. 80 Die Aufteilung nach Zeitablauf ist gesondert in § 7 Abs. 4 Satz 3 BetrAVG geregelt. Insbesondere zur Liquiditätsschonung obliegt dabei zunächst dem PSVaG die Leistungspflicht und ab einem im Insolvenzplan definierten Zeitpunkt dem Arbeitgeber.80) 81 Bei der Aufteilung erfolgt der Forderungsausgleich nicht durch eine Quotenzahlung an den PSVaG, sondern durch eine vollständige oder teilweise Rückübertragung von Versorgungsverpflichtungen auf die Schuldnerin. Die Fortführung der betrieblichen Altersversorgung anstelle einer Quotenzahlung führt für den PSVaG zu einer besonderen Risikolage im Hinblick auf eine eventuelle Folgeinsolvenz, sofern für die fortgeführten Zusagen keine wertgleichen Sicherungsrechte bestehen. Daher ist unter Berücksichtigung der Um___________ 72) 73) 74) 75) 76) 77) 78) 79) 80)
Krings in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 38 Rz. 88. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 28. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 28. Krings in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 38 Rz. 88. Für eine ausführliche Erläuterung der verschiedenen Aufteilungsmöglichkeiten vgl. Bremer in: Silcher/ Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 29 ff. Wohlleben, BetrAV 2013, 393, 396. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 31. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 33 ff. Rieger, NZI 2013, 671, 675.
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Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz
§ 27
stände des Einzelfalls abzuwägen, ob eine Aufteilung nur unter Gewährung eines Risikozuschlags oder unter Einräumung von Sicherheiten zugunsten des PSVaG erfolgen kann.81) Bei der Aufteilung nach § 7 Abs. 4 Satz 2, 3 BetrAVG und der nachfolgend erläuterten 82 Besserungsklausel gemäß § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG handelt es sich um voneinander unabhängige Regelungen zur Plangestaltung, welche einander ergänzen. Demnach soll, auch wenn der Insolvenzplan bereits eine Aufteilung der betrieblichen Altersversorgung vorsieht, zusätzlich eine Besserungsklausel vereinbart werden, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen.82) 3.2
Besserungsklausel
Nach § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG soll in einem Insolvenzplan vorgesehen werden, dass bei einer nachhaltigen Besserung der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers dieser die vom PSVaG zu erbringenden Leistungen ganz oder zum Teil wieder übernimmt. Diese sog. Besserungsklausel fehlte in der ursprünglichen Fassung des BetrAVG und wurde erst mit Einführung der InsO zum 1.1.1999 in das Gesetz aufgenommen.83) Anlass war die gesetzgeberische Wertung, dass es unangemessen wäre, die langfristigen Chancen der Sanierung mittels Insolvenzplan allein dem (neuen) Gesellschafter oder anderen Beteiligten zuzuweisen, während der PSVaG bzw. dessen Mitglieder die Lasten zu tragen haben.84) Im Unterschied zu den meisten anderen Gläubigern kann der PSVaG auch keine Vorteile aus der erfolgreichen Sanierung ziehen.85) Andere typische Gläubigergruppen wie Banken, das Finanzamt, Lieferanten, Vermieter und die Arbeitnehmer profitieren indes von der wirtschaftlichen Gesundung, indem sie auch künftig Darlehen vergeben, Steuern vereinnahmen, Waren verkaufen, Mieterträge erzielen oder – im Falle der Arbeitnehmer – ihren Arbeitsplatz behalten.86) Der PSVaG ist eine Solidargemeinschaft und ein Instrument der sozialen Sicherung.87) Eine Unternehmenssanierung auf Kosten des PSVaG bzw. auf Kosten aller beitragszahlenden Mitgliedsunternehmen kann nicht i. S. des Grundkonzeptes der sozialen Sicherung sein und würde falsche Anreize setzen.88) Daher soll der PSVaG nicht mehr belastet werden als unbedingt erforderlich.89) Im Übrigen widerspräche eine Sanierung durch eine schlichte Befreiung des Unternehmensträgers von Versorgungsverpflichtungen nicht nur dem Sozialschutzgedanken, sondern auch der Wettbewerbsgerechtigkeit. Richtigerweise können weder den Betriebsrentnern und den Anwärtern auf betriebliche Versorgungsleistungen noch den wettbewerbsfähigen Mitgliedsunternehmen des PSVaG die Folgen des unternehmerischen Misserfolgs der Insolvenzschuldnerin vollumfänglich angelastet werden. Im Sinne eines wohlverstandenen Interessenausgleichs muss stets auch der sanierungsbedürftige Betrieb in angemessener Weise zur Fortführung seiner eigenen betrieblichen Altersversorgung beitragen, wenn er künftig werbend tätig sein und innerhalb unserer sozialen Marktwirtschaft an den sich hier bietenden Wettbewerbschancen teilhaben möchte. Die Besserungsklausel ist eine Soll-Vorschrift.90) Der Gesetzgeber hat damit zum Ausdruck gebracht, dass grundsätzlich eine Besserungsklausel in den Insolvenzplan aufzunehmen ___________ 81) 82) 83) 84) 85) 86) 87) 88) 89) 90)
Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 37. Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 27. Rieger, NZI 2013, 671, 673. Uhlenbruck, NZI 2020, 878. Uhlenbruck, NZI 2020, 878, 879; Holthusen, NZI 2021, 705, 708. Uhlenbruck, NZI 2020, 878, 879. Holthusen, NZI 2021, 705, 708. Holthusen, NZI 2021, 705, 708. Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 7 Rz. 191; Holthusen, NZI 2021, 705, 708. Zur Ausgestaltung der Besserungsklausel als Soll-Vorschrift vgl. Uhlenbruck, NZI 2020, 878, 880.
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§ 27
Teil V Einzelfragen
ist und hierauf nur in wohl begründeten Ausnahmefällen verzichtet werden kann.91) Enthält der Insolvenzplan keine Besserungsklausel, ohne dass dies durch besondere Umstände gerechtfertigt ist, so hat das Insolvenzgericht den Plan von Amts wegen zurückzuweisen.92) Sofern ein insolventes Unternehmen durch einen Insolvenzplan saniert wird und laut den Planzahlen in absehbarer Zeit wieder wirtschaftlich erfolgreich agiert, muss eine Besserungsklausel zugunsten des PSVaG aufgenommen werden.93) 87 Die Aufnahme einer Besserungsklausel in den Insolvenzplan steht i. Ü. nicht der Anwendung des Obstruktionsverbotes entgegen. Nach § 245 InsO kann das Insolvenzgericht die fehlende Zustimmung einer Gruppe ersetzen, wenn verschiedene Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Darunter fällt nach § 245 Abs. 1 Nr. 2 InsO eine angemessene Beteiligung der Gruppen am wirtschaftlichen Wert. Unter § 245 Abs. 2 Nr. 3 InsO wird dies u. a. dahingehend konkretisiert, dass kein Gläubiger, der ohne einen Plan gleichrangig mit den Gläubigern der Gruppe zu befriedigen wäre, bessergestellt wird als diese Gläubiger. Aus der Regelung wird zuweilen abgeleitet, dass auch der PSVaG nicht bessergestellt werden dürfe, da ansonsten die fehlende Zustimmung einer Gruppe nicht mehr ersetzt werden könne. Dieser Ansatz vermag jedoch nicht zu überzeugen, da die Besserstellung des PSVaG vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt war.94) Demnach kann sich eine den Plan ablehnende Gruppe bei der Prüfung der Zustimmungsfiktion nach § 245 InsO nicht auf eine Schlechterstellung gemäß § 245 Abs. 2 Nr. 3 InsO in Bezug auf den PSVaG berufen.95) 88 Im Hinblick auf die Umsetzung der Besserungsklausel im Insolvenzplan ist darauf zu achten, diese möglichst konkret zu fassen. Demnach sollten die Bedingungen für die Wiederübernahme von betrieblicher Altersversorgung an ein klar definiertes Kriterium geknüpft werden, welches die nachhaltige Besserung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens umschreibt (z. B. eine möglichst exakt definierte Eigenkapitalquote oder ein bestimmter Cashflow).96) Aus Sicht des PSVaG müssen die Schwellenwerte erreichbar sein und die Kennzahlen sollten möglichst geringen Beeinflussungsmöglichkeiten unterliegen. Weiterhin sollte bereits im Plan geklärt sein, wer den Bedingungseintritt prüft (z. B. der Planüberwacher oder ein Wirtschaftsprüfer) und zu welchem Zeitpunkt dies geschieht.97) 89 Nur in wenigen, gut begründeten Ausnahmefällen wird der PSVaG auch eine finanzielle Abgeltung der ansonsten zugunsten des PSVaG aufzunehmenden Besserungsklausel akzeptieren können. Der Betrag hat sich dabei an der Höhe des geschätzten wirtschaftlichen Mehraufwands zu orientieren, den der PSVaG aufgrund der Nichtaufnahme einer Besserungsklausel aller Voraussicht nach zu tragen hat.98) 4.
Eigene Gruppe
90 Ein wesentliches Element eines jeden Insolvenzplans besteht in der Bildung von Gruppen von Beteiligten, welche gesondert über diesen abstimmen.99) Der Zweck der Gruppenbildung ___________ 91) Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 48. 92) Begr. RegE EGInsO, BT-Drucks. 12/3803, S. 111. Zur Prüfungskompetenz bzw. Prüfungspflicht des Insolvenzgerichts i. R. des § 231 InsO vgl. Holthusen, NZI 2021, 705, 706 f. 93) Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm-Berenz, BetrAVG, § 7 Rz. 196. 94) Holthusen, NZI 2021, 705, 707; Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 50. 95) Uhlenbruck-Lüer/Streit, InsO, § 222 Rz. 41; Holthusen, NZI 2021, 705, 707. 96) Bremer in: Silcher/Brandt, Hdb. Insolvenzplan in Eigenverwaltung, Kap. 23 Rz. 53. 97) Rieger, NZI 2013, 671, 673. 98) Uhlenbruck, NZI 2020, 878, 882. 99) Balthasar in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 22 Rz. 50.
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Betriebliche Altersversorgung in der Insolvenz
§ 27
liegt darin, den verschiedenen Interessen der Gläubiger Rechnung zu tragen.100) In der Praxis ist die Gruppenbildung indes vorrangig von taktischen Motiven geprägt.101) Sie ist von entscheidender Bedeutung um die erforderlichen Mehrheiten zur Annahme des Insolvenzplans zu erreichen.102) Mit Inkrafttreten des SanInsFoG zum 1.1.2021 wurde § 9 Abs. 4 Satz 1 BetrAVG dahin- 91 gehend geändert, dass bei Sanierungsplänen für den PSVaG eine eigene Gruppe zu bilden ist, sofern er hierauf nicht verzichtet. Hierdurch wollte der Gesetzgeber die Stellung des PSVaG in Insolvenzplanverfahren stärken.103) Der PSVaG verzichtet ggf. dann auf eine eigene Gruppe, sofern die Schuldnerin nur in geringem Umfang Zusagen auf betriebliche Altersversorgung erteilt hat und diese auf Basis einer knappen und präzisen Formulierung im gestaltenden Teil des Insolvenzplans mit dessen Rechtskraft fortgeführt werden. Sodann wird der PSVaG kurzfristig nach Planrechtskraft seine Forderungen nach § 9 Abs. 2 BetrAVG zurücknehmen. In diesem Fall ist die Erstellung eines versicherungsmathematischen Gutachtens sowie die Aufnahme einer forderungserhaltenden Klausel (siehe oben Rz. 70) in den Insolvenzplan obsolet. Bis Ende 2020 war die Regelung zur Plangruppe für den PSVaG grundsätzlich fakultativ. 92 Gleichwohl ergab sich in der Praxis aufgrund der erläuterten Besonderheiten bei der Beteiligung des PSVaG in Insolvenzplänen bereits vor der gesetzlichen Änderung regelmäßig die Notwendigkeit, für den PSVaG eine eigene Gruppe zu bilden. Aufgrund der Neuregelung des § 9 Abs. 4 Satz 1 BetrAVG hat das Insolvenzgericht i. R. 93 der gerichtlichen Vorprüfung nach § 231 InsO den Insolvenzplan sofort zurückzuweisen oder Nachbesserung zu verlangen, wenn der PSVaG keine eigene Gruppe im Plan bildet und hierauf nicht ausdrücklich verzichtet hat.104) IV.
Zusammenfassung und Ausblick
Bei der gesetzlichen Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung durch den 94 PSVaG handelt es sich um eine Ausfallsicherung. Im Falle einer Arbeitgeberinsolvenz dient sie der Sicherstellung der Ansprüche der Versorgungsberechtigten. Im Regelinsolvenzverfahren setzt die Leistungserbringung durch den PSVaG sowie die endgültige Bezifferung von dessen Forderungen das Zusammenspiel verschiedener Beteiligter voraus. Anders als das Regelinsolvenzverfahren, welches eine vollumfängliche Übernahme der Ver- 95 sorgungsverpflichtungen durch den PSVaG vorsieht, eröffnet das Insolvenzplanverfahren vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Behandlung der betrieblichen Altersversorgung. Kerngedanke ist dabei, dass der sanierte Arbeitgeber die von ihm in der Vergangenheit erteilen Versorgungszusagen i. R. seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten fortführt und dadurch die Solidargemeinschaft der hinter dem PSVaG stehenden Arbeitgeber entlastet wird. Denn der PSVaG dient ausschließlich dem Schutz der Betriebsrenten und ist kein Sanierungsinstrument für Unternehmen. Eine frühzeitige und umfassende Einbeziehung des PSVaG ist dabei eine wichtige Voraus- 96 setzung, um fallbezogene und sachgerechte Planregelungen zu vereinbaren. Unabhängig davon wird der PSVaG auch in Zukunft in wirtschaftlich bedeutenden Fällen in Gläubigerversammlungen und Gläubigerausschüssen konstruktiv und – soweit erforderlich – kritisch mitwirken. ___________ 100) 101) 102) 103) 104)
Balthasar in: Kübler/Bork/Prütting, HRI II, § 22 Rz. 51. Rieger, NZI 2013, 671, 675. Wienberg/Dellit in: Bork/Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, Kap. 13 Rz. 50. Begr. RegE SanInsFoG z. BetrAVG, BT-Drucks. 19/24181, S. 223. Holthusen, NZI 2021, 705, 706.
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§ 28 Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft Blöse
Übersicht I. Einführung .................................................. 1 II. Rechtsformüberlegungen .......................... 8 III. Grundsätze der wirtschaftlichen Neugründung ............................................ 11 1. Vorliegen einer wirtschaftlichen Neugründung ............................................. 13 2. Haftungsrisiken.......................................... 19 2.1 Gesellschafterhaftung.................... 19 2.2 Haftung der Anteilerwerber ......... 24 2.3 Geschäftsführerhaftung ................ 26 3. Handelsregisteranmeldung ........................ 27 IV. Kapitalaufbringung in der Auffanggesellschaft................................................. 29 1. Sachgründung ............................................. 29 2. Verdeckte Sacheinlage................................ 35 3. Debt Equity Swap ...................................... 38 3.1 Bilanzielle Betrachtungsweise....... 44
3.2
Liquiditätsbezogene Betrachtungsweise ......................... 45 3.3 Nennwertbezogene Betrachtungsweise ......................... 46 3.4 Markwertbezogene Betrachtungsweise ......................... 47 V. Rechtsbeziehungen zwischen Insolvenzmasse und Auffanggesellschaft ....... 50 1. Entwicklung des Sanierungsprivilegs ........ 52 2. Voraussetzungen des Sanierungsprivilegs ...................................................... 54 2.1 Zeitpunkt des Anteilserwerbs....... 56 2.2 Zeitpunkt der Darlehensgewährung...................................... 71 2.3 Insolvenzreife ................................ 74 2.4 Sanierungszweck............................ 75 3. Fazit ............................................................ 76
Literatur: Bärwaldt/Balder, Praktische Hinweise für den Umgang mit Vorrats- und Mantelgesellschaften – Teil 2: Mantelgesellschaften, GmbHR 2004, 350; Berge, Der Gründungsaufwand bei der GmbH, GmbHR 2020, 82; Bitter, Förderung von Neukrediten durch Gesellschafter und Dritte in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und 3 COVInsAG – Eine Zwischenbilanz, GmbHR 2020, 861; Blöse, Haftung der Geschäftsführer und Gesellschafter nach dem ESUG, GmbHR 2012, 471; Bormann/Backes, Gesellschafterdarlehen in Zeiten von COVID-19, GmbHR 2020, 513; Cahn/Simon/Theiselmann, Nennwertanrechnung beim Debt Equit Swap!, DB 2012, 501; Cahn/Simon/Theiselmann, Forderungen gegen die Gesellschaft als Sacheinlage?, Zum Erfordernis der Forderungsbewertung beim Debt-Equity Swap, Corporate Finance Law 2010, 238; Carli/Rieder/Mückl, Debt-to-Equity-Swaps in der aktuellen Transaktionspraxis, ZIP 2010, 1737; Ekkenga, Sachkapitalerhöhung gegen Schuldbefreiung, ZGR 2009, 581; Fuhrmann/ Heinen/Schilz, Die gesellschaftsrechtlichen Aspekte des StaRUG, NZG 2021, 684; Götz, Darlegungsund Beweislast im Unterbilanzhaftungsprozess bei Erstgründung und bei wirtschaftlicher Neugründung einer GmbH, GmbHR 2013, 290; Hacker/Petsch, Leere Hülse, volle Haftung?, Plädoyer für eine Insolvenzausnahme bei Unternehmensfortführung und wirtschaftlicher Neugründung, ZIP 2015, 761; Hannemann, Zur Bewertung von Forderungen als Sacheinlagen bei Kapitalgesellschaften, DB 1995, 2055; Heckschen, Die GmbH-Gründung 10 Jahre nach MoMiG – Eine Bestandsaufnahme, GmbHR 2018, 1093; Herweg/Wirth, Der Restrukturierungsplan – Kernstück der präventiven Sanierung; DB 2021, 886; Hirte/Knof/Mock, Das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, DB 2011, 632; Hülsmann, Kapitalaufbringung in der GmbH im Spiegel aktueller GmbH-Rechtsprechung, GmbHR 2019, 377; Karollus, Die Umwandlung von Geldkrediten in Grundkapital – eine verdeckte Sacheinlage?, ZIP 1994, 589; Krause, Zulässigkeit und Verbindlichkeit von Vereinbarungen über neben der Einlage zu erbringendes Aufgeld (Agio), BB 2008, 77; Löwisch, Eigenkapitalersatzrecht, 2007; Pentz, Die Änderungen und Ergänzungen der Kapitalersatzregeln im GmbH-Gesetz, GmbHR 1999, 437; Porzelt, Die Überbewertung der Sacheinlagen und die Rechtsfolgen für die Gesellschafter, GmbHR 2018, 1251; Priester, Wirtschaftliche Neugründung in der Liquidation, GmbHR 2021, 1327; Priester, Debt-Equity-Swap zum Nennwert?, DB 2010, 1445; Redeker, Kontrollerwerb an Krisengesellschaften: Chancen und Risiken des Debt-Equity-Swaps, BB 2007, 673; Scheunemann/Hoffmann, Debt-EquitySwap, DB 2009, 983; Schmidt, K., Unterbilanzhaftung bei Fortsetzung einer aufgelösten Gesellschaft?, DB 2014, 701; Schmidt, K., Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht im ESUG-Entwurf, BB 2011, 1603; Schulze/Osterloh, Forderungsverzicht des Gesellschafters einer Kapitalgesellschaft in der Krise, NZG 2017, 641; Seibt/Voigt, Kapitalerhöhungen zu Sanierungszwecken, AG 2009, 133; Tavakoli, Begrenzung der Unterbilanzhaftung bei wirtschaftlicher Neugründung einer GmbH, NJW 2012, 1855; Theusinger/ Andrä, Die Aktivierung unternehmensloser Gesellschaften – Praktische Hinweise zur Verwendung von Vorrats- und Mantelgesellschaften, ZIP 2014, 1916; Toth-Feher/Schick, Distressed Opportunities – Rechtliche Probleme beim Erwerb notleidender Forderungen von Banken, ZIP 2004, 491; Wahl/Schult, Reichweite der Unterbilanzhaftung bei wirtschaftlicher Neugründung einer GmbH, NZG 2010, 611; Wentzler, Debt Equity Swap als Teil der finanziellen Unternehmenssanierung, FB 2009, 446; Werner, Zur Behandlung von Gesellschafterdarlehen bei Unternehmensverkäufen, StBW 2014, 154.
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§ 28 I.
Teil V Einzelfragen Einführung
1 Bei der Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft stellt sich für den Insolvenzverwalter zunächst eine Frage, die auch jeder andere Unternehmensgründer für sich beantworten muss. Es ist zu entscheiden, in welcher Rechtsform die Auffanggesellschaft geführt werden soll. 2 Ist diese Frage beantwortet, ist es nicht selten so, dass die – u. U. teilweise – Übertragung der Aktiva des insolventen Rechtsträgers auf die Auffanggesellschaft unter zeitlichem Druck zu geschehen hat. Vor diesem Hintergrund wird es vielfach als attraktiv empfunden, nicht den Weg einer rechtlichen Neugründung der Auffanggesellschaft zu beschreiten, sondern einen bereits vorhandenen Rechtsträger zu verwenden. Dies geschieht in diesen Fällen regelmäßig durch den Erwerb und die Aktivierung einer Vorratsgesellschaft. Wird so verfahren, sind – da der BGH dies als einen Fall der wirtschaftlichen Neugründung betrachtet1) – die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die sich aus der Rechtsprechung erwachsenden Haftungsrisiken zu vermeiden. 3 Eine ebenfalls i. R. der Gründung zu beantwortende Frage ist – jedenfalls, wenn die Rechtsformüberlegungen zur Wahl einer Kapitalgesellschaft geführt haben – die der Aufbringung des Stamm- oder Grundkapitals der Auffanggesellschaft. Da diese das Unternehmen des insolventen Rechtsträgers ganz oder teilweise fortführen, also auffangen soll, kommt in Betracht, den Weg der Sachgründung unter Einbringung des Unternehmens zu beschreiten. Gegebenenfalls können sich aber auch – wenn eine Bargründung vollzogen wird – Fragen einer verdeckten Sacheinlage oder eines sog. Hin- und Herzahlens stellen. Denkbar – wenn auch nicht wahrscheinlich – ist der Fall, dass nach einer Bargründung die Übertragung des fortzuführenden Unternehmens erfolgt und dessen Wert gegen null geht. Hier stellt sich die Frage der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen. 4 Ist die Auffanggesellschaft schließlich gegründet, so tritt sie häufig in Rechtsbeziehungen zu dem insolventen Rechtsträger, sprich der Insolvenzmasse. Je nach Gestaltung und Entwicklung dieser Rechtsbeziehungen können sich – insbesondere bei einer Folgeinsolvenz der Auffanggesellschaft – nachteilige Konsequenzen für die Insolvenzmasse ergeben. 5 Durch das ESUG hat die Frage neue Dynamik gewonnen, ob die mit der klassischen Auffanggesellschaft beabsichtigten Effekte nicht auch auf Ebene des insolventen Rechtsträgers selbst erzielbar sind. Mit dem nunmehr ausdrücklich insolvenzrechtlich kodifiziert abgesicherten Instrument des Debt Equity Swaps besteht die Möglichkeit, die – zumindest teilweise – Entschuldung des Rechtsträgers auf anderem Wege als Separierung der Aktiva von den Passiva unter Zuhilfenahme zweier unterschiedlicher Rechtsträger zu erreichen. 6 Begrifflich ist es in einem solchen Fall nicht zutreffend, von einer Auffanggesellschaft im engeren Sinne zu sprechen, da eben gerade keine Übertragung von Aktiva auf einen neuen Rechtsträger und also gerade kein Auffangen des Geschäftsbetriebes des insolventen Unternehmens durch einen neuen Rechtsträger erfolgt.2) Gleichwohl sollen wegen der häufig ___________ 1) BGH, Beschl. v. 9.12.2002 – II ZB 12/02, BGHZ 153, 158 = ZIP 2003, 251; zur neu erwachten Relevanz von Vorratsgründungen s. Priester, GmbHR 2021, 1327. 2) Ob dies zur Anwendung der Grundsätze über die wirtschaftliche Neugründung führt, ist nach den Kriterien zu beantworten, die der BGH in seiner Entscheidung vom 10.12.2013 (BGH, Vers.-Urt. v. 10.12.2013 – II ZR 53/12, ZIP 2014, 418) aufgestellt hat. Danach ist entscheidend, „ob die Gesellschaft noch ein aktives Unternehmen betreibt, an das die Fortführung des Geschäftsbetriebs – sei es auch unter wesentlicher Umgestaltung, Einschränkung oder Erweiterung seines Tätigkeitsgebiets – in irgendeiner wirtschaftlich noch gewichtbaren Weise anknüpft, oder ob es sich tatsächlich um einen leer gewordenen Gesellschaftsmantel ohne Geschäftsbetrieb handelt, der seinen – neuen oder alten – Gesellschaftern nur dazu dient, unter Vermeidung der rechtlichen Neugründung einer die beschränkte Haftung gewährleistenden Kapitalgesellschaft eine gänzlich neue Geschäftstätigkeit – ggf. wieder – aufzunehmen“. S. dazu auch die kritische Anm. von K. Schmidt, DB 2014, 701.
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Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft
§ 28
anzutreffenden gestalterischen Nähe der beiden Verfahrensweisen auch einige Gedanken hinsichtlich der Betriebsfortführung im Zusammenhang mit einem Debt Equity Swap angestellt werden. Mitunter werden die Anteilsinhaber des insolventen Rechtsträgers auch im Zusammenhang 7 mit einem Debt Equity Swap in die Sanierungsüberlegungen miteinbezogen. Dies ist ebenfalls nichts grundsätzlich Neues, da auch in der Vergangenheit die Altgesellschafter grundsätzlich als (Mit-)Anteilsinhaber der klassischen Auffanggesellschaft in Betracht gekommen sind. Neuen Schwung haben allerdings die Gestaltungsüberlegungen erhalten, die dahin gehen, die drohende Inanspruchnahme der Altgesellschafter, insbesondere vor dem Hintergrund anfechtungsrechtlich relevanter Gesellschafterleistungen (§ 135 InsO), zu vermeiden. Durch geschicktes Kombinieren der insolvenzrechtlichen Instrumente der Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO), des Insolvenzplans (§§ 217 ff. InsO), und innerhalb dessen insbesondere des Debt Equity Swaps (§ 225a Abs. 2 InsO), lässt sich im Zusammenwirken von Altgesellschaftern und den wesentlichen Gläubigern eine Haftungsbefreiung für die Altgesellschafter erreichen. Dies ist im Grundsatz unproblematisch, jedoch dann bedenklich, wenn auf diesem Wege die wirtschaftlichen Interessen der nicht am Debt Equity Swap beteiligten Gläubiger berührt werden und daher die Erreichung der Ziele des Insolvenzverfahrens i. S. von § 1 InsO, also die gemeinschaftliche – und in diesem Sinne auch gleichmäßige – Befriedigung der Gläubiger in Gefahr gerät. Wünschenswert wäre es daher, die Stellung des Sachwalters auch durch gesetzliche Maßnahmen zu stärken. II.
Rechtsformüberlegungen
Die Erwägungen, die im Zusammenhang mit der Gründung einer Auffanggesellschaft Platz 8 greifen, unterscheiden sich nicht wesentlich von den Überlegungen, die im Zusammenhang mit der Gründung einer Gesellschaft für andere Zwecke angestellt werden. Insbesondere dann, wenn das Geschäftsmodell der Auffanggesellschaft risikoreich ist, 9 und also die Verwirklichung eines Verlustrisikos mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit versehen ist, wird für den Insolvenzverwalter, vor allem auch vor dem Hintergrund eigener Haftungsdrohung, der Gesichtspunkt der Risikoabschirmung von besonderer Bedeutung sein. Der praktische Regelfall der Rechtsform einer Auffanggesellschaft ist daher die Kapitalgesellschaft. Etwas anderes kann jedoch insbesondere in den Fällen gelten, in denen die Übernahme der 10 Auffanggesellschaft durch einen Erwerber weitgehend vorbereitet ist und zeitnah zur Gesellschaftsgründung erfolgen soll. In einer solchen Situation mag die Wahl auch auf eine Personengesellschaft fallen, da diese den Vorteil bietet, nicht selbst Ertragsteuersubjekt zu sein. Soll die Übernahme der Auffanggesellschaft unter Inanspruchnahme von deren Ertragskraft und/oder Substanz erfolgen, wie dies bei Leveraged-Buy-outs geschieht, so kann diese Verlustdurchlässigkeit für den Investor von Interesse sein und ihrerseits einen Finanzierungsbeitrag für die Übernahme der Gesellschaft darstellen. Auch in diesen Fällen wird jedoch regelmäßig Haftungsvorsorge zu betreiben sein, so dass auch bei solchen Gestaltungen die reine Personengesellschaft regelmäßig ausscheiden und die Wahl auf eine gemischte Gesellschaftsform, typischerweise die GmbH & Co. KG, fallen wird. III.
Grundsätze der wirtschaftlichen Neugründung
Die Übertragung der Aktiva eines insolventen Rechtsträgers auf eine Auffanggesellschaft 11 vollzieht sich oft in der Notwendigkeit der Beachtung knapper Fristen. Häufig ist es beidseits, d. h. sowohl von Seiten eines Investors als auch von Seiten des Insolvenzverwalters gewünscht, dass die Übernahme des Geschäfts des insolventen Rechtsträgers unmittelbar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschieht. Es ist dann vor dem Hintergrund dieses Blöse
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§ 28
Teil V Einzelfragen
zeitlichen Drucks vielfach nicht tunlich, die Auffanggesellschaft im Wege der rechtlichen Neugründung ins Leben zu rufen. Stattdessen wird nicht selten eine Vorratsgesellschaft genutzt. Die Nutzung einer solchen Gesellschaft stellt jedoch eine wirtschaftliche Neugründung dar, so dass die dafür von der Rechtsprechung aufgeführten Grundsätze zu beachten sind. 12 Seit den Entscheidungen des BGH vom 9.12.20023) und 7.7.20034) ist klar, dass sich aus einer sog. wirtschaftlichen Neugründung ganz erhebliche Haftungsrisiken für die beteiligten Personen ergeben können. Der BGH hat damals entschieden, dass bei einer wirtschaftlichen Neugründung die Grundsätze über die Unterbilanzhaftung entsprechend anwendbar sind und dass daneben auch eine Handelndenhaftung analog § 11 Abs. 2 GmbHG in Betracht kommt. 1.
Vorliegen einer wirtschaftlichen Neugründung
13 Eine wirtschaftliche Neugründung ist nach der Rechtsprechung des BGH in den vorgenannten Beschlüssen vom 9.12.2002 und 7.7.2003 in zwei Varianten denkbar: x
Zum einen kommt die Erstverwendung einer Vorrats-GmbH in Betracht,
x
zum anderen die Wiederverwendung einer bereits existenten Gesellschaft, deren Geschäftsbetrieb jedoch vorübergehend eingestellt war.
14 Ein solcher Fall stellt im Zusammenhang mit der Gründung einer Auffanggesellschaft eine Ausnahme dar, die jedoch gleichwohl denkbar ist. Dies insbesondere dann, wenn der insolvente Rechtsträger Inhaber aller Anteile einer Gesellschaft ist, die ihren Geschäftsbetrieb eingestellt hatte. In einem solchen Fall kann es sowohl unter dem bereits angesprochenen zeitlichen Aspekt, aber auch unter Kostengesichtspunkten in Betracht kommen, den Geschäftsbetrieb des insolventen Rechtsträgers auf eine solche inaktive Tochtergesellschaft zu übertragen und diese also als Auffanggesellschaft zu nutzen. 15 Während bei einer Vorrats-Gesellschaft der Umstand, dass nach der zitierten Rechtsprechung des BGH eine wirtschaftliche Neugründung vorliegt, für die Beteiligten regelmäßig leicht zu erkennen ist – zu Abgrenzungsfragen siehe sogleich – und zudem in der Mehrzahl der Fälle die Grundlage einer Haftung gar nicht gegeben sind, gilt für die Wiederverwendung einer zeitweise inaktiven Gesellschaft etwas anderes. Hier bestehen ganz erhebliche Schwierigkeiten, zu beurteilen, ob nach den Kriterien des BGH eine wirtschaftliche Neugründung vorliegt. In seiner Entscheidung vom 7.7.2003 hatte der BGH als Anhaltspunkte benannt: x
Änderung der Firma,
x
Änderung des Unternehmensgegenstandes,
x
Sitzverlegung,
x
Austausch der Geschäftsführung und
x
Veräußerung der Geschäftsanteile.
16 Diese Aufzählung kann jedoch nicht als in dem Sinne abschließend verstanden werden, dass immer dann, wenn die genannten Umstände vorliegen, eine wirtschaftliche Neugründung gegeben ist bzw. umgekehrt, dass eine solche ausscheidet, wenn die aufgeführten Kriterien nicht erfüllt sind.5) ___________ 3) BGH, Beschl. v. 9.12.2002 – II ZB 12/02, BGHZ 153, 158 = ZIP 2003, 251. 4) BGH, Beschl. v. 7.7.2003 – II ZB 4/02, BGHZ 155, 318 = ZIP 2003, 1698 m. Anm. Kesseler, ZIP 2003, 1790. 5) S. dazu Bärwaldt/Balder, GmbHR 2004, 350.
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Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft
§ 28
Die Rechtsprechung verwendet regelmäßig den Begriff der „leeren Hülse“, um solche Ge- 17 sellschaften zu beschreiben, die Gegenstand einer wirtschaftlichen Neugründung sind. Diese eingängige Formulierung soll eine Situation kennzeichnen, in der die Gesellschaft kein aktives Unternehmen mehr betreibt, an das die Fortführung des Geschäftsbetriebs, sei es auch unter wesentlicher Umgestaltung, Einschränkung oder Erweiterung seines Tätigkeitsgebietes, in irgendeiner wirtschaftlich noch gewichtigen Weise anknüpfen kann.6) Als entscheidender Gesichtspunkt für die vorzunehmende Differenzierung wird demnach 18 betrachtet, ob die fragliche Gesellschaft in dem Zeitpunkt, in dem sie wieder aktiviert wird, überhaupt noch ein Unternehmen betrieben hat oder vielmehr tatsächlich stillgelegt war. Als eindeutig werden dabei die Fälle angesehen, bei denen ein (nahezu) vermögensloser Alt-Mantel für den Betrieb eines neuen Unternehmens verwandt wird.7) Das OLG Celle hat zudem einen geringen, eher symbolischen Kaufpreis bei einer Geschäftsanteilsübertragung als Indiz dafür gewertet, dass die Gesellschaft inaktiv war.8) 2.
Haftungsrisiken
2.1
Gesellschafterhaftung
Eine wirtschaftliche Neugründung führt sowohl für die beteiligten Gesellschafter als auch 19 für die Geschäftsführer zu Haftungsrisiken. Die Gesellschafter sehen sich mit dem Problem der Unterbilanzhaftung, teilweise auch Vorbelastungshaftung genannt, konfrontiert. Dies bedeutet, dass die Gesellschafter der Gesellschaft gegenüber anteilig auf Ausgleich haften, wenn durch Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft im Zeitpunkt der Entstehung der Gesellschaft, also bei Eintragung ins Handelsregister, eine Differenz zwischen Stammkapital und Wert des Gesellschaftsvermögens besteht. Dieser allgemeine Grundsatz der Unterbilanzhaftung ist für die Fälle der analogen An- 20 wendung auf die wirtschaftliche Neugründung zu modifizieren. Aus der Natur der Sache heraus kann es hier nicht auf den Zeitpunkt der Eintragung ins Handelsregister ankommen, sondern entscheidend ist der Zeitpunkt, in dem die wirtschaftliche Neugründung gegenüber dem Handelsregister angemeldet bzw. offengelegt wird.9) Erfolgt eine Anmeldung bzw. Offenlegung der wirtschaftlichen Neugründung nicht, so wurde teilweise vertreten, dass die Haftung der Gesellschafter zeitlich unbeschränkt ist.10) Dieser Auffassung hat sich der BGH jedoch in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 nicht angeschlossen.11) Im Kern geht es bei den unterschiedlichen Auffassungen darum, für welchen Zeitraum 21 sich die Gesellschafter einer unbeschränkten Verlustdeckungshaftung ausgesetzt sehen und ab welchem Zeitpunkt stattdessen die Beschränkung auf eine reine Unterbilanzhaftung eingreift. Diesen Zeitpunkt hat der BGH in der vorgenannten Entscheidung nunmehr definiert und auf den Zeitpunkt festgelegt, zu dem die wirtschaftliche Neugründung erstmals nach außen in Erscheinung tritt. Zur Begründung seiner Ansicht führt der BGH aus, dass entscheidend ist, wann die wirtschaftliche Neugründung erstmals offenbar geworden ist. Als Mittel für dieses Offenbarwerden, kann dabei nicht nur die Offenlegung durch Anmeldung zum Handelsregister dienen, sondern auch durch die nach außen wahrnehmbare, d. h. offenbare Aufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit. Ab diesem Zeitpunkt gilt dann eine ___________ 6) BGH, Beschl. v. 7.7.2003 – II ZB 4/02, BGHZ 155, 318 = ZIP 2003, 1698 m. Anm. Kesseler, ZIP 2003, 1790. 7) OLG München, Urt. v. 11.3.2010 – 23 U 2814/09, ZIP 2010, 579. 8) OLG Celle, Urt. v. 11.5.2005 – 9 U 218/04, GmbHR 2005, 1496, 1497. 9) BGH, Beschl. v. 7.7.2003 – II ZB 4/02, BGHZ 155, 318, 325 = ZIP 2003, 1698 m. Anm. Kesseler, ZIP 2003, 1790. 10) So OLG München, Urt. v. 11.3.2010 – 23 U 2814/09, ZIP 2010, 579. 11) BGH, Urt. v. 6.3.2012 – II ZR 56/10, BGHZ 192, 341 = ZIP 2012, 817.
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§ 28
Teil V Einzelfragen
Haftungsbeschränkung, die darin liegt, dass die Gesellschafterhaftung auf die Unterbilanz begrenzt ist, die an dem Tag besteht, an dem Tatsache der wirtschaftlichen Neugründung dem Rechtsverkehr bekannt geworden ist.12) 22 Für den i. R. der Gründung einer Auffanggesellschaft praxisdominanten Fall der Übernahme einer Vorratsgesellschaft dürfte sich die Haftungsgefahr bei der wirtschaftlichen Neugründung damit weitgehend entschärft haben. Dies deshalb, weil die Vorratsgesellschaft im Zeitpunkt ihrer Übernahme durch den Insolvenzverwalter regelmäßig ein intaktes Stammkapital haben wird. Erfolgt die Offenlegung der wirtschaftlichen Neugründung dann vor Aufnahme der Geschäftstätigkeit, so können noch keine Verluste verursacht worden sein, die nach den Grundsätzen der Unterbilanzhaftung ausgleichspflichtig sind. 23 Erfolgt die Offenlegung nicht, wird aber vielfach im Ergebnis das Gleiche gelten. Der Stichtag der Feststellung der Unterbilanz ist in diesem Fall der Zeitpunkt, in dem die Neugründung offenkundig wird und also – nach der neuen Rechtsprechung des BGH – der Zeitpunkt der Aufnahme geschäftlichen Kontakts mit Dritten. Dann fallen aber der Stichtag der Feststellung einer Unterbilanz und der Tag, an dem Verbindlichkeiten, die zu einem Verlust führen können, begründet werden, zusammen, so dass ausgleichspflichtige Verluste nicht bestehen dürften.13) 2.2
Haftung der Anteilerwerber
24 Da es nicht Aufgabe des Insolvenzverwalters ist, das insolvente Unternehmen dauerhaft fortzuführen, wird er die Gesellschaftsanteile an der Auffanggesellschaft veräußern. Sind die Voraussetzungen für eine Unterbilanzhaftung gegeben, so ist auch ein Anteilserwerber Adressat dieser Haftung.14) Grundlage der Erwerberhaftung ist die Vorschrift des § 16 Abs. 2 GmbHG, wobei zu beachten ist, dass es keine Bedeutung besitzt, ob der Erwerber Kenntnis von dem Umstand des Vorliegens einer wirtschaftlichen Neugründung hatte oder – was in den hier diskutierten Fällen häufiger der Fall sein wird – eine solche Kenntnis nicht vorlag.15) 25 Aus Erwerbersicht sollte im Anteilskaufvertrag Wert daraufgelegt werden, dass der Insolvenzverwalter Garantien dafür abgibt, dass die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Neugründung nicht vorliegen; für den Fall einer Garantieverletzung sind dann entsprechende Freistellungsverpflichtungen vorzusehen. Im Hinblick auf den Umstand, dass der vom Erwerber gezahlte Kaufpreis an die Insolvenzmasse fließt, bei dieser aber nur einen mehr oder minder überschaubaren Zeitraum verbleibt, da er zur Deckung der Masseverbindlichkeiten bzw. zur Verteilung an die Gläubiger verwendet wird, fragt sich, welchen wirtschaftlichen Wert eine solche Garantieregelung für den Erwerber hat. In seinem Interesse dürfte sich anbieten, hinsichtlich des von ihm zu zahlenden Kaufpreises eine Fälligkeitsregelung zu treffen, nach der zumindest ein Teil des Kaufpreises erst nach Verjährung der Ansprüche aus der Verlustdeckungshaftung fällig wird. Da allerdings überwiegend angenommen wird, dass sich diese Verjährung nach der Vorschrift des § 9 Abs. 2 GmbHG bestimmt16) und also eine zehnjährige Verjährungsfrist gilt, dürfte der Erwerber auf erhebliche Widerstände bei der Vereinbarung einer solchen Regelung treffen, da dadurch die Dauer eines Insolvenzverfahrens wesentlich verlängert würde. ___________ 12) Tavakoli, NJW 2012, 1855, 1856. 13) Zur Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Unterbilanz s. Götz, GmbHR 2013, 290, 291. Zu Möglichkeiten der „Heilung“ einer haftungsauslösenden wirtschaftlichen Neugründung s. Theusinger/ Andrä, ZIP 2014, 1916, 1922. 14) BGH, Urteil v. 6.3.2012 – II ZR 56/10, BGHZ 192, 341, 354 ff.; kritisch zu dieser Entscheidung Wahl/Schult, NZG 2010, 611, 612. 15) Scholz-Cziupka, GmbHG, § 3 Rz. 45. 16) Noack/Servatius/Haas-Servatius, GmbHG, § 3 Rz. 13d.
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Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft 2.3
§ 28
Geschäftsführerhaftung
Neben die Unterbilanzhaftung tritt die Handelndenhaftung aus § 11 Abs. 2 GmbHG. 26 Diese adressiert die Geschäftsführer oder diejenigen, die wie Geschäftsführer für die künftige GmbH tätig werden.17) Inhalt und Umfang der Handelndenhaftung ergeben sich aus dem Inhalt der von den Handelnden begründeten Rechtsbeziehung. Mit anderen Worten haften die Handelnden auf Erbringung der primären Leistungspflicht, die sich aus dem von ihnen für die Vorgesellschaft abgeschlossenen Rechtsbeziehungen ergibt, und auf sich ggf. ergebende Sekundäransprüche. Die Haftung endet, wenn die fragliche Verbindlichkeit bei Entstehung der GmbH durch deren Handelsregistereintragung auf die Gesellschaft übergeht. 3.
Handelsregisteranmeldung
Das grundlegende Anliegen der Rechtsprechung des BGH zur wirtschaftlichen Neugrün- 27 dung ist es, dass durch eine solche Gestaltung des (Wieder-)Eintritts eines Rechtsträgers ins Wirtschaftsleben die Gründungsvorschriften nicht umgangen werden dürfen18). Daher soll die wirtschaftliche Neugründung weitgehend eine Gleichbehandlung mit einer rechtlichen Neugründung erfahren. Dazu gehört im Grundsatz auch, dass eine Anmeldung zum Handelsregister erfolgt. Nach dem vorstehend Gesagten sind zwar die Haftungskonsequenzen des Unterbleibens einer solchen Anmeldung mittlerweile gemildert, gleichwohl ist die Vornahme der Anmeldung nach wie vor der unter Haftungsgesichtspunkten sicherste Weg. In Vorbereitung dieser Anmeldung haben die anmeldeverpflichteten Geschäftsführer 28 einen Vermögensstatus aufzustellen, um die aktuelle Vermögenssituation der Gesellschaft im Zeitpunkt der Anmeldung zu erfassen. Ergibt sich dabei, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Unterbilanzhaftung gegeben sind, dass also das Vermögen der Gesellschaft geringer ist als die Stammkapitalziffer, ist entweder ein Ausgleich durch eine entsprechende Vermögenszuführung oder ein bilanzieller Ausweis, der sich aus der Unterbilanzhaftung ergebenden Einlageforderung der Gesellschaft, vorzunehmen. Im Rahmen der Anmeldung der ohnehin – wegen der regelmäßig erfolgenden Umfirmierung – erforderlichen Satzungsänderung ist dann offenzulegen, dass es sich um einen Fall einer wirtschaftlichen Neugründung handelt. Zugleich ist von den Geschäftsführern die Versicherung nach § 8 Abs. 2 GmbHG abzugeben. Erfolgt ausnahmsweise keine Satzungsänderung, z. B. wenn als Auffanggesellschaft eine Tochterunternehmung des insolventen Rechtsträgers verwandt wird, deren Firmierung ohnehin attraktiv erscheint, und daher also keine Handelsregisteranmeldung erforderlich ist, hat eine isolierte Mitteilung der wirtschaftlichen Neugründung und eine darauf bezogene Versicherung nach § 8 Abs. 2 GmbHG zu erfolgen.19) IV.
Kapitalaufbringung in der Auffanggesellschaft20)
1.
Sachgründung
Da die Auffanggesellschaft das Unternehmen des insolventen Rechtsträgers fortführt, 29 kommt es grundsätzlich in Betracht, dass eine Sachgründung unter Einbringung jenes Unternehmens vorgenommen wird: Der damit verbundene Nachteil liegt darin, dass eine Bewertung der einzubringenden Vermögensgegenstände vorzunehmen ist. ___________ x
17) Noack/Servatius/Haas-Servatius, GmbHG, § 11 Rz. 47. 18) Zur zulässigen Höhe des von der Gesellschaft bei einer wirtschaftlichen Neugründung zu tragenden Gründungsaufwands s. Berge, GmbHR 2020, 82, 87. 19) S. zum Ganzen Altmeppen, GmbHG, § 3 Rz. 65; Hacker/Petsch, ZIP 2015, 761, sprechen sich für eine Insolvenzausnahme bei der wirtschaftlichen Neugründung aus. 20) S. allgemein zur Kapitalaufbringung Hülsmann, GmbHR 2019, 377.
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§ 28
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Der Vorteil besteht hingegen darin, dass sich die – siehe nachfolgend Rz. 35 f. anzusprechenden – Fragen einer verdeckten Sachgründung nicht stellen. Wird der Weg einer Sachgründung beschritten, so ist zunächst zu klären, was konkret der Einlagegegenstand ist. Besteht dieser also x in den einzelnen Vermögensgegenständen, die vom insolventen Rechtsträger auf die Auffanggesellschaft übertragen werden, oder x in dem Unternehmen als solchem. Im erstgenannten Fall ist eine Einzelbewertung der einzelnen einzubringenden Gegenstände des Anlage- und/oder Umlaufvermögens vorzunehmen. Das Risiko, das dabei das Thema einer Differenzhaftung nach § 9 GmbHG oder für die AG aus der übernommenen Kapitaldeckungszusage21) relevant wird, ist überschaubar. Eine solche droht, wenn eine Sacheinlage überbewertet wird, d. h. der Wert des Sacheinlagegegenstandes nicht mindestens den Nennbetrag des dafür übernommenen Geschäftsanteils erreicht.22) Zwar ist auch eine Überbewertung einzelner Vermögensgegenstände, also des einzubringenden Grundstücks, der einzubringenden Maschine, der einzulegenden Forderung23) usw. möglich, jedoch erscheinen die Bewertungsschwierigkeiten dabei deutlich geringer, als die mit der Bewertung eines Unternehmens insgesamt verbundenen Unsicherheiten. Wird ein Unternehmen als solches im Zuge einer Sachgründung eingebracht, so ist der Wert dieses Einlagegegenstandes nach dem Ertragswert zu bemessen.24) Untergrenze ist dabei der Liquidationswert, also der Substanzwert, der sich bei einer Einzelveräußerung der zum Unternehmen gehörigen Vermögensgegenstände ergibt. Denkbar ist, dass sich insgesamt ein Unternehmenswert i. H. von Null ergibt. Dies dann, wenn das Unternehmen dauerhaft nicht in der Lage ist, Überschüsse zu erwirtschaften und es sich um ein betriebsmittelarmes Unternehmen handelt bzw. der (Substanz-)Wert des Anlage- und Umlaufvermögens wegen dessen Zustands gegen null geht. In einem solchen Fall ist das Haftungsrisiko aus der Differenzhaftung – nahezu – betragsgleich mit der Stammkapitalziffer. Inwieweit sich dieses Risiko dadurch eingrenzen lässt, dass der – angenommene – Wert des einzubringenden Unternehmens aufgeteilt wird in einerseits eine Kapitaleinlage und andererseits in eine Einzahlung in eine Rücklage, ist von der Gestaltung dieses Vorgangs abhängig. Im Grundsatz gilt insoweit nach der Entscheidung des BGH vom 6.12.2011,25) dass der gesetzliche Differenzhaftungsanspruch auch den Betrag des Aufgeldes, also den in die Kapitalrücklage einzustellenden Teil des Gesamtunternehmenswertes, deckt. Allerdings bezieht sich die Differenzhaftung dabei nur auf das sog. statuarische Aufgeld, nicht jedoch auf das rein schuldrechtlich vereinbarte.26) Wirtschaftlich hilft diese Unterscheidung allerdings dem Inferenten nicht weiter, da dieser auch zur Zahlung des schuldrechtlich vereinbarten Aufgeldes eben aus der schuldrechtlichen Abrede verpflichtet ist.27) x
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2.
Verdeckte Sacheinlage
35 Häufiger als Probleme i. R. einer Sachgründung können Fragen einer verdeckten Sacheinlage auftreten. Dies sowohl dann, wenn nach einer Bargründung das vom insolventen Rechts___________ Koch, AktG, § 27 Rz. 21. Porzelt, GmbHR 2018, 1251, 1252. Zur verwandten Thematik des Debt Equity Swaps im Insolvenzverfahren vgl. z. B. Blöse, GmbHR 2012, 471. Noack/Servatius/Haas-Servatius, GmbHG, § 5 Rz. 34; Lutter/Hommelhoff-Bayer, GmbHG, § 5 Rz. 25. BGH, Urt. v. 6.12.2011 – II ZR 149/10 (Babcock/Borsig), BGHZ 191, 364 = ZIP 2012, 73. S. zur Unterscheidung BGH, Urt. v. 15.10.2007 – II ZR 216/06, ZIP 2007, 2416 = DB 2007, 2826; Krause, BB 2008, 77. 27) BGH, Urt. v. 15.10.2007 – II ZR 216/06, ZIP 2007, 2416 = DB 2007, 2826. 21) 22) 23) 24) 25) 26)
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Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft
§ 28
träger geführte Unternehmen bzw. die diesem zuzuordnenden Vermögensgegenstände unmittelbar entgeltlich auf die Auffanggesellschaft übertragen werden als auch dann, wenn zwar die Übertragung als solche unentgeltlich erfolgt, daneben aber schuldrechtliche Beziehungen zwischen Insolvenzmasse und Auffanggesellschaft begründet werden, bei denen das Äquivalenzverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung fraglich ist. Beispiel: Als Beispiel kann hier der Fall dienen, dass der Auffanggesellschaft sämtliche Aktiva des insolventen Rechtsträgers mit Ausnahme des Betriebsgrundstückes übertragen werden und dieses pachtweise überlassen wird, wobei die Bemessung des Pachtzinses zu Lasten der Auffanggesellschaft unüblich, d. h. im Drittvergleich zu hoch, erfolgt. In einem solchen Fall liegt eine verdeckte Sacheinlage vor, da bei wirtschaftlicher Betrachtung der den Marktpreis übersteigende Teil des Pachtzinses Kaufpreis für die der Auffanggesellschaft übertragenen Vermögensgegenstände ist. Je nach Gestaltung kann dann statt einer verdeckten Sacheinlage auch ein Fall des Hin- und Herzahlens i. S. von § 19 Abs. 5 GmbHG, § 27 Abs. 4 AktG vorliegen. Da die Übertragung des Unternehmens auf die Auffanggesellschaft und die Gestaltung der 36 schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Auffanggesellschaft und Insolvenzmasse typischerweise im Zusammenhang vorgenommen werden, muss in Fällen wie diesen – jedenfalls wenn Kenntnis davon besteht, dass der vereinbarte Pachtzins unüblich hoch ist – von einer bewussten verdeckten Sacheinlage ausgegangen werden. Dies hat für die anmeldeverpflichteten Geschäftsführer/Vorstände relevante nachteilige Konsequenzen. Da die Erfüllung der Einlageverpflichtung bei Fällen der verdeckten Sacheinlage nach § 19 Abs. 4 Satz 3 und 4 GmbHG bzw. § 27 Abs. 3 Satz 3 und 4 AktG im Wege der Anrechnung erfolgt und diese frühestens mit Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister geschieht, ist die von den Geschäftsführern/Vorständen abzugebende Versicherung nach § 8 Abs. 2 GmbHG bzw. § 37 Abs. 1 AktG notwendigerweise falsch. Daraus erwächst die strafrechtliche Konsequenz der § 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG und § 399 Abs. 1 Nr. 1 AktG.28) Da beide Vorschriften zugleich Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB sind, ergibt sich zugleich gegenüber gegenwärtigen und künftigen Gläubigern der Gesellschaft sowie künftigen Gesellschaftern eine Schadenersatzverpflichtung.29) Dieselbe zivilrechtliche Haftungsproblematik und dasselbe Problem einer strafrechtlichen 37 Verantwortung kann drohen, wenn eigentlich die Einbringung eines Unternehmens als Ganzes gewollt ist, stattdessen aber, z. B. um Bewertungsschwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, nur die Einlage unzweifelhaft werthaltiger Einzelvermögensgegenstände angegeben wird, obwohl tatsächlich doch die Unternehmensgesamtheit übertragen wird. Da zumindest teilweise vertreten wird, dass bei einer Sacheinlage die Einlagegegenstände exakt zu bezeichnen sind, kann eine solche unzutreffende und/oder unvollständige Angabe als Fall der verdeckten Sacheinlage betrachtet werden.30) 3.
Debt Equity Swap31)
Eine Maßnahme der – nominellen – Kapitalaufbringung kann auch der Debt Equity Swap 38 sein.32) Das ESUG hat dieses in der Gestaltungspraxis bereits häufig genutzte Instrument ___________ 28) 29) 30) 31)
S. dazu für die GmbH: Noack/Servatius/Haas-Beuerskens, GmbHG, § 82 Rz. 16. Lutter/Hommelhoff-Kleindiek, GmbHG, § 82 Rz. 31. Heckschen, GmbHR 2018, 1093, 1098. Zum Debt Equity Swap i. R. eines Restrukturierungsverfahrens nach dem StaRUG s. Fuhrmann/Heinen/ Schilz, NZG 2021, 684, und Herweg/Wirth, DB 2021, 886. 32) Zur Bedeutung des Debt Equity Swaps als Sanierungsmaßnahme vgl. die Darstellung und die Beispiele bei Seibt/Voigt, AG 2009, 133; Wentzler, FB 2009, 446 und Carli/Rieder/Mückl, ZIP 2010, 1737.
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§ 28
Teil V Einzelfragen
mit einer ausdrücklichen Regelung in der InsO versehen. Seinem Wesen nach handelt es sich bei einem solchen Vorgang um eine Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage, bei der Forderungen gegen die Gesellschaft in diese eingebracht werden.33) 39 Für den Inferenten können sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich Haftungsrisiken unter dem Gesichtspunkt der Differenzhaftung (§ 56 Abs. 2 i. V. m. § 9 GmbHG) ergeben. Hinsichtlich dieser Differenzhaftung ergibt sich jedoch aus § 254 Abs. 4 InsO eine wesentliche Haftungserleichterung. Nach dieser Vorschrift können Ansprüche wegen einer Überbewertung der eingebrachten Forderungen nach der gerichtlichen Bestätigung des Insolvenzplans gegen die bisherigen Gläubiger nicht mehr geltend gemacht werden. Die gesetzgeberische Motivation für diese Haftungsprivilegierung ergibt sich aus dem nach Auffassung des Gesetzgebers schützenswerten Interesse an Planungssicherheit derjenigen Gläubiger, die i. R. eines Planverfahrens ihre Forderungen gegen Anteilsrechte tauschen. Dem stehe auch nicht das Schutzinteresse der übrigen Gläubiger entgegen, da dieses durch das Planverfahren gewährleistet sei. In diesem Verfahren hätten die Beteiligten die Möglichkeit, auf eine fehlerhafte Bewertung der Sacheinlage hinzuweisen und Rechtsmittel gegen den Plan und damit die Bewertung der Sacheinlage einzulegen. Ein weitergehender Schutz sei nicht erforderlich.34) 40 Diese Haftungsfreistellung kann allerdings zu nicht gewollten Ergebnissen führen, wenn das Instrument des Debt Equity Swaps genutzt wird, um den insolventen Rechtsträger zu entschulden und die wieder werthaltig gewordenen Beteiligungen an ihm, den Altgesellschaftern bzw. ihnen nahestehenden Personen zu erhalten. Beispiel: Die A-GmbH befindet sich in fortgeschrittenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Verbindlichkeiten wurden in nennenswertem Umfang nicht erfüllt. Die Gesellschaft ist Inhaber von Patenten, hinsichtlich derer die berechtigte Hoffnung besteht, dass auf ihnen basierende Produkte mittelfristig zur Marktreife gebracht werden können. Dies kann jedoch nicht gelingen, bevor wegen der nahenden Zahlungsunfähigkeit ein Eröffnungsantrag gestellt werden muss. Im Auftrag des Alleingesellschafters A wendet sich B an die fünf größten Gläubiger des Unternehmens und bietet diesen an, deren Forderungen für 35 % des Nominalwertes zu erwerben. Nach Erwerb der Forderungen wird ein Eröffnungsantrag gestellt und i. R. eines Debt Equity Swaps wird B Mehrheitsgesellschafter. In Umsetzung einer mit A getroffenen Absprache überträgt B diesem einige Zeit später die von ihm erworbenen Anteile an der A-GmbH. Auf diese Weise kann sich A seine Aussichten auf Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft bei Marktreife der in Entwicklung befindlichen Produkte sichern, ohne dem Unternehmen das Eigenkapital zur Verfügung zu stellen, um die Altschulden zu bedienen. 41 Noch attraktiver wäre die Gestaltung, wenn die Möglichkeit bestünde, Gesellschafterdarlehen abzutreten und diese sodann in Eigenkapital umzuwandeln und dabei neue Anteile an der Gesellschaft zu generieren. Dies wird aber im Ergebnis nicht gelingen, da ein Gesellschafterdarlehen, das nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nachrangig ist, nach der Rechtsprechung des BGH auch nach Abtretung seinen Nachrang nicht verliert.35) 42 Damit in Zusammenhang steht die beim Debt Equity Swap häufig entscheidende Frage: Wie ist die im Wege der Sacheinlage einzubringende Forderung zu bewerten? Denn die ___________ 33) Zu den zivilrechtlichen Rahmenbedingungen s. Redeker, BB 2007, 673 – 676; Scheunemann/Hoffmann, DB 2009, 983 – 985. 34) RegE ESUG v. 4.5.2011, BT-Drucks. 17/5712, S. 36. 35) BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = ZIP 2013, 582. S. dazu auch die Gestaltungsüberlegungen von Werner, StBW 2014, 154.
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Betriebsfortführung mit Hilfe einer Auffanggesellschaft
§ 28
Forderung ist nur insoweit (voll)tauglicher Gegenstand der Sacheinlage, wie sie vollwertig ist.36) Wie allerdings die Vollwertigkeit zu bestimmen ist, wird höchst unterschiedlich beurteilt. 43 Es lassen sich insoweit vier Ansichten unterscheiden: x
Bilanzielle Betrachtungsweise,37)
x
liquiditätsbezogene Betrachtungsweise,
x
nennwertbezogene Betrachtungsweise,
x
marktwertbezogene Betrachtungsweise.
3.1
Bilanzielle Betrachtungsweise
Die bilanzielle Betrachtungsweise geht davon aus, dass eine Forderung dann als werthaltig 44 zu betrachten ist, wenn das Vermögen der Gesellschaft deren Fremdkapital übersteigt. Erreicht der positive Unterschiedsbetrag zwischen Vermögen und Fremdkapital mindestens den Nennbetrag der einzubringenden Forderung, so ist diese vollwertig. Ist der positive Unterschiedsbetrag zwischen Vermögen und Fremdkapital geringer als der Nennwert der Forderung, so ist diese nur in entsprechend reduzierter Höhe bei der Ermittlung der realen Stammkapitalaufbringung zu berücksichtigen38) und i. H. eines Minderbetrages greift die Differenzhaftung. 3.2
Liquiditätsbezogene Betrachtungsweise
Die liquiditätsbezogene Betrachtungsweise stellt darauf ab, ob die Gesellschaft ohne die 45 geplante Kapitalerhöhung in der Lage ist, die einzubringende Forderung im Fälligkeitszeitpunkt neben ihren übrigen Verbindlichkeiten zu bedienen.39) Wegen des dieser Betrachtungsweise immanenten prognostischen Elements, ist die Rückzahlungsfähigkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt auf der Basis von Planungsrechnungen zu beurteilen. 3.3
Nennwertbezogene Betrachtungsweise
Nach dieser Betrachtungsweise ist bei der Einlage einer Forderung gegen die Gesellschaft 46 immer deren Nennwert maßgeblich.40) Begründet wird diese Auffassung damit, dass die Gesellschaft i. H. des Nennwertes der eingebrachten Forderung von einer Verbindlichkeit befreit wird und exakt in diesem Umfang einen Gegenwert für die neu geschaffenen Geschäftsanteile erhält, weil entsprechend mehr Vermögen zur Befriedigung der übrigen Gläubiger verfügbar ist. 3.4
Markwertbezogene Betrachtungsweise
Eine solche Beurteilung wird soweit ersichtlich nicht explizit vertreten, ist aber im Ergebnis 47 die Konsequenz daraus, dass teilweise angenommen wird, der Kaufpreis für eine Forderung habe Indizwirkung für deren Bewertung.41) ___________ 36) S. z. B. BGH, Urt. v. 15.1.1990 – II ZR 164/88, NJW 1990, 982, 985 = ZIP 1990, 156; Priester, DB 2010, 1445, 1445; Ekkenga, ZGR 2009, 581, 599. 37) Zur davon zu unterscheidenden Frage der bilanziellen Behandlung der einzulegenden Forderung s. Schulze/Osterloh, NZG 2017, 641, 642 ff. 38) S. dazu z. B. Ekkenga, ZGR 2009, 581, 600; Priester, DB 2010, 1445, 1448. 39) Koch, AktG, § 27 Rz. 18; Toth-Feher/Schick, ZIP 2004, 491, 496. 40) Karollus, ZIP 1994, 589, 595; Hannemann, DB 1995, 2055, 2056; Cahn/Simon/Theiselmann, Corporate Finance Law 2010, 238, 249 f. 41) S. z. B. Redeker, BB 2007, 673, 675.
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48 Bereits dieser lediglich kursorische Überblick über die unterschiedlichen Methoden zur Bestimmung der Werthaltigkeit einer Forderung zeigt, dass mit der Forderungsbewertung eine gewisse Unsicherheit einhergeht. Diese Problemlage hat auch der ESUG-Gesetzgeber gesehen und dazu wie folgt Stellung genommen: „Zur Frage der Werthaltigkeit des Anspruchs sind gegebenenfalls Gutachten einzuholen. Die Werthaltigkeit der Forderung wird aufgrund der Insolvenz des Schuldners regelmäßig reduziert sein und der Wert wird nicht dem buchmäßigen Nennwert entsprechen, sondern deutlich darunter liegen. Hierbei kann auch die Quotenerwartung berücksichtigt werden. Der Insolvenzplan hat eine entsprechende Wertberichtigung vorzusehen.“42)
49 Der Gesetzgeber geht damit sicher nicht von einer nennwertbezogenen Betrachtungsweise aus.43) Wenn auf die Quotenerwartung abgestellt wird, so scheint er vielmehr einer liquiditätsbezogene Betrachtungsweise zuzuneigen.44) V.
Rechtsbeziehungen zwischen Insolvenzmasse und Auffanggesellschaft
50 Wird eine Auffanggesellschaft gegründet, um in ihrem Rechtskleid über einen gewissen Zeitraum das Unternehmen des insolventen Rechtsträgers fortzuführen, erlangt die Insolvenzmasse Gesellschafterstellung in der Auffanggesellschaft. Regelmäßig wird sie dabei mittelbarer Gesellschafter sein, da die Anteile an der Auffanggesellschaft häufig vom Insolvenzverwalter treuhänderisch für die Insolvenzmasse gehalten werden. Soweit in diesem Rahmen Gesellschafterleistungen von der Masse an die Auffanggesellschaft erbracht werden, fragt sich, wie diese im Fall einer Insolvenz der Auffanggesellschaft zu behandeln sind. 51 Sind diese also als nachrangige Insolvenzforderungen i. S. des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu betrachten bzw. unterliegen sie der Anfechtung nach § 135 Abs. 1 InsO? Eine Anfechtungsfreiheit und eine Behandlung als Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO ergäbe sich dann, wenn das Sanierungsprivileg des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO anwendbar wäre. Um die Frage nach der Anwendbarkeit des Privilegs beantworten zu können, ist es zunächst notwendig, dessen Hintergründe und Zielrichtungen zu betrachten. Entwicklung des Sanierungsprivilegs45)
1.
52 Das Sanierungsprivileg ist ursprünglich durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) in das GmbHG eingefügt worden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 28.1.199846) enthielt diese Ergänzung von § 32a Abs. 3 GmbHG a. F. noch nicht. Erst der Rechtsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung und seinem Bericht vom 4.3.199847) die Ergänzung angeregt. Tragende Erwägung war dabei:48) „Mit dem neu eingeführten Sanierungsprivileg wird es einem Darlehensgeber ermöglicht, in der Krise der Gesellschaft Geschäftsanteile und unternehmerische Kontrolle zu übernehmen, ohne Gefahr zu laufen, dass seine stehen gelassenen Alt-Kredite allein deshalb in eigenkapitalersetzende Darlehen umqualifiziert werden. Dies gilt unabhängig davon, ob er neue Geschäftsanteile aus einer Kapitalerhöhung zeichnet oder bestehende Anteil von den Alteigentümern übernimmt. Auch letzteres, zumeist verbunden mit dem Austausch des Managements kann wichtiger Beitrag zu einer Sanierung sein. Die Regelung macht klar, dass die Umqualifizierung
___________ 42) RegE ESUG v. 4.5.2011, BT-Drucks. 17/5712, S. 31 f. 43) So auch K. Schmidt, BB 2011, 1603, 1609; Cahn/Simon/Theiselmann, DB 2012, 501, 504, meinen hingegen, dass sich eine Präferenz des ESUG-Gesetzgebers für eine bestimmte Betrachtungsweise nicht erkennen lasse. 44) Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 642, gehen davon aus, dass der Gesetzgeber auf eine Bewertung nach Zerschlagungswerten abzielt. 45) Zur privilegierten Darlehensgewährung nach dem COVInsAG s. Bormann/Backes, GmbHR 2020, 513, und Bitter, GmbHR 2020, 861. 46) RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712. 47) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. KonTraG, BT-Drucks. 13/10038. 48) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. MoMiG, BT-Drucks. 16/9737, S. 28.
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allein durch den Erwerb von Geschäftsanteilen in der Krise ausgeschlossen sein soll. Waren die Alt-Darlehen bereits umqualifiziert, weil der Darlehensgeber schon zuvor Anteile über 10 v. H. besaß, so kann das Sanierungsprivileg sie nicht rückwirkend befreien. Das Privileg gilt auch für Neudarlehen, die von dem Sanierungsgesellschafter in der Krise zum Zweck ihrer Überwindung gegeben werden. Auch bei solchen Krediten soll der Sanierungsgesellschafter nicht schlechter gestellt werden, als er stünde, wenn er die Geschäftsanteile in der Krise nicht erworben hätte, zumal solche Kredite in der Regel kaum besichert werden können und ein hohes Risiko gehen.“
Der Gesetzgeber des MoMiG hat sich den grundlegenden Erwägungen des KonTraG- 53 Gesetzgebers angeschlossen und das Sanierungsprivileg ohne wesentliche sachliche Änderung in die InsO übernommen;49) eine Modifikation wurde lediglich hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals vorgenommen. In der Begründung des RegE zum MoMiG heißt es: „Das Sanierungsprivileg gilt auch zukünftig für Personen, die vor dem Anteilserwerb aus dem Anwendungsbereich des § 39 Abs. 1 Nr. 5 herausfielen, also weder Gesellschafter noch gleichgestellte Personen waren oder vor dem Hinzuerwerb weiterer Anteile dem Kleinbeteiligtenprivileg nach § 39 Abs. 5 unterfielen. Infolge der durchgängigen Aufgabe des Merkmals der „Krise“ greift das Sanierungsprivileg künftig ab dem Zeitpunkt der drohenden oder eingetretenen Zahlungsunfähigkeit bzw. der Überschuldung der Gesellschaft und bleibt bis zur „nachhaltigen Sanierung“ bestehen.“50)
2.
Voraussetzungen des Sanierungsprivilegs
Tatbestandliche Voraussetzungen der Privilegierung sind demnach:
54
x
Anteilserwerb,
x
durch einen Darlehensgeber,
x
bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung der Gesellschaft,
x
zum Zweck der Sanierung.
Fraglich ist, ob dieser Voraussetzungen bei der Gründung einer Auffanggesellschaft und der 55 Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen dieser und der Insolvenzmasse vorliegen. 2.1
Zeitpunkt des Anteilserwerbs
Problematisch ist bereits, zu welchem Zeitpunkt der Anteilserwerb stattgefunden haben 56 muss, damit die Privilegierung eingreift. Aus der vorstehend wiedergegebenen Begründung des RegE zum MoMiG könnte geschlossen werden, dass im Erwerbszeitpunkt bereits die Voraussetzungen des fakultativen Eröffnungsgrundes der drohenden Zahlungsunfähigkeit bzw. der zwingenden Eröffnungsgründe der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung vorliegen müssen. Auch unter Geltung der alten Vorschrift des § 32a Abs. 3 GmbHG a. F. stellte sich eine ähnlich gelagerte Frage. Aus der bis zum Inkrafttreten des MoMiG bestehenden Tatbestandsvoraussetzung des Anteilserwerbs in der Krise hat die h. M. entnommen, dass nur der Neugesellschafter, der sich in der Krise der Gesellschaft an dieser beteiligt, Sanierungsgesellschafter i. S. des Gesetzes sein kann.51) Die gegenteilige Auffassung, nimmt an, dass auch Altgesellschafter, also solche, die an 57 der Gesellschaft bereits vor Kriseneintritt beteiligt waren, die Privilegierung erlangen können.52) Innerhalb dieser Auffassung wird unterschiedlich beurteilt, ob der Erwerb zusätzlicher Anteile notwendig ist oder ob außer der Sanierungskreditwürdigkeit der Gesellschaft und der objektiven Eignung des Gesellschafterkredits zu dieser Sanierung die übrigen ___________ 49) 50) 51) 52)
Roth/Altmeppen-Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl., 2009, Anh. §§ 32a, b Rz. 31. Begr. RegE MoMiG, v. 25.7.2007, BT-Drucks. 16/6140, S. 57. Scholz-Bitter, GmbHG, Anh. § 64 Rz. 119; Löwisch, Eigenkapitalersatzrecht, Rz. 428 f., jeweils m. w. N. Altmeppen-Altmeppen, GmbHG, Anh. § 30 Rz. 100; Pentz, GmbHR 1999, 437, 449.
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Teil V Einzelfragen
Tatbestandsmerkmale des § 32 Abs. 3 Satz 3 GmbHG a. F. „in rechtsfortbildender Korrektur des Wortlauts beiseite zu lassen sind“53). 58 Der, der h. M. widersprechenden Auffassung steht der erklärte Wille des Gesetzgebers entgegen. Aus der Gesetzesbegründung wird deutlich, dass dieser davon ausgegangen ist, dass der Darlehensgeber erst nach Eintritt der Krise der Gesellschaft in dieser Gesellschafterstellung erworben hat. Auch die Rechtsprechung geht davon ganz selbstverständlich aus.54) 59 Ausgehend von diesem Meinungsbild zur alten Rechtslage wird man für die jetzige gesetzliche Fassung des Sanierungsprivilegs zum Ergebnis kommen müssen, dass ein Anteilserwerb vor Eintritt der Voraussetzungen eines Eröffnungsgrundes nicht der Privilegierung unterfällt. Mit diesem Ergebnis wäre dann eine Anwendung des Privilegs auf Auffanggesellschaften regelmäßig ausgeschlossen, da diese im Zeitpunkt ihrer Gründung typischerweise nicht insolvenzreif sind. 60 Fraglich ist aber, ob § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO einer teleologischen Extension zugänglich ist. Ansatzpunkt dafür könnten die Besonderheiten der Situation sein, in der Auffanggesellschaften gegründet werden. Der BGH trägt in seiner Rechtsprechung den Besonderheiten und Notwendigkeiten einer Insolvenzsituation verschiedentlich Rechnung. Ein solcher Gesichtspunkt kommt z. B. i. R. der einschränkenden Auslegung der Haftungsnorm des § 25 Abs. 1 HGB zum Tragen. Der BGH hat dazu in seiner Entscheidung vom 11.4.198855) ausgeführt: „Letztlich ausschlaggebend ist vielmehr, wie auch das Berufungsgericht nicht zu verkennen scheint, dass die Anwendung von § 25 Abs. 1 HGB und § 419 BGB auf Veräußerungsgeschäfte des Konkursverwalters im Widerspruch zu den bestimmenden Grundsätzen des Konkursverfahrens und der dem Konkursverwalter darin zugewiesenen Funktion stünde. Aufgabe des Konkursverwalters ist es, die Vermögensgegenstände des Gemeinschuldners zu verwerten und dabei im Interesse der Gläubiger den höchst möglichen Erlös zwecks anschließender Verteilung zu erzielen. Mit dieser Aufgabe wäre es unvereinbar, wenn der Erwerber eines zur Masse gehörenden Unternehmens nach § 25 Abs. 1 HGB oder § 419 BGB haften müsste. Eine Veräußerung des Unternehmens mit sämtlichen Schulden, die zum Zusammenbruch des bisherigen Trägers geführt haben, wäre nur in den seltensten Fällen erreichbar. Der Konkursverwalter wäre deshalb in aller Regel darauf beschränkt, eine Verwertung des Schuldnervermögens durch Zerschlagung durchzuführen. Dies würde Sinn und Zweck des § 25 Abs. 1 HGB und vor allem des § 419 BGB, der den Gläubiger begünstigen soll, widersprechen […]“
61 Maßgebliche Erwägung dieser Rechtsprechung ist es also, zu verhindern, dass durch die Anwendung der Haftungsnorm die Erreichung der Ziele des Insolvenzverfahrens erschwert oder unmöglich gemacht wird. Dieser Grundgedanke kann grundsätzlich auch dann zum Tragen kommen, wenn es darum geht, durch eine extensive Auslegung einer Privilegierungsvorschrift den Anwendungsbereich des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu limitieren. Voraussetzung für ein solches Vorgehen ist dabei, dass die unlimitierte Anwendung mit den Zielen des Insolvenzverfahrens kollidiert. 62 Dessen Ziele finden sich in § 1 InsO. Die Vorschrift nennt einerseits die – im vorliegenden Zusammenhang nicht interessierende – Möglichkeit für den Schuldner, sich zu entschulden und andererseits die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger. Die Begründung des RegE zur InsO56) führt dazu aus: „Ziel des Verfahrens muss die bestmögliche Verwertung des Schuldnervermögens und die optimale Abwicklung oder Umgestaltung der Finanzstruktur des Schuldners im Interesse
___________ 53) Roth/Altmeppen-Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl., 2005, § 32a Rz. 66. 54) S. z. B. OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.12.2003 – I-17 U 77/03, ZIP 2004, 508 = GmbHR 2004, 564; BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, ZIP 2006, 279 = GmbHR 2006, 311. 55) BGH, Urt. v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, BGHZ 104, 151, 154 f. = ZIP 1988, 727. 56) Allg. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 79.
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seiner Geldgeber sein. Die einzelwirtschaftliche Rentabilitätsrechnung der Beteiligten folgt im gerichtlichen Verfahren denselben Rationalitätsgesichtspunkten wie bei einer außergerichtlichen Investitions- oder Desinvestitionsentscheidung. Ein marktkonformes Verfahren ist deshalb an den Vermögensinteressen der Geldgeber des Schuldners auszurichten; es ist vermögens- nicht organisationsorientiert.“
In der Begründung zu § 1 InsO – der soweit hier interessierend, in den dem Regierungs- 63 entwurf zugrundeliegenden Grunderwägungen Gesetz geworden ist57) – heißt es dann58): „Dennoch liegt dem neuen Verfahren ein einheitliches Hauptziel zugrunde: Die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger. Dieses Ziel ist in erster Linie maßgeblich für die Entscheidungen, die innerhalb des Verfahrens zu treffen sind. Das Insolvenzrecht dient der Verwirklichung der Vermögenshaftung in Fällen, in denen der Schuldner zur vollen Befriedigung aller Gläubiger nicht mehr in der Lage ist. […] Das Ziel der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger wird zu Beginn des Gesetzes in § 1 Abs. 1 hervorgehoben, da es das gesamte Insolvenzverfahren prägt.“
Im vorliegenden Zusammenhang ist ausgehend von der dargestellten Intention des Ge- 64 setzgebers zu fragen, ob die Ziele des Insolvenzverfahrens es ebenso wie im Fall des § 25 HGB rechtfertigen, eine Einschränkung des Anwendungsbereiches des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO durch eine extensive Auslegung des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO vorzunehmen. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass der Gesetzgeber der InsO die 65 übertragende Sanierung, also auch die Übertragung des Geschäftsbetriebs des Schuldnerunternehmens auf eine Auffanggesellschaft als Instrument zur Abwicklung eines Insolvenzverfahrens anerkannt hat. Im Regierungsentwurf zur InsO heißt es insoweit59): „Die übertragende Sanierung nach Betrieben und Unternehmen hat sich bereits nach dem geltenden Recht als Sanierungsinstrument außerordentlich bewährt. Sie soll den Verfahrensbeteiligten auch künftig zur Verfügung stehen. Unter übertragender Sanierung versteht der Entwurf die Übertragung eines Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils von dem insolventen Träger auf einen anderen, bereits bestehenden oder neu zu gründenden Rechtsträger. […] Die übertragende Sanierung soll dem Beteiligten vielmehr neben der Sanierung des Unternehmensträgers als gleichrangiges Sanierungsinstrument angeboten werden.“
Stellt die Übertragung des Geschäftsbetriebs des Schuldners auf eine Auffanggesellschaft 66 die bestmögliche Verwertungsvariante des Schuldnerunternehmens unter dem Gesichtspunkt der optimalen Gläubigerbefriedigung dar, so verbindet sich damit die Erreichung eines zweiten anerkannten Ziels, nämlich des Erhalts eines Betriebs oder zumindest Betriebsteils als organisatorische Einheit und damit zugleich auch die Sicherung der in dieser organisatorischen Einheit vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten, sprich Arbeitsplätze. Die übertragende Sanierung stellt keine Sanierung des insolventen Rechtsträgers selbst dar, 67 sondern führt zum vollständigen oder teilweisen Erhalt der organisatorischen und unternehmerischen Einheit durch deren Übertragung auf einen neuen Rechtsträger. Daher wird durch den Akt der übertragenen Sanierung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise hinsichtlich der durch sie in ihrem Bestand erhaltenen unternehmerischen Einheit eine Sanierung erreicht. Diesem Vorgang ist es immanent, dass die unternehmenstragende Gesellschaft ausgetauscht wird. Gleichfalls immanent ist daher, dass eine Gesellschafterstellung erst im Zuge des Übertragungsaktes begründet wird. Mit anderen Worten und in der Terminologie des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO: Der Anteilserwerb findet in der manifesten Krise, also der Insolvenz des Schuldnerunternehmens und damit der übertragenden Rechtsträgers statt. ___________ 57) S. Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. InsO, BT-Drucks. 12/7302, S. 155. 58) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. InsO, BT-Drucks. 12/7302, S. 110. 59) Beschlussempfehlung und Bericht d. RA z. InsO, BT-Drucks. 12/7302, S. 96.
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Aus der Konstruktion der übertragenen Sanierung folgend, findet der Anteilserwerb zwingend nicht am übertragenden, sondern an dem Rechtsträger statt, auf den übertragen wird. 68 Wird die übertragende Sanierung als Sanierungsinstrument anerkannt, wie dies der Gesetzgeber der InsO getan hat und stellt die übertragende Sanierung zwar nicht die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des insolventen Rechtsträgers, wohl aber – ganz oder teilweise – den Erhalt des von diesem getragenen Unternehmens dar, so entspricht es der Grundwertung des Gesetzgebers des KonTraG – die der MoMiG-Gesetzgeber nicht in Zweifel gezogen hat – auch den Gesellschafter als Sanierungsgesellschafter i. S. des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO zu betrachten, der sich zu Sanierungszwecken nicht am insolventen Rechtsträger beteiligt, sondern an einem anderen Rechtsträger, der als Auffanggesellschaft gegründet wird. 69 Insgesamt ist also festzuhalten, dass der Anwendung des Sanierungsprivilegs auf Auffanggesellschaften nicht entgegensteht, dass der Erwerb von Anteilen an diesen vor deren Insolvenzreife stattfindet. 70 Zu fragen ist noch, ob die Anwendung des Sanierungsprivilegs in Fällen, wie dem vorliegend diskutierten, daran scheitert, dass nicht Anteile an einer bereits bestehenden Gesellschaft übernommen werden, sondern der Anteilserwerb im Zuge des Gründungsaktes stattfindet. Der Gesetzgeber des KonTraG war der Auffassung, dass die Privilegierung unabhängig davon ist, ob der Sanierungsgesellschafter neue Geschäftsanteile aus einer Kapitalerhöhung zeichnet oder bestehende Anteile von Alteigentümern übernimmt. Wenn aber ein Anteilserwerb aus einer Kapitalerhöhung, also der Erwerb neu geschaffener Anteile, für die Erlangung der Privilegierung ausreichend ist, so kann nichts anderes für Anteile gelten, die bei der Gründung der Auffanggesellschaft neu entstehen. Auf dieser Basis ergibt sich hinsichtlich der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung, dass der Anteilserwerb bei Gründung der Auffanggesellschaft wertungsmäßig einem Anteilserwerb von einem Altgesellschafter oder im Zuge einer Kapitalerhöhung gleichsteht, so dass dieses Tatbestandmerkmal erfüllt ist. 2.2
Zeitpunkt der Darlehensgewährung
71 Nicht ganz unstreitig ist es, ob die Darlehensgewährung bereits vor Begründung der Gesellschafterstellung erfolgen muss oder ob dies auch im Zuge des Eintritts des Sanierungsgesellschafters erfolgen kann. 72 Nach wohl überwiegender Meinung zu § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG a. F. ist es nicht erforderlich, dass zuerst die kapitalersetzende Rechtshandlung und danach der Anteilserwerb erfolgen.60) Begründet wird dies damit, dass es ausreichen müsse, dass der Anteilserwerb Sanierungszwecken dient, denn entscheidend sei nicht der zeitliche, sondern der innere Zusammenhang, der sich im Sanierungszweck des Anteilserwerbs ausdrücke.61) 73 Im Anschluss an die wohl überwiegende Meinung ist daher davon auszugehen, dass auch eine dem Anteilserwerb nachfolgende Darlehensgewährung privilegiert sein kann. Im Falle einer Auffanggesellschaft ist dies sogar zwingend, da der darlehensnehmende Rechtsträger, an dem der Sanierungsgesellschafter Anteile erwirbt, erst geschaffen werden muss, also eine vorhergehende Darlehenshingabe gar nicht möglich ist.
___________ 60) OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.12.2003 – I-17 U 77/03, ZIP 2004, 508 = GmbHR 2004, 564; Löwisch, Eigenkapitalersatzrecht, Rz. 437 m. w. N. 61) Scholz-Bitter, GmbH, Anh. § 64 Rz. 116.
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Insolvenzreife
Wie ausgeführt ist es in Fällen, wie dem hier diskutierten, vor dem Hintergrund sowohl 74 des Sinns und Zwecks des Sanierungsprivilegs als auch der Ziele des Insolvenzverfahrens gerechtfertigt, von einem strengen Bezug auf die Rechtsperson des Schuldners Abstand zu nehmen. Das bedeutet, dass zwar die Auffanggesellschaft, auf die zum Zweck der Sanierung das Unternehmen des Schuldners übertragen wird, nicht insolvenzreif ist, der Schuldner seinerseits sich jedoch in der manifesten Krise der Insolvenz befindet und also bei einer Gesamtschau des Schuldners und der dessen Unternehmen aufnehmenden Auffanggesellschaft von einem Anteilserwerb bei Insolvenzreife auszugehen ist. 2.4
Sanierungszweck
Da der Gesetzgeber der InsO davon ausgeht, dass eine übertragende Sanierung ein aner- 75 kanntes Sanierungsinstrument ist und unter diesem Gesichtspunkt eine Sanierung des Schuldners selbst gleichsteht, erfolgt der Erwerb der Anteile an der Auffanggesellschaft gerade zum Sanierungszweck. Dies deshalb, weil der Anteilserwerb Voraussetzung für die Durchführung der übertragenden Sanierung ist. 3.
Fazit
Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen 76 Wertungen in der InsO, dem KonTraG und dem MoMiG eine grundsätzliche Anwendung des Sanierungsprivilegs auch auf den Gesellschafter einer Auffanggesellschaft zulässig ist und die Tatbestandsvoraussetzungen des Sanierungsprivilegs in der Person des Gesellschafters einer Auffanggesellschaft regelmäßig vorliegen.
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§ 29 Die Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Betriebsfortführung Boddenberg
Übersicht I. Einleitung .................................................... 1 II. Aus- und Absonderungsrechte und deren Rechtsgrundlagen ............................ 5 1. Aussonderungsrechte................................... 6 1.1 Eigentum........................................ 12 1.2 Einfacher Eigentumsvorbehalt ..... 13 1.3 Factoring ........................................ 16 2. Absonderungsrechte .................................. 18 2.1 Sicherungsübereignung ................. 21 2.1.1 Sicherungseigentum ...................... 22 2.1.2 Sicherungsabtretung...................... 23 2.2 Verlängerter Eigentumsvorbehalt ........................................ 25 3. Pfandrechte an beweglichen Sachen und Rechten................................................ 32 3.1 Vermieterpfandrecht ..................... 33 3.2 Spediteur- und Frachtführerpfandrecht ...................................... 36 3.3 Werkunternehmerpfandrecht ....... 39 III. Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Antragsphase.................................. 41 1. Aussonderungsrechte................................. 42 1.1 Geltendmachung und Auskunftsrecht .............................. 44 1.2 Regelung des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO ............................................... 49 2. Absonderungsrechte .................................. 54
2.1
Geltendmachung und Auskunftsrecht .............................. 55 2.2 Regelung des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO ............................................... 59 IV. Stellung der Sonderrechtsgläubiger im eröffneten Verfahren .......................... 63 1. Aussonderungsrechte ................................ 64 1.1 Geltendmachung und Auskunftsrecht .............................. 65 1.2 Ersatzaussonderung ...................... 71 2. Absonderungsrecht.................................... 72 2.1 Geltendmachung und Auskunftsrecht .............................. 73 2.2 Verwertung unbeweglicher Gegenstände .................................. 76 2.3 Verwertung beweglicher Gegenstände .................................. 77 2.4 Verzögerung der Verwertung ....... 80 2.5 Schutz vor Wertverlust ................. 82 2.6 Ersatzabsonderung ........................ 84 V. Konkurrenz von Sonderrechten ............. 85 1. Kollisionslagen ........................................... 87 1.1 Verarbeitung von Ware ................. 88 1.2 Kollision verschiedener Absonderungsrechte ..................... 90 2. Verwertungsgemeinschaften ..................... 93
Literatur: Erger/Gräler, Die Verarbeitungsklausel, NJOZ 2012, 1865; Gundlach, Die Unterscheidbarkeit im Aussonderungsrecht, DZWIR 1998, 12.
I.
Einleitung
Im Fall der Fortführung der Betriebstätigkeit werden Sicherungsrechte an beweglichen 1 Gegenständen oder Forderungen in ihrem Bestand gefährdet. Unbezahlte Warenvorräte, halbfertige Waren, Fertigwaren und auch Forderungen werden regelmäßig i. R. der Betriebsfortführung eingesetzt und bestehende Aus- und Absonderungsrechte dadurch zerstört oder zumindest umgewandelt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Erfassung und ggf. spätere Geltendmachung von Sicherungsrechten in der Regel von der Mitwirkung des Verwalters abhängt (zum Auskunftsanspruch in den verschiedenen Verfahrensstadien siehe Rz. 44 ff. und 55 ff. sowie Rz. 65 ff.). Dieses potentielle Verlustrisiko führt in der Praxis zu Handlungsbedarf der betroffenen Sonderrechtsgläubiger. Zur Gewährleistung einer reibungslosen Betriebsfortführung sind eine schnelle Erfassung 2 dieser Rechte und eine offene Kommunikation gegenüber den Sonderrechtsgläubigern unerlässlich. Anderenfalls steht zu befürchten, dass durch Maßnahmen der Sonderrechtsgläubiger die betrieblichen Strukturen als Grundvoraussetzung der Fortführung stark beschädigt werden oder sogar verlorengehen. Boddenberg
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§ 29
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3 Ähnliches gilt für Forderungen gegen Kunden, die nicht selten zur Deckung der Anlauffinanzierung einer Betriebsfortführung revolvierend eingesetzt werden müssen. Diese sind in der Regel aufgrund von Vorausabtretungen im Wege verlängerter Eigentumsvorbehaltsrechte (siehe Rz. 25 ff.) der Lieferanten oder auf der Grundlage von Globalzessionsverträgen mit den finanzierenden Banken nicht frei verfügbar. Wird eine dahingehende Zession offengelegt, zahlen die Kunden infolge der so entstehenden Unsicherheit oft erst einmal gar nicht mehr, wodurch die für die Betriebsfortführung notwendige Liquidität ausbleibt. 4 Die Findung einer schnellen Regelung zum Umgang mit den bestehenden Aus- und Absonderungsrechten ist damit eine der Kernaufgaben zu Beginn einer jeden Betriebsfortführung. Ohne entsprechende Vorbereitung und Umsetzung ist die Sicherung der für eine Betriebsfortführung notwendigen Liquidität sowie die in der Regel erforderliche Weiterversorgung mit Waren nicht möglich und die Betriebsfortführung zum Scheitern verurteilt. Nachfolgend werden die zu diesem Themenbereich einschlägigen rechtlichen Grundlagen sowie die in den jeweiligen Verfahrensabschnitten typischen Problemlagen dargestellt. II.
Aus- und Absonderungsrechte und deren Rechtsgrundlagen
5 Sonderrechtsgläubiger sind solche, die i. R. des Verfahrens Aus- und/oder Absonderungsrechte geltend machen können. 1.
Aussonderungsrechte
6 Mit dem Aussonderungsrecht (§ 47 InsO) wird geltend gemacht, dass ein bestimmter Gegenstand haftungsrechtlich nicht dem Vermögen der Gemeinschuldnerin zuzuordnen ist.1) Zu Beginn eines jeden Verfahrens findet der Verwalter eine Vielzahl an Vermögenswerten vor, die er regelmäßig in Besitz nimmt, sog. „Ist-Masse“. Abzüglich der haftungsrechtlich nicht zum Vermögen der Schuldnerin gehörenden Vermögenswerte verbleibt die sog. „Soll-Masse“. Letztere umfasst die verbleibenden Gegenstände und bildet damit die Insolvenzmasse i. S. des § 35 InsO einschließlich der mit Absonderungsrechten belasteten Vermögenswerte.2) 7 Damit wird das erste in der Betriebsfortführung bestehende Spannungsverhältnis deutlich: Wer Aussonderungsrechte bezüglich in der Betriebsfortführung benötigten Gegenständen geltend macht, reduziert mittelbar nicht nur das den Gläubigern haftende Vermögen und damit die Quotenerwartung; er greift ggf. auch unmittelbar in die Handlungsfähigkeit des Unternehmens ein und bedroht so die Machbarkeit der Fortführung. 8 Mit dem Aussonderungsrecht wird typischerweise ein Herausgabeanspruch geltend gemacht. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht jeder Herausgabeanspruch ein Aussonderungsrecht begründet. Ein solches ist nach dem Wortlaut des § 47 InsO vielmehr nur gegeben, wenn der Gläubiger geltend macht, dass der betroffene Gegenstand nicht zum Vermögen des Schuldners gehört. Im Regelfall handelt es sich hierbei um dingliche Rechte; vereinzelt berechtigen aber auch schuldrechtliche Ansprüche zur Aussonderung (z. B. Ansprüche aus Treuhandverhältnissen, Insolvenzanfechtungsansprüche3)).4)) 9 Die Geltendmachung des Aussonderungsanspruchs erfolgt gegenüber dem (vorläufigen) Verwalter und dabei sollte der Gläubiger möglichst alle zum Nachweis seiner Eigentümerposition erforderlichen Nachweise einreichen. ___________ 1) 2) 3) 4)
Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 2; Imberger in:FK-InsO, § 47 Rz. 3. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 49 Rz. 13; Scholz in: HambKomm-InsO, § 47 Rz. 1. Ganter in: MünchKomm-InsO, § 47 Rz. 346. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 9 ff.; Imberger in: FK-InsO, § 47 Rz. 8 ff.
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Die Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Betriebsfortführung
§ 29
Grundlagen des Aussonderungsanspruchs können sein: x
Eigentum,
x
einfacher Eigentumsvorbehalt,
x
Grundschuldrückgewähranspruch,
x
uneigennützige Treuhand,
x
Heimfallanspruch gemäß § 2 Nr. 4 ErbbauVO.
10
Die in der Praxis häufigsten Aussonderungsfälle werden nachfolgend kurz umrissen: 1.1
11
Eigentum
Der wichtigste und gleichzeitig in der Praxis häufigste Fall des Aussonderungsrechts ist 12 das Eigentum. Es gewährt dem Gläubiger gegen den Besitzer einen Anspruch auf Herausgabe des Gegenstandes gemäß § 985 BGB.5) Für den Fall, dass der Schuldner ein Recht zum Besitz hat (z. B. Leihe, Miete oder Leasing etc.), beschränkt sich der Anspruch des Gläubigers allerdings zunächst nur auf die Feststellung seines Eigentums. Dies gilt jedenfalls bis zur Beendigung bestehender Vertragsverhältnisse. 1.2
Einfacher Eigentumsvorbehalt
Anwendungsfall des einfachen Eigentumsvorbehalts ist die Situation, dass beide Parteien 13 eines Kaufvertrages diesen noch nicht vollständig erfüllt haben. Seitens des Käufers steht die (vollständige) Bezahlung des Kaufpreises aus und der Verkäufer hat das Eigentum an der Sache noch nicht übertragen.6) In dieser Situation bleibt der Verkäufer bis zum Bedingungseintritt (Kaufpreiszahlung) gemäß § 449 Abs. 1 BGB Eigentümer der Kaufsache. Der Schuldner erwirbt als Käufer durch die nur bedingte Übereignung der Kaufsache gemäß § 929 BGB allerdings ein Anwartschaftsrecht am Kaufgegenstand.7) Damit steht dem Schuldner als Käufer aus dem Kaufvertrag ab der Übergabe ein Besitz- 14 recht an dem Kaufgegenstand zu. Dies gilt in der Situation der Betriebsfortführung solange, wie der Verkäufer nicht wirksam vom Vertrag zurückgetreten ist (vgl. § 449 Abs. 2 BGB). Die mit dem Aussonderungsanspruch verbundene Herausgabepflicht entsteht also erst mit Wegfall des Besitzrechts durch den Rücktritt vom Kaufvertrag.8) Bis zum Widerruf bzw. Rücktritt kann i. R. der Betriebsfortführung über das Anwart- 15 schaftsrecht ebenso wie über das Vollrecht verfügt werden.9) Der Lieferant hat es also selbst in der Hand, seine Rechte am Aussonderungsgut durch entsprechende Erklärungen zu sichern. Wegen der Gefährdung seiner Rechte ist er mit dem Eintritt der Insolvenzsituation gemäß § 490 Abs. 1 BGB jederzeit zu diesem Widerruf berechtigt. Zumindest im Fall von Betriebsfortführungen im produzierenden Gewerbe bewirkt diese Ausgangslage je nach Verfahrensstadium verschiedene Problemlagen. 1.3
Factoring
Ein weiterer in der Praxis häufig vorkommender Anwendungsfall für Aussonderungsan- 16 sprüche ist das Factoring. Beim „echten“ Factoring kauft der Factor Forderungen, die der ___________ 5) Grüneberg-Herrler, BGB, § 985 Rz. 8. 6) Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 449 Rz. 1; Staudinger-Beckmann, BGB, § 449 Rz. 1. 7) BGH, Urt. v. 24.6.1958 – VIII 205/57, BGHZ 28, 16, 21 ff.; Büdenbender in: NK-BGB, Bd. 2, § 449 Rz. 24; Staudinger-Beckmann, BGB, § 449 Rz. 60 ff. m. w. N. 8) BGH, Urt. v. 1.7.1970 – VIII ZR 24/69, BGHZ 54, 214, 222; Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 449 Rz. 26. 9) BGH, Urt. v. 22.2.1956 – IV ZR 164/55, BGHZ 20, 88, 100 f.; Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 449 Rz. 13.
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§ 29
Teil V Einzelfragen
Schuldner gegenüber seinen Debitoren hat. Inhaltlich übernimmt der Factor dabei das Risiko der Zahlung durch den Debitor (sog. Delkredere-Risiko)10) und hat dabei grundsätzlich kein Rückgriffsrecht gegenüber dem Schuldner. In der Insolvenz wird so ein Aussonderungsanspruch begründet,11) d. h. die verkaufte Forderung ist dem Vermögen des Schuldners gänzlich entzogen. 17 Das Delkredere-Risiko ist zeitgleich die Grundlage zur Abgrenzung zwischen dem echten und dem unechten Factoring. Im Gegensatz zum echten Factoring geht das Ausfallrisiko beim unechten Factoring nämlich nicht auf den Factor über.12) Daher begründet das unechte Factoring wegen des Sicherungscharakters der Forderungsabtretung im Insolvenzfall auch kein Aus- sondern ein Absonderungsrecht.13) 2.
Absonderungsrechte
18 Der mit einem Absonderungsrecht (§§ 49 ff. InsO) belastete Vermögenswert gehört in Abgrenzung zu den Aussonderungsgut haftungsrechtlich zur Insolvenzmasse.14) Grundlage des Absonderungsrechts sind Sicherungsrechte, die dem Gläubiger vom Schuldner vor der Verfahrenseröffnung eingeräumt wurden. 19 Ohne solche insolvenzfesten Sicherungsrechte würde der Wirtschaftsverkehr nicht funktionieren. Jeder Lieferant oder sonstige Vertragspartner hat ein von der Rechtsordnung anerkanntes Interesse, dass er sich wegen seiner Ansprüche für den Fall der Insolvenz absichert. Diese Sicherung erfolgt in der Regel derart, dass der Schuldner (Sicherungsgeber) einen Teil seines Vermögens als Sicherheit zur Verfügung stellt, aus dem der Gläubiger (Sicherungsnehmer) im Fall der Insolvenz seine Forderung befriedigen kann. Bezogen auf den zur Sicherheit gegebenen Vermögenswert ist der Gläubiger also nicht auf die sonst im Insolvenzverfahren zu erwartende Quotenzahlung beschränkt, sondern wird aus dem Erlös bevorzugt befriedigt. Im Ergebnis erhält der Berechtigte aus dem erzielten Erlös seine Forderung in voller Höhe, einschließlich Nebenforderungen unter Berücksichtigung der Kostenbeiträge gemäß den §§ 170 ff. InsO.15) 20 Absonderungsrechte können an sämtlichen Vermögenswerten des Schuldners bestehen, d. h. beweglichen und unbeweglichen Sachen sowie an Rechten. In der Praxis der Betriebsfortführung kann es gerade beim Zusammentreffen verschiedener Absonderungsrechte (siehe dazu unter Rz. 90 ff.) sowie bei der Abgrenzung von Aus- und Absonderungsrechten im Zusammenhang mit Eigentumsvorbehaltsrechten (siehe dazu unter Rz. 88 f.) zu Problemen kommen. Nachfolgend werden zunächst die speziell i. R. der Betriebsfortführung regelmäßig zu berücksichtigen Absonderungsrechte kurz zusammengefasst. 2.1
Sicherungsübereignung
21 In nahezu jeder Betriebsfortführung findet der Verwalter sicherungshalber übertragene Vermögenswerte vor. Abhängig davon, ob bewegliche Gegenstände oder Forderungen übertragen wurden, spricht man von Sicherungseigentum oder Sicherungsabtretung.16) ___________ 10) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 50; K. Schmidt-Thole, InsO, § 47 Rz. 77; Kreße in: NK-BGB, Bd. 2, Anh. z. §§ 398 – 413 Rz. 12. 11) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 51; so auch schon Jaeger-Henckel, InsO, § 47 Rz. 127. 12) Vuia in: MünchKomm-InsO, § 116 Rz. 13. 13) K. Schmidt-Thole, InsO, § 47 Rz. 78. 14) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 49 Rz. 1; Scholz in: HambKomm-InsO, § 47 Rz. 1. 15) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 50 Rz. 1; Imberger in: FK-InsO, § 50 Rz. 30. 16) Grüneberg-Herrler, BGB, § 930 Rz. 13 ff.; Grüneberg-Grüneberg, BGB, § 398 Rz. 1, 23 ff.
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2.1.1 Sicherungseigentum Mit der (Sicherungs-)Übereignung einzelner Gegenstände oder Sachgesamtheiten erlangt 22 der Gläubiger vollwertiges Eigentum an diesen Gegenständen. Im Verhältnis zum Schuldner ist er aber verpflichtet, die so entstandene Eigentümerposition nur im Zusammenhang zu seinem Sicherungsbedürfnis wahrzunehmen.17) Im Gegensatz zum Volleigentum kann der Sicherungsnehmer infolge des begrenzenden Sicherungszwecks also nicht frei über den Gegenstand verfügen. Im Rahmen der Betriebsfortführung bzw. Überprüfung möglicher Absonderungsrechte wird der Verwalter prüfen, ob die Sicherungsübertragung wirksam vorgenommen wurde. Dies ist nur dann der Fall, wenn die von der Eigentumsübertragung betroffenen Sachen bestimmt, d. h. exakt bezeichnet sind. Bestimmbarkeit des zur Sicherheit übertragenen Gegenstandes reicht nicht aus.18) 2.1.2 Sicherungsabtretung Häufigster Abwendungsfall und praxisrelevant für nahezu jede Betriebsfortführung ist die 23 Sicherungsabtretung von Forderungen aus Lieferung und Leistungen des Schuldners. Wie im Fall des Sicherungseigentums, kann sich auch die Sicherungsabtretung auf einzelne Rechte oder auf die Gesamtheit von Rechten beziehen. Anders als bei Fällen des Sicherungseigentumsreicht es allerdings aus, wenn die zur Sicherheit übertragenen Forderungen bestimmbar sind. Damit ist eine wirksame Abtretung schon anzunehmen, wenn sich aus weiteren Informationen und Unterlagen durch Auslegung feststellen lässt, ob ein Recht von der Zession erfasst ist oder nicht.19) Gegenstand der Sicherungsabtretung können sämtliche Rechte des Schuldners, d. h. For- 24 derungen, Beteiligungsrechte, Markenrechte, Herausgabeansprüche etc. sein. 2.2
Verlängerter Eigentumsvorbehalt
Eine weitere wichtige Grundlage für ein Absonderungsrecht im Insolvenzverfahren bildet 25 der sog. verlängerte Eigentumsvorbehalt.20) In der Regel ermächtigt der (Vorbehalts-) Verkäufer einer Ware den (Vorbehalts-) Käufer i. R. des ordnungsgemäßen Geschäfts- und Wirtschaftsführung über die Vorbehaltssache zu verfügen. Mit der Verfügung/Verarbeitung/Vermischung (vgl. §§ 946 – 950 BGB) verliert er sein Eigentum und zeitgleich seine Rechte aus dem einfachen Eigentumsvorbehalt.21) Zur Kompensation sehen die meisten allgemeinen Geschäftsbedingungen deshalb die Abtretung derjenigen Forderungen an den Verkäufer vor, die der Käufer aus dem Weiterverkauf der Ware gegen dessen Kunden (Dritterwerber) erlangen wird. Zur Sicherstellung seiner Rechte muss der Verkäufer seine Ansprüche allerdings nachwei- 26 sen, was ihn im Fall der Betriebsfortführung oftmals vor erhebliche Probleme stellt (siehe Rz. 93 f.). Im Zeitpunkt des Zugriffs, d. h. der Verfügung durch den Schuldner, ist zunächst weder die Höhe der Forderung, noch die Person des Drittschuldners bekannt. Für die notwendige Bestimmbarkeit genügt es aber, wenn sich die Forderung im Zeitpunkt ihrer Entstehung auf andere Weise individualisieren lässt.22) ___________ 17) BGH, Urt. v. 28.6.1978 – VIII ZR 60/77, BGHZ 72, 141, 144 ff.; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 51 Rz. 2. 18) Oechsler in: MünchKomm-BGB, § 929 Rz. 6; Grüneberg-Herrler, BGB, § 930 Rz. 2. 19) BGH, Urt. v. 12.10.1999 – XI ZR 24/99, ZIP 1999, 2058 = NJW 2000, 276; zur Bestimmbarkeit: Grüneberg-Grüneberg, BGB, § 398 Rz. 14. 20) Vgl. Begr. RegE z. § 58 InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 125. 21) Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 449 Rz. 13, 15. 22) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 43; Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 449 Rz. 18.
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27 Problematisch wird es, wenn der Schuldner die unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Waren in gleicher Art und Güte gleichzeitig von mehreren Lieferanten bezieht. In dem Fall gelingt es dem Lieferanten oftmals nicht, den erforderlichen Nämlichkeitsnachweis (siehe Rz. 87 ff.), d. h. den konkreten Zusammenhang zwischen der von ihm gelieferten Ware und dem Verkaufserlös des Schuldners infolge der Weiterveräußerung, nachzuweisen. Außerdem ist der Lieferant mangels Zugriff auf die zum Nachweis seiner Ansprüche notwendigen Unterlagen oftmals gar nicht in der Lage, seine Ansprüche in der erforderlichen Form nachzuweisen. 28 Durch die Abtretung der künftigen Forderungen aus der Weiterveräußerung ist der Lieferant aber Inhaber der Forderung geworden, weshalb diese zunächst nicht zur Fortführung der Betriebstätigkeit eingesetzt werden dürfen. Der Verwalter ist gehalten, die dazu eingehenden Gelder von der sonstigen Masse zu separieren23)) oder aber vom Sicherungsnehmer die Zustimmung zur Einsetzung der dazu eingehenden Gelder zu erwirken. Letzteres wird immer dann gelingen, wenn der Gläubiger selbst ein Interesse an der Betriebsfortführung hat, was wegen des so erreichten Werterhalts sonstiger Sicherungsrechte oftmals der Fall ist. 29 Unabhängig von den Nachweisschwierigkeiten hat der Lieferant die Möglichkeit, seine Ansprüche unmittelbar beim Dritterwerber anzuzeigen und selbst geltend zu machen. Dazu ist er allerdings erst berechtigt, wenn seine Forderung aus dem Verkauf an den Schuldner nicht befriedigt wird.24) 30 Da beim verlängerten Eigentumsvorbehalt keine Voll-, sondern nur eine Sicherungsabtretung der künftigen Forderungen vorliegt, ist der Sicherungsnehmer (Lieferant) im Fall der Insolvenz des Sicherungsgebers (Schuldner) wie bereits erwähnt lediglich zur Absonderung dieser Forderung berechtigt.25) Gerade zu Beginn der Betriebsfortführung besteht unter der Lieferanten aber nicht selten der Wunsch, die Kunden des Schuldners selbst zu kontaktieren um sich so die Ansprüche aus dem verlängerten Eigentumsvorbehalt zu sichern. Hierzu ist der Sicherungsgläubiger grundsätzlich auch berechtigt und in der Insolvenzantragsphase kann er durch Offenlegung der Zession das Einzugsrecht für die Forderung an sich ziehen. 31 Dem muss im Interesse einer erfolgreichen Fortführung der Betriebstätigkeit möglichst entgegengewirkt werden, da es anderenfalls zu erheblichen Irritationen unter den Kunden kommt. Die Folge ist regelmäßig das Ausbleiben jeglicher Zahlungen, da die Kunden erst die Bezugsrechte geklärt wissen wollen. In einem solchen Fall gilt es im Interesse einer erfolgreichen Fortführung der Betriebstätigkeit schnell eine Einigung über den Einzug zu finden und diese gegenüber den Gläubigern zu kommunizieren. Die Einigung besteht im Regelfall darin, dass der Sicherungsgläubiger auf die Offenlegung der Zession verzichtet und der vorläufige Insolvenzverwalter im Gegenzug sicherstellt, dass die, auf die betroffenen Forderungen, eingehenden Zahlungen an den Sicherungsgläubiger ausgekehrt werden. 3.
Pfandrechte an beweglichen Sachen und Rechten
32 Pfandrechte gelten als „klassische“ Absonderungsrechte, was sich u. a. durch ihre gesonderte Regelung in § 50 InsO niederschlägt.26) Die Sicherungszweckabrede und die gesicherte Forderung ergeben sich bei der Verpfändung aus dem Verpfändungsvertrag bzw. beim ge___________ 23) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38d; Schröder in: HambKomm-InsO, § 21 Rz. 88; zur Bedeutung der Regelung des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO in der Betriebsfortführung s. Rz. 49 ff. und 59 ff. 24) BGH, Urt. v 15.5.2003 – IX ZR 218/02, ZIP 2003, 1256 = NZI 2003, 496; Schmerbach in FK-InsO, § 21 Rz. 360. 25) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 51 Rz. 41; Scholz in: HambKomm-InsO, § 51 Rz. 14. 26) Adolphsen in: Gottwald/Haas, Hdb. InsR, § 42 Rz. 1; Uhlenbruck-Brinkman, InsO, § 50 Rz. 1.
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setzlichen Pfandrecht aus dem gesetzlichen Sicherungszweck.27) Nachfolgend werden auch zu diesem Themenkreis diejenigen Pfandrechte kurz weiterführend dargestellt, die in der Betriebsfortführung eine besondere Rolle spielen. 3.1
Vermieterpfandrecht
Das Pfandrecht des Vermieters (§ 562 BGB) setzt einen zwischen den Parteien wirksam 33 begründeten Mietvertrag voraus und entsteht mit der Einbringung der Sache in den Mietgegenstand.28) Das Pfandrecht erlischt gemäß §§ 562a, 562b, 581 Abs. 2, 592 Satz 3 BGB mit dem Entfernen der Mietsache. Etwas anders gilt nur, wenn die Entfernung ohne Wissen des Vermieters geschehen oder der Vermieter widersprochen hat. Im Insolvenzverfahren steht dem Vermieter dann unter den weiteren Voraussetzungen des § 48 InsO ein Ersatzabsonderungsanspruch zu.29) Im Insolvenzantragsverfahren und damit zu Beginn einer Betriebsfortführung können 34 Miet- oder Pachtverhältnisse nur unter den Einschränkungen des § 112 InsO gekündigt werden.30) Später d. h. mit Verfahrenseröffnung bietet das ungekündigte Mietverhältnis eine weitere Sicherheit dadurch, dass die ab Eröffnung des Verfahrens entstehende Ansprüche aus der Masse auszugleichen sind (§§ 55 Abs. 1, 209 Abs. 2 Nr. 2, 3 InsO). Im Zusammenhang mit bestehenden Ansprüchen des Vermieters spielt die Konkurrenz 35 von Sicherungsrechten eine besondere Rolle.31) Dabei gilt der Prioritätsgrundsatz, d. h. dasjenige Recht, welches früher begründet wurde, hat Vorrang.32) So genießt eine vor Einbringung des Sicherungsguts in die Mietsache begründete Sicherungsübereignung Vorrang vor dem Vermieterpfandrecht, eine nach Einbringung begründete Sicherungsübereignung ist nachrangig.33)) 3.2
Spediteur- und Frachtführerpfandrecht
Gemäß § 441 HGB hat der Spediteur/Frachtführer wegen aller durch den Frachtvertrag 36 begründeten Forderungen sowie wegen unbestrittener Forderungen aus anderen mit dem Absender geschlossenen Fracht-, Speditions- und Lagerverträgen ein Pfandrecht an dem Gut.34) Dieses Pfandrecht erfasst alle frachtvertraglichen Geldforderungen gegen den Absender oder Empfänger, sowohl die Forderungen, welche gerade mit der aktuellen Beförderung des dem Pfandrecht unterfallenden Gegenstandes zusammenhängen (konnexe Forderung)35)), als auch solche aus bereits zurückliegenden Transportvorgängen (inkonnexe Forderungen).36) Auf dieses, ebenfalls ein Absonderungsrecht begründendes Pfandrecht muss der Verwalter 37 vor und nach der Verfahrenseröffnung unbedingt achten. Denn es steht zu befürchten, dass der Spediteur die zu versendenden Waren gleich nach der Aufladung unter Berufung auf sein Pfandrecht zurückhält und die Ablieferung beim Kunden von der Zahlung seiner Forderungen abhängig macht. Unabhängig von der Frage der Anfechtbarkeit kann es so zu ___________ 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36)
Grüneberg-Wicke, BGB, § 1204 Rz. 2 ff. Grüneberg-Weidenkaff, BGB, § 562 Rz. 6; Staudinger-Emmerich, BGB, § 562 Rz. 11. BGH, Urt. v. 4.12.2003 – IX ZR 222/02, ZIP 2004, 326, 328. Pohlmann-Weide in: HambKomm-InsO, § 112 Rz. 6 f. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 50 Rz. 33; Scholz in: HambKomm-InsO, § 50 Rz. 30, 45. Scholz in HambKomm-InsO, § 51 Rz. 46 ff. Scholz in HambKomm-InsO, § 50 Rz. 45. Hopt-Merkt, HGB, § 440 Rz. 1. Hopt-Merkt, HGB, § 440 Rz. 2. Hopt-Merkt, HGB, § 440 Rz. 3.
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Lieferverzögerungen kommen, die im Interesse einer erfolgreichen Betriebsfortführung vermieden werden sollten. 38 Verhindert werden kann diese Situation z. B. durch die Beauftragung anderer Spediteure, bei denen der Schuldner keine Verbindlichkeiten hat. Ersatzweise sollte sich der Verwalter vom Spediteur vor der Übergabe der Ware unbedingt bestätigen lassen, dass er wegen seiner Altforderungen das Spediteurpfandrecht nicht an den zukünftig zu transportierenden Waren geltend macht. 3.3
Werkunternehmerpfandrecht
39 Zum Themenbereich der Absonderungsrechte in der Situation der Betriebsfortführung spielt daneben das Werkunternehmerpfandrecht eine besondere Rolle. Dieses wird dem Werkunternehmer zum Ausgleich seiner Vorleistungspflicht gegenüber dem Besteller gewährt, durch welche dem Werkunternehmer das Insolvenzrisiko des Bestellers aufgelastet wird.37)) Das Werkunternehmerpfandrecht entsteht an dem Gegenstand, an dem die Werkleistung erbracht wurde. Voraussetzung für die Entstehung ist die Eigentümerposition des Bestellers.38) Inhaltlich sichert das Werkunternehmerpfandrecht alle Ansprüche, die sich aus dem konkreten Werkvertrag ergeben. Nicht umfasst sind hingegen Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag, Bereicherung oder Forderungen aus früheren Werkverträgen.39) Das Werkunternehmerpfandrecht erlischt mit der Ablieferung des Gewerks an den Besteller und entsteht auch bei erneuter Besitzerlangung nicht neu.40) 40 Solange der Werkunternehmer den Gegenstand allerdings im Besitz hat, begründet das so entstehende Pfandrecht in der Insolvenzsituation ein Absonderungsrecht. Im Rahmen einer Betriebsfortführung stellen sich die damit verbundenen Fragen immer dann, wenn der Schuldner mit Subunternehmern, z. B. zur Weiterbearbeitung seiner Produkte, zusammenarbeitet (siehe Rz. 88 f.). Aber auch die Notwendigkeit z. B. in der Werkstatt befindliche Fahrzeuge für das laufende Geschäft „frei“ zu bekommen, begründet oftmals die frühzeitige Einbeziehung dahingehender Ansprüche. III.
Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Antragsphase
41 Aufbauend auf den Ausführungen zu den gesetzlichen Grundlagen wird nachfolgend näher auf die Stellung der Sonderrechtsgläubiger eingegangen. Dabei wird zunächst die Betriebsfortführung in der Insolvenzantragsphase, d. h. zwischen Antragstellung und Verfahrenseröffnung, betrachtet. 1.
Aussonderungsrechte
42 Das Recht auf Aussonderung eines Gegenstandes besteht unabhängig vom Beginn und Verlauf des Insolvenzverfahrens. Andererseits wird der Begriff „Aussonderung“ nur in der InsO verwendet, d. h. außerhalb des Anwendungsbereichs der InsO gibt es keine Aussonderungsrechte in der definierten Form.41) Man spricht also nicht von Aussonderung, wenn der Sonderrechtsgläubiger außerhalb des Insolvenzverfahrens seinen Herausgabeanspruch geltend macht. 43 Ungeachtet dessen, haben Aussonderungsrechte gerade zu Beginn einer Betriebsfortführung enorme Bedeutung. Im Fall der tatsächlichen Herausgabe von Waren oder von geliehenen Maschinen kann eine erfolgreiche Fortführung der Betriebstätigkeit nicht gelingen, ___________ 37) 38) 39) 40) 41)
Herdy/Raab in: NK-BGB, Bd. 2, § 647 Rz. 1. Busche in: MünchKomm-BGB, § 647 Rz. 5. BGH, Urt. v. 18.5.1983 – VIII ZR 86/82, ZIP 1983, 950; Busche in: MünchKomm-BGB, § 647 Rz. 14. BGH, Urt. v. 18.12.1968 – VIII 214/66, BGHZ 51, 250; Busche in: MünchKomm-BGB, § 647 Rz. 15. Scholz in: HambKomm-InsO, § 47 Rz. 2.
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da diese in der Regel benötigt werden. Das so entstehende Spannungsverhältnis zwischen den gegenläufigen Interessen der Beteiligten muss deshalb unbedingt frühzeitig geregelt werden. 1.1
Geltendmachung und Auskunftsrecht
Es liegt im Interesse des Sonderrechtsgläubigers, sein Aussonderungsrecht möglichst be- 44 reits bei der Einleitung des Verfahrens geltend zu machen. Anderenfalls liefe er Gefahr, dass sei Eigentum im Zuge der Betriebsfortführung, z. B. durch Verarbeitung oder Veräußerung, untergeht (siehe Rz. 12 ff.). Der vorläufige Insolvenzverwalter trifft in der Phase des Antragsverfahrens keine aus- 45 drücklich geregelte Pflicht zur Prüfung der Aussonderungsrechte.42) Die von Aussonderungsansprüchen erfassten Gegenstände gehören allerdings nicht zur Soll-Masse und unterliegen damit auch nicht dem Verwertungsrecht des späteren Insolvenzverwalters. Diesen trifft damit grundsätzlich die Pflicht, fremde Rechte, insbesondere fremdes Eigentum zu beachten, zu sichern und den Eigentümern zur Verfügung zu stellen.43) Die Insolvenzgerichte erstrecken diese, auch die Aussonderungsrechte erfassende Sicherungspflicht durch den Bestellungsbeschluss in der Regel schon auf den vorläufigen Insolvenzverwalter. In diesem Zusammenhang gilt weiter, dass der Verwalter jedenfalls immer dann, wenn er Kenntnis von der Existenz fremden Eigentums erlangt, die daran bestehenden Ansprüche auch beachten muss.44) Der Sonderrechtsgläubiger sollte deshalb seine Rechte gleich zu Beginn des Verfahrens 46 schriftlich beim vorläufigen Insolvenzverwalter anzeigen. Dessen Kenntnis verpflichtet ihn allerdings nicht zur Zustimmung zu dem Herausgabeverlangen. Im Interesse der Fortführung der Betriebstätigkeit als Grundvoraussetzung einer späteren Sanierung wird der vorläufige Insolvenzverwalter allein darauf abstellen, ob der Gegenstand zum Erhalt der Betriebstätigkeit notwendig ist (siehe Rz. 65 ff.). Um seine Rechte verfolgen zu können, muss der Sonderrechtsgläubiger selbst aber erst 47 einmal Kenntnis über den Verbleib und den Zustand seines Eigentums erhalten. Eigene Informationsmöglichkeiten bestehen nahezu nicht, da der Gläubiger kein Recht zum Betreten der Geschäftsräume des Schuldners hat oder gar im Wege der Selbsthilfe das Aussonderungsgut herausholen darf.45) Eine dahingehende Auskunftspflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, wobei über den Bestand dieser Pflicht Einigkeit besteht. Sie wird insbesondere als Annex zur Aussonderungsbefugnis des Aussonderungsberechtigten aus §§ 260, 242 BGB hergeleitet.46) Art und Umfang der Auskunft richten sich nach den Umständen des Einzelfalls und finden ihre Grenzen in der Zumutbarkeit.47) Zur Ermöglichung einer späteren Abarbeitung von Aus- und Absonderungsrechten wird 48 der vorläufige Verwalter zu Beginn der Betriebsfortführung aber ohnehin eine umfassende, lieferantenbezogene Inventur veranlassen. Zur Beruhigung der Sonderechtsgläubiger und Sicherstellung des reibungslosen Ablaufs der Betriebsfortführung ist der Verwalter in der ___________ 42) 43) 44) 45) 46) 47)
Lohmann in: HK-InsO, § 47 Rz. 37. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 133; Scholz in: HambKomm-InsO, § 47 Rz. 87 ff. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 127. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 126; Ganter in: MünchKomm-InsO, § 47 Rz. 471i. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 130; Imberger in: FK-InsO, § 47 Rz. 79. BGH, Urt. v. 7.12.1977 – VIII ZR 164/76, BGHZ 70, 86, 91; Adolphsen in: Gottwald/Haas, Hdb. InsR, § 40 Rz. 124.
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Praxis gut beraten, diese Informationen an den beteiligten Sonderrechtsgläubiger weiterzugeben und dem Sonderrechtsgläubiger so die gewünschten Informationen zu verschaffen. 1.2
Regelung des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO
49 Nach der Regelung des § 21 Abs. 2 InsO die Nr. 5 kann das Insolvenzgericht anordnen, dass Gegenstände, die im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens von § 166 InsO erfasst würden oder deren Aussonderung verlangt werden könnte, vom Gläubiger bereits in der Antragsphase nicht verwertet oder eingezogen werden dürfen. Daneben ermöglicht die Norm Beschlüsse, wonach Gegenstände zur Fortführung des Unternehmens eingesetzt werden dürfen, sofern sie hierfür von „erheblicher Bedeutung“ sind. 50 Im Zuge dessen werden die Wirkungen der §§ 166 ff. InsO teilweise in das Eröffnungsverfahren vorverlagert und bezüglich der Nutzungsbefugnis auf künftige Aussonderungsgüter erstreckt.48) Auf diese Art und Weise soll das Vermögen des Schuldners im Interesse der Erhaltung der Sanierungschancen und bestmöglichen Verwertung zusammengehalten sowie die Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren erleichtert werden.49) 51 Diese Möglichkeit zur Anordnung eines Verwertungsstopps für künftige Aus- und Absonderungsgüter brachte für die Praxis nicht viel Neues. Schon vor Inkrafttreten des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO entsprach es der h. M., dass sich die Sicherungsmaßnahmen auch auf Vermögensgegenstände erstrecken, die nach Insolvenzeröffnung mit Aus- und Absonderungsrechten belastet sind.50) Der Grund dafür liegt auf der Hand, da nur durch ein Verwertungsverbot ein vorzeitiges Auseinanderreißen des schuldnerischen „Ist-Vermögens“ als Grundlage der Betriebsfortführung verhindert werden kann.51) 52 Ohne einen das Nutzungsrecht in der Betriebsfortführung bestätigenden Beschuss des Gerichts richtet sich die Nutzungsbefugnis des Schuldners bzw. vorläufigen Insolvenzverwalters nach den allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften,52) also z. B. nach dem Inhalt des Leasingvertrages, des Kaufvertrages oder sonstigen Absprachen. Mittels des gerichtlichen Beschlusses kann damit selbst im Fall der Nutzungsuntersagung durch den Gläubiger erreicht werden, dass die für die Betriebsfortführung notwendigen Gegenstände weiterhin eingesetzt werden dürfen. An das damit verbundene Kriterium der Notwendigkeit dürfen keine zu hohen Anforderungen gestellt werden; es ist bereits zu bejahen, wenn der Betriebsablauf ohne die Nutzungsmöglichkeit nicht nur geringfügig gestört würde.53) 53 Im Fall der Anordnung der Nutzungsbefugnis gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO hat der vorläufige Insolvenzverwalter an den Gläubiger einen wirtschaftlichen Ausgleich zu entrichten. Der Sonderrechtsgläubiger kann neben einem nach Maßgabe des § 169 Satz 2 und Satz 3 InsO zu berechnenden Nutzungsentgelt54) zusätzlich Wertersatz für einen ggf. eingetretenen Wertverlust55) verlangen. ___________ 48) Schmerbach in: FK-InsO, § 21 Rz. 327; kritisch Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38g. 49) Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT Drucks. 16/3227, S. 27; AG BerlinCharlottenburg, Beschl. v. 15.3.2017 – 36a IN 601/17, ZIP 2017, 1386. 50) BGH, Beschl. v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, BGHZ 165, 266, 269 = ZIP 2006, 621; BGH, Beschl. v. 14.12.2000 – IX ZB 105/00, BGHZ 146, 165, 173 = ZIP 2001, 296. 51) Vgl. BGH, Beschl. v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, BGHZ 165, 266, 269 = ZIP 2006, 621. 52) BGH, Beschl. v. 14.12.2000 – IX ZB 105/00, BGHZ 146, 165, 173 = ZIP 2001, 296. 53) Zur verbotenen Eigenmacht durch den Aus- oder Absonderungsgläubiger vgl. LG Leipzig, Beschl. v. 26.5.2006 – 05 HK O 1796/06, ZInsO 2006, 1003. 54) Vgl. Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/3227, S. 29; Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38k. 55) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38k.
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Absonderungsrechte
Durch die Insolvenzantragstellung verändert sich die Situation des Sonderrechtsgläubigers 54 zunächst nicht. Er kann versuchen, den Schuldner zur freiwilligen Herausgabe des Sicherungsguts zu bewegen oder im Fall abgetretener Forderungen die Zession offenlegen. 2.1
Geltendmachung und Auskunftsrecht
Mit der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen durch das Insolvenzgericht verändert 55 sich diese Situation. Primäre Aufgabe des vorläufigen Insolvenzverwalters ist es, das Vermögen des Schuldners zu sichern, § 22 Abs. 1 Nr. 1 InsO, um so das mit Verfahrenseröffnung entstehende Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters zu erhalten.56) Im Fall der Betriebsfortführung ist der vorläufige Verwalter zudem gehalten, den Betrieb des Schuldners fortzuführen. Die Durchsetzung von Absonderungsrechten in der Antragsphase verträgt sich damit nicht und würde die Betriebsfortführung als Voraussetzung späterer Sanierungsmaßnahmen erschweren oder sogar verhindern. Die InsO sieht die Geltendmachung von Absonderungsrechten daher erst im Verlauf des eröffneten Verfahrens vor. Etwas anderes kann gelten, wenn sich das Absonderungsrecht auf verderbliche Waren 56 bezieht. § 107 Abs. 2 InsO regelt dazu, dass der Verwalter zur Vermeidung einer Vernichtung bzw. Entwertung des Sicherungsguts eine Entscheidung direkt nach der Verfahrenseröffnung herbeiführen muss. Diese Situation kann auf die Antragsphase übertragen werden. Im Fall drohender Entwertungen obliegt es der Sicherungspflicht des vorl. Insolvenzverwalters, das Absonderungsrecht schon vor der Eröffnung des Verfahrens zu beachten. Von den Beschränkungen durch die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen ausgeschlossen 57 sind zudem Absonderungsrechte an unbeweglichen Gegenständen. Diese können ungeachtet der Antragsstellung durch Zwangsverwaltung oder Zwangsvollstreckung geltend gemacht werden.57) Zu den Auskunftsansprüchen der zur Absonderung berechtigten Gläubiger gilt das zuvor 58 zum Bereich der Aussonderungsrechte Gesagte (siehe Rz. 42 ff.). Die InsO sieht für den vorläufigen Insolvenzverwalter keine Auskunftspflicht vor, weshalb der Gläubiger auf das seinem Anspruch zugrunde liegende Vertragswerk beschränkt ist. Faktisch besteht für ihn daher in dieser Phase des Verfahrens nahezu keine Möglichkeit, aus eigener Kraft an die zur Geltendmachung seiner Rechte erforderlichen Informationen zu gelangen. 2.2
Regelung des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO
Bezogen auf die Absonderungsrechte erfasst der § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO bewegliche Sachen 59 und Forderungen. Gegenüber den Sonderrechtsgläubigern soll so erreicht werden, dass insbesondere die Nutzung lediglich als Sicherheit dienender Gegenstände gewährleistet wird. Zu dem damit für den Sicherungsnehmer verbundenen Anspruch auf eine wirtschaftliche Kompensation gelten die zum Aussonderungsrecht gemachten Ausführungen gleichermaßen (siehe Rz. 42 ff.). Das daneben vom Gesetz vorgesehene Verbot zur Einziehung sicherungsabgetretener 60 Forderungen durch den Gläubiger soll dem späteren Verwalter die Möglichkeit geben, die Wirksamkeit der Sicherungsabtretung zu prüfen, bevor der Gläubiger die Forderung ein-
___________ 56) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 1. 57) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 30; dort auch zur Einstellung von Zwangsmaßnahmen gemäß § 30d Abs. 4 ZVG.
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zieht.58) Eine besondere Bedeutung der Forderung i. R. der Betriebsfortführung ist damit als Voraussetzung für den entsprechenden gerichtlichen Beschluss nicht erforderlich. 61 Damit ist auch klar, dass das so eingezogene Geld vom Verwalter nicht i. R. der Betriebsfortführung zu deren Finanzierung eingesetzt werden darf. Im Fall des Einzugs abgetretener Forderungen auf der Basis eines Beschlusses gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO hat der vorläufige Insolvenzverwalter dieses Geld auf einem gesonderten Konto zu separieren, um in der Lage zu sein, dieses später ggf. an den Sicherungsnehmer auskehren zu können.59) 62 Zieht der vorläufige Insolvenzverwalter die zur Sicherheit abgetreten Forderung i. R. der Antragshase auf der Grundlage eines Beschlusses gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO ein, fallen die Kostenbeiträge nach §§ 170, 171 InsO an.60) Ohne den Beschluss hat der vorläufige Insolvenzverwalter auch bei Einzug der Forderung keinen Anspruch auf die Verfahrenspauschalen und hat später ohne jeden Abzug mit dem Sicherungsgläubiger abzurechnen. Letzterer ist im Fall der Abrechnung für den Zeitraum der Antragsphase gut beraten, wenn er den Bestand eines Beschlusses gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO aktiv hinterfragt. IV.
Stellung der Sonderrechtsgläubiger im eröffneten Verfahren
63 In Abgrenzung zur Insolvenzantragsphase wird nachfolgend auf die Stellung der Sonderrechtsgläubiger im eröffneten Verfahren in der Situation der Betriebsfortführung eingegangen. 1.
Aussonderungsrechte
64 Der Sonderrechtsgläubiger kann nach Verfahrenseröffnung die Aussonderung jederzeit verlangen, wobei er sein Begehren nunmehr direkt an den Insolvenzverwalte zu richten hat. Die betroffenen Gegenstände gehören nicht zur sog. „Soll-Masse“ und unterliegen auch nicht dem Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters. Obwohl dies gesetzlich nicht gefordert ist, sollte der Insolvenzverwalter zur Ermöglichung einer reibungslosen Abwicklung das Aussonderungsgut in das Verzeichnis der Massegegenstände gemäß § 151 InsO aufnehmen.61) Denn nicht immer ist schon am Anfang des Verfahrens sicher, welche Gegenstände haftungsrechtlich nicht dem Schuldner zuzuordnen sind, insbesondere in fremdem Eigentum stehen. Mit der Aufnahme in das Verzeichnis nach § 151 InsO besteht die Möglichkeit, das Verzeichnis der Massegegenstände zu ergänzen, wenn nachträglich Aussonderungsrechte bekannt werden. 1.1
Geltendmachung und Auskunftsrecht
65 Der Insolvenzverwalter ist generell nicht verpflichtet, eigene Nachforschungen zum Bestand von Aussonderungsrechten anzustellen.62)) Der Sonderrechtsgläubiger ist daher angehalten, seine Rechte selbst und möglichst frühzeitig anzuzeigen (siehe Rz. 12 und 55 ff.). Eine Ausnahme von dieser Grundregel ist nur dann gegeben, wenn „typischerweise“ Aussonderungsansprüche bestehen, insbesondere, weil bestimmte Gegenstände regelmäßig nur unter einfachen Eigentumsvorbehalt geliefert werden, oder wenn sonstige konkrete An___________ 58) Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/3227, S. 28. 59) BGH, Urt. v. 21.2.2010 – IX ZR 65/09, BGHZ 184, 101 = ZIP 2010, 739; Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38e. 60) Schröder in: HambKomm-InsO, § 21 Rz. 87. 61) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 127. 62) OLG Köln, Urt. v. 14.7.1982 – 2U 20/82, ZIP 1982, 1107; Kübler/Prütting/Bork-Lüke, InsO, § 60 Rz. 15a; Imberger in FK-InsO, § 47 Rz. 78; anders insbesondere Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 127, der die Pflicht des Insolvenzverwalters zur Prüfung des Bestehens von Aussonderungsrechten als Teil der Masseverwaltung und somit als insolvenzspezifische, originäre Verwalterpflicht sieht.
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haltspunkte (Auffinden unbezahlter Rechnungen für unter Eigentumsvorbehalt gelieferte Waren o. Ä.) auf das Bestehen von Aussonderungsrechten hinweisen In diesen Fällen kann den Verwalter eine erhöhte Prüfungspflicht treffen.63) Die Entscheidung darüber, ob der Verwalter dem Aussonderungsbegehren nachkommt 66 oder nicht, wird der Verwalter innerhalb der Betriebsfortführung von der Frage der Notwendigkeit zur Vertragsfortführung abhängig machen. Entscheidet sich der Verwalter für die Herausgabe, hat er den Gegenstand auf Kosten der Masse dem Aussonderungsgläubiger zur Verfügung zu stellen. Diese Pflicht ist erfüllt, wenn der Gegenstand zur Abholung bereitgestellt wird. Die bei der anschließenden Abholung entstehenden Kosten kann der Sonderrechtsgläubiger zur Insolvenztabelle anmelden. Im Fall der Insolvenz des Vorbehaltskäufers wird der Herausgabeanspruch des Sonder- 67 rechtsgläubigers allerdings vom Wahlrecht des Verwalters gemäß § 103 InsO überlagert. Diese Regelung hat in der Betriebsfortführung eine wichtige Bedeutung und stellt ein zentrales Werkzeug im Sanierungsprozess dar.64) Entscheidet sich der Verwalter für die Erfüllungswahl, so hat er den (restlichen) Kaufpreis an den Sonderrechtsgläubiger zu bezahlen. Beim einfachen Eigentumsvorbehalt (siehe Rz. 13 ff.) hat der Verwalter durch sein Wahl- 68 recht und die damit ggf. verbundenen Zahlung so also die Möglichkeit, das dingliche Recht des Verkäufers (Eigentum) zu vernichten. Zahlt der Verwalter den vollständigen Kaufpreis, geht das Eigentum auf den Schuldner über und das Aussonderungsrecht erlischt. Die InsO mutet dem Vorbehaltsverkäufer in dem Zusammenhang über § 107 Abs. 2 InsO 69 allerdings zu, dass er sich mit einer Entscheidungsfindung durch den Verwalter bis zum Berichtstermin gedulden muss. Lediglich für den Fall, dass bis dahin mit einer erheblichen Verminderung des Wertes der Sache zu rechnen ist, muss der Verwalter sein Wahlrecht unverzüglich ausüben.65) Wichtig dabei ist, dass der Verwalter über diesen Umstand Kenntnis haben muss, die er regelmäßig erst durch einen entsprechenden Hinweis des Sonderrechtsgläubigers erhält. Auch hier muss der Sonderrechtsgläubiger also aktiv werden. Voraussetzung für die Geltendmachung ist selbstverständlich eine entsprechende eigene 70 Kenntnis des Sonderrechtsgläubigers. Mit Verfahrenseröffnung gehört es zu den Pflichten des Insolvenzverwalters, dem Aussonderungsberechtigten Auskunft über den Verbleib, Zustand nach einer etwaigen Verarbeitung oder Belastung des Aussonderungsguts zu erteilen. Gesetzlich geregelt ist dieser Auskunftsanspruch allerdings auch für das eröffneten Verfahren nicht, wobei über seinen Bestand Einigkeit besteht.66) 1.2
Ersatzaussonderung
In der Praxis der Betriebsfortführung kommt es vor, dass der Schuldner vor der Insolvenz- 71 eröffnung – oder später der Insolvenzverwalter – einen Gegenstand unberechtigt veräußert. Mit § 48 InsO trifft das Gesetz für diesen Fall die Regelung, dass der Aussonderungsberechtigte die Abtretung des Rechts auf die Gegenleistung (Kaufpreis) verlangen kann. Dies gilt solange, wie die Gegenleistung in der Masse unterscheidbar vorhanden ist.67) Nach der Rechtsprechung kommt daher für den bargeldlosen Zahlungsverkehr eine Ersatzaussonderung nur so lange in Betracht, wie ein den Aussonderungsbetrag deckender „Boden___________ 63) 64) 65) 66) 67)
Ganter in MünchKomm-InsO, § 47 Rz. 446; Nerlich/Römermann-Rein, InsO, § 60 Rz. 23. Uhlenbruck-Wegener; InsO, § 103 Rz. 2. Uhlenbruck-Wegener; InsO, § 107 Rz. 14. Büchler in: HambKomm-InsO, § 47 Rz. 87; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 130. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 48 Rz. 36.
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satz“68)) auf dem Zielkonto der Zahlung vorhanden ist. Ist auf dem Zielkonto eine Deckung in entsprechender Höhe nicht mehr vorhanden, so ist eine Ersatzaussonderung mangels Unterscheidbarkeit des erlangten Surrogats unzulässig. Dies wird auch durch eine später wieder eintretende entsprechende Deckung des Zielkontos durch weitere Zahlungseingänge nicht berührt.69)) 2.
Absonderungsrecht
72 Nach der Insolvenzeröffnung liegt das Verwertungsrecht für mit Absonderungsrechten belastete, bewegliche Gegenstände gemäß § 166 Abs. 1 InsO allein beim Insolvenzverwalter, sofern dieser den Gegenstand in Besitz hat. Gleiches gilt gemäß § 166 Abs. 2 InsO für mit Sicherungsrechten belastete Forderungen, die allein vom Verwalter eingezogen werden dürfen. Im Fall der Betriebsfortführung ist der Verwalter damit berechtigt, das sonstige Absonderungsgut zu benutzen und es sogar mit anderen Sachen zu verbinden, vermischen und zu verarbeiten. Wirtschaftlich gehört das Sicherungsgut aber nach wie vor dem Sonderrechtsgläubiger, dessen Rechte und Möglichkeiten zur optimierten Durchsetzung in der Situation der Betriebsfortführung nachfolgend dargestellt werden. 2.1
Geltendmachung und Auskunftsrecht
73 Zur Verfahrenseröffnung werden die Sonderrechtsgläubiger gemäß § 28 Abs. 2 InsO aufgefordert, dem Insolvenzverwalter eine Mitteilung zu ihren Sicherungsrechten an beweglichen Sachen oder Rechten anzuzeigen. Der Verwalter ist seinerseits gemäß § 151 Abs. 2 InsO verpflichtet, ein Verzeichnis der einzelnen Gegenstände der Insolvenzmasse, zu denen ein Sicherungsrecht gehört, aufzustellen. Dieses Verzeichnis der Massegegenstände muss bei Gericht hinterlegt werden, und kann vom Sonderrechtsgläubiger als Informationsquelle dort eingesehen werden. 74 Zudem ist der Insolvenzverwalter gemäß § 167 Abs. 1 InsO verpflichtet, dem Sonderrechtsgläubiger Auskunft über den Zustand des Absonderungsguts zu erteilen oder ihm zu erlauben, das Sicherungsgut zu besichtigen. Ähnliches gilt für Forderungen, an denen der Sonderrechtsgläubiger gesichert ist. In diesem Fall kann der Verwalter gemäß § 167 Abs. 2 InsO anstelle einer Auskunft den Sonderrechtsgläubiger auf eine Einsichtnahme in die Bücher und Geschäftspapiere des Schuldners verweisen. Sowohl Besichtigungsrechte als auch die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Bücher werden in der Praxis durch die Sonderrechtsgläubiger allerding nur sehr selten wahrgenommen. 75 Der Verwalter ist i. Ü. selbst daran interesseiert, möglichst umgehend einen Überblick zu den zu berücksichtigenden Absonderungsrechten zu erhalten. Dies ist für die Erstellung des Gläubigerverzeichnisses gemäß § 152 InsO wichtig sowie für die Erstellung der Vermögensübersicht gemäß § 153 InsO. 2.2
Verwertung unbeweglicher Gegenstände
76 Mit § 165 InsO regelt das Gesetz als Regelfall, dass der Verwalter nicht zur freihändigen Verwertung unbeweglicher Gegenstände befugt ist. Der Verwalter kann allerdings seinerseits die Zwangsversteigerung/Zwangsverwaltung betreiben.70) Davon wird er i. R. einer
___________ 68) Gundlach, DZWIR 1998, 12. 69) BGH, Urt. v. 11.3.1999 – IX ZR 164/98, BGHZ 141, 116 = ZIP 1999, 626; Imberger in: FK-InsO, § 47 Rz. 18. 70) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 165 Rz. 1.
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Die Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Betriebsfortführung
§ 29
Betriebsfortführung allerdings nur selten Gebrauch machen, und zwar nur dann, wenn eine mit dem Grundpfandgläubiger abgestimmte freihändige Verwertung nicht zustande kommt.71) 2.3
Verwertung beweglicher Gegenstände
Trotz des Verwertungsrechts des Verwalters72) trifft diesen keine grundsätzliche Verwer- 77 tungspflicht. Dies lässt sich unmittelbar dem Wortlaut des § 166 InsO entnehmen, wonach der Insolvenzverwalter bewegliche Sachen verwerten bzw. Forderungen einziehen „darf“. Mit § 166 InsO ist für den Verwalter damit eine Veräußerungsermächtigung verbunden,73) die für ihn in der Situation einer Betriebsfortführung nur problematisch wird, wenn er überhaupt keine Entscheidung trifft. Letzteres insofern, als die Masse in diesem Fall eine Zinszahlungsverpflichtung gemäß § 169 InsO treffen würde (siehe Rz. 80 f.). Insbesondere im Fall des Verkaufs des Sicherungsguts ist der Sonderrechtsgläubiger aber 78 über § 168 InsO unmittelbar in die Verwertungshandlung einzubeziehen. Bevor der Verwalter eine bewegliche Sache oder Forderung verwerten will, muss er den Sonderrechtsgläubiger nach dieser Norm Mitteilung von der beabsichtigten Veräußerung machen und diesem Gelegenheit geben, innerhalb einer Woche auf eine andere, für ihn ggf. bessere Verwertungsmöglichkeit hinzuweisen. Ein solcher Hinweis des Sonderrechtsgläubigers bindet den Verwalter bei seiner Verwer- 79 tungsentscheidung allerdings nicht. Selbst wenn ihm eine „günstigere“ Verwertungsmöglichkeit angezeigt wird, ist er nicht verpflichtet, dem Folge zu leisten, sondern kann i. R. seines pflichtgemäßen Ermessens auch eine „ungünstigere“, aber dem konkreten Verfahrensziel dienlichere Verwertungsmöglichkeit zurückgreifen Im Ergebnis muss er den Absonderungsgläubiger wirtschaftlich allerdings so behandeln, als ob er dem Hinweis gefolgt wäre.74) 2.4
Verzögerung der Verwertung
Mit der Zuordnung der Veräußerungs- und Einzugsermächtigung an den Insolvenzver- 80 walter verliert der Sonderrechtsgläubiger jeden Einfluss auf die Verwertungsgeschwindigkeit und damit die Frage, wann die Grundlage für die Auskehr des auf ihn entfallenden Verwertungserlöses erfolgt. Der gesetzliche Rahmen sieht für den Verwalter mit § 156 InsO vor, dass dieser die Verwertung erst unter Berücksichtigung der Beschlüsse der Gläubigerversammlung einleiten soll. Im Anschluss soll die Verwertung im Einklang mit den Beschlüssen der Gläubiger unverzüglich durchgeführt werden. Zum Schutz des absonderungsberechtigten Gläubigers vor einer Verzögerung der Verwertung bestimmt § 169 InsO, dass ab dem Berichtstermin Zinsen an den Sonderrechtsgläubiger zu zahlen sind. Die Zinszahlungspflicht entsteht, wenn trotz einer konkreten Verwertungsmöglichkeit 81 kein entsprechender Verkauf stattfindet.75) Die Höhe der Zinsen richtete sich nach den vertraglichen Vereinbarungen, die zwischen Schuldner und dem Sonderrechtsgläubiger vereinbart wäre. Liegen solche Regelungen nicht vor, geltend die gesetzlichen Vorgaben für den Fall des Verzugs.76) Grundlage für die Zinsberechnung ist der Betrag der anlässlich der Verwertung voraussichtlich an den Absonderungsgläubiger fließen wird. Letzterer ist notfalls zu schätzen. ___________ 71) 72) 73) 74) 75) 76)
Büchler in: HambKomm-InsO, § 165 Rz. 19. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 166 Rz. 2; Braun-Dithmar, InsO, § 166 Rz. 1. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 166 Rz. 2. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 168 Rz. 22. Scholz in HambKomm-InsO, § 169 Rz. 3; Nerlich/Römermann-Becker, InsO, § 169 Rz. 12 f. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 169 Rz. 5.
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§ 29 2.5
Teil V Einzelfragen Schutz vor Wertverlust
82 Gerade im Fall der Fortführung der Betriebstätigkeit bringt die Einbeziehung der Absonderungsrechte eine ggf. dauerhafte „Entrechtung“ der Sonderrechtsgläubiger mit sich. Soweit durch die Benutzung des Absonderungsguts ein Wertverlust eintritt, ist die Insolvenzmasse gemäß § 172 InsO verpflichtet, in gleicher Höhe Zahlung an den Absonderungsgläubiger zu leisten. Dies gilt jedenfalls insoweit, als dieser aus der Verwertung Befriedigung erlangt hätte.77) 83 Anders als die Zinszahlungspflicht nach § 169 InsO, besteht die Zahlungspflicht wegen Wertverlusts ab der Verfahrenseröffnung und erstreckt sich bis zur endgültigen Verwertung des Sicherungsguts. Sie endet also auch, wenn die Summe der geleisteten Zahlungen den aus der Verwertung des Gegenstandes zugunsten des Sonderrechtsgläubigers erzielbaren Betrag erreicht hat.78)) Der Hinweis im Gesetz auf „laufende“ Zahlungen legt nahe, dass diese aus der Masse79) wohl monatlich zu leisten sind.80)) 2.6
Ersatzabsonderung
84 In der Praxis der Betriebsfortführung kommt es daneben vor, dass ein Gegenstand, an dem ein Absonderungsrecht besteht, vom Schuldner oder Verwalter unberechtigt veräußert wird. Für diese Fälle ist anerkannt, dass die Regelungen zur Ersatzaussonderung entsprechend angewendet werden.81)) Der Absonderungsgläubiger kann vom Insolvenzverwalter die Abtretung der Rechte auf Gegenleistung verlangen, soweit diese noch ausstehen. Ist die Gegenleistung schon eingegangen, d. h zur Masse gelangt, kann der Sonderrechtsgläubiger sie unter analoger Anwendung der Vorschriften über die Ersatzaussonderung (siehe Rz. 71) herausverlangen, soweit sie noch unterscheidbar vorhanden ist.82) V.
Konkurrenz von Sonderrechten
85 Eine besondere Schwierigkeit in der Praxis der Betriebsfortführung entsteht, wenn mehrere Gläubiger gleiche oder unterschiedliche Sonderrechte an ein und demselben Gegenstand bzw. Recht geltend machen. Dies betrifft gerade zu Beginn einer Fortführungssituation oftmals Sicherungsgut (Warenbestände, Halbfertige etc.), dem im Fall einer Betriebsschließung bestenfalls ein Schrottwert zugeordnet werden kann. Streitigkeiten müssen im Interesse einer erfolgreichen Betriebsfortführung und zur Erreichung eines optimalen Verwertungsergebnisses unbedingt vermieden werden. 86 Dies erreicht der Verwalter in der Regel durch eine direkte und umfassende Abstimmung mit den Sonderrechtsgläubigern. Auch in diesem Zusammenhang ist schon zu Beginn des Verfahrens eine offene Informationspolitik, ggf. durch Übersendung lieferantenbezogener Inventurlisten oder die Möglichkeit zur Inaugenscheinnahme durch den Gläubiger, unerlässlich.
___________ 77) 78) 79) 80) 81)
Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 172 Rz. 8. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 172 Rz. 13. Rattunde/Smid/Zeuner-Smid, InsO, § 172 Rz. 9; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 172 Rz. 9. Kern in: MünchKomm-InsO, § 172 Rz. 36. BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, BGHZ 221, 10 = NJW 2019, 1940, 1942; Scholz in: HambKommInsO, § 48 Rz. 31. 82) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 48 Rz. 41; Scholz in: HambKomm-InsO, § 48 Rz. 24 ff., 31.
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Die Stellung der Sonderrechtsgläubiger in der Betriebsfortführung 1.
§ 29
Kollisionslagen
Die Kollision von Sonderrechten ist in verschiedensten Weisen denkbar.83) Für die Praxis 87 der Betriebsfortführung können allerdings zwei Hauptfälle unterschieden werden: 1.1
Verarbeitung von Ware
Wenn mehrere Lieferanten Ware unter Eigentumsvorbehalt und Verwendung einer Ver- 88 arbeitungsklausel an den Schuldner geliefert haben und letzterer aus diesen Gegenständen eine neue Sache herstellt, erwachsen den Lieferanten Miteigentumsrechte an der in der Betriebsfortführung produzierten Ware.84) Die Lieferanten stehen bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche in diesem Fall nebeneinander. Im Fall der späteren Verwertung der neu hergestellten Ware sind diese Lieferanten anteilig, d. h. in der Höhe des Wertes der von ihnen gelieferten und in die Ware eingebrachten Teile, zu befriedigen.85) Die damit quotal zu befriedigenden Ansprüche machen nicht nur bei der späteren Aufteilung 89 Probleme. Schon die Erfassung und anschließende Bewertung stellt den Verwalter vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten, da er meist mit überzogenen Vorstellungen von der Wertigkeit der Waren auf Seiten der Lieferanten konfrontiert wird. Umso wichtiger ist die frühzeitige Einbeziehung dieser Lieferanten und die Offenlegung der Verwertungsaussichten, um so die Grundlage für die spätere Vereinbarung zur Aufteilung zu legen (siehe Rz. 93 f.). 1.2
Kollision verschiedener Absonderungsrechte
Häufig kommt es in der Situation der Fortführung der Betriebstätigkeit daneben zur Kolli- 90 sion „hintereinander geschalteter“ Absonderungsrechte. In dem Fall, in dem der Schuldner einen Gegenstand mehrfach sicherungsübereignet hat, muss der Verwalter prüfen, welches Sicherungsrecht zeitlich zuerst begründet wurde.86)) Denn die zeitlich frühere Verfügung bzw. das zeitlich früher entstandene Recht, geht der späteren Verfügung und dem jüngeren Recht vor (sog. Prioritätsprinzip).87) Ähnliches gilt auch im Fall der Kollision zwischen dem Vermieterpfandrecht mit Raum- 91 sicherungsübereignungsverträgen. Auch hier gilt grundsätzlich der Prioritätsgedanke, d. h. für die Frage, wessen Absonderungsrecht sich durchsetzt, ist die zeitliche Abfolge entscheidend. Hinterfragt werden muss also, welches Recht zeitlich früher begründet wurde.88) Die Rechtsprechung hat dem Vermieterpfandrecht allerdings im Verhältnis zu Raumsicherungsübereignungsverträgen einen Vorrang eingeräumt. Dies gilt auch für Fälle, in denen zum Zeitpunkt der Einbringung der Sache in die Mieträume oder auf das Mietgrundstück der Raumsicherungsübereignungsvertrag bereits bestand.89)) Selbst dann wird die Sache in dem Moment vom Vermieterpfandrecht erfasst, indem es auf das Grundstück oder in die Räumlichkeit eingebracht wird.90) ___________ Umfassende Übersicht: Mitlehner, Mobiliarsicherheiten, S. 515 ff. Vgl. hierzu: Erger/Gräler, NJOZ 2012, 1865; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 51 Rz. 41. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 51 Rz. 18. Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 51 Rz. 14. BGH, Urt. v. 6.3.1997 – IX ZR 74/95, ZIP 1997, 632; vgl. auch §§ 879, 1209 BGB, § 804 Abs. 3 ZPO, § 10 ZVG. 88) BGH, Urt. v. 14.12.2006 – IX ZR 102/03, ZIP 2007, 191; Uhlenbruck-Borries/Hirte, InsO, § 140 Rz. 61 f. 89) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 50 Rz. 33. 90) OLG Hamm, Urt. v. 11.12.1980 – 4 U 131/80, ZIP 1981, 165, 166; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 50 Rz. 24. 83) 84) 85) 86) 87)
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§ 29
Teil V Einzelfragen
92 Nahezu in jeder Betriebsfortführung wird der Verwalter mit der Kollision von Eigentumsvorbehaltsrechten der Lieferanten und Ansprüchen aus Raumsicherungsübereignungsverträgen der beteiligten Banken konfrontiert. Den Kreditinstituten werden in der Regel zur Deckung bestehender Finanzierungen sämtliche Waren im Warenlager sicherungsübereignet. An den Gegenständen machen die Lieferanten im weiteren Verlauf dann aber in der Regel erweiterte Eigentumsvorbehaltsrechte geltend, wobei auch die Bank auf die späteren Verwertungserlösen zugreifen will. In diesem Spannungsverhältnis ist den Eigentumsvorbehaltsrechten der Lieferanten der Vorrang einzuräumen, d. h. der Raumsicherungsübereignungsvertrag muss vorsehen, dass Eigentumsvorbehaltsware ausgeschlossen ist. 2.
Verwertungsgemeinschaften
93 Ein Sonderrechtsgläubiger, der seine Rechte zweifelsfrei gegenüber dem Insolvenzverwalter nachweisen kann, wird keine Notwendigkeit sehen, seine Aus- und Absonderungsrechte i. R. einer Sicherheitenverwertungsgemeinschaft91) geltend zu machen. In den Fällen, in denen der Nachweis allerdings nicht gelingt, macht die gemeinschaftliche Verfolgung verstärkt Sinn und muss als notwendiger Baustein zur Ermöglichung einer erfolgreichen Betriebsfortführung angesehen werden. 94 Das angesprochene Nachweisproblem ist immer dann gegeben, wenn der sog. Nämlichkeitsnachweis nicht gelingt. Letzterer erfordert den Beweis, dass ein ganz bestimmter Gegenstand im Eigentum des Lieferanten steht. In der Praxis werden häufig gleichartige Waren mehrerer Lieferanten in die Produktion einbezogen und diese können in der Regel nicht eindeutig zugeordnet werden. In dieser Situation ist die Gründung eines Lieferantenpools zur gemeinschaftlichen Durchsetzung nahezu unverzichtbar, da nur so eine Entschärfung des Konflikts zwischen den konkurrierenden Gläubigern einerseits und die Lösung des Nachweisproblems gegenüber dem Insolvenzverwalter andererseits erreicht werden kann.
___________ 91) Ausführlich dazu: Mitlehner, Mobiliarsicherheiten, S. 497 ff.
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§ 30 Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung Bograkos
Übersicht I. II. 1. 2. III. 1. 2. IV. 1. 2. 3. 4. V.
1. 2.
Einführung................................................ 1 Problemstellung im Falle einer Betriebsfortführung ....................... 3 Taktische Überlegungen ........................... 3 Auswirkung der Anfechtung .................... 6 Dogmatische Grundlagen ..................... 13 Entstehung und Erlöschen des Anfechtungsanspruchs ..................... 13 Inhalt des Anfechtungsanspruchs .......... 15 Durchsetzungspflicht und Aufgaben des Insolvenzverwalters......................... 18 Grundlagen .............................................. 18 Zulässigkeit des Vergleichs ..................... 23 Der Anfechtungsanspruch als Vergleichsgegenstand......................... 24 Ermessensspielraum des Insolvenzverwalters ................................................. 26 Die zivilrechtliche Haftung bei Verstoß gegen die Pflicht zur Anfechtung ...................................... 31 Vorbemerkung......................................... 31 Die Pflichtverletzung .............................. 32 2.1 Allgemeines.................................... 32
2.2 2.3
Pflicht zur Anfechtung ................. 34 Auswahl bei mehreren Haftungsschuldnern...................... 39 VI. Die strafrechtliche Haftung des Insolvenzverwalters......................... 42 1. Unterlassene Vermögensmehrung ......... 42 2. Pflichtverletzung ..................................... 48 3. Vermögensschaden.................................. 52 VII. Vertrauenstatbestand, Verzicht und Erlassvertrag ........................................... 53 1. Anforderungen an Treu und Glauben und dem Ausschluss der Anfechtung .... 55 2. Vertrauensschutz im Rahmen des Schutzschirmverfahren ..................... 66 3. Zulässigkeit eines Verzichts.................... 70 4. Aufrechnung mit Anfechtungsanspruch................................................... 74 4.1 Aufrechnung gegen Masseverbindlichkeiten ........................... 75 4.2 Aufrechnung gegen den Quotenanspruch.................................... 76 VIII. Zusammenfassung.................................. 78
Literatur: Bork, Die insolvenzrechtliche Anfechtung: Sanierungsmittel oder Sanierungshindernis, in: Festschrift für Hans Peter Runkel, 2009, S. 243; Bork, Kann der (vorläufige) Insolvenzverwalter auf das Anfechtungsrecht verzichten?, ZIP 2006, 589; Bork, Verfolgungspflichten – Muss der Insolvenzverwalter alle Forderungen einziehen, ZIP 2005, 1120; Diversy/Weyand, Insolvenzverwalter und Untreuetatbestand, ZInsO 2009, 802; Dobmeier, Die Aufrechnung durch den Insolvenzverwalter, ZInsO 2007, 1208; Frind, Die Übertragbarkeit der Grundsätze zum „anfechtungshindernden“ Vertrauen im Regelinsolvenzverfahren auf das Eigenverwaltungsverfahren, ZInsO 2019, 1292; Frind, Insolvenzanfechtung – unverzichtbarer Baustein zur gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung und zur Stärkung der Ordnungsfunktion oder Instrument zur Gefährdung des Wirtschaftsverkehrs?, ZInsO 2014, 1985; Gehrlein, Anfechtung versus Sanierung, WM 2011, 577; Haarmeyer/Beck, Die Praxis der Abweisung mangels Masse oder der Verlust der Ordnungsaufgabe des Insolvenzrechts, ZInsO 2007, 1065; Huber, Unschuldsvermutung im Anfechtungsrecht, ZInsO 2008, 929; Huber, Zur Frage der ausschließlichen Geltendmachung des Quotenverringerungsschadens durch Konkursverwalter, NZI 2004, 497; Kirstein, Das konkrete und das virtuelle Vermögen der Masse, ZInsO 2008, 830; Kirstein, Ausführungen zu real existierenden Situationen bei Eröffnungs- und Befriedigungsquoten in Insolvenzverfahren, ZInsO 2006, 966; Kreft, Vergleich über Anfechtungsansprüche, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 965; Lüke, Der Sonderinsolvenzverwalter, ZIP 2004, 1693; Meyer-Löwy/Poertzgen/Sauer, Neue Rechtsprechung zur Insolvenzverwalterhaftung im Überblick, ZInsO 2005, 691; Pape, Keine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters für die Kosten des Prozessgegners der Insolvenzmasse, ZInsO 2005, 138; Paulus, Zum Verhältnis von Aufrechnung und Insolvenzanfechtung, ZIP 1997, 569; Rost/Lind, Die Aufrechnung des Insolvenzverwalters gegen eine Insolvenzforderung nach ihrer Feststellung, ZInsO 2012, 2179; Schluck-Amend, Voraussetzungen für die Betriebsfortführung und Absicherung der Vertragspartner durch Begründung von Masseverbindlichkeiten im Eröffnungsverfahren, ZRI 2021, 913; Schramm, Untreue durch Insolvenzverwalter, NStZ 2000, 398.
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§ 30 I.
Teil V Einzelfragen Einführung
1 Es ist Zweck der Insolvenzanfechtung sachlich ungerechtfertigte Vermögensverschiebungen, die zu einer Verkürzung der Masse geführt haben, zugunsten aller Insolvenzgläubiger und zur Verwirklichung der „par condicio creditorum“ rückgängig zu machen. Anfechtung ist folglich Mittel zur Massemehrung und Gegenmittel für Massearmut.1) Obgleich darüber in der Theorie vollkommenes Einvernehmen herrscht, offenbart die Praxis immer noch erhebliche Defizite bei der Umsetzung der zentralen Ordnungsfunktion des Insolvenzanfechtungsrechts.2) Dem beschriebenen Anfechtungszweck steht gegenüber das Vertrauen des späteren Anfechtungsgegners auf die Rechtsbeständigkeit seines Erwerbs. In diesem Interessenkonflikt versucht das Gesetz einen gerechten Ausgleich dadurch herbeizuführen, dass es zwar den Begriff der Vermögensweggabe weit, die einzelnen Anfechtungstatbestände – diese in ihrem Ausmaß wiederum unterschiedlich je nach den konkreten Normzwecken – eng fasst. 2 Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen im Insolvenzverfahren kann einen der wichtigsten Beiträge zur Wiederherstellung der Haftungsmasse leisten, die den Gläubigern bei einer rechtzeitigen Antragstellung des insolventen Schuldners zur Verfügung gestanden hätte. Insoweit kommt dem Anfechtungsrecht zur Durchsetzung rechtmäßigen Verhaltens in der Krise auch eine bedeutende Ordnungsfunktion zu, führt es doch dazu, dass nicht nur die bewusste, gläubigerschädigende Verschiebung von Vermögen, sondern auch konguente Deckungen des Schuldners in kritischer Zeit wie auch die Entgegennahme solcher Zahlungen mit dem Risiko der späteren anfechtbaren Rückzahlung belastet werden.3) II.
Problemstellung im Falle einer Betriebsfortführung
1.
Taktische Überlegungen
3 Neben allen grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Ausübung von Anfechtungs- und Haftungsansprüchen gegen Dritte sowie Gesellschafter und Geschäftsführer4) kommen unter den Bedingungen einer Betriebsfortführung auch taktische Aspekte hinzu. Mögliche Anfechtungsgegner sind in der Regel wesentliche Beteiligte des Insolvenzverfahrens. Auf ihre Unterstützung (wesentliche Lieferanten) ist der fortführende Verwalter angewiesen, wenn es sich bei den Anfechtungsgegnern um Geld- oder Warenkreditgeber, Gesellschafter oder ihnen nahestehende Personen handelt, da letztere häufig an Auffang- oder Reorganisationslösungen beteiligt sind und das hierfür benötigte Kapital aufbringen. ___________ 1) Vgl. für alle Thole in: HK-InsO, § 129 Rz. 1 ff. 2) Huber, NZI 2004, 497; Kirstein, ZInsO 2008, 830; bei zur Stellung eines Insolvenzantrages nach deutschem Recht gesetzlich verpflichteten Schuldnern betrug die Eröffnungsquote im Jahr 2006 durchschnittlich 54,24 %. Dabei variieren die Eröffnungsquoten auf die Bundesländer bezogen zwischen 42,99 % in Berlin und 74,16 % in Hamburg. Bricht man diese Werte sodann auch auf die einzelnen Insolvenzgerichte herunter, so ergeben sich z. B. für das Jahr 2005 Spannbreiten von 12 % am AG Leer und 92,31 % am AG Niebüll und für das Jahr 2006 von 19,57 % beim AG Meppen und 92,31 % am AG Husum bzw. 100 % bei AG Nordenham. Vgl. die Darstellung bei Haarmeyer/Beck, ZInsO 2007, 1065; Frind, ZInsO 2014, 1985. Ausdrücklich in diesem Sinne BGH, Beschl. v. 17.7.2008 – IX ZB 225/07, ZIP 2008, 1793; vgl. dazu auch Huber, ZInsO 2008, 929, der auf die Defizite systematischer Ermittlung z. B. von Anfechtungstatbeständen hinweist. Zu den Disproportionalitäten bei der Verfolgung und Durchsetzung vgl. die empirische Darstellung bei Kirstein, ZInsO 2006, 992. 3) BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491; BGH, Urt. v. 12.2.2015 – IX ZR 180/12, ZIP 2015, 585; OLC Celle, Urt. v. 8.10.2015 – 16 U 17/15, ZInsO 2015, 2444. 4) Vgl. zu § 64 GmbHG a. F. und § 135 InsO: BGH, Urt. v. 9.10.2012 – IX ZR 298/11, ZIP 2012, 2391; BGH, Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557; BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174; zu § 135 InsO: BGH, Urt. v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, ZIP 2011, 2417; BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, ZIP 2013, 582; BGH, Urt. v. 3.6.2014 – II ZR 100/13, ZIP 2014, 1523.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 Die Ausübung der Anfechtung – insbesondere die Vorsatzanfechtung – beinhaltet zudem 4 für die Anfechtungsgegner ein moralisches Werturteil, in dem bestimmten Gläubigern, Dritten oder Gesellschaftern vorgeworfen wird, dass sie die wirtschaftliche Notsituation des Schuldners zum eigenen Vorteil ausgenutzt haben. Auseinandersetzungen im Bereich der Anfechtung sind daher wechselseitig durch Polemik und Schärfe gekennzeichnet. Sie wirken sich nachteilig auf eine Betriebsfortführung aus, in der die Zahl der Nebenkriegsschauplätze zur Vermeidung von Risiken und Störungen begrenzt werden muss, da gerade die Normadressaten der Ansprüche eng an der Betriebsfortführung beteiligt sind.5) Mögliche Anfechtungstatbestände gehören daher zur Verhandlungsmasse bei Vereinbarun- 5 gen zwischen Verwalter und Gläubigern oder sonstigen an einer Betriebsfortführung beteiligten Dritten, bei denen es um die Modalitäten zur Aufrechterhaltung der betrieblichen Strukturen, der Belieferung mit Ware, der Abnahme von Produkten oder der Bereitstellung von Liquiditätskrediten geht. Die sich mit der Verfolgung i. R. der Betriebsfortführung ergebenden tatsächlichen als auch rechtlichen Fragestellungen sollen daher näher untersucht werden.6) 2.
Auswirkung der Anfechtung
Zunächst können
6
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vorinsolvenzrechtliche Sanierungsmaßnahmen einerseits und
x
sanierungsbegleitende Maßnahmen andererseits angefochten werden.
Im ersten Fall ist die Sanierung in der Krise des Unternehmens versucht worden, aber sie 7 ist gescheitert.7) Es kommt zum Insolvenzverfahren und der Insolvenzverwalter prüft die Anfechtbarkeit einzelner Sanierungshandlungen.8) Im zweiten Fall unternimmt der Insolvenzverwalter selbst die Sanierung und fragt sich, 8 inwieweit sich die Anfechtung sanierungsfördernd oder sanierungshemmend auswirken könnte.9) Der Insolvenzverwalter, der i. R. der Betriebsfortführung versucht, das insolvente Unter- 9 nehmen zu sanieren, muss der Frage nachgehen, ob dabei das Anfechtungsrecht hilfreich oder hinderlich ist. Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden. Vielmehr ist zu differenzieren. Jede Betriebsfortführung eines zahlungsunfähigen Unternehmens setzt zwingend die Be- 10 schaffung liquider Mittel voraus. Das ergibt sich schon daraus, dass ein Unternehmen nur dann als saniert gelten darf, wenn es nicht mehr insolvent, insbesondere nicht mehr zahlungsunfähig ist. Nun scheint die Insolvenzanfechtung zunächst einmal zur Verbesserung der Liquiditätslage beizutragen. Insbesondere kann so häufig die Erfüllung der Masseverbindlichkeiten gewährleistet werden, die im Zuge der Sanierung anfallen. Letztlich darf aber dieser Liquiditätseffekt unter dem Rechtsbegriff der Zahlungsunfähigkeit nicht überbewertet werden, weil ja dem Liquiditätsgewinn durch die Rückzahlung des Anfechtungsgegners eine Erhöhung der Schuldenmasse gegenübersteht, die darauf beruht, dass die anfechtbare befriedigte Forderung des Anfechtungsgegners in Folge der Rückzahlung gemäß ___________ 5) Gehrlein, WM 2011, 577. 6) Frind, ZInsO 2019, 1292. 7) BGH, Urt. v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, ZIP 1998, 248; BGH, Beschl. v. 10.2.2011 – IX ZR 176/08, GWR 2011, 144; BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 52/10, ZIP 2013, 894; BGH, Urt. v. 3.4.2014 – IX ZR 201/13, ZIP 2014, 1032. 8) BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137; BGH, Urt. v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, ZRI 2022, 267 = ZIP 2022, 589. 9) Vgl. dazu: Bork in: FS Runkel, S. 241, 243 ff.
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§ 144 Abs. 1 InsO wieder auflebt.10) Die Liquiditätsbilanz bleibt damit gleich. Ein tatsächlicher Liquiditätsgewinn ist mit der Insolvenzanfechtung erst dann verbunden, wenn sie mit erheblichen Forderungsverzichten auf der Passivseite einhergeht. 11 Deutlich besser sieht es aus, wenn die Bestellung von Sicherheiten angefochten werden kann.11) Denn dadurch wird zum einen freie Masse generiert. Der Insolvenzverwalter kann die infolge der Anfechtung unbelasteten Vermögensgegenstände anderweitig einsetzen, etwa zur Absicherung eines Kredites für die Betriebsfortführung.12) 12 Eine nicht unbedeutende Rolle spielt für die Praxis der Betriebsfortführung, ob der Insolvenzverwalter auf bestehende Anfechtungs- und Haftungsansprüche verzichten kann, wenn er nur so einen Gläubiger dazu beibringen kann, einen notwendigen Sanierungsbeitrag zu leisten.13) Für das Gelingen der Sanierung mit Hilfe des Schutzschirmverfahrens ist die Frage nach bestehenden Haftungs- und Anfechtungsrisiken von zentraler Bedeutung. Zu diesen Problemkreisen liegt bisher – soweit ersichtlich – keine Rechtsprechung vor. Die Sanierungsbemühungen können deshalb in diesem Bereich mit erheblichen Rechtsunsicherheiten belastet sein. III.
Dogmatische Grundlagen
1.
Entstehung und Erlöschen des Anfechtungsanspruchs
13 Der Anspruch auf Rückgewähr entsteht nach ständiger Rechtsprechung unmittelbar mit der Insolvenzeröffnung aufgrund eines gesetzlichen, auf Rückgewähr gerichteten Schuldverhältnisses14) und wird damit zugleich fällig.15) Einer besonderen Anfechtungserklärung oder -handlung bedarf es nicht.16) 14 Der BGH führt hierzu aus, dass der Anspruch auf Rückgewähr auf einem gesetzlichen Schuldverhältnis beruht und voraussetzt, dass sich einer der Anfechtungstatbestände verwirklich hat; einer einseitigen Anfechtungserklärung bedarf es daher insoweit nicht. Der Anfechtungsanspruch entsteht schon mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens, nicht erst mit Erhebung der Anfechtungsklage, denn auch derjenige erfüllt den Anspruch, der dem außergerichtlichen Verlangen des Insolvenzverwalters auf Rückgewähr des anfechtbar Erlangten Folge leistet.17) 2.
Inhalt des Anfechtungsanspruchs
15 Entsprechend dem Zweck der Insolvenzanfechtung ist nach ganz h. M.18) Inhalt des Anfechtungsanspruchs die Pflicht zur Rückgewähr dessen, „was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist.“ Dieser Anspruch geht grundsätzlich auf Rückgewähr in Natur (Primäranspruch). Nur dann, wenn der Gegenstand selbst nicht mehr vorhanden ist, schuldet der Anfechtungsgegner Wertersatz (Sekundäranspruch); dieser Anspruch besteht also nicht etwa wahlweise, obgleich sich der Insolvenzverwalter i. R. seines wirtschaftlichen Ermessens mit einem Wertersatz begnügen kann.19) ___________ 10) BGH, Urt. v. 22.11.2012 – IX ZR 22/12, ZIP 2013, 81. 11) BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137; OLG Celle, Urt. v. 23.10.2003 – 16 U 199/02, NJW 2003, 3638 = ZIP 2003, 2118. 12) Bork in: FS Runkel, S. 241 ff. 13) Gehrlein, WM 2011, 577. 14) BGH, Urt. v. 13.12.2007 – IX ZR 116/06, ZIP 2008, 455. 15) BGH, Urt. v. 1.2.2007 – IX ZR 96/04, ZIP 2007, 488. 16) Kayser/Freudenberg in: MünchKomm-InsO, § 129 Rz. 186; BGH, Urt. v. 24.9.2015 – IX ZR 55/15, ZIP 2016, 30; BGH, Urt. v. 14.2.2013 – IX ZR 94/12, ZIP 2013, 588. 17) BGH, Urt. v. 9.7.1987 – IX ZR 167/86, ZIP 1987, 1132. 18) Vgl. dazu BGH, Urt. v. 15.12.1994 – IX ZR 153/93, ZIP 1995, 134; Rogge/Leptien in: HambKomm-InsO, vor § 129 Rz. 1 ff. 19) BGH, Beschl. v. 24.5.2012 – IX ZR 142/11, NZI 2012, 713.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 Ein Verzicht auf das Anfechtungsrecht ist nicht möglich, wohl aber ein Vergleich des In- 16 solvenzverwalters mit einem potenziellen Anfechtungsgegner über den Anfechtungsanspruch,20) wobei aber auch hier ein Haftungsrisiko des Insolvenzverwalters i. R. der Betriebsfortführung besteht. Der Natur eines gesetzlichen Anspruchs folgend ist die Feststellung und Durchsetzung 17 des Rückgewähranspruchs weder davon abhängig, dass die Gläubiger oder Gläubigergremien dies fordern, noch wird der Insolvenzverwalter durch eine anders gelagerte Beschlussfassung der Gläubiger gebunden. Beschließt mithin die Gläubigerversammlung oder der Gläubigerausschuss die „Nichtverfolgung“ von Anfechtungsansprüchen, so exkulpiert dies den Insolvenzverwalter nicht von einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme, da das Anfechtungsrecht als gesetzlicher Anspruch nicht disponibel ist und zugleich der Durchsetzung der öffentlich- rechtlich konstruierten Ordnungsfunktion dient.21) Eine Ausnahme gilt nur, wenn einer entsprechenden Beschlussfassung konkrete Berechnungen und Nachweise zur Unwirtschaftlichkeit der Durchsetzung im Einzelfall zugrunde liegen. IV.
Durchsetzungspflicht und Aufgaben des Insolvenzverwalters
1.
Grundlagen
Aus der Qualität des Anfechtungsanspruchs als eines gesetzlichen Anspruchs zur Masse- 18 mehrung und zur Durchsetzung der Ordnungsfunktion des Insolvenzverfahrens folgt, dass dem Insolvenzverwalter i. R. von § 159 InsO als Treuhänder fremden Vermögens die Pflicht zur Durchsetzung des Anfechtungsanspruchs obliegt.22) Ein Verzicht darauf ist weder rechtlich möglich noch zulässig, er wäre auch schlicht insolvenzzweckwidrig.23) Der Insolvenzverwalter ist daher schon aufgrund seiner Stellung und seines Amtes ver- 19 pflichtet, den gesetzlichen Anspruch im Interesse der Gesamtgläubigerschaft durchzusetzen und der Masse anfechtbar erlangte oder entzogene Vermögenswerte wieder zuzuführen. Diese Pflicht lässt sich insoweit aus der gesetzlichen Regelung des § 159 InsO unmittelbar, aber auch des § 208 Abs. 3 InsO mittelbar – selbst für den Fall der Masseunzulänglichkeit, nicht jedoch Massearmut24) – entnehmen. Die Mittel dazu stellt das in den §§ 129 ff. InsO geregelte Anfechtungsrecht bereit. Aus 20 dieser gesetzlichen Aufgabenzuweisung folgt denknotwendig die Verpflichtung zur Ermittlung aller möglichen anfechtungs- oder haftungsrechtlich relevanten Ansprüche, die sich wiederum zwingend mit der Ermittlung des Zeitpunktes des Eintritts der materiellen Insolvenz verbinden und zwar schon im Eröffnungsverfahren.25) ___________ 20) Ausführlich Kreft in: FS Schmidt, S. 965 ff.; Bork, ZIP 2006, 589. 21) BGH, Urt. v. 1.2.2007 – IX ZR 96/04, ZIP 2007, 488. 22) Spliedt in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3 Rz. 452; s. a. v. Bismarck in: Beck/Depré/ Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 33 Rz. 19 m. w. N. 23) Bork in: FS Runkel, S. 241, 243 ff. 24) Der BGH führt hierzu wie folgt aus: „Wie sich aus § 129 Abs. 1 InsO ergibt, nimmt der Insolvenzverwalter mit der Anfechtung von Rechtshandlungen nach Maßgabe der §§ 130 bis 146 InsO eine ihm mit seinem Amt übertragende Aufgabe wahr. Diese Aufgabe obliegt ihm sogar dann, wenn der aus einer Anfechtung zu erzielende Erlös wegen der vorweg zu befriedigende Verfahrenskosten (§ 54 InsO) nicht an die Insolvenzgläubiger verteilt werden kann […]. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit hat Auswirkungen auf die Verteilung der vorhandenen Masse (§§ 208, 209 InsO), nicht jedoch auf den Aufgabenkreis des Insolvenzverwalters. Der Verwalter bleibt vielmehr verpflichtet, das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und zu verwerten(§ 208 Abs. 3 InsO). Dazu gehört es, Anfechtungsansprüche durchzusetzen. Anfechtungsansprüche sind Teil der Insolvenzmasse“, BGH, Beschl. v. 16.7.2009 – IX ZB 234/08, ZInsO 2012, 736; vgl. BGH, Beschl. v. 22.11.2012 – IX ZB 62/12, ZIP 2012, 2526: Die Massekostenarmut steht der Gewährung von Prozesskostenhilfe zugunsten des Insolvenzverwalters dann nicht entgegen, wenn durch die Verfolgung einer Forderung des Schuldners die Massearmut abgewendet wird. 25) Kirstein, ZInsO 2006, 992.
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21 Bei einem eindeutigen Sachverhalt kann sich der Verwalter daher auch nicht damit entlasten, dass die Anfechtung aufgrund der „Kann-Formulierung“ des § 129 Abs. 1 InsO gänzlich in sein Ermessen gestellt sei,26) sondern sein Ermessen umfasst nur die konkrete wirtschaftliche Abwägung zur Durchsetzung im jeweiligen Einzelfall. 22 Da es sich um eine insolvenzspezifische Verpflichtung gegenüber den Insolvenzgläubigern handelt, haftet der Insolvenzverwalter für deren Erfüllung nach § 60 InsO persönlich.27) 2.
Zulässigkeit des Vergleichs
23 Diese möglichen Auswirkungen eines Vergleichs über Anfechtungsansprüche i. R. der Betriebsfortführung lassen es geboten erscheinen, Zulässigkeit und Grenzen eines solchen Vergleichs näher zu untersuchen, um insbesondere letztlich erfolglosen Angriffen gegen derartige Vergleiche vorzubeugen und die Verfahrensbeteiligten vor unnötigen Beeinträchtigungen zu bewahren. 3.
Der Anfechtungsanspruch als Vergleichsgegenstand
24 Dass der Insolvenzverwalter sich über Anfechtungsansprüche28) vergleichen kann, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich anerkannt.29) Der Vergleich hat regelmäßig keine schuldumfassende Wirkung.30) 25 Es liegt nicht anders als bei sonstigen Ansprüchen der Masse, über die sich der Insolvenzverwalter unzweifelhaft vergleichen kann. Unwirksam ist ein solcher Vergleich – sofern es an Willensmängeln (§§ 116 ff. BGB), einem Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) oder einer Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) fehlt – nur unter den Voraussetzungen einer Insolvenzzweckwidrigkeit.31) Diese liegt vor, wenn der Widerspruch zum Insolvenzzweck (hier: der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger des insolventen Schuldners, § 1 Satz 1 InsO) unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten für jeden verständigen Beobachter ohne Weiteres ersichtlich ist und sich dem Geschäftspartner aufgrund der Umstände des Einzelfalls ohne Weiteres begründete Zweifel an der Vereinbarkeit der Handlung mit dem Zweck des Insolvenzverfahrens aufdrängen mussten, ihm also zumindest grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist.32) 4.
Ermessensspielraum des Insolvenzverwalters
26 Es ist anerkannt, dass dem Insolvenzverwalter wegen der mit seinem Amt verbundenen vielfältigen und schwierigen Aufgaben bei der Ausübung seiner Tätigkeit grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum zusteht.33) Dies wirkt sich auf seine Haftung aus. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten (hier: Schuldner, Insolvenzund Massegläubigern) zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er die Pflichten verletzt, die ihm nach der InsO obliegen. Nach § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO hat er (den Beteiligten) für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen.34) ___________ 26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34)
v. Bismarck in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 48 Rz. 20 m. w. N. BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, ZIP 1996, 420; Huber, NZI 2004, 497. Genauer: anfechtungsrechtliche Rückgewähransprüche nach § 143 Abs. 1 InsO. BGH, Urt. v. 24.6.2003 – IX ZR 228/02, ZIP 2003, 1554; BAG, Urt. v. 28.11.2007 – 6 AZR 377/07, ZIP 2008, 846. Grüneberg-Sprau, BGB, § 779 Rz. 11; BGH, Urt. v. 24.6.2003 – IX ZR 228/02, ZIP 2003, 1554. BGH, Beschl. v. 20.3.2008 – IX ZR 68/06, ZIP 2008, 884. BGH, Urt. v. 25.10.2007 – IX ZR 217/06, ZIP 2007, 2273. BGH, Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 175/02, ZIP 2003, 962. BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/09, ZIP 2010, 2356.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 Der dem Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen zustehende Ermessenspielraum ist überschritten, wenn die Maßnahme aus der Perspektive ex ante angesichts der mit ihr verbundenen Kosten, Aufwendungen und Risiken im Hinblick auf die Pflicht des Insolvenzverwalters die Masse zu sichern und zu wahren, nicht mehr vertretbar ist. Dabei ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht entsprechend auf die Haftung des Insolvenzverwalters bei unternehmerischen Entscheidungen anzuwenden. Der BGH35) hat entschieden, dass Maßstab aller unternehmerischen Entscheidungen des Insolvenzverwalters i. R. einer Betriebsfortführung der Insolvenzzweck der bestmöglichen gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger ist sowie das von den Gläubigern gemeinschaftlich beschlossene Verfahrensziel – Abwicklung des Unternehmens, Veräußerung oder Insolvenzplan – als Mittel der Zweckerreichung. Es sind die Besonderheiten zu beachten, die sich aus den Aufgaben des Insolvenzverwalters und aus den Umständen ergeben, unter denen er seine Tätigkeit ausübt. Bei der Fortführung eines insolventen Unternehmens steht der Verwalter regelmäßig vor besonderen Schwierigkeiten. Außer den Problemen, die sich unmittelbar aus der Insolvenz des Unternehmens ergeben, ist z. B. zu berücksichtigen, dass der Verwalter eine Einarbeitungszeit benötigt, wenn er ein fremdes Unternehmen in einem ihm möglicherweise nicht vertrauten Geschäftszweig übernimmt, und dass er häufig keine ordnungsmäßige Buchführung vorfindet. Er übt sein Amt also in der Regel unter erheblich ungünstigeren Bedingungen aus als der Geschäftsleiter eines wirtschaftlich gesunden Unternehmens. Soweit im Verfahren keine Unternehmensfortführung stattfindet, sondern die Verwertung der einzelnen Gegenstände des Schuldnervermögens betrieben wird, kommt ohnehin nur ein besonderer, speziell auf die Verwaltertätigkeit bezogener Sorgfaltsmaßstab in Betracht.36) Eine Pflichtverletzung ist zu verneinen, wenn der Insolvenzverwalter auf der Grundlage angemessener Informationen und in bestem Gewissen eine Entscheidung zum Wohle der Insolvenzmasse trifft, auch wenn sich ex post zeigt, dass es bessere Optionen gegeben hätte.37) Regelmäßig hat daher bei der Entscheidung des Insolvenzverwalters, einen Anfechtungsprozess zu führen oder davon abzusehen und einen Vergleich zu schließen, eine Gesamtabwägung stattzufinden. In diese haben insbesondere die Erfolgsaussichten, der Grad der Unsicherheit, die Grundlage etwaiger Zweifel und die wirtschaftliche Bedeutung des Streitgegenstandes einzufließen.38) Stets kommt es auf die konkrete Entscheidungslage an. Es kann Situationen geben, in denen es für die Insolvenzmasse günstiger ist, eine Prozessführung auch bei fraglos bestehender Erfolgsaussicht zu unterlassen und stattdessen einen der Sach- und Rechtslage angemessenen Vergleich zu schließen. Bei zweifelhafter Sachund/oder Rechtslage kann sich ein Vergleichsabschluss erst recht anbieten. In derartigen Fällen muss dem Insolvenzverwalter ein Entscheidungsermessen zum Ob eines Vergleichs und zur Höhe der Vergleichssumme zustehen, dessen Grenzen nicht kleinlich zu bemessen sind. V.
Die zivilrechtliche Haftung bei Verstoß gegen die Pflicht zur Anfechtung
1.
Vorbemerkung
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29
30
Die Tätigkeit des Insolvenzverwalters ist allgemein sehr haftungsgeneigt. Regelmäßig lösen 31 schwierige – wenn nicht gar völlig verfahrene und unübersichtliche – unternehmerische Situationen erst das Insolvenzverfahren aus. Andererseits ist der Verwalter gefordert, schnelle tatsächliche und prognostische Entscheidungen zu treffen, die sich optimal auf das weitere ___________ 35) 36) 37) 38)
BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, ZRI 2020, 303 = ZIP 2020, 1080. So Begr. RegE zu § 60 Abs. 1 InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129. Schmidt/Thole in: HK-InsO, § 60 InsO Rz. 14. Bork, ZIP 2005, 1120, 1121.
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Teil V Einzelfragen
Verfahren und der Betriebsfortführung auswirken sollen. Ihm stehen dabei umfangreiche Kompetenzen zu, bei deren Wahrnehmung sich leicht Fehler einschleichen. Derartige Missgriffe können zu erheblichen Massebeeinträchtigungen führen, für die der Verwalter unter Umständen einstehen muss. 2.
Die Pflichtverletzung
2.1
Allgemeines
32 Nicht die Nichtbeachtung beliebiger Pflichten führt zu einer Haftung auf der Basis des § 60 Abs. 1 InsO. Vielmehr muss der Verwalter eine insolvenzspezifische Obliegenheit verletzen, mithin eine Pflicht, die ihn unmittelbar nach den Bestimmungen der InsO trifft, und die besondere Risiken für die vom Handeln des Insolvenzverwalters betroffenen Personen birgt. Hierbei kann er die Masse insgesamt und damit die Gesamtheit von Schuldner und Gläubigern, aber auch einen einzelnen Beteiligten, demgegenüber die verletzte Pflicht bestand, schädigen; § 60 Abs. 1 InsO betrifft mithin sowohl Gesamt- wie auch Einzelschäden. 33 Nicht insolvenzspezifisch sind die Pflichten, die einen Verwalter gegenüber Geschäftspartner treffen, etwa bei oder nach dem Abschluss von Verträgen. Bei Geschäften mit dem Verwalter sind die Vertragspartner über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens informiert; dementsprechend müssen sie ihre Risiken selbst abschätzen und berücksichtigen, es sei denn, es greift die spezielle Regelung des § 61 InsO ein. Vergleichbares gilt für etwaige Verletzungen von (allgemeinen) Verkehrssicherungspflichten; auch hier besteht keine enge Verknüpfung zu Verwalterpflichten, die aus der InsO resultieren.39) 2.2
Pflicht zur Anfechtung40)
34 Der Verwalter muss auch stets prüfen, ob etwas durch anfechtbare und gläubigerbenachteiligende Handlungen aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben worden ist.41) Mit den §§ 129 ff. InsO stehen ihm hierbei weitreichende Instrumente zur Verfügung. Anfechtungsansprüche sind Masseansprüche. Macht der Verwalter sie nicht geltend, haftet er in gleichem Maße wie bei der sorgfaltswidrigen Behandlung von Vermögensgegenständen oder fehlerhaftem Forderungseinzug. Er muss aus diesem Grund allen Hinweisen auf anfechtungsrelevante Handlungsweisen vollständig nachgehen. 35 Unterlässt es der Insolvenzverwalter, einen Erfolg versprechenden Anfechtungsanspruch außergerichtlich bzw. im Fall des Scheiterns gerichtlich geltend zu machen, läuft er Gefahr, sich insbesondere gegenüber den Insolvenzgläubigern, aber auch gegenüber Massegläubigern und dem Schuldner, gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO schadensersatzpflichtig zu machen.42) Der Schaden wird regelmäßig ein die Beteiligten insgesamt treffender, nur von einem Sonderinsolvenzverwalter durchzusetzender Gesamtschaden sein. Ein einem einzelnen Gläubiger zugefügter Individualschaden wird kaum in Betracht kommen. Ebenso wenig hat der einzelne Gläubiger ein Antragsrecht auf Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters oder ein Beschwerderecht gegen die ablehnende Entscheidung des Insolvenzgerichts.43) ___________ 39) Brandes in: MünchKomm-InsO, § 61 Rz. 76. 40) S. Spliedt in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3 Rz. 450 ff. 41) S. etwa BGH, Urt. v. 22.4.2004 – IX ZR 128/03, ZIP 2004, 1218 m. Anm. Huber, NZI 2004, 496, dazu EWiR 2004, 817 (Gundlach/Schmidt); hierzu weiter Nasall, jurisPR-BGHZivilR 30/2004, Anm. 2; Lüke, ZIP 2004, 1693; Wagner, WuB VI B § 82 KO 2.04; Uhlenbruck, BGHReport 2004, 1197; Meyer-Löwy/ Poertzgen/Sauer, ZInsO 2005, 691, 694. 42) Bork in: FS Runkel, S. 243 ff. 43) BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZB 58/15, Rz. 19, ZIP 2016, 1738; BGH, Urt. v. 22.4.2004 – IX ZR 128/03, Rz. 14, ZIP 2004, 1218.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 Die Pflicht zur Anspruchsdurchsetzung ist jedoch nicht schrankenlos und stößt an ihre 36 Grenzen, wenn der Anspruch offensichtlich nicht besteht und eine Geltendmachung sittenwidrig ist.44) Es ist im Grundsatz anerkannt, dass dem Insolvenzverwalter wegen der mit seinem Amt verbundenen vielfältigen und schwierigen Aufgaben bei der Ausübung seiner Tätigkeit im Allgemeinen ein weiter – allerdings durch die Zwecke des Insolvenzverfahrens begrenzter – Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht.45) Dennoch: Bei einem eindeutigen Sachverhalt muss der Insolvenzverwalter seine Anfech- 37 tungsmöglichkeiten nutzen; es besteht eine diesbezügliche Durchsetzungspflicht. Denn sie ist Ausprägung der Gläubigergleichbehandlung,46) die auf die Zeit vor Antragstellung vorverlagert wird. Der Verwalter darf daher auf eine Anfechtung nur verzichten, wenn entweder ihr Erfolg, 38 etwa wegen eines unklaren und nicht weitere aufklärbaren Sachverhalts, mit erheblichen Zweifeln behaftet ist,47) oder aber sie durch andere Vorteile für die Gläubigergesamtheit aufgewogen wird, z. B. durch ersparte Prozesskosten bei einem nicht leistungsfähigen Anfechtungsgegner oder durch die Aufrechterhaltung einer Geschäftsverbindung, die für eine beabsichtigte Betriebsfortführung unverzichtbar ist.48) Abzuwägen hat er insbesondere, ob die Risiken, einen Titel zu erlangen und aus ihm mit Erfolg Vollstreckungsmaßnahmen zu betreiben, angesichts des finanziellen Aufwands im Einzelfall nicht zu groß sind.49) 2.3
Auswahl bei mehreren Haftungsschuldnern
Im Einzelfall können sich aufgrund desselben Sachverhalts Anfechtungsansprüche gegen- 39 über mehreren Erstattungsschuldner ergeben, etwa durch die Zahlung an einen Gläubiger, durch die der Schuldner gleichzeitig einen Dritten von seiner Mithaftung befreit,50) oder durch die Anweisung des Schuldners an einen Gläubiger, unmittelbare Zahlung an einen weiteren Gläubiger zu leisten.51) In den genannten Fällen gibt es in der Regel mehrere Erstattungsschuldner, denen gegenüber die Anfechtung erklärt werden kann. Gleiches gilt, wenn unterschiedliche Rechtsgrundlagen zu möglichen Erstattungsan- 40 sprüchen führen können, etwa dann, wenn ein Geschäftsführer wegen einer Masse schmälernden Zahlung an einen Gläubiger nach § 64 Satz 1 GmbHG a. F. haftet, gegenüber dem Gläubiger aber wegen der erlangten Befriedigung eine Anfechtung möglich ist.52) In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob dem Insolvenzverwalter ein Auswahler- 41 messen zusteht, oder ob er auf die Belange eines Erstattungsschuldners Rücksicht nehmen muss. Hier ist zu differenzieren: Sofern die Haftung mehrerer potenzieller Erstattungsschuldner allein auf dem Anfechtungsrecht beruht, spielen deren Belange im Einzelfall keine Rolle.53) Die Anfechtungs___________ x
44) BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, Rz. 12 f., ZInsO 2005, 146 = ZIP 2005, 131; BGH, Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 175/02, Rz. 21, ZIP 2003, 962; BGH, Urt. v. 26.6.2001 – IX ZR 209/98, Rz. 24, ZInsO 2001, 703 = DB 2001, 2241; Pape, ZInsO 2005, 138, 140. 45) BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 172/11, Rz. 8, ZIP 2013, 441; BGH, Urt. v. 25.4.2002 – IX ZR 313/99, Rz. 27, ZIP 2002, 1093. 46) Kind in: FK-InsO, § 60 Rz. 10 m. w. N. 47) v. Bismarck in: Beck/Depré/Ampferl, Praxis der Sanierung und Insolvenz, § 33 Rz. 19 m. w. N. 48) Spliedt in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3 Rz. 452. 49) Bork, ZIP 2005, 1120. 50) BGH, Urt. v. 20.7.2006 – IX ZR 44/05, ZIP 2006, 1591; hierzu Piepenbrock, NZI 2007, 384. 51) BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 121/06, ZIP 2008, 190; BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, ZIP 2012, 1038; BGH, Urt. v. 24.1.2013 – IX ZR 11/12, ZIP 2013, 371; BGH, Urt. v. 3.6.2014 – II ZR 100/13, ZIP 2014, 1523; BGH, Urt. v. 3.4.2014 – IX ZR 201/13, ZIP 2014, 1032; BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 215/13, ZIP 2015, 2083. 52) BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, ZIP 1996, 420. 53) So zu Recht BGH, Urt. 18.12.1995 – II ZR 277/94, ZIP 1996, 420; a. A. nur Spliedt in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3 Rz. 457 ff.
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haftung ist stets gesamtschuldnerisch.54) Unter den Betroffenen kann derjenige, der vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommen wird, nach Maßgabe des § 426 BGB Ausgleich verlangen, unabhängig davon, ob der Anfechtungsanspruch gegen einen der Betroffenen zwischenzeitlich verjährt ist.55) Damit kann der Insolvenzverwalter hier nach Belieben vorgehen. x
Bei verschiedenen Anspruchsgrundlagen verhält es sich nicht anders. So verjähren etwa Ansprüche gegen den Geschäftsführer wegen Masse schmälernder Auszahlungen nach fünf Jahren, §§ 64, 43 Abs. 4 GmbHG a. F., während die Anfechtungsmöglichkeit gemäß §§ 129 ff. InsO gegenüber einem erstattungspflichtigen Empfänger schon nach der regelmäßigen dreijährigen Verjährung des BGB nicht mehr besteht. Macht der Insolvenzverwalter bei derartigen Konstellationen Ansprüche gegen den Geschäftsführer geltend, darf dieser diesem Ansinnen nicht entgegenhalten, dass der Verwalter die Masseschmälerung beim Anfechtungsgegner hätte ausgleichen können.56)
VI.
Die strafrechtliche Haftung des Insolvenzverwalters
1.
Unterlassene Vermögensmehrung
42 Angesichts der vorgenannten engen insolvenzrechtlichen Pflichtenbildung drängt sich notwendig die ergänzende Frage auf, ob sich der Insolvenzverwalter i. R. der Betriebsfortführung für den Fall der Nichtermittlung und Nichtdurchsetzung wegen seiner besonderen Amtsstellung als Treuhänder fremden Vermögens ggf. auch wegen Untreue nach § 266 StGB strafbar machen kann – wodurch die Ermittlungs- und Durchsetzungspflicht noch einmal in besonderer Weise qualifiziert werden würde. 43 Bei der Untreue handelt es sich um ein Vermögensdelikt, einen Tatbestand, der das Vermögen „als Ganzes“ schützen soll. Untreue schützt weder das Vertrauen in die Pflichttreue des Täters noch die Redlichkeit des Rechtsverkehrs. Schutzgut ist auch nicht die Dispositionsfreiheit des Vermögensinhabers. Welcher Art die Vermögensbetreuungspflicht sein muss, lässt der Wortlaut des § 266 StGB nicht erkennen. Aus dem Wortlaut ergibt sich jedoch, dass die Pflicht sich aus „Gesetz, behördlichem Auftrag oder Rechtsgeschäft“ ergeben muss. 44 Für den Bereich der Insolvenzverwaltung ist insoweit auch anerkannt, dass der Insolvenzverwalter aufgrund seiner Amtsstellung tauglicher Täter des Sonderdeliktes des § 266 StGB sein kann.57) 45 Der Tatbestand hat zwei Alternativen: x
Den Missbrauch der Verfügungsbefugnis über fremdes Vermögen und
x
den Treuebruch.
46 Beide Varianten setzen die Verletzung einer besonderen Vermögensbetreuungspflicht voraus. 47 Nach einer im strafrechtlichen Schrifttum58) einheitlich verfolgten Auffassung, die auch durch die Rechtsprechung bestätigt worden ist, trifft den Insolvenzverwalter eine Vermögensfürsorgepflicht i. S. des Treubruchstraftatbestandes (§ 266 Abs. 2 Alt. 2 StGB). Die Pflicht bezieht sich auf das dem Insolvenzverwalter anvertraute Vermögen des insolventen ___________ 54) BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 121/06, ZIP 2008, 190. 55) BGH, Urt. v. 30.10.1980 – III ZR 132/79, NJW 1981, 681. 56) BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, ZIP 1996, 420; BGH, Urt. v. 3.6.2014 – II ZR 100/13, ZIP 2014, 1523. 57) Vgl. zum Ganzen Fischer, StGB, § 266 Rz. 9 ff. m. w. N. 58) Vgl. für alle Fischer, StGB, § 266 Rz. 9 ff.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 Schuldners.59) Er ist demnach gegenüber dem Insolvenzschuldner als auch gegenüber den Insolvenzgläubigern (§ 38 InsO), Massegläubigern (§ 58 InsO) und absonderungsberechtigten Gläubigern (§§ 49 ff. InsO) vermögensbetreuungspflichtig i. S. des § 266 StGB.60) 2.
Pflichtverletzung
Der Insolvenzverwalter müsste eine spezifische Treuepflicht durch die Nichtermittlung oder 48 Nichtverfolgung verletzen. Hierfür kommt jedes Verhalten in Betracht, das innerhalb des durch das Treueverhältnis begründeten Pflichtenkreises liegt,61) hier also die durch gerichtlichen Auftrag erteilte Befugnis zur Verfügung über fremdes Vermögen. Da die Tatbestände als Tathandlung nur eine Pflichtverletzung voraussetzen, können sie 49 gleichermaßen durch Tun oder Unterlassen erfüllt werden, an die Stelle der allgemeinen Voraussetzungen eines unechten Unterlassungsdelikts (z. B. Garantenpflicht, Entsprechungsklausel) tritt die Treupflicht.62) Beispiel: Mögliche Pflichtverstöße durch Unterlassen stellen z. B. masseverkürzende Maßnahmen wie das Verjährenlassen eines der Masse zustehenden Anspruchs dar.63) Der Anfechtungsanspruch selbst stellt einen der Masse zustehenden Anspruch dar (siehe oben), sodass bei Untätigkeit zur Realisierung dieses Vermögensanspruchs die Pflichtverletzung im vorgenannten Sinne auf der Hand liegt. Wird dieser entweder gar nicht ermittelt oder, trotz vorliegender Ermittlungsergebnisse und der Erwartung, dass ein Prozess erfolgreich geführt wird, nicht geltend gemacht, stellt dies ein Verjährenlassen eines der Masse zustehenden Anspruchs dar und erfüllt daher auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 266 StGB. So hat der BGH bereits 198264) zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsanwalt, 50 der eine Forderung verjähren lässt, der Untreue schuldig ist, wie folgt ausgeführt: „Der BGH hat mehrfach eine Treuepflicht i. S. des § 266 StGB angenommen, wenn die Amtsstellung oder rechtsgeschäftliche Vereinbarung den Täter zur Einziehung oder Durchsetzung von Forderungen verpflichteten.“
Ein unterbliebener Vermögenszuwachs fällt jedoch nur dann in den Schutzbereich der Straf- 51 bestimmung, wenn eine gesicherte Aussicht auf den Vermögenszuwachs bestanden hat,65) was aber notwendig voraussetzt, dass zumindest die Ermittlungspflicht erfüllt wird. Wird mithin ein gesetzlich der Masse zustehender Anspruch weder ermittelt noch durchgesetzt, dann liegt die Tatbestandsverwirklichung bereits im Unterlassen der Ermittlung selbst. Dass im Übrigen eine statistisch gesicherte Aussicht auf Durchsetzung anfechtungsrechtlicher Ansprüche überhaupt besteht, ergibt sich schon aus den öffentlich verfügbaren Erkenntnissen über Höhe und Werthaltigkeit dieser Ansprüche bei Kapitalgesellschaften, wie sie i. R. einer Langzeiterhebung erfasst worden sind.66) 3.
Vermögensschaden
Die Tathandlung (Pflichtverletzung durch Unterlassen) muss einen Nachteil für das Ver- 52 mögen des Betreuten verursachen. Zwischen Pflichtverstoß und Schaden muss mithin ein ___________ 59) 60) 61) 62) 63) 64) 65) 66)
Joecks in: Bittmann, Insolvenzstrafrecht, § 23 Rz. 14. Schramm, NStZ 2000, 398. Lackner/Kühl, StGB, § 266 Rz. 15. Lackner/Kühl, StGB, § 266 Rz. 2. Joecks in: Bittmann, Insolvenzstrafrecht, § 23 Rz. 17; Schramm, NStZ 2000, 398, 399. BGH, Urt. v. 11.11.1982 – 4 StR 406/82, NJW 1983, 461. Diversy/Weyand, ZInsO 2009, 802. Vgl. dazu Kirstein, ZInsO 2006, 966.
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Unmittelbarkeitszusammenhang bestehen.67) Hier ist anzumerken, dass der Insolvenzverwalter das Anfechtungsrecht für die Insolvenzmasse ausübt. Die Rückgewähr des durch die anfechtbare Handlung Erlangten hat regelmäßig an die Insolvenzmasse zu erfolgen, so dass die anfechtbaren Gegenstände mit der „Rückholung“ durch den Verwalter wieder Massebestandteile, also Eigentum des Insolvenzschuldners werden, mit der haftungsrechtlichen Bestimmung, der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zu dienen.68) Die Nichtgeltendmachung und das Verjährenlassen eines insolvenzrechtlichen Anfechtungsanspruchs schädigt die Insolvenzmasse, somit den Schuldner und damit auch die gleichmäßige, bestmögliche Gläubigerbefriedigung. Ein Vermögensschaden liegt demnach in den unterschiedlichen Formen der Nichtermittlung oder Nichtgeltendmachung stets vor. VII. Vertrauenstatbestand, Verzicht und Erlassvertrag 53 Oftmals wird der Insolvenzverwalter i. R. der Betriebsfortführung auf Druck von Lieferanten zur existenziellen Fortführung des schuldnerischen Unternehmens gehalten bzw. gezwungen sein, auf die Anfechtung zu verzichten. Hier stellt sich die Frage der Zulässigkeit und einer möglichen späteren Anfechtung. 54 Der Insolvenzverwalter benötigt für die einstweilige Fortführung des schuldnerischen Betriebes dringend Lieferungen und Leistungen bestimmter Vertragspartner. Diese standen schon vorher in geschäftlichen Beziehungen mit dem Schuldner und haben gegen ihn noch ungesicherte Forderungen, deren Realisierung nunmehr im höchsten Maße gefährdet ist. Sie versuchen deshalb häufig, die vom Insolvenzverwalter benötigte Fortsetzung der Geschäftsbeziehung von der Erfüllung dieser Altverbindlichkeiten abhängig zu machen, indem sie sich zu der für die Betriebsfortführung erforderlichen Leistung nur unter der Bedingung bereit erklären, dass neben der Neuverbindlichkeit auch die noch offenen Altrechnungen bezahlt werden. Stimmt der Insolvenzverwalter einer solchen Zahlung zu, so stellt sich anschließend die Frage nach der Anfechtbarkeit.69) 1.
Anforderungen an Treu und Glauben und dem Ausschluss der Anfechtung
55 Die Rechtsprechung auf die streitige Frage, ob eine Insolvenzanfechtung in Betracht kommt, wenn Rechtshandlungen des Schuldners mit Zustimmung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters vorgenommen werden und dadurch ein grundsätzlicher Vertrauenstatbestand geschaffen wird, ist i. R. der Betriebsfortführung von erheblicher praktischer Bedeutung.70) Es geht um die Frage, ob der Insolvenzverwalter, der mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestattet ist, Verträge des Schuldners, über die Erfüllung von Altverbindlichkeiten vorbehaltlos zustimmen kann, die im Zusammenhang mit neu zu erbringenden Leistungen des Vertragspartners stehen und ob diesen grundsätzlich ein Vertrauenstatbestand begründet worden ist, den der Verwalter bei Vornahme der Erfüllungshandlung durch die Schuldnerin nicht mehr zerstören kann. Gerade bei Fortführung des schuldnerischen Unternehmens sollte der Insolvenzverwalter die Rechtslage kennen, angemessen anwenden, um auch Haftungsansprüche zu vermeiden. 56 Grundsätzlich hatte der BGH die Frage entschieden, dass der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Erfüllungshandlung nach den Regeln der Deckungsanfechtung anfechten kann, sofern nicht ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist, der nicht mehr zerstört werden kann. ___________ 67) 68) 69) 70)
Lackner/Kühl, StGB, § 266 Rz. 16. Kayser/Freudenberg in: MünchKomm-InsO, § 129 Rz. 195. Frind, ZInsO 2019, 1292. Vgl. dazu, BGH, Urt. v. 13.3.2003 – IX ZR 64/02, ZIP 2003, 810.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 An dieser Rechtsprechung hat der BGH71) festgehalten und nochmals bestätigt, dass der 57 mit Zustimmungsvorbehalt ausgestattete (vorläufige) Insolvenzverwalter für den Gläubiger grundsätzlich einen anfechtungsfesten Vertrauenstatbestand schafft, wenn er der Erfüllung einer Altverbindlichkeit zustimmt, die auf einer vertraglichen Vereinbarung beruht, welche dem Gläubiger zugleich verpflichtet, neue Leistungen an das Schuldnerunternehmen zu bringen. Der Insolvenzverwalter ist grundsätzlich berechtigt, die Erfüllung von Altverbindlich- 58 keiten nach den Regeln der Deckungsanfechtung auch dann anzufechten, wenn er einer Rechtshandlung des Schuldners zugestimmt hat, durch die gesetzliche Ansprüche oder Altverbindlichkeiten erfüllt werden, ohne dass dies mit einer künftig zu erbringenden eigenen Leistung des Schuldners im Zusammenhang steht.72) Dies wird insbesondere damit begründet, dass § 55 Abs. 2 InsO auf den vorläufigen In- 59 solvenzverwalter ohne allgemeine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis keine entsprechende Anwendung findet. Dieser hat – ebenso wie der Sequester nach altem Recht – keine den Befugnissen des endgültigen Insolvenzverwalters derart angenäherte Rechtstellung, dass eine Anfechtung der Rechtshandlungen des Schuldners, denen er zugestimmt hat, von vornherein ausscheidet. Die Anfechtung ist vielmehr nur dann ausgeschlossen, wenn der vorläufige Verwalter mit 60 Zustimmungsvorbehalt durch sein Handeln einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand gesetzt hat und der Empfänger der Leistung demzufolge nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) damit rechnen durfte, ein auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr entziehbares Recht erhalten zu dürfen. Dies trifft grundsätzlich auch für Rechtshandlungen zu, welche die Tilgung von Altverbindlichkeiten zum Gegenstand haben. An dieser Rechtsauffassung hat der BGH festgehalten.73) Einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand begründet der vorläufige Verwalter in der Regel 61 dann, wenn er Verträgen vorbehaltslos zustimmt, die der Schuldner mit dem Gläubiger nach Anordnung von Sicherungsmaßnahmen geschlossen und in denen er im Zusammenhang mit an das Schuldnerunternehmen zu erbringenden Leistungen des Gläubigers Erfüllungszusagen für Altverbindlichkeiten gegeben hat. Wegen der Einbindung des vorläufigen Verwalters in den Vertragsschluss darf der Gläubiger davon ausgehen, die als Erfüllung geleisteten Zahlungen endgültig behalten zu dürfen. Sie können ihm daher auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr im Wege der Anfechtung entzogen werden. Der Insolvenzverwalter, der die Erfüllung von Altverbindlichkeiten anficht, die mit neuen 62 Leistungen des Gläubigers an den Schuldner vertraglich verknüpft worden sind, handelt allerdings nicht treuwidrig, sofern der Gläubiger die Zustimmung des vorläufigen Verwalters nur aufgrund seiner wirtschaftlichen Marktstellung gegen dessen zunächst erklärten Widerstand durchsetzen konnte. Das LG Köln hat mit Urteil entschieden, dass ein Insolvenzverwalter einen schutzwürdigen 63 Vertrauenstatbestand in der Regel dann begründet, wenn er Verträgen vorbehaltslos zustimmt, die der Schuldner mit dem Gläubiger nach Anordnung von Sicherungsmaßnahmen geschlossen und in denen er im Zusammenhang mit an das Schuldnerunternehmen zu erbringenden Leistungen des Gläubigers Erfüllungszusagen für Altverbindlichkeiten gegeben hat.74) Dann scheidet eine Anfechtung wegen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und ___________ 71) BGH, Urt. v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, ZIP 2006, 431. 72) BGH, Urt. v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, ZIP 2005, 314; BGH, Urt. v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, ZIP 2006, 431; BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, ZIP 2013, 528. 73) BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, ZIP 2013, 528. 74) LG Köln, Urt. v. 22.1.2022 – 16 O 54/21, ZIP 2022, 1011.
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Glauben wegen Schaffung eines Vertrauenstatbestandes aus. Zwar ist der Insolvenzverwalter berechtigt, die Erfüllung von Altverbindlichkeiten nach den Regeln der Deckungsanfechtung auch dann anzufechten, wenn er einer Rechtshandlung des Schuldners zugestimmt hat, durch die gesetzliche Ansprüche oder Altverbindlichkeiten erfüllt werden, ohne dass dies mit einer künftig zu erbringenden eigenen Leistung des Gläubigers im Zusammenhang steht.75) Dies wird insbesondere damit begründet, dass § 55 Abs. 2 InsO auf den vorläufigen Insolvenzverwalter ohne allgemeine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis entsprechende Anwendung findet. Die Anfechtung ist vielmehr nur dann ausgeschlossen, wenn der vorläufige Verwalter mit Zustimmungsvorbehalt durch sein Handeln einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand gesetzt hat und der Empfänger der Leistung demzufolge nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) damit rechnen durfte, ein auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr entziehbares Recht erhalten zu dürfen. Dies trifft grundsätzlich auch für Rechtshandlungen zu, welche die Tilgung von Eigenverbindlichkeiten zum Gegenstand haben. 64 Einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand begründet der mit einem Zustimmungsvorbehalt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Alt. 2 InsO) ausgestattete vorläufige Insolvenzverwalter grundsätzlich dann, wenn er Verträgen des Schuldners vorbehaltlos zustimmt, die dieser mit dem Vertragspartner nach Anordnung von Sicherungsmaßnahmen schließt und in denen im Zusammenhang mit an das Schuldnerunternehmen zu erbringenden Leistungen des Vertragspartners er Erfüllungszusagen für Altverbindlichkeiten gegeben hat.76) Diesen Vertrauenstatbestand kann er später bei Vornahme der Erfüllungshandlung durch den Schuldner nicht mehr zerstören. Das gilt unabhängig davon, ob der vorläufige und der spätere Insolvenzverwalter personenidentisch sind oder nicht. Hat sich der vorläufige Insolvenzverwalter die Rückforderung bei Eingehung des Vertrags nicht vorbehalten, kann auch ein mit ihm nicht personenidentischer Insolvenzverwalter den Anfechtungsanspruch nicht durchsetzen.77) 65 Diese Grundsätze gelten im Hinblick auf §§ 55 Abs. 1, 103 InsO erst recht, wenn der Insolvenzverwalter einen vor Anordnung von Sicherungsmaßnahmen geschlossenen Vertrag nach Insolvenzeröffnung genehmigt. Wenn schon ein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand, den der mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestattete vorläufige Insolvenzverwalter grundsätzlich dann begründet, wenn er Verträgen des Schuldners vorbehaltlos zustimmt, die dieser mit dem Vertragspartner nach Anordnung von Sicherungsmaßnahmen schließt und in denen er im Zusammenhang mit an das Schuldnerunternehmen noch zu erbringenden Leistungen des Vertragspartners Erfüllungszusagen für Verbindlichkeiten gegeben hat, muss dies erst recht für Verträge gelten, die der Insolvenzverwalter selbst nach Eröffnung abschließt und/ oder die der Insolvenzverwalter nach Insolvenzeröffnung ausdrücklich genehmigt. Ausnahmsweise scheidet ein Vertrauenstatbestand trotz Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters dann aus, wenn dieser aufgrund der wirtschaftlichen Machtstellung des Gläubigers – trotz des zunächst aufgegebenen Widerstands gegen die Befriedigungen der Altforderungen – diese später als endgültiger Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren anfechtet.78) 2.
Vertrauensschutz im Rahmen des Schutzschirmverfahren
66 Im Hinblick auf die Anfechtungsrisiken stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die vom Schuldner i. R. der Betriebsfortführung begründeten Verbindlichkeiten, so wie hierüber ___________ 75) 76) 77) 78)
BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, Rz. 17, ZIP 2013, 528. BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, Rz. 18, ZIP 2013, 528. BGH, Urt. v. 9.2.2004 – IX ZR 108/04, Rz. 18, ZIP 2005, 314. BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, Rz. 16, ZIP 2013, 528 Rz. 16.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 erfolgende Befriedigung und Leistungen einer Anfechtung nach den §§ 129 ff. InsO unterliegen können. Da vergleichbare Rechtshandlungen vorläufiger Insolvenzverwalter insoweit keiner Anfechtung unterliegen, wird angenommen, dass auch Rechtshandlungen des Schuldners i. R. der ihm nach § 270 b Abs. 3 InsO eingeräumten Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten vor einer Anfechtung geschützt sind.79) Bezüglich der Haftungsrisiken der Geschäftsführer im Schutzschirmverfahren ist vor allem fraglich, inwiefern die Betriebsfortführung Haftungsansprüche gemäß § 15b InsO begründen kann. Auf Basis der bisherigen Rechtsprechung zu § 64 GmbHG a. F. spricht vieles dafür, dass diese auch innerhalb des Schutzschirmverfahrens Anwendung findet.80) Wie den daraus resultierenden, erheblichen Haftungsrisiken der Geschäftsführer wirksam begegnet werden kann, ist bislang nicht hinreichend geklärt. Der Geschäftsführer sollte deshalb ab Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung stets darauf achten, ob die Betriebsfortführung unter dem Schutzschirm gegenüber der sofortigen Einstellung für die Masse noch günstiger ist, da anderenfalls die Haftung nach § 15b InsO drohen könnte. Zu berücksichtigen ist der Vertrauensschutz bei Anfechtungsverzicht des vorläufigen Sach- 67 walters. Erklärt der vorläufige Sachwalter, dass er Zahlungen, die aus Mitteln des Unternehmens für Lieferungen und Leistungen erfolgen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt erbracht werden, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und seiner Bestellung zum Sachwalter/Insolvenzverwalter nicht anfechten wird, ist er nachfolgend nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gehindert, solche Zahlungen anzufechten.81) In der Praxis ist i. R. der (vorläufigen) Eigenverwaltung die Frage bedeutsam, in welchem 68 Umfang Geschäftspartner i. R. einer vorläufigen Eigenverwaltung gemäß § 270a InsO oder eines Schutzschirmverfahrens gemäß § 270d InsO darauf vertrauen können, dass aufgrund der Mitwirkung des vorläufigen Sachwalters eine Anfechtbarkeit von Zahlungen ausscheidet. Gerade angesichts der inzwischen hohen praktischen Bedeutung der Eigenverwaltung ist es für die Sanierungspraxis unerlässlich, einen rechtssicheren Rahmen für die Fortführung insolventer Unternehmen in der vorläufigen Eigenverwaltung zu haben. Unstreitiger Ausgangspunkt der Entscheidung ist der auch vom BGH bestätigte Grundsatz, 69 dass auch Rechtshandlungen in der vorläufigen Eigenverwaltung oder in einem Schutzschirmverfahren grundsätzlich gemäß §§ 129 ff. InsO der Insolvenzanfechtung unterliegen können.82) Die Frage, welche Fälle unter Vertrauensschutzgesichtspunkten einer Anfechtung entzogen sind, hatte der BGH demgegenüber bislang nicht zu klären. Während das OLG Köln in einer Entscheidung vom 29.3.2017 in einem zugegebenermaßen ungewöhnlichen Fall die vom BGH aufgestellten Grundsätze zum Ausschluss der Anfechtbarkeit bei Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters nicht auf den vorläufigen Sachwalter übertragen wollte,83) sprachen sich etliche Stimmen in der Literatur wie auch in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung bereits seit in Kraft treten des ESUG für eine Anwendung der Vertrauensschutzrechtsprechung des BGH aus.84) 3.
Zulässigkeit eines Verzichts
Fraglich ist, ob ein „Verzicht“ insolvenzrechtlich wirksam wäre. Es entspricht heute gesi- 70 cherter Rechtserkenntnis, dass für anfechtbare Rechtshandlungen mit Eröffnung des In___________ 79) 80) 81) 82) 83) 84)
Römermann in: Münch-AHB GmbH-Recht, Rz. 370. BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860. OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.11.2018 – 12 U 16/18, NZI 2021, 646. BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, NZI 2016 779; BGH, 22.11.2018 – IX ZR 167/16, ZIP 2018, 2488. OLG Köln, Urt. v. 29.3.2017 – 2 U 45/16, ZInsO 2018, 792. LG Hagen, Urt. v. 7.10.2015 – 10 O 57/15, NZI 2016, 138; Andres/Leithaus-Leithaus, InsO, § 129 Rz. 7.
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Teil V Einzelfragen
solvenzverfahrens kraft Gesetzes ein schuldrechtlicher Rückgewährsanspruch besteht, den allein der Insolvenzverwalter geltend machen kann.85) Der Insolvenzverwalter handelt dabei weisungsfrei kraft seines Amtes im eigenen Namen. Der Insolvenzanfechtungsanspruch entsteht daher nicht in der Person des Insolvenzverwalters, sondern es handelt sich um ein der Insolvenzmasse zugewiesenen Anspruch des Schuldners, über den der Insolvenzverwalter gemäß § 80 InsO verfügungsbefugt ist,86) der nach neuerer Rechtsprechung abtretbar ist.87) 71 Dieser Anspruch entsteht – wie die h. M. zutreffend annimmt – mit Verfahrenseröffnung88) und nicht schon mit Vollendung des Anfechtungstatbestandes. Daher ist Verpflichtungsobjekt allein der schuldrechtliche Rückgewährsanspruch aus § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO. Darüber kann nach Verfahrenseröffnung nur durch einen Erlassvertrag i. S. des § 397 Abs. 1 BGB verfügt werden. 72 Erklärt also der Insolvenzverwalter, auf das Anfechtungsrecht zu „verzichten“, so ist dieser Verzicht kein einseitiges Rechtsgeschäft, sondern eine Willenserklärung, die auf den Abschluss eines Erlassvertrages89) gerichtet ist, der der korrespondierenden Erklärung des Vertragspartners, also des Gläubigers des potenziellen Anfechtungsgegners, bedarf. Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Zivilrecht einen einseitigen Verzicht als Erlöschungstatbestand nicht kennt, sondern – wie bei § 516 BGB – einen Vertragsschluss unter Mitwirkung des begünstigten Dritten verlangt.90) Das schließt zwar nicht aus, einen Verzicht als erlassvertragliche Erklärung zu verstehen, jedenfalls ist es erforderlich, dass zwischen den Beteiligten ein Vertrag geschlossen wird, der sich in der Sache als Erlassvertrag über die insolvenzrechtlichen Rückgewährsansprüche einordnen lässt. Ein solcher bedarf keiner Forderung und kann daher stillschweigend geschlossen werden. 73 Schließt der Insolvenzverwalter einen Erlassvertrag, so verfügt er somit über den Rückgewährsanspruch auf § 143 InsO, der in Folge des Erlasses erlischt mit der Folge, dass der Gläubiger die Anfechtbarkeit in der Leistung des Schuldners behalten darf. Die Verfügungsbefugnis ergibt sich unmittelbar aus § 80 InsO. Diese Vorschrift deckt auch Verfügungen über anfechtungsrechtliche Ansprüche. Es ist daher unbestritten, dass der Insolvenzverwalter entsprechende Erlassverträge schließen kann.91) 4.
Aufrechnung mit Anfechtungsanspruch
74 Im Rahmen der Anspruchsgeltendmachung kann sich die Frage stellen, ob der Insolvenzverwalter mit festgestellten Anfechtungsansprüchen die Aufrechnung gegenüber Ansprüchen des Anfechtungsgegners im Insolvenzverfahren erklären kann. Hierbei kommt eine Aufrechnung gegen Masseforderungen, Insolvenzforderungen oder Quotenansprüche der Insolvenzgläubiger in Betracht. 4.1
Aufrechnung gegen Masseverbindlichkeiten
75 Liegen die allgemeinen Voraussetzungen gemäß § 387 BGB vor, so kann der Insolvenzverwalter grundsätzlich Insolvenzanfechtungsansprüche gegen entsprechende Massefor___________ 85) BGH, Urt. v. 20.3.1997 – IX ZR 71/96, ZIP 1997, 737; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, Rz. 223. 86) Kayser/Freudenberg in: MünchKomm-InsO, § 129 Rz. 87, 191. 87) BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 172/11, ZIP 2013, 531; BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, ZIP 2011, 1154. 88) BGH, Urt. v. 18.5.1995 – IX ZR 189/94, ZIP 1995, 1204. 89) BGH, Urt. v. 18.5.1995 – IX ZR 189/94, ZIP 1995, 1204. 90) Bork, ZIP 2006, 589. 91) BGH, Urt. v. 18.5.1995 – IX ZR 189/94, ZIP 1995, 1204.
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Die Verfolgung von Anfechtungs- und Erstattungsansprüchen bei Betriebsfortführung § 30 derungen des Anfechtungsgegners aufrechnen. Da Masseverbindlichkeiten vorab aus der Masse zu befriedigen wären, bestehen auch im Hinblick auf die Gläubigergleichbehandlung keine Bedenken, wenn eine entsprechende Masseanreicherung durch den Insolvenzanfechtungsanspruch aufgrund der Aufrechnung unterbleibt. Allenfalls im Fall der Massearmut, bei der den gleichrangigen Massegläubigern nur ein Quotenanspruch zusteht, hat der Insolvenzverwalter die auf den Anfechtungsgegner entfallende Quote zu ermitteln, i. H. dieses Betrages die Aufrechnung zu erklären und den verbleibenden Rest des Anfechtungsanspruchs einzufordern, um eine Bevorzugung des Anfechtungsgegners vor den weiteren gleichrangigen Massegläubigern zu vermeiden.92) 4.2
Aufrechnung gegen den Quotenanspruch
Weiterhin besteht für den Insolvenzverwalter die Möglichkeit, mit einem Insolvenzan- 76 fechtungsanspruch gegen den Anspruch eines Insolvenzgläubigers auf Auszahlung der Quotendividende aufzurechnen. Bei dem Quotenanspruch handelt es sich um eine spezifische Form der Masseverteilung und damit um eine Teilbefriedigung einer festgestellten Insolvenzforderung.93) Es ist für alle Beteiligten unerheblich, ob die Insolvenzquote i. R. der Verteilung durch Auszahlung oder Aufrechnung beglichen wird.94) Da die Aufrechnung gegen den Anspruch auf die Insolvenzquote diese in ihrem materiell 77 rechtlichen Bestand nicht angreift, sondern voraussetzt, bestehen des Weiteren keine Bedenken im Hinblick auf § 767 Abs. 2 ZPO gegen die Aufrechnung nach Feststellung des Anspruchs zur Insolvenztabelle. Die Rechtsfolge der erklärten Aufrechnung des Insolvenzverwalters stellt keine Einwendung gegen die zugrunde liegende Insolvenzforderung, sondern lediglich die Befriedigungsfunktion des Anspruches auf Auszahlung der Quotendividende i. R. der Masseverteilung dar.95) Da seine Insolvenzforderung im Bestand unangetastet bleibt, ist der Anfechtungsgegner weiterhin Insolvenzgläubiger und Teilnehmer des Insolvenzverfahrens. VIII. Zusammenfassung Vielfach dient die Anfechtung der Generierung freier Masse, die für eine Betriebsfortführung 78 dringend benötigt wird. Insofern ist sie Sanierungsmittel. Ein wirkliches Fortführungshindernis ist sie – bei der gebotenen sanierungsfreundlichen Auslegung des Anfechtungsrechts – eigentlich erst dann, wenn ein Gläubiger einen dringend benötigten Fortführungsbeitrag im eröffneten Verfahren von dem Verzicht auf Anfechtungsrechte abhängig macht. Dann kann eine Betriebsfortführung scheitern. Dies ist jedoch hinzunehmen, da eine Garantie für die Befriedigung offener Insolvenzforderungen nicht versprochen werden kann. Die Situation im Eröffnungsverfahren ist für den Insolvenzverwalter als auch für die Gläubiger kritisch. Für die Betriebsfortführung kommt es darauf an, dass die Gläubiger trotz der Anfechtungsrisiken weiter „an Bord“ bleiben. Die Gläubiger sind zu einer weiteren Zusammenarbeit bereit, wenn der Insolvenzverwalter transparent die Anfechtungsrisiken kommuniziert.96) Die zivilrechtlichen als auch strafrechtlichen Risiken der zunächst aus taktischen Erwägun- 79 gen nicht geltend gemachter Anfechtung und mögliche Haftungsansprüche sind sorgfältig i. R. der Betriebsfortführung zu prüfen und abzuwägen. ___________ 92) 93) 94) 95) 96)
Rost/Lind, ZInsO 2012, 2179; Dobmeier, ZInsO 2007, 1208, 1209. Dobmeier, ZInsO 2007, 1208, 1209. Kruth in: Nerlich/Römermann, InsO, § 94 Rz. 7. Paulus, ZIP 1997, 569, 571. Schluck-Amend, ZRI 2021, 913.
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§ 31 Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz Gutheil
Übersicht I. II. 1. 2. 3. III. IV. 1.
2.
3.
Einführung................................................ 1 Ermittlung der Massezulänglichkeit ........................................... 8 Insolvenzspezifische Pflicht ..................... 8 Drohende Masseunzulänglichkeit .......... 10 Berechnung der Masseunzulänglichkeit ...................................... 12 Masseunzulänglichkeit bei Verfahrenseröffnung ....................... 24 Wirkungen der Anzeige der Masseunzulänglichkeit.................... 28 Allgemeine Auswirkungen...................... 28 1.1 Fortbestand der Abwicklungspflichten ......................................... 30 1.2 Richtungswechsel der Verfahrensziele........................ 31 1.3 Rangverschiebung nach § 209 InsO ............................................... 39 1.4 Pflicht zur gesonderten Rechnungslegung........................... 42 Auswirkungen auf relevante Sachverhalte i. R. einer Betriebsfortführung .............................................. 43 Auswirkungen auf gegenseitige Verträge und Dauerschuldverhältnisse ........ 49 3.1 Auswirkungen auf gegenseitige Verträge gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 1 InsO .................................... 50
3.2
Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO abstellend auf den nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt.................... 52 3.3 Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO bei Inanspruchnahme der Gegenleistung.......................... 56 4. Prozessuale Auswirkungen der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ............ 58 4.1 Vollstreckungsverbot gemäß § 210 InsO ........................ 58 4.2 Prozessuale Geltendmachung durch Feststellungsklage............... 60 5. Aufrechnung............................................ 62 6. Verjährung ............................................... 64 V. Haftung ................................................... 66 VI. Masseunzulänglichkeit in der Eigenverwaltung ......................... 77 VII. Masseunzulänglichkeit und Insolvenzplan ......................................... 85 VIII. Beseitigung der Masseunzulänglichkeit .................................... 88 IX. Erneute Anzeige der Masseunzulänglichkeit .................................... 89
Literatur: Adam, Regeln für die Verwaltung unzulänglicher Massen, DZWIR 2011, 485; Breitenbücher, Masseunzulänglichkeit, Diss., 2006; Buchalik, § 1 InsO – der Erhalt des Unternehmens als Ziel des Insolvenzverfahrens nach Inkrafttreten des ESUG, ZInsO 2015, 484; Büchler, Haftungsrisiken bei „faktischer Masseunzulänglichkeit“, ZInsO 2011, 1240; Dinstühler, Die Abwicklung massearmer Verfahren nach der Insolvenzordnung, ZIP 1998, 1697; Frind, Die Begründung von Masseverbindlichkeiten bei der Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungsverfahren, (Teil 1 – 3) InsbürO 2014, 217, 264, 323; Froehner, Die Qualifikation der Kosten nach Aufnahme eines Zivilrechtsstreits im Insolvenzverfahren, NZI 2016, 425; Ganter, Die „erneute Masseunzulänglichkeit“, NZI 2019, 7; Gundlach/Frenzel/ Jahn, Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit und die Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO, DZWIR 2011, 177; Gutmann, Grundsätze ordnungsgemäßer Planungsrechnungen in Restrukturierung und Insolvenz, NZI 2022, 457; Hees/Stange, Verzugszinsen auf Altmasseverbindlichkeiten trotz Masseunzulänglichkeit, ZIP 2013, 1206; Huhn, Die Eigenverwaltung im Insolvenzverfahren, 2002; Keilbach, Die Doppelberichtigung der Umsatzsteuer gem. § 17 UStG nach der Neufassung des § 55 IV InsO idF des SanInsFoG, NZI 2022, 256; Klinck, Die Einzelermächtigung des Schuldners zur Begründung von Masseverbindlichkeiten in den Eigenverwaltungs-Eröffnungsverfahren nach §§ 270a und 270b InsO, ZInsO 2014, 365; Kübler, Die Behandlung massearmer Insolvenzverfahren nach der Insolvenzordnung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., 2009; Lambrecht/Michelsen, Die Begründung von Masseverbindlichkeiten im Eröffnungsverfahren nach § 270 InsO – Ruf nach dem Gesetzgeber, ZInsO 2015, 2520; Mönning, R.-D./Hage, Die Regulierung von Fortführungsverbindlichkeiten mittels Treuhandkonto auch bei Masseunzulänglichkeit, ZInsO 2005, 1185; Pape, Qualität durch Haftung? – Die Haftung des rechtanwaltlichen Insolvenzverwalters, ZInsO 2005, 953; Pape, Mietverträge in der Insolvenz, Teil 4: Mietrechtliche Besonderheiten bei Masseunzulänglichkeit und im Verbraucherinsolvenzverfahren, InsBürO 2005, 169; Runkel/Schnurbusch, Rechtsfolgen der Masseunzulänglichkeit, NZI 2000, 49; Rickert/Tillmann/Trostheide, Besteuerung in der vorläufigen Eigenver-
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§ 31
Teil V Einzelfragen
waltung – Ausgewählte Folgen der Neufassung des § 55 IV InsO, NZI 2022, 463; Rose, Haftung des Insolvenzverwalters nach § 69 AO bei Masseunzulänglichkeit, ZIP 2016, 1520; Schluck-Amend, Voraussetzungen für die Betriebsfortführung und Absicherung der Vertragspartner durch Begründung von Masseverbindlichkeiten im Eröffnungsverfahren, ZRI 2021, 913; Schultz, Die Haftung des Insolvenzverwalters, ZInsO 2015, 529; Spiekermann, Die Verjährung von Masseverbindlichkeiten bei Masseunzulänglichkeit, NZI 2019, 446; Thole, Die rechtliche Behandlung der „erneuten Masseunzulänglichkeit“, ZIP 2018, 2241; Webel, Die Haftung des Insolvenzverwalters für Masseverbindlichkeiten i. R. des § 61 InsO, Diss., 2008; Weber/Hiller, Das Zusammenwirken von § 55 Abs. 4 InsO und § 13b Abs. 2 UStG bei der Verwertung von Sicherungsgut im vorläufigen Insolvenzverfahren, ZInsO 2014, 2555; Witfeld, Aktuelle Steuerrechtsfragen in Krise und Insolvenz, NZI 2022, 261.
I.
Einführung
1 Verfahrensziel der Insolvenzordnung ist die gleichmäßige Gläubigerbefriedigung durch die Verwertung des schuldnerischen Vermögens und die Verteilung des Erlöses als Ausfluss der Ordnungsfunktion des Insolvenzrechts. Diese Regelung des § 1 InsO ist bei jeder Art der Verfahrensabwicklung zu beachten. Auch alle Entscheidungen i. R. einer Betriebsfortführung haben sich daher an diesem Grundsatz zu orientieren.1) 2 Die Betriebsfortführung und damit der Unternehmenserhalt sind Ausfluss der Sanierungsfunktion der InsO. Bereits in § 1 Satz 1 InsO a. E. heißt es, dass abweichende Regelungen von der Verwertung des Schuldnervermögens zur gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger i. R. eines Insolvenzplans zum Erhalt des Unternehmens getroffen werden können.2) Eine Ausweitung des Sanierungs- und Restrukturierungsgedankens findet sich mit der Einführung des Restrukturierungsplans durch das StaRUG3) mit Beginn des Jahres 2021. 3 Diese Funktion ist häufig in Einklang zu bringen mit der Ordnungsfunktion der bestmöglichen gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung, da regelmäßig davon auszugehen ist, dass eine geordnete Veräußerung bzw. der Erhalt des Unternehmens im Ganzen höhere Beiträge für die Masse erwarten lässt als die Einzelveräußerung der Vermögensgegenstände im Zerschlagungsfall. Der Mehrwert, der im Gesamtunternehmen verkörpert ist, soll möglichst nicht vernichtet werden. Im Verlaufe der Abwicklung kann diese Annahme erhöhter Werthaltigkeit jedoch widerlegt werden. 4 Zunächst folgt hieraus eine vorrangige Fortführungspflicht für den Insolvenzverwalter. Diese wird bspw. in § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO (Fortführungspflicht des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters bis zur Eröffnung) postuliert und durch Instrumentarien wie die Insolvenzgeldvorfinanzierung oder die Nutzung betriebsnotwendige Aus- und Absonderungsgüter (§ 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO) flankiert. Das insolvenzrechtliche Ziel der Fortführung findet sich auch dokumentiert in den Regelungen der Kündigungssperre nach § 112 InsO sowie der Unwirksamkeit abweichender Vereinbarungen nach § 119 InsO und der Weiterentwicklung in der Rechtsprechung zur Ausdehnung der Unwirksamkeit insolvenzbedingter Lösungsklausel zur Verhinderung einer faktischen Aushebelung des Wahlrechtes nach § 103 InsO.4) 5 Eine Betriebseinstellung im laufenden Verfahren ist mit weiteren Hürden verbunden. Nach der Intention des Gesetzgebers entscheidet die Gläubigergemeinschaft in der Gläubigerversammlung gemäß § 157 InsO über die Art der Verwertung des schuldnerischen ___________ 1) v. Websky in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. Rz. 22. 2) S. dazu auch Buchalik, ZInsO 2015, 484. 3) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 4) BGH, Urt. v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, ZIP 2013, 274 ff.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz
§ 31
Vermögens, nicht das Insolvenzgericht oder der Insolvenzverwalter. Dies setzt, um keine vollendeten Tatsachen zu schaffen, eine Betriebsfortführung bis zum Berichtstermin voraus. Falls die Stilllegung vor dem ersten Berichtstermin erfolgen soll, muss ein etwa bestellter 6 Gläubigerausschuss zustimmen. Außerdem ist zuvor der Schuldner zu unterrichten, der sich gegen die Stilllegung wenden kann (§ 158 InsO). Diese hat zu unterbleiben, wenn die Fortführung ohne eine erhebliche Verminderung der Insolvenzmasse zunächst erfolgen kann. Verluste werden dabei in Kauf genommen. Die diesen Regelungen innewohnende Wertung unterstreicht den Stellenwert der Fortführung. Nicht aus den Augen verloren werden darf dabei jedoch auch das Haftungsrisiko des In- 7 solvenzverwalters, wenn er zur Fortführung zunächst verpflichtet ist.5) (Zur Haftung allgemein siehe Rz. 66 ff.). II.
Ermittlung der Massezulänglichkeit
1.
Insolvenzspezifische Pflicht
Der Insolvenzverwalter ist gehalten, i. R. der Verfahrensabwicklung regelmäßig die Masse- 8 zulänglichkeit zu prüfen. Dies stellt eine insolvenzspezifische Pflicht dar. Ersteres bedeutet, dass er zu verifizieren hat, dass die Masse nach Deckung der Verfahrenskosten gemäß § 54 InsO, deren Vorliegen Voraussetzung für die Verfahrensdurchführung ist und anderenfalls zu einer sofortigen Einstellung nach § 207 InsO führen würde, auch die sonstigen Masseverbindlichkeiten bei Fälligkeit erfüllen kann. Regelmäßig ist der Eintritt der Masseunzulänglichkeit erst gegeben, wenn diese sich mit Blick 9 auf die Prognoseungenauigkeit über einen gewissen Zeitraum verfestigt. Dies bezieht sich auf die Schätzwerte, die bei der Berechnung heranzuziehen sind.6) Die Intervalle der Planungsüberprüfung haben im Falle der Betriebsfortführung zeitlich engmaschiger zu erfolgen als bei einer Ausproduktion. Gerade im ersten Stadium der Fortführung wird sich der Insolvenzverwalter auf die zu diesem Zeitpunkt zum Teil noch unverifizierten Daten aus dem Unternehmen verlassen müssen und dürfen.7) 2.
Drohende Masseunzulänglichkeit
Der Masseunzulänglichkeit wird im Gesetz die drohende Masseunzulänglichkeit gleich- 10 gestellt. Diese ist gegeben, wenn voraussichtlich im Zeitpunkt der Fälligkeit die zu erwartende Masse zur Deckung der Masseverbindlichkeiten nicht ausreichen wird.8) Aufgrund des Prognosecharakters wird dem Insolvenzverwalter ein gewisser Beurteilungsspielraum zuteil, den er jedoch selbstverständlich nicht missbräuchlich nutzen darf. Die Anzeige der drohenden Masseunzulänglichkeit hat – vergleichbar der Wertung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 Abs. 2 InsO – in der Regel dann zu erfolgen, wenn nach der vorzunehmenden Vorschau eine mehr als 50 %ige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen spricht. Es handelt sich jedoch bei der prozentualen Bewertung nicht um eine starre Grenze. Die Entscheidung ist im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen.9) Die Insolvenzmasse ist gleichsam mit Blick auf die Masseverbindlichkeiten zahlungsunfähig 11 oder droht nach überwiegender Wahrscheinlichkeit zahlungsunfähig zu werden. Beide Fälle ___________ 5) 6) 7) 8) 9)
Vgl. zu den hierzu diskutierten Haftungseinschränkungen Webel, Haftung des Insolvenzverwalters, S. 43 ff. v. Websky in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. Rz. 43. Breitenbücher, Masseunzulänglichkeit, S. 112 f. BAG, Urt. v. 31.3.2005 – 10 AZR 254/03, ZInsO 2005, 50, 52. v. Websky in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. Rz. 11; Uhlenbruck-Ries, InsO, § 208 Rz. 6.
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§ 31
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werden im Gesetz gleichbehandelt. Dies hat zur Folge, dass im Falle der Anzeige bereits bei drohender Masseunzulänglichkeit eine erneute Anzeige im Fall des tatsächlichen Eintritts nicht erforderlich ist. Durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit kann der Insolvenzverwalter Gläubiger mit bereits bestehenden Ansprüchen in den Rang von Altmassegläubiger (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) setzen und sodann die aus seinen Handlungen entstehenden Zahlungsverpflichtungen als Neumasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO) vorrangig befriedigen. 3.
Berechnung der Masseunzulänglichkeit
12 Die Masseunzulänglichkeitsberechnung kann aus der Gewinn- und Verlustrechnung sowie insbesondere der Liquiditätsplanung des Unternehmens entwickelt werden. Sie hat jedoch, neben der Prognose zum operativen Geschäft, Erlöse aus der Verwertung und Mittelzuflüsse kurzfristig zu realisierender insolvenzspezifischer Ansprüche zu berücksichtigen, ebenso wie alle Masseverbindlichkeiten. Insoweit ist eine Liquiditätsrechnung zu erstellen, die auf der aktuellen Liquiditätslage aufbaut.10) 13 Der tatsächliche Umfang der zu berücksichtigen Masseverbindlichkeiten ist jedoch häufig nicht präzise zu ermitteln, etwa wenn Ansprüche dem Grunde oder der Höhe nach streitig sind, oder nicht feststeht, wie lange Nutzungsentschädigung bei geplanter kurzfristiger Neuvermietung oder Personalkosten im Auslauf der Kündigungsfrist mit Blick auf einen möglichen neuen Arbeitsvertrag des ausgeschiedenen Mitarbeiters noch zu zahlen sein werden. 14 Die zu prognostizierenden Werte sind daher anhand nachvollziehbar dokumentierter Anknüpfungspunkte zu schätzen. Bei unsicheren Vermögenswerten oder streitigen Verbindlichkeiten hat die Schätzung unter Beachtung besonderer kaufmännischer Vorsicht konservativ zu erfolgen. Maßgeblicher Zeitpunkt ist die Begründung der Masseverbindlichkeiten. Dies ist in der Regel der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.11) 15 Hinsichtlich der Aufnahme von laufenden Prozessen für die Masse, aber auch das Anhängigmachen von Rechtsstreitigkeiten vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit, die ungeachtet der Masseunzulänglichkeit nach deren Anzeige fortgesetzt werden, sind verschiedene Entscheidungen ergangen zur Frage der Behandlung der Prozesskosten als einfache Insolvenzforderung oder als Neu- oder Altmasseverbindlichkeit.12) 16 Grundsätzlich hat der BGH klargestellt, dass keine Aufteilung der Kosten innerhalb einer Instanz erfolgt, auch wenn diese durch die Verfahrenseröffnung unterbrochen wurde.13) Es ergeht eine einheitliche Kostengrundentscheidung.14) Im Falle des sofortigen Anerkenntnisses kann sich der Insolvenzverwalter dabei auf die Privilegierung des § 86 Abs. 2 InsO stützen, der den Prozesskosten den Rang einfacher Insolvenzforderungen zuweist.15) Im Fall der Fortsetzung nach Unterbrechung eines bereits anhängigen Rechtsstreites gemäß § 240 ZPO hat der BGH im Übrigen entschieden, dass zumindest bei einer Entscheidung in der ersten Instanz die Kosten insgesamt als Masseverbindlichkeiten zu behandeln sind.16) ___________ 10) Breitenbücher, Masseunzulänglichkeit, S. 108; Gutmann, NZI 2022, 457 ff. 11) BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, ZIP 2003, 914 = ZInsO 2003, 465. 12) Unlängst zur Frage der Pflicht zur Tragung der Prozesskosten durch Neumassegläubiger BGH, Beschl. v. 28.1.2022 – IX ZR 145/21, NZI 2022, 216. 13) Das Prinzip der einheitlichen Kostenentscheidung ist nicht unumstritten, zum Streitstand BGH, Beschl. v. 28.9.2006 – IX ZB 312/2014, ZIP 2006, 2132; LAG Köln, Beschl. v. 18.8.2014 – 5 TA 224/14, ZIP 2015, 890 = NZI 2014, 1010. 14) BGH, Beschl. v. 9.2.2006 – IX ZB 160/04, ZIP 2006, 576. 15) Zur Frage der Möglichkeit eines sofortigen Anerkenntnisses bei vorheriger Unterbrechung nach § 240 ZPO: BGH, Beschl. v. 28.9.2006 – IX ZB 312/04, ZIP 2006, 2132. 16) BGH, Beschl. v. 28.9.2006 – IX ZB 312/04, ZIP 2006, 2132.
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Das BAG17) hat dabei in einer jüngeren Entscheidung darauf abgestellt, dass die Frage der 17 Qualifizierung als Masseverbindlichkeit oder Insolvenzforderung in der Kostengrundentscheidung zu treffen sei. Werden darin dem Insolvenzverwalter die Kosten auferlegt, sei dies grundsätzlich als Einstufung als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren.18) Zur Abgrenzung zwischen Alt- und Neumasseverbindlichkeiten bei Masseunzuläng- 18 lichkeitsanzeige im laufenden Prozessverfahren ist auf die Entstehung des prozessualen Kostenerstattungsanspruches mit Klageerhebung19) abzustellen, und zwar für den kompletten Instanzenzug20). Dies hat zur Folge, dass der Kostenerstattungsanspruch bei eintretender Masseunzulänglichkeit insgesamt als Altmasseverbindlichkeit zu qualifizieren ist.21) Grundsätzlich kann eine Berechnung zur Feststellung der Zulänglichkeit der Masse etwa 19 wie folgt vorgenommen werden:22) Einnahmen
20
x
aktuell vorhandene Liquidität;
x
kurzfristig als liquide erwartete Einnahmen aus Unternehmensfortführung, Verwertungshandlungen, Klageverfahren, Darlehen, Erlöse aus Haftungs- und Anfechtungsansprüchen, Erlöse aus dem Forderungseinzug abzüglich berechtigter Aufrechnungspositionen,23) wobei es sich jedoch bei allen vorgenannten Positionen um zeitnahe Zuflüsse handeln muss.
Ausgaben x
21
Absolut bevorrechtigte Kosten des Verfahrens (§ 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO): Diese sind unabhängig von ihrer Fälligkeit in die Berechnung einzustellen. Bei den übrigen Verbindlichkeiten ist die Fälligkeit jedoch zu berücksichtigen.
x
x
Gerichtskosten (§ 54 Nr. 1 InsO);
x
Vergütung und Auslagen des vorläufigen Insolvenzverwalters und des Insolvenzverwalters (§ 54 Nr. 2 InsO);
x
Vergütung und Auslagen der Gläubigerausschussmitglieder (§ 54 Nr. 2 i. V. m. § 73 Abs. 1 InsO).
Neumasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO): x
Verbindlichkeiten durch Verwertungs-, Verwaltungs- und Verteilungshandlungen des Insolvenzverwalters (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO);24)
___________ 17) BAG, Beschl. v. 11.3.2015 – 10 AZB 101/14, ZIP 2015, 1181. 18) Zur Abgrenzung der Masseverbindlichkeiten zu einfachen Insolvenzforderungen bei Aufnahme eines Rechtsstreites nach Unterbrechung gemäß § 240 ZPO: LAG Nürnberg, Beschl. v. 27.5.2015 – 4 Ta 45/15, ZIP 2015, 1899 = ZInsO 2015, 1701. 19) BGH, Urt. v. 22.5.1992 – V ZR 108/91, NJW 1992, 2575. 20) OLG Brandburg, Beschl. v. 2.2.2006 – 6 W 238/05, OLGR Brandenburg 2006, 642. 21) BGH, Beschl. v. 17.3.2005 – IX ZB 247/03, ZIP 2005, 817; LG Aachen, Beschl. v. 27.12.2013 – 6 T 89/13, n. v. 22) S. zur Berechnung der Masseunzulänglichkeit auch Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 208 Rz. 9; v. Websky in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. Rz. 41 ff. 23) Dies können auch ansonsten als einfache Insolvenzforderungen zu qualifizierende Ansprüche sein, falls diese z. B. Altforderungen aufrechenbar gegenüberstehen. 24) So auch Einkommensteuer als Masseschuld massebezogenen Verwalterhandels bei Erlaubnis der selbstständigen Tätigkeit des Schuldners im Interesse der Masse, BFH, Urt. v. 16.4.2015 – III R 21/11, ZIP 2015, 1935; anders bei bloßer Duldung LSG Niedersachen-Bremen, Urt. v. 22.10.2014 – L 2 R 65/13, ZInsO 2015, 577; zur Aufrechnung von Erstattungsansprüchen mit Steuerverbindlichkeiten vgl. BFH, Urt. v. 24.2.2015 – VII R 27/14, ZIP 2015, 986 = NZI 2015, 475; zu IHK-Beiträgen als Masseverbindlichkeiten VG Düsseldorf, Urt. v. 13.5.2015 – 20 K 4304/14, ZInsO 2015, 1405 = ZIP 2015, 1747 (LS).
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Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen, die zur Masse nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit in Anspruch genommen werden (gewillkürte Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO);
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Verbindlichkeiten aus der laufenden Betriebsfortführung.
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Oktroyierte Masseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) x
Verbindlichkeiten aus ungerechtfertigter Bereicherung der Masse (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO);
x
Verbindlichkeiten, die durch den vorläufigen Insolvenzverwalter begründet wurden, auf den die Verfügungsbefugnis übergegangen ist (§ 55 Abs. 2 Satz 1 InsO);25)
x
Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen, die der vorläufigen Insolvenzverwalter in Anspruch genommen hat (§ 55 Abs. 2 Satz 2 InsO);
x
Oktroyierte Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen bis zum Zeitpunkt der Kündigung, die vom Insolvenzverwalter nicht für die Masse in Anspruch genommen werden (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO);26)
x
Verbindlichkeiten gegenüber Aus- und Absonderungsberechtigten;
x
Umsatzsteuerverbindlichkeiten, die vom vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit dessen Zustimmung oder mit Zustimmung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden sind (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 InsO n. F.);27)
x
den vorgenannten Umsatzsteuerverbindlichkeiten gleichgestellten sonstigen Einund Ausfuhrabgaben, bundesgesetzlich geregelte Verbrauchssteuern, die Luftverkehr und Kraftfahrzeugsteuer sowie die Lohnsteuer (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 InsO n. F.);
x
Unterhaltsverpflichtungen (§§ 100, 101 Abs. 1 Satz 3 InsO);
x
Ersatzansprüche aus der Fortsetzung von Aufträgen bei Gefahr des Aufschubs nach Eröffnung (§ 115 Abs. 2 Satz 3 InsO);
x
eilbedürftige Geschäfte des geschäftsführenden Gesellschafters einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit oder einer KGaA i. R. der einstweiligen Fortführung bei Auflösung durch Eröffnung (§ 118 Abs. 1 Satz 1 InsO);
x
laufende Zinsen für die Verwendung beweglicher Sache in Rahmen der Fortführung, zu deren Verwertung der Insolvenzverwalter berechtigt ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 InsO);
x
Zinsen für diese Gegenstände, die der Insolvenzverwalter verwerten kann, und zwar ab dem Zeitpunkt des Berichtstermins (§ 169 Satz 1 InsO).
22 Bei den Masseverbindlichkeiten nach § 123 Abs. 2 InsO (Kosten des Sozialplans) handelt es sich hingegen um sog. „unechte Masseverbindlichkeiten“, die in der Prognose nicht zu berücksichtigen sind. Die Höhe der Mittel für einen Sozialplan wird gesetzlich auf ein Drittel der Masse beschränkt, die für die Insolvenzgläubiger ohne den Sozialplan zur Verfügung stehen würde. Tritt die Masseunzulänglichkeit ein, entfällt damit diese Zahlungsverpflichtung, da keine Mittel für die einfachen Insolvenzgläubiger zur Verfügung stehen.28) ___________ 25) Allein die Übertragung des Rechts zur Ausübung der Arbeitgeberfunktion für den vorläufigen Verwalter mit Zustimmungsvorbehalt beinhaltet keine Ermächtigung analog § 55 Abs. 2 InsO (OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.5.2014 – 4 U 99/13, ZIP 2014, 1791 = ZInsO 2014, 1791). 26) Aktuellere Entscheidung zur Frage der Altmasseverbindlichkeiten im Auslauf von Kündigungsfristen von Arbeitsverhältnissen hinsichtlich von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.12.2014 – L 11 R 157/14, ZIP 2015, 396 = ZInsO 2015, 574, n. rkr. (Az. d. BSG B 12 R 2/15 R); BSG, Urt. v. 28.5.2015 – B 12 R 16/13 R, ZIP 2016, 128 = NZI 2016, 27. 27) Weber/Hiller, ZInsO 2014, 2555 ff.; Neufassung des § 55 Abs. 4 InsO gilt nun auch für die vorläufige Eigenverwaltung. 28) S. a. Breitenbücher, Masseunzulänglichkeit, S. 74.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz
§ 31
Schon um eine persönliche Haftungsinanspruchnahme zu vermeiden (siehe unten Rz. 66), 23 kann dem Insolvenzverwalter nur angeraten werden, regelmäßig – dem Einzelfall und der Struktur des Betriebes entsprechend – in angemessenen Perioden zu prüfen, inwieweit die Masse weiterhin zulänglich ist. Die Berechnung muss kontinuierlich aktualisiert und an die sich entwickelnden Werte angepasst werden. Es empfiehlt sich, diese Kontrollinstrumente fortlaufend zu dokumentieren, um sich im Falle einer Haftungsinanspruchnahme exkulpieren zu können. Daher ist es ebenfalls ratsam, Planungsprämissen und Grundlagen für den Ansatz von Schätzwerten mit hinterlegten Daten zu archivieren. III.
Masseunzulänglichkeit bei Verfahrenseröffnung
Gemäß § 26 Abs. 1 i. V. m. § 54 InsO ist das Insolvenzverfahren bereits durch das Gericht 24 zu eröffnen, wenn die Verfahrenskosten gedeckt sind. Daher hat der Insolvenzverwalter schon mit der Eröffnung zu prüfen, ob die vorhandene Masse ausreichen wird. Das gilt insbesondere für den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter nach § 22 Abs. 1 InsO und nun auch für den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter mit Blick auf die Regelungen zur Qualifizierung von Steuerverbindlichkeiten als Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 4 InsO n. F. Die Betriebsfortführung im vorläufigen Verfahren birgt die Gefahr, dass bei einer Masse- 25 unzulänglichkeitsanzeige im nahen zeitlichen Zusammenhang mit der Verfahrenseröffnung die aus der Vorzeit noch bestehenden Fortführungsverbindlichkeiten zu Altmasseschulden zurückgestuft werden, sofern sie noch nicht fakturiert oder zur Zahlung fällig sind. Der vorläufige Insolvenzverwalter, der zur Fortführung nach dem Willen des Gesetzgebers verpflichtet ist, steht vor dem Problem, sehenden Auges Masseverbindlichkeiten zu begründen, deren Befriedigung ihm im Falle der Eröffnung – etwa aufgrund des Hinzutretens weiterer Masseschulden – nicht möglich sein wird. Ist eine intakte Betriebsstruktur vorhanden, die es aufgrund gesicherter Auftragsbestände und Effekten aus der Insolvenzgeldzahlung ermöglicht, fortführungsbedingte Verbindlichkeiten bei Fälligkeit zu berichtigen, kann trotzdem die Masseunzulänglichkeit bereits drohen, da später entstehende Masseverbindlichkeiten nach Eröffnung zusätzlich nicht berichtigt werden können. Durch eine begrüßenswerte Entscheidung hat das OLG Düsseldorf29) klargestellt, dass im Falle der drohenden oder gar eingetretenen Masseunzulänglichkeit der Insolvenzverwalter berechtigt und gar verpflichtet ist, die weiterbeschäftigten Mitarbeiter vorrangig gegenüber den freigestellten Mitarbeitern zu befriedigen. Durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit wird der Insolvenzverwalter in die Lage 26 versetzt, ein Unternehmen unter Befreiung von anfänglich bestehenden Masseverbindlichkeiten später kostendeckend zu führen, obwohl im vorläufigen Verfahren bereits absehbar ist, dass Masseunzulänglichkeit eintreten wird. Beispiel: Der bereits im Eröffnungsverfahren zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellte I kann unter Ausnutzung der Insolvenzgeldzahlungen einen Betrieb mit 100 Mitarbeitern an zwei Standorten zunächst kostendeckend führen. Schon im vorläufigen Verfahren lässt sich ermitteln, dass eine Rentabilität dauerhaft nur erreicht wird, wenn ein Werk geschlossen und 40 % der Arbeitsplätze abgebaut werden. Selbst unter Ausnutzung optimaler Kündigungsfristen – teils im Eröffnungsverfahren durch das Unternehmen selbst mit Zustimmung des I, teils nach Eröffnung – werden sich nach Eröffnung im Auslauf der Kündigungsfristen sog. oktroyierte Masseverbind___________ 29) OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.1.2012 – I-22 U 49/11, ZIP 2012, 2115.
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Teil V Einzelfragen
lichkeiten aus Arbeits-30) und Mietverhältnissen ergeben. Diese Belastungen werden aus der vorhandenen und zu erwartenden Masse bei Betriebsfortführung nicht zu tragen sein. Zeigt in diesem Fall I unmittelbar nach Eröffnung und Kündigung dem Gericht gegenüber die anfängliche Masseunzulänglichkeit an, so wird er in die Lage versetzt, den Betrieb auf diese Weise fortführen zu können, ohne Gefahr zu laufen, für die nicht gedeckten weiteren Masseverbindlichkeiten persönlich in die Haftung genommen zu werden. 27 Um dem Problem der Masseunzulänglichkeit durch oktroyierte Masseverbindlichkeiten zu begegnen, sind verschiedene Ansätze diskutiert und Lösungswege beschritten worden mit dem Ziel, die Fortführungsverbindlichkeiten ungeachtet ihres eigentlichen Ranges berichtigen zu können. Hintergrund ist dabei auch, eine persönliche Haftung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters über §§ 60, 61 InsO zu verhindern.31) IV.
Wirkungen der Anzeige der Masseunzulänglichkeit
1.
Allgemeine Auswirkungen
28 Mit dem Eingang der Anzeige der Masseinsuffizienz beim Insolvenzgericht treten die Wirkungen der §§ 208 ff. InsO ein. Die vorzunehmende Veröffentlichung und Zustellung gemäß § 208 Abs. 2 InsO hat nur deklaratorische Bedeutung.32) Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit wird vom Insolvenzgericht nicht überprüft. Dies ergibt sich aus der Gesetzesentwicklung i. R. von § 318 Abs. 2 RegE,33) der zunächst einen Beschluss des Insolvenzgerichts auf Antrag des Insolvenzverwalters vorsah. Diese Regelungen sind jedoch nicht ins Gesetz aufgenommen worden. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit ist damit nicht justiziabel. 29 Durch die Masseunzulänglichkeitsanzeige verlieren Altmasseverbindlichkeiten ihr Vorwegbefriedigungsrecht und erhalten mit gleichrangigen Massegläubigern einen Anspruch auf quotale Befriedigung. 1.1
Fortbestand der Abwicklungspflichten
30 Bereits in § 208 Abs. 3 InsO findet sich die Regelung, dass die Pflicht zur Verwaltung und Verwertung der Masse auch nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit fortbesteht. Anders ist dies im Falle der Massearmut nach § 207 InsO, die eine sofortige Einstellung des Verfahrens zur Folge hat. 1.2
Richtungswechsel der Verfahrensziele
31 Die Zielrichtung der weiteren Verfahrensabwicklung ändert sich jedoch von der bestmöglichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger in die möglichst schnelle und gleichmäßige Befriedigung der Altmassegläubiger. Das bisherige Ziel des Verfahrens, die gleichmäßige Befriedigung der Insolvenzgläubiger, kann nicht mehr erreicht werden, da keine Quotenzahlung an diese erfolgen wird.
___________ 30) Aktuell zur Bewertung von Urlaubsabgeltungsansprüchen als Masseverbindlichkeiten: BAG, Urt. v. 25.11.2021 – 6 AZR 94/19, NZI 2022, 341, sowie zur Bewertung von arbeitsrechtlichen Ansprüchen als Masseverbindlichkeiten bei Sonderzuwendungen (Tantiemen) ArbG Weiden/Oberpfalz, Urt. v. 13.5.2015 – 3 Ca 1714/14, ZIP 2015, 2334 = ZInsO 2015, 1925. 31) Webel, Haftung des Insolvenzverwalters, S. 43 ff.; Abwicklung i. R. eines Treuhandkontenmodells: Mönning/Hage, ZInsO 2005, 1185 ff.; sich mit verschiedenen Modellen auseinandersetzend: Büchler, ZInsO 2011, 1240 ff.; Schluck-Amend, ZRI 2021, 913 ff. 32) Uhlenbruck-Ries, InsO, § 208 Rz. 33; Runkel/Schnurbusch, NZI 2000, 49, 51. 33) Etwa abgedr. in Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, S. 435 f.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz
§ 31
Der Insolvenzverwalter hat daher i. R. der Betriebsfortführung bei angezeigter Masseun- 32 zulänglichkeit zu prüfen, ob diese noch mit dem geänderten Verfahrensziel, einer zeitnahen und möglichst vollständigen Befriedigung der Massegläubiger, zu vereinbaren ist.34) In der Literatur werden die möglichen Handlungsalternativen des Insolvenzverwalters in 33 diesem Fall sehr unterschiedlich bewertet. Sie reichen von x
der sofortigen Stilllegung als „Notbremse“35) über
x
die Ausproduktion36) bis zur
x
übertragenden Sanierung und Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens37) (Zulässigkeit des Insolvenzplans bei Masseunzulänglichkeit siehe unten, Rz. 85 ff.).
Der Stilllegung nach Ausproduktion ist im Regelfall der Vorzug zu geben. Zwar sollten 34 die Massegläubiger nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit auf eine zügige Befriedigung ihrer als vorrangig eingestuften Verbindlichkeiten vertrauen dürfen. Jedoch ist auch der Aspekt der verbesserten Quote in Betracht zu ziehen, die im Falle einer geordneten Betriebseinstellung im Wege der Ausproduktion regelmäßig eher zu erreichen sein wird. Die ansonsten bei der sofortigen Stilllegung zwangsläufig entstehenden weiteren Neumasseverbindlichkeiten (Schadensersatzansprüche der Kunden wegen Nichterfüllung, SowiesoKosten im Auslauf von Kündigungsfristen), denen keine Erlöse gegenüberstehen, lassen die zu erwartende Quote der Altmassegläubiger unweigerlich drastisch abschmelzen. Der Wunsch nach kurzfristiger quotaler Befriedigung sollte daher immer nochmals unter dem Aspekt der kurz- bis mittelfristigen Quotenerhöhung betrachtet werden. Im Einzelfall kann auch die unveränderte Betriebsfortführung ein sinnvoller Weg sein. Dies 35 gilt jedoch nur, wenn damit die Masse voraussichtlich bessergestellt wird, etwa weil ein aktuell stattfindender Bieterprozess eine kurzfristige übertragende Sanierung erwarten lässt. Andererseits darf sich die Betriebsfortführung nicht zum Selbstzweck entwickeln mit der Folge, dass das Interesse der Altmassegläubiger völlig außer Acht gelassen und nur die Erfüllung von Verbindlichkeiten aus Verfahrenskosten und Neumasseschulden angestrebt wird. Der Insolvenzverwalter hat sich dabei auf solche Verwaltungs- und Verwertungsmaßnahmen 36 zu konzentrieren, die die Abwicklung fördern und möglichst wirtschaftlich vorteilhaft sind. Es ist daher immer darauf zu achten, dass die Masse eine mindestens gleichwertige Gegenleistung bei ihrem Verzehr erhält.38) Soll die Einstellung nach einem zunächst von der Gläubigerversammlung gefassten Gläu- 37 bigerbeschluss zur Fortführung erfolgen, so hat der Insolvenzverwalter, wenn kein Gläubigerausschuss bestellt ist, die Einberufung einer erneuten Gläubigerversammlung anzuregen (§ 75 Abs. 1 Nr. 1 InsO). In dieser sollte er umfassend über den bisherigen Verlauf und die Risiken einer Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit informieren, um auf dieser Basis eine Stilllegungsentscheidung herbeizuführen. Die sich aus dieser Änderung ergebende Neuausrichtung des Verfahrens hat auch Auswir- 38 kungen auf die sonstige Verfahrensabwicklung, etwa mit Blick auf die Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen, die Gesamtschadensliquidation nach § 92 InsO und die Inanspruchnahme von Gesellschaftern i. R. der Regelungen des § 93 InsO, deren weitere Anwendbarkeit in diesen Fällen diskutiert wird. Hier sollen allerdings nur die Auswirkun___________ 34) 35) 36) 37) 38)
v. Websky in: Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 3 B. Rz. 19 f. Kübler in: Kölner Schrift zur InsO, Rz. 32. Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 208 Rz. 81. Landfermann in: HK-InsO, § 208 Rz. 9. Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 208 Rz. 46.
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§ 31
Teil V Einzelfragen
gen dargestellt werden, die im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Betriebsfortführung stehen.39) 1.3
Rangverschiebung nach § 209 InsO
39 Mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit schreibt der Gesetzgeber vor, in welcher Reihenfolge die bestehenden Zahlungsverpflichtungen nunmehr zu befriedigen sind. Dabei wird entsprechend der Vorgaben in §§ 26 Abs. 1 Satz 1, 207 Abs. 1 Satz 1 InsO an dem Prinzip festgehalten, dass die vollständige Deckung der Verfahrenskosten ohne Differenzierung nach dem Entstehungszeitpunkt vorrangig zu erfolgen hat.40) 40 Nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit werden die Masseverbindlichkeiten nach Altund Neumassegläubigern abgegrenzt. Letztgenannte, deren Entstehung nach der Anzeige erfolgt, werden vorrangig vollständig berichtigt. Die Altmassegläubiger werden hingegen mit ihren Ansprüchen auf eine quotale Befriedigung – vergleichbar mit den einfachen Insolvenzgläubigern in der Rangfolge des § 209 Abs. 1 InsO – verwiesen. Dies gilt unabhängig davon, ob die nun als Altmasseverbindlichkeiten zu qualifizierenden Zahlungsverpflichtungen vor oder nach Eröffnung begründet wurden oder ob es sich um Fortführungsverbindlichkeiten handelt. Letztere genießen keine insolvenzrechtliche Sonderstellung41) (zur Abgrenzung von Alt- und Neumassegläubigern in speziellen Konstellationen vgl. Rz. 50 ff.). Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit hat für die Altmassegläubiger keinen Zinsverlust zur Folge. Für die fälligen Ansprüche, deren Durchsetzung gehindert ist, fallen Verzugszinsen gemäß § 286 BGB an.42) 41 Nach der Rechtsprechung des BGH43) ist der Insolvenzverwalter allerdings immer verpflichtet, die Verteilungsreihenfolge einzuhalten, sobald Masseinsuffizienz eingetreten ist, und zwar unabhängig von deren Anzeige gegenüber dem Insolvenzgericht. Diese Anforderungen setzen zu ihrer Erfüllung voraus, dass der Insolvenzverwalter in jedem Zeitpunkt der Verfahrensabwicklung und damit auch der Betriebsfortführung in der Lage ist, die voraussichtliche Massekostendeckung zu evaluieren. 1.4
Pflicht zur gesonderten Rechnungslegung
42 Gemäß § 211 Abs. 2 InsO hat der Insolvenzverwalter für seine Tätigkeit nach dem Eintritt der Masseunzulänglichkeit gesondert Rechnung zu legen. 2.
Auswirkungen auf relevante Sachverhalte i. R. einer Betriebsfortführung
43 Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit bringt allein in der tatsächlichen Abwicklung des Betriebes erhebliche Probleme mit sich, sofern sie im laufenden eröffneten Verfahren vorzunehmen ist. Vertragspartner, mit denen zuvor über Wochen oder gar Monate zusammengearbeitet worden ist, werden durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit hinsichtlich ihrer Zahlungsansprüche auf den Status von Altmassegläubigern verwiesen. 44 Im Rahmen der weiteren Betriebsfortführung ist jedoch die geregelte Abwicklung etwa mittels einer Ausproduktion nötig, auch wenn sich die Verfahrensausrichtung hin zu einer zügigen Abwicklung wandelt. Das setzt aber in der Regel zumindest für einen gewissen Zeitraum voraus, dass mit denselben Partnern weiter zusammengearbeitet werden muss, ___________ 39) 40) 41) 42) 43)
Zu den weiter diskutierten Problemen vgl. etwa Adam, DZWIR 2011, 485 ff. Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1703. Mönning/Hage, ZInsO 2005, 1185, 1186. Hees/Stange, ZIP 2013, 1206 ff. BGH, Beschl. v. 19.11.2009 – IX ZB 261/08, ZIP 2010, 145; BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/09, ZInsO 2010, 2323, 2325 = ZIP 2010, 2356.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz
§ 31
die man soeben durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit „auf die Plätze verwiesen hat“. Das Vertrauen der Vertragspartner, die möglicherweise zuvor in der Zusammenarbeit mit dem schuldnerischen Unternehmen bereits Verluste erlitten haben, ist häufig erschüttert. Es erfordert nun Überzeugungskraft und gute Argumente, den Vertragspartner weiter an sich zu binden. Ein Argument ist sicher, nämlich dass die geordnete Ausproduktion die Ansprüche der 45 Altmassegläubiger werthaltig machen kann. Jedenfalls kann sie eher dazu beitragen, als wenn eine Störung im Betriebsablauf zu Lieferverzögerungen, Auftragsverlusten oder Schadensersatzansprüchen führt. Angebote wie Vorkasseleistungen oder die Bestellung von Sicherheiten können den Vertragspartner möglicherweise zu einer weiteren Zusammenarbeit bewegen, im erstgenannten Fall jedoch zu Lasten der Liquidität. Sollte sich dieses Vorgehen nicht realisieren lassen, so hat notfalls eine sofortige Einstellung zu erfolgen, um weitere persönliche Haftungsrisiken für den Insolvenzverwalter zu vermeiden. Steht der Einstellungszeitpunkt i. R. einer Ausproduktion bereits fest, muss der Insolvenz- 46 verwalter bei der weiteren Fortführung zur Sicherstellung der Kostendeckung darauf achten, dass Aufträge nur noch angenommen werden, die in der verbleibenden Zeit abgewickelt werden können. Auch die Laufzeit eingegangener Verpflichtungsgeschäfte ist an die Zeitspanne der Ausproduktion soweit wie möglich anzupassen, etwa durch zeitlich befristete Arbeitsverträge mit der sachlichen Begründung des Arbeitsanfalls bei der Ausproduktion. Nachlaufende Verpflichtungen nach der Einstellung sollten weitestgehend vermieden werden. In dem Fall, in dem neben oktroyierte Masseverbindlichkeiten auch solche treten, die 47 durch Handlungen des (vorläufigen) Insolvenzverwalters entstanden sind – im Falle der „schwachen“ vorläufigen Verwaltung etwa durch eine Einzelermächtigung des Gerichts – mag der Insolvenzverwalter geneigt sein, letztere zur Vermeidung einer persönlichen Haftung nach § 61 InsO vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit noch zu berichtigen, wohl wissend um die Existenz weiterer Masseverbindlichkeiten und das Vorliegen der Masseunzulänglichkeit. Der BGH hat klargestellt, dass der Insolvenzverwalter nicht verpflichtet ist, die Masseunzulänglichkeit unmittelbar mit deren Eintritt anzuzeigen. Tut er dies nicht, verletzt er also keine insolvenzspezifische Pflicht, die eine Haftung nach § 60 InsO auslösen würde.44) Wenn der Insolvenzverwalter jedoch einzelne dieser bereits faktisch als Altmasseverbindlichkeiten zu qualifizierenden Ansprüche bedient, andere hingegen nicht, so haftet er aus § 60 Abs. 1 InsO aufgrund eines Verteilungsfehlers wegen Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten. Er ist verpflichtet, diese fehlerhafte Zahlung an die Masse zu erstatten.45) Gleiches gilt auch für den Fall der faktischen drohenden Masseinsuffizienz, wenn fällige 48 Masseverbindlichkeiten berichtigt werden, obwohl der Insolvenzverwalter den baldigen Eintritt der Masseunzulänglichkeit beim Fälligkeitseintritt der bereits bekannten weiteren Zahlungsverpflichtungen kannte.46) 3.
Auswirkungen auf gegenseitige Verträge und Dauerschuldverhältnisse
Der Gesetzgeber hat durch die unter Rz. 50 ff. dargestellte Regelung erkannt, dass es zu- 49 mindest mit Blick auf Dauerschuldverhältnisse eine Unterscheidung in der Behandlung ___________ 44) BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/09, ZInsO 2010, 2323, 2324 = ZIP 2010, 2356. 45) BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/09, ZInsO 2010, 2323, 2325 = ZIP 2010, 2356; s. dazu auch Büchler, ZInsO 2011, 1240 ff. 46) BGH, Beschl. v. 19.11.2009 – IX ZB 261/08, ZIP 2010, 145, 146; zur Gleichbehandlung JaegerGerhardt, InsO, § 60 Rz. 68.
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von oktroyierten Masseverbindlichkeiten und denen gegenüber sog. „Weiterbelieferern“ geben muss. 3.1
Auswirkungen auf gegenseitige Verträge gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 1 InsO
50 Die Regelung des § 209 Abs. 2 Nr. 1 InsO knüpft an die Systematik des § 103 i. V. m. § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO an. Danach sind Ansprüche aus gegenseitigen Verträgen, die von beiden Parteien nicht vollständig erfüllt wurden, nach der Wahl des Insolvenzverwalters bei Ablehnung der Erfüllung lediglich als Insolvenzforderung zu klassifizieren. Im Falle der Erfüllungswahl erhalten die Ansprüche hingegen den Rang einer Neumasseverbindlichkeit. 51 Der Insolvenzverwalter erhält daher mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit neuerlich ein Wahlrecht. Dieses ist mit der Erfüllungswahl in § 103 InsO hinsichtlich beidseitig nicht vollständig erfüllter gegenseitiger Verträge zu vergleichen. Im Rahmen der Betriebsfortführung hat der Insolvenzverwalter damit nochmals die Möglichkeit, die vorhandene Vertragssituation an inzwischen geänderte Rahmenbedingungen der Fortführung optimal anzupassen. 3.2
Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO abstellend auf den nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt
52 Den Rang von Neumasseverbindlichkeiten erhalten ebenfalls Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen, die nach dem nächstmöglichen Kündigungstermin entstehen, der auf die Masseunzulänglichkeitsanzeige folgt. Entscheidet sich der Insolvenzverwalter für die Fortführung und lässt die erste Kündigungsmöglichkeit verstreichen, so sind alle Ansprüche des Vertragspartners nach diesem Termin Neumasseverbindlichkeiten.47) Dies gilt unabhängig davon, ob der Insolvenzverwalter den Vertragsgegenstand nutzt oder ansonsten Vorteile aus ihm zieht.48) 53 Alle vor dem Eintritt der Masseunzulänglichkeit entstandenen Verbindlichkeiten, etwa laufende Mietzinsverpflichtungen, sind hingegen als Altmasseverbindlichkeiten zu klassifizieren.49) Insoweit geht der BGH von einer Teilbarkeit der Ansprüche aus der Zeit vor und nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit aus.50) 54 Zu beachten ist, dass auch bei Eintritt der Masseunzulänglichkeit dem Insolvenzverwalter weiterhin ein Sonderkündigungsrecht wie bei der Verfahrenseröffnung über § 109 Abs. 1 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 1 InsO mit verkürzten Fristen zugebilligt wird. Die Kündigung kann nach diesen Normen während der gesamten Dauer des Verfahrens erfolgen, weil eine dem § 111 Satz 2 InsO entsprechende Regelung, die diese auf den ersten Termin, für den sie zulässig ist, beschränkt, fehlt.51) Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit ermöglicht es so, sich etwa auch in einer laufenden Betriebsfortführung noch mit kurzen Kündigungsfristen von Mietverträgen zu lösen, die nicht mehr betriebsnotwendig sind. 55 Wählt der Insolvenzverwalter die Kündigungsoption, so sind alle Ansprüche aus dem Dauerschuldverhältnis als Altmasseverbindlichkeiten im Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO zu befriedigen. ___________ 47) Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1703. 48) Pape, InsBürO 2005, 169, 171. 49) Vgl. insgesamt Ausführung zur Behandlung von Mietverhältnissen in masseunzulänglichen Verfahren Pape, InsBürO 2005, 169 ff. 50) BGH, Urt. v. 29.4.2004 – IX ZR 141/03, ZInsO 2004, 674, 674 = ZIP 2004, 1277 (LS). 51) Pohlmann-Weide in: HambKomm-InsO, § 109 Rz. 8; Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 109 Rz. 8; a. A. noch Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1703.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz 3.3
§ 31
Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO bei Inanspruchnahme der Gegenleistung
Unabhängig von der Frage der Kündigung erlangen Ansprüche aus einem Dauerschuldver- 56 hältnis allerdings den Rang von Neumasseverbindlichkeiten, wenn der Insolvenzverwalter nach dem Eintritt der Masseunzulänglichkeit die Gegenleistung für die Masse in Anspruch nimmt. Eine „Inanspruchnahme“ der Gegenleistung wird vom BGH im Falle von Mietund Pachtverhältnissen bereits dann bejaht, wenn der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht alles tut, um eine weitere Entgegennahme der Gegenleistungen zu verhindern. Dies bedeutet, dass er parallel mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit etwa dem Vermieter den tatsächlichen Besitz zu verschaffen hat.52) Bei einem laufenden Geschäftsbetrieb, der einer geregelten Abwicklung zugeführt werden 57 muss, handelt es sich daher um eine ausschließlich theoretische Möglichkeit. Sie erlangt allerdings Bedeutung, wenn mit der Eröffnung eine sofortige Einstellung geplant ist. 4.
Prozessuale Auswirkungen der Anzeige der Masseunzulänglichkeit
4.1
Vollstreckungsverbot gemäß § 210 InsO
Gemäß § 210 InsO ist mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit eine Vollstreckung der 58 Altmassegläubiger i. S. des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO untersagt. Die Regelung schafft ein Instrument, um vorrangig die nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit entstehenden Neumasseverbindlichkeiten zu berichtigen. Damit gewährleistet sie den ungestörten Ablauf der werbenden Tätigkeit bezogen auf die Liquidität. Rechtsbehelf gegen eine unzulässige Vollstreckung ist die Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO.53) Davon zu unterscheiden ist das Vollstreckungsverbot des § 90 InsO für Massegläubiger, 59 deren Ansprüche nicht auf einer Rechtshandlung des Insolvenzverwalters beruhen, sondern oktroyiert sind. Ihnen ist für einen Zeitraum von sechs Monaten die Vollstreckung unabhängig von der Anzeige der Masseunzulänglichkeit untersagt, um der Insolvenzmasse zu Beginn des Verfahrens die notwendige Liquidität nicht zu entziehen.54) Es besteht jedoch Einigkeit, dass durch das Vollstreckungsverbot das Entstehen von Verzugszinsansprüchen nicht berührt wird, diese laufen weiter.55) 4.2
Prozessuale Geltendmachung durch Feststellungsklage
Mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit sind Altmassegläubiger an der Erhebung oder 60 weiteren Verfolgung der bereits entstandenen Zahlungsansprüche im Wege der Leistungsklage gehindert. Ansprüche können lediglich i. R. von Feststellungsrechtsstreiten verfolgt werden.56) Ein bereits anhängiger Klageantrag ist auf einen Feststellungsantrag umzustellen. Nur ausnahmsweise kann die Leistungsklage zulässig sein, wenn die Quote, die auf die 61 Altmasseverbindlichkeiten entfallen wird, bereits bekannt ist.57) Dies wird jedoch in der Praxis in den seltensten Fällen vorkommen.
___________ 52) 53) 54) 55) 56)
BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, ZIP 2003, 914, 917 = ZInsO 2003, 465. Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 210 Rz. 4. Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, S. 267. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 90 Rz. 12. H. M.: BGH, Urt. v. 29.4.2004 – IX ZR 141/03, ZInsO 2004, 674, 676 = ZIP 2004, 1277 (LS); BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, ZIP 2003, 914 = ZInsO 2003, 465. 57) Pape, InsBürO 2005, 169, 170.
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§ 31 5.
Teil V Einzelfragen Aufrechnung
62 Wird die Masseunzulänglichkeit i. R. der laufenden Betriebsfortführung insbesondere nicht unmittelbar mit der Eröffnung, sondern zu einem späteren Zeitpunkt angezeigt, kann die Rentabilität der weiteren Betriebsfortführung gefährdet werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn man die Zulässigkeit von Aufrechnungserklärungen bejaht. Wäre es dem Altmassegläubiger, der im weiteren Verfahrensverlauf auch Drittschuldner wird, gestattet, durch die Erklärung der Aufrechnung einen Ausgleich der durch die Masseunzulänglichkeitsanzeige auf die quotale Befriedigung verwiesenen Forderung zu erhalten, würde dies den Mechanismus der Masseunzulänglichkeit unterlaufen. Gleiches gilt, wenn durch den Ankauf von Gegenansprüchen eine Aufrechnungslage herbeigeführt werden könnte. 63 Die Beschränkungen der Aufrechnungsmöglichkeiten über die Regelungen der §§ 94 – 96 InsO, die auf den Insolvenzgläubiger abstellen, sind von ihrem Wortlaut her nicht unmittelbar auf Massegläubiger anwendbar. Die interessengerechte Betrachtung geht aber davon aus, dass diese Regelungen beschränkt auf Altmassegläubiger analog anwendbar sind.58) Damit wird die Wertung einer vergleichbaren Behandlung mit einfachen Insolvenzgläubigern bei Verfahrenseröffnung konsequent weiterverfolgt. Gleiches soll für den Rechtsgedanken des § 91 InsO zum Ausschluss sonstigen Rechtserwerbs gelten. 6.
Verjährung
64 Mit seiner Entscheidung vom 14.12.2017 hatte der BGH geurteilt, dass die Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter den Eintritt der Verjährung nicht hemmt.59) Gleiches gilt für die Aufnahme von Altmasseforderung in eine beim Insolvenzverwalter geführte Liste. Es muss ein Leistungsverweigerungsrecht zwischen den Parteien vereinbart worden sein, was auch konkludent möglich ist; ein gesetzliches Leistungsverweigerungsrecht genügt nicht.60) Schutz vor Rechtsverlust bieten hier ausdrückliche Stillhalteabkommen oder Stundungsvereinbarungen, die die Verjährung nach § 205 BGB hemmen oder Einredeverzichte. Die ausdrückliche Vereinbarung ist auch deshalb zu empfehlen, weil der BGH in der oben genannten Entscheidung die Anforderungen an die konkludente Vereinbarung nur skizziert. Er stellt auf den rechtlichen Bindungswillen der Parteien ab, der erkennbar anhand tatsächlicher Umstände nach außen getreten sein muss. 65 Sollte Verjährung eingetreten sein, könnte diese auch die bis dato vorliegende Masseunzulänglichkeit beseitigt haben.61) V.
Haftung
66 Da die Kontrolle der Unzulänglichkeit der Masse zu den insolvenzspezifischen Pflichten des Insolvenzverwalters gehört, trägt dieser gegenüber den Massegläubigern über § 61 InsO das persönliche Haftungsrisiko im Falle einer pflichtwidrigen Begründung. Diese Haftung des Insolvenzverwalters ist keine Garantiehaftung für die Nichterfüllung der von ihm begründeten Masseverbindlichkeiten, sondern eine neben den Haftungsanspruch der Masse tretende Haftungsnorm mit eigenen Tatbestandsvoraussetzungen. 67 Kann eine Masseverbindlichkeit, die durch eine Rechtshandlung des Insolvenzverwalters begründet wurde, aus der Insolvenzmasse bei Fälligkeit nicht berichtigt werden, so haftet ___________ 58) 59) 60) 61)
Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 208 Rz. 19; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 94 Rz. 72. BGH, Urt. v. 14.12.2017 – IX ZR 118/17, NZI 2018, 154 m. Anm. Schädlich. Vgl. BGH, Urt. v. 14.12.2017 – IX ZR 118/17, NZI 2018, 154. Vgl. dazu insgesamt Spiekermann, NZI 2019, 446 ff.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz
§ 31
der Insolvenzverwalter dem Massegläubiger gemäß § 61 Satz 1 InsO persönlich auf Schadensersatz. Die Haftung tritt nicht ein, wenn
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der Insolvenzverwalter darlegen und beweisen kann, dass er objektiv entweder von der voraussichtlichen Erfüllung der Verbindlichkeiten ausgehen konnte oder
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dass für ihn nicht erkennbar war, dass diese Einschätzung nicht zutraf.
War jedoch die Nichterfüllbarkeit bei der Begründung wahrscheinlicher als deren Erfüll- 69 barkeit, so haftet der Insolvenzverwalter persönlich (§ 61 Satz 2 InsO). Der Gesetzgeber hält insoweit Gläubiger gewillkürter, d. h. vom Insolvenzverwalter begründeter Masseverbindlichkeiten für besonders schutzwürdig.62) Eine Haftung nach § 61 InsO für oktroyierte Masseverbindlichkeiten scheidet aus, da der Insolvenzverwalter auf deren Entstehen und Höhe keinen Einfluss hat.63) Um sich später erfolgreich exkulpieren zu können, hat der Insolvenzverwalter vor Be- 70 gründung der Verbindlichkeiten eine Liquiditätsplanung aufzustellen und kontinuierlich fortzuschreiben. Die Planungsprämissen sind nachvollziehbar zu dokumentieren, um bei einer späteren Abweichung die unvorhersehbare Entwicklung darstellen zu können (etwa den Ausfall einer Forderung nennenswerter Größe).64) Im Haftungsfall ist die Haftung auf das negative Interesse beschränkt.65) Damit ist bei 71 gegenseitigen Verträgen der entgangene Gewinn des Vertragspartners nur ausnahmsweise vom Schadensersatz erfasst. Zu ersetzen sind alle Vermögensnachteile, die dem Gläubiger entstanden sind, weil er den Vertrag mit dem Insolvenzverwalter geschlossen bzw. fortgesetzt hat und sich bei seinem weiteren Verhalten danach gerichtet hat. Erfasst sind die Kosten des Vertragsschlusses, Aufwendungen im Zusammenhang mit der Durchführung (wie Transportkosten) sowie eingetretene Vermögensminderungen durch die Erbringung der Gegenleistung. Für entgangenen Gewinn haftet der Insolvenzverwalter nur ausnahmsweise, wenn der Gläubiger darlegen und beweisen kann, dass er aufgrund des Vertragsschlusses andere Geschäfte unterlassen hat.66) Daneben tritt die Haftung nach § 69 AO als Gesamtschuldner mit dem schuldnerischen 72 Unternehmen gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 AO, können aufgrund der Anzeige der Masseunzulänglichkeit steuerliche Pflichten, nämlich Steueransprüche zum Fälligkeitszeitpunkt zu entrichten, nicht erfüllt werden.67) Die Haftung beschränkt sich auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Im Arbeitsrecht hat das BAG entschieden, dass den Insolvenzverwalter keine Verpflichtung 73 trifft, Arbeitnehmer zu einem bestimmten Termin von der Arbeitsleistung freizustellen, um ihnen den Bezug von Arbeitslosengeld zu ermöglichen. Haftungsansprüche können nicht hergeleitet werden, da es sich nicht um eine insolvenzspezifische Pflicht handelt68) Der Insolvenzverwalter ist ebenfalls nicht verpflichtet, die Masseunzulänglichkeit so frühzeitig anzuzeigen, dass der Masse aufgezwungene Verbindlichkeiten ab deren Eintritt bevorrechtigt mit dem Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO befriedigt werden. Denn dann ___________ 62) Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, S. 267. 63) Einhellige Meinung: vgl. etwa Schoppmeyer in: MünchKomm-InsO, § 61 Rz. 16; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 61 Rz. 16; Schultz, ZInsO 2015, 529, 535. 64) Vgl. die grundlegenden Entscheidungen des BGH zur Insolvenzverwalterhaftung nach § 61 InsO: BGH, Urt. v. 17.12.2004 – IX ZR 185/03, ZIP 2005, 311 ff., dazu EWiR 2005, 679 f. (Pape); BGH, Urt. v. 22.04.2004 – IX ZR 128/03, ZIP 2004, 1218 ff., dazu EWiR 2004, 817 f. (Gundlach/Schmidt). 65) BGH, Urt. v. 6.5.2005 – IX ZR 48/03, ZIP 2004, 1107, 1111 f.; Pape, ZInsO 2005, 953, 957. 66) Laws in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Rz. 315 f. 67) Vgl. die Ausführungen bei Rose, ZIP 2016, 1520 ff. 68) BAG, Urt. v. 15.11.2011 – 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638, dazu EWiR 2013, 211 f. (Mückl/Hernstadt).
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müsste der Insolvenzverwalter auch für oktroyierte Masseverbindlichkeiten einstehen, ohne sie willentlich begründet zu haben.69) 74 In der Eigenverwaltung trifft den Sachwalter gemäß § 274 Abs. 1 InsO die Haftung des § 60 InsO bei der Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten. Auch die Haftung der Mitglieder der Vertretungsorgane ist inzwischen gesetzlich in § 276a Abs. 2 InsO geregelt, der auf die §§ 60 – 62 InsO verweist. Somit ist der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung auch bei der Nichterfüllung von Masseverbindlichkeiten haftbar. 75 Die aktuelle weltpolitische Lage macht es dem fortführenden Insolvenzverwalter oder Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung nicht leicht, persönliche Haftungsrisiken zu vermeiden. Unerwartete Forderungsausfälle oder drastische, ungeplante Kostensteigerungen können rasch in die Masseunzulänglichkeit führen, von der man bei normalem Geschäftsverlauf nicht ausgehen musste. Darauf wird sich der für die Fortführung des Unternehmens Verantwortliche in Kenntnis der aktuellen wirtschaftlich fragilen Lage nicht erfolgreich berufen können. Exkulpation ermöglicht nur die Planung und der Soll-/Ist-Abgleich in deutlich kürzeren Zeitintervallen. 76 Die Verjährung richtet sich nach § 62 InsO.70) VI.
Masseunzulänglichkeit in der Eigenverwaltung
77 Wird das Verfahren als Eigenverwaltungsverfahren (§§ 270 ff. InsO) geführt, so hat der Sachwalter nach § 274 InsO die wirtschaftliche Lage des Unternehmens zu prüfen und die Geschäftsführung zu überwachen. In diesen Fällen handelt es sich regelmäßig um laufende Geschäftsbetriebe. Abweichend von den übrigen Regeln der Eigenverwaltung ist gemäß § 285 InsO die Masseunzulänglichkeit durch den Sachwalter und nicht den eigenverwaltenden Schuldner gegenüber dem Insolvenzgericht anzuzeigen. Dies knüpft an die Wertung des § 274 Abs. 3 InsO an, wonach der Sachwalter zur Anzeige verpflichtet ist, sollte die Eigenverwaltung zu Nachteilen für die Gläubiger führen. 78 Dies stellt den Sachwalter vor Herausforderungen, da er selber aufgrund der nur sehr gering ausgeprägten eigenen Befugnisse – die Verwaltung- und Verfügungsbefugnis über die Masse steht ihm nicht zu – nur schwer Feststellungen zur Masseunzulänglichkeit und zur Begründung von Masseverbindlichkeiten treffen kann. Soll es nicht zu einer Kontrolle kommen, die dem gesetzlichen Verständnis der Struktur der Befugnisse und Aufgabenverteilung in der Eigenverwaltung widerspricht, ist der Sachwalter auf Informationen durch den Schuldner von drohender oder eingetretener Masseunzulänglichkeit angewiesen. 79 Im Übrigen enthalten die gesetzlichen Regelungen über die Eigenverwaltung keine speziellen Vorschriften zur Masseunzulänglichkeit, so dass auf die Regelungen der §§ 207 – 216 InsO zurückzugreifen ist und etwa eine gesonderte Rechnungslegung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit gemäß § 211 Abs. 2 InsO zu erfolgen hat. Jedoch hat die Anzeige nicht zur Folge, dass die Verfahrensabwicklung nach Anzeige der Masseinsuffizienz nunmehr durch den Sachwalter zu erfolgen hat. Diese obliegt weiterhin dem eigenverwaltenden Schuldner.71) Eine Ausnahme gilt, wenn die Anordnung der Eigenverwaltung wegen drohender Verfahrensverzögerung oder sonstiger Nachteile für die Gläubiger aufgehoben wird. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass im Falle des Eintritts der Masseunzulänglichkeit eine Aufhebung der Eigenverwaltung angezeigt ist.72) Dem ist jedoch entgegenzu___________ 69) BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/09, ZInsO 2010, 2323, 2324 = ZIP 2010, 2356; dazu Gundlach/ Frenzel/Jahn, DZWIR 2011, 177 ff. 70) Vgl. zur Verjährung Schultz, ZInsO 2015, 529, 537. 71) Graf-Schlicker-Graf-Schlicker, InsO, § 285 Rz. 4 f., so auch Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 285 Rz. 2 – 4, 21 72) Landfermann in: HK-InsO, § 285 Rz. 4.
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Betriebsfortführung bei Masseinsuffizienz
§ 31
halten, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes die Aufhebung der Eigenverwaltung bei den oben genannten Gefährdungstatbeständen zu erfolgen hat. Da das Verfahren sich für die Insolvenzgläubiger nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit jedoch ausnahmslos als Totalausfall der Forderungen darstellt, ist eine weitere darüber hinausgehende Gefährdung bei Fortsetzung der Eigenverwaltung regelmäßig nicht gegeben.73) Käme es doch zu einer Aufhebung der Eigenverwaltung, so könnten danach die Massegläubiger den Schuldner uneingeschränkt in die Haftung nehmen, da er mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gehandelt hatte.74) Im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren war die Frage der Begründung von Masse- 80 verbindlichkeiten streitig, da eine entsprechende gesetzliche Regelung vergleichbar dem § 270b InsO im Schutzschirmverfahren fehlte.75) Die vertretenen Meinungen nahmen dabei eine Bandbreite ein von der Unmöglichkeit der Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den eigenverwaltenden Schuldner bis zur automatischen Entstehung von Masseverbindlichkeiten bei Schuldnerhandeln gleich einem vorläufigen starken Insolvenzverwalter. In genau dieser Bandbreite agierten auch die beteiligten Gerichte, was im Einzelfall zu 81 missbilligenden Ergebnissen der faktischen Verhinderung der Eigenverwaltung führte. Überwiegend wurde von den Gerichten inzwischen die Variante der Begründung von Masseverbindlichkeiten durch Einzelermächtigungen vergleichbar der Vorgehensweise bei der Bestellung des vorläufigen schwachen Verwalters gewählt.76) Durch die Regelungen zur Änderung des Rechts der Eigenverwaltung durch das 82 SanInsFoG77) ist die Begründung von Masseverbindlichkeiten nunmehr durch Pauschalermächtigung i. R. der §§ 270c Abs. 4, 55 Abs. 4 InsO möglich – und zwar nicht nur im Schutzschirm. Auf Antrag des Schuldners sind Verbindlichkeiten, die im Finanzplan nach § 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO erfasst sind, vom Gericht als Masseverbindlichkeiten zu bestimmen, wenn der Finanzplan den vorgenannten gesetzlichen Bestimmungen entspricht.78) Nach § 270c Abs. 4 Satz 2 InsO kann der Schuldner vom Gericht auch zur Begründung weiterer Masseverbindlichkeiten ermächtigt werden, die nicht im Finanzplan erfasst sind, wenn er dies gesondert begründet. Dabei wird dem Gericht allerdings ein Ermessen eingeräumt.79) Kraft Gesetzes entstehen durch die Neufassung des § 55 Abs. 4 InsO nun auch in der 83 vorläufigen Eigenverwaltung Masseverbindlichkeiten. Umsatzsteuerverbindlichkeiten, die vom Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet wurden, gelten nach der Eröffnung des Verfahrens als Masseverbindlichkeiten. Gleiches gilt für sonstige Ein- und Ausfuhrabgaben, bundesgesetzlich geregelte Verbrauchssteuern, die Luftverkehrund die Kraftfahrzeugsteuer sowie die Lohnsteuer.80) Nach dem neuen BMF-Schreiben vom 11.1.202281) soll nun darüber hinaus auch die Um- 84 satzsteuerschuld aus solchen Lieferungen und Leistungen als Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 4 Satz 1 InsO n. F. zu qualifizieren sein, die bereits vor der Bestellung eines ___________ 73) So auch Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 285 Rz. 15-17; vgl. insgesamt zu dem Thema Huhn, Die Eigenverwaltung im Insolvenzverfahren, § 11. 74) Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 285 Rz. 30. 75) Bisheriger Streitstand ausführlich dargestellt bei Lambrecht/Michelsen, ZInsO 2015, 2520 ff.; Klinck, ZInsO 2014, 365; Frind, InsBürO 2014, 323 ff. 76) So etwa LG Duisburg, Beschl. v. 29.11.2012 – 7 T 185/12, ZIP 2012, 2453 = ZInsO 2012, 2346; OLG Dresden, Urt. v. 15.10.2014 – 13 U 1605/13, ZInsO 2015, 2273 f. = ZIP 2015, 1937. 77) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 78) Vgl. zu den Anforderungen an die Detailgenauigkeit des Finanzplans: Schluck-Amend, ZRI 2021, 913, 919 f. 79) Begr. RegE SanInsFoG z. § 270c InsO, BT-Drucks. 19/24181, S. 206 f. 80) Vgl. zu den Steuern in der vorläufigen Eigenverwaltung: Rickert/Tillmann/Trostheide, NZI 2022, 463 ff. 81) BMF-Schreiben v. 11.1.2022 – IV A 3 – S 0550/21/10001, BStBl. I 2022, 116.
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vorläufigen Sachwalters ausgeführt wurden, sofern die hierauf entfallenden Forderungen vom eigenverwaltenden Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters vereinnahmt werden (sog. Einzug von „Altforderungen“).82) VII. Masseunzulänglichkeit und Insolvenzplan 85 Häufig werden Betriebsfortführungen über den Eröffnungszeitpunkt hinaus mit dem Ziel verfolgt, durch die spätere Vorlage eines Insolvenzplanes das Unternehmen aus sich heraus zu sanieren. Mit der Betriebsfortführung nach Planbestätigung zu erzielende Überschüsse oder Sanierungsbeiträge der (neuen) Anteilseigner werden dazu verwendet, den Insolvenzgläubigern eine Quote auf die zur Tabelle festgestellten Insolvenzforderungen zu zahlen. 86 Es war umstritten, ob im Falle der Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Abwicklung des Verfahrens mittels eines Insolvenzplanes noch möglich ist. Anders als in der vom Gesetzgeber vorgesehenen Abwicklungsvariante bei Durchführung eines Insolvenzplans, in der die einfachen Insolvenzgläubiger der einzelnen Gruppen des Plans quotal befriedigt werden, wäre in diesem Falle die quotale Befriedigung der Massegläubiger Inhalt des Plans.83) 87 Durch die Einführung von § 210a InsO durch das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Vorlage eines Insolvenzplans auch im Falle der Masseunzulänglichkeit grundsätzlich bejaht.84). VIII. Beseitigung der Masseunzulänglichkeit 88 Gesetzlich nicht geregelt ist die Frage, ob eine Rückkehr ins reguläre Verfahren möglich ist, wenn i. R. der weiteren Verfahrensabwicklung die Masseunzulänglichkeit beseitigt wird, so dass alle Altmassegläubiger vollständig befriedigt werden können. Mit der h. M. ist als „actus contrarius“ zur Anzeige der Masseinsuffizienz eine Wiederaufnahme des regulären Verfahrens möglich.85) Der vertretenen Auffassung,86) eine stillschweigende Rückkehr durch Aufnahme der Verteilung sei abzulehnen, ist mit Blick auf die Rechtsklarheit zu folgen. Auch die Wiederherstellung der Massezulänglichkeit ist daher dem Insolvenzgericht anzuzeigen und öffentlich bekannt zu machen. IX.
Erneute Anzeige der Masseunzulänglichkeit
89 Es ist nicht ausgeschlossen, dass nach einer erfolgten Masseunzulänglichkeitsanzeige im Verlaufe der weiteren Verfahrensabwicklung auch mit Blick auf die Neumasseverbindlichkeiten erneut Masseunzulässigkeit eintritt. Die Behandlung dieser Frage ist gesetzlich nicht geregelt und höchst umstritten.87) Es wird zum Teil vertreten, dass eine erneute Anzeige gegenüber dem Insolvenzgericht möglich sei.88) Der BGH folgt dieser Auffassung nicht. Es genüge, im Prozess den Eintritt der erneuten Masseunzulänglichkeit gegenüber dem Neumassegläubiger einzuwenden.89) Damit entfalle das Rechtsschutzbedürfnis für eine Leistungsklage. ___________ 82) Vgl. zu dem Thema sowie der Anwendbarkeit der Doppelberichtigungs-Rspr. Witfeld, NZI 2022, 261 ff.; Keilbach, NZI 2022, 256 ff. 83) Vgl. zum Streitstand etwa Paul, ZInsO 2005, 1136 f. 84) Begr. RegE ESUG z. § 210a InsO, BT-Drucks. 17/5712, S. 9. 85) Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 208 Rz. 14; Uhlenbruck-Ries, InsO, § 208 Rz. 62. 86) Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 208 Rz. 55; a. A.: Uhlenbruck-Ries, InsO, § 208 Rz. 31; Kübler/ Prütting/Bork-Pape, InsO, § 208 Rz. 26. 87) Dogmatisch damit auseinandersetzt haben sich zuletzt: Ganter, NZI 2019, 7 ff.; Thole, ZIP 2018, 2241 ff. 88) Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1707; Landfermann in: HK-InsO, § 208 Rz. 23. 89) BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, ZIP 2003, 914 = ZInsO 2003, 465.
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§ 32 Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung Cornelius
Übersicht I. Vorbemerkung ............................................ 1 II. Antragsverfahren/Ziel: Sicherung des Grundstücks.......................................... 8 1. Vorbemerkung ............................................. 8 2. Das Grundstück im anfänglichen Eigentum des Schuldners........................... 13 2.1 Sicherung des Grundstücks/ Überwachungspflichten des vorläufigen Verwalters ............ 13 2.2 Aufrechterhaltung der Ver- und Entsorgung des Grundstücks/ Dauerschuldverhältnisse ............... 16 2.3 Versicherung .................................. 18 2.4 Grundbuchauszug/Insolvenzvermerk im Grundbuch................. 20 2.5 Der obstruktive Schuldner: Antrag auf Anordnung der starken vorläufigen Verwaltung? ................................... 32 2.6 Eigentumsübergang auf Dritte ..... 35 2.6.1 Gefahr des Eigentumsverlustes am Grundstück durch Handlungen des Schuldners ............................... 40 2.6.1.1 Rechtserwerb eines Dritten gemäß § 878 BGB .......................... 42 2.6.1.2 Gutgläubiger Rechtserwerb eines Dritten gemäß § 81 InsO i. V. m. § 892 BGB......................... 47 2.6.1.3 Schutz des vormerkungsgesicherten Käufers nach § 106 InsO ............................................... 52 2.6.1.4 Grenzen des Schutzes ................... 57 2.6.2 Gefahr des Eigentumsverlustes am Grundstück durch die von Dritten betriebene Zwangsversteigerung.................................. 58 2.6.2.1 Zuschlag gemäß § 90 ZVG während des Antragsverfahrens....................................... 58 2.6.2.2 Abwehrmöglichkeiten................... 60 2.7 Besitzübergang auf Dritte ............. 69 2.7.1 § 148 ZVG – Beschlagnahme während des Antragsverfahrens.... 69 2.7.2 Räumungspflicht aus § 93 ZVG – Verbotene Eigenmacht.................. 83 2.7.3 Vermietung durch Schuldner im Antragsverfahren...................... 88
Fehlende öffentlich-rechtliche Nutzungsberechtigungen.............. 89 3. Das vom Schuldner gemietete oder gepachtete Grundstück.............................. 92 3.1 Sicherung des Grundstücks .......... 92 3.2 Kündigungssperre gemäß § 112 InsO/Aussonderungssperre nach Kündigung............................. 95 III. Eröffnetes Verfahren .............................. 104 1. Die Nutzung des im Eigentum des Schuldners stehenden Grundstücks........ 104 1.1 Versicherung und Sicherung nach Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis... 104 1.2 Haftung des Grundstücks (auch für die Vergangenheit) ...... 107 1.2.1 Wohnungseigentum (Teileigentum) (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 ZVG) ............................................ 108 1.2.2 Öffentliche Lasten i. S. von § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG ................ 109 1.2.2.1 Beiträge gemäß Satzung .............. 110 1.2.2.2 Grundsteuer/maßgeblicher Zeitpunkt ..................................... 114 1.2.3 Grundpfandrechte i. S. von § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG ........................ 117 1.3 Haftung der Insolvenzmasse (nur für die Zukunft) .................. 119 1.3.1 Nach Eröffnung abgeschlossene Verträge; Erfüllungswahl ............ 119 1.3.2 Bei Vermietung des Betriebsgrundstücks: Vorsteuerberichtigung nach Wegfall der Umsatzsteueroption................................. 121 2. Gefährdung der Betriebsfortführung durch Zwangsvollstreckungen des Grundpfandrechtsgläubigers............. 122 2.1 Zwangsverwaltung....................... 127 2.1.1 Antragsbefugnis........................... 127 2.1.2 Abwehrmöglichkeiten des Insolvenzverwalters .............. 128 2.1.3 Vereinbarung einer „kalten Zwangsverwaltung“ ..................... 137 2.1.4 Spannungsverhältnis zwischen § 100 InsO und § 149 ZVG (Unterhaltsgewährung an den Schuldner)........................ 141
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2.7.4
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§ 32
Teil V Einzelfragen
2.2 2.2.1 2.2.2
Zwangsversteigerung................... 145 Antragsbefugnis .......................... 145 Abwehrmöglichkeiten des Insolvenzverwalters .............. 150 3. Das vom Schuldner gemietete oder gepachtete Grundstück............................ 154 3.1 Fortbestehen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO ...................... 154 3.1.1 Gebrauchsüberlassungspflicht des Vermieters ............................. 155 3.1.2 Mietzahlungspflicht des Verwalters insbesondere: Tilgungsbestimmungsrecht des Insolvenzverwalters ..................................... 156 3.2 Kündigungsrecht des Insolvenzverwalters gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 InsO ................... 162 3.2.1 Kündigungsfrist max. drei Monate (§ 109 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 InsO)............................................ 164 3.2.2 Schadensersatzanspruch des Vermieters (nur) Insolvenzforderung (§ 109 Abs. 1 Satz 3 InsO) ......... 165 3.3 Nutzungsüberlassung durch den nicht unwesentlich beteiligten Gesellschafter des Schuldners (mit Sonderfall Betriebsaufspaltung) (§ 135 Abs. 3 InsO).... 166 3.3.1 Keine Pflicht zur unentgeltlichen Nutzungsüberlassung ................. 167 3.3.2 Fortbestehen des Nutzungsverhältnisses und Aussonderungssperre für ein Jahr........................ 168 3.3.3 Entschädigung statt Pflicht zur unentgeltlichen Nutzungsüberlassung.......................................... 169 3.3.4 Berechnung der Höhe der Entschädigung ................................... 170 3.3.5 Nichtberücksichtigung anfechtbar erlangter Beträge ......................... 172 IV. Exit-Strategien des Insolvenzverwalters................................................. 178 1. Grundstück als Teil eines Asset Deals – Verwertung des (grundpfandrechtlich belasteten) Grundstücks durch den Insolvenzverwalter....................................... 180 1.1 Verhandlungen mit Interessenten für den Geschäftsbetrieb ...... 180 1.2 Ermittlung des Kaufpreisanteils auf Grundlage des Verkehrswertes ........................................... 181
1.3
2.
3.
Abschluss einer Verwertungsvereinbarung mit dem/den Absonderungsberechtigten.............. 183 1.3.1 Einigung über Erlösanteil ........... 187 1.3.2 Einigung über Massebeitrag (Vereinbarung erforderlich, da gesetzliche Regelung fehlt)......... 188 1.3.3 Berücksichtigung von Umsatzsteuer und Ertragssteuern als potentielle Masseverbindlichkeiten ..................................... 190 1.3.3.1 Umsatzsteuer............................... 190 1.3.3.2 Ertragsteuern ............................... 192 1.3.4 Beteiligung etwaiger Nachranggläubiger nur aus dem Erlösanteil der vorrangigen Gläubiger; nicht(!) aus dem der Masse, sog. Schornsteinhypothek .......... 195 Grundstück als Teil eines Share Deals (bei Insolvenzplan-Regelung im gestaltenden Teil) .............................................. 201 2.1 Ablösung des Verkehrswertes durch einen Teil der Einlage des Investors................................ 204 2.2 Alternativ: Ablösung der Grundpfandrechte aus künftigen Erträgen ....................................... 206 2.3 Debt-to-Equity-Swap nach § 225a InsO: Sacheinlage der Forderung gegen Anteile am Schuldner (ESUG) ................ 207 Die Freigabe des Grundstücks ................ 210 3.1 Zweck und Wirkung der Freigabe ................................. 210 3.2 Einkommen- bzw. Körperschaftssteuer sowie Umsatzsteuer als potentielle Masseverbindlichkeit............................. 213 3.3 Freigabeerklärung........................ 216 3.3.1 Form der Freigabeerklärung....... 217 3.3.1.1 Zwangsversteigerungsanordnung vor Freigabe ................................. 219 3.3.1.2 Freigabe vor Zwangsversteigerungsanordnung....................... 220 3.3.1.3 Ausreichen des Löschungsersuchens durch das Insolvenzgericht ......................................... 224 3.4 Insbesondere: Altlasten .............. 225 3.5 Spätestmöglicher Zeitpunkt der Freigabe ................................. 231
Literatur: d’Avoine, Feststellung, Verwertung und Abrechnung von Sicherheitsgut als „einheitliches Geschäft“ des Insolvenzverwalters, ZIP 2012, 58; Bitter, Sanierung in der Insolvenz – Der Beitrag von Treue- und Aufopferungspflichten zum Sanierungserfolg, ZGR 2010, 147; Büchler, Befriedigung von Immobiliargläubigern – Anmerkung zu BGH, ZInsO 2010, 764 und ZInsO 2010, 914, ZInsO
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
§ 32
2011, 718; Cranshaw/Welsch, Kalte bzw. stille Zwangsverwaltung – Vorteile und Zweifelsfragen, DZWIR 2017, 101; Eckardt, Grundpfandrechte im Insolvenzverfahren, RWS-Skript 35, 13. Aufl., 2013; Eickmann, Probleme des Zusammentreffens von Konkurs und Zwangsverwaltung, ZIP 1986, 1517; Frege/Keller, „Schornsteinhypothek“ und Lästigkeitsprämie bei Verwertung von Immobiliarvermögen in der Insolvenz, NZI 2009, 11; Ganter, Kündigungsrecht trotz angeordneter Verwertungssperre? – Zum Spannungsverhältnis zwischen § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 und § 112 InsO, ZIP 2015, 1767; Ganter, Sicherungsmaßnahmen gegenüber Aus- und Absonderungsberechtigten, NZI 2007, 549; Ganter/Brünink, Insolvenz und Umsatzsteuer aus zivilrechtlicher Sicht, NZI 2006, 257; Geißler, Die insolvenzrechtliche Qualität des Anspruchs des Vermieters auf Miete für unbewegliche Gegenstände oder Räume bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Mieters im Laufe des Bemessungs- bzw. Nutzungszeitraums, ZInsO 2012, 1206; Gerhardt, Verfügungsbeschränkungen in der Eröffnungsphase und nach Verfahrenseröffnung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2000, S. 193; Heyn, Zur Qualität von Mietzinsforderungen bei Verfahrenseröffnung am Monatsersten, InsbürO 2012, 485; Heyn, Sachbearbeitende Tätigkeiten in der Insolvenzverwaltung, ZInsO 2006, 980; Hölzle, Zur Suspendierung der Mietzahlungspflicht für gewerblich genutzte Immobilien im Insolvenzeröffnungsverfahren, ZIP 2014, 1155; Hölzle, Die Fortführung von Unternehmen im Insolvenzeröffnungsverfahren, ZIP 2011, 1889; Hölzle, Gibt es noch eine Finanzierungsfolgenverantwortung im MoMiG?, ZIP 2009, 1939; Kesseler, Der Schutzumfang der Vormerkung im Insolvenzverfahren, MittBayNotK 2005, 108; Kirchhof, Probleme bei der Einbeziehung von Absonderungsrechten in das Insolvenzeröffnungsverfahren, ZInsO 2007, 227; Klenk/Kronthaler, Die Rechtsprechung des V. (Umsatzsteuer-)Senats des Bundesfinanzhofs, NZI 2006, 369; Knees, Aus der Rechtsprechung zur Verwertung von Grundpfandrechten in der Insolvenz, ZInsO 2015, 2010; Knees, Die Bank als Grundpfandrechtsgläubiger in der Unternehmensinsolvenz, ZIP 2001, 1568; Krüger, Insolvenzsteuerrecht Update 2014, ZInsO 2014, 578; Lütcke, Leistungsbestimmungsrecht des Insolvenzverwalters nach Verwertung des Vermieterpfandrechts, NZI 2012, 262; Marotzke, Gesellschaftsinterne Nutzungsverhältnisse nach Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts, ZInsO 2008, 1281; Molitor, Verwaltung einer Immobilie in der Insolvenz des Eigentümers, ZInsO 2011, 1486; Mönning, R.-D.,/Zimmermann, Die Einstellungsanträge des Insolvenzverwalters gem. §§ 30d I, 153b I ZVG im eröffneten Insolvenzverfahren, NZI 2008, 134; Obermüller, Die Verrechnung von Tilgungen im Insolvenzverfahren, NZI 2011, 663; Onusseit, Neues zum Insolvenzsteuerrecht vom Bundesfinanzhof, ZInsO 2014, 59; Onusseit, Die Freigabe aus dem Insolvenzbeschlag – eine umsatzsteuerliche Unmöglichkeit?, ZIP 2002, 1344; Piegsa, Der Grundstückskaufvertrag in der Insolvenz, RNotZ 2010, 433; Piekenbrock, Das ESUG – fit für Europa?, NZI 2012, 905; Rosenmüller, Zur Qualität von Mietzinsforderungen bei Verfahrenseröffnung am Monatsersten, ZInsO 2012, 1110; Schmerbach, Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, InsbürO 2007, 202; Schmitt, Der stationäre Einzelhändler in der Insolvenz – Praxisfragen rund um die angemietete Immobilie, ZIP 2022, 617; Scholtz, § 878 BGB in der Verkäuferinsolvenz, ZIP 1999, 1693; Schreinert, Erteilung der Vollstreckungsklausel durch den Notar gegen den Schuldner im Insolvenzverfahren, RNotZ 2013, 161; Schumm, Steuerlicher Veräußerungserlös bei mit Absonderungsrechten belasteten Wirtschaftsgütern, StuB 2013, 842; Schuschke, Die „Berliner Räumung“ bei der Vollstreckung aus einem Zuschlagsbeschluss gem. § 93 ZVG, NZM 2011, 685; Undritz, Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren – Die Quadratur des Kreises?, NZI 2007, 65; Wallner/Neuenhahn, Ein Zwischenbericht zur Haftung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters, NZI 2004, 63.
I.
Vorbemerkung
Grundstücke sind der Natur der Sache nach ortsfest („immobil“), sämtliche Rechte an 1 ihnen sind im Grundbuch, einem öffentlichen Register, erfasst und für jedermann mit berechtigtem Interesse hieran einsehbar. Vertraglich begründete Änderungen der Rechtsverhältnisse an Grundstücken bedürfen, sieht man von der Ausnahme der partiellen Universalsukzession aufgrund von Vorgängen nach dem Umwandlungsgesetz ab, gemäß §§ 873, 875, 877 BGB zu ihrer rechtlichen Wirksamkeit einer Eintragung im Grundbuch. Dieses Grundbuchverfahren ist seinerseits in der Grundbuchordnung (GBO) bis ins Einzelne gehend geregelt und folgt strengen formalen Anforderungen. Grundstücke sind auch nicht von Menschenhand vermehrbar. In ihnen ruht nicht nur im wörtlichen Sinne das Fundament einer Unternehmung. Dies erklärt, warum Grundstücke im Vergleich zu anderen Anlageklassen als wertbeständige 2 Formen des Vermögens begehrt und demzufolge auch für die Besicherung von Darlehen besonders geeignet sind. Dies gilt bereits in der Zeit des reibungslosen und ertragreichen Verlaufs der Geschäfts- 3 tätigkeit eines Unternehmens. Zwar sind – soweit ersichtlich – empirische Untersuchungen Cornelius
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über den relativen Anteil der Grundstücke am Gesamtwert der Insolvenzmassen noch nicht angestellt worden. Auch das, als Art. 7 des ESUG1) eingeführte und gemäß Art. 10 ESUG am 1.1.2013 in Kraft getretene, Insolvenzstatistikgesetz sieht Erhebungen in dieser Richtung nicht vor. Jeder Insolvenzpraktiker wird jedoch aus seiner Erfahrung bestätigen können, dass die Rechte an schuldnereigenen Grundstücken im Fall der Krise und einer sich etwa anschließenden Insolvenz noch an Bedeutung gewinnen und die Verwertung von Grundstücken eines der Hauptfelder der Auseinandersetzung ist. 4 Der Antragstellung auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sei es durch den Schuldner selbst, sei es durch einen seiner Gläubiger, geht üblicherweise eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs des schuldnerischen Unternehmens voraus. Spätestens mit Bekanntwerden des Insolvenzantrages werden die Gläubiger danach trachten, ihre wirtschaftliche Position optimal zu wahren. Im Gegensatz dazu ist es die Pflicht des vorläufigen Verwalters, nicht nur das Vermögen des Schuldners zu sichern, sondern auch – im Falle einer Unternehmensinsolvenz – die Sanierung vorzubereiten. Hierfür wird es meist unverzichtbar sein, das Betriebsgrundstück weiter nutzen zu können. 5 Im eröffneten Verfahren wird sodann – insbesondere bei einer übertragenden Sanierung – die Verwertung des Grundstücks, als nicht hinweg zu denkender Bestandteil der für eine Fortführung des Unternehmens notwendigen Produktionsmittel, das besondere Augenmerk des Insolvenzverwalters erfordern. 6 Nachfolgend nicht behandelt werden demgemäß etwaige im Schuldnervermögen vorhandene Grundstücke, die für die Fortführung des vom Schuldner betriebenen Unternehmens nicht notwendig sind. 7 Der äußerste Grad an Betriebsnotwendigkeit eines Grundstücks besteht darin, dass die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren ohne es scheitern würde. Steht das Grundstück nicht mehr zur Verfügung, bleibt nur die Liquidation, mit der Folge, dass die Verluste aller anderen Gläubiger deutlich höher ausfallen.2) Dies entspräche logisch/denkgesetzlich dem Wortsinne. Bitter3) schränkt dies jedoch ein, wonach dieses Maximum an Intensität für die Anwendung der §§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, 135 Abs. 3 InsO nicht erforderlich sein soll. Dies ist auch konsequent: So spricht der Gesetzestext in § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO und in § 135 Abs. 3 InsO von der Voraussetzung, dass die betroffenen Massegegenstände für die Fortführung des Unternehmens des Schuldners von erheblicher Bedeutung sind. Insoweit wäre es zutreffender, von „in erheblicher Weise fortführungsbedeutsamen“ Gegenständen (hier: Grundstücken) zu sprechen. Nachdem sich jedoch die Bezeichnung als „betriebsnotwendig“ gleichwertig eingebürgert hat, soll der Begriff ebenfalls – mit der beschriebenen Einschränkung – verwendet werden. Festzuhalten bleibt, dass die Bestimmung der Fortführungserheblichkeit oder –notwendigkeit einer wertenden Entscheidung auf Grundlage der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zugänglich ist und eine solche erfordert. II.
Antragsverfahren/Ziel: Sicherung des Grundstücks
1.
Vorbemerkung
8 Besonderes Augenmerk verdient bei jeder Betriebsfortführung die Phase des Eröffnungsverfahrens, da sich hier die Verhältnisse im Umbruch befinden. Hölzle4) beschreibt zutreffend und anschaulich die Komplexität der an einen vorläufigen Verwalter gestellten Aufgaben; ___________ 1) 2) 3) 4)
Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. Bitter, ZGR 2010, 147, 176. Bitter, ZGR 2010, 147, 159. Hölzle, ZIP 2011, 1889, 1890 f.
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der gesetzliche Auftrag eines jeden vorläufigen Insolvenzverwalters umfasse dreierlei: Aufsicht, Sicherung, Gestaltung. „Allein die Sicherung des schuldnerischen Vermögens in der risikobehafteten Zeit zwischen Insolvenzantragstellung und Entscheidung über den Antrag ist nicht die ausschließliche Aufgabe des Eröffnungsverfahrens im Kontext einer sozialen Marktwirtschaft. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll der vorläufige Insolvenzverwalter nämlich nicht lediglich zurückhaltend sichernd tätig sein und damit eine passive Rolle im Eröffnungsverfahren einnehmen; er soll vielmehr aktiv das Insolvenzeröffnungsverfahren betreiben, ein noch am Markt befindliches Unternehmen fortführen, die Sanierungswürdigkeit prüfen und erhalten, die Insolvenzmasse nach Möglichkeit anreichern, Außenstände einziehen, übertragende Sanierungen oder andere Sanierungsmaßnahmen vorbereiten, Anfechtungs- und Haftungstatbestände ermitteln, mit potenziellen Investoren Vorverhandlungen führen, Insolvenzgeld vorfinanzieren, mit Absonderungsberechtigten verhandeln und vieles mehr.“5)
Gleichwohl steht bei Grundstücken in der Betriebsfortführung durch den vorläufigen 9 Verwalter die Sicherungsaufgabe im Vordergrund. Dies ergibt sich aus den Besonderheiten der vom Grundpfandrechtsgläubiger etwa bereits eingeleiteten Immobiliarzwangsvollstreckung, die vom Insolvenzverfahren unabhängig fortbetrieben werden kann. Daneben sind beim Grundstück eine Vielzahl von möglichen tatsächlichen und rechtlichen Gefährdungen zu betrachten und ggf. abzuwehren, weshalb auch hier die Sicherungsaufgabe des vorläufigen Verwalters großen Raum einnimmt. Normativer Ausgangspunkt für den starken vorläufigen Verwalter mit Verfügungsbefugnis 10 ist § 22 Abs. 1 Satz 2 InsO, dort insbesondere Nr. 1, wonach der vorläufige Verwalter das Vermögen des Schuldners zu sichern und zu erhalten hat. Wird hingegen ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, ohne dass dem Schuldner ein 11 allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird, so bestimmt das Gericht gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 InsO die Pflichten des vorläufigen Insolvenzverwalters. Jedoch ist anerkannt, dass auch bei einem vorläufigen Verwalter ohne Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis es sich bei der Sicherungspflicht um eine generelle Pflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters handelt, die unabhängig von dem gesetzlich oder gerichtlich eingeräumten Grad der Befugnisse eingreift.6) Dessen ungeachtet sind die Befugnisse des „schwachen“ vorläufigen Verwalters weniger 12 weitreichend als die des mit Verfügungsbefugnis ausgestatteten. Sie dürfen gemäß § 21 Abs. 2 Satz 2 InsO nicht über die Pflichten eines verwaltungs- und verfügungsbefugten vorläufigen Verwalters hinausgehen. Insoweit sollen im Folgenden immer auch die schwierigeren Aufgaben des vorläufigen Verwalters ohne Verfügungsbefugnis im Blick behalten werden. 2.
Das Grundstück im anfänglichen Eigentum des Schuldners
2.1
Sicherung des Grundstücks/Überwachungspflichten des vorläufigen Verwalters
Den vorläufigen Verwalter – gleichgültig ob mit Verfügungsbefugnis oder nur mit Zustim- 13 mungsvorbehalt ausgestattet – trifft durch die Verweisungsnorm des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO die Haftung für die Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten wie einen (endgültigen) Verwalter.7) Findet der vorläufige Verwalter ein Grundstück vor, das im Eigentum des Schuldners steht, 14 muss er für die Erhaltung des wirtschaftlichen Wertes des Grundstücks als Betriebsmittel sorgen. Dazu muss er die vom Schuldner abgeschlossenen Dauerschuldverhältnisse, ins___________ 5) 6) 7)
Hölzle, ZIP 2011, 1889, 1890 f. Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 22 Rz. 7. Undritz, NZI 2007, 65, 69; Wallner/Neuenhahn, NZI 2004, 63.
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besondere zur Ver- und Entsorgung des Grundstücks aufrechterhalten. Daneben hat der vorläufige Verwalter die Substanz des Gebäudes durch Abschluss entsprechender Versicherungen zu schützen. Gleichzeitig muss er sicherstellen, dass das schuldnerische Unternehmen gegen Schadensersatzansprüche, die von der Grundbesitzerhaftung gemäß § 836 BGB ausgehen, ausreichend geschützt ist. 15 Eine öffentlich rechtliche Pflicht besonderer Art ist die Verkehrssicherungspflicht gegen alle von dem Betriebsgrundstück ausgehenden möglichen Gefahren. Die Verkehrssicherungspflicht trifft den vorläufigen Verwalter mit Zustimmungsvorbehalt nicht persönlich, doch kann die Verletzung der Pflicht durch das schuldnerische Unternehmen zu erheblichen nachteiligen Folgen für die Vermögenslage des Schuldners führen. Hierzu hat er die Befugnis zur Einsichtnahme in Bücher und Geschäftspapiere aus § 22 Abs. 3 Satz 2 InsO. 2.2
Aufrechterhaltung der Ver- und Entsorgung des Grundstücks/ Dauerschuldverhältnisse
16 In der Phase der vorläufigen Verwaltung vor Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens ist der vorläufige Verwalter gehalten, zur Gewährleistung der Betriebsfortführung die üblichen Verträge zur Ver- und Entsorgung des Grundstücks aufrechtzuerhalten. Er wird deshalb mit den Vertragspartnern in Verbindung treten, ihnen sein Interesse an der Fortsetzung der Belieferung (bspw. mit Strom) anzeigen und ihnen anbieten, die Zahlung zukünftiger Lieferungen bis zur Eröffnungsentscheidung sicherzustellen, sofern Leistungsverweigerung zu gewärtigen ist. In dieser Phase gilt allgemeines Vertragsrecht. Aus Sicht des Vertragspartners ist der sicherste Weg, um Zahlungen zu erhalten und – nach Eröffnung – anfechtungsfest behalten zu können, die Vereinbarung von Bargeschäften, die den Anforderungen des § 142 InsO entsprechen, also die eigene Leistung nur zu erbringen, wenn gleichzeitig vom Gemeinschuldner auch die Gegenleistung erbracht wird.8) 17 Zahlungen auf Altverbindlichkeiten des schuldnerischen Unternehmens darf der vorläufige Verwalter nicht zustimmen. Wird er von einem Anbieter mit starker Verhandlungsposition in dieser Richtung unter Druck gesetzt, wird er Zahlungen nur unter dem Vorbehalt späterer Rückforderung im Wege der Insolvenzanfechtung seine Zustimmung geben können: Höchstrichterlich9) geklärt ist, dass der Insolvenzverwalter die Erfüllung von Altverbindlichkeiten anfechten kann. Undritz10) spricht in dieser Konstellation von „Erpressungsfällen“ und stellt die Frage, ob die Anführungszeichen um das Wort „Erpressung“ angebracht sind oder nicht. 2.3
Versicherung
18 Da die Erhaltung des schuldnerischen Vermögens zu den grundlegenden Pflichten eines jeden vorläufigen Verwalters gehört, wird er seine Aufmerksamkeit auf die Aufrechterhaltung oder den Neuabschluss von dem Substanzschutz dienenden Versicherungen richten. Hierfür wird üblicherweise ein Versicherungsmakler zur Ermittlung des Versicherungsbedarfs eingeschaltet. 19 Auch hier ist es unerlässlich, dass sich der vorläufige Verwalter einen schnellen Überblick darüber verschafft, ob das Unternehmen über eine geordnete Verwaltung und Buchhal___________ 8) Hierzu und zu den weiteren in Betracht kommenden Möglichkeiten vgl. Wienberg in: Reul/Heckschen/ Wienberg, Kap. M. VII. Rz. 131 – 133. 9) BGH, Urt. v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, ZIP 2005, 314; BGH, Urt. v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, ZIP 2006, 431; BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, ZIP 2013, 528 = NZI 2013, 298. 10) Undritz, NZI 2007, 65, 67.
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tung verfügt. Aus ihr ergibt sich, welche der folgenden Versicherungen vom schuldnerischen Unternehmen abgeschlossen worden sind: x
Gebäudeversicherung (Substanzschutz); wenn erforderlich: Elementarschäden, z. B. Hochwasser. Dabei hat der vorläufige Verwalter keinen Ermessensspielraum, ob er eine Versicherung abschließen will oder nicht. Vielmehr treffen ihn nach der Rechtsprechung des BGH11) Sorgfalts- und Obhutspflichten auch für die von ihm verwalteten Gegenstände des Schuldnervermögens, die mit Absonderungsrechten belastet sind. Das gilt unabhängig davon, ob die Verwertung der belasteten Gegenstände einen Erlös für die Masse erbringen wird oder ob die Verwaltung sonst vorteilhaft für die Masse ist. Deshalb darf er aus dem von ihm verwalteten Schuldnervermögen die Kosten notwendiger Erhaltungsund Verwaltungsmaßnahmen bestreiten, auch wenn dadurch die künftige Masse geschmälert wird. Zwar begründet nach dem BGH das Unterlassen der dem Grundstückseigentümer nach § 1134 Abs. 2 BGB obliegenden Schutzvorkehrungen (im entschiedenen Fall handelte es sich um eine Feuerversicherung) für sich noch keinen Schadensersatzanspruch des Grundpfandrechtsgläubigers gegen den Eigentümer. Schadensersatz kann erst gefordert werden, wenn durch eine schuldhafte Verletzung der Obliegenheiten aus den §§ 1133, 1134 BGB das Grundpfandrecht selbst entwertet worden ist. Das gilt auch für einen Schadensersatzanspruch gegen den das Grundstück verwaltenden vorläufigen Verwalter.
x
Grundbesitzer-Haftpflicht Daneben muss der vorläufige Verwalter überprüfen, ob die Grundbesitzerhaftpflichtversicherung besteht und ggf. neu abschließen. Sie deckt das Risiko ab, das dem zu sichernden Vermögen aus der Haftung gemäß § 836 BGB und den damit etwaig entstehenden neuen Verbindlichkeiten erwächst. Nur durch eine Bewertung aller tatsächlichen Umstände des Grundstücks, der auf ihm verkehrenden Personen und der aus der konkreten Situation möglicherweise erwachsenden Gefahren kann der Umfang der erforderlichen Versicherungsdeckungen ermittelt werden. So macht es einen großen Unterschied, ob sich auf dem Grundstück nur eine Lagerhalle befindet, in der einige wenige Logistik-Mitarbeiter beschäftigt sind, oder ob es sich bspw. um ein Krankenhaus oder eine Pflegeeinrichtung handelt, auf dessen Gelände sich körperlich eingeschränkte Patienten oder Bewohner ständig aufhalten, die zudem regelmäßig von einer Vielzahl von Besuchern aufgesucht werden. In diesen Fällen kann bspw. die Beachtung der Brandschutzvorschriften besonderes Augenmerk verlangen.
x
Prämienzahlung: Gegebenenfalls Anzeige gegenüber dem Grundpfandrechtsgläubiger zur Erlangung von Mitteln für Prämienzahlung Der vorläufige Verwalter ist verpflichtet, für ausreichenden Versicherungsschutz zu sorgen. Er hat sich zudem kurzfristig durch Erkundigung bei den Versicherern ein Bild darüber zu verschaffen, ob hinsichtlich einzelner oder mehrerer der abgeschlossenen Versicherungsdeckungen Prämienrückstände bestehen. In aller Regel wird sich der vorläufige Verwalter auch hierzu eines professionellen Versicherungsmaklers bedienen, der kostenneutral Bestand und Umfang sowie Bezahlung der einzelnen Versicherungen prüft.
___________ 11) BGH, Urt. v. 29.9.1998 – IX ZR 39/88, ZIP 1988, 1411, ergangen zu dem im Konkursverfahren bestellten Sequester; Reischl in: jurisPK-BGB, § 1134 Fn. 5 und 7.
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Ist er nicht in der Lage, Beiträge aus der von ihm verwalteten Masse zu erbringen, muss er zumindest dafür Sorge tragen, dass der wirtschaftlich Interessierte ausreichend informiert ist und seinerseits ggf. eine Versicherung abschließen kann.12) Es ist in dessen Interesse, dass der grundpfandrechtlich belastete Gegenstand in seinem Wert erhalten bleibt und insoweit versichert wird. Der Grundpfandrechtsgläubiger wird deshalb im Zweifel die Prämien vorschießen. 2.4
Grundbuchauszug/Insolvenzvermerk im Grundbuch
20 § 32 InsO ordnet an, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in das Grundbuch einzutragen. 21 Damit ist zunächst nach dem unmittelbaren Wortlaut der Vorschrift die Verfügungsbeschränkung des Schuldners über sein Vermögen eintragungsfähig, die sich aus Gesetz gemäß § 80 Abs. 1 InsO durch die Eröffnung des Verfahrens ergibt. 22 Über die Verweisung in § 23 Abs. 3 InsO gilt § 32 entsprechend auch für die durch Entscheidung des Insolvenzgerichts nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO (allgemeines Verfügungsverbot für den Schuldner) und Alt. 2 (Zustimmungsvorbehalt) im Antragsverfahren angeordneten Verfügungsverbote. 23 Mit Einführung der InsO wurde die unter der Geltung der KO umstrittene Frage geklärt, ob die genannten Verfügungsbeschränkungen bloß als relative oder auch als eine absolute Verfügungsbeschränkung wirken. Gemäß § 24 Abs. 1 InsO gelten §§ 81 und 82 InsO entsprechend für jede der nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO angeordneten Beschränkungen, so dass eine Verfügung, die gegen eine der genannten Verfügungsbeschränkungen im vorläufigen Verfahren verstößt, absolut, d. h. gegenüber jedermann unwirksam ist.13) Aufgrund des Wortlautes von § 24 Abs. 1 InsO abzulehnen ist daher die Ansicht von Vallender14), für den vom Gericht angeordneten Zustimmungsvorbehalt würden die gleichen Grundsätze wie für das besondere Verfügungsverbot gelten. 24 Streitig geblieben ist die Frage, ob vom Gericht angeordnete besondere Verfügungsverbote hinsichtlich einzelner besonders gefährdeter Vermögensgüter des Schuldners lediglich die Wirkung relativer Veräußerungsverbote i. S. von §§ 135, 136 BGB zugunsten der Gläubiger haben.15) Sie führen damit nicht zur Grundbuchsperre. Die Anordnung eines besonderen Verfügungsverbotes kommt insbesondere in Betracht, soweit der vorläufige Verwalter nur einen Teilbetrieb des schuldnerischen Unternehmens fortführen soll. 25 Die Verfügungsbeschränkungen werden im Zeitpunkt ihrer Anordnung durch das Insolvenzgericht wirksam.16) Sie entfalten damit unabhängig von der Eintragung des entsprechenden Vermerks im Grundbuch Wirkung. Jedoch bleiben gemäß §§ 24 Abs. 1, 81 Abs. 1 Satz 2 InsO die Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb nach §§ 892, 893 BGB unberührt. Zweck von § 32 InsO ist es deshalb, die Insolvenzmasse gegen einen gutgläubigen Erwerb durch Dritte zu sichern.17) 26 Während nach einhelliger Auffassung die Eintragung des Insolvenzvermerks einen gutgläubigen Erwerb im eröffneten Verfahren unmöglich macht, ist umstritten, ob die Eintragung der (aufgrund Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots oder eines Zustimmungsvorbehalts im Antragsverfahren eintretenden) Verfügungsbeschränkung im Grund___________ Heyn, ZInsO 2006, 980, 985. Kübler/Prütting/Bork-Blankenburg, InsO, § 24 Rz. 1; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 2. Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 25. So Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 24 Rz. 2; a. A. Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, § 24 Rz. 8 – absolutes Verfügungsverbot. 16) BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 136/11, ZIP 2012, 1256. 17) Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 32 Rz. 1.
12) 13) 14) 15)
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buch ebenfalls den gutgläubigen Erwerb ausschließt. Holzer18) spricht sich ohne nähere Begründung dafür aus, dass nur der Vermerk über die Eröffnung selbst, nicht aber ein nach §§ 22 Abs. 1, 23 Abs. 3 InsO eingetragenes allgemeines Verfügungsverbot die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs ausschließt. Dies müsste dann erst recht auch für den Zustimmungsvorbehalt gelten. Dem ist nicht zu folgen. Zum einen spricht das Gesetz in § 23 Abs. 1 Satz 1 InsO von der 27 Pflicht zur Bekanntmachung eines Beschlusses, mit dem eine der in § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorgesehenen Verfügungsbeschränkungen (Plural!) angeordnet wird. Von § 23 InsO erfasst ist also auch ein Zustimmungsvorbehalt. Zum anderen verweist § 24 Abs. 1 InsO in gleicher Weise für beide Arten der Verfügungsbeschränkungen auf die §§ 81, 82 InsO. Aufgrund dieses weitgehenden Gleichlaufs der im Antragsverfahren bei Bestellung eines vorläufigen Verwalters angeordneten Verfügungsbeschränkungen mit den Rechtswirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gebietet der Sicherungszweck von § 32 InsO, der Eintragung der Verfügungsbeschränkung im Antragsverfahren gleichfalls die Wirkung des Ausschlusses gutgläubigen Erwerbs beizumessen. Die Eintragung des Sperrvermerks oder der Verfügungsbeschränkung bewirkt weiterhin, 28 dass das Grundbuchamt hinsichtlich Verfügungen über Rechte am Grundstück nur noch solche Eintragungen vornehmen darf, die von verfügungsberechtigten Personen, wie etwa vom Schuldner mit Zustimmung des vorläufigen Verwalters, beantragt worden sind.19) Umstritten und von der Rechtsprechung bisher nicht entschieden ist die Frage, ob ein 29 Antrag auf Eintragung des Insolvenzsperrvermerks oder einer der Verfügungsbeschränkungen des § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO gleichsam „auf der Überholspur“ entgegen dem Prioritätsprinzip des § 17 GBO an bereits beantragten, aber noch nicht erledigten Eintragungsanträgen vorbei sofort einzutragen sind.20) In einer Entscheidung, die in der Konstellation eines Antragsverfahrens mit Bestellung eines vorläufigen Verwalters und Anordnung (lediglich) eines Zustimmungsvorbehalts erging, hat der BGH21) jedenfalls klargestellt, dass i. R. des § 81 InsO die Verfügungshandlung des Schuldners und nicht der etwa erst später eintretende Verfügungserfolg maßgeblich ist. Der Insolvenzverwalter wie auch der vorläufige Verwalter sind nicht nur gemäß § 32 Abs. 2 30 Satz 2 InsO berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Eintragung des Insolvenzvermerks herbeizuführen. Dies gehört zu den insolvenzspezifischen Pflichten i. S. von § 60 InsO.22) Da die Verfügungsbeschränkung des Schuldners durch Gerichtsbeschluss außerhalb des Grundbuchs entstanden ist, beantragt der Verwalter die Berichtigung des Grundbuchs, sofern dies nicht durch das Insolvenzgericht selbst erfolgt.23) Für einen Antrag des Verwalters reicht Schriftform aus, doch muss er die Unrichtigkeit des Grundbuchs in öffentlicher Form gemäß § 29 GBO nachweisen, üblicherweise durch Vorlage einer Ausfertigung des Anordnungsbeschlusses. Aufgrund der dargelegten weitreichenden Folgen für den Ausschluss gutgläubigen Erwerbs 31 ist besonderes Augenmerk gerade im Antragsverfahren erforderlich, da in aller Regel zu diesem Zeitpunkt die Verfügungsbeschränkung erstmals nach Eintritt der Krise des Schuldnerunternehmens eingetragen wird. ___________ 18) Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 32 Rz. 19. 19) Zu Recht differenzierend und gegen den unzutreffenden Begriff einer allgemeinen „Sperre“ des Grundbuchs: Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 32 Rz. 20. 20) Ausführlich zum Streitstand: Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 18 – 22. 21) BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 136/11, ZIP 2012, 1256. 22) Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 14. 23) BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 136/11, ZIP 2012, 1256.
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§ 32 2.5
Teil V Einzelfragen Der obstruktive Schuldner: Antrag auf Anordnung der starken vorläufigen Verwaltung?
32 Zwar hatte der Gesetzgeber die Ausstattung des vorläufigen Insolvenzverwalters mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis vorgesehen, doch stellt die Anordnung lediglich eines Zustimmungsvorbehaltes oder einzelner, gegenständlich beschränkter Verfügungsverbote oftmals das mildere Mittel dar.24) Mit der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist zwangsläufig die Bestellung eines Verwalters mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verbunden.25) Der Entzug der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bedarf jedoch wegen der weitreichenden Folgen und Eingriffe in die Grundrechte des Schuldners einer besonderen Rechtfertigung. Bestehen demnach Anhaltspunkte dafür, dass der Schuldner entgegen der Anordnung eines Zustimmungsvorbehaltes versuchen wird, Gegenstände des schuldnerischen Vermögens beiseite zu schaffen, oder dass er in anderer Form nicht ausreichend zusammenarbeitet, kann dies die nachträgliche Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes rechtfertigen. Sicherungsmaßnahmen dieser Art sind regelmäßig erforderlich, wenn gegen den Schuldner oder das Schuldnerunternehmen wegen eines Bankrottdeliktes nach §§ 283 ff. StGB ermittelt wird, der Verdacht auf sonstige Straftaten besteht oder wenn der Schuldner oder sein organschaftlicher Vertreter flüchtig ist. 33 Der vorläufige Insolvenzverwalter mit Zustimmungsbefugnis hat in erster Linie Aufsichtsund Sicherungsfunktionen zu erfüllen.26) Dies sind originäre Pflichten, die nicht ausdrücklich im Beschluss festzulegen sind, wohl aber aufgeführt werden können. Die allgemeine Sicherungs- und Erhaltungspflicht erfordert es, dass der vorläufige Insolvenzverwalter bei Gericht Maßnahmen i. S. von § 21 InsO anregt.27) 34 Im Ergebnis ist der Gewinn an Sicherungsmöglichkeiten im besonderen Hinblick auf Grundstücke des Schuldners bzw. des Schuldnerunternehmens allerdings gering: x
Zum einen sind, wie im Kapitel über den Insolvenzvermerk und seine Wirkungen dargelegt, auch ohne Zustimmung des „schwachen“ vorläufigen Verwalters vorgenommene Verfügungen nach §§ 24, 81 Abs. 1 Satz 1 InsO absolut unwirksam.
x
Zum anderen ist gutgläubiger Erwerb gemäß § 24 Abs. 1 i. V. m. § 81 Abs. 1 InsO an Grundstücken und Grundstücksrechten bis zur Eintragung des Sperrvermerks möglich. Hat der Schuldner zudem die im folgenden Kapitel näher beschriebenen, für eine Eigentumsübertragung erforderlichen Übertragungstatbestände vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits vorgenommen, ist der Eigentumsverlust – sofern nicht anfechtbar – insolvenzfest. Dies ist unabhängig davon, ob der vorläufige Verwalter im Antragsverfahren lediglich mit Zustimmungsvorbehalt oder mit Verfügungsbefugnis ausgestattet wird.
2.6
Eigentumsübergang auf Dritte
35 Vorwegzuschicken ist, dass zwischen einer „ordnungsgemäßen Verwaltung“ einerseits und einer „veräußernden Verfügung“ andererseits unterschieden wird, wenn es um die Frage der „Verwertung“ des Grundstückes geht. 36 Danach betrifft die Verwaltung die notwendige Erhaltung und die ordnungsgemäße Pflege des Vermögens in Erfüllung der Pflicht zur Sicherung und Erhaltung i. S. von § 22 Abs. 1 ___________ 24) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 24. 25) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 4. 26) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 22 Rz. 12, mit Verweis auf Nerlich/Römermann-Mönning, InsO, § 22 Rz. 202. 27) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 22 Rz. 12 a. E.
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
§ 32
Satz 2 Nr. 1 InsO. Dabei ist es i. R. einer Fortführung des schuldnerischen Unternehmens anerkannt, dass die ordnungsgemäße Verwaltung auch dingliche Verfügungen über Bestandteile des Vermögens umfassen darf. Insoweit wird auch von einem Verwertungsrecht „innerhalb“ der erlaubten Verwaltungstätigkeit des vorläufigen Verwalters gesprochen.28) Trotz der vorstehend beschriebenen Sicherungsmöglichkeiten ist jedoch nicht ausgeschlossen, 37 dass bis zu deren Wirksamwerden das Eigentum durch Verfügung des Schuldners auch ohne Zustimmung des vorläufigen Verwalters oder durch Zwangsversteigerung auf Betreiben eines Dritten verlorengeht. Da die Vorschriften über einen Erwerb vom Nichtberechtigten gemäß § 81 Abs. 1 Satz 2 38 InsO für Grundstücke nicht ausgeschlossen sind, bewirkt erst die Eintragung des Eröffnungsvermerks im Grundbuch den Ausschluss der Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs.29) Hinsichtlich der Eintragung eines Sperrvermerks aufgrund der Anordnung eines allgemeinen 39 Verfügungsverbotes im Antragsverfahren hat der BGH30) entschieden, dass dies bereits mit seinem Erlass wirksam wird und nicht erst mit der Zustellung. Gleichwohl ergibt sich hinsichtlich der Eintragung und des gutgläubigen Erwerbs von Grundstücken die gleiche Problematik wie bei der Eintragung des Eröffnungsbeschlusses.31) 2.6.1 Gefahr des Eigentumsverlustes am Grundstück durch Handlungen des Schuldners Zu einem Zeitpunkt, zu dem weder Insolvenzantrag gestellt ist noch eine vorläufige 40 Verwaltung angeordnet wurde, kann es sich bei der Verwertung des Grundstückes nur um den vom Schuldner noch vorgenommenen Grundstücksverkauf handeln. Ungeachtet einer etwaigen Anfechtbarkeit der zur Veräußerung führenden Handlungen bestimmt sich das Schicksal des Grundstückskaufvertrages zunächst nach allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften. Vor Stellung eines Insolvenzantrages und Anordnung einer vorläufigen Verwaltung ist der 41 Schuldner frei, über sein Grundstück zu verfügen. Die Gefahr des Eigentumsverlusts aus Nachwirkungen des schuldnerischen Handelns vor Stellung des Insolvenzantrags besteht unter den folgenden drei Gesichtspunkten: 2.6.1.1
Rechtserwerb eines Dritten gemäß § 878 BGB32)
§ 878 BGB dient dem Schutz des Erwerbers in der Zeit zwischen Verfügungserklärung 42 und Grundbucheintragung der Rechtsänderung vor bestimmten nachteiligen Konsequenzen aus dem Grundbuchzwang des Liegenschaftsrechts.33) Ist eine rechtsgeschäftliche Verfügungserklärung bindend abgegeben und der Grundbuchantrag gestellt worden, verliert sie nicht ihre Wirkung, wenn der Erklärende noch vor Eintragung seine Verfügungsbefugnis verliert. § 878 gilt entsprechend für die materiell-rechtliche Vormerkungsbewilligung.34) Weil es 43 ausreicht, dass die Vormerkung einseitig bewilligt wird, tritt Bindung der Bewilligung ___________ Bornheimer in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 29 Kap. XVI Rz. 295, 296. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 17. BGH, Urt. v. 19.9.1996 – IX ZR 277/95, ZIP 1996, 1909. BGH, Beschl. v. 13.3.2008 – IX ZB 39/05, ZIP 2008, 1028; fortgeführt durch BGH, Urt. v. 25.3.2021 – IX ZR 70/20, ZRI 2021, 462 = ZIP 2021, 967 – zur Anfechtungsfestigkeit einer Vormerkung gegen Anspruch nach § 8 AnfG 1999; Ganter, NZI 2007, 549. 32) Hierzu bereits grundlegend: Scholtz, ZIP 1999, 1693. 33) Staudinger-Gursky, BGB, § 878 Rz. 1, 6; Kohler in: MünchKomm-BGB, § 878 Rz. 1. 34) Kohler in: MünchKomm-BGB, § 878 Rz. 24, dort Fn. 72 m. w. N.; Staudinger-Gursky, BGB, § 878 Rz. 9; Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 106 Rz. 39.
28) 29) 30) 31)
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Teil V Einzelfragen
entweder gemäß §§ 873 Abs. 2 Fall 4, 875 Abs. 2 Fall 2 BGB mit Aushändigung einer beglaubigten Eintragungsbewilligung an den Gläubiger oder – in entsprechender Anwendung von § 875 Abs. 2 BGB – mit Zugang der Bewilligung beim Grundbuchamt ein.35) 44 Für unwiderrufliche Grundbucherklärungen, die eine verfahrensrechtliche Verfügung über ein Grundstücksrecht zum Gegenstand haben, also alle Arten von Bewilligungen i. S. von § 19 GBO, gilt § 878 BGB ebenfalls entsprechend. Das gilt für Eintragungs-, insbesondere Berichtigungsbewilligungen, ferner für den vom Verfügenden gestellten Eintragungsantrag.36) Der Eintragungsantrag muss beim zuständigen Grundbuchamt nach den Maßgaben von § 13 GBO eingegangen sein – ein Schutz gegen die unkalkulierbare Dauer des Eintragungsverfahrens ist nur angebracht, wenn dieses Verfahren überhaupt eingeleitet worden ist. 45 Für die Praxis ist deshalb vor allem die Frage relevant, welche Verfahrensschritte des Grundstückskaufvertrages noch nicht abgewickelt sein dürfen, damit der vorläufige Verwalter die Möglichkeit hat, eine bereits eingeleitete Grundstücksveräußerung noch aufzuhalten: x
Hat der Notar, den einschlägigen Empfehlungen in der Literatur folgend,37) den Eintragungsantrag auch namens des Verfügungsempfängers gestellt, kann der Verfügende den Antrag nicht mehr allein zurücknehmen.
x
Nach überwiegender Meinung38) ist jedoch für die Herbeiführung der Bindungswirkung und damit des Erwerbsschutzes aus § 878 BGB auch ein allein vom Verfügenden gestellter Antrag ausreichend. Ist der Antrag demzufolge allein vom Verfügenden bzw. für ihn gestellt worden, kann der Insolvenzverwalter den Antrag ohne weiteres zurücknehmen und damit den Schutz des § 878 BGB wieder zunichtemachen. Dem Insolvenzverwalter steht die Rücknahmebefugnis aufgrund des umfassenden Übergangs der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse hinsichtlich des schuldnerischen Vermögens gemäß § 80 InsO zu.39) Gleiches muss für den vorläufigen Verwalter mit Verfügungsbefugnis nach § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO gelten. Ein lediglich mit Zustimmungsvorbehalt ausgestatteter vorläufiger Verwalter hat hingegen keine Befugnis zur Antragsrücknahme.
46 Stellt sich bei den gutachterlichen Ermittlungen heraus, dass ein einseitig gestellter Eintragungsantrag beim Grundbuchamt noch nicht erledigt wurde, ist somit höchste Eile geboten, den Antrag zurückzunehmen oder – im Falle des vorläufigen Verwalters mit Zustimmungsvorbehalt – beim Insolvenzgericht entweder die Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes oder die Übertragung der Verfügungsbefugnis hinsichtlich des verkauften Grundstücks auf den vorläufigen Verwalter zu beantragen und sodann aufgrund der Anordnung den Vollzugsantrag zurückzunehmen. 2.6.1.2
Gutgläubiger Rechtserwerb eines Dritten gemäß § 81 InsO i. V. m. § 892 BGB
47 Liegen die Voraussetzungen von § 878 BGB nicht vor, ist ggf. ein Rechtserwerb nach den Gutglaubensvorschriften möglich, denn gutgläubiger Erwerb wird durch die Insolvenzeröffnung nicht ausgeschlossen. Vielmehr erklären §§ 81 Abs. 1 Satz 2, 91 Abs. 2 InsO die Gutglaubensvorschriften ausdrücklich für anwendbar. 48 Für das Antragsverfahren gilt allerdings nur § 81 entsprechend über die Verweisung in § 24 Abs. 1 InsO. Es fehlt in § 24 Abs. 1 InsO die Verweisung auf die Erwerbssperre des § 91 ___________ 35) 36) 37) 38) 39)
Kohler in: MünchKomm-BGB, § 878 Rz. 24; Staudinger-Gursky, BGB, § 878 Rz. 35. Kohler in: MünchKomm-BGB, § 878 Rz. 26; Staudinger-Gursky, BGB, § 878 Rz. 11. Vgl. Piegsa, RNotZ 2010, 433, 434 f. Piegsa, RNotZ 2010, 433, 434 m. w. N. Piegsa, RNotZ 2010, 433, 434.
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
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InsO, der demzufolge auch bei Anordnung von Sicherungsmaßnahmen gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 2, 3 InsO mangels planwidriger Regelungslücke nicht entsprechend anwendbar ist.40) Ist die Bindungswirkung des § 878 BGB bereits eingetreten und ist der Eintragungs- 49 antrag wirksam vor Verfahrenseröffnung gestellt worden, kommt es nicht einmal auf den guten Glauben des Erwerbers an (vgl. § 91 Abs. 2 InsO, § 878 BGB). Trotz nachfolgender Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Veräußerers erwirbt der Käufer Eigentum. Ein vor Verfahrenseröffnung bindend bewilligtes und beantragtes Recht ist trotz der mit Insolvenzeröffnung eintretenden Grundbuchsperre noch einzutragen, selbst wenn der Insolvenzvermerk unter Verstoß gegen die §§ 17, 45 GBO früher eingetragen sein sollte.41) War die Bindungswirkung des § 878 BGB noch nicht eingetreten, aber der Eintragungs- 50 antrag beim Grundbuchamt gestellt, so kommt es auf den guten Glauben des Erwerbers zum Zeitpunkt der Eintragung an. Somit kann ein vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellter Eintragungsantrag noch zum gutgläubigen Erwerb führen. Der Grundbuchrechtspfleger muss, solange der Sperrvermerk nicht eingetragen ist, die Eintragung vollziehen, auch wenn er weiß, dass sie von einem nicht Verfügungsberechtigten beantragt ist. Ist der Insolvenzvermerk nicht rechtzeitig im Grundbuch eingetragen worden, hat das Grundbuchamt dem Eintragungsantrag eines im Zeitpunkt des § 892 Abs. 2 BGB hinsichtlich der Verfahrenseröffnung redlichen Erwerbers trotzdem zu entsprechen, damit dieser gutgläubig Eigentum erwirbt.42) § 892 BGB wird durch § 81 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht ausgeschlossen. Die Vorschrift legitimiert gerade den Erwerb von einem Nichtberechtigten oder nicht mehr Verfügungsberechtigten. Im Ergebnis räumt das Gesetz demjenigen, der im Zeitpunkt der Antragstellung auf den Rechtsstand des Grundbuches vertraut, Vorrang vor den Interessen der Gläubiger ein, einen Rechtsverlust für die Masse zu verhindern.43) Damit ist ein gutgläubiger Erwerb möglich, wenn im Grundbuch kein Insolvenzvermerk 51 eingetragen ist und der Käufer von der Insolvenz des Verkäufers keine Kenntnis hat.44) 2.6.1.3
Schutz des vormerkungsgesicherten Käufers nach § 106 InsO
Wie ausgeführt, gilt § 878 BGB entsprechend für die materiell-rechtliche Vormerkungsbe- 52 willigung i. S. von § 883 BGB. § 106 führt i. V. m. § 878 BGB u. U. zu einer weitreichenden Nachwirkung der vom Schuldner vor Insolvenzantragstellung eingegangenen Verpflichtungen. Die Vormerkung schützt den vorgemerkten Anspruch auf Änderung der dinglichen Rechts- 53 lage – jedoch nicht der sonstigen Erfüllung kaufvertraglicher Verpflichtungen (siehe unten Rz. 57). Der Schutz umfasst auch künftige und aufschiebend bedingte Ansprüche, wenn ein „sicherer Rechtsboden“ dadurch bereitet ist, dass die Entstehung des Anspruchs nur noch vom Willen des demnächst Berechtigten abhängt.45) Die Vorschrift des § 106 InsO entzieht den vorgemerkten Anspruch der haftungsrecht- 54 lichen Zuordnung46) und wirkt einem Aussonderungsrecht ähnlich.47) Der Vormerkungs___________ 40) 41) 42) 43) 44) 45)
Nerlich/Römermann-Wittkowski/Kruth, InsO, § 91 Rz. 31. Zum Vorstehenden Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 18. Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 20. Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, InsO, § 32 Rz. 22; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 32 Rz. 20. Piegsa, RNotZ 2010, 433, 435. BGH, Urt. v. 14.9.2001 – V ZR 231/00, ZIP 2001, 2008; Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 106 Rz. 15; Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 106 Rz. 8. 46) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 106 Rz. 7. 47) Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 106 Rz. 1.
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berechtigte ist nicht Insolvenzgläubiger nach § 38, sondern kann Erfüllung aus der Insolvenzmasse verlangen.48) Der Insolvenzverwalter muss ungeachtet des andernfalls anwendbaren § 103 InsO49) den Anspruch des Vormerkungsberechtigten im Umfang der Sicherungswirkung der Vormerkung so erfüllen, wie es der Schuldner außerhalb des Insolvenzverfahrens tun müsste.50) 55 Für die Praxis bedeutet dies: Der vorläufige Verwalter muss sich schnellstmöglich ein Bild über die Grundbuchsituation verschaffen. Insbesondere dann, wenn es ihm wegen der zugunsten des Käufers bestehenden Nachwirkung von § 878 BGB nicht mehr möglich sein sollte, eine Eintragung der Vormerkung zu verhindern (siehe oben Rz. 42 f.), kann diese Erkenntnis für die Entscheidung maßgeblich sein, ob eine Betriebsfortführung überhaupt noch möglich ist, wenn absehbar das Betriebsgrundstück in dinglicher Erfüllung des vom Schuldner geschlossenen Kaufvertrages übereignet werden muss. Selbst eine der Masse als Gegenleistung etwaig zufließende Kaufpreissumme wird in aller Regel keine kurzfristige Beschaffung gleichwertigen Ersatzes ermöglichen. 56 Die Vormerkung wie auch der gesicherte Anspruch nach § 106 InsO stehen zwar wegen ihrer beschriebenen weitreichenden Sicherungswirkung unter dem Vorbehalt der Anfechtbarkeit,51) die der endgültige Verwalter im eröffneten Verfahren dem Erfüllungsanspruch ggf. einredeweise entgegenhalten kann. Ob jedoch in der Kürze der für eine Entscheidung über die Betriebsfortführung zur Verfügung stehenden Zeit das Bestehen des Anfechtungsanspruchs mit der notwendigen Sicherheit geprüft werden kann, dürfte fraglich sein. 2.6.1.4
Grenzen des Schutzes
57 Hier offen mag die Frage bleiben, ob der Erwerber denn – z. B. vertraglich bedungene – Lastenfreiheit erhält.52) Soweit dies mit der wohl h. M. nicht der Fall ist, öffnet sich meist die Gelegenheit zur Beendigung des Vollzuges und der Sicherung des Grundstücks für die Betriebsfortführung, da der Käufer zwar Eigentum resultierend erwirbt, aber Schadensersatzansprüche aus Nichterfüllung sonstiger Zusagen des Verkäufers nur Tabellenforderungen darstellen. 2.6.2 Gefahr des Eigentumsverlustes am Grundstück durch die von Dritten betriebene Zwangsversteigerung 2.6.2.1
Zuschlag gemäß § 90 ZVG während des Antragsverfahrens
58 Wird das Zwangsversteigerungsverfahren während des vorläufigen Insolvenzverfahrens durch Zuschlag abgeschlossen, erwirbt der Ersteher das Eigentum originär durch konstitutiven staatlichen Hoheitsakt.53) 59 Der Zuschlag hat weitreichende Rechtsfolgen. Der Eigentumserwerb vollzieht sich ohne Rücksicht auf den Willen der Verfahrensbeteiligten und unabhängig davon, ob Verfahrens___________ 48) Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 106 Rz. 27; Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 106 Rz. 10. 49) BGH, Urt. v. 19.3.1998 – IX ZR 242/97, ZIP 1998, 836; dem folgend OLG Brandenburg, Urt. v. 1.2.2012 – 4 U 93/10, juris; OLG Bamberg, Urt. v. 19.3.2012 – 4 U 145/11, NZI 2012, 7 = ZWH 2012, 340. 50) Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 106 Rz. 28; Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 106 Rz. 54 f. 51) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 106 Rz. 18, 48; Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 127. 52) Verneinend die Rspr. des BGH zu § 24 KO (Vorgängervorschrift von § 106 InsO), zuletzt BGH, Beschl. v. 22.9.1994 – V ZR 236/93, NJW 1994, 3231 = ZIP 1994, 1705. Ebenso verneinend Reul in: Reul/Heckschen/Wienberg, Kap. B. Rz. 76 f. (in Auseinandersetzung mit BGH, Urt. v. 9.3.2006 – IX ZR 55/04, WM 2006, 918 = ZIP 2006, 859), sowie schließlich Kesseler, MittBayNotK 2005, 108. 53) BGH, Urt. v. 4.7.1990 – IV ZR 174/89, ZIP 1990, 1202 (st. Rspr. seit RG, Urt. v. 28.5.1930 – V 58/29, RGZ 129, 155 – 165).
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mängel vorliegen, die nur im Rechtsmittelwege nach den §§ 96 bis 104 ZVG geltend gemacht werden können. Anders als beim rechtsgeschäftlichen Erwerb (§ 873 Abs. 1 BGB) ist er unabhängig von der Grundbucheintragung, die erst nach der Erlösverteilung im Wege der Grundbuchberichtigung erfolgt. Die Wirkungen des Zuschlags treten bereits ohne Rücksicht auf die Rechtskraft des Beschlusses mit dessen Verkündung durch das Versteigerungsgericht oder mit seiner Zustellung an den Ersteher ein.54) Dies führt vor Augen, warum bei der Sachverhaltsermittlung durch den Gutachter und vorläufigen Insolvenzverwalter hinsichtlich eines etwaigen laufenden Zwangsversteigerungsverfahrens besondere Eile geboten ist, um ggf. dem Verfahren Einhalt zu gebieten. 2.6.2.2
Abwehrmöglichkeiten
§ 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO schafft grundsätzlich die Möglichkeit, Zwangsvollstreckungsmaß- 60 nahmen auch im Insolvenzantragsverfahren wirksam zu unterbinden. Auch durch § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO, der durch das Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens vom 13.4.200755) eingefügt wurde, wurden bestimmte Wirkungen des eröffneten Verfahrens in das antragsverfahren vorverlagert. Die Sicherung der Masse vor Herausgabeverlangen und Verwertungshandlungen dinglich gesicherter Gläubiger im Antragsverfahren soll die Fortführung und spätere Veräußerung des weitgehend intakten schuldnerischen Betriebs ermöglichen.56) Beide Normen erfassen hingegen nicht unbewegliches Vermögen; für dies steht in der InsO 61 keine entsprechende Regelung zur Verfügung. Hier bleibt die Verwertungsbefugnis des Absonderungsberechtigten erhalten. Auch im Antragsverfahren bleibt die Anordnung der Zwangsversteigerung und Zulassung 62 des Beitritts für absonderungsberechtigte Gläubiger möglich. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der Möglichkeit, dass das vorläufige Insolvenzverfahren nicht zur Eröffnung gelangt, etwa weil der Antrag zurückgenommen wird oder aber das Verfahren mangels Masse abgewiesen wird. Damit wird dem Gläubiger, sogar dem eines persönlichen Anspruchs, ein Recht auf Befriedigung aus dem Grundstück gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG sowie Sicherung dieses Anspruches durch Beschlagnahme nach § 22 ZVG ermöglicht. Deshalb wird § 21 Abs. 2 InsO durch § 30d Abs. 4 ZVG ergänzt. Nach dieser Vorschrift 63 kann im Antragsverfahren die einstweilige Einstellung der Zwangsversteigerung beantragt werden, insbesondere gemäß Nr. 2, wenn das Grundstück für eine Fortführung des Betriebs oder für die Vorbereitung der Veräußerung eines Betriebs benötigt wird. Antragsberechtigt ist auch der vorläufige Verwalter.57) Dieses Antragsrecht erfordert nicht, 64 dass er mit einem allgemeinen Verfügungsverbot die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis erlangt hat, antragsberechtigt ist auch jeder sog. „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter. Er muss jedoch vortragen und glaubhaft machen, dass eine vorzeitige Versteigerung zu nachteiligen Veränderungen führen wird, etwa wenn absehbar eine Betriebsfortführung in Betracht kommt.58)
___________ 54) 55) 56) 57) 58)
BGH, Urt. v. 8.11.2013 – V ZR 155/12, NZI 2014, 93 = MDR 2014, 243. Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, v. 13.4.2007, BGBl. I 2007, 509. Ganter, NZI 2007, 549. Braun-Dithmar/Schneider, InsO, § 165 Rz. 11, dort Fn. 9. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 283.
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65 Entscheidungsbefugt ist hier nicht das Insolvenzgericht aus § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO, sondern das Vollstreckungsgericht.59), 60) 66 Kritisch gegenüber der Entscheidungskompetenz der Vollstreckungsgerichte äußern sich vor allem Mönning/Zimmermann61) aus der hier maßgeblichen Sicht der Praxis der Betriebsfortführung mit dem Ziel der Sanierung: Nach deren Auffassung wirkt sie sich vor allem sanierungshemmend aus, da Vollstreckungsgerichte häufig den betriebswirtschaftlich begründeten Sanierungsansatz einer Betriebsfortführung, für die die weitere Nutzung belasteter Immobilien im Regelfall unverzichtbar ist, nicht nachvollziehen. Damit sei der Druck durch Verwertungshandlungen absonderungsberechtigter Gläubiger, die aus den zu ihren Gunsten eingetragenen Grundpfandrechten die Zwangsverwaltung oder Zwangsversteigerung betreiben, trotz angeblich erleichterter Einstellungsvoraussetzungen erhalten geblieben. 67 Der Sicht von Mönning/Zimmermann ist zuzustimmen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer einstweiligen Einstellung haben ihre Grundlage durchweg in insolvenzrechtlichen Gesichtspunkten. Die Insolvenzgerichte haben die größere Sachnähe, deren Vorliegen zu beurteilen. De lege ferenda sind deshalb die insolvenzbedingten Einstellungsgründe aus dem ZVG in die InsO zu verlegen. Dies dient auch der Gleichbehandlung der absonderungsberechtigten Sicherungsnehmer unabhängig von der Wahl des konkreten Sicherungsmittels. 68 Der vorläufige Verwalter muss mit den Mitteln des § 294 ZPO glaubhaft machen, dass die einstweilige Einstellung zur Verhütung nachteiliger Veränderungen in der Vermögenslage des Schuldners erforderlich ist. 2.7
Besitzübergang auf Dritte
2.7.1 § 148 ZVG – Beschlagnahme während des Antragsverfahrens 69 Hat der Grundpfandrechtsgläubiger einen vollstreckbaren Titel, kann er aus diesem – alternativ oder kumulativ zur Zwangsversteigerung – zur Zwangsvollstreckung in das belastete Grundstück gemäß § 866 Abs. 1 ZPO die Zwangsverwaltung des Grundstücks beantragen. 70 Durch den Beschluss des Vollstreckungsgerichts auf Anordnung der Zwangsverwaltung wird eine Beschlagnahme des Grundstücks bewirkt, §§ 20, 146 ZVG, durch die dem Schuldner die Verwaltung und Benutzung des Grundstücks entzogen und auf den Zwangsverwalter übertragen wird, §§ 148, 152 ZVG. 71 Die Beschlagnahme umfasst nicht nur das Grundstück und seine Bestandteile, sondern erstreckt sich auch auf das im Eigentum des Grundstückseigentümers stehende Zubehör, das in den Haftungsverband des Grundpfandrechts nach § 1120 BGB fällt, sowie die laufenden und zukünftigen Miet- und Pachtforderungen. Der Zwangsverwalter zieht mithin ab Beschlagnahme die Miet- und Pachterlöse ein, wenn er auch gemäß § 156 ZVG die laufenden Beiträge der öffentlichen Lasten zu berichtigen hat. Darüber hinaus hat der Zwangsverwalter das Recht und die Pflicht, alle Handlungen vorzunehmen, die erforderlich sind, um das Grundstück in seinem wirtschaftlichen Bestand zu erhalten und ordnungsgemäß zu benutzen. Denn die Aufgaben des Zwangsverwalters bestimmen sich durch den Zweck der Zwangsverwaltung, die Ansprüche der Gläubiger aus den Nutzungen des beschlagnahmten ___________ 59) Gerhardt in: Kölner Schrift zur InsO, S. 193 ff. Rz. 22. 60) Kritisch zum gesamten Regelungskomplex Gerhardt in: Kölner Schrift zur InsO, S. 193 ff. Rz. 22, der wegen des hierdurch erforderlichen Antrags des vorläufigen Verwalters die Möglichkeit zur Untersagung von Zwangsverwaltung und Zwangsversteigerung durch ein Vollstreckungsverbot auch hinsichtlich unbeweglicher Gegenstände für vorzugswürdig hält, sowie zur „fatalen“ Wirkung dieser Zuständigkeitsentscheidung auf europäischer Ebene im Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO n. F. vgl. den Beispielsfall 2 von Piekenbrock, NZI 2012, 905, 910. 61) Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134.
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Grundstücks zu befriedigen. Dabei soll die bei der Anordnung der Verwaltung bestehende Art der Grundstücksnutzung beibehalten werden (§ 5 Abs. 1 ZwVwV). Sind hierzu gewerbliche Tätigkeiten erforderlich, gehören auch sie zu den Aufgaben des Zwangsverwalters. Richtig ist zwar, dass der Zwangsverwalter nicht zur Fortführung des – nicht beschlagnahmten – Gewerbebetriebs des Schuldners berufen ist. Hierauf zielt seine im eigenen Namen und auf Rechnung der Masse ausgeübte Tätigkeit aber auch nicht ab, wenn er ein grundstücksbezogenes Unternehmen (siehe unten Rz. 77). fortsetzt. Dem Zwangsverwalter kommt es darauf an, das beschlagnahmte Grundstück seinem besonderen wirtschaftlichen Gepräge gemäß zu nutzen. Wenn er sich vor diesem Hintergrund entschließt, den Gewerbebetrieb des Schuldners aufrechtzuerhalten, insbesondere dessen Angestellte und die vorhandene Betriebsorganisation zu übernehmen, maaßt er sich nicht die Stellung eines Insolvenzverwalters an.62) Wird die vorläufige Insolvenzverwaltung vor der Zwangsverwaltung angeordnet, muss das 72 Vollstreckungsgericht gleichwohl von Amts wegen dafür sorgen, dass der Zwangsverwalter Besitz am Grundstück erlangt. Dieser kann über § 150 ZVG i. V. m. §§ 885, 892 ZPO die Herausgabevollstreckung betreiben. Dies gilt auch gegenüber dem vorläufigen Insolvenzverwalter; das Besitzrecht des Zwangsverwalters verdrängt dasjenige des (vorläufigen) Insolvenzverwalters.63) Dementsprechend bleibt das Besitzrecht des Zwangsverwalters mit Vorrecht bestehen, wenn die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung oder eine andere diesbezügliche Sicherungsanordnung des Insolvenzgerichts erst nach dem Beginn eines Zwangsverwaltungsverfahrens ergeht. In Anbetracht des grundsätzlichen Vorrangs der Zwangsverwaltung als Maßnahme der 73 Einzelzwangsvollstreckung, verbunden mit der weitreichenden Zulässigkeit der Fortführung eines grundstücksbezogenen Betriebs (siehe oben Rz. 71), kann dies zu einer nicht unerheblichen Gefährdung des Gesamtvollstreckungsziels der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger führen. Eine Möglichkeit zur einstweiligen Einstellung der Zwangsverwaltung während des Antragsverfahrens sieht der Gesetzeswortlaut von § 153b ZVG gleichwohl nicht vor. Soweit dies problematisiert wird, schließt ein Teil der Literatur daraus, während des Antragsverfahrens bestehe keine Einstellungsmöglichkeit, insbesondere sei der vorläufige Insolvenzverwalter nicht antragsberechtigt.64) Die fehlende Einstellungsmöglichkeit wird jedoch von anderen als unbefriedigend65) empfun- 74 den und als problematisch angesehen, da es das erklärte Ziel der InsO sei, die Entscheidung über die Art und Weise der Verwertung des Schuldnervermögens bis zum Berichtstermin offenzuhalten.66) Dieses gesetzgeberische Ziel würde durch die fehlende Einstellungsmöglichkeit konterkariert. Laroche67)weist hinsichtlich der Entstehungsgeschichte von § 30d Abs. 4 ZVG zutreffend 75 auf den vom Regierungsentwurf ursprünglich beabsichtigten umfassenden Vollstreckungsschutz hin. Der systematischen Argumentation von Eckardt68) ist zu folgen: Es handelt sich bei § 153b 76 ZVG nicht um eine abschließende Sonderregelung nur für das eröffnete Insolvenzverfahren. Vielmehr sind im Hinblick auf den beschriebenen Gesetzeszweck der InsO und das Schutzbedürfnis der Gläubigergesamtheit § 30d Abs. 4 ZVG i. V. m. § 146 Abs. 1 ZVG analog ___________ 62) 63) 64) 65) 66) 67) 68)
BGH, Beschl. v. 14.4.2005 – V ZB 16/05, ZIP 2005, 1195. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 365. Stöber/Goiowcyk-Stöber, ZVG, § 153b Rz. 3.1. Goebel in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 33 Kap. VI. Rz. 66. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 407. Laroche in: HK-InsO, § 21 Rz. 39. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 408 f. m. umfangr. Literaturnachweisen in Fn. 495 und 496.
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anzuwenden, so dass auch eine Einstellung der Zwangsverwaltung im Antragsverfahren möglich ist, insbesondere wenn das Grundstück für eine Betriebsfortführung benötigt wird (Nr. 2). 77 Nur für den grundstücksbezogenen Gewerbebetrieb, d. h. einen Gewerbetrieb, dessen wirtschaftlicher Schwerpunkt unabtrennbar und erkennbar auf dem Grundstück liegt, hat der BGH69) entschieden, dass ein Zwangsverwalter befugt ist, den auf dem beschlagnahmten Grundstück geführten grundstücksbezogenen Gewerbebetrieb des Schuldners fortzuführen, wenn dies zur ordnungsgemäßen Nutzung des Grundstücks erforderlich ist und er dabei nicht in Rechte des Schuldners an Betriebsmitteln eingreift, die unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu dem Gewerbebetrieb absolut geschützt sind. 78 Es fehlt jedoch eine höchstrichterliche Entscheidung, wie die Rechtslage ist, wenn die Zwangsverwaltung mit einem Insolvenzverfahren kollidiert. In der Literatur werden unterschiedliche Meinungen vertreten: x
Eckardt70) betont, dass die haftungsrechtliche Zuweisung der Erträge aus dem Grundstück an die dinglich Befriedigungsberechtigten maßgeblich sei. Umfasse diese auch den grundstücksbezogenen Gewerbebetrieb, wie vom BGH entschieden, dürfe sie während eines Insolvenzverfahrens keinen geringeren Umfang haben als außerhalb.
x
Demgegenüber sollen nach der wohl überwiegenden Meinung in der Literatur strengere Maßstäbe angebracht sein als bei der „isolierten“ Zwangsverwaltung. Dabei wird vor allem auf die ratio legis von § 153b ZVG abgestellt, dass die weitergehenden Verwaltungsrechte des Insolvenzverwalters Vorrang vor den Rechten des Zwangsverwalters haben sollen, soweit diese seine Tätigkeit behindern.
79 Der h. M. ist zu folgen. Gerade in Betriebsfortführungsfällen ist die weitere Nutzungsmöglichkeit des Grundstücks entscheidend für die Sanierungsaussichten des schuldnerischen Betriebs als Ganzem. Diese Aufgabe hat Vorrang vor der Einzelzwangsvollstreckung und verdrängt diese. Es gibt regelmäßig kein Aufeinandertreffen von gleichsam konkurrierenden Betriebsfortführungen. Eine Vermietung oder Verpachtung des Betriebsgrundstücks würde die Zerschlagung des Betriebs präjudizieren – eine Entscheidung, die selbst der Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren vor dem Berichtstermin gemäß §§ 156, 157 InsO grundsätzlich nicht ohne Beschluss der Gläubigerversammlung entscheiden darf. Die Fortführung des Gewerbebetriebs unterscheidet sich grundsätzlich von der Konstellation der Fortführung von Vermietung und Verpachtung, für die auch die Möglichkeit einer sog. „kalten“ Zwangsverwaltung (Verwaltung durch den Insolvenzverwalter aufgrund vertraglicher Abrede mit dem Grundpfandrechtsgläubiger „wie“ ein gerichtlich bestellter Zwangsverwalter, jedoch ohne gerichtliche Bestellung) besteht, da dort keine über die reine Verwaltung der Mietobjekte hinausgehenden Gesichtspunkte der Unternehmensverwertung von Bedeutung sind. 80 Voraussetzung für die Einstellung der Zwangsverwaltung ist jedoch ein entsprechender Antrag des (vorläufigen) Insolvenzverwalters nach § 153b ZVG. Dazu muss er die tatbestandlichen Voraussetzungen i. S. von § 294 ZPO glaubhaft machen. 81 Folge eines stattgebenden Einstellungsbeschlusses des Vollstreckungsgerichts ist gemäß § 153b Abs. 2 ZVG der von Amts wegen anzuordnende Anspruch des betreibenden Gläubigers auf Ausgleich der Nachteile durch laufende Zahlungen aus der Insolvenzmasse. 82 Wirtschaftlich bringt die Beantragung einer Zwangsverwaltung den Grundpfandrechtsgläubigern also etwas, weswegen eine frühzeitige und faire Kommunikation – wie stets – vorzugswürdig ist. ___________ 69) BGH, Beschl. v. 14.4.2005 – V ZB 16/05, ZIP 2005, 1195. 70) Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 383.
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
§ 32
2.7.2 Räumungspflicht aus § 93 ZVG – Verbotene Eigenmacht Hat das Vollstreckungsgericht den Zuschlagsbeschluss gemäß § 90 ZVG während des 83 Antragsverfahrens erteilt, dient dieser dem Ersteher gemäß § 93 Abs. 1 ZVG als Vollstreckungstitel auf Räumung und Herausgabe der Immobilie. Vollstreckungsschuldner ist jeder Besitzer des Grundstücks, der sein Recht zum Besitz 84 infolge des Zuschlags verloren hat. Ist im Antragsverfahren ein „schwacher“ vorläufiger Verwalter bestellt worden, bleibt der Schuldner Besitzer der Insolvenzmasse sowie verfügungs- und prozessführungsbefugt.71) Zu beachten ist, dass – im Gegensatz zur sog. Berliner Räumung von Mietwohnungen72) – 85 bei nicht zu Wohnzwecken dienenden Grundstücken die Aufspaltung der nach dem Titel geschuldeten Leistung x
in die Außerbesitzsetzung des Schuldners sowie
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die eigentliche Räumung des Grundstücks (Entfernung der auf dem Grundstück gelagerten Gegenstände)
und die Erteilung eines diesbezüglichen Teilauftrags an den Gerichtsvollzieher nach wie vor als unproblematisch angesehen wird.73) Mit dieser Beschränkung der Zwangsvollstreckung auf eine Teilvollstreckung kann es der betreibende Zwangsvollstreckungsgläubiger vermeiden, den andernfalls nach § 885 Abs. 3 ZPO erforderlichen Kostenvorschuss für die Räumung und Einlagerung der zu entfernenden beweglichen Sachen erbringen zu müssen.74) Damit muss der vorläufige Verwalter befürchten, dass der Ersteher den schuldnerischen Betrieb kurzfristig außer Besitz setzen lässt, da die faktischen Hürden hierfür gering sind. Da der Schuldner im Antragsverfahren auch bei Anordnung einer der Verfügungsbeschrän- 86 kungen nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO die Rechtsmacht behalten hat, sich zu verpflichten, ist er in der Lage, das ihm gehörende Betriebsgrundstück an einen Dritten zu vermieten oder zu verpachten. Dem darauf gestützten Besitzverschaffungsanspruch kann der vorläufige Verwalter nicht 87 mit Hilfe eines Antrags nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO entgegentreten, da sich ein solcher Antrag nur gegen Aus- und Absonderungsberechtigte richten kann. 2.7.3 Vermietung durch Schuldner im Antragsverfahren Um die Betriebsfortführung nicht durch den Entzug des Grundstücks zu gefährden, bleibt 88 dem vorläufigen Verwalter nur die Möglichkeit, die Herausgabe bis zur Eröffnung zu verweigern: Anders als in der Insolvenz des Mieters steht dem Verwalter kein Rücktritts- oder Kündigungsrecht zu. Allerdings besteht das Mietverhältnis nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO nur dann fort, wenn die Mietsache im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem Mieter bereits überlassen war, da der BGH75) die Vorschrift teleologisch reduziert. Wurde die Mietsache dem Mieter noch nicht überlassen, steht dem Insolvenzverwalter das Wahlrecht nach § 103 InsO zu.76) War das Mietverhältnis zwar in Vollzug gesetzt, hatte ___________ 71) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 22 Rz. 11. 72) Näher hierzu Schuschke, NZM 2011, 685; BGH, Beschl. v. 17.11.2005 – I ZB 45/05, NZM 2006, 149 = NJW 2006, 848. 73) AG Forchheim, Beschl. v. 15.6.2010 – 1 M 684/10, juris. 74) Schuschke, NZM 2011, 685, dort Fn. 15. 75) BGH, Urt. v. 5.7.2007 – IX ZR 185/06, ZIP 2007, 2087. 76) Huber in: Gottwald/Haas, InsR-Hdb., § 37 Rz. 24; Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 108 Rz. 11; eingehend zur Problematik Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 108 Rz. 64 – 70.
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der Mieter aber den Besitz bei Insolvenzeröffnung wieder aufgegeben, besteht es in der Insolvenz des Vermieters nicht mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort.77) 2.7.4 Fehlende öffentlich-rechtliche Nutzungsberechtigungen 89 Vor abschließender Entscheidung über die Betriebsfortführung ist i. R. der Sorgfalt zu untersuchen, ob für den schuldnerischen Betrieb die erforderlichen öffentlich-rechtlichen Erlaubnisse und Genehmigungen vorliegen. Erfahrungsgemäß bestehen bei vielen Unternehmen, gegen die ein Insolvenzantrag gestellt wird, nicht nur in der Buchhaltung Defizite. In Betracht kommen genehmigungspflichtige Eingriffe in den Wasserhaushalt, bauordnungsrechtliche, immissionsschutzrechtliche sowie alle anderen Genehmigungen nach der Gewerbeordnung. 90 Es mag einen Schuldner zu Beginn eines Antragsverfahrens und den dortigen Problemen irritieren, z. B. nach einer baurechtlichen Nutzungsgenehmigung im Antragsverfahren befragt zu werden. Die diesbezüglichen Defizite sind aber häufig. Sie belasten eine Betriebsfortführung im Antragsverfahren und werden später im eröffneten Verfahren jedweden Verwertungsprozess oder Investoreneintritt nachhaltig erschweren und Massenachteile bringen. Derlei Defizite konsequent und früh aufzuspüren und deren Behebung anzugehen, kann nur empfohlen werden. 91 Im Antragsverfahren als Störer in Anspruch genommen werden kann nur der „starke“ vorläufige Verwalter, da auf ihn gemäß §§ 22 Abs. 1, 80 Abs. 1 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das schuldnerische Vermögen übergeht. Führt der starke vorläufige Insolvenzverwalter etwa den Betrieb einer immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Anlage des Schuldners fort, so rückt er auf diese Weise in die Betreiberstellung ein. Dementsprechend treffen ihn die Betreiberpflichten des § 5 BImSchG. Zur Freigabe von altlastenbehafteten Grundstücken siehe unten Rz. 225 ff. 3.
Das vom Schuldner gemietete oder gepachtete Grundstück
3.1
Sicherung des Grundstücks
92 Hinsichtlich der Sicherung des Grundstücks, der Verkehrssicherungspflicht, der Aufrechterhaltung der Ver- und Entsorgung des Grundstücks sowie hinsichtlich der vom Schuldner eingegangenen Dauerschuldverhältnisse, gilt für den Pflichtenkreis des vorläufigen Insolvenzverwalters das gleiche wie bei einem Betriebsgrundstück, das sich im Eigentum des Schuldners befindet. 93 Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen jedoch der Mietvertrag und seine Bestimmungen. Üblicherweise wird im Mietvertrag dieVerkehrssicherungspflicht, die den Eigentümer trifft, auf den Mieter übertragen. Insoweit ergeben sich keine Besonderheiten, jedoch können sich Verpflichtungen des schuldnerischen Unternehmens gegenüber dem Vermieter etwa zur Instandhaltung oder gar zur Instandsetzung der gemieteten Sache ergeben. 94 Von dem Insolvenzantrag und ggf. der Anordnung der vorläufigen Verwaltung werden solche Nebenpflichten aus dem Mietvertrag grundsätzlich nicht berührt. Der Vermieter kann sie üblicherweise nicht im Wege der Zwangsvollstreckung durchsetzen, insbesondere wenn das Gericht eine entsprechende Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO angeordnet hat. Der Vermieter kann jedoch bei schuldhafter Verletzung der Nebenpflichten den Mieter in Verzug setzen. Ist die verletzte Nebenpflicht von solcher Bedeutung, dass es dem Vermieter unzumutbar wird, das Mietverhältnis fortzusetzen, kann er hierauf eine außerordentliche Kündigung stützen. ___________ 77) Ergänzung durch: BGH, Urt. v. 11.12.2014 – IX ZR 87/14, BGHZ 204, 1 = ZIP 2015, 135.
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung 3.2
§ 32
Kündigungssperre gemäß § 112 InsO/Aussonderungssperre nach Kündigung
Nach § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB kann jede Vertragspartei das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn der Mieter x für zwei aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung der Miete oder eines nicht unerheblichen Teils der Miete in Verzug ist oder x in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der Miete i. H. eines Betrages in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht. Ein Miet- oder Pachtverhältnis, das der Schuldner als Mieter oder Pächter eingegangen war, kann der andere Teil nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zunächst wegen eines Verzugs von Miete und Pacht, der vor dem Antrag eingetreten ist, gemäß § 112 Nr. 1 InsO nicht kündigen. Ebenso wenig ist eine Kündigung wegen einer Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Schuldners möglich, § 112 Nr. 2 InsO. § 112 InsO enthält insofern eine Privilegierung des Schuldners ab dem Zeitpunkt des Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Diese Privilegierung aus § 112 Nr. 1 InsO hinsichtlich Verzugs gilt aber nicht für die Zeit nach dem Eröffnungsantrag. Unbedingt zu beachten sind deshalb die „Fallstricke“, die sich aus § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB für die Zeit ab Eröffnungsantrag ergeben. Der Vermieter kann das Mietverhältnis also sehr wohl kündigen, wenn sich einer der Tatbestände des § 543 BGB in der Zeit nach Eröffnungsantrag verwirklicht.
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Beispiel: Fälligkeit der Miete üblicherweise am 3. Werktag eines Kalendermonats x
Miete für Monat 01 rückständig
Rückstand nach Antrag: 0 Monatsmieten
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EÖ-Antrag gestellt am 30.1.
Rückstand nach Antrag: 0 Monatsmieten
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Miete für Monat 02 fällig am 3.2.
Rückstand nach Antrag: 1 Monatsmiete
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Miete für Monat 03 fällig am 3.3.
Rückstand nach Antrag: 2 Monatsmieten
Damit steht dem Vermieter für den Fall, dass der Schuldner die Miete auch während des vorläufigen Insolvenzverfahrens nicht zahlt, bereits am 4.3. ein außerordentliches fristloses Kündigungsrecht zu – nur knappe fünf Wochen nach Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dieses Recht steht grundsätzlich auch dem Gesellschafter zu, der dem schuldnerischen 99 Unternehmen ein Grundstück zur Nutzung überlassen hat.78) Der vorläufige Verwalter muss demzufolge i. R. seiner Überwachungspflichten darauf 100 achten, dass der Schuldner genügend Liquidität zur Verfügung hat, um die zweite, während des Antragsverfahrens fällig werdende Miete rechtzeitig zu überweisen, oder mit dem Vermieter anderweitige Vereinbarungen treffen lassen und zustimmen. Allerdings kann der vorläufige Verwalter die Anordnung einer Herausgabeuntersagung 101 nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO zu erwirken versuchen. Nach überwiegender Literaturmeinung ist auch Grundvermögen, wie z. B. eine gemietete Immobilie, vom Wortlaut der Vorschrift erfasst. Somit kann eine Anordnung eine Herausgabe bzw. Räumung des Grundstücks bei wirksam gekündigtem Mietverhältnis verhindern.79) Eine vom Insolvenzgericht angeordnete Verwertungssperre gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO lässt die Pflicht des ___________ 78) Marotzke, ZInsO 2008, 1281, 1292. 79) Uhlenbruck-Vallender, InsO, § 21 Rz. 38; Ganter NZI 2007, 549, 555; Schmerbach, InsbürO 2007, 202, 207; grundsätzlich bejahend, wenn auch skeptisch hinsichtlich der Auswirkungen im Einzelfall Kirchhof, ZInsO 2007, 227, 229, 230.
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Teil V Einzelfragen
Mieters/Pächters zur Bezahlung des vertraglichen Nutzungsentgelts und somit auch die Kündigungsmöglichkeit des Vermieters/Verpächters unter den Voraussetzungen des § 543 BGB unberührt; allerdings kann die vermietete/verpachtete Sache nicht zurückverlangt werden, solange die Verwertungssperre gilt.80) 102 Dem Vermieter steht in den ersten drei Monaten nach der Anordnung kein Nutzungsentgelt („Zinsen“) i. S. von § 169 Satz 2 InsO zu.81) Dies entspricht weitgehend der Rechtslage bei Einstellung der Zwangsversteigerung einer pfandrechtsbelasteten Immobilie gemäß § 30d Abs. 4 ZVG. Die Verfassungsmäßigkeit des § 169 Satz 2 InsO, insbesondere die Vereinbarkeit mit Art. 12 und Art. 14 GG, hat das BVerfG82) bestätigt. 103 Der Vermieter ist jedoch nicht gehindert, einen Anspruch auf Ausgleich des während des Insolvenzantragsverfahrens durch die Nutzung entstandenen Wertverlusts geltend zu machen.83) III.
Eröffnetes Verfahren
1.
Die Nutzung des im Eigentum des Schuldners stehenden Grundstücks
1.1
Versicherung und Sicherung nach Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis
104 Hierfür gelten die zum Grundstück im Antragsverfahren gemachten Ausführungen entsprechend. Der Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren muss somit die Dauerschuldverhältnisse zur Ver- und Entsorgung des Grundstücks aufrechterhalten. 105 In der Insolvenz des Versicherungsnehmers gilt für Versicherungsvertragsverhältnisse grundsätzlich § 103 InsO. Der Vertrag ist beiderseits nicht vollständig erfüllt, wenn der Versicherungsnehmer noch künftige oder in der Vergangenheit fällig gewordene Prämien zu zahlen hat und der Versicherer auch nur bei künftigem Eintritt eines Versicherungsfalles Entschädigung schuldet.84) Der Insolvenzverwalter hat somit die Wahl, Erfüllung zu wählen. In diesem Fall muss er die Prämien ab Eröffnung aus der Masse zahlen, dafür hat im Gegenzug der Versicherer Versicherungsschutz zu gewähren.85) 106 In der Praxis wird der Verwalter jedoch vor der Erfüllungswahl prüfen, ob der Versicherungsschutz optimiert werden sollte und ob dies möglich ist. Findet er eine nach den Gesamtumständen bessere Versicherung, kann er neuen Versicherungsschutz abschließen und hinsichtlich der bestehenden Versicherungen die Nichterfüllung erklären. 1.2
Haftung des Grundstücks (auch für die Vergangenheit)
107 § 10 Abs. 1 ZVG regelt die Rangfolge der Ansprüche, die im Zwangsversteigerungs- und Zwangsverwaltungsverfahren zu berücksichtigen sind. Aus dem Gesichtspunkt der Haftung des Grundstücks für Ansprüche, die in der Vergangenheit begründet wurden, kommen insbesondere die Rangklasse Nr. 2 (Ansprüche der WE-Gemeinschaft bei Gewerbeeinheiten), Nr. 3 (öffentliche Lasten) und Nr. 4 (Ansprüche der dinglich Berechtigten) in Betracht. Daneben gilt für das laufende Insolvenzverfahren die Rangklasse Nr. 1a. Durch diese Vor___________ 80) Ganter, ZIP 2015, 1767, 1772. 81) KG Berlin, Urt. v. 11.12.2008 – 23 U 115/08, ZIP 2009, 137 (rkr.), zustimmend Köster, EWiR 2009, 311 (Urteilsanm.); BGH, Urt. v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779; Hölzle, ZIP 2014, 1155, weist auf das Fehlen des für die Begründung des Verzugs erforderlichen Verschuldens hin. 82) BVerfG (2. Kammer), Beschl. v. 22.3.2012 – 1 BvR 3169/11, ZIP 2012, 1252. 83) BGH, Urt. v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779. 84) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 103 Rz. 106. 85) Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 103 Rz. 44.
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§ 32
schrift wird das Grundstück mit den Kosten belastet, die durch die Feststellung entstehen, dass Gegenstände, die in den Haftungsverband der Hypothek oder Grundschuld einbezogen sind, nicht zur Insolvenzmasse gehören. 1.2.1 Wohnungseigentum (Teileigentum) (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 ZVG) Wird der Betrieb eines Unternehmens fortgeführt, das einen Teilbetrieb wie bspw. ein 108 Außendienst-Büro oder eine Einzelhandelsfläche in einer rechtlich als Teileigentum gestalteten Fläche unterhält, gewinnt die Rangklasse 2 aus § 10 Abs. 1 Nr. 2 ZVG Bedeutung. In diese Rangklasse fallen die fälligen Ansprüche auf Zahlung der Beiträge zu den Lasten und Kosten des gemeinschaftlichen Eigentums oder des Sondereigentums, die nach § 16 Abs. 2, § 28 Abs. 2 und 5 WEG geschuldet werden, einschließlich der Vorschüsse und Rückstellungen sowie der Rückgriffansprüche einzelner Wohnungseigentümer. Das Vorrecht erfasst auch die laufenden und die rückständigen Beträge aus dem Jahr der Beschlagnahme und den letzten zwei Jahren. Das Vorrecht ist der Höhe nach einschließlich aller Nebenleistungen begrenzt auf Beträge i. H. von nicht mehr als 5 % des nach § 74a Abs. 5 ZVG vom Vollstreckungsgericht festgesetzten Verkehrswertes. Prozessual ist zu beachten, dass die Anmeldung der Ansprüche wie auch etwaiger Rückgriffansprüche einzelner Wohnungseigentümer durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer erfolgt. 1.2.2 Öffentliche Lasten i. S. von § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG Gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG haftet das Grundstück für die Entrichtung der öffentlichen 109 Lasten wegen der rückständigen Beträge aus den letzten vier Jahren; wiederkehrende Leistungen, insbesondere Grundsteuern, Zinsen, Zuschläge oder Rentenleistungen, sowie Beträge, die zur allmählichen Tilgung einer Schuld als Zuschlag zu den Zinsen zu entrichten sind, genießen dieses Vorrecht nur für die laufenden Beträge und für die Rückstände aus den letzten zwei Jahren. Untereinander stehen öffentliche Grundstückslasten, gleichviel, ob sie auf Bundes- oder Landesrecht beruhen, im Range gleich. 1.2.2.1
Beiträge gemäß Satzung
Für die Praxis von Bedeutung sind die Beiträge der Kommunen oder der Zweckverbände 110 für Wasser- und Abwasseranschlüsse sowie für den Straßenausbau. Mangels gesetzlicher Begriffsbestimmung im ZVG beurteilt sich die Frage, ob eine Abgaben- 111 verpflichtung diese Eigenschaft hat, nach der gesetzlichen Regelung, auf der die Verpflichtung beruht. Es muss sich um eine Abgabenverpflichtung handeln, welche auf öffentlichem Recht beruht, durch wiederkehrende oder einmalige Geldleistungen zu erfüllen ist und nicht nur die persönliche Haftung des Schuldners, sondern auch die dingliche Haftung des Grundstücks voraussetzt. Das für die Abgaben maßgebende öffentliche Bundes- oder Landesrecht entscheidet mithin darüber, ob die Abgabenverpflichtung zu den öffentlichen Grundstückslasten i. S. des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG gehört. Dabei muss die Verpflichtung in dem Abgabengesetz nicht unbedingt als öffentliche Last bezeichnet sein; es genügt vielmehr, wenn sich diese Eigenschaft aus der rechtlichen Ausgestaltung der Zahlungspflicht und aus ihrer Beziehung zum Grundstück ergibt. Im letzteren Fall muss jedoch aus Gründen der Klarheit und Rechtssicherheit aus der gesetzlichen Regelung eindeutig hervorgehen, dass die Abgabenverpflichtung auf dem Grundstück lastet und mithin nicht nur eine persönliche Haftung des Abgabenschuldners, sondern auch die dingliche Haftung des Grundstücks besteht. Zweifel in dieser Hinsicht schließen eine Berücksichtigung der Zahlungspflicht als öffentliche Last aus.86) ___________ 86) BGH, Urt. v. 30.6.1988 – IX ZR 141/87, NJW 1989, 107, 108; so auch OLG Zweibrücken, Urt. v. 27.11.2008 – 8 U 60/07, WM 2008, 179.
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§ 32
Teil V Einzelfragen
112 Die genannten Ansprüche der Klasse 3 werden bevorrechtigt berücksichtigt, ohne dass der Berechtigte hieraus das Verfahren betreiben muss. Sie müssen lediglich rechtzeitig (§ 37 Nr. 4 ZVG) zum Verfahren angemeldet werden, da sie, wie sich aus §§ 45 Abs. 1, 114 Abs. 1 ZVG ergibt, nicht aus dem Grundbuch ersichtlich sind. 113 Für die Praxis ebenfalls bedeutsam ist die Unterscheidung hinsichtlich der Möglichkeit, rückständige Beträge geltend zu machen. Bei wiederkehrenden Leistungen sind Beträge, die älter sind als der letzte, vor der Beschlagnahme fällig gewordene Betrag, Rückstände i. S. des Gesetzes, § 13 Abs. 1 ZVG. Nur Rückstände aus den letzten zwei Jahren fallen in die Rangklasse 3. Hingegen können einmalige Leistungen hinsichtlich der aus den letzten vier Jahren rückständigen Beträge mit der bevorrechtigten Rangklasse 3 geltend gemacht werden. 1.2.2.2
Grundsteuer/maßgeblicher Zeitpunkt
114 Die Grundsteuer ruht gemäß § 12 GrStG als öffentliche Last auf dem Grundstück. Grundsteuergläubiger können trotz des Vollstreckungsverbotes aus § 89 Abs. 1 InsO, wonach Zwangsvollstreckungen für einzelne Insolvenzgläubiger während der Dauer des Insolvenzverfahrens weder in die Insolvenzmasse noch in das sonstige Vermögen des Schuldner zulässig sind, dem Zwangsversteigerungsverfahren beitreten, weil sie auch hinsichtlich älterer Grundbesitzabgaben ein Recht auf abgesonderte Befriedigung haben. Die Rangklassenbestimmungen des § 10 ZVG beseitigen nicht die dingliche Haftung des Grundstücks und damit das Recht auf abgesonderte Befriedigung i. S. von § 49 InsO.87) 115 Dies hat Auswirkungen auch für die freihändige Veräußerung. Nach dem BGH88) kann der Inhaber einer öffentlichen Last gemäß § 12 GrStG, wenn der Insolvenzverwalter das belastete Grundstück freihändig veräußert hat, zwar keine abgesonderte Befriedigung aus dem Veräußerungserlös verlangen; für eine dingliche Surrogation am Veräußerungserlös bestehe keine Notwendigkeit, da das Grundstück weiterhin hafte.89) Er kann aber weiter in das verkaufte Grundstück vollstrecken, und dies kollidiert mit dem Freistellungsinteresse des Käufers. Dem folgt auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung: Die dingliche Haftung für rückständige Grundsteuern ist nicht durch § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG beschränkt.90) 116 Eine Gefährdung für die Betriebsfortführung kann sich damit auch bei öffentlichen Grundstückslasten dadurch ergeben, dass der Inhaber des entsprechenden Anspruchs daraus die Zwangsversteigerung betreibt. 1.2.3 Grundpfandrechte i. S. von § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG 117 Zwar im Range nach den öffentlichen Lasten, von den Beträgen her aber in aller Regel weitaus bedeutender ist die Haftung des Grundstücks für Grundpfandrechte nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG. In dieser Klasse gibt es für einmalige Leistungen, also insbesondere die auf Rückzahlung der gesicherten Darlehensforderungen gerichteten Hauptansprüche, keine zeitliche Begrenzung. 118 Hingegen sind Zinsen nur zeitlich begrenzt berücksichtigungsfähig. Sind sie älter als die nach § 13 ZVG errechneten zwei Jahre, so werden sie nur nach Rangklasse 8 bedient, es sei denn, der Gläubiger betreibt auch wegen der Zinsen das Verfahren; sie fallen dann in die Klasse 5. ___________ 87) BGH, Beschl. v. 6.10.2011 – V ZB 18/11, Rz. 18, ZIP 2012, 147 m. zust. Anm. Büchler, EWiR 2012, 421 – 422. 88) BGH, Urt. v. 18.2.2010 – IX ZR 101/09, ZIP 2010, 994 m. zust. Anm. Büchler, EWiR 2010, 431 – 432. 89) BGH, Urt. v. 18.2.2010 – IX ZR 101/09, Rz. 11, ZIP 2010, 994. 90) Sächsisches OVG, Beschl. v. 8.1.2009 – 5 A 168/08, BeckRS 2009, 32731 = NZM 2009, 447.
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Haftung der Insolvenzmasse (nur für die Zukunft)
1.3.1 Nach Eröffnung abgeschlossene Verträge; Erfüllungswahl Alle Ansprüche der Vertragspartner aus Schuldverhältnissen, die der Insolvenzverwalter für 119 und gegen die Masse abschließt, sind Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.91) Soweit der Insolvenzverwalter gegenseitige Verträge nach den §§ 103 ff. InsO durch Er- 120 füllungswahl fortführt, werden die Ansprüche der Vertragspartner Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Bei teilbaren Leistungen, insbesondere Dauerschuldverhältnissen, bewirkt § 105 Satz 1 InsO, dass lediglich die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Erfüllungswahl des Insolvenzverwalters entstehenden Ansprüche des Vertragspartners Masseverbindlichkeiten werden, während die Ansprüche aus der Zeit vor Eröffnung nur als Insolvenzforderungen geltend gemacht werden können.92) 1.3.2 Bei Vermietung des Betriebsgrundstücks: Vorsteuerberichtigung nach Wegfall der Umsatzsteueroption Hatte das schuldnerische Unternehmen das Betriebsgrundstück zumindest in Teilen unter 121 Option zur Umsatzsteuer an einen zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmer vermietet, vermietet der Insolvenzverwalter jedoch später an einen nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Mieter (z. B. eine Arztpraxis), liegt eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse i. S. des § 15a UStG vor. Bei Grundstücken beträgt der Berichtigungszeitraum zehn Jahre seit erstmaliger Verwendung, § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG. Führt der Insolvenzverwalter durch Vertragsabschluss mit einem neuen Mieter den Vorsteuerberichtigungstatbestand herbei, ist der Berichtigungsanspruch des Finanzamts Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 UStG (zu den Einzelheiten siehe unten Schmittmann, § 42 Rz. 215 ff.). 2.
Gefährdung der Betriebsfortführung durch Zwangsvollstreckungen des Grundpfandrechtsgläubigers
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hindert den dinglich gesicherten Gläubiger nicht 122 daran, die Zwangsvollstreckung aus dem dinglichen Titel in das Grundstück im Wege der Zwangsverwaltung oder der Zwangsversteigerung zu betreiben, § 49 InsO. Dies schließt nicht aus, dass der dinglich Berechtigte zugleich Inhaber einer persönlichen Forderung und damit Insolvenzgläubiger i. S. von § 38 InsO ist. Gegenstände, an denen Absonderungsrechte bestehen, gehören haftungsrechtlich zur In- 123 solvenzmasse, doch wird dies von dem privilegierten Zugriffsrecht des Absonderungsberechtigten überlagert.93) Wie Eckardt weiterhin zutreffend verdeutlicht, gehören die dinglichen Ansprüche aus Grundpfandrechten gewissermaßen zum Inhalt des jeweiligen Rechts. Ist dieses Recht wirksam vor Verfahrenseröffnung erworben und wird es weder durch eine Insolvenzanfechtung noch durch die Rückschlagsperre in seinem Bestand beeinträchtigt, so kann der Gläubiger die Zwangsvollstreckung in das Grundstück auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einleiten. Diese gesicherte Rechtsposition erlaube es ihm, in der Krise seines Schuldners „weitgehend gelassen abzuwarten“.94) Auch wenn Grundpfandrechte ebenso wie Mobiliarsicherheiten im Insolvenzverfahren 124 einbezogen sind, sich also Einschränkungen ihrer Rechtsposition im Vergleich zur Rechtslage außerhalb des Insolvenzverfahrens gefallen lassen müssen, sind die Konsequenzen der ___________ 91) 92) 93) 94)
Braun-Bäuerle/Schneider, InsO, § 55 Rz. 1. Braun-Bäuerle/Schneider, InsO, § 55 Rz. 48, 49. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 13. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 17.
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§ 32
Teil V Einzelfragen
Einbeziehung bei Grundpfandrechten weit weniger tiefgreifend als bei den Mobiliarsicherheiten: dort hat der Absonderungsberechtigte keine Möglichkeit, seine Sicherheit auf eigene Initiative zu verwerten, sondern muss dies dem Insolvenzverwalter überlassen (vgl. § 166 InsO). Darüber hinaus steht dem Insolvenzverwalter ein pauschalierter Kostenbeitrag für die Kosten der Feststellung des beweglichen Gegenstandes und seiner Verwertung zu, § 171 InsO. Eckardt weist zur Gesetzgebungsgeschichte darauf hin, dass dem Gesetzgeber der InsO der langfristige Bodenkredit und die Sicherheit der Pfandbriefe so wichtig erschienen, dass er weitergehende Einschränkungen in das Verwertungsrecht des Grundpfandrechtsgläubigers nicht regeln wollte.95) Aus diesem Grunde wurde auch eine Möglichkeit zur Einschränkung der Rechte der absonderungsberechtigten Gläubiger im Insolvenzplan, wie sie gesetzlich nach § 223 InsO möglich ist, von der Insolvenzrechtsreformkommission nicht vorgesehen.96) Aus dieser nicht unerheblichen Privilegierung des Grundpfandrechtgläubigers ergeben sich konkurrierende Verwertungsrechte von Grundpfandrechtsgläubiger und Insolvenzverwalter. 125 Üblicherweise unterwirft sich der Darlehensnehmer bei der Bestellung eines Grundpfandrechtes als Sicherheit auch der sofortigen Zwangsvollstreckung hinsichtlich der persönlichen und der dinglichen Forderung (§ 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). Dem Grundpfandrechtsgläubiger steht somit von Beginn ein Vollstreckungstitel zur Verfügung. 126 Dabei nötigt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht generell zu einer Titelumschreibung auf den Insolvenzverwalter. Nur wenn die Vollstreckung erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnen soll, bedarf es einer Vollstreckungsklausel gegen den Verwalter. Ist die Beschlagnahme hingegen vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits wirksam geworden, wird sie von den Wirkungen der Insolvenz nicht mehr berührt (§ 80 Abs. 2 Satz 2 InsO). Das bedeutet, dass eine auf den Schuldner lautende Vollstreckungsklausel nicht umgeschrieben werden muss. Der Insolvenzverwalter tritt zwar wegen der auf ihn übergegangenen Verwaltungs- und Verfügungsrechte an die Stelle des Schuldners. Gegen ihn müssen aber nicht die bereits gegenüber dem Schuldner erfüllten Vollstreckungsvoraussetzungen wiederholt werden. Die Notwendigkeit einer Umschreibung auf den Insolvenzverwalter besteht somit nur, wenn die Vollstreckung nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingeleitet wird. Sie beruht dann aber nicht auf dem Gedanken der Rechtsnachfolge, auch wenn § 727 ZPO herangezogen wird, sondern sie beruht darauf, dass allein der Insolvenzverwalter wegen der auf ihn übergegangenen Verwaltungs- und Verfügungsrechte (§ 80 Abs. 1 InsO) Adressat von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen sein kann.97) 2.1
Zwangsverwaltung
2.1.1 Antragsbefugnis 127 Die Antragsbefugnis zur Einleitung eines Zwangsverwaltungsverfahrens steht neben dem dinglich gesicherten Gläubiger gemäß § 165 InsO auch dem Insolvenzverwalter zu. Es ist der Praxis jedoch nur schwer eine Konstellation denkbar, in der der Insolvenzverwalter einen Antrag auf Zwangsverwaltung des von ihm i. R. der Betriebsfortführung weiter genutzten Betriebsgrundstückes stellen sollte, da die Zwangsverwaltung zur Folge hat, dass die Grundstückserträge auch im Fall des parallel stattfindenden Insolvenzverfahrens nicht zur Insolvenzmasse fließen, sondern eine Sondermasse bilden.98) ___________ 95) 96) 97) 98)
Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 24. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 469 Fn. 584. BGH, Urt. v. 14.4.2005 – V ZB 25/05, DNotZ 2005, 840 = Rpfleger 2006, 423. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 338, 346; Eickmann, ZIP 1986, 1517; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 165 Rz. 31.
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§ 32
2.1.2 Abwehrmöglichkeiten des Insolvenzverwalters Häufiger ist deshalb die Konstellation anzutreffen, dass der Grundpfandrechtsgläubiger die 128 Zwangsverwaltung beantragt, § 49 InsO i. V. m. § 153 ZVG. Im eröffneten Insolvenzverfahren steht dem Insolvenzverwalter zur vollständigen oder 129 teilweisen Einstellung der Zwangsverwaltung die Abwehrmöglichkeit des § 153b ZVG zu Gebote. Er muss i. S. von § 294 ZPO glaubhaft machen, dass durch die Fortsetzung der Zwangsverwaltung eine wirtschaftlich sinnvolle Nutzung der Insolvenzmasse wesentlich erschwert wird. Eine wirtschaftlich sinnvolle Nutzung der Insolvenzmasse ist dann anzunehmen, wenn 130 die Masse dem Ziel der bestmöglichen Haftungsverwirklichung der Insolvenzgläubiger am nächsten kommt. Ein Anhaltspunkt ist dafür das im Berichtstermin von der Gläubigerversammlung beschlossene Verwertungskonzept des Verwalters oder ein Insolvenzplan.99) Die wirtschaftlich sinnvolle Nutzung ist nur dann i. S. der Vorschrift wesentlich erschwert, 131 wenn die Auswirkungen auf die Nutzung der Insolvenzmasse über das durch die Zwangsverwaltung übliche Ausmaß der Behinderung eines gleichzeitigen Insolvenzverfahrens hinausgehen. Wesentlich ist die Erschwerung dann, wenn wegen der Fortführung der Zwangsverwaltung ein zulässiges Verwertungskonzept zu scheitern droht, z. B. eine übertragende Sanierung des schuldnerischen Unternehmens nicht erfolgen kann oder die Änderung sachenrechtlicher Verhältnisse nach § 228 InsO im Wege des Insolvenzplans misslingen würde.100) Zwar wird vertreten, die Voraussetzungen einer einstweiligen Einstellung nach § 153b 132 ZVG seien nicht mehr gegeben, wenn der Zwangsverwalter bereit sei, das zwangsverwaltete Betriebsgrundstück an den Insolvenzverwalter zu vermieten oder zu verpachten.101) Dies überzeugt jedoch nicht. § 153b ZVG muss nach seinem Schutzzweck bereits dann eingreifen, wenn der Insolvenzverwalteter des zwangsverwalteten Grundstücks Verhandlungen mit einem potentiellen Erwerber des schuldnerischen Betriebs aufnimmt,102) da dieser im Zweifel nur am Erwerb des Betriebs samt Grundstück interessiert ist. Nicht beachtlich ist die Ankündigung des betreibenden Gläubigers, er werde an einer Ver- 133 äußerung durch den Insolvenzverwalter mitwirken: Der Einwand ist zum einen gesetzlich nicht geregelt, zum anderen hat der Insolvenzverwalter keine Möglichkeit, seine daraus erwachsende potentielle Haftung abzuwenden.103) In seinem Beschluss über die Einstellung der Zwangsverwaltung hat das Vollstreckungs- 134 gericht von Amts wegen einen Nachteilsausgleich zugunsten des betreibenden Grundpfandrechtsgläubigers festzusetzen, der durch laufende Zahlungen aus der Insolvenzmasse erfolgt, § 153b Abs. 2 ZVG.104) Allerdings führt eine Entscheidung des Gerichtes nach § 153b ZVG lediglich zur Einstel- 135 lung des Verfahrens, nicht jedoch zur Aufhebung. Damit bleibt auch die Beschlagnahme durch den Zwangsverwalter bestehen. Hauptauswirkung ist, dass der Zwangsverwalter keine Verfahrenshandlungen über das betreffende Grundstück mehr vornehmen kann.105) Hinsichtlich des Einstellungsantrags ist auch deshalb Eile geboten, da der Insolvenzverwalter einen von dem Zwangsverwalter zwischenzeitlich abgeschlossenen Mietvertrag nicht auf___________ 99) 100) 101) 102) 103) 104) 105)
Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134, 138; Kübler/Prütting/Bork-Flöther, InsO, § 165 Rz. 72. Kübler/Prütting/Bork-Flöther, InsO, § 165 Rz. 73. So Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 397. Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134, 158. Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134, 139. Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134, 139. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 391.
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grund der Einstellung des Zwangsverwaltungsverfahrens auflösen kann, sondern lediglich nach den Vorschriften des BGB kündigen.106) 136 Auf die sanierungshemmende Belassung der Entscheidungszuständigkeit bei den Vollstreckungsgerichten anstelle der Insolvenzgerichte wurde bereits eingegangen. 2.1.3 Vereinbarung einer „kalten Zwangsverwaltung“ 137 Auch um den etwaigen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Einstellungsschutzvorschrift des § 153b ZVG aus dem Wege zu gehen, kommt die Vereinbarung einer „kalten Zwangsverwaltung“ zwischen dem vollstreckungsbereiten Gläubiger und dem zur Verwaltung bereiten Insolvenzverwalter in Betracht.107) 138 Die kalte Zwangsverwaltung ist gesetzlich nicht geregelt. Sie kann demzufolge nicht gerichtlich angeordnet werden, sondern bedarf einer Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Grundpfandrechtsgläubiger. Ihre Zulässigkeit ist aber weitestgehend108) unbestritten und insbesondere vom BGH ausdrücklich anerkannt, wenn die Masse keine Nachteile erleidet.109) Danach bewirtschaftet der Insolvenzverwalter für den Grundpfandrechtsgläubiger wie ein gerichtlich bestellter Zwangsverwalter die vermieteten oder verpachteten Immobilien. Er zieht für diesen die Miet- oder Pachtzinsen ein und führt sie unter Anrechnung auf deren Forderungen gegen anteilige Vergütung ab.110) 139 Die kalte Zwangsverwaltung kann für absonderungsberechtigte Gläubiger wie auch den Insolvenzverwalter Vorteile bieten.111) Ihre Vereinbarung bietet sich insbesondere zur Entschärfung eines etwa aufkommenden Streits über die Zulässigkeit einer Fortführung des grundstücksgeprägten Gewerbebetriebs des Insolvenzschuldners an. 140 Eine Vereinbarung zur kalten Zwangsverwaltung sollte nach den Empfehlungen von Eckardt112) sowie Cranshaw113) folgende Punkte berücksichtigen: x
Festlegung von Beginn und Dauer der kalten Zwangsverwaltung: Bestimmung eines fiktiven Beschlagnahmezeitpunktes, ggf. Abtretung der zukünftigen Mieten durch den Insolvenzverwalter an den Grundpfandrechtsgläubiger;
x
ggf. Regelung zu den rückständigen Mieten;
x
ggf. Regelung zur Aufteilung derjenigen Mieten, die vor dem Abschluss der Verwertungsvereinbarung bereits bei dem Insolvenzverwalter eingegangen sind;
x
Befriedigung von Kautionsansprüchen der Mieter/Pächter;
x
Regelung zur Abführung der Umsatzsteuer;
x
Regelung der Höhe der Beteiligung der Insolvenzmasse am Nettoertrag sowie Festlegung von Pauschalzahlungen;
x
Regelung zur Verrechnung der Mieterlöse mit den Forderungen des Grundpfandrechtsgläubigers (Hauptforderung und Zinsen);
___________ 106) Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 393 m. w. N. 107) Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 394. 108) Hiergegen offenbar nur Welsh (auch gegen seinen Mitautor Cranshaw) in Cranshaw/Welsch, DZWIR 2017, 101 – 133. 109) BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, NZI 2016, 824 = DZWIR 2017, 134. 110) Kübler/Prütting/Bork-Flöther, InsO, § 165 Rz. 67. 111) Zu den Einzelheiten s. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 418, 419; Molitor, ZInsO 2011, 1486. 112) Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 423. 113) Cranshaw in: Cranshaw/Welsch, DZWIR 2017, 101, 121.
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x x
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Festlegungen hinsichtlich der Durchführung von Renovierungen, Werbeaktionen (für Neuvermietung) und Maßnahmen der Objektpflege, -verbesserung und -entwicklung, insbesondere Kostentragung für diese Maßnahmen; Freistellung der Insolvenzmasse von den Kosten für die Unterhaltung der Immobilie (Grundsteuer, Bewachungskosten u. a.); Regelungen über die Art und Weise der Verwaltung des Grundstücks: x Verwaltung durch Insolvenzverwalter und seine Mitarbeiter, x Verwaltung durch die Mitarbeiter des Schuldners (sog. „kalte Eigenverwaltung“), x Bestellung eines externen Verwalters (sog. „kalte Institutszwangsverwaltung“).
2.1.4 Spannungsverhältnis zwischen § 100 InsO und § 149 ZVG (Unterhaltsgewährung an den Schuldner) § 149 Abs. 1 ZVG gibt dem Schuldner, der zum Zeitpunkt der Beschlagnahme auf dem Grundstück auch wohnt, einen Anspruch auf unentgeltliche Überlassung der für seinen Hausstand unentbehrlichen Räume. Lange war umstritten, in welchem Verhältnis die Vorschrift zu § 100 InsO steht, wenn Zwangsverwaltungsverfahren und Insolvenzverwaltungsverfahren zusammentreffen.114) Nach dem OLG München115) sollte die dem Schuldner günstige Regelung in § 149 Abs. 1 ZVG auf unentgeltliche Nutzungsüberlassung, jedenfalls bei einem nach Beginn des Zwangsverwaltungsverfahrens hinzutretenden Insolvenzverfahren, den Vorrang haben. Dies würde jedoch dazu führen, dass das Ergebnis von der – zufälligen – Reihenfolge der jeweiligen Verfahrenseröffnung abhängt: Bei hinzutretender Zwangsverwaltung bliebe die Schlechterstellung aus dem Insolvenzverfahren erhalten (so die h. M.), während bei hinzutretender Insolvenzverwaltung die Besserstellung aus der Zwangsverwaltung fortgesetzt würde (so das OLG München). Nunmehr hat der BGH116) in der Konstellation des zu einem bereits eröffneten Insolvenzverfahren hinzutretenden Zwangsverwaltungsverfahren entschieden und kommt zum Ergebnis, dass der vom BGH früher117) angenommene Vorrang des Insolvenzrechts bei gleichzeitiger Zwangsverwaltung nur in tatsächlicher, nicht jedoch in rechtlicher Hinsicht besteht. Vielmehr bestehen das Wohnrecht des ersten Titelschuldners gegenüber dem Zwangsverwalter und das Recht des (in der Regel personenidentischen) Insolvenzschuldners auf pflichtgemäße Ermessensausübung, ob ihm der Gebrauch der eigenen Wohnung weiterhin gestattet wird, nebeneinander. Die Folgerungen aus den beiden maßgeblichen Rz. 10 und 11 des Urteils hält der BGH in den Leitsätzen fest: „a) Vollstreckt ein absonderungsberechtigter Gläubiger im Wege der Zwangsverwaltung nach Titelumschreibung gegen den Insolvenzverwalter in weiterhin selbstgenutztes Wohneigentum eines Insolvenzschuldners, kann der Besitzergreifung des Zwangsverwalters das Recht des Schuldners entgegengehalten werden, ihm die für seinen Hausstand unentbehrlichen Räume unentgeltlich zu belassen.“ [Rz. 10] „b) Ist der weitere Gebrauch des selbst genutzten Wohneigentums dem Insolvenzschuldner von der Gläubigerversammlung oder dem Insolvenzverwalter nicht gestattet worden, obliegt allein dem Insolvenzverwalter, die Inbesitznahme des Wohneigentums für die Insolvenzmasse gegenüber dem Insolvenzschuldner durchzusetzen. Der Insolvenzverwalter als Verfahrensschuldner hat dann dem Zwangsverwalter auf Verlangen den Besitz an dem Wohneigentum zu verschaffen.“ [Rz. 11]
___________ 114) Vgl. die ausführliche Darstellung des Streitstandes in der 2. Aufl., 2014, dort § 13 [Schorisch/Cornelius] Rz. 140 bis 147. 115) OLG München, Beschl. v. 16.6.2005 – 5 U 2553/05, juris. 116) BGH, Urt. v. 25.4.2013 – IX ZR 30/11, ZIP 2013, 1189 = NZI 2013, 606. 117) BGH, Urt. v. 11.10.1984 – VII ZR 216/83, ZIP 1984, 1504.
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Teil V Einzelfragen Zwangsversteigerung
2.2.1 Antragsbefugnis 145 § 165 InsO i. V. m. §§ 172 ff. ZVG gibt dem Insolvenzverwalter das Recht, selbst die Zwangsversteigerung eines zur Masse gehörenden Grundstücks zu betreiben. Damit in Konkurrenz steht das trotz Insolvenzeröffnung gegebene Recht des Grundpfandrechtsgläubigers, die Zwangsversteigerung nach § 49 InsO zu betreiben. 146 Auch hier ist festzustellen, dass eine isolierte Zwangsversteigerung des Grundstücks durch den Insolvenzverwalter dann nicht sinnvoll, sondern kontraproduktiv ist, wenn er das Betriebsgrundstück für die Betriebsfortführung weiter benötigt. 147 Bei einer Zwangsvollstreckung in Altmassen droht die Aufdeckung stiller Reserven mit der Folge, dass die darauf entfallende Ertragsteuerschuld als Masseverbindlichkeit in voller Höhe aus der Insolvenzmasse zu berichtigen ist. Einzelheiten der einschlägigen BFHRechtsprechung werden unten abgehandelt (siehe unter Rz. 190–194), da das maßgebliche Urteil des BFH118) zu einem Fall freihändigen Verkaufs erging. Die Qualifikation der aus der Aufdeckung stiller Reserven entstehenden Steuerschuld als Masseverbindlichkeit gilt jedoch in allen Fällen der Verwertung, auch bei Zwangsversteigerung durch den Insolvenzverwalter oder den Grundpfandrechtsgläubiger. Zu Ertragsteuern in der Insolvenz siehe unten Schmittmann, § 42 Rz. 111 ff. 148 Hatte das schuldnerische Unternehmen seinerzeit beim Erwerb des Grundstücks zur Umsatzsteuer optiert, besteht für den Insolvenzverwalter außerdem das bereits oben (siehe unter Rz. 121) angesprochene Haftungsrisiko, dass durch die Zwangsversteigerung ein Vorsteuerberichtigungstatbestand gemäß § 15a UStG ausgelöst wird, wenn er nicht spätestens im Versteigerungstermin eines solchen Grundstücks selbst zur Umsatzsteuer optiert. Der daraus resultierende Berichtigungsanspruch ist Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.119) 149 Die vom Grundpfandrechtsgläubiger initiierte Zwangsversteigerung des Betriebsgrundstücks entzieht somit nicht nur der Betriebsfortführung die tatsächliche Grundlage, sondern verringert zudem die Befriedigungsaussichten der Insolvenzgläubiger durch zusätzliche Belastung der Masse mit Masseverbindlichkeiten. 2.2.2 Abwehrmöglichkeiten des Insolvenzverwalters 150 Betreibt ein Grundpfandrechtsgläubiger die Zwangsversteigerung des Grundstücks, kann der Verwalter im eröffneten Verfahren unter den Voraussetzungen von § 30d Abs. 1 ZVG die einstweilige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens beantragen. 151 Die Entscheidung des Gerichts erfolgt als gebundene Entscheidung („ist auf Antrag […] einstweilen einzustellen, […]“). In der Frühphase nach Eröffnung gewährt zunächst Nr. 1 die Einstellungsmöglichkeit, solange die Gläubigerversammlung zum Berichtstermin nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 InsO noch nicht stattgefunden hat. Aufgrund des Ergebnisses des Berichtstermins ist das Verfahren einstweilig einzustellen, wenn das Grundstück für eine Fortführung des Unternehmens oder die für die Vorbereitung der Veräußerung eines Betriebes oder einer anderen Gesamtheit von Gegenständen benötigt wird. Zum Nachweis muss der ___________ 118) BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, ZIP 3013, 1481, dazu EWiR 2013, 621 (Schmittmann). 119) Gleichgültig, ob die Zwangsversteigerung vom Insolvenzverwalter selbst oder vom Grundpfandrechtsgläubiger betrieben wird, hat der Insolvenzverwalter – zudem anders als bei der freihändigen Veräußerung (s. u. Rz. 179 f.) – keinen Einfluss darauf, wem das Gericht den Zuschlag erteilt und ob damit ein Unternehmer im umsatzsteuerlichen Sinne oder ein Nichtunternehmer das Grundstück erwirbt. Eine besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich dieser Eventualität und ggf. eine Absprache mit dem Grundpfandrechtsgläubiger ist für den Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Haftungsrisiken unverzichtbar.
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§ 32
Insolvenzverwalter den Beschluss der Gläubigerversammlung im Berichtstermin mit dem entsprechenden Inhalt vorlegen.120) In formaler Hinsicht ist zu beachten, dass gemäß § 30d Abs. 3 ZVG die Voraussetzungen für die Einstellung i. S. von § 294 ZPO glaubhaft gemacht werden müssen. Nach zutreffender Auffassung von Mönning/Zimmermann121) ist dazu lediglich erforderlich, dass der Verwalter den Gläubigern im Berichtstermin ein Verwertungskonzept für das unter Zwangsverwaltung stehende Grundstück vorlegt. Hierzu hat das LG Oldenburg in seinem bisher nicht veröffentlichten Beschluss vom 152 28.9.2020 – 6 T 339/20 unter Bezug auf die Rechtsprechung des OLG Braunschweig122) den Interessen der Insolvenzgläubigergesamtheit in der Regel das größere Gewicht zugestanden. Dies hat es im konkreten Fall bejaht, weil der vorgelegte Insolvenzplan unter Einbeziehung des zur Versteigerung anstehenden Grundstücks prognostisch eine Quote ermöglichte, während bei einer Regelabwicklung keine Quotenaussicht bestanden hätte. Die Kompensation für die betreibenden Gläubiger hat das LG Oldenburg mit Verweis auf Sinn und Zweck von §§ 30d und 30e ZVG123) i. H. der vertraglich geschuldeten, hilfsweise gesetzlichen schuldrechtlichen Zinsen zugesprochen, nicht aber die dinglichen Zinsen. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung soll nicht dazu dienen, dem Grundpfandgläubiger auf Kosten der Insolvenzgläubiger vorzeitig Befriedigung zu verschaffen.124) Für welche Dauer etwa eine Fortführung beschlossen wird, soll hingegen nicht entscheidend 153 sein, da § 157 Satz 1 InsO ohnedies von einer nicht unbegrenzten Fortführung ausgeht. Es gibt also keine Mindestdauer für die Fortführung. Andererseits fehlt es auch an einer Höchstdauer.125) Die Dauer der Einstellung stößt jedoch an die Grenze des § 30f ZVG, wonach der betreibende Gläubiger einen Aufhebungsantrag stellen kann, wenn er darlegt, dass die Voraussetzungen für die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung weggefallen sind. 3.
Das vom Schuldner gemietete oder gepachtete Grundstück126)
3.1
Fortbestehen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO
Während die Vorschrift des § 103 InsO, wie dargelegt, im Zusammenhang mit der Sicherung 154 des Betriebsgrundstückes gegen Eigentumsverlust zulasten der Insolvenzmasse von Bedeutung ist, gelten für die mit der Nutzung des Betriebsgrundstückes üblicherweise verbundenen langfristigen Verträge (Miete, Pacht) entscheidende Modifikationen in den §§ 108 – 112 InsO. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO bestehen Miet- und Pachtverhältnisse des Schuldners über unbewegliche Gegenstände mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort. 3.1.1 Gebrauchsüberlassungspflicht des Vermieters Rechtsfolge ist zunächst, dass der Vermieter zur Überlassung des Gebrauchs der Mietsache 155 verpflichtet bleibt. ___________ Goebel in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 33 VI. Rz. 59. Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134, 135. OLG Braunschweig, Beschl. v. 5.9.1967 – 2 W 30/67, NJW 1968, 164. LG Göttingen, Beschl. v. 27.1.2000 – 10 T1/00, ZInsO 2000, 163. Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 302 m. ausführlichem Fundstellennachweis zum Streit zwischen der sog. vollstreckungsrechtlichen und der – hier als vorzugswürdig angesehenen – sog. Insolvenzrechtlichen Auffassung. 125) Goebel in: MünchAHB Sanierung und Insolvenz, § 33 VI. Rz. 59. 126) Zu den durch die Corona-Krise deutlich gewordenen Schwächen des Einzelhandels in den Innenstädten haben die Fragen um die vom Schuldner gemietete Immobilie besondere Aktualität erlangt. Hierzu Schmitt, ZIP 2022, 617. 120) 121) 122) 123) 124)
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Teil V Einzelfragen
3.1.2 Mietzahlungspflicht des Verwalters insbesondere: Tilgungsbestimmungsrecht des Insolvenzverwalters127) 156 Setzt der Verwalter den Mietvertrag und die Nutzung des gemieteten Grundstücks nach Eröffnung fort, sind die Mietzinsansprüche des Vermieters Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO.128) 157 Aufgrund zweier amtsgerichtlicher Entscheidungen129) ist die Frage problematisiert worden, ob bei einer zu geschäftsüblicher Uhrzeit am Monatsersten erfolgenden Verfahrenseröffnung die gesamten Mietzinsen des Eröffnungsmonats nicht als Masseverbindlichkeiten, sondern lediglich als Insolvenzforderungen einzuordnen sind, weil sie an demselben Tag bereits um 0.00 Uhr und damit vor Eröffnung entstanden sind.130) 158 Dem ist Geißler131) zunächst mit einer Rechtsfolgenüberlegung entgegengetreten: Der Ansatz laufe darauf hinaus, dass der Vermieter in der Insolvenz des Mieters für den gesamten im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung laufenden Bemessungszeitraum bloßer Insolvenzgläubiger sei. Richtig sei es daher, den Eröffnungszeitpunkt als die maßgebliche Zäsur anzusehen. Aus § 108 Abs. 3 InsO ergebe sich die Teilbarkeit der insolvenzrechtlichen Qualifikation des Gebrauchsüberlassungsverhältnisses und des korrespondierenden Entgeltanspruches. Deshalb seien nur die Ansprüche, die dem vor Eröffnung liegenden Anteil des Bemessungszeitraums zuzuordnen seien, als Insolvenzforderungen zu qualifizieren, die danach liegenden hingegen als Masseverbindlichkeiten.132) Obergerichtliche Rechtsprechung liegt zu dieser Frage noch nicht vor, so dass eine klare Positionierung derzeit nicht möglich ist. Insofern trifft der Hinweis von Rosenmüller133) zu, dass die Insolvenzverwalter gehalten sind, ihre gängige Praxis im Lichte seiner Auffassung zu überprüfen.134) 159 Durch eine Entscheidung des OLG Dresden135), die vom BGH nicht überprüft werden konnte, wurde eine „Komplikation“ bei der Abwicklung von Masseverbindlichkeiten bedeutsam. In dem entschiedenem Fall hatte der Insolvenzverwalter die als Masseverbindlichkeiten einzuordnende Miete zunächst nicht bezahlt. Nach Verwertung der mit dem Vermieterpfandrecht belasteten Gegenstände beglich er die Rückstände. 160 Nach Auffassung des OLG Dresden war der Insolvenzverwalter berechtigt, bei Auskehr des Verwertungserlöses für Gegenstände, die dem Vermieterpfandrecht unterliegen, nach § 366 Abs. 1 BGB zu bestimmen, dass zunächst diejenigen Mietzinsforderungen des Vermieters, die als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren sind, zuerst getilgt werden sollten, und dann erst offene Mietzinsen und Insolvenzforderungen. Neben mehreren kritischen Stimmen in der Literatur136) hat das OLG Karlsruhe137) (siehe auch die zustimmende Anmerkung von Weiß/Rußwurm)138) das Tilgungsbestimmungsrecht des Insolvenzverwalters ___________ 127) Dazu OLG Dresden, Urt. v. 19.10.2011 – 13 U 1179/10, ZIP 2012, 2266, dazu EWiR 2011, 819 (Mitlehner). 128) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 108 Rz. 16. 129) AG Berlin-Spandau, Urt. v. 30.11.2011 – 13 C 376/11, juris; AG Berlin-Tempelhof, Urt. v. 2.2.2012 – 16 C 316/11, ZInsO 2012, 1137. 130) So auch Rosenmüller, ZInsO 2012, 1110, der nach Angaben in seinem Aufsatz die beiden amtsgerichtlichen Entscheidungen erstritten hat. 131) Geißler, ZInsO 2012, 1206. 132) Geißler, ZInsO 2012, 1206, 1208. 133) Rosenmüller, ZInsO 2012, 1110. 134) Heyn, InsbürO 2012, 485. 135) OLG Dresden, Urt. v. 19.10.2011 – 13 U 1179/10, ZIP 2012, 2266. 136) Lütcke, NZI 2012, 262; Obermüller, NZI 2011, 663. 137) OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.3.2014 – 14 U 180/12, ZIP 2014, 786, dazu EWiR 2014, 657 (Weiß). 138) Weiß/Rußwurm, EWiR 2014, 657.
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bei der Verwertung von Sicherungsgut abgelehnt. Diese Entscheidung hat der BGH139) bestätigt. Danach bleibt es auch bei der Verwertung von Sicherungsgut bei der gesetzlichen Tilgungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB. In den Urteilsgründen stellt der BGH darauf ab, dass die Befugnis zur Tilgungsbestimmung eine Vergünstigung nur für freiwillig leistende Schuldner darstelle. Weder in der Einzelzwangsvollstreckung noch in der Gesamtvollstreckung, die der Insolvenzverwalter betreibt, sei dafür Raum.140) Das OLG Dresden hat den von ihm entschiedenen Fall von der Konstellation im Urteil 161 des OLG Hamburg141) abgegrenzt. Nach der letztgenannten Entscheidung bleibt der Vermieter, der vor Eröffnung eine vertragsgemäße Mietsicherheit erhalten hat, in der Insolvenz des Mieters berechtigt zu bestimmen, ob diese zur Tilgung von Schulden des Mieters eingesetzt werden soll und ggf. für welche Schuld. 3.2
Kündigungsrecht des Insolvenzverwalters gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 InsO
Will der Insolvenzverwalter das Mietverhältnis kündigen, weil er das Grundstück in einem 162 späteren Zeitpunkt nicht mehr für die Betriebsfortführung benötigt, etwa weil im Wege der Sanierung der Betrieb verlegt wird, hat er ein Sonderkündigungsrecht nach § 109 Abs. 1 Sätze 1, 3 InsO. Zu beachten ist, dass das Kündigungsrecht des Insolvenzverwalters dann nicht gegeben ist, 163 wenn der Vermieter bei Eröffnung des Verfahrens die vermieteten Räume dem Schuldner noch nicht überlassen hatte.142) Dies kann für die Fortführung und Sanierung des Schuldnerunternehmens ausnahmsweise dann von Bedeutung sein, wenn etwa der Schuldner bereits vor Eröffnung Mietverträge über Grundstücke, die für die Sanierung erforderlich sind, eingegangen war, von denen der Vermieter im Verfahren zurücktritt.143) 3.2.1 Kündigungsfrist max. drei Monate (§ 109 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 InsO) Der Regelungszweck des § 109 InsO liegt in der Begrenzung von Masseverbindlichkeiten 164 ohne gleichwertigen Vorteil der Masse und dient damit dem Ziel, die Masse nicht mit Mietoder Pachtansprüchen zu belasten, wenn eine wirtschaftliche Nutzung des Objektes nicht mehr möglich ist. Die Gestaltungsrechte, die § 109 InsO dem Verwalter an die Hand gibt, vermeiden, dass das Dauerschuldverhältnis die Masse über die Kündigungsfrist hinaus belastet, ohne dass sie den Vertragsgegenstand angemessen nutzen oder überhaupt einen Gegenwert erlangen kann.144) Da der Verwalter das Datum der Vertragsbeendigung bestimmt, kann er das Schuldnerunternehmen bis zur Veräußerung oder Stilllegung in gemieteten Räumen fortführen, ohne bei längerer Vertragslaufzeit für die Zukunft vor der Alles- oder Nichts-Entscheidung des § 103 InsO zu stehen.145) 3.2.2 Schadensersatzanspruch des Vermieters (nur) Insolvenzforderung (§ 109 Abs. 1 Satz 3 InsO) Hat der Verwalter das Mietverhältnis nach § 109 Abs. 1 Satz 1 InsO gekündigt, so kann 165 der Vermieter wegen der vorzeitigen Beendigung des Vertragsverhältnisses lediglich als ___________ BGH, Urt. v. 9.10.2014 – IX ZR 69/14, ZIP 2014, 2248, dazu EWiR 2014, 783 (Mordhorst). Zustimmend: Flatow in: jurisPR-MietR 2/2015 Anm. 6. OLG Hamburg, Urt. v. 24.4.2008 – 4 U 152/07, ZMR 2008, 714, dazu EWiR 2008, 567 (Schoppe). Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 103 Rz. 60; BGH, Urt. v. 5.7.2007 – IX ZR 185/06, ZIP 2007, 2087. 143) Wegener in: FK-InsO, § 109 Rz. 23. 144) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 109 Rz. 9. 145) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 109 Rz. 10. 139) 140) 141) 142)
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Insolvenzgläubiger Schadensersatz verlangen. Demzufolge ist eine Schadensersatzforderung ausgeschlossen, falls der Schuldner mit derselben Frist hätte kündigen können.146) Es handelt sich um eine bloße Differenzforderung, nicht um einen echten Anspruch auf Schadensersatz. Der Vermieter kann also im Höchstfalle die Insolvenzquote auf denjenigen Mietbetrag verlangen, den er außerinsolvenzlich vom Schuldner bis zu dessen erster Kündigungsmöglichkeit erhalten hätte.147) 3.3
Nutzungsüberlassung durch den nicht unwesentlich beteiligten Gesellschafter des Schuldners (mit Sonderfall Betriebsaufspaltung) (§ 135 Abs. 3 InsO)
166 Bis zur Entscheidung des BGH vom 29.1.2015148) war fraglich, ob und inwieweit die Auslegung dieser Vorschrift durch das vormalige Eigenkapitalersatzrecht beeinflusst ist. Im Einzelnen sind folgende Punkte durch die BGH-Entscheidung nunmehr geklärt. 3.3.1 Keine Pflicht zur unentgeltlichen Nutzungsüberlassung 167 Der BGH hat das Bestehen einer „Finanzierungsfolgenverantwortung“ des Gesellschafters nach der Insolvenzrechtsreform durch das MoMiG verneint. Der Gesellschafter ist daher nicht mehr verpflichtet, der Gesellschaft sein Grundstück unentgeltlich zu überlassen. 3.3.2 Fortbestehen des Nutzungsverhältnisses und Aussonderungssperre für ein Jahr 168 Gemäß §§ 108 Abs. 1 Satz 1, 109 Abs. 1 Satz 1 InsO wird das Nutzungsverhältnis über das Betriebsgrundstück von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt. Allerdings kann der Insolvenzverwalter ohne Rücksicht auf die vereinbarte Vertragsdauer mit einer Frist von drei Monaten zum Monatsende ordentlich kündigen. Ist Vermieter des Betriebsgrundstückes ein mit mehr als einer Kleinbeteiligung gemäß § 39 Abs. 5 InsO beteiligter Gesellschafter, darf dieser seinen nach Ende des Nutzungsverhältnisses fälligen Aussonderungsanspruch für ein Jahr nicht geltend machen. Voraussetzung dafür ist, dass das Grundstück – wie im Falle der Betriebsfortführung regelmäßig – für die Unternehmensfortführung von erheblicher Bedeutung ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Beginn des einjährigen Zeitraumes ist – entgegen dem Wortlaut – der Tag der Insolvenzantragstellung. Der BGH hat sich der überwiegenden Literaturmeinung angeschlossen, dass es sich bei dem vom Gesetz normierten Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens um ein redaktionelles Versehen handelt. Nach der Antragstellung wird im Falle der Betriebsfortführung ganz überwiegend ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt werden. Wie dieser seine Befugnisse oder seine Zustimmungsvorbehalte ausüben wird, entzieht sich dem Einfluss des Gesellschafters, der das Grundstück zur Nutzung überlassen hat. 3.3.3 Entschädigung statt Pflicht zur unentgeltlichen Nutzungsüberlassung 169 Bis zur Beendigung des Mietvertrages aufgrund einer vom Insolvenzverwalter ggf. ausgesprochenen Kündigung besteht der Mietvertrag fort. Demzufolge kann der Vermieter vom Insolvenzverwalter die Begleichung der vereinbarten Miete als Masseverbindlichkeit verlangen. Auch nach Wegfall des Eigenkapitalersatzrechts wird dieser Grundsatz nicht durchbrochen, selbst wenn der Miet- oder Pachtvertrag zwischen der insolventen Gesellschaft und einem an ihr nicht unwesentlich beteiligten Gesellschafter abgeschlossen wurde.149) Kündigt der Insolvenzverwalter und wird die Kündigung vor Ablauf der einjährigen Aussonderungssperre ___________ 146) 147) 148) 149)
Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 109 Rz. 67. Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 109 Rz. 69. BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, ZIP 2015, 589, dazu EWiR 2015, 453 (Spliedt). BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 58, ZIP 2015, 589.
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wirksam, steht dem Gesellschafter nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO ein Ausgleichsanspruch zu. Auch dieser Entschädigungsanspruch ist Masseverbindlichkeit.150) 3.3.4 Berechnung der Höhe der Entschädigung Der als Ausgleich für die Pflicht zur Nutzungsüberlassung an den Gesellschafter zu zahlende 170 Betrag richtet sich im Ausgangspunkt nach den Konditionen des vorinsolvenzlich geschlossenen Vertrages. Bei der Durchschnittsberechnung kommt es jedoch allein auf die tatsächlich entrichtete 171 Vergütung an. Falls die Nutzungsdauer ein Jahr unterschreitet, ist der Durchschnitt der während dieses Zeitraumes erbrachten Zahlungen zu berücksichtigen.151) 3.3.5 Nichtberücksichtigung anfechtbar erlangter Beträge Nach Sinn und Zweck der Vorschrift können nur solche Zahlungen bei der Bemessung 172 des Anspruchs angerechnet werden, die der Gesellschafter trotz der Verfahrenseröffnung behalten darf. Deshalb haben anfechtbare Zahlungen außer Ansatz zu bleiben, weil sie dem Gesellschafter keine dauerhaft verbleibende Befriedigung gewähren.152) Zur Frage der Anfechtbarkeit ist zunächst festzuhalten, dass die Zahlung eines vertraglichen 173 Nutzungsentgeltes nicht als Befriedigung einer Forderung auf Rückgewähr eines Darlehens, sondern nur als Befriedigung einer einem Darlehen gleichgestellten Forderung angefochten werden kann.153) Zwar werden Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens mit Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen, insoweit rechtlich gleichbehandelt, als sie beide dem insolvenzrechtlichen Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unterworfen sind. Dies entspricht insoweit dem früheren Eigenkapitalersatzrecht.154) Bei der Anfechtbarkeit unterscheidet der BGH zwischen Kreditrückzahlungen (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO) und der Entrichtung von Nutzungsentgelten, für die § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO wegen der abweichenden Forderungsart nicht durchgreift. Insbesondere verwirft der BGH die Ansicht, schon die Nutzungsüberlassung entspreche einer Darlehensgewährung, und dieses Darlehen werde mit der Entrichtung der Nutzungsentgelte zurückgeführt.155) Vielmehr führt der BGH aus, dass nach dem gesetzgeberischen Konzept des MoMiG bei einer Nutzungsüberlassung die Kreditgewährung nur das Entgelt betreffen kann und sich nicht schon in der vorausgehenden Nutzungsüberlassung als solche äußert. Damit kann die Tilgung von Nutzungsentgelten nicht als Darlehensrückzahlung, sondern nur im Falle einer vorherigen Stundung oder eines Stehenlassens als Befriedigung einer darlehensgleichen Forderung der Anfechtung unterworfen werden.156) Einem Darlehen entsprechen alle aus Austauschgeschäften herrührenden Forderungen, 174 die der Gesellschaft rechtlich oder rein faktisch gestundet werden, weil jede Stundung bei wirtschaftlicher Betrachtung eine Darlehensgewährung bewirkt. Wird eine Leistung jedoch nach den Grundsätzen des Bargeschäfts abgewickelt, scheidet 175 eine rechtliche oder rein faktische Stundung, die allein zu einer Umqualifizierung als Dar___________ 150) 151) 152) 153) 154) 155) 156)
BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 60, ZIP 2015, 589. BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 55, ZIP 2015, 589. BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 55, ZIP 2015, 589. BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 65, ZIP 2015, 589. BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 66, ZIP 2015, 589. So aber: Hölzle, ZIP 2009, 1939, 1947. So bereits OLG Schleswig, Urt. v. 13.1.2012 – 4 U 57/11, ZIP 2012, 885; nunmehr auch BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 69, ZIP 2015, 589.
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lehen führt, aus.157) Dies bedeutet, dass Nutzungsentgelte, die innerhalb von 30 Tagen nach dem vertraglich vereinbarten Fälligkeitstermin gezahlt worden sind, nicht anfechtbar sind. 176 Im entschiedenen Fall hat sich der BGH nicht mit möglichen weiteren Anfechtungstatbeständen auseinandergesetzt. Beispielsweise kann bei einem deutlich überhöhten Nutzungsentgelt eine Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO in Betracht kommen.158) Zu Recht weist Bormann159) darauf hin, dass der Insolvenzverwalter auch in dieser Konstellation hilfsweise immer weitere Anfechtungstatbestände zu prüfen hat. 177 Weiterhin wird von Spliedt kritisch angemerkt, dass gerade im Falle der Betriebsfortführung der Insolvenzverwalter in eine Zwickmühle gebracht wird, weil die Masse das vorinsolvenzlich vereinbarte Nutzungsentgelt und nicht lediglich die möglicherweise aufgrund der Durchschnittsberechnung niedrigere Entschädigung zahlen muss, solange das Nutzungsverhältnis fortbesteht. Kündigt der Insolvenzverwalter nicht, weil er das Grundstück für die Betriebsfortführung braucht, zahlt er zu viel, kündigt er, gefährdet er die langfristige Unternehmenserhaltung.160) IV.
Exit-Strategien des Insolvenzverwalters
178 Die Sicherung und Erhaltung des Grundstücks ist kein Selbstzweck. Der Insolvenzverwalter hat gemäß § 159 InsO eine Verwertungspflicht im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger. Dabei hat er neben der Verwertungsmöglichkeit durch Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung, die in § 165 InsO vorgesehen sind, das sich aus §§ 159, 160 Abs. 2 Nr. 1, 164 InsO ergebende161) Recht, Grundvermögen zu veräußern, auch wenn es mit Absonderungsrechten belastet ist.162) 179 Im Falle der Zwangsversteigerung ermittelt das Vollstreckungsgericht die für das geringste Gebot maßgeblichen Ansprüche der absonderungsberechtigten Gläubiger und führt anschließend die Erlösverteilung durch. Da hingegen bei der freihändigen Veräußerung alle eingetragenen dinglichen Rechte am Grundstück bestehen bleiben und hinsichtlich der nicht eingetragenen dinglichen Verbindlichkeiten des Grundstücks kein gutgläubig lastenfreier Erwerb möglich ist, muss der Insolvenzverwalter selbst die dinglich berechtigten Anspruchsinhaber ermitteln und dafür sorgen, dass sie auf ihre Rechte am Grundstück verzichten.163) 1.
Grundstück als Teil eines Asset Deals – Verwertung des (grundpfandrechtlich belasteten) Grundstücks durch den Insolvenzverwalter
1.1
Verhandlungen mit Interessenten für den Geschäftsbetrieb
180 Im Falle der erfolgreichen Betriebsfortführung steht die Planbestätigung oder Verwertung des Geschäftsbetriebs als Ganzes im Vordergrund, für dessen Aufrechterhaltung der Schuldner oder der Erwerber in aller Regel das Grundstück ebenfalls benötigen wird. 1.2
Ermittlung des Kaufpreisanteils auf Grundlage des Verkehrswertes
181 Unterschiedliche Interessen ergeben sich vor allem, wenn das isoliert bewertete Grundstück einen höheren Verkehrswert hat als es seinem Anteil i. R. des Geschäftsbetriebsverkaufs ___________ 157) BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, Rz. 70, ZIP 2015, 589 mit Verweis auf BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491, dazu EWiR 2014, 561 (Ries). 158) Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Gehrlein, InsR, § 135 InsO Rz. 23. 159) Bormann, GmbHR 2015, 420, 430 (Urteilsanm.). 160) Spliedt, EWiR 2015, 453, 454 (Urteilsanm.). 161) Wienberg in: Reul/Heckschen/Wienberg, Kap. M. Rz. 9. 162) Büchler, ZInsO 2011, 718, 719. 163) Büchler, ZInsO 2011, 718, 720.
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entspricht, weil dieser vornehmlich nach dem Ertragswert des Gesamtunternehmens berechnet wird, während sich der Verkehrswert des Grundstücks aus dessen Ertragsmöglichkeiten ergibt. Beispiel: Die gute Verkäuflichkeit des Geschäftsbetriebs als Ganzes kann sich daraus ergeben, dass das Unternehmen sein eigenes Grundstück nutzen kann: Da das Grundstück nicht abgeschrieben wird, fallen ergebniswirksame Abschreibungen nur hinsichtlich der aufstehenden Gebäude an. Je geringer Grundstück und Gebäude bewertet werden, desto geringer ist der Aufwand, was die Ertragsaussichten des Unternehmens verbessert und damit den Kaufpreis für die zu verkaufende Gesamtheit der Vermögensgegenstände erhöht. Ist dagegen bei Vermietung an ein anderes, solventeres Unternehmen eine höhere als die fiktive Miete zu erzielen, erhöht dies den Verkehrswert des Grundstücks. Der Grundpfandrechtsgläubiger kann dann versucht sein, seine Zustimmung zum Verkauf i. R. des Asset Deals zu verweigern und eine isolierte Verwertung des Grundstücks zu betreiben. Gegen einen etwaigen Zwangsversteigerungsantrag des Grundpfandrechtsgläubigers kann 182 der Insolvenzverwalter jedoch einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 30d Abs. 1 Nr. 2 ZVG stellen, wenn das Grundstück für die Fortführung des schuldnerischen Betriebs benötigt wird (siehe oben Rz. 150 ff.). 1.3
Abschluss einer Verwertungsvereinbarung mit dem/den Absonderungsberechtigten
Sind sich Insolvenzverwalter und Grundpfandrechtsgläubiger grundsätzlich darüber einig, 183 dass der Insolvenzverwalter das belastete Grundstück freihändig (mit-)veräußern soll, muss darüber eine Vereinbarung geschlossen werden, die im Wesentlichen folgende Punkte enthalten sollte:164) x
Angabe der Grundpfandrechte des gesicherten Gläubigers sowie der Höhe der gesicherten Forderungen zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens;
x
Vereinbarung von Mindesterlösen und ggf. Regelung eines Zustimmungsvorbehalts zugunsten des Grundpfandrechtsgläubigers;
x
Regelung der Höhe der Beiträge zugunsten der Insolvenzmasse;
x
Regelungen bezüglich der Ablösung dritter (nachrangiger) Grundpfandrechtsgläubiger und etwaiger weiterer Absonderungsberechtigter, deren Rechte nicht im Grundbuch eingetragen sind (Höhe der „Lästigkeitsprämie“);
x
Regelung für den Fall einer Rückabwicklung des Kaufvertrages (Herausgabe des Geldes, Wiederbestellung des Grundpfandrechts) und für den Fall der Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen;
x
Vereinbarung über die Kostentragung für zwischenzeitliche Unterhaltung der Immobilie (Grundsteuern, Bewachungskosten, für die Beseitigung von Umweltaltlasten entstehende Kosten u. a.);
x
Vereinbarung über die Tragung der bei der Veräußerung bzw. Lastenfreistellung anfallenden Kosten (Notar, Makler);
___________ 164) Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 203 ff., insbes. 205.
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x Regelung der Zahlung von Umsatzsteuer;165) x Regelung zur Tragung der bei Aufdeckung stiller Reserven anfallenden Ertragsteuern;166) x Abwicklung der Pfandfreigabe und der Verrechnung des Verwertungserlöses. 184 Büchler167) weist auf das Bedürfnis eines Vorbehalts zur Regulierung etwaig nicht berücksichtigter Absonderungsberechtigter in der Verwertungsvereinbarung hin. In einem der vom BGH entschiedenen Fälle hatte der Insolvenzverwalter bei der Veräußerung eines Grundstücks rückständige Grundsteuerforderungen der Gemeinde nicht berücksichtigt,168) in einem anderen Falle hatte er ein Erbbaurecht veräußert, für das noch offene Erbbauzinsen bestanden.169) 185 Beiden Belastungen ist gemeinsam, dass sie aus dem Grundbuch nicht ersichtlich sind, das Grundstück aber gleichwohl für sie haftet. Der BGH170) hat entschieden, dass der Befriedigungsfehler nicht durch eine dingliche Surrogation (Ersatzaussonderungsrecht) am Veräußerungserlös berichtigt wird, wie es die Kläger geltend gemacht hatten, da dies einen Rechtsverlust voraussetzt. Dieser ist aber nicht eingetreten, da die Grundstücke mit den Rechten der Gläubiger belastet bleiben. Die Absonderungsberechtigten können mithin weiterhin Befriedigung aus dem Grundstück suchen, weshalb in aller Regel der Grundstückserwerber zur Abwendung der Zwangsvollstreckung Zahlung auf die Rechte leisten wird. 186 Hat der Insolvenzverwalter – wie üblich – mit dem Versprechen der Lastenfreiheit verkauft, kann der Erwerber seine Regressforderung im Insolvenzverfahren als Masseverbindlichkeit geltend machen. Führt dies zwar nicht zu einer Schlechterstellung des Käufers, steht gleichwohl die Masse schlechter, da der Insolvenzverwalter die Zahlungen an den Erwerber nicht ohne weiteres als Verminderung des vereinnahmten Erlöses an die absonderungsberechtigten Gläubiger weiterbelasten kann. Hier ist die Aufnahme eines Vorbehalts in die Verwertungsvereinbarung angezeigt, was aber dem abschließenden Regelungsakt der Vereinbarung entgegensteht. 1.3.1 Einigung über Erlösanteil 187 Bei wertausschöpfender oder den Kaufpreisanteil übersteigender Belastung des Grundstücks muss der Insolvenzverwalter eine Einigung der absonderungsberechtigten Gläubiger untereinander herbeiführen, da er andernfalls nicht lastenfrei verkaufen kann. 1.3.2 Einigung über Massebeitrag (Vereinbarung erforderlich, da gesetzliche Regelung fehlt) 188 Daneben ist es erforderlich, dass sich der Insolvenzverwalter mit den Absonderungsberechtigten über den Erlösanteil zugunsten der Masse einigt. § 10 ZVG sieht – anders als § 171 InsO für die Verwertung beweglicher Gegenstände durch den Insolvenzverwalter – keinen gesetzlichen Anspruch der Masse auf einen Erlösanteil durch pauschalierte Feststellungs- und Verwertungskosten vor. Ist das Grundstück wertausschöpfend belastet, ___________ 165) Klenk/Kronthaler: NZI 2006, 369. Zur grundsätzlichen Problematik der Besteuerung des Massebeitrages mit Umsatzsteuer durch den BFH s. u. Rz. 190. Diese Rspr. hat das FG Düsseldorf, Urt. v. 10.6.2009 – 5 K 3940/07, EFG 2009, 1882, auf die Anteile der Insolvenzmasse an den Erlösen aus der kalten Zwangsverwaltung ausgedehnt. Der BFH hat das FG Düsseldorf bestätigt durch BFH, Urt. v. 28.7.2011 – V R 28/09, Rz. 36 f., BStBl. II 2014, 406 = ZIP 2011, 1923, dazu EWiR 2014, 673 (Mitlehner). Kritisch hierzu bereits Tetzlaff in: jurisPR-InsR 10/2010 Anm. 6. 166) Zur Entscheidung des BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, ZIP 2013, 1481; s. u. Rz. 193. 167) Büchler, ZInsO 2011, 718, 720. 168) BGH, Urt. v. 18.2.2010 – IX ZR 101/09, ZIP 2010, 994. 169) BGH, Urt. v. 11.3.2010 – IX ZR 34/09, ZIP 2010, 791. 170) BGH, Urt. v. 11.3.2010 – IX ZR 34/09, ZIP 2010, 791.
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würde allein nach der gesetzlichen Regelung in § 49 InsO der gesamte Erlös an den bzw. die zur abgesonderten Befriedigung hieraus Berechtigten fließen; die Gesamtheit der Insolvenzgläubiger hätte hiervon keinen Vorteil. Der Insolvenzverwalter muss deshalb bei der freihändigen Verwertung des Grundstücks dafür Sorge tragen, dass der absonderungsberechtigte Gläubiger der Insolvenzmasse einen Anteil am Erlös zugesteht. Die Höhe des Erlösanteils der Masse ist reine Verhandlungssache. Weder ist der Gläubiger 189 verpflichtet, der Masse einen Beitrag zu versprechen, noch ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, an einer freihändigen Verwertung mitzuwirken, die die Masse nicht erhöht.171) 1.3.3 Berücksichtigung von Umsatzsteuer und Ertragssteuern als potentielle Masseverbindlichkeiten172) 1.3.3.1
Umsatzsteuer
Der BFH173) ist der Ansicht, bei einer freihändigen Veräußerung eines mit einem Absonde- 190 rungsrecht belasteten Grundstücks führe der Insolvenzverwalter neben der Grundstückslieferung an den Erwerber eine sonstige entgeltliche Leistung an den Grundpfandrechtsgläubiger auf Grundlage eines entgeltlichen Geschäftsbesorgungsvertrages aus, weshalb der für die Masse einbehaltene Betrag als Entgelt für eine Leistung anzusehen sei. Er hat nunmehr in seinem Urteil vom 28.7.2011174) trotz der überzeugenden systematischen Gegenauffassung in der Literatur, wonach die Verwertungsleistung des Insolvenzverwalters nicht zugunsten des gesicherten Gläubigers, sondern zugunsten der Masse und damit der Gläubigergesamtheit erbracht wird,175) seine Auffassung auf die gesetzlich geregelte Verwertungskostenpauschale bei der Veräußerung beweglicher Gegenstände mit Absonderungsrechten auf den Masseanteil ausgedehnt und auch diesen der Umsatzsteuerpflicht unterworfen.176) Hatte das schuldnerische Unternehmen seinerzeit beim Erwerb des Grundstücks zur Um- 191 satzsteuer optiert, besteht für den Insolvenzverwalter außerdem das bereits oben (siehe unter Rz. 121) angesprochene Haftungsrisiko, durch die freihändige Veräußerung einen Vorsteuerberichtigungstatbestand gemäß § 15a UStG auszulösen, wenn er beim Verkauf eines solchen Grundstücks innerhalb des zehnjährigen Berichtigungszeitraums selbst nicht zur Umsatzsteuer optiert. Der daraus resultierende Berichtigungsanspruch ist Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. 1.3.3.2
Ertragsteuern
Es entsprach der ständigen Rechtsprechung des BFH177), die Einkommen- bzw. Körper- 192 schaftsteuerschuld, die aus der Verwertung der zur Insolvenzmasse (und zum Betriebsvermögen) gehörenden Wirtschaftsgüter resultiert, als sonstige Masseverbindlichkeit i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu qualifizieren. Dabei war die Masseverbindlichkeit der Höhe nach auf den Betrag begrenzt, der tatsächlich zur Masse gelangte. ___________ 171) Wienberg in: Reul/Heckschen/Wienberg, Kap. M. Rz. 9; a. A. Knees, ZIP 2001, 1568, 1570, der sogar den vorläufigen Verwalter für verpflichtet hält, an einer vom Grundpfandrechtsgläubiger initiierten freihändigen Verwertung mitzuwirken, und in der Differenz zu einem etwaigen geringeren Erlös in der Zwangsversteigerung einen ersatzfähigen Schaden sieht, für den der (vorläufige) Insolvenzverwalter einzustehen habe. 172) Einzelheiten zu Steuern in der Insolvenz s. u. Schmittmann, § 42. 173) BFH, Urt. v. 18.8.2005 – V R 31/04, ZIP 2005, 2119. 174) BFH, Urt. v. 28.7.2011 – V R 28/09, DStRE 2011, 1853 = ZIP 2011, 1923. 175) Vgl. Ganter/Brünink, NZI 2006, 257 m. umfangr. Nachw. in Fn. 21 ff. 176) Zu den sanierungsfeindlichen Auswirkungen dieser Rspr. vgl. Berliner Erklärung zu Sanierung und Insolvenz v. 5.10.2011, ZInsO 2011, 2077. Kritisch auch d’Avoine, ZIP 2012, 58; Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 213 Fn. 287. 177) BFH, Urt. v. 29.3.1984 – IV R 271/83, BFHE 141, 2 = ZIP 1984, 853.
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193 Unter Aufgabe dieser Rechtsprechung hat der BFH178) entschieden, dass die Einkommenbzw. Körperschaftsteuerschuld in voller Höhe Masseverbindlichkeit sein soll, selbst wenn das verwertete Wirtschaftsgut mit Absonderungsrechten belastet war und – nach Vorwegbefriedigung der absonderungsberechtigten Gläubiger aus dem Verwertungserlös – der (tatsächlich) zur Masse gelangte Erlös nicht ausreicht, um die aus der Verwertungshandlung resultierende Ertragsteuerforderung zu befriedigen. 194 Die Bewertung dieser Entscheidung ist unterschiedlich. Sie reicht von der Feststellung, dies sei „ein weiterer Baustein in der ausufernden profiskalischen Rechtsprechung“179) des BFH, über dogmatisch begründete Ablehnung180) und eine differenzierende Betrachtung181) bis zur Bejahung von Ergebnis und Begründung.182) Einigkeit herrscht darüber, dass die Praxis die Entscheidung zu berücksichtigen hat, bis ggf. die Streitfragen über eine gesetzliche Normierung geklärt werden183), und damit hoffentlich auch das Insolvenzsteuerrecht wieder in das tragende Prinzip der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger eingeordnet wird. 1.3.4 Beteiligung etwaiger Nachranggläubiger nur aus dem Erlösanteil der vorrangigen Gläubiger; nicht(!) aus dem der Masse, sog. Schornsteinhypothek 195 Die, auf den Insolvenzverwalter gemäß § 80 InsO übergegangene Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis in Bezug auf das zur Insolvenzmasse gehörende Schuldnervermögen wird bestimmt und ist begrenzt durch den Insolvenzzweck.184) Dies ist der tragende Grund für die Entscheidung des BGH185), in der dieser die Zahlung von Lästigkeitsprämien an nachrangige Grundpfandrechtsgläubiger zwar nicht schlechthin als insolvenzzweckwidrig angesehen hat, dies jedoch für die Fälle bejaht, in denen das nachrangige Recht tatsächlich wertlos ist.186) 196 Zulässig ist es hingegen, wenn i. R. der Verwertungsvereinbarung der vorrangige Grundpfandrechtsgläubiger es übernimmt, dem Nachrangigen eine Lästigkeitsprämie aus dem auf ihn entfallenden Erlösanteil zu bezahlen, da hierdurch nichts aus der Masse weggegeben wird. 197 Allerdings sieht der BGH den durch eine Zwangssicherungshypothek nachrangig gesicherten Gläubiger nicht als verpflichtet an, im Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Grundstückseigentümers zugunsten der vom Insolvenzverwalter beabsichtigten freihändigen lastenfreien Veräußerung des Grundstücks die Löschung seines Sicherungsrechts zu bewilligen, selbst wenn ihm wegen der wertausschöpfenden Belastung des Grundstücks erwartbar kein Erlös zufließen wird.187) ___________ 178) BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, ZIP 2013, 1481. 179) So wörtlich Schmittmann, EWiR 2013, 621, dort Nr. 3 (Urteilsanm.). 180) Kahlert, DStR 2013, 1587 (Urteilsanm.) – die stillen Reserven seien bereits vor Insolvenzeröffnung steuerverstrickt. 181) Onusseit, ZInsO 2014, 59, 65 – das Urteil sei im Ergebnis, aber nicht in der Begründung zutreffend, und auch nur, wenn man die Maßgeblichkeit der Realisierung des Veräußerungsgewinns für die zeitliche Abgrenzung zwischen Insolvenzforderung und Masseverbindlichkeit akzeptiere. 182) Schumm, StuB 2013, 842. 183) Krüger, ZInsO 2014, 578, der ausdrücklich die fehlende gesetzgeberische Initiative rügt, die erforderlich sei, um Rechtssicherheit zu begründen. 184) Wienberg in: Reul/Heckschen/Wienberg, Kap. M. Rz. 2. 185) BGH, Beschl. v. 20.3.2008 – IX ZR 68/06, ZIP 2008, 884. 186) Kritisch zu den praktischen Auswirkungen Frege/Keller, NZI 2009, 11, die die Zahlung einer Lästigkeitsprämie aus der Insolvenzmasse als oftmals einzige Möglichkeit ansehen, überhaupt einen freihändigen Verkauf zeitnah zu bewerkstelligen, was unter dem Strich immer noch ein besseres Ergebnis für die Masse erbringe als die Durchführung der Zwangsversteigerung. 187) BGH, Urt. v. 20.4.2015 – IX ZR 301/13, ZIP 2015, 1131, dazu EWiR 2015, 383 (Eckardt).
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
§ 32
Der BGH begründet dies zum einen damit, dass das in § 803 Abs. 2 ZPO für die Mobiliar- 198 zwangsvollstreckung statuierte Verbot einer zwecklosen Pfändung bei der Zwangsvollstreckung in Grundstücke in dieser Allgemeinheit nicht gelte. Während der BGH in anderem Zusammenhang (siehe oben die Entscheidung zu § 135 Abs. 3 InsO, Rz. 155) durchaus die Gemeinsamkeiten der Einzelzwangsvollstreckung und der Gesamtvollstreckung argumentativ heranzieht, gibt er im vorliegenden Fall keine weitere Begründung. Zu Recht werden von Raab188) die nicht genügend durchdachten praktischen Folgen bemän- 199 gelt. Denn wird es dem nachrangigen Gläubiger erlaubt, auf seinem im Wege der Zwangsvollstreckung erworbenen Sicherungsrecht zu bestehen, auch wenn ein Vollstreckungserfolg völlig aussichtslos ist, kann dies dazu führen, dass ein Kaufinteressent abspringt und letztendlich doch nur noch eine Verwertung im Wege der Zwangsversteigerung übrig bleibt. Der Erlös ist hierbei in der Regel niedriger, sodass der nachrangige Grundpfandrechtsgläubiger dadurch nichts gewönne, die Insolvenzmasse jedoch verlieren würde. In dem vom BGH entschiedenen Fall handelte es sich jedoch um eine Zwangssicherungs- 200 hypothek, die sich die Gemeinde zur Sicherung ihrer Steuerforderungen hatte bestellen lassen. Damit fehlt es an der Möglichkeit, eine auf Treu und Glauben bestehende vertragliche Nebenpflicht zu begründen. Insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt von den Fällen der Instanzrechtsprechung zu nachrangig bestellten Grundpfandrechten.189) 2.
Grundstück als Teil eines Share Deals (bei Insolvenzplan-Regelung im gestaltenden Teil)
Durch einen Insolvenzplan soll der Rechtsträger des schuldnerischen Unternehmens selbst 201 durch finanzielle und leistungswirtschaftliche Anpassungsmaßnahmen saniert werden. Zwar steht als gleichrangige Verwertungsart neben Liquidation oder Sanierung (durch Insol- 202 venzplan) auch die übertragende Sanierung auf Grundlage eines Insolvenzplanes.190) Allerdings wird diese meist i. R. eines Regelinsolvenzverfahrens durchgeführt, wie bereits dargestellt. Im gestaltenden Teil gemäß § 221 InsO wird festgelegt, wie in die Rechte der Beteiligten 203 gemäß § 222 Abs. 1 InsO (absonderungsberechtigte Gläubiger, Insolvenzgläubiger und Anteilsinhaber sowie der Schuldner) eingegriffen wird, um den Rechtsträger zu sanieren.191) Soweit der Plan keine anderweitige Regelung trifft, wird gemäß § 223 Abs. 1 Satz 1 InsO das Recht der absonderungsberechtigten Gläubiger zur Befriedigung aus den absonderungsverhafteten Gegenständen nicht berührt. In diesen Fällen sind die absonderungsberechtigten Gläubiger befugt, nach den gesetzlichen Regelungen Befriedigung aus den (absonderungsbehafteten) Gegenständen zu suchen.192) Der Immobiliarsicherungsgläubiger bleibt damit befugt, das Zwangsversteigerungs- und/oder Zwangsverwaltungsverfahren zu betreiben. Ist eine Immobilie betriebsnotwendig, kann das Fehlen einer abweichenden Regelung den Insolvenzplan insgesamt gefährden. Eingriffe in das Recht der Immobiliarsicherungsgläubiger können etwa sein: x
der Verzicht (Kürzung),
x
das Hinausschieben der Verwertung einer Sicherheit,
x
der Austausch von Sicherheiten,
x der Zinsverzicht, ___________ 188) 189) 190) 191) 192)
Raab in: jurisRR-InsR 11/2015 Anm. 2. Knees, ZInsO 2015, 2010, 2017 m. w. N. zur Rspr. Nerlich in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 24 Kap. 2 Rz. 93. Nerlich in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 24 Kap. 2 Rz. 104. Breuer in: MünchKomm-InsO, § 223 Rz. 8.
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§ 32 x x
Teil V Einzelfragen
der Verzicht auf Wertverlust oder aber die sogleich vollständige (siehe nachfolgend Rz. 204) oder sukzessive (siehe nachfolgend Rz. 206) Ablösung der Absonderungsrechte sowie eine Umwandlung der Sicherheiten in Eigenkapital gegen Gewährung von Anteilen am Schuldner (siehe nachfolgend Rz. 207 ff.).
2.1
Ablösung des Verkehrswertes durch einen Teil der Einlage des Investors
204 Wird in die Rechte der Absonderungsgläubiger eingegriffen, ist für diese (mindestens) eine eigene Gruppe zu bilden, § 223 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Diese Gruppe muss dem Insolvenzplan als Voraussetzung für dessen Annahme gemäß § 244 Abs. 1 InsO zustimmen, es sei denn, die Zustimmung gilt unter den Voraussetzungen des § 245 InsO als erteilt. Wesentlich für die Zustimmung des Absonderungsgläubigers zum Insolvenzplan ist die Bewertung seiner Sicherheit und damit auch der Immobilie. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Grundpfandrechte abgelöst werden sollen. 205 Eine Höchstgrenze des fiktiven Wertes für die Sicherheit dürfte im Fortführungswert des Grundstücks liegen. Sieht der Plan gleichwohl einen höheren Wert vor, um die Zustimmung des solchermaßen begünstigten Absonderungsberechtigten zu erlangen, stellt dies eine Zusage dar, die nicht in der Person oder der Rechtsposition des Gläubigers liegt.193) 2.2
Alternativ: Ablösung der Grundpfandrechte aus künftigen Erträgen
206 Alternativ zur sofortigen Einmalzahlung kann der Insolvenzplan auch die Ablösung der Grundpfandrechte aus künftigen Erträgen regeln. Dies setzt voraus, dass der Grundpfandrechtsgläubiger hinreichendes Vertrauen in das Fortführungskonzept des Unternehmens hat. Vorteilhaft ist für ihn, dass seine Sicherheit mit dem Fortführungswert bemessen wird und sich hieran die weitere Kreditierung orientiert.194) Bei übertragender Sanierung, Einzelverwertung oder Zwangsversteigerung wird dieser Wert regelmäßig nicht erreicht. Zins und Tilgung müssen sich allerdings, um den Schuldner nicht zu überfordern, an der zukünftigen Leistungsfähigkeit des Schuldners des insolventen Unternehmens nach erfolgter Sanierung orientieren. 2.3
Debt-to-Equity-Swap nach § 225a InsO: Sacheinlage der Forderung gegen Anteile am Schuldner (ESUG)
207 Für Absonderungsrechtsgläubiger ist nunmehr das durch das ESUG in § 225a Abs. 2 InsO ausdrücklich geregelte Debt-to-Equity-Swap-Verfahren – auch gegen den Willen der Gesellschafter – denkbar, also die Umwandlung einer einzulegenden Gläubigerforderung in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Insolvenzschuldner.195) 208 Der Gläubiger legt bei diesem Verfahren eine Forderung ein und überträgt das zu deren Sicherung bestellte Grundpfandrecht auf den Schuldner, an dem er im Gegenzug gesellschaftsrechtlich beteiligt wird. Die Fremdgrundschuld wird damit zur Eigentümergrundschuld, §§ 1192, 1196 BGB. Etwaige Grundbucherklärungen können im gestaltenden Teil des Insolvenzplans abgegeben werden, erlangen Wirksamkeit mit gerichtlicher Bestätigung des Plans und können nach dessen Rechtskraft zum Vollzug beim Grundbuchamt eingereicht werden, wobei die Rechtsänderung erst mit Eintragung im Grundbuch eintritt.196) ___________ 193) Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Silcher, InsR, § 223 InsO Rz. 4 a. E. Ein Verstoß gegen § 226 Abs. 3 InsO, der als Verbotsgesetz i. S. von § 134 BGB ausgestaltet ist und damit zur Nichtigkeit führt, ist hingegen zweifelhaft, da § 226 Abs. 3 InsO eine im Insolvenzplan nicht offengelegte Abrede voraussetzt, vgl. Breuer in: MünchKomm-InsO, § 226 Rz. 20. 194) Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Silcher, InsR, § 223 InsO Rz. 3. 195) Nerlich/Römermann-Braun, InsO, § 223 Rz. 21 f. 196) Nerlich in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 24 Kap. IV. Rz. 108.
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
§ 32
Unter der Voraussetzung, dass der dem Absonderungsrecht unterliegende Vermögensgegen- 209 stand sacheinlagefähig ist, besteht damit jedenfalls grundsätzlich die Möglichkeit, den Absonderungsberechtigten im Umfang des Werts des Absonderungsrechts am Kapital der Gesellschaft zu beteiligen. 3.
Die Freigabe des Grundstücks
3.1
Zweck und Wirkung der Freigabe
Schließlich ist in der Betriebsfortführung die Konstellation denkbar, dass ein einzelnes 210 Grundstück für die Fortführung nicht allein entbehrlich ist, sondern zudem das Risiko in sich trägt, die Masse mit zusätzlichen vermeidbaren Kosten zu belasten, etwa weil sich nachträglich ergibt, dass Altlasten vorliegen. Hier ist der Insolvenzverwalter zur Masseschonung verpflichtet,197) das Grundstück freizugeben: x
Erklärt der Insolvenzverwalter die Freigabe eines zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögenswertes, scheidet dieser aus dem Insolvenzbeschlag aus.198)
x
Die Freigabe hat konstitutive Wirkung, weil sie den unter Beschlag stehenden Vermögensgegenstand verfahrensrechtlich aus dem zugunsten der Gläubiger bestehenden Haftungsverband entlässt.199)
x
Zur Freigabe befugt ist nur der Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren.200)
Zwar hat ein vorläufiger Insolvenzverwalter, auf den die Verwaltungs- und Verfügungs- 211 befugnis übergegangen ist, nach §§ 22 Abs. 1, 24 InsO im Außenverhältnis grundsätzlich dieselben Rechte wie ein endgültiger Insolvenzverwalter gemäß §§ 80 ff. InsO, dessen Rechtshandlungen im Außenverhältnis voll wirksam sind, weshalb eine Freigabe durch den starken vorläufigen Insolvenzverwalter gleichermaßen möglich erscheint. Allerdings gibt es im Insolvenzantragsverfahren noch keine Insolvenzmasse, so dass einer Überführung des Vermögensgegenstandes in das „insolvenzfreie Vermögen“ des Schuldners zum einen rechtsdogmatische Erwägungen entgegenstehen, zum anderen der verfahrensrechtliche Aspekt, dass im Falle der späteren Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Vermögensgegenstand ohnehin vom Insolvenzverwalter wieder nach § 148 Abs. 1 InsO in Besitz zu nehmen wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH201), des BVerwG202) und der h. M. in der Litera- 212 tur203) ist die Freigabe auch gegenüber juristischen Person oder einer anderen insolvenzfähigen Personenvereinigung i. S. von § 11 InsO möglich.204) ___________ Wienberg in: Reul/Heckschen/Wienberg, Kap. D. IV. Rz. 4. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 30; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 82. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 24. Wienberg in: Reul/Heckschen/Wienberg, Kap. D. IV. Rz. 18 m. w. N. BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, ZIP 2005, 1034; BGH, Urt. v. 2.2.2006 – IX ZR 46/05, ZIP 2006, 583. 202) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.3, ZIP 2004, 2145. 203) A. A. jedoch Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 21. 204) Obwohl die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft nach der Regel zu deren Vollabwicklung führt, kann sie trotzdem insolvenzfreies Vermögen haben. Diese Gesellschaften werden mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens zwar aufgelöst. Daran schließt sich jedoch die Liquidation an. Erst nach Verteilung des gesamten Vermögens tritt die Vollbeendigung ein. Von daher kann Vermögen, das für das Insolvenzverfahren ohne Bedeutung ist, auch hier freigegeben werden (Wienberg in: Reul/ Heckschen/Wienberg, Kap. D. III. Rz. 16). Es ist zudem mit dem Zweck der Gläubigerbefriedigung nicht zu vereinbaren, wenn der Insolvenzverwalter gezwungen wäre, Gegenstände, die nur noch geeignet sind, die verteilungsfähige Masse zu schmälern, allein deshalb in der Masse zu behalten, um eine Vollbeendigung der Gesellschaft zu bewirken, (Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 305; Peters in: MünchKommInsO, § 35 Rz. 104, 113 f.). Gegen die Möglichkeit insolvenzfreien Vermögens: Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, Rz. 158 – 161; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 21. 197) 198) 199) 200) 201)
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§ 32 3.2
Teil V Einzelfragen Einkommen- bzw. Körperschaftssteuer sowie Umsatzsteuer als potentielle Masseverbindlichkeit
213 Durch die bereits erörterten Entscheidung des BFH205), nach der die Steuerschuld, die durch Aufdeckung stiller Reserven bei der Verwertung durch Veräußerung entsteht, in vollem Umfang als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren ist, hält es auch der BFH für möglich, dass es künftig vermehrt zu Freigaben durch den Insolvenzverwalter kommen wird, der dadurch den Anfall von Masseverbindlichkeiten zu verhindern sucht. Ob dieser Weg zielführend ist, hat der erkennende IV. Senat des BFH ausdrücklich offengelassen.206) Allerdings steht der beabsichtigten Entlastung durch eine Freigabe die Rechtsprechung des V. Senats des BFH207) zur Umsatzsteuer entgegen. Eine Möglichkeit zur Vermeidung von Masseverbindlichkeiten nach Freigabe bejahend, hat das Sächsische FG in ausdrücklicher Abgrenzung zum BFH-Fall aus 2013 entschieden.208) Insgesamt bleibt damit zum gegenwärtigen Zeitpunkt bezüglich der zutreffenden ertragsteuerlichen Behandlung eine erhebliche Rechtsunsicherheit für den Insolvenzverwalter, ob er das Grundstück bei der Masse behalten oder freigeben soll.209) ___________ 205) BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, ZIP 2013, 1481, s. o. Rz. 193 Fn. 184. 206) BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, Rz. 36, 37, ZIP 2013, 1481. 207) BFH, Urt. v. 16.8.2001 – V R 59/99, ZIP 2002, 230 = ZfIR 2002, 156. Hierzu ablehnend mit ebenso einfachen wie klaren Darlegungen zum Insolvenzrecht sowie zu dessen Verhältnis zum Steuerrecht bspw. Büterowe, EWiR 2002, 301, 302 (Urteilsanm.): „Der Entscheidung kann nicht zugestimmt werden. Sie […] behandelt Entscheidungen des Gemeinschuldners als solche des Verwalters. […] Durch die Freigabe erhält der Gemeinschuldner die Möglichkeit zurück, über den freigegebenen Gegenstand zu verfügen, erlangt jedoch nicht die Befugnis, […] die Masse zu verpflichten. Die Entscheidung führt dazu, dass das Finanzamt gegebenenfalls in voller Höhe die Umsatzsteuer erhält, während die übrigen Gläubiger nur quotal durch eine Reduzierung der angemeldeten Forderung zur Tabelle profitieren. Auch der Hinweis auf die Freigabeproblematik bei sonstigen öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen (Stichwort: Altlasten) ist nicht überzeugend. Anknüpfungspunkt für eine Inanspruchnahme des Verwalters ist hier sein Verhalten nach Eröffnung des Verfahrens. Absonderungsrechte resultieren jedoch aus einem noch vom Gemeinschuldner vorgenommenen Rechtsgeschäft.“ Onusseit, ZIP 2002, 1344, 1347 f.: „Diese – wie schon die bisherige Rechtsprechung – nur mit dem Blick auf das gewünschte Ergebnis erklärbaren Ausführungen halten einer konkurs- und in gleicher Weise einer insolvenzrechtlichen Überprüfung nicht stand. Allein hierauf kommt es indessen an, denn die Frage, wie eine Steuerforderung in der Insolvenz geltend zu machen ist, richtet sich allein nach Insolvenzrecht. Das Steuerrecht regelt demgegenüber nur das Ob und den Zeitpunkt des Entstehens der Steuerforderung sowie deren Höhe. […], und deshalb kann es nur darum gehen, auf die durch das Konkurs-/Insolvenzrecht geschaffene Rechtslage die allgemeinen Normen des Umsatzsteuerrechts anzuwenden. Es verbleibt deshalb dabei, dass die Freigabe allein nach Konkurs-/Insolvenzrecht zu beurteilen ist. Das Umsatzsteuerrecht kann an das von ihm vorgefundene insolvenzrechtliche Ergebnis nur anknüpfen.“ Ebenso kritisch wegen der nicht praktikablen Ergebnisse der BFH-Rspr. Mohlitz in: Bork/Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, Kap. 23 Rz. 42. 208) Sächsisches FG, Urt. v. 18.10.2013 – 4 K 579/13, Rz. 17, juris (Rev. nicht zugelassen): „Anders als im Fall des BFH-Urteils vom 16.5.2013 IV R 23/11 (BFH/NV 2013, 1503) – dort fand eine freihändige Verwertung eines mit Grundpfandrechten belasteten Grundstücks durch den Insolvenzverwalter unter vorrangiger Befriedigung absonderungsberechtigter Grundpfandgläubiger statt – beruhte die Veräußerung der Grundstücke vorliegend gerade nicht auf einer freihändigen Verwertungshandlung des Insolvenzverwalters. Vielmehr hat im Streitfall der Insolvenzverwalter die streitbefangenen Grundstücke aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben mit der Folge, dass der steuerauslösende Besteuerungstatbestand – anders als in dem der BFH-Entscheidung vom 16.5.2013 zugrunde liegenden Sachverhalt, und entgegen der Auffassung der Klägerin – nicht durch den Insolvenzverwalter verwirklicht wurde. Die Veräußerung war vielmehr eine Folge der von den dinglichen Gläubigern betriebenen Zwangsversteigerung, die gemäß § 49 InsO zur abgesonderten Befriedigung nach Maßgabe des ZVG berechtigt waren. Als Konsequenz hieraus richtete sich die auf den Veräußerungsgewinn entfallende Einkommensteuer nicht gegen die Insolvenzmasse, sondern gegen das insolvenzfreie Vermögen der Klägerin und konnte gegen sie geltend gemacht werden. Nichts anderes würde im Übrigen gelten, wenn die absonderungsberechtigten Gläubiger die vor Eröffnung des Verfahrens eingeleitete Zwangsvollstreckung ohne eine Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters betrieben hätten (vgl. BFH-Urteil vom 14.2.1978 VIII R 28/73, BStBl II 1978, 356). Deshalb kommt es auch nicht entscheidend an auf die von der Klägerin vorgenommene Differenzierung danach, ob der Insolvenzverwalter in zulässiger Weise die Freigabe erklärt hat oder nicht.“ 209) Umfassend hierzu: Onusseit, ZInsO 2014, 59, 66.
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Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung
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Als weitere Konsequenz der vom BFH210) bejahten Steuerschuldnerschaft der Masse für 214 Umsatzsteuer, die bei der Veräußerung des Grundstücks durch den Schuldner nach Freigabe entsteht, ergibt sich auch das zuvor mehrfach beschriebene Risiko der Vorsteuerberichtigung, wenn der Schuldner beim Erwerb des Grundstücks zur Umsatzsteuer optiert hatte und er innerhalb des zehnjährigen Berichtigungszeitraums an einen Nichtunternehmer veräußert. Der Berichtigungsanspruch ist Masseverbindlichkeit. Dies Risiko müsste folgerichtig auch für die Zwangsversteigerung gelten, die nach Freigabe vom Grundpfandrechtsgläubiger betrieben wird. Während die Rechtslage in ertragsteuerlicher Sicht also zumindest unsicher ist, steht fest, 215 dass eine Freigabe in umsatzsteuerlicher Sicht die Entstehung von weiteren Masseverbindlichkeiten nicht vermeiden kann. 3.3
Freigabeerklärung
Die Freigabeerklärung ist auf Änderung der haftungsrechtlichen Zuordnung des freizu- 216 gebenden Gegenstandes gerichtet.211) Sie ist deshalb eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung ohne materiell-rechtlichen Gehalt.212) Als verfahrensrechtliche Erklärung ist die Freigabe aus Gründen der Rechtssicherheit unwiderruflich, wegen Irrtums nach § 119 BGB nicht anfechtbar und kann nicht unter einen Vorbehalt gestellt werden.213) Erklärungsempfänger ist der vormals Verfügungsbefugte.214) 3.3.1 Form der Freigabeerklärung Es gibt weiterhin divergierende instanzgerichtliche Entscheidungen215) zu der Frage, ob 217 und ggf. in welcher Form die Freigabe gegenüber dem Grundbuchamt zusätzlich zum Ersuchen auf Löschung des Insolvenzvermerks durch das Insolvenzgericht nachgewiesen werden muss. So hat das LG Köln216) impliziert, bei der Freigabe eines Vermögensgegenstandes aus der Insolvenzmasse sei es i. R. des § 727 ZPO notwendig, die Wirksamkeit der Freigabe durch den Insolvenzverwalter als „Rechtsnachfolger“ i. S. der Rückübertragung der Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzschuldner in der entsprechenden Form nachzuweisen. Der Nachweis der wirksamen Freigabe erfordere daher den Nachweis der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters sowie ihres Zugangs in öffentlich beglaubigter Form bzw. in öffentlicher Urkunde. Zu den Umständen, unter denen eine Titelumschreibung notwendig ist, wird hier zunächst 218 nach oben, siehe Rz. 126, verwiesen. Wird die Zwangsversteigerung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens angeordnet, ist die Beschlagnahme bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam geworden und wird deshalb gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 InsO von den Wirkungen der Insolvenz nicht mehr berührt. Deshalb muss eine auf den Schuldner lautende Vollstreckungsklausel nicht umgeschrieben werden.217) Ist hingegen das Insolvenzverfahren bereits eröffnet, wenn der Grundpfandrechtsgläubiger in ein zur Masse gehörendes grundpfandrechtlich belastetes Grundstück vollstrecken will, ist der Titel gegen den Insolvenz___________ 210) 211) 212) 213) 214) 215)
BFH, Urt. v. 16.8.2001 – V R 59/99, ZIP 2002, 230 = ZfIR 2002, 156. Eickmann in: HK-InsO, § 35 Rz. 42. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 27. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 28. BGH, Urt. v. 7.12.2006 – IX ZR 161/04, ZIP 2007, 194; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 27. OLG Brandenburg, Beschl. v. 18.1.2012 – 5 Wx 114/11, NotBZ 2012, 383; Thüringer OLG, Beschl. v. 26.8.2013 – 9 W 323/13, BauR 2014, 1050; OLG Celle, Beschl. v. 16.4.2015 – 4 W 57/15, ZIP 2015, 887, m. abl. Anm. Kessler, DNotZ 2015, 773. 216) LG Köln, Beschl. v. 26.11.2012 – 11 T 90/12, ZInsO 2013, 198; zustimmend Schreinert, RNotZ 2013, 161. 217) BGH, Beschl. v. 14.4.2005 – V ZB 25/05, DNotZ 2005, 840 = RPfleger 2006, 423.
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Teil V Einzelfragen
verwalter umzuschreiben und ihm zuzustellen. Im Hinblick auf die zeitliche Abfolge von Zwangsversteigerungsanordnung (Beschlagnahmewirkung aus § 20 ZVG) und Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters sind daher zwei Konstellationen zu unterscheiden: 3.3.1.1
Zwangsversteigerungsanordnung vor Freigabe
219 Erfolgt die Anordnung der Zwangsversteigerung zuerst und folgt danach die Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters, ist eine erneute Titelumschreibung nicht erforderlich. Denn die Notwendigkeit der ursprünglichen Umschreibung auf den Insolvenzverwalter beruht nicht auf entsprechender Anwendung des § 727 ZPO (Rechtsnachfolge), sondern auf der Wirkung des § 80 Abs. 1 InsO: Adressat von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen kann nur der Insolvenzverwalter sein, weil die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf ihn übergegangen ist. Eine im eröffneten Verfahren gegen den Insolvenzverwalter eingeleitete Zwangsvollstreckung besteht in ihrer Wirkung nach Freigabe fort. Aus dem Rechtsgedanken des § 80 Abs. 2 Satz 2 InsO ergibt sich, dass ein Wechsel der Verfügungsbefugnis zwischen Verwalter und Schuldner, sei es durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sei es durch Freigabe von Gegenständen aus der Masse, unberührt bleibt.218) 3.3.1.2
Freigabe vor Zwangsversteigerungsanordnung
220 Problematisch ist die umgekehrte Reihenfolge, wenn zuerst der Insolvenzverwalter das Grundstück freigibt und danach ein Antrag auf Anordnung der Zwangsversteigerung auf Grundlage des gegen den Verwalter umgeschriebenen und zugestellten Titels erfolgt. Dies war der Sachverhalt in dem vom LG Köln219) entschiedenen Fall. 221 Das LG Köln verlangt unter Verweis auf die zitierte Entscheidung des BGH eine erneute Titelumschreibung zurück auf den Schuldner. Es begründet dies wiederum mit der Analogie zu § 727 ZPO, obwohl der BGH in seiner Entscheidung weder den Verlust noch die Wiedererlangung der Verfügungsbefugnis für eine entsprechende Anwendung der Regeln über die Rechtsnachfolge als zutreffend angesehen hat.220) 222 Das Ergebnis lässt sich aber wohl mit Rückgriff auf die allgemeine Regel des § 750 Abs. 1 ZPO begründen, wonach die Zwangsvollstreckung nur beginnen darf, wenn die Personen, für und gegen die sie stattfinden soll, in dem Titel oder in der Vollstreckungsklausel namentlich bezeichnet sind. Ist – wie in dieser Fallkonstellation – das weiterhin grundpfandrechtlich belastete Grundstück vom Insolvenzverwalter freigegeben worden und in die Verfügungsbefugnis des Schuldners zurückgefallen, muss der Grundpfandrechtsgläubiger die Zwangsvollstreckung gegen den nun wieder verfügungsbefugten Schuldner beginnen; eine Zwangsvollstreckung gegen den Insolvenzverwalter als Titelschuldner ist nicht mehr möglich.221) 223 Es wird daher empfohlen, zur Beschleunigung des Verfahrens bei wertausschöpfender Belastung des Grundstücks vor einer Umschreibung der Vollstreckungsklausel auf den Insolvenzverwalter zu klären, ob eine Grundstücksfreigabe durch den Verwalter in Betracht kommt. Zeigt sich der Insolvenzschuldner gegenüber dem Grundpfandrechtsgläubiger kooperativ, muss die Verwertung des vom Insolvenzverwalter freigegebenen Grundstücks nicht zwangsläufig im Wege der Zwangsversteigerung erfolgen, sondern es kommt auch hier eine freihändige Veräußerung in Betracht. Bei rechtzeitiger Abstimmung kann die doppelte Titelumschreibung vermieden werden.222) ___________ 218) 219) 220) 221) 222)
BGH, Beschl. v. 14.4.2005 – V ZB 25/05, Rz. 12, 13, DNotZ 2005, 840 = Rpfleger 2006, 423. LG Köln, Beschl. v. 26.11.2012 – 11 T 90/12, ZInsO 2013, 198. BGH, Beschl. v. 14.4.2005 – V ZB 25/05, Rz. 10 f., DNotZ 2005, 840 = Rpfleger 2006, 423. Knees, ZInsO 2015, 2010, 2011. Knees, ZInsO 2015, 2010, 2011; Schreinert, RNotZ 2013, 161.
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Cornelius
Die Nutzung des Betriebsgrundstücks im Falle der Betriebsfortführung 3.3.1.3
§ 32
Ausreichen des Löschungsersuchens durch das Insolvenzgericht
Entgegen dem vom LG Köln verlangten Nachweis von Freigabeerklärung und Zugang 224 mindestens in öffentlicher Form ist – mit jetzt mehreren Oberlandesgerichten223) – die Löschung des Insolvenzvermerks auf Ersuchen des Insolvenzgerichts als ausreichend anzusehen.224) Denn danach hat das Grundbuchamt in tatsächlicher Hinsicht keinen Anlass mehr, an der unbeschränkten (wiedererlangten) Verfügungsbefugnis des eingetragenen Eigentümers über das eingetragene Recht zu zweifeln, weil der Insolvenzbeschlag aufgehoben ist. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es aufgrund anderer Informationen als denen aus dem Insolvenzverfahren Zweifel haben kann. Anderenfalls ist zu befürchten, dass es zu erheblichen Verzögerungen bei der freihändigen Veräußerung von Grundstücken aus der Insolvenzmasse kommt.225) 3.4
Insbesondere: Altlasten
Von praktischer Bedeutung ist die Freigabe für den Insolvenzverwalter, wenn sich auf einem 225 Betriebsgrundstück gesundheits- oder umweltgefährdende Altlasten (Schadstoffanreicherungen in Boden oder Grundwasser) befinden, da die Inanspruchnahme der Masse für die Kosten der Ersatzvornahme der Beseitigung der Altlasten drohen kann. Zu unterscheiden ist zunächst, ob der Insolvenzverwalter aufgrund eigenen Handelns oder 226 pflichtwidrigen Unterlassens nach vorangegangener konkretisierender Beseitigungsverfügung (Grundbescheid) der Ordnungsbehörde als Verhaltensstörer (i. S. des Ordnungsrechts) anzusehen ist, oder ob er Adressat einer Beseitigungspflicht lediglich aufgrund der – für ihn verpflichtenden – Inbesitznahme der Massegegenstände nach § 148 InsO ist. Während bspw. § 3 Abs. 5 KrW-/AbfG an ein Verhalten des Pflichtigen anknüpft, die eine Verantwortlichkeit nur des tatsächlich Handelnden begründen kann,226) setzt § 4 BBodSchG für eine Beseitigungspflicht aus Zustandsstörerhaftung lediglich das Innehaben der tatsächlichen Gewalt voraus. Während der BGH227) die bloße Inbesitznahme als noch nicht haftungsbegründend ange- 227 sehen hat, ist diese nach der Rechtsprechung des BVerwG228) ausreichend zur Begründung einer persönlichen Sanierungspflicht des Insolvenzverwalters. Einigkeit besteht aber zwischen beiden Gerichtszweigen darüber, dass der Insolvenzver- 228 walter die Entstehung von Masseverbindlichkeiten durch Freigabe des störenden Grundstücks vermeiden kann, auch wenn damit die Beseitigungskosten der Allgemeinheit „aufgebürdet“ werden.229) Demzufolge kann der Verwalter umgekehrt die Insolvenzmasse nicht durch Freigabe des 229 Grundstücks schonen, wenn er durch sein Verhalten (Fortführung des Betriebs) in die (fortbestehende) Beseitigungspflicht des Schuldners „eingetreten“ ist und dieser nicht nach-
___________ 223) OLG Hamm, Beschl. v. 20.3.2014 – I-15 W 392/13, ZIP 2014, 1297, m. zust. Anm. Weber, NotBZ 2014, 419; Zimmer, ZfIR 2014, 434 (Urteilsanm.); OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.3.2016 – 20 W 26/16, ZIP 2016, 1881; KG Beschl. v. 30.5.2017 – 1 W 39/17, ZIP 2017, 1479. 224) So auch Kübler/Prütting/Bork-Flöther, InsO, § 165 Rz. 65; a. A. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 32 Rz. 45a. 225) Knees, ZInsO 2015, 2010, 2011 f. 226) BVerwG, Urt. v. 22.7.2004 – 7 C 17.3, ZIP 2004, 1766. 227) BGH, Urt. v. 5.7.2001 – IX ZR 327/99, NJW 2001, 2966 = ZIP 2001, 1469; BGH, Urt. v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, NJW-RR 2002, 1198 = ZIP 2002, 1043. 228) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145. 229) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145.
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§ 32
Teil V Einzelfragen
kommt. Immerhin sehen einzelne Berufungsgerichte230) bloße Wartungsarbeiten, Funktionsprüfungen und Probeläufe noch nicht als ausreichend für ein „Betreiben“ einer Anlage an. 230 Kritik: Letztlich führen beide Störer-Konstellationen zu einer Bevorrechtigung der öffentlichen Hand „durch die Hintertür“, denn aus insolvenzrechtlicher Sicht soll eine Pflicht erfüllt werden, die auch schon vor Verfahrenseröffnung bestanden hat und deshalb Insolvenzforderung i. S. von § 38 InsO ist.231) Lediglich im Falle der Inanspruchnahme als Zustandsstörer kann die insolvenzrechtlich zutreffende Rechtslage durch Freigabe des Grundstücks wiederhergestellt werden.232) 3.5
Spätestmöglicher Zeitpunkt der Freigabe
231 Eine latente Beseitigungspflicht führt nicht zur etwaigen Haftung. Vielmehr muss die Beseitigungspflicht durch Ordnungsverfügung konkretisiert worden sein. Eine Freigabe zur Vermeidung von „Masseverbindlichkeiten“ i. S. der Rechtsprechung des BVerwG ist möglich, solange der erlassene Ordnungsbescheid noch nicht bestandskräftig geworden ist.233) 232 Der Insolvenzverwalter kann jedenfalls keine Masseverbindlichkeiten aus Räumungskosten vermeiden, wenn er das Grundstück erst freigibt, nachdem er rechtskräftig zur Räumung verurteilt worden ist.234)
___________ 230) OVG Münster, Urt. v. 1.6.2006 – 8 A 4495/04, UPR 2006, 456; VGH Kassel, Beschl. v. 20.4.2009 – 7 B 838/09, Rz. 43 f., juris, – zu den im Streitfall nicht erfüllten Anforderungen an das „Betreiben“ einer Anlage; OVG Lüneburg, Beschl. v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, ZIP 2010, 999. 231) Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 55 Rz. 33 a. E.; AG Essen, Beschl. v. 4.4.2001 – 160 IN 49/00, ZIP 2001, 756: Ersatzvornahmekosten für die Beseitigung von bereits aus der Zeit vor der Insolvenzeröffnung herrührenden Altlasten sind keine Masseverbindlichkeiten, sondern einfache Insolvenzforderungen. Durch die Neuregelung der Masseverbindlichkeiten in § 55 InsO sollen lediglich diejenigen Kosten und Verbindlichkeiten privilegiert werden, die notwendigerweise entstehen, bevor der Verfahrenszweck der Verteilung des Schuldnervermögens an die Gläubiger erreicht werden kann. 232) Eckardt, Grundpfandrechte, Rz. 579. 233) Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 55 Rz. 106 m. w. N. 234) BGH, Urt. v. 2.2.2006 – IX ZR 46/05, ZIP 2006, 583.
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§ 33 M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung Deichmann
Übersicht I.
M&A-Prozess: Definition, Bedeutung und Bezug zur Betriebsfortführung ......... 1 1. Einführung.................................................... 1 2. Definition M&A-Prozess .......................... 31 3. Funktion und Bedeutung des M&AProzesses..................................................... 38 3.1 M&A-Prozess als „Marktplatz“ für in der Regel nicht liquide handelbare Unternehmensbeteiligungen/Geschäftsbetriebe.... 38 3.2 Der M&A-Berater als Interessenvertreter seines Mandanten ..... 42 3.3 Ermittlung des Marktpreises i. R. eines strukturierten M&A-Prozesses ............................ 61 4. Bezug zur Betriebsfortführung ................. 89 II. Wesentliche Schritte eines strukturierten M&A-Prozesses (Praxisbericht) ....................................................... 94 1. Festlegung Transaktionsstrategie.............. 94 2. Vorbereitung der Ansprachedokumentation ........................................... 98 3. Identifikation und Interessenlage der im Transaktionsprozess anzusprechenden Investoren-Interessenten... 103
3.1 Finanzinvestoren ......................... 104 3.2 Strategische Investoren ............... 108 3.3 Investorenansprache.................... 113 4. Durchführung von individuellen Management-Präsentationen................... 114 5. Einholung indikativer Erwerbsangebote ... 116 6. Organisation einer Due-DiligencePrüfung ..................................................... 120 7. Einholung verbindlicher Erwerbsangebote.................................................... 126 8. Durchführung von Vertragsverhandlungen und Vertragsabschluss ................. 129 III. Auswirkungen und Besonderheiten der Betriebsfortführung auf den M&A-Prozess .......................................... 133 1. Außerhalb von Insolvenzverfahren......... 133 2. Im Eröffnungsverfahren .......................... 143 3. Im eröffneten Verfahren.......................... 156 3.1 Mit Insolvenzplan........................ 156 3.2 Ohne Insolvenzplan .................... 168 4. In der Eigenverwaltung............................ 172 5. Im Schutzschirmverfahren ...................... 176 IV. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und Würdigung ................... 178
Literatur: Achleitner, Handbuch Investment Banking, 3. Aufl., 2002; Allert, Distressed M&A, 1. Aufl., 2022; Allert/Seagon, Unternehmensverkauf in der Krise, 2007; Bauer/v. Düsterlho, Distressed Mergers & Acquisitions, 2013; Bitter/Laspeyres, Rechtsträgerspezifische Berechtigungen als Hindernis übertragender Sanierung, ZIP 2010, 1157; Bork, Beauftragung von Dienstleistern durch den Insolvenzverwalter: Regelaufgabe oder besondere Aufgabe?, ZIP 2009, 1747; Born, Unternehmensanalyse und Unternehmensbewertung, 2. Aufl., 2003; Braunberger/Mussler, Verschärfte Kreditbedingungen im Euroraum, FAZ v. 2.2.2012; Brennecke/Augustin/Jauch, Regelinsolvenz: Einführung in das Insolvenzrecht, Teil 4.4.1.: Bewertung der Vermögensgegenstände, abrufbar unter http://www.brennecke.pro/ 180842/Regelinsolvenz-Einfuehrung-ins-Insolvenzrecht-Teil-4-4-1-Bewertung-der-Vermoegensgegenstaende, Stand: 5/2010 (Abrufdatum: 15.12.2022); Brinkmann/Zipperer, Die Eigenverwaltung nach dem ESUG aus Sicht von Wissenschaft und Praxis, ZIP 2011, 1337; Copeland/Weston, Financial Theory and Corporate Policy, 3rd. Ed., Menlo Park (CA), 1988; Deichmann, Gestaltung von Investorenprozessen aus Sicht unterschiedlicher Mandanten-Kategorien – Spezifische Anforderungen an einen M&A-Berater, Sanierung & Restrukturierung Heft 7 (09.2021), S. 22, 23; Dodel, Besonderheiten der M&A-Prozesse im Mittelstand, Bilanzen im Mittelstand 1/2011, S. 10; Ehlers/Meimberg, Fallstudie: Die Betriebsaufgabe und ihr Alternativen, ZInsO 2010, 1169; Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 2012; Ettinger/Jaques, Beck’sches Handbuch Unternehmenskauf im Mittelstand, 2012; Hensche, Handbuch Arbeitsrecht (zit.: Hdb. ArbR), abrufbar unter: http://www.hensche.de/rechtsanwalt_arbeitsrecht_handbuch_insolvenz.html?app=desktop (Abrufdatum: 15.12.2022); Höffner, Fortführungswerte in der Vermögensübersicht nach § 153 InsO – Zur Problematik der durch die InsO eingeführten „zweigeteilten“ Rechnungslegung bei Verfahrenseröffnung, ZIP 1999, 2088; Hölzle, Gesellschaftsrechtliche Veränderungssperre im Schutzschirmverfahren, ZIP 2012, 2427; Hölzle, Die Fortführung von Unternehmen im Insolvenzverfahren – Zur Reichweite der Kompetenzen des schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters, ZIP 2011, 1890; Hönig/Meyer-Löwy, Unternehmenskauf vom „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter – Zur Anwendbarkeit von § 103 InsO auf Masseverbindlichkeiten im Sinn von § 55 Abs. 2 InsO, ZIP 2002, 2162; Jansen, Mergers & Acquisitions, Unternehmensakquisitionen und -kooperationen, 5. Aufl., 2008; Kranzusch/Icks, Die Quoten der Gläubiger in Regel- und Insolvenzplanverfahren, IfM-Materialien,
Deichmann
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§ 33
Teil V Einzelfragen
Nr. 186, 2009; Krüger/Kaufmann, Exklusivität und Deal Protection beim Unternehmenskauf vom Insolvenzverwalter, ZIP 2009, 1096; Lenger, Die Steuerhaftung gemäß § 75 AO – Fallen in der Transaktionsberatung, in: Rödl & Partner, Entrepreneur 10/2014, S. 6; Ludwig, „Klimawandel“ im Sanierungsund Insolvenzrecht: das StaRUG, in: Insolvenzrecht und Unternehmenssanierung, Jahrbuch 2021, S. 46; Mitlehner, „Fortführungswert“ der Vermögensgegenstände, ZIP 2000, 1825; Mönning, R.-D., Der Schutzschirm: Strategische Insolvenz und Haftung, in: Festschrift für Bruno M. Kübler, 2015; Mönning, R.-D., Der Zwang zur Kooperation: Kompetenzen in der Eigenverwaltung, in: Festschrift für Jobst Wellensiek, 2011, S. 641; Müller-Stewens/Kunisch/Binder (Hrsg.), Mergers & Acquisitions – Analysen, Trends und Best Practices, 2010; Niering/Hillebrand, Wege durch die Unternehmenskrise. Sanieren statt Liquidieren – Ein Praxisleitfaden für Unternehmer und Berater, 2022; Peters, Ein M&A-Prozess kann auch störend sein, in: Rheinische Post, Sonderbeilage Insolvenz & Sanierung, 7.10.2016, S. E8; Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 4. Aufl., 2013; Picot, Handbuch Mergers & Acquisitions, 5. Aufl., 2012 (zit.: Hdb. M&A); Pluta, Verwalter 2020: Verändern sich Markt, Beruf und Selbstverständnis?, INDat-Report 8/2014, 5; Rebholz/Deichmann, Doppelgleisig auf’s Abstellgleis?, Sanierung & Restrukturierung Heft 8 (12/2021), S. 6; Schelo, Der neue § 270b InsO – Wie stabil ist das Schutzschirmverfahren in der Praxis? Oder: Schutzschirmverfahren versus vorläufige Eigenverwaltung, ZIP 2012, 712; Schmalenbach, Die Beteiligungsfinanzierung, 1954; Schröer, Das vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren im Kontext strukturierter M&A-Prozesse, 2016; Schulz/Tauer, Wertorientierter Unternehmensverkauf aus der Insolvenz, KSI Heft 3/2008, S. 101; Spies, Insolvenzplan und Eigenverwaltung, ZInsO 2005, 1254; Stübinger/Kürbis, M&A-Prozesse im Rahmen von Insolvenzverfahren, Stand: 26.6.2019; Wellensiek, Probleme der Betriebsfortführung in der Insolvenz, in: Festschrift für Wilhelm Uhlenbruck, 2000, S. 199; Weniger, Dual Track mit Augenmaß – warum ein strukturierter Verkaufsprozess im Insolvenzverfahren im Interesse aller Beteiligten liegt, Sanierung & Restrukturierung Heft 8 (12/2021), S. 9.
I.
M&A-Prozess: Definition, Bedeutung und Bezug zur Betriebsfortführung
1.
Einführung „Der aus dem US-amerikanischen Investmentbanking stammende Begriff Mergers & Acquisitions (M&A) umschreibt den Handel (Kauf/Verkauf) mit Unternehmen, Unternehmensteilen und Unternehmensbeteiligungen und wird mit Fusionen und Unternehmensübernahmen übersetzt.“1)
1 Nach Copeland und Weston kann das Spektrum von M&A definiert werden: „The traditional subject of M&A’s has been expanded to include takeovers and related issues of corporate restructuring, corporate control, and changes in the ownership structures of firms.”2)
2 Nach Achleitner beschreibt der Begriff „Markt für Unternehmenskontrolle“ den Sachverhalt Mergers & Acquisitions am besten.3) Jansen führt aus, dass „M&A wie auch Kooperationen historisch betrachtet die entscheidenden strategischen Maßnahmen zur Restrukturierung von Unternehmen und von Wertschöpfungsketten, hin zu Wertschöpfungssystemen waren und in entscheidendem Maße sind.“4)
3 Picot ist der Auffassung, dass sich „[…] nur mit einem interdisziplinären und zugleich ganzheitlich-strategischen Denken und Handeln […] zukunftssichernde und werteschaffende Lösungen erarbeiten und umsetzen lassen“
werden.5) Der „Bereich der Mergers & Acquisitions“ müsse „als eigenständiges, auf internationalem Know-how basierendes Fachgebiet“ begriffen werden, „das einer ganzheitlichen Betrachtung und Handhabung bedarf.“6)
___________ 1) 2) 3) 4) 5) 6)
Müller-Stewens in: Müller-Stewens/Kunisch/Binder, M&A, S. 4. Copeland/Weston, Financial Theory and Corporate Policy, S. 676. Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 141. Jansen, M&A, S. 24. Picot, Hdb. M&A, S. 18. Picot, Hdb. M&A, S. 19.
1212
Deichmann
M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Für M&A-Transaktionen hinsichtlich krisenbehafteter Unternehmen hat sich der Begriff 4 „Distressed M&A“ herausgebildet. Dieser beschreibt Transaktionen die x
eine mögliche Pflicht zur Insolvenzantragstellung vermeiden,
x
vor Insolvenzantragstellung begonnen und nach Insolvenzantragstellung vollendet werden,
x
nach Insolvenzantragstellung begonnen und umgesetzt werden.7)
Nach Bauer und v. Düsterlho umfasst der Begriff Distressed M&A
5
„[…] die Koordination und Integration aller Maßnahmen, die notwendig sind, um ein Unternehmen, welches sich in einer Finanzkrise (‚financial distress‘) befindet, in einem eng begrenzten Zeitrahmen zu rekapitalisieren, eine ökonomische Überschuldung zu beseitigen und/oder zugunsten der Gesellschafter (vorinsolvenzliche Transaktion) oder Gläubiger (Insolvenzverfahren) – unter Gestaltung einer situationsadäquaten Risikoallokation – den bestmöglichen Verkaufserlös zu erzielen.“8)
Bauer und v. Düsterlho führen aus:
6
„[…] distressed M&A fängt insofern genau dort an, wo der übliche Kanon an Krisenerkennung, -analyse und -bewältigung endet: als eine, möglicherweise einzige Lösung für ein Unternehmen (ohne hinreichende Liquidität, mit ökonomischen Schwierigkeiten, welches bereits Schaden genommen hat) verbleibt eine Fusion mit einem stärkeren Partner (‚Merger‘) oder die Übernahme durch einen Dritten (‚Acquisition‘).“9)
Allert beschreibt die aus Käufersicht in Distressed-Situationen liegenden Chancen wie folgt:
7
„Wenn aber viele marktteilnehmende Unternehmen in „financial distress“ geraten, bietet es für die Mutigen die Chance, nicht nur günstig, sondern vor allem auch sinnvoll unternehmerische Einheiten einzukaufen“.10)
Die Veräußerung des sanierungsbedürftigen Unternehmens oder aber seines Geschäftsbe- 8 triebs stellt i. R. einer vorinsolvenzlichen Restrukturierung eine wesentliche Handlungsoption dar. Thierhoff/Liebscher bezeichnen die Strategie zur Aufgabe eines Engagements als Gesellschafter oder Finanzierer eines Unternehmens als „Exit-Strategie“.11) Muss dann doch der Insolvenzantrag gestellt werden, so steht die Durchführung eines Investorenprozesses unter veränderten Vorzeichen eines Insolvenz- oder Insolvenzantragsverfahrens, sobald die Voraussetzungen hierfür geschaffen sind, erneut auf der Agenda der Optionen zur Unternehmenssanierung. Unter der Überschrift „Rettung durch Verkauf“ erläutern Niering und Hillebrand:
9
„Aus vielerlei Gründen ist oftmals eine Sanierung des Unternehmens aus sich selbst heraus nicht möglich. Dann stellt sich sehr schnell die Frage, ob nicht ein Verkauf des Unternehmens im Ganzen oder zumindest wesentlicher Bestandteile das Unternehmen vor einer Zerschlagung bewahren kann. Zu unterscheiden sind grundsätzlich zwei Grundformen: • Verkauf des Unternehmens im Ganzen, • Verkauf der wesentlichen Vermögensbestandteile.“
___________ 7) 8) 9) 10) 11)
Niering/Hildebrand, Wege durch die Unternehmenskrise, S. 38. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 22, 23. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 19. Allert, Distressed M&A, S. 2. Thierhoff/Liebscher in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, S. 267.
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1213
§ 33
Teil V Einzelfragen
10 Sinhart beschreibt einen allgemeinen Trend zur professionellen Umsetzung von Unternehmenstransaktion im Krisenumfeld.12) Picot weist darauf hin, dass Unternehmenstransaktionen i. R. von Unternehmenskrisen „[…] aus der Not heraus entstehen und unter höchstem Zeitdruck – und damit auch mit entsprechender Ungenauigkeit – durchzuführen sind. Große Risiken gehen mit großen Chancen – wegen der meist sehr niedrigen Preise – Hand in Hand.“13)
11 Das Thema Mergers & Acquisitions (M&A) nimmt i. R. der Bemühungen um eine Betriebsfortführung auch in der Praxis der Insolvenzverwalter eine große Bedeutung ein. So geben die Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung (GOI) vor: „Der Insolvenzverwalter sucht aktiv nach Kaufinteressenten. Vorhandene Interessenten kontaktiert er kurzfristig. Er schafft selbst oder über einen geeigneten Dienstleister die jeweiligen Voraussetzungen für einen strukturierten M&A-Prozess, in dem die im Einzelfall erforderliche Sachkunde und insbesondere etwa erforderliche Fremdsprachenkenntnisse zur Verfügung stehen. Zur optimalen Gestaltung des Veräußerungsprozesses nutzt der Insolvenzverwalter die Möglichkeiten der digitalen Informationstechnologie; z. B. Einrichtung eines virtuellen Datenraums.“14)
12 Der in 2018 verabschiedete Kriterienkatalog „InsO Excellence“ des Gravenbrucher Kreises sieht vor, dass der Insolvenzverwalter aktiv nach Investoren für die Übernahme des Geschäftsbetriebs bzw. der Geschäftsanteile sucht bzw. vorhandene Interessenten kontaktiert. Auf diese Weise schafft er die Voraussetzungen für einen strukturierten M&A-Prozess.15) 13 Die Zulässigkeit der Beauftragung eines M&A-Beraters als spezialisierter Dienstleister durch den Insolvenzverwalter und die Vergütung dieses Dienstleisters zulasten der Insolvenzmasse ist im Einzelfall zu prüfen – „maßgebend ist der Gesichtspunkt der Angemessenheit im konkreten Verfahren.“16) 14 Bork hält fest, dass Insolvenzverwalter bei anspruchsvollen Insolvenzverfahren insbesondere berechtigt seien, einen M&A-Berater zur Strukturierung eines professionellen Investorenprozesses zu beauftragen.17) 15 Unter dem Grundsatz 7 nennen die GOI als einen Bereich, in dem sich der Insolvenzverwalter auf Kosten der Masse eines Dienstleisters bedienen kann, die Unterstützung bei der Durchführung eines Investorenprozesses durch einen M&A-Berater.18) 16 Die Europäische Kommission hatte in ihrer Empfehlung vom 12.3.201419) Überlegungen zu außergerichtlichen und bei Bedarf gerichtlichen Restrukturierungsplänen, die mit einer temporären Aussetzung der Verpflichtung zur Einleitung eines Insolvenzverfahrens verbunden sein sollen20) skizziert. Am 1.1.2021 ist in Deutschland nach ausführlicher parla___________ 12) Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1283. 13) Picot, Hdb. M&A, S. 66. 14) VID, GOI, Stand: 1/2020, S. 43, abrufbar unter https://www.vid.de/der-verband/qualitaetsstandards/goi/ (Abrufdatum: 15.12.2022). 15) Gravenbrucher Kreis, Kriterienkatalog InsO Excellence, Stand: 3/2018, Kriterium 132, S. 14, abrufbar unter https://www.gravenbrucher-kreis.de/insoexcellence/ (Abrufdatum: 15.12.2022). 16) Bork, ZIP 2009, 1747, 1754. 17) Bork, ZIP 2009, 1747, 1750. 18) VID, GOI, Stand: 1/2020, S. 3, abrufbar unter https://www.vid.de/der-verband/qualitaetsstandards/goi/ (Abrufdatum: 15.12.2022). 19) Europäische Kommission, Empfehlung v. 12.3.2014 für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen (2014/135/EU), abrufbar unter https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014H0135&from=EL (Abrufdatum: 15.12.2022). 20) Europäische Kommission, Empfehlung v. 12.3.2014 für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen, S. 8, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014H0135&from=EL (Abrufdatum: 15.12.2022).
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
mentarischer Beratung das SanInsFoG21) in Kraft getreten.22) Das Gesetz regelte zum einen Instrumente, die von betroffenen Unternehmen zur Überwindung der Folgen der COVID19-Pandemie genutzt werden können, andererseits definiert das Gesetz mit dem Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (StaRUG)23) neue Möglichkeiten, um eine außergerichtliche Untenehmenssanierung erfolgreich umzusetzen.24) Die ursprünglich vorgesehene Option, der „gerichtlichen Beendigung von noch nicht beiderseits vollständig erfüllten Verträgen“,25) wurde jedoch in der finalen Fassung des Gesetzes gestrichen, so dass „die Grundfesten des Schuldrechts nicht angetastet werden“.26) Das SanInsFoG stellt somit Unternehmen, die sich im Krisenstadium einer Liquiditätskrise 17 befinden, wertvolle zusätzliche Handlungsoptionen bereit, um die eingetretene Krise zu überwinden.27) Damit geht einher die Perspektive auf die Erhaltung der bisherigen Gesellschafterverhältnisse mit der Folge, dass ein möglicher M&A-Prozess nicht im Mittelpunkt der Überlegungen zur Überwindung der Unternehmenskrise steht. Innerhalb des SanInsFoG wurde das StaRUG verabschiedet. Das StaRUG
18
x
beinhaltet Vorschiften zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement,
x
beschreibt einen Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen, welcher Anforderungen an- und Inhalte eines Restrukturierungsplans vorgibt und definiert die zur Verfügung stehenden Restrukturierungs- und Stabilisierungsinstrumente,
x
hält insbesondere für kleinere Unternehmen die Option der Beauftragung eines Sanierungsmoderators bereit.28)
Allert definiert als Ziel des präventiven Restrukturierungsrahmens, „zumindest eine Gruppe 19 der vorhandenen Gläubiger dazu zu bewegen, auf einen Teil (oder die Gesamtheit) ihrer Forderungen zu verzichten, um das Unternehmen so schnell wie möglich zu sanieren“.29)
___________ 21) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 22) Gravenbrucher Kreis, Pressemitteilung Verabschiedung SanInsFoG v. 18.12.2020, S. 1, abrufbar unter https://www.gravenbrucher-kreis.de/2020/12/18/gravenbrucher-kreis-begr%C3%BC%C3%9Ft-neuesgesetz-zur-fortentwicklung-des-sanierungs-und-insolvenzrechts/ (Abrufdatum: 15.12.2022). 23) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 24) Gravenbrucher Kreis, Pressemitteilung Verabschiedung SanInsFoG v. 18.12.2020, S. 2, abrufbar unter https://www.gravenbrucher-kreis.de/2020/12/18/gravenbrucher-kreis-begr%C3%BC%C3%9Ft-neuesgesetz-zur-fortentwicklung-des-sanierungs-und-insolvenzrechts/ (Abrufdatum: 3.3.2023). 25) Mewes/Köllmer, Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen, KPMG Restructuring Insights I. Quartal/2021, S. 23, abrufbar unter https://www.ifus-institut.de/fileadmin/Studien_und_Newsletter/Newsletter/KPMG/KPMG_DA_Restructuring_Newsletter_1Q21.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023). 26) Gravenbrucher Kreis, Pressemitteilung Verabschiedung SanInsFoG v. 18.12.2020, S. 2, abrufbar unter https://www.gravenbrucher-kreis.de/2020/12/18/gravenbrucher-kreis-begr%C3%BC%C3%9Ft-neuesgesetz-zur-fortentwicklung-des-sanierungs-und-insolvenzrechts/ (Abrufdatum: 3.3.2023). 27) Noerr, Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) veröffentlicht – Schaffung eines außergerichtlichen Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens (StaRUG), v. 5.3.2021, abrufbar unter https://www.noerr.com/de/newsroom/news/gesetz-zur-fortentwicklung-des-sanierungs-und-insolvenzrechts-saninsfog-veroffentlicht (Abrufdatum:15.12.2022), S. 1. 28) Ludwig, Klimawandel, S. 46-47. 29) Allert, Distressed M&A, S. 199.
Deichmann
1215
§ 33
Teil V Einzelfragen
20 Abb. 1: Wesentliche Stadien von Unternehmenskrisen
Handlungsbedarf
Handlungsspielraum
1. Strategische Krise
2. Ertragskrise
3. Liquiditätskrise
• Illiquidität • Zahlungsverzug
• Fehlallokation
• Fehldisposition
Für Externe erkennbar
• Leistungsrückgang
• Ergebnisrückgang
Für Banken erkennbar
• Verschuldungsanstieg
Für Kunden erkennbar
Für die Öffentlichkeit erkennbar
Quelle: Allert/Seagon, Unternehmensverkauf in der Krise, S. 16
21 M&A-Prozesse i. R. der Betriebsfortführung krisenbehafteter Unternehmen finden unter den ergänzten rechtlichen Rahmenbedingungen sowohl innerhalb als auch außerhalb gerichtlicher Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren statt. Entsprechend sind die Besonderheiten insbesondere hinsichtlich der Dramaturgie des Transaktionsprozesses sowie in Bezug auf Transaktionsstrukturierung, Unternehmensbewertung und Wirkung für Gläubiger/Gesellschafter sowohl innerhalb als auch außerhalb gerichtlicher Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren darzustellen. Gegebenenfalls beginnt auch ein Transaktionsprozess im vorinsolvenzlichen Umfeld und wird dann i. R. eines gerichtlichen Insolvenz- und/oder Restrukturierungsverfahrens zum Abschluss gebracht. An Unternehmenserwerben interessierte Investoren prüfen sehr sorgfältig vor dem Hintergrund der Interessenlage der unterschiedlichen Stakeholder in der Unternehmenskrise, welcher Zeitpunkt i. R. der Unternehmenskrise für einen Investoreneintritt als besonders geeignet erscheint.30) 22 Für den Erwerb des Geschäftsbetriebs i. R. eines Insolvenzverfahrens sprechen aus Investorensicht: x
Die mit dem Abschluss eines Vertrages zum Erwerb des Geschäftsbetriebs erzielbare hohe Rechtssicherheit;
x
der vergleichsweise niedrige Kaufpreis;
x
Sie – ausreichende Bonität des Erwerbers vorausgesetzt – unkomplizierte Betriebsmittelfinanzierung nach Erwerb;
x
die Vermeidung zukünftiger Anfechtungsrisiken im Falle einer Insolvenz des Verkäufers.
___________ 30) Rhein in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 227.
1216
Deichmann
M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Die nachstehenden Aspekte lassen aus Erwerbersicht einen vorinsolvenzlichen Erwerb 23 als attraktiv erscheinen: x
Keine negative Wirkung in der Öffentlichkeit (Reputationsrisiko);
x
Sicherung der Beschäftigungsverhältnisse von Schlüsselmitarbeitern;
x
keine Chance für Wettbewerber, die Schwächephase des krisenbehafteten Unternehmens auszunutzen;
x
keine negative Auswirkung auf Kunde- und Lieferantenbeziehungen.31)
M&A-Prozesse führen entweder zur Veräußerung des Geschäftsbetriebs durch das schuld- 24 nerische Unternehmen (Asset Deal) oder aber zu einer in der Regel signifikanten Neustrukturierung seines Gesellschafterkreises verbunden mit einer Reduzierung vorhandener Verbindlichkeiten auf ein nachhaltig bedienbares Niveau. Gut ein Jahr nach Einführung des präventiven Sanierungsrahmens wurde im Februar 2022 25 von lediglich 22 Anwendungsfällen berichtet. „Restrukturierungspraktiker und Unternehmensberater berichten, dass bereits alleine die Drohung mit dem neuen Gesetz, mit dem einzelne Gläubiger erstmalig vor einem Insolvenzverfahren überstimmt werden können, in vielen Fällen zu einer einvernehmlichen Einigung führt. Da das präventive Verfahren primär auf eine finanzielle Restrukturierung abzielt, vermindern die im Rahmen der COVID-Pandemie gewährten massiven Finanzhilfen derzeit noch den Bedarf für das neue Werkzeug.“32)
Es ist zu erwarten, dass sich der in Deutschland durch das ESUG entstandene Trend zur 26 vorinsolvenzlichen Sanierung, die ggf. nach Insolvenzantragstellung von den im Wesentlichen identischen handelnden Personen ergänzt durch (vorläufige) Sachwaltung oder Insolvenzverwaltung weitergeführt wird, fortsetzen wird. Standen in der Zeit vor ESUG die klassischen Insolvenzverwalter im Zentrum bedeutender Unternehmenssanierungen, so haben sich seit der ESUG-Einführung die Bedeutung und der Einfluss von Sanierungsund Insolvenzberatern massiv erhöht. Buchalik/Brömmekamp betonen den durch ESUG auch bei Unternehmensberatern (neben 27 den Gläubigern) entstandenen Einfluss auf die Frage, welcher Insolvenzverwalter mit welchem Verfahren betraut wird.33) Rebholz führt aus, dass „[…] sich auch ein Insolvenzverwalter nunmehr bei den potentiellen Gläubigern bzw. auch den Koordinatoren im Vorfeld, insbesondere Sanierungsberatungen bzw. Sanierungsabteilungen größerer Dienstleistungseinheiten wie Wirtschaftsprüfern etc. präsentieren muss.“ (Siehe oben Rebholz, § 4 Rz. 49)
Pluta spricht eine besorgniserregende Entwicklung an:
28
„Der unabhängige Verwalter stirbt aus: Die (wenigen) Verwalter, die sanieren und restrukturieren können, müssen sich beim kränkelnden Unternehmen bewerben oder wie die Sachwalter, sich auf die Gunst von anderen Beratern und deren Erwartungen einlassen, was beides nicht immer zum Nutzen der Gläubiger ist.“34)
___________ 31) Schröer, Vorinsolvenzliche M&A-Prozesse, S. 14. 32) INDat-Report ermittelt Zwischenbilanz zu einem Jahr Restrukturierungsrahmen, Pressemitteilung v. 1.2.2022. 33) Buchalik/Brömmekamp, Newsletter 34, 6/2015, S. 2. 34) Pluta, INDat-Report 8/2014, S. 5.
Deichmann
1217
§ 33
Teil V Einzelfragen
29 Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren hingegen bergen die Gefahr, dass nicht nur objektive Kriterien bei der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen wie M&A-Beratungsmandaten Berücksichtigung finden. Das Forum 270 hat Grundsätze für die Durchführung von Eigenverwaltungsverfahren formuliert.35) 30 Bauer/v. Düsterlho beschreiben objektive Kriterien für die Auswahl des im jeweiligen Einzelfall geeigneten M&A-Beraters.36) Umfragen bei Insolvenzverwaltern haben ergeben, dass diese den Mehrwert von i. R. von Insolvenzverfahren mit der Durchführung von Investorenprozessen eingeschalteten M&A-Beratern in der Regel als sehr hoch einschätzen.37) 2.
Definition M&A-Prozess
31 Der Begriff „Auktion“ lässt sich vom lateinischen Wort „augere“ ableiten, welches für „erhöhen“ oder „erweitern“ steht. Schon in der Römerzeit war es das primäre Ziel einer Auktion, auf Basis des zugrunde liegenden Bieterwettbewerbs den maximal erzielbaren Preis für ein bestimmtes Gut zu ermitteln. Auktionen stellen einen verbreiteten Mechanismus für die Preisfindung beim Verkauf eines einzelnen, seltenen und nichtstandardisierten Gutes dar. In einer Auktion wird das Objekt in der Regel an den Bieter mit dem höchsten Preisangebot innerhalb eines klar definierten, kompetitiven Prozesses verkauft.38) Der typische M&A-Prozess kann damit in der Regel als Auktion bezeichnet werden, wobei er – wie in der nachstehenden Übersicht dargestellt – je nach Situation und Erfordernissen unterschiedlich ausgestaltet sein kann. 32 Abb. 2: Limitiertes Bietungsverfahren zur Filterung des Erwerbsinteresses aller Käuferkategorien Selektive Ansprache Kanidatenkreis
Limitiertes Bietungsverfahren
1 –2 potenzielle Investoren
Limitierter, ausgewählter Kreis potenzieller Investoren
Hohe Vetraulichkeit interner Informationen Schneller Abschluss möglich Auktion nach erfolglosem Verfahren möglich Angebotsvergleich nur bedingt möglich Oftmals nicht ausgereizte Konditionen Wahrscheinlichkeit höher, dass Verfahren scheitert
Angebotsvergleich möglich Weitestgehende Vertraulichkeit Optimierung der Konditionen möglich Höhere Transparenz interner Informationen Gefahr einer „Publizität“ steigt Längere Verfahrensdauer
Auktion Möglichst breite Ansprache potenzieller Investoren
Vertraulichkeit Wettbewerb
Taktische Überlegungen
Addressierung aller potenziellen Investoren Signalisiert ernsthaftes Verkaufsinteresse Kaufpreismaximierung Hohe Anforderung an Prozessmanagment Von Finanzinvestoren tendenziell eher abgelehnt Lange Verfahrensdauer Imageschaden, falls Verfahren scheitert
• Parallele Ansprache ausgewählter Investoren empfohlen • Strukturiertes (Bietungs-)Verfahren notwendig, um „Best Buyer“ zu filtern und Transaktionschance zu erhöhen
Quelle: Eigene Darstellung.
___________ 35) Forum 270 e. V., Grundsätze für Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO), abrufbar unter https://www.forum270.de/de/grundsaetze-10-html (Abrufdatum: 15.12.2022). 36) Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 27 f. 37) Stübinger/Kürbis, M&A-Prozesse im Rahmen von Insolvenzverfahren. 38) Rochat/Korp in: Müller-Stewens/Kunisch/Binder, M&A, S. 270.
1218
Deichmann
§ 33
M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
Die einzelnen prozessualen Schritte eines M&A-Prozesses werden in der Praxis wie folgt 33 beschrieben:39) x
Identifizierung der Ziele des Verkäufers (Mandanten);
x
Strukturierung des Auktionsprozesses;
x
Auswahl von potentiellen Käufern;
x
Vorbereitung der Auktion;
x
erste Runde: Der Weg zu einem unverbindlichen Angebot;
x
zweite Runde: Der Weg zu einem verbindlichen Angebot;
x
Vertragsunterzeichnung (Signing) und Vertragserfüllung (Closing).
Häufig werden die einzelnen Prozessschritte zu drei großen Blöcken zusammengefasst: x
Transaktionsvorbereitung und Marktansprache;
x
das eigentliche Bieterverfahren;
x
der Abschluss der Transaktion.
Bauer und v. Düsterlho beschreiben die durch den M&A-Prozess zu erfüllende Funktion als
34
35
„[…] dem Veräußerer eines Unternehmens unter gegebenen Rahmenbedingungen die bestmögliche(n) Option(en) für den Verkauf zu verschaffen“.40)
Abb. 3: Dynamik und Prozessschritte eines limitierten Bieterwettbewerbs Ansprache
Bieterverfahren
• Auswahl potenzieller Investoren • Abschluss Vertraulichkeitsvereinbarung • Zur Verfügungstellung von Unternehmensinformationen zwecks Kaufpreisallokation • „Process Letter“ und Aufforderung zur Absage nicht-bindendes Angebot
36
Abschluss • Einholung überarbeitetes Angebot und SPA-Kommentare • Auswahl Bieter für Schlussverhandlungen • Ggf. Bereitstellung sensibler Unternehmensinformationen • Einholung Binding Offer/Signing
• Auswahl Bieter für nächste Phase und Einladung zur Due Diligence • Bereitstelllung detailierter Unternehmensinformationen in einem Datenraum • Mangement-Präsentation und Frage-/Antwort-Treffen • Abklärung strategischer Fit und kaufpreisrelevante Sachverhalte • Entwurf Geschäftsanteilskauf- und -übertragungsvertrag (SPA)
Investorenanzahl
Illustrativ: Dynamik eines limitierten und diskreten Bieterwettbewerbs
ca. 12
Interessensbekundung
ca. 10
Anfrage Info-Memo
ca. 6
Abgabe Indikation
ca. 5
Management Präsentation
ca. 4
Abgabe verbessertes Angebot
ca. 3
Endverhandlung
1
Vertragsabschluss
• Aufrechterhaltung Bieterwettbewerb als ganz wesentliche Komponente zur Optimierung der Rahmenbedingungen einer Transaktion für den Auftraggeber
Quelle: Eigene Darstellung
Entscheidend für den Erfolg des M&A-Prozesses ist es in der Regel, bis zum Abschluss 37 der Transaktion einen Bieterwettbewerb aufrechtzuerhalten. Hier geht es beim Verkauf nicht insolventer bzw. nicht insolvenzgefährdeter Unternehmen einerseits darum, aus ___________ 39) Rochat/Korp in: Müller-Stewens/Kunisch/Binder, M&A, S. 271. 40) Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 23.
Deichmann
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§ 33
Teil V Einzelfragen
vielfältigen Überlegungen heraus zu jeder Zeit im Prozess ein glaubwürdiges AlternativSzenario sowohl zu den Verhandlungen mit den einzelnen Bietern als auch zu dem geplanten Verkauf insgesamt gegenüber den Bietern aufzeigen zu können.41) Solange dies der Fall ist, werden ernsthaft interessierte Investoren ihre Positionierung im Bietungsverfahren in Bezug auf Gebotshöhe und vertragliche Regelungen nach Möglichkeit so gestalten, dass sie eine Umsetzung eines Alternativszenarios durch den Verkäufer vermeiden. Bei M&AProzessen im vorläufigen oder im eröffneten Insolvenzverfahren ist naturgemäß der Abbruch des Verkaufsprozesses keine valide Drohkulisse, weil diesem in der Regel die Liquidation folgen würde, so dass ab einem gewissen Zeitpunkt kein werthaltiges Unternehmen mehr zum Verkauf steht.42) Im Rahmen eines Schutzschirmverfahrens oder aber eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens kann die Veräußererseite hingegen in der Regel auf glaubwürdige Alternativ-Szenarien (nächste Eskalationsstufe gemäß InsO) verweisen. Insofern ist es gerade im vorläufigen oder im eröffneten Insolvenzverfahren Aufgabe des für die Prozesssteuerung verantwortlichen M&A-Beraters, Alternativszenarien mittels Durchführung von parallelen Verhandlungen mit mehreren interessierten Investoren aufzubauen. Zudem liegt in diesen Fällen ein entscheidender Erfolgsfaktor im Aufbau einer Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens, um jede Irritation auf Investorenseite auszuschließen. Ausschlaggebend für die Aufrechterhaltung des Bieterwettbewerbs ist neben der Umsicht des M&A-Beraters naturgemäß auch die Attraktivität des den Interessenten angebotenen Unternehmens/Geschäftsbetriebes. Ziel muss es sein, eine „subjektiv- und synergiegetriebene Wertdiskussion“43)zu vermeiden und aufgrund von Bieterwettbewerb eine „angebots- und nachfrageorientierte Preisdiskussion“44) zu führen. 3.
Funktion und Bedeutung des M&A-Prozesses
3.1
M&A-Prozess als „Marktplatz“ für in der Regel nicht liquide handelbare Unternehmensbeteiligungen/Geschäftsbetriebe
38 Auktionen geben den institutionellen Rahmen vor, um Preis und Bedingungen beim Verkauf von nichtstandardisierten Gütern zu maximieren. Während Aktien und Aktienpakete an der Börse liquide gehandelt werden können, besteht für nichtstandardisierte Güter wie Unternehmen, deren Geschäftsbetriebe bzw. Unternehmensbeteiligungen, kein regelmäßig nutzbarer liquider Marktplatz. Jansen ist der Auffassung, dass „[…] eine eigene Markttheorie zur Beschreibung von ‚Corporate Control‘ notwendig wird […]“,
da u. a. „[…] eine auch für Entscheider schwierig zu beschreibende Güterqualität sowie eine systematische Marktintransparenz mit erheblichen, aber nicht kalkulierten Informationsasymmetrien […]“
auf dem Markt für Unternehmenskontrolle vorliege.45) 39 Firmenauktionen können öffentlich oder privat sein. Private Auktionen beziehen sich auf die Veräußerung eines privat geführten Unternehmens durch ein Ad-hoc-Verfahren. Private Auktionen fallen in der Regel nicht in den Anwendungsbereich des Übernahmerechts und anderer börsenbezogener Offenlegungsvorschriften.
___________ 41) Rochat/Korp in: Müller-Stewens/Kunisch/Binder, M&A, S. 284; Dodel, Bilanzen im Mittelstand Heft 1/2011, S. 10, 12. 42) Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 23. 43) Allert, Distressed M&A, S. 113. 44) Allert, Distressed M&A, S. 113. 45) Jansen, M&A, S. 52.
1220
Deichmann
§ 33
M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
Bei dem vertraulichen Prozess einer privaten Auktion bedarf es aus Sicht von Jansen min- 40 destens zweier potentieller Käufer:46) „Unter der Annahme, dass ein natürlicher Wettbewerb um das zu veräußernde Asset besteht, stellt eine Auktion ein höchst wirksames Instrument dar, um die verschiedenen Ziele des Verkäufers bestmöglich parallel zu optimieren.“47) „Indem mehrere Käufer im Wettbewerb um das gleiche Asset in einem gut strukturierten Transaktionsfenster zusammentreffen, können die individuellen Präferenzen und Beschränkungen der einzelnen potentiellen Käufer in der Auktion so genutzt werden, dass das Ergebnis aus Sicht des Verkäufers in Hinblick auf die einzelnen Zielkriterien dem überlegen ist, was alternativ durch eine Reihe von sequentiellen, bilateralen Verhandlungen zu erwarten wäre.“48)
Abb. 4: Spannungsfeld der Zieldimensionen bei einer Auktion
41
Preis Minimierung von: • Vertraglichen Zugeständnissen und Verkäuferpflichten • Störung des Geschäftsganges
Transaktionssicherheit
Transaktionsgeschwindigkeit
Quelle: Jansen, M&A, S. 273.
3.2
Der M&A-Berater als Interessenvertreter seines Mandanten
Achleitner ergänzt die Definition für M&A:
42
„Die Abgrenzung M&A steht weiterhin als Geschäftsfeld für Beratungsleistungen, die für andere Unternehmen, die ihrerseits an M&A-Transaktionen beteiligt sind, erbracht werden.“49)
Nach Picot verfügen Finanzberater (Anm. des Verfassers: abweichende Bezeichnung für 43 M&A-Berater) bzw. Investmentbanken über „substantielle Markt- und Transaktionserfahrung“, auf die Verkäufer und Käufer zurückgreifen sollten.50) Zum Leistungsspektrum der M&A-Beratung zählt Achleitner: x
Optimierung der Prozess-Steuerung;
x
Einbringen spezieller Fachkompetenzen;
x
Identifizierungsfunktion;
x
Sparrings-Partner und Objektivierungsfunktion;
x
Ausgleich personeller Engpässe beim Klienten;
x
Blitzableiterfunktion.
44
___________ 46) 47) 48) 49) 50)
Rochat/Korp in: Müller-Stewens/Kunisch/Binder, M&A, S. 270. Jansen, M&A, S. 273. Jansen, M&A, S. 273. Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 141, 151 ff. Picot, Hdb. M&A, S. 193.
Deichmann
1221
§ 33
Teil V Einzelfragen
45 Innerhalb der Gruppe der M&A-Berater im engeren Sinne können die Marktteilnehmer nach Achleitner wie folgt gegliedert werden: 46 Abb. 5: Klassifizierung der Anbieter von M&A-Beratungsdienstleistungen
Investmentbanken
InvestmentbankingAbteilungen der Universalbanken
Internationalität/ Komplexität
Große Wirtschaftsprüfungsgesellschaften
M&ABoutiquen
Kapitalmarktrelevanz
Quelle: Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 159.
47 Professionelle M&A-Berater werden von Ihren Mandanten exklusiv mandatiert51) und nehmen als deren Erfüllungsgehilfen daher ausschließlich die Interessen ihrer Mandanten wahr. Diese exklusive Mandatierung und eindeutige Interessenvertretung führt dazu, dass der M&A-Berater sich individuell auf die Mandantenziele einrichtet und mit dem jeweiligen Mandanten gleichgerichtete Ziele verfolgt. Im Rahmen dessen obliegt es dem M&A-Berater ebenfalls, seinen Mandanten frühzeitig auf eine mögliche Inkompatibilität seines Zielsystems mit den am Markt realisierbaren Handlungsoptionen hinzuweisen. Picot empfiehlt, bereits im Vorfeld eines M&A-Prozesses zwischen M&A-Berater und Mandant die Erwartungshaltung hinsichtlich der Veräußerbarkeit des Unternehmens sowie der realistisch zu erwartenden Bewertung für Geschäftsanteile bzw. Geschäftsbetrieb abzugleichen.52) 48 Bauer und v. Düsterlho sprechen zudem von einer eine positiv vermittelnden Tätigkeit des M&A-Beraters, die es erlauben soll, die Veräußerung eines wirtschaftlich notleidenden Unternehmens bzw. seines Geschäftsbetriebs auch bei anfänglich abweichenden Bewertungsvorstellungen sicherzustellen. „Im Ergebnis ist sowohl Käufer und Verkäufer zudem nur dann gedient, wenn es zu einer Transaktion kommt, d. h. das strauchelnde Unternehmen in neue, kapitalkräftige Hände überführt und damit gerettet wird, zum anderen, wenn der Käufer noch genau den Preis bezahlt, der seinem Grenznutzen entspricht.“53)
___________ 51) Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 158. 52) Picot, Hdb. M&A, S. 194, sowie Schmitt/Haberstock/Lohrer, M&A-Beraterwahl, Die Unternehmervertrauten v. 29.11.2018, abrufbar unter https://unternehmervertraute.de/ma/ma-beraterwahl/ (Abrufdatum: 15.12.2022). 53) Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 20.
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§ 33
M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
Diese Position bezieht sich nach Einschätzung des Verfassers ausschließlich auf M&A- 49 Prozesse außerhalb von Insolvenzverfahren. Sinhart hingegen führt nämlich aus, es sei Ziel des Insolvenzverwalters nach § 1 InsO, die 50 Gläubiger in ihrer Gesamtheit durch bestmögliche Verwertung und anschließende Verteilung des Vermögens des schuldnerischen Unternehmens zu befriedigen. Er sieht hierbei die Liquidationswerte abzüglich von Teilen der „aufoktroyierten Massekosten“ (u. a. Kosten des Personalabbaus sowie sonstige mit der Unternehmensliquidation verbundene Kosten) als Kaufpreisuntergrenze an. Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings insbesondere, dass die absonderungsberechtigten Insolvenzgläubiger dann nach § 168 InsO eine anderweitige Verwertung des Sicherungsgutes anzeigen können, wenn die Verwertung i. R. eines Unternehmensverkaufs einen Erlös verspricht, der die Erlöspotentiale alternativer Veräußerungsmöglichkeiten i. R. eines Einzel- oder Paketverkaufs unterschreitet.54) Die für erfolgreiche Umsetzung von Distressed-M&A-Transaktionen erforderliche Me- 51 thodenkompetenz beschreibt Allert: „Der Distressed-M&A-Advisor muss dementsprechend nicht nur betriebswirtschaftliche und verkäuferische Kompetenzen aufweisen, sondern auch Wissen über die unter normalen oder (klassischen) Situationen hinausgehenden gesellschaftsrechtlichen, steuerlichen und restrukturierungsrechtlichen Rahmenbedingungen vorhalten. Dementsprechend kann man bei Distressed M&A-Transaktionen mit Fug und Recht von der „Masterclass“ der M&A-Beratung sprechen.“55)
Auf die Besonderheiten im Vorfeld eines möglichen Insolvenzverfahrens inkl. Anwendung 52 der Vorschriften des StaRUG, im Eröffnungsverfahren, im eröffneten Verfahren (mit bzw. ohne Insolvenzplan), in der Eigenverwaltung sowie im Schutzschirmverfahren wird in späteren Kapiteln noch ausführlicher einzugehen sein. Die wichtigsten üblichen Auftragsverhältnisse von M&A-Beratungsmandaten innerhalb 53 und außerhalb von Insolvenzverfahren sind nachstehend dargestellt: Abb. 6: Auftragsverhältnisse von M&A-Beratungsmandate
54
Auftragsverhältnisse von M&A-Beratungsmandaten Außerhalb eines Insolvenzverfahrens: • Gesellschafter im Hinblick auf Unternehmensveräußerung bzw. • Unternehmen im Hinblick auf Realisierung einer Kapitalzufuhr infolge Investoreneintritt Im Eröffnungsverfahren: • Schuldnerisches Unternehmen mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters (Regelverfahren) • Schuldnerisches Unternehmen mit Zustimmung des vorläufigen Sachwalters (Insolvenzplan in Eigenverwaltung) Im eröffneten Verfahren: • Insolvenzverwalter (Regelverfahren) • Schuldnerisches Unternehmen mit Zustimmung des Sachwalters (Insolvenzplan in Eigenverwaltung) Im Schutzschirmverfahren: • Schuldnerisches Unternehmen mit Zustimmung des (vorläufigen) Sachwalters
Quelle: Eigene Darstellung.
___________ 54) Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1311. 55) Allert, Distressed M&A, S. 2.
Deichmann
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§ 33
Teil V Einzelfragen
55 Schröer weist zu Recht darauf hin, dass im Zuge von vorinsolvenzlichen Investorenprozessen angesichts der Vielzahl von Beteiligten „eine eindeutige Prinzipal-Agenten Beziehung essentiell für das Gelingen eines erfolgreichen Investorenprozesses“ sei.56) Der wiederkehrenden Leistungsinhalte der M&A-Beratung können hierbei wie folgt beschrieben werden:57) x Projektmanagement und Prozesskontrolle; x Unternehmensbewertung; x Verhandlungsführung; x Strukturierung der Transaktion. 56 Bauer und v. Düsterlho sind der Auffassung, dass sich der M&A-Prozess mit seinen grundsätzlichen strukturellen Elementen innerhalb und außerhalb von Krisensituationen – abgesehen vom Zeitfaktor – nicht wesentlich unterscheidet.58) Der sog. kompetitive Auktionsprozess bilde auch häufig den zu präferierenden Ansatz; allerdings sei dieser jedoch immer unter Berücksichtigung der individuellen Situation im Einzelfall auf die besonderen Anforderungen hin auszurichten.59) Im Rahmen vorinsolvenzlicher M&A-Prozesse resultiert der Zeitdruck aus der ggf. gebotenen Insolvenzantragspflicht des Managements. Ist hingegen der Insolvenzfall bereits eingetreten, so resultiert ein unter zeitlichen Gesichtspunkten gegebener Handlungsdruck aus der häufig nur auf einen begrenzten Zeitraum limitierten Möglichkeit, ein defizitäres Unternehmen unter Insolvenzbedingungen fortzuführen.60) 57 Nach Sinhart unterscheiden sich Unternehmenstransaktionen in der Insolvenz bzw. in der Krise faktisch oder rechtlich deutlich von „normalen“ Unternehmenstransaktionen.61) x x
x
Eine vorinsolvenzlich durchgeführte Transaktion kann im Nachhinein durch den Insolvenzverwalter angefochten werden.62) Im eröffneten Insolvenzverfahren stellt der sog. Share Deal immer noch die „absolute Ausnahme“ dar – der als übertragende Sanierung ausgestaltete Asset Deal dominiert das Transaktionsgeschehen.63) Im Insolvenzeröffnungsverfahren ist die Durchführung eines Share Deal zwar grundsätzlich möglich, sie kommt aber in der Regel nicht vor.64) Die Durchführung eines Asset Deal i. R. des Insolvenzeröffnungsverfahrens wird hingegen als unzulässig angesehen.65)
58 Allert/Seagon argumentieren zu Recht, der M&A-Prozess in Krisensituationen habe die Interessen einer Vielzahl sog. Stakeholder zu berücksichtigen (besicherte bzw. unbesicherte Gläubiger, Lieferanten, Arbeitnehmer inkl. Betriebsrat und Gewerkschaft, Öffentliche Hand, Gesellschafter, Kunden, Kaufinteressenten, Management sowie ggf. diejenigen des [vorl.] Insolvenzverwalters. Außerhalb von Unternehmenskrisen stehe hingegen lediglich der Ausgleich der Interessen von Kaufinteressenten und an einer Unternehmensveräußerung interessierten Gesellschaftern an, um den Transaktionsprozess zum Erfolg zu führen.66) ___________ 56) 57) 58) 59) 60) 61) 62) 63) 64) 65) 66)
Schröer, Das vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren, S. 29. Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 165 – 191. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 23. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 23. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 23. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1283. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1284. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1298. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1315. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1316. Allert/Seagon, Unternehmensverkauf in der Krise, S. 91.
1224
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
Hinsichtlich der taktischen Vorgehensweise sind außerhalb des Insolvenzverfahrens ins- 59 besondere die folgenden Fragen von Bedeutung: x Liegt Überschuldung vor – welche Maßnahmen zu ihrer Beseitigung sind eingeleitet bzw. einzuleiten? Wie können die Kaufpreiserwartungen der Gesellschafter definiert werden und sind diese als realistisch anzusehen? x Zu welchem Zeitpunkt muss das Management zwingend Insolvenzantrag stellen? x Ist die Unternehmenskrise bereits öffentlich bekannt bzw. wann droht sie, bekannt zu werden? x Gibt es aus Sicht der Managements präferierte Gruppen potentieller Investoren und solche, bei denen Zurückhaltung zu üben ist?67) Nach Insolvenzantragsstellung kommen ergänzend die folgenden Fragen hinzu, um den 60 M&A-Prozess zielgerichtet durchführen zu können: x Zu welchem Zeitpunkt ist die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geplant? Besteht nach Eröffnung die Option einer Unternehmensfortführung und wenn ja, für welchen Zeitraum? x Liegen Vorüberlegungen hinsichtlich der geordneten Überleitung des Personals auf den Erwerber vor (Betriebsübergang nach § 613a BGB)? x Haben die Sicherungsgläubiger eine (vorläufige) Position hinsichtlich des zu erwartenden Abgeltungsbetrages auf mitzuveräußernde betriebsnotwendige Vermögensgegenstände geäußert68) bzw. liegen hier entsprechende Gutachten vor? 3.3
Ermittlung des Marktpreises i. R. eines strukturierten M&A-Prozesses
Ein besonderes Problemfeld in M&A-Transaktionen stellt die sowohl aus Sicht des Käufers 61 als auch des Verkäufers annehmbare Bewertung des Unternehmens dar. Die Ermittlung des „wahren“ oder „tatsächlichen“ Unternehmenswertes ist jedoch aus Sicht sowohl der Verkäufer- als auch der Käuferseite nicht möglich.69) „Der Wert eines Objektes […] ergibt sich aus den Eigenschaften, insbesondere aus dem Nutzen, den jemand der Sache […] beimisst.“70)
Abb. 7: Wert und Preis bei einer M&A-Transaktion
62
Für den Verkäufer annehmbare Preise
Bereich möglicher Preisvereinbarungen
Für den Käufer annehmbare Preise
Entscheidungswert des Verkäufers
Entscheidungswert des Käufers
Geldeinheiten
Quelle: Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 167.
___________ 67) 68) 69) 70)
Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 33. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 33. Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 167. Born, Unternehmensanalyse, S. 5.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
63 Der Nutzen, und damit der Wert eines Unternehmens, besteht aus dem Barwert der NettoÜberschüsse, die mit dem Unternehmen im Planungszeitraum erwirtschaftet werden können.71) Born sieht für die Bewertung eines Unternehmens grundsätzlich drei Anhaltspunkte:72) x
Barwert der zukünftigen Nettoausschüttungen, auch Ertragswert oder Zukunftserfolgswert genannt;
x
Vergleich mit Kaufpreisen, die für vergleichbare Unternehmen gezahlt wurden (Marktwert);
x
Vergleich mit den Kosten für die Errichtung eines vergleichbaren Unternehmens (Substanzwert).
64 Die Ermittlung des Zukunftserfolgswertes wie auch die verschiedenen Ausprägungen der Ermittlung eines Marktwertes finden sich in nachstehendem Schaubild wieder. 65 Abb. 8: Übersicht zu den gängigen Verfahren der Unternehmensbewertung Comparable Transactions Analysis (CTA)
Comparable Companies Analysis (CCA)
• Schätzung „fiktiver“ Kaufpreis
• Schätzung „fiktiver“ Kaufpreis
• Bezugnahme auf gezahlte Preise vergleichbarer Transaktionen
• Bezugnahme auf Börsenwert vergleichbarer Unternehmen
Discounted Cash Flow Analysis (DCF) • Barwert zukünftiger Einzahlungsüberschüsse • Unterstellte Geschäftsentwicklung basiert auf Unternehmensplannung
Reflektiert Angebot und Nachfrage zum Verkauf stehender Unternehmen Übersichtliche und leichte Einschätzung möglich
Effinenz des Marktes reflektiert Branchentrends, Geschäftsrisiko, etc. im Bördenwert Übersichtliche und leichte Einschätzung mögliche
Berücksichtigt das langfristige, zukünftige Ertragspotenzial nicht durch kurzfristige Marktschwankungen beeinflusst Szenarienrechnungen möglich
Begrenzte Aussagefähigkeit durch: – bedingte Vergleichbarkeit der Transaktionen – erhebliche Marktschwankungen
Begrenzte Aussagefähigkeit durch: – bedingte Vergleichbarkeit der Vergleichsgruppe – erhebliche Marktschwankungen
Starke Sensitivität bezüglich der Annahmen über Diskontierungssatz und Wachstumsrate
Ableitung aus Vergleichstransaktionen, die oftmals Synergien/strategische Prämien beinhalten
Vergleich mit börsennotierten Unternehmen des gleichen Branchensegments
Zukunftsorientiertes Bewertungsverfahren, welches insbesondere das Wertpotenzial aufzeigt
Quelle: Eigene Darstellung.
66 In der Praxis der Unternehmensbewertung bei M&A-Transaktionen spielt der Substanzwert keine Rolle, da er nichts über den zukünftigen Nutzen des Unternehmens aussagt. Born geht noch weiter und formuliert: „Der Substanzwert eines Unternehmens ist eine vergangenheitsorientierte Größe und sagt nichts über den zukünftigen Nutzen des Unternehmens aus. Wegen der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, immaterielle Vermögensgegenstände zu bewerten, gibt er noch nicht einmal Auskunft über die Kosten für die Errichtung eines vergleichbaren Unternehmens. Der Substanzwert ist deshalb für die Ermittlung eines Unternehmenswertes nicht brauchbar.“73)
___________ 71) Born, Unternehmensanalyse, S. 6. 72) Born, Unternehmensanalyse, S. 6. 73) Born, Unternehmensanalyse, S. 12.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
In Ausnahmefällen dient der Substanzwert als Orientierungsgröße oder Hilfswert. Bezogen 67 auf die Bewertung von Unternehmen i. R. von Insolvenzverfahren sind nachstehende Überlegungen aufschlussreich: Die insolvenzrechtlich erforderliche Erstellung einer Vermögensübersicht des schuldne- 68 rischen Unternehmens sieht nach § 153 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 151 Abs. 2 InsO vor, dass die Einzelveräußerungs- oder Liquidationswerte der Gegenstände des Anlage- und Umlaufvermögens ihren Fortführungswerten gegenüberzustellen sind.74) Die Angabe der Fortführungswerte folgt der Überlegung des Gesetzgebers, die Erlöserwartung der Gläubiger im Falle der Unternehmensfortführung auf die einzelnen Vermögensgegenstände „herunterzubrechen“. Sinhart führt aus, dass das krisenbehaftete Unternehmen in der Regel keinen positiven Cashflow erwirtschaftet, so dass zumindest in der stand alone-Betrachtung die Anwendung der DCF-Bewertungsmethode nicht zielführend sei.75) Aus Investorensicht steht eher die Frage im Vordergrund, welche zukünftigen Einnahmen-Überschüsse im Zuge des Erwerbs des fortgeführten Unternehmens oder aber seines Geschäftsbetriebes erwirtschaftet werden.76) Höffner ist der Auffassung, dass der Insolvenzverwalter den erforderlichen finanziellen Auf- 69 wand zur Wiedererlangung einer nachhaltigen Ertragskraft des erworbenen Unternehmens/ Geschäftsbetriebs nicht einschätzen kann, so dass die Ermittlung eines Unternehmenswertes nicht möglich sei.77) Die Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i. d. F. 2008) 70 sehen im Gegensatz zu Höffner bei der Bewertung ertragsschwacher Unternehmen (Kapitalverzinsung liegt nachhaltig unterhalb des Kapitalisierungszinssatzes) i. R. der Betrachtung eines Fortführungskonzeptes Folgendes vor: bei der Ermittlung eines objektivierten Unternehmenswertes78) (Stand-alone-Betrachtung, siehe unten Rz. 63) sind lediglich die bereits eingeleiteten Maßnahmen zur Überwindung der Ertragsschwäche zu berücksichtigen. Im Rahmen der Ermittlung eines subjektiven Entscheidungswertes79) (subjektiver Kaufpreis, siehe unten Rz. 79) können darüber hinaus geplante, von einem Erwerber durchzuführende Maßnahmen, Berücksichtigung finden. Hierbei wird der Barwert der zukünftig mit dem sanierten Unternehmen bzw. Geschäftsbetrieb zu erwirtschaftenden Zahlungsüberschüsse ermittelt.80) Der IDW S 1 besagt auch, dass der insoweit ermittelte Unternehmenswert einem Zer- 71 schlagungswert bei Stilllegung des Geschäftsbetriebes und separater Veräußerung der Vermögensgegenstände gegenüberzustellen ist, sofern im jeweiligen Einzelfall die Unternehmenszerschlagung eine denkbare Alternative darstellt. Der Unterschied zur Bewertung gesunder Unternehmen ist nach Born lediglich, „[…] daß in den nächsten Jahren wegen der Umstrukturierung nur ein geringer oder sogar ein negativer Cash-flow anfällt.“81)
___________ Höffner, ZIP 1999, 2088. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1310. Born, Unternehmensanalyse, S. 12. Höffner, ZIP 1999, 2088, 2091. IDW Standard, Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i. d. F. 2008), Stand: 4.7.2016, S. 12, WPg Supplement 3/2008, S. 68 ff., IDW Life 8/2016, S. 731. 79) IDW Standard, Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i. d. F. 2008), Stand: 4.7.2016, S. 15, WPg Supplement 3/2008, S. 68 ff., IDW Life 8/2016, S. 731. 80) IDW Standard, Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i. d. F. 2008), Stand: 4.7.2016, S. 34, WPg Supplement 3/2008, S. 68 ff., IDW Life 8/2016, S. 731. 81) Born, Unternehmensanalyse, S. 173. 74) 75) 76) 77) 78)
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§ 33
Teil V Einzelfragen
72 Die gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 151 Abs. 2 InsO i. R. der Erstellung einer Vermögensübersicht vorgeschriebene Einwertung der Aktiva des schuldnerischen Unternehmens nach Fortführungswerten, die regelmäßig im vorläufigen Insolvenzverfahren durchgeführt wird, ist von der Bewertung des Unternehmens bzw. seines Geschäftsbetriebes somit deutlich abzugrenzen. 73 Wesentliche Parameter zur Entscheidung zwischen Liquidation und Fortführung sind somit einerseits der Liquidationswert der Vermögensgegenstände sowie andererseits der ermittelte Unternehmenswert (Barwert der zukünftigen Einnahmenüberschüsse). Das IDW schlussfolgert: „Ist der Barwert der finanziellen Überschüsse aus der Zerschlagung (Liquidation) eines Unternehmens höher als der Barwert der finanziellen Überschüsse bei Fortführung des Unternehmens, bildet grundsätzlich der Liquidationswert die Wertungsuntergrenze der Unternehmensbewertung.“82)
74 Fortführungswerte folgen einer anderen Logik: „Für die Bewertung der Vermögensgegenstände bei günstiger Fortführungsprognose soll der Wert als maßgeblich angesehen werden, für den ein (potenzieller) Käufer den Vermögensgegenstand beschaffen kann (= Wiederbeschaffungswert).“83)
75 Fortführungswerte weichen somit in der Regel deutlich vom Wert des Unternehmens bzw. des Geschäftsbetriebs ab. 76 Bereits Eugen Schmalenbach hob die Maßgeblichkeit der, mit einem Unternehmen zu erzielenden, zukünftigen Erfolge hervor und relativierte die von anderer Seite betonte Bedeutung einer Substanzwertbetrachtung, die sich im Fortführungsszenario in den Fortführungswerten ausdrückt.84) Die Bezugnahme auf Fortführungswerte als dominierende Entscheidungsgrundlage für die Veräußerung eines Unternehmens bzw. eines Geschäftsbetriebes i. R. eines Insolvenzverfahrens kann sich daher als massives Transaktionshemmnis auswirken. Als Folge droht dann die Liquidation, die mit dem Verlust der Arbeitsplätze und einer unzureichenden Gläubigerbefriedigung verbunden ist. 77 Mitlehner stellt klar, der Wert eines Geschäftsbetriebes sei unter Fortführungsgesichtspunkten nach dem Ertragswert- oder Discounted-Cashflow-Verfahren zu ermitteln – die nach § 151 Abs. 2 InsO vorgeschriebene Einzelsubstanzbewertung bilde hier jedoch gerade keine sachgerechte Betrachtungs- und Entscheidungsgrundlage.85) 78 Sinhart weist darauf hin, dass die Unternehmensbewertung nach Ertragswert- oder Cashflow-Modellen der Aufgabe und Entscheidungsmatrix eines Insolvenzverwalters nicht gerecht werde.86)
___________ 82) IDW Standard, Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i. d. F. 2008), Stand: 4.7.2016, S. 34, WPg Supplement 3/2008, S. 68 ff., IDW Life 8/2016, S. 731. 83) Brennecke/Augustin/Jauch, Regelinsolvenz: Einführung in das Insolvenzrecht, Teil-4-4-1-Bewertungder-Vermoegensgegenstaende. 84) Schmalenbach, Beteiligungsfinanzierung, S. 57. 85) Mitlehner, ZIP 2000, 1825, 1827. 86) Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1311.
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§ 33
M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
Abb. 9: Objektivierter Unternehmenswert in Abgrenzung zum subjektiven Kaufpreis Ertragswert, DCF-Verfahren
Strategische Überlegungen
Bieterwettbewerb
79
Finanzierung
Marktpositionierung
Geschäftsmodell
Objektivierter Wert
+
Strategische Prämie
=
Subjektiver Kaufpreis
Kunden/ Know-how Vergleichswerte
• • • •
Steuerliche Optimierung
Unternehmerische Führung
Synergieeffekte
Durchführung einer indikativen Bewertung als Grundlage eines belastbaren Wertargumentariums Zugrunde gelegter Business Plan muss konsistent und belastbar sein Quantifizierung realisierbarer Kosten- und Vertriebssynergien sowie möglicher Einflussfaktoren auf strategische Prämie Entscheidung über angemessenen Kaufpreis durch den Käufer
Quelle: Eigene Darstellung.
Nach Born handelt es sich bei dem Marktwert eines Unternehmens bzw. eines Geschäfts- 80 betriebes um einen „sich aus dem Spiel von Angebot und Nachfrage ergebenden Gleichgewichtspreis.“87) Picot ist der Meinung, dass der von einem Erwerber gezahlte Kaufpreis maximal der Summe aus Unternehmenswert und durch den Erwerber realisierbarer Synergien, abzüglich der Transaktionskosten ausmacht.88) Zu berücksichtigen sind im Zusammenhang mit der Unternehmensbewertung auch die 81 später noch zu charakterisierenden Investorengruppen. Während strategische Investoren in der Lage sind – sofern der Bieterwettbewerb im M&A-Prozess dieses von ihnen verlangt – einen Teil der nach Erwerb durch Integration des zu erwerbenden Betriebs(teils) zu realisierenden Synergie-Effekte i. R. der Dimensionierung des Kaufpreises zu vergüten (Abbildung eines strategischen Kaufpreiszuschlags im subjektiv angebotenen Kaufpreis), kalkulieren Finanzinvestoren ihren Kaufpreis i. R. einer Stand-alone-Betrachtung der erwarteten Zahlungsüberschüsse des Zielunternehmens (sog. „objektivierter Unternehmenswert“).89)
___________ 87) Born, Unternehmensanalyse, S. 15. 88) Picot, Hdb. M&A, S. 151. 89) Born, Unternehmensanalyse, S. 21.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
82 Abb. 10: Entstehung von Synergiepotentialen durch Ergänzung Wertschöpfungskette
Bisherige Wertschöpfungskette des Kaufinteressenten
Wertschöpfung bzw. Marge
Wertschöpfungskette des zu verkaufenden Unternehmens Kontakt zu Endkunden Wertschöpfung bzw. Marge
Wertschöpfungskette des kombinierten Unternehmens Kontakt zu Endkunden Wertschöpfung bzw. Marge (erhöht durch Verlängerung der Wertschöpfungskette sowie durch Nutzung von Synergien)
Strategischer Vorteil des Endkundenkontakts erlangt
Quelle: Eigene Darstellung.
83 Abb. 11: Kaufpreiskalkulation unter Berücksichtigung realisierbarer Synergie Unternehmenswert (isoliert)
+ Wertsteigerung (operativ)
+ Wertsteigerung (Synergien)
./. Integrationskosten
./. Transaktionskosten
= Antizipierte Wertsteigerungsmöglichkeit
Unternehmenswert (neu) Kaufpreispotenzial
Quelle: Eigene Darstellung.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Während die rechnerische Ermittlung eines Unternehmenswertes i. R. des M&A-Prozesses 84 als objektivierter Unternehmenswert (Stand-alone-Wert)90) somit eine Orientierungsgröße für Gesellschafter, Finanzierer, Sanierungsberater, Eigenverwalter, Insolvenzverwalter, Sachwalter, Gläubigerausschuss und Gläubigerversammlung (alle zusammen „Entscheider“ genannt) darstellen, bildet sich im wettbewerblichen Verkaufsprozess ein Marktpreis heraus, der anhand des zuvor ermittelten objektivierten Unternehmenswertes zu plausibilisieren ist. Die Durchführung eines strukturierten M&A-Prozesses dient daher der optimalen Entwicklung eines Bieterwettbewerbs unter den möglichen Interessenten. Ziel ist es hierbei, die Interessenten unter Zugzwang zu setzen, hinsichtlich des Kaufpreises und der Vertragsstruktur möglichst nahe an ihre individuelle Verhandlungsgrenze zu gehen, um den Zuschlag zu erhalten.91) Strukturierte M&A-Prozesse dienen somit der Optimierung des Transaktionserlöses und erleichtern zudem aufgrund der geschaffenen Transparenz über die Höhe und Qualität konkurrierender Gebote sowie die vertragliche Ausgestaltung der angestrebten Transaktion eine objektivierte Auswahl auf Seiten der Entscheider. Fundamental wichtig ist die Abgrenzung zwischen dem Gesamtwert des Unternehmens 85 und dem Wert des Eigenkapitals:92) x
Gesamtwert des Unternehmens: Barwert der zukünftigen Einzahlungsüberschüsse, nicht bereinigt um den Marktwert des Fremdkapitals. Hier ist wieder zu differenzieren: in Share-Deal-Transaktionen innerhalb und außerhalb von Insolvenzverfahren gehen implizit die am Transaktionsstichtag bestehenden Verbindlichkeiten aller Art, die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen sowie Kassenbestand/Kontoguthaben auf den Erwerber über. Die Perspektive bei einer übertragenden Sanierung unterscheidet sich hiervon: die Passivseite wie auch Kontoguthaben/Kassenbestand sowie die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen werden in der Regel nicht an den Erwerber nicht übertragen.
x
Wert des Eigenkapitals – nur relevant für einen Share Deal: Barwert der zukünftigen Einzahlungsüberschüsse – ggf. bereinigt um den Marktwert des Fremdkapitals am Transaktionsstichtag (Perspektive i. R. der Umsetzung eines Insolvenzplans, zu untergliedern nach „vor Verzicht“ und „nach Verzicht“).
___________ 90) Born, Unternehmensanalyse, S. 21. 91) Schulz/Tauer, KSI, Heft 3/2008, S. 101, 102. 92) Born, Unternehmensanalyse, S. 131 – 132.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
86 Abb. 12: Transaktionsstruktur i. R. einer übertragenden Sanierung Schuldnerin
NewCo/Transaktionsgegenstand Anlagevermögen Imm. Vermögensgegenstände
Übertragende Sanierung (Asset Deal)
Sachanlage Unternehmenswert
Finanzanlage Umlaufvermögen Vorräte Goodwill Kundenstamm vorhandene Aufträge Branding (Markenname) Know-how (Belegschaft)
Keine Übertragung der • Forderungen aus Lieferungen und Leistungen (optional) • Verbindlichkeiten • Kasse und Bankguthaben
Working Capital Anpassung
• Aufgrund der individuellen Transaktionsstruktur im Rahmen einer übertragenden Sanierung (keine Übertragung der Forderungen und Verbindlichkeiten) und des damit verbundenen WorkingCapital-Anpassungsbedarfs ergibt sich möglicherweise ein Effekt auf die Ableitung des Unternehmenswertes.
Quelle: Eigene Darstellung.
87 Eine Besonderheit ist i. R. der übertragenden Sanierung im Vergleich zu sonstigen AssetDeal-Transaktionen zu beachten: Üblicherweise behält der Insolvenzverwalter die Passiva93) und die Forderungen des schuldnerischen Unternehmens zurück und zieht die Forderungen selber ein. Grund für die Nicht-Veräußerung der Forderungen ist, dass Käufer und Verkäufer in der Regel unterschiedliche Einschätzungen zur Werthaltigkeit von Forderungen i. R. von Insolvenzverfahren haben. In der Regel wird sich ein krisenbehaftetes Unternehmen im Vorfeld des Insolvenzantrags bemühen, möglichst viel Liquidität zu generieren und die Forderungen nach Möglichkeit einzuziehen. Insoweit zweifeln Investoren in der Praxis häufig an der Werthaltigkeit der Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, die daher in der Regel aus dem Paket des Unternehmensverkaufs herausgenommen werden, um eine Veräußerung unter Wert zu vermeiden. Hinzu kommt der mit einer Übertragung der Forderungen an den Erwerber vorhandene Aufwand durch Abschluss entsprechender dreiseitiger Vereinbarungen zwischen Abnehmer, Lieferant und Unternehmenskäufer. Somit wird an den Investor in der Regel nicht die Gesamtheit der Vermögensgegenstände veräußert. Der Asset Deal gibt somit die Möglichkeit, lediglich Teilbereiche des Unternehmens zu erwerben.94) Der Investor verfügt allerdings nach Erwerb des Geschäftsbetriebs nicht über unmittelbare Zahlungsströme aus eingezogenen Forderungen und muss daher für die Anlaufphase nach Übernahme eine entsprechende Betriebsmittelfinanzierung arrangieren. Den hierfür erforderlichen Kapitalbetrag ziehen Investoren bei der Ermittlung des Kaufpreises für den Geschäftsbetrieb i. R. der übertragenden Sanierung vom ermittelten Gesamtwert des Unternehmens ab. ___________ 93) Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1299. 94) Thierhoff/Liebscher in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, S. 270.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Zusammenfassend ist zu differenzieren zwischen den verschiedenen Perspektiven der Un- 88 ternehmensbewertung und der Kaufpreisverhandlung i. R. eines vorinsolvenzlichen Unternehmensverkaufs oder aber einer Unternehmensveräußerung i. R. eines eröffneten Insolvenzverfahrens. Beide Konstellationen beinhalten die Möglichkeit zur Umsetzung eines Verkaufs von Geschäftsanteilen (Share Deal) oder aber einer Veräußerung des Geschäftsbetriebes (Asset Deal). Im Eröffnungsverfahren hingegen finden nur in sehr seltenen Ausnahmefällen Unternehmensverkäufe statt.95) 4.
Bezug zur Betriebsfortführung
Die Betriebsfortführung eines krisenbehafteten oder aber insolventen Unternehmens durch 89 Geschäftsführung/Gesellschafter bzw. im Insolvenzfall durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter, oder aber die Eigenverwaltung mit Zustimmung des (vorläufigen) Sachwalters bildet die entscheidende Grundvoraussetzung für einen Erfolg versprechenden M&AProzess in der Krise. Nach Wellensiek „[…] hat die Sanierung eines insolventen Unternehmens von vornherein nur dann Erfolgschancen, wenn es gelingt, ohne längere Unterbrechungen den Betrieb weiterzuführen.“96)
Nach Feser besteht die Funktion der Betriebsfortführung zum einen darin
90
„[…] die Eröffnungsvoraussetzungen des Insolvenzverfahrens zu schaffen und zum anderen die im Insolvenzverfahren bestehenden Verwertungsoptionen bis zum Berichtstermin für die Gläubiger zu erhalten“.97)
Auch außerhalb von Insolvenzverfahren kann ein stillgelegter Geschäftsbetrieb in der Regel 91 mangels Attraktivität aus Investorensicht nicht veräußert werden, so dass für Gesellschafter und Gläubiger kein nennenswerter Erlös generiert werden kann. Neben der Vermeidung eines Masseverzehrs i. R. der Betriebsfortführung kommt der Si- 92 cherung der Liquidität außerhalb von Insolvenzverfahren, im Antragsverfahren wie auch im eröffneten Insolvenzverfahren eine maßgebliche Bedeutung zu. Hier stehen direkte und indirekte Finanzierungsmittel, u. a. ein Sale-and-Lease-(bzw. Mietkauf)-Back des beweglichen Sachanlagevermögens bzw. im Insolvenzverfahren das Massedarlehen, zur Verfügung.98) Im Falle einer Liquiditätskrise eines Unternehmens, dessen Geschäftsführung noch nicht unmittelbar zur Stellung eines Insolvenzantrags verpflichtet ist, kann häufig nur unter Rückgriff auf externe Finanzierungsmittel (Sale-and-Lease-[bzw. Mietkauf]-Back des beweglichen Sachanlagevermögens oder aber Sanierungsdarlehen der involvierten Banken i. V. m. doppelnütziger Treuhand sowie Beiträge der Gesellschafter) der Zeitrahmen für Durchführung und Abschluss eines M&A-Prozesses sichergestellt werden, um während des Verkaufsprozesses eine Insolvenzantragspflicht zu vermeiden.99) Ziel des M&A-Prozesses i. R. der Betriebsfortführung ist es somit im Insolvenzverfahren 93 für die Gläubiger durch Gewinnung eines Investors, i. R. einer übertragenden Sanierung oder aber der Umsetzung eines Insolvenzplans, eine Konzeption zu entwickeln, die eine maximale, das Liquidationsszenario übertreffende, Befriedigung der Gläubigerinteressen erlaubt. Somit dient der M&A-Prozess bei der Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren– wie auch das Insolvenzverfahren selber – „der Verwirklichung der subjektiven Rechte der ___________ Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1315. Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199. S. dazu noch in der 3. Aufl., Feser, § 3 Rz. 64. Oppermann, Finanzierung des Insolvenzverfahrens aus Sicht des Insolvenzverwalters, Vortrag v. 20.9.2011, S. 2 – 3. 99) Deloitte, Distressed M&A-Unternehmensverkauf als Sanierungsoption in Krise und Insolvenz, Stand: 19.3.2013, S. 7, abrufbar unter http://www.restrukturierungsforum.de/assets/file/Vortrag_Deloitte_ Distressed%20MA_19032013.pdf (Abrufdatum: 15.12.2022).
95) 96) 97) 98)
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§ 33
Teil V Einzelfragen
Insolvenzgläubiger.“100) Außerhalb des Insolvenzverfahrens dient der M&A-Prozess der Erzielung eines maximalen Kaufpreises für die Gesellschafter101) i. V. m. der Übernahme der Verbindlichkeiten durch den Erwerber. Im Rahmen von Unternehmenskrisen üben somit die Gläubiger in hohem Masse Einfluss auf die im Zuge des Investorenprozesses zu treffenden Entscheidungen aus.102) Zum Lösungspaket gehören häufig außergerichtliche Verständigungen über Gläubigerverzichte oder aber Käufer und Verkäufer verständigen sich (wirtschaftlich führen beiden Varianten für den Käufer zu einem vergleichbaren Ergebnis) auf einen symbolischen oder gar negativen Kaufpreis für die Geschäftsanteile.103) Ein negativer Kaufpreis kann von Konzernen, die sich von Randaktivitäten trennen, akzeptiert werden. Familien, die sich von ihrem krisenbehafteten Unternehmen trennen, sind in der Regel nicht bereit und in der Lage, sich über einen negativen Kaufpreis von der Rolle als Gesellschafter „freizukaufen“.104) II.
Wesentliche Schritte eines strukturierten M&A-Prozesses (Praxisbericht)
1.
Festlegung Transaktionsstrategie
94 Zu Beginn legen Mandant und M&A-Berater die Zielsetzung des M&A-Prozesses fest und leiten hieraus die Transaktionsstrategie ab. 95 M&A-Prozesse i. R. von Restrukturierung und Insolvenz verfolgen als Zielsetzung in der Regel x
die Veräußerung der Geschäftsanteile in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit weitergehenden Maßnahmen des Erwerbers zur Beseitigung der Unternehmenskrise – z. B. i. R. einer Kapitalzufuhr,105) – ohne Insolvenzantrag,
x
die Veräußerung des Geschäftsbetriebes i. R. einer übertragenden Sanierung oder
x
den, in der Regel mehrheitlichen, Eintritt eines Investors zur Durchführung einer Kapitalerhöhung bei der insolventen Gesellschaft i. R. eines Insolvenzplans.106)
96 Alle drei Gestaltungsziele verfolgen eine wertoptimierende Transaktionsstrategie und tragen damit zu einer Befriedigung der Gläubigerinteressen – bzw. in Fall 1 auch ggf. Gesellschafterinteressen – bei. Grundvoraussetzung für alle Gestaltungsvarianten ist eine Fortführung des Unternehmens. Kommt es zu einer Betriebsstilllegung, so ist in der Regel aus Investorensicht kein werthaltiger Kern vorhanden, so dass lediglich die Einzelverwertung der Vermögensgegenstände in Betracht kommt. 97 Die in Restrukturierung und Insolvenz zu verfolgende Transaktionsstrategie hängt somit von der Zielsetzung der Sanierung ab. x
In dem einen Fall wird der Geschäftsbetrieb des insolventen Rechtsträgers auf einen Erwerber übertragen und der insolvente Rechtsträger anschließend abgewickelt. In der Literatur wird insoweit die übertragende Sanierung auch als eine Untervariante der Liquidation beschrieben, da der schuldnerische Rechtsträger sein operatives Geschäft veräußert und anschließend liquidiert wird.107)
___________ 100) 101) 102) 103) 104) 105) 106) 107)
Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337, 1338. Bauer/v. Düsterlho, Distressed M&A, S. 23. Schröer, vorinsolvenzliche M&A-Prozesse, S. 29. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1295. Deichmann, Unterschiedliche Mandantenkategorien, S. 24. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1285. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1299. Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1299.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
x
Der Insolvenzplan mit Eintritt des neuen Mehrheitsgesellschafters verfolgt das Ziel der Reorganisation und des langfristigen Erhalts des insolventen Rechtsträgers. Im Rahmen der Reorganisation des insolventen Rechtsträgers können – sofern mit dem Gläubigerinteresse vereinbar – auch in bestimmtem Umfang Interessen der bisherigen Gesellschafter des insolventen Unternehmens verfolgt werden. In der Praxis hat sich zuletzt immer häufiger gezeigt, dass nicht nur der Rechtsträger erhalten, sondern auch die Beteiligungsverhältnisse unangetastet werden sollen.108). Hierdurch kann das Interesse der Gläubiger an der Durchsetzung ihrer Rechte massiv behindert werden.
x
Die Veräußerung der Geschäftsanteile durch die Gesellschafter unter vollständiger oder weitgehender Übernahme der Schulden des krisenbehafteten Unternehmens verfolgt das Ziel einer vollständigen oder weitgehenden Gläubigerbefriedigung verbunden mit der Vermeidung der für die Altgesellschafter mit einer Insolvenz verbundenen Risiken, des negativen Effekts in der Öffentlichkeit und der Generierung eines ggf. noch symbolischen Kaufpreises zugunsten der Altgesellschafter.
2.
Vorbereitung der Ansprachedokumentation
Zur ausführlichen Erstinformation der anzusprechenden Investoren-Interessenten wird 98 ein Informationsmemorandum (Fließtext) oder aber ein Fact Book in Präsentationsform erstellt. Nachstehend ein Überblick über die wesentlichen Inhalte eines solchen Dokumentes: Abb. 13: Aufbau und Inhalt Fact Book
99
Aufbau und Inhalt Fact Book 1. Executive Summary
3.2 Beschreibung des Geschäftsgegenstandes
1.1 Überblick über die Geschäftstätigkeit
3.3 Produkt- und Dienstleistungsspektrum
1.2 Finanzielle Eckdaten
3.4 Organisation/Management Team/Personal
1.3 Investoren-Rationale
3.5 Prozesse und Ressourcen-Allokation
1.4 Ablauf Transaktionsprozess
3.6 Struktur des Kundenportfolios
2. Markt und Wettbewerb
3.7 Marketing/Vertrieb/Geschäftsanbahnung
2.1 Marktüberblick
3.8 Restrukturierungs- und Geschäftsstrategie
2.2 Marktentwicklung
4. Finanzdaten
2.3 Wettbewerbsumfeld
4.1 Historie/Laufendes Geschäftsjahr/Geschäftsplan
2.4 Marktpositionierung (SWOT-Profil)
4.2 Auftragsbestand und -vorlauf
3. Darstellung des Unternehmen im Einzelnen
4.3 Working Capital-Entwicklung
3.1 Historie und aktueller Status Quo
4.4 Bilanzauswerung/Vermögensbewertung
• Das Exposé soll die angebotene Investitionsopportunität umfassend erläuterm und den potenziellen Investoren die Abgabe eines indikativen Angebotes ermöglichen • Detaillierte Heraisarbeitung der Marktattraktivität sowie des Geschäftspotenzials • Zurückhaltung von besonders sensiblen, u. U. wettbewerbsrelevanten Informationen für spätere Prozessphasen
Quelle: Eigene Darstellung.
___________ 108) Rebholz/Deichmann, Sanierung & Restrukturierung Heft 8 (12/2021), S. 6, 7.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
100 Das Fact Book sollte einen Investoren-Interessenten in die Lage versetzen, eine Entscheidung über die Weiterverfolgung des Investitionsvorhabens zu treffen und ein indikatives Erwerbsangebot abzugeben. 101 Allerdings wird ein solches Dokument erst nach Unterzeichnung einer nach üblichen Standards ausformulierten Vertraulichkeitsvereinbarung109) zur Verfügung gestellt.110) Die Erstansprache der Interessenten erfolgt in der Regel auch in Krisensituationen und Insolvenzverfahren über ein neutralisiertes Kurzprofil, um den möglichen Kollateralschaden der Transaktion für das im Transaktionsprozess befindliche Unternehmen zu minimieren. Nachstehend ein Beispiel für ein neutralisiertes Kurzprofil: 102 Abb. 14: Aufbau und Inhalt Kurzprofil (Teaser wird auf anonymer Basis erstellt – „One-Pager“) Aufbau und Inhalt Kurzprofil 1. Projekthintergrund Kurzbeschreibung/Darstellung Unternehmen Zielsetzung und Rationale Transaktionsvorhaben Rolle des M&A-Beraters und Darstellung des Prozederes 2. Investment Highlights Kurzbeschreibung Investment Case/Rationale aus Erwerbersicht Darstellung der Stärken und der bestehenden Potenziale 3. Finanzkennzahlen Eckpunkte wesentlicher Schlüsselkennzahlen (z. B. Umsatz, Ergebnis, Mitarbeiter) 4. Weiteres Vorgehen Darstellung der weiteren Vorgehensweise Abbildung der Kommunikationskanäle
Quelle: Eigene Darstellung.
3.
Identifikation und Interessenlage der im Transaktionsprozess anzusprechenden Investoren-Interessenten
103 Als Investoreninteressenten kommen in erster Linie sowohl Finanzinvestoren als auch mögliche strategische Käufer in Betracht.111) Darüber hinaus treten in Insolvenzverfahren als Käufer häufig auch Privatpersonen aus dem Unternehmen auf.112) 3.1
Finanzinvestoren
104 Finanzinvestoren und Family Offices verfolgen in der Regel das Ziel, innerhalb eines Zeitraums von drei bis sieben Jahren, das i. R. einer Unternehmenstransaktion eingesetzte Kapital durch Veräußerung des Unternehmens zu vervielfachen.113) Innerhalb dieses Zeitraums soll das investierte Eigenkapital eine hohe Rendite erwirtschaften, „die dann an die Investoren (= Anleger, die einem Private Equity Fonds ihr Kapital zur Verfügung gestellt haben ___________ 109) 110) 111) 112) 113)
Picot, Hdb. M&A, S. 194. Picot, Hdb. M&A, S. 180. Achleitner, Hdb. Investment Banking, S. 205. Ehlers/Meimberg, ZInsO 2010, 1169, 1172. Eilers/Koffka in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 11.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
[Anm. des Verfassers]) weitergereicht werden kann“.114) Konkret soll der Betrag der eingesetzten Eigenmittel während der Halteperiode in der Regel verdoppelt oder verdreifacht werden. Finanzinvestoren entnehmen dem Unternehmen üblicherweise keine Ausschüttungen. Allerdings refinanzieren sie – außerhalb von Krisensituationen – häufig einen bedeutenden Teil des Kaufpreises über die Aufnahme von Krediten. In diesem Fall nehmen Sie nach der Akquisition eine Verschmelzung der eingeschalteten Erwerbsgesellschaft mit der Zielgesellschaft vor, so dass der Kapitaldienst der Erwerbsgesellschaft direkt die Überschüsse des operativen Geschäftes der Zielgesellschaft mindert.115) Finanzinvestoren führen nach Umsetzung einer Akquisition Optimierungsmaßnahmen zur 105 Steigerung und Verstetigung der Profitabilität der Zielgesellschaft durch.116) Strukturelle Veränderungen infolge der Nutzung unternehmerischer Synergien (Zusammenlegung betrieblicher Einheiten des Zielunternehmens mit vorhandenen Aktivitäten) erfolgen nur bei sog. Folge-Akquisitionen über bereits vorhandene Beteiligungen. Im Falle der Übernahme einer Zielgesellschaft als Erst-Investment steht die Nutzung unternehmerischer Synergien nicht im Vordergrund, so dass in der Regel alle betriebsnotwendigen Unternehmensfunktionen erhalten bleiben.117) Auf die Qualität, Kontinuität und Motivation des vorhandenen Managements des Zielunternehmens wie auch die gemeinsame Verabschiedung eines mittelfristigen Businessplans legen Finanzinvestoren großen Wert, da sie selber keine aktive Rolle in der Unternehmensführung übernehmen.118) Private-Equity-Investoren stellen „durch eine Beteiligung des Managements den Interessengleichlauf zwischen Investor und Management“ her.119) Das Spektrum der am deutschen Markt tätigen Finanzinvestoren gliedert sich u. a. in solche, 106 die in profitable und wachsende Unternehmen investieren, und solche, die ihren Investitionsfokus auf Unternehmen in Umbruch- und Sondersituationen ausgerichtet haben; den besonderen Chancen auf Wertsteigerung stehen i. R. unternehmerischer Krisen auch entsprechende Risiken, das eingesetzte Kapital zu verlieren, gegenüber.120) Innerhalb der Gruppe der auf Unternehmen in Umbruch- und Sondersituationen ausgerichteten Finanzinvestoren ist zu unterscheiden zwischen Investoren, die am Erwerb von Unternehmen aus der Insolvenz interessiert sind und solchen, die sich in Insolvenzsituationen zurückhalten. Grund für die Zurückhaltung bei Insolvenzverfahren ist hier in der Regel, dass der i. R. eines Insolvenzverfahrens zum Erwerb stehende Betrieb/Betriebsteil durch den Insolvenzverwalter bereits weitgehend leistungswirtschaftlich und kostenseitig optimiert wird. Somit sind die nach Erwerb zu realisierenden Verbesserungspotentiale limitiert. Gerade aber die Hebung der Verbesserungspotentiale kann eine bedeutende Wertsteigerung herbeiführen. Darüber hinaus fällt einigen Finanzinvestoren, die auf keine festen Kapitalzusagen durch Anleger zurückgreifen können, die Beschaffung der liquiden Mittel für die Entrichtung eines häufig substantiellen Barkaufpreises beim Erwerb von Geschäftsbetrieben schwer. Finanzinvestoren limitieren ihren Kapitaleinsatz in der Regel auf einen Betrag, der, in Rela- 107 tion zu den kurzfristig erwarteten Überschüssen, eine attraktive Rendite auf das eingesetzte Eigenkapital verspricht. Daher sind Finanzinvestoren üblicherweise zurückhaltend, wenn nach Übernahme ein zusätzlicher Kapitalbedarf entsteht. Hieraus kann sich im Vergleich ___________ 114) 115) 116) 117) 118) 119) 120)
Eilers/Koffka in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 7. Eilers/Koffka in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 6. Eilers/Koffka in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 6. Eilers/Koffka in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 11. Allert/Seagon, Unternehmensverkauf in der Krise, S. 14. Eilers/Koffka in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 9 – 10. Rhein in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 223.
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1237
§ 33
Teil V Einzelfragen
zur Übernahme durch einen strategischen Investor ein höheres Risiko für eine Folge-Insolvenz ergeben. 3.2
Strategische Investoren
108 Die Motive strategischer Investoren bei der Übernahme von Unternehmen/Unternehmensteilen können vielfältig sein; im Vordergrund stehen in der Regel: x
Ausbau des Kundenportfolios;
x
Verbreiterung des Produktspektrums;
x
Erwerb einer zusätzlichen Marke;
x
Ausbau der Wertschöpfung in vor- oder nachgelagerte Bereiche;
x
Gewinnung zusätzlicher Produktionskapazitäten;
x
Realisierung von Economies of Scale;
x
Gewinnung gut ausgebildeter Fachkräfte.121)
109 Aus diesen Akquisitionsüberlegungen heraus lässt sich ein Investorenprofil ableiten, dass es dem M&A-Berater erlaubt, im Zuge einer Internet- und Datenbank-Recherche eine hinreichende Grundgesamtheit von strategischen Investoren-Interessenten zu ermitteln (Longlist). Aus dieser Longlist wird im Dialog mit der Geschäftsleitung des insolventen bzw. krisenbehafteten Unternehmens/dem Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter der Kreis der tatsächlich anzusprechenden Investoren-Kandidaten abgeleitet (Shortlist). 110 Strategische Investoren streben an, im Zuge der Eingliederung des zu erwerbenden Unternehmens in den eigenen Verbund alle erzielbaren Effizienz-Reserven zu heben und sog. Synergie-Effekte zwischen der zu erwerbenden Einheit und dem vorhandenen eigenen Geschäft zu realisieren.122) 111 Hierdurch ergibt sich in der Regel ein Interesse des Erwerbers, einzelne Funktionen des zu erwerbenden Unternehmens anzupassen, zu verlagern oder mit bestehenden Aktivitäten zusammenzufassen. Nicht selten kommt es i. R. der Übernahme von Unternehmen durch strategische Investoren zu Anpassungen des Management-Teams, da in der Regel durch den Erwerber Know-how aus der entsprechenden Branche vorgehalten wird. 112 Häufig sind strategische Investoren – im Gegensatz zu reinen Finanzinvestoren – in der Lage, aufgrund des Interesses, die Produktionskapazitäten zu vergrößern bzw. Absatz oder Versorgung zu sichern,123) i. R. der Übernahme eines Unternehmens/Geschäftsbetriebes zusätzliche Aufträge beim übernommenen Betriebsteil zu platzieren. Hierdurch ist es möglich, die Auslastung des übernommenen Geschäftsbetriebes kurzfristig zu optimieren. Zudem steht eine kurzfristige Renditeoptimierung für strategische Investoren nicht im Vordergrund, so dass die Bereitstellung von Liquidität – über die Geschäftsplanung hinaus und in überschaubarer Höhe – kein grundsätzliches Problem bereitet. 3.3
Investorenansprache
113 Nach erfolgter Freigabe der Liste anzusprechender Interessenten erfolgt eine telefonische oder schriftliche Kontaktaufnahme mit den zuvor recherchierten Entscheidungsträgern. Trotz der Öffentlichkeit von Insolvenzverfahren und auch angesichts des Diskretionsbedarfs im Vorfeld von Insolvenzverfahren wird die Erstansprache mit Hilfe eines neutralen Kurzprofils durchgeführt, um die Identität des Unternehmens nicht unnötig preiszugeben. Nach ___________ 121) Ehlers/Memberg, ZInsO 2010, 1169, 1172. 122) Ettinger/Jaques, Beck’sches Hdb. Unternehmenskauf im Mittelstand, S. 33. 123) Thierhoff/Liebscher in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, S. 268.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Unterzeichnung der beigefügten Vertraulichkeitsvereinbarung124) erfolgt die Übersendung eines ausführlichen Informationsmemorandums (ggf. auch als Fact Book im Power PointFormat). Aufgrund der Erklärungsbedürftigkeit einer Investition in ein insolventes oder krisenbehaftetes Unternehmen empfiehlt es sich, jedem ernsthaft interessierten Investor die Möglichkeit einzuräumen, sich i. R. einer Management-Präsentation einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Hier hat sich in der COVID-Pandemie das Instrument der VideoKonferenz etabliert, so dass die Erstgespräche häufig zeit- und ressourcenschonend in diesem Format durchgeführt werden können. 4.
Durchführung von individuellen Management-Präsentationen
Die individuellen Management-Präsentationen sollten – noch plastischer als in Form des 114 Fact Books oder des Informationsmemorandums möglich – insbesondere Antworten auf die folgenden Fragen geben: x
Welche Entwicklungen/Entscheidungen der Vergangenheit sind ursächlich für die eingetretene Unternehmenskrise/Insolvenz?
x
Verfügt das Unternehmen über ein intaktes Geschäftsmodell, so dass ein „Neustart“ nach Abschluss des Verfahrens bzw. ohne Insolvenz nach Erwerb möglich ist?
x
Kann das Unternehmen als Ganzes fortgeführt werden oder sind nur Teile des Unternehmens zukunftsfähig?
x
Können die Führungskräfte der ersten und zweiten Führungsebene einen „Neustart“ nach innen und nach außen glaubhaft verkörpern?
x
Besteht eine Chance auf Unterstützung des Unternehmens durch Kunden, Lieferanten und Finanzierer? Wie hoch sind hier jeweils die Abhängigkeiten?
x
Können die Schlüsselpersonen in der Belegschaft gehalten werden?
x
Welche Transaktionsstrukturen lassen sich mit welchen Chancen und Risiken umsetzen?
x
Welche Rolle kommt dem bisherigen Gesellschafterkreis zu und unterstützt der Gesellschafterkreis eine Unternehmensfortführung mit Eintritt eines neuen Mehrheitsgesellschafters?
x
Sind die Gläubiger bei einer Reorganisation außerhalb eines gerichtlichen Insolvenzverfahrens zu Zugeständnissen bereit („Besserstellung im Vergleich zur Insolvenzquote“)?
x
Steht der je nach Transaktionsstruktur erforderliche Kapitalbedarf in einer gesunden Relation zu den zukünftigen Chancen?
x
Welcher Zeitraum steht auch unter Liquiditäts-Gesichtspunkten zum Abschluss der Transaktion zur Verfügung?
Im Anschluss an ein solches individuelles Management-Gespräch, an dem i. R. von Insol- 115 venzverfahren ggf. auch ein Vertreter des Insolvenzverwalters oder Sachwalters teilnimmt, erfolgt die Aufforderung zur Abgabe eines indikativen Angebotes, zu einem nach Möglichkeit für alle Interessenten einheitlichen Termin. 5.
Einholung indikativer Erwerbsangebote
Im Rahmen von M&A-Prozessen außerhalb von Insolvenzverfahren werden Angebote 116 eingeholt, welche eine Überleitung von Enterprise Value auf den Equity Value enthalten. Um im Rahmen von Insolvenzverfahren eine Vergleichbarkeit zwischen den Transaktions- 117 alternativen Insolvenzplan und übertragende Sanierung unter dem Gesichtspunkt der Gläu___________ 124) Picot, Hdb. M&A, S. 180.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
bigerbefriedigung sicherzustellen, empfiehlt es sich, die Investoren i. R. von Insolvenzverfahren um Abgabe eines Angebotes, sowohl i. R. einer übertragenden Sanierung als auch im Falle des Eintritts als neuer (Mehrheits-)Gesellschafter i. R. eines Insolvenzplans, aufzufordern. Das Kriterienraster kann natürlich in ähnlicher Form auch außerhalb von Insolvenzverfahren verwendet werden. 118 Folgende Kriterien sollten die Angebotsaufforderung enthalten bzw. den Interessenten an die Hand gegeben werden, um aussagekräftige und vergleichbare Angebots-Indikationen zu generieren: x
Identität und wirtschaftliche Verhältnisse des vorgesehenen Investors.
x
Insolvenzplan:
x
x
x
Angabe eines nicht bindenden Betrages für die Barkapitalzufuhr, gegliedert nach vorgesehener Zufuhr von Eigen- und Fremdkapital.
x
Angabe der nach Durchführung der Barkapitalzufuhr beanspruchten Höhe der Beteiligung am Stamm- oder Grundkapital der Schuldnerin unter Berücksichtigung der Interessenlage der bisherigen Gesellschafter.
x
Angabe der vom Interessenten angestrebten – vor Eintritt als Gesellschafter i. R. des Insolvenzverfahrens ggf. vorzunehmenden – Veränderungen am Transaktionsobjekt (z. B. Belegschaft,125) zu übernehmende Verträge126)).
Übertragende Sanierung: x
Angabe eines nicht bindenden Kaufpreises für die Übernahme sämtlicher in der Definition des Transaktionsobjektes enthaltenen Vermögensgegenstände.
x
Angabe der von vom Interessenten angestrebten – vor Eintritt als Gesellschafter i. R. des Insolvenzverfahrens ggf. vorzunehmenden – Veränderungen am Transaktionsobjekt (z. B. Belegschaft,127) zu übernehmende Verträge128)).
Transaktion außerhalb der Insolvenz: x
x
Share Deal –
Angabe eines nicht bindenden Kaufpreises für die Übernahme sämtlicher zur Disposition stehender Geschäftsanteile und/oder
–
Angabe eines nicht bindenden Betrages für die Barkapitalzufuhr, gegliedert nach vorgesehener Zufuhr von Eigen- und Fremdkapital
–
verbunden mit Angabe der nach Durchführung der Barkapitalzufuhr beanspruchten Höhe der Beteiligung am Stamm- oder Grundkapital der Schuldnerin unter Berücksichtigung der Interessenlage der bisherigen Gesellschafter.
Asset Deal –
x
Angabe eines nicht bindenden Kaufpreises für die Übernahme sämtlicher Aktiva und Passiva des Unternehmens
Innerhalb und außerhalb des Insolvenzverfahrens: x
Angaben zur vorgesehenen Strategie für die Betriebsfortführung am Standort.
x
Angabe zur vorgesehenen Finanzierung der Transaktion und des erforderlichen Zeitraums zur ihrer Sicherstellung.
___________ 125) 126) 127) 128)
Göpfert/Landauer in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 203 – 214. Undritz in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 5. Göpfert/Landauer in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 203 – 214. Undritz in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 5.
1240
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Erläuterung aller bestehenden Vorbehalte auf Investorenseite, wie z. B. Vorbehalte der Zustimmung von Entscheidungsgremien oder aber der Zustimmung von Finanzierungspartnern. x Beifügung einer möglichst vollständigen Übersicht zu den Informationen, die der Interessent i. R. einer Due Diligence-Prüfung im virtuellen Datenraum einsehen möchte. Sofern die Interessenten Ihre Angebote am zuvor beschriebenen Raster ausrichten, lassen 119 sich im Insolvenzverfahren die Möglichkeiten der Gläubigerbefriedigung pro vorgelegtem indikativen Angebot ableiten, innerhalb und außerhalb von Insolvenzverfahren können bei Beachtung der Kriterien die Wirkung der einzelnen Angebote für Gläubiger und/oder Gesellschafter in einer Vergleichsrechnung transparent aufbereitet werden. Auf dieser Grundlage erfolgt die Auswahl der Kandidaten, die in die nächste Phase des Transaktionsprozesses (Due-Diligence-Prüfung) eingeladen werden sollten. x
6.
Organisation einer Due-Diligence-Prüfung
Zu den Aufgaben des M&A-Beraters gehört es auch, parallel zur Erstellung der Ansprache- 120 dokumente einen Datenbestand aufzubauen, der es erlaubt, einen aussagekräftigen Datenraum einzurichten. Ursprünglich wurde der entsprechende Datenraum in Papierform aufbereitet und in einem abgeschlossenen, nur ausgewählten und individuell zugelassenen Mitarbeitern/Beratern der Erwerbsinteressenten zugänglich gemacht. In der Zwischenzeit haben sich, von entsprechenden Dienstleistern entwickelte Lösungen für internet-basierte virtuelle Datenräume durchgesetzt, die es den Erwerbsinteressenten erlauben, bei Wahrung der Datensicherheit auf den Datenbestand in elektronischer Form zuzugreifen. Aufgrund der getroffenen technischen Sicherheitsvorkehrungen kann von einer hohen Sicherheit des Datenbestandes ausgegangen werden.129) Nachstehend eine exemplarische Datenraumgliederung: Abb. 15: Grobgliederung eines virtuellen Datenraums 1
121
Gesellschaftsrechtliche Unterlagen
2
Vermögenswerte
3
Verbindlichkeiten/Forderungen
4
Verträge und Vereinbarungen
5
Informationstechnologie
6
Gewerbliche Schutzrechte (IP)
7
Steuerliche Verhältnisse
8
Arbeits- und dienstvertragsrechtliche Angelegenheiten
9
Öffentliches Recht/Umwelt
10
Rechtsstreitigkeiten
11
Verschiedenes
12
Organisatorische Verhältnisse
13
Wirtschaftliche Verhältnisse und strategische Planung
14
Markt und Wettbewerb
Quelle: Eigene Darstellung.
___________ 129) Picot, Hdb. M&A, S. 188.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
122 Die Investoren haben die Möglichkeit den Datenbestand einzusehen – nach Anforderung und Einzelfreigabe besteht auch die Möglichkeit zum Speichern bzw. Ausdrucken. Rückfragen erfolgen über ein spezielles Tool des virtuellen Datenraums, so dass alle Fragen und Antworten automatisch elektronisch dokumentiert werden. Zum unterzeichneten bzw. beurkundeten Transaktionsvertrag kann somit der gesamte Datenraum in Form einer CD-ROM als Anlage genommen werden. 123 Regelmäßig kommt arbeitsrechtlichen Fragestellungen i. R. der Due Diligence-Prüfung eine große Bedeutung zu, da innerhalb und außerhalb von Insolvenzverfahren häufig entweder das bestehende Personal in geeigneter Weise reduziert werden muss und/oder die bestehenden Vergütungsstrukturen an die reduzierten Umsatz- und Ertragsaussichten angepasst werden müssen. Im Rahmen einer übertragenden Sanierung entwickelt der Käufer ein aus seiner Sicht vertretbares „Erwerberkonzept“.130) Im Rahmen der Umsetzung eines Insolvenzplans nutzt das schuldnerische Unternehmen die Möglichkeiten der InsO, um die Personal- und Vergütungsstrukturen an die Vorstellungen des neuen Mehrheitsgesellschafters anzupassen.131) Außerhalb von Insolvenzverfahren müssen ggf. erforderliche Anpassungen bei Umfang oder Vergütungsstruktur der Belegschaft ohne Rückgriff auf die Möglichkeiten der InsO umgesetzt werden. 124 In der aktuell anhaltenden Vollbeschäftigungsphase kann häufig beobachtet werden, dass seitens der Investorenkandidaten keine Reduzierung der personellen Kapazitäten gefordert wird. Im Gegenteil: Unternehmensakquisitionen kommen auch deshalb zustande, weil das Zielunternehmen über einen attraktiven Bestand qualifizierter, motivierter und erfahrener Mitarbeiter verfügt. 125 Ebenso werden den Interessenten in der Due Diligence-Phase Einzelgespräche mit dem Management-Team zu anderen Themen, wie z. B. Struktur des Kundenportfolios, Kalkulation der bestehenden Aufträge, Soll-Ist-Vergleiche der vergangenen Geschäftsjahre, Deckungsbeitrags- oder Profitcenter-Rechnung bzw. Bewertung des vorhandenen Anlage- und Umlaufvermögens, angeboten, die durch den M&A-Berater moderiert und dokumentiert werden. 7.
Einholung verbindlicher Erwerbsangebote
126 Nach Auswertung des Datenrauminhaltes werden die Interessenten nach Möglichkeit wiederum zu einem einheitlichen Termin zur Abgabe eines verbindlichen Erwerbsangebotes aufgefordert. Die Anforderungen an die Qualität eines verbindlichen Angebotes sind sehr hoch, da bei Annahme eines solchen Angebotes (nach Auswertung) die Möglichkeit der Weiterverfolgung alternativer Erwerbskonzepte aufgrund der Öffentlichkeitswirkung einer Angebotsannahme deutlich eingeschränkt wird. 127 Insbesondere die folgenden Konkretisierungen müssen hierbei im Vergleich zum indikativen Angebot erzielt werden: x
Die Transaktionsstruktur muss festgelegt sein.
x
Kaufpreis (übertragende Sanierung), Betrag der Kapitalzufuhr sowie Auswirkung auf die Gesellschafterstellung der Altgesellschafter (Insolvenzplan bzw. Neustrukturierung des Gesellschafterkreises außerhalb eines Insolvenzverfahrens) müssen fixiert sein.
x
Der Investor muss nachweislich über die erforderlichen Finanzierungsmittel verfügen.
Ein unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten umsetzbares personalwirtschaftliches Konzept muss vorliegen. ___________ x
130) Göpfert/Landauer in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 208 – 210. 131) Göpfert/Landauer in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 203 – 214.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
x
Die möglichen kartellrechtlichen Implikationen müssen geklärt sein.
x
Ein „mark-up“ zum Entwurf des Transaktionsvertrages und im Fall eines Insolvenzplanverfahrens zum aktuellen Stand des Insolvenzplanentwurfs müssen vorliegen.
Diese Konkretisierung wird benötigt, um die eingehenden Angebote aus Sicht der Auswir- 128 kungen auf die Gläubiger (Insolvenzverfahren) sowie auf die Gesellschafter (Insolvenzplan bzw. außerinsolvenzliche Transaktion) auszuwerten und abzugleichen. Die mit Veränderungen am Transaktionsobjekt verbundenen Kosten (wie z. B. Kosten für Personalabbau i. R. eines Erwerberkonzeptes – Insolvenzverfahren) reduzieren 1:1 den den Gläubigern zufließenden Abgeltungsbetrag. 8.
Durchführung von Vertragsverhandlungen und Vertragsabschluss
Typisch für die Gestaltung von Transaktionsverträgen i. R. unternehmerischer Krisensi- 129 tuationen ist der sehr limitierte Spielraum für Gewährleistungen im Kaufvertrag zugunsten des Erwerbers (übertragende Sanierung) bzw. zugunsten des neuen Mehrheitsgesellschafters, der aufgrund eines Insolvenzplans die unternehmerische Führung übernimmt oder auch außerhalb eines Insolvenzverfahrens die Stellung eines Mehrheitsgesellschafters erlangt. Die Hintergründe hierfür liegen auf der Hand: x
Insolvenzverwalter veräußern Geschäftsbetriebe bei einer übertragenden Sanierung aus einer besonderen Rechtsstellung heraus, die es Ihnen nicht erlaubt, auf die Gläubiger, denen der Veräußerungserlös zukommt, ggf. zu übernehmende Gewährleistungsrisiken überzuwälzen.132)
x
Altgesellschafter, die aufgrund eines Insolvenzplanverfahrens oder auch außerhalb eines Insolvenzverfahrens in einem Transaktionsvertrag ihre Geschäftsanteile an einen neuen Mehrheitsgesellschafter übertragen, erhalten in der Regel einen sehr limitierten Kaufpreis,133) der es ihnen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehr schwer macht, bedeutende Risiken aus Gewährleistungsklauseln zu übernehmen.134)
Zu den wichtigen Aufgaben des M&A-Beraters zählt es, in Insolvenz- und Krisentransak- 130 tionen weniger erfahrenen Investoren diesen Umstand frühzeitig zu kommunizieren. Hierdurch kann erreicht werden, dass nachhaltig interessierte Investoren eine besonders gründliche Due Diligence-Prüfung vornehmen, die es ihnen erlaubt, den angeforderten Gewährleistungskatalog zu minimieren.135) Allert beschreibt die Zielsetzung einer Verhandlung im Rahmen von Unternehmenstrans- 131 aktionen als Schaffung eines Wertes zwischen den Parteien, „der die Parteien besserstellt als ohne dieses Verhandlungsergebnis“.136) Der Abschluss von Exklusivitäts- oder Kostenersatzvereinbarungen, der bei Mittelstands- 132 transaktionen gelegentlich von Investoren gefordert wird, um das Risiko abzufedern, gegenüber konkurrierenden Investoren im Bieterverfahren zu unterliegen,137) kommt i. R. von Insolvenzverfahren nur selten in Betracht. Hier kann der Insolvenzverwalter nur dann Zugeständnisse machen, wenn der Interessent sein ernsthaftes Investitionsinteresse nach einer ausreichend detaillierten Prüfung in einem fortgeschrittenen Stadium des M&A___________ 132) Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1312. 133) Rhein in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 229. 134) Sinhart in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1295, und Deichmann, Typus Mandanten, S. 24. 135) Undritz in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 310. 136) Allert, Distressed M&A, S. 138. 137) Picot, Hdb. M&A, S. 184.
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Prozesses dokumentiert und zugleich zur finalen Umsetzung einer Transaktion den Abschluss einer Kostentragungsvereinbarung verlangt, die dann eine Kompensation in Aussicht stellt, wenn der Interessent auf Basis des bisherigen Angebotes abschlussbereit ist, der Verkäufer jedoch eine andere Partei auswählt. In der Regel werden diese Kosten durch den mit dem Alternativangebot verbundenen höheren Zufluss überkompensiert. Weitere Entscheidungskriterien sind hierbei die Bonität und Seriosität des Interessenten sowie ein in Relation zum Unternehmenswert angemessenes Kaufpreisangebot.138) III.
Auswirkungen und Besonderheiten der Betriebsfortführung auf den M&AProzess
1.
Außerhalb von Insolvenzverfahren
133 Im Vorfeld einer möglichen Insolvenzantragspflicht sind in der Regel alle wesentlichen „Stakeholder“ eines Unternehmens daran interessiert, ein öffentlichkeitswirksames Insolvenzverfahren zu vermeiden. Die Gesellschafter streben an, einen Restbetrag ihrer Eigenkapitalbeteiligung zu realisieren, die Gläubiger streben nach einer Abfindung oberhalb einer häufig schmalen Insolvenzquote und die Belegschaft ist am Fortbestand ihrer Beschäftigungsverhältnisse interessiert. Insoweit besteht Bereitschaft, Szenarien zu prüfen, die die Stakeholder im Vergleich zu einem Insolvenzverfahren besserstellen. 134 Denkbar sind hierbei sowohl ein Verkauf der Geschäftsanteile des krisenbehafteten Unternehmens (Share Deal) als auch eine Veräußerung seines Geschäftsbetriebs (Asset Deal). Zu beachten ist beim Asset Deal außerhalb eines Insolvenzverfahrens, dass der Investor gemäß § 75 AO für rückständige Steuern des veräußernden Rechtsträgers haftet: „Gegenstand der Haftung sind die Betriebssteuern und die von dem Unternehmen einzubehaltenden und abzuführenden Steuern (Steuerabzugsbeträge) sowie Erstattungsschulden wegen zu Unrecht in Anspruch genommener Steuervergütungen, sofern sie seit dem Beginn des letzten Jahres vor Übereignung des Zielunternehmens entstanden sind.“139)
135 Der Verfasser hat zur Jahreswende 2005/2006 unter extremem Zeitdruck (Zeitfenster von ca. zehn Wochen) für einen bedeutenden deutschen Hersteller von Textilmaschinen einen weltweiten Investorenprozess erfolgreich umgesetzt. Die Geschäftsanteile des Maschinenbauunternehmens wurden zu 51 % durch den Insolvenzverwalter des vorherigen Unternehmens und zu 49 % von der Kapitalbeteiligungsgesellschaft eines Bundeslandes gehalten. Das Unternehmen war mangels gemeinsamer Strategie der Gesellschafter chronisch unterfinanziert und konnte die zur Kostendeckung erforderlichen Plan-Umsätze nicht realisieren. Gegen Ende des Jahres 2005 zeichnete sich ab, dass eine erneute Nachfinanzierung nicht zustande kam. Zugleich war der noch verfügbare Zeitrahmen für eine Fortführung vor Eintreten der Insolvenzantragspflicht limitiert. Nach Beauftragung wurden die weltweit relevanten Textilmaschinenhersteller sowie eine Vielzahl von auf Sondersituationen spezialisierten Finanzinvestoren kontaktiert. Ein einziger Interessent, ein sehr bedeutender USamerikanischer Fonds, der heute keine „corporate direct investments“ mehr tätigt, damals aber genau die Strategie verfolgte, ein solches Portfolio aufzubauen, zeigte sich nachhaltig interessiert. 136 In einer Verhandlung mit einem Investor, bürgenden Bundesländern sowie finanzierenden Banken wurde die nachstehend beschriebene Transaktionsstruktur ausgehandelt: x
Vorfälliger Bürgenantritt der bürgenden Bundesländer,
x
hierdurch Limitierung des Schadens bei den Verzicht leistenden Banken,
x Veräußerung des Geschäftsbetriebs an eine NewCo, ___________ 138) Krüger/Kaufmann, ZIP 2009, 1096, 1097. 139) Lenger, Rödl & Partner, Entrepreneur 10/2014, S. 6.
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Deichmann
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung x
Nutzung des Kaufpreises für x
Zahlung eines Abgeltungsbetrages an die verzichtenden Banken,
x
Bedienung der Transaktionskosten,
x
Zahlung eines Teilbetrages auf die Gesellschafterdarlehen der Gesellschafter,
x
Sicherung der Liquidität des veräußernden Rechtsträgers zur Vermeidung einer späteren Transaktionsanfechtung.
Abb. 16: Transaktionsstruktur eines vorinsolvenzlich umgesetzten Asset Deals
137
Landesbürgschaften Bundesländer I und II
deutl. Forderungsverzicht Textilmaschinen GmbH
Bankforderungen
Kaufpreis (i. H. v. Transaktionskosten + Restsaldo Banken) NewCo
Ablösung Restsaldo Geschäftsbetrieb incl. Forderungen aus LuL (Asset Deal)
incl. Kasse incl. Verbindlichkeiten aus LuL
Quelle: Eigene Darstellung.
Zielstellung war eine längerfristig solide Fortführung des Maschinenbauunternehmens 138 nach Abschluss der Transaktion. Der Erwerber hat einen bedeutenden zweistelligen Mio.Euro-Betrag im Anschluss an die Transaktion zur Sicherung der Liquidität bereitgestellt. Dennoch konnte das Unternehmen nicht nachhaltig saniert werden, so dass es einige Zeit später in Einzelteilen weiter veräußert wurde. In der Schlussphase der Transaktion bestand in der „Vor-ESUG-Ära“ ein hoher Zeitdruck, 139 um die Stellung eines Insolvenzantrags zu vermeiden, der im Zweifel zu einer völligen Neudefinition des Transaktionskonzeptes geführt hätte. Unter der heutigen durch ESUG begründeten Sanierungskultur hätte sich ein komfortables 140 Szenario ergeben: x
Gelingt eine Übertragung im Vorfeld der Insolvenz nicht,
x
so erfolgt diese nach Insolvenzantrag im Anschluss an das Eröffnungsverfahren, welches infolge der Zahlung von Insolvenzausfallgeld in der Regel mit einer Entspannung der Liquiditätslage einhergeht.
Der Verfasser ist der Auffassung, dass die heutige Rechtslage die am Transaktionsprozess 141 beteiligten Personen in die Lage versetzt, einen glaubwürdigen „Plan B“ aufzubauen – eine Veräußerung ohne Zeitdruck im Anschluss an die Einleitung des geordneten Insolvenzverfahrens. Der Verfasser hat von Ende 2008 bis Ende 2009 in Zusammenarbeit mit dem Mit-Autor 142 Jörg Spies und dem Herausgeber dieses Werkes den nachstehend beschriebenen Investorenprozess erfolgreich durchgeführt. Hier wurde mit den hinzugetretenen Insolvenzspezialisten das Szenario einer vorinsolvenzlichen Veräußerung in eine Sanierung i. R. von Insolvenzplan mit Investoreneintritt unter Anordnung der Eigenverwaltung transformiert.
Deichmann
1245
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Teil V Einzelfragen
Beispiel 1: Überleitung von einem vorinsolvenzlichen M&A-Prozess in einen M&A-Prozess unter dem Schutz der InsO Die Geschäftsentwicklung der Unylon Polymers GmbH, Guben, (heute ATT Polymers GmbH), wurde im Laufe des Jahres 2008 durch die einsetzende Wirtschaftskrise beeinträchtigt. Hervorgegangen aus dem VEB Chemiefaserwerk „Herbert Warnke“ hatte das Unternehmen sich seit 1990 zum führenden konzernungebundenen Unternehmen der PA 6-Polymerisation in Deutschland entwickelt. Aus dem Vorprodukt Caprolactam entstehen unter Beimischung diverser chemischer Stoffe sowie Wasser und unter hohem Energieeinsatz PA 6-Chips, die zur Faserherstellung oder aber zur Herstellung von Kunststoff-Komponenten verwendet werden. Im Oktober 2008 wurde eine weltweite Investorenansprache gestartet, die aufgrund der Wirtschaftskrise bis zum Jahresende lediglich das indikative Angebot der polnischen Gesellschaft Zakłady Azotowe w Tarnowie-Moscicach hervorbrachte. Einleitung Insolvenzplanverfahren während des Transaktionsprozesses: Anfang 2009 musste die Produktion des Unternehmens aus Liquiditätsgründen vorübergehend eingestellt werden. Im weiteren Verlauf des ersten Quartals 2009 erhärtete sich die Einschätzung eines negativen Unternehmenswertes (Equity Value). Daher entstand die Idee der Entschuldung des Unternehmens über einen Insolvenzplan i. R. des laufenden M&A-Prozesses. Im April 2009 stellte die Unylon Polymers GmbH beim Amtsgericht Cottbus Insolvenzantrag und beantragte zugleich die Eigenverwaltung. Rechtsanwalt Jörg Spies, pkl Rechtsanwälte, wurde als Sanierungsgeschäftsführer berufen. Prof. Rolf-Dieter Mönning, Mönning & Partner, wurde zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. In umfangreichen Verhandlungen konnten Stundungsvereinbarungen mit Lieferanten und Banken vereinbart werden. Zakłady Azotowe w Tarnowie-Moscicach (Azoty Tarnow) konnte von der Vorteilhaftigkeit eines Insolvenzplans überzeugt werden, so dass Azoty Tarnow im 2. und 3. Quartal 2009 eine umfangreiche Due Diligence-Prüfung durchführte. Dieser Prozess wurde durch Azoty Tarnow über die Beistellung von Caprolactam in ein Konsignationslager zur Umarbeitung durch das schuldnerische Unternehmen unterstützt. Parallel zur Entwicklung des Insolvenzplans mussten umfangreiche Verhandlungen mit Lieferanten, dem Banken-Pool, der Finanzverwaltung sowie der Investitionsbank des Landes Brandenburg geführt werden. Ende September wurde ein Letter of Intent und Mitte November 2009 ein aufschiebend bedingter Kaufvertrag unterzeichnet. Im Dezember 2009 bestätigte das Amtsgericht Cottbus den vorgelegten Insolvenzplan, der die Unylon Polymers GmbH im Zuge des Eintritts des neuen Mehrheitsgesellschafters entschuldete. Von anfangs 48 Arbeitsplätzen in der strukturschwachen Region Guben konnten 44 Arbeitsplätze erhalten werden. 2.
Im Eröffnungsverfahren
143 Hölzle stellt klar, auch ein sog. schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter (ohne Verwaltungsund Verfügungsbefugnis; § 22 Abs. 2 InsO) habe die Aufgabe, das schuldnerische Unternehmen im Eröffnungsverfahren fortzuführen. Die Bestellung eines schwachen Insolvenzverwalters eröffne die Chance, dass das schuldnerische Unternehmen ein gerichtliches Sanierungsverfahren nutzt, um „[…] rechtzeitig unter gerichtlicher Aufsicht durch einen Insolvenzplan oder auf sonstige Weise mit den Gläubigern eine einvernehmliche Schuldenregulierung herbeizuführen […].“140)
___________ 140) Hölzle, ZIP 2011, 1890.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Der schwache Insolvenzverwalter „tritt daher nicht an die Stelle, sondern an die Seite des Schuldners.“141) In Bezug auf den M&A-Prozess im Eröffnungsverfahren ergibt sich somit, dass in der Regel das schuldnerische Unternehmen den für die längerfristige Unternehmens- oder Betriebsfortführung mit verändertem Gesellschafterhintergrund erforderlichen M&A-Prozess beauftragt und beginnt. Oben (siehe unter Rz. 47) wurde ausgeführt, dass der M&A-Berater ausschließlich als Vertreter der Interessen seines Mandanten auftritt. Insbesondere dann, wenn das schuldnerische Unternehmen von einem Gesellschafter-Geschäftsführer geleitet wird, ist somit im Eröffnungsverfahren die folgende – komplexe – Interessenlage gegeben: x Der Gesellschafter-Geschäftsführer wird nicht nur durch die Perspektive als Organ, sondern auch als Gesellschafter des schuldnerischen Unternehmens den anstehenden M&A-Prozess betrachten. Diese Perspektive wird sich dann noch verstärken, wenn von Gesellschafterseite den Gläubigern des schuldnerischen Unternehmens Sicherheiten gestellt wurden. x Der vorläufige Insolvenzverwalter (mit oder ohne Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis) nimmt gemäß § 22 InsO primär die Interessen der Gläubiger des schuldnerischen Unternehmens war. Die von Kranzusch/Icks für das Land Nordrhein-Westfalen im Zeitraum 2002 bis 2007 ermittelte, sehr geringe Befriedigungsquote der Gläubiger (in 75 % der ausgewerteten Verfahren erhielten die Gläubiger keinerlei Rückführung)142) legt nahe, dass die Gesellschafter des schuldnerischen Unternehmens in der Regel keinen nennenswerten Rückfluss erwarten können. Kranzusch/Icks stellen dar, dass die in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Untersuchung für die ganze Bundesrepublik als repräsentativ angesehen werden kann.143) Dennoch zeigt die Beratungspraxis, dass die weiterhin im Amt befindliche Geschäftsleitung, insbesondere wenn sie auch Gesellschafterinteressen verfolgt, nicht nur nach einer optimalen Gläubigerbefriedigung strebt, sondern naturgemäß auch die eigene unternehmerische Zukunft im Auge hat.
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147
„Den Gesellschaftern droht der Verlust des von Ihnen eingesetzten Eigenkapitals, wenn die Sanierung des Unternehmens misslingt. Die von Ihnen gehaltenen Gesellschaftsanteile verlieren in der Krise regelmäßig an Wert oder werden unverkäuflich. Gesellschafterdarlehen oder wirtschaftlich vergleichbare Leistungen der Gesellschafter sind in der Insolvenz per se nachrangig gestellt (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO). Mit der Einsetzung eines (vorläufigen) Insolvenzverwalters verlieren die Gesellschafter überdies die Kontrolle über die Gesellschaft, weil ihre Kompetenzen als Gesellschafter weitgehend durch die Befugnisse des Insolvenzverwalters verdrängt werden. Um einen Wert- und Kontrollverlust zu vermeiden, sind Sie daher in der Regel bemüht und daran interessiert, eine Sanierung des Unternehmens zu erreichen, solange sie dessen Geschicke (mit-)bestimmen und einen Gegenwert für ihr investiertes Kapital erhalten können.“144)
Von besonderem Vorteil ist es, wenn eine weiterhin im Amt befindliche Geschäftsleitung 148 zusammen mit dem M&A-Berater und dem vorläufigen Insolvenzverwalter eine Zukunftsvision für das durch die Insolvenz sanierte Unternehmen entwickelt und gegenüber Investoren glaubhaft vertritt. Hierzu gehört in der Regel auch eine auf drei Geschäftsjahre (nach Insolvenz) ausgelegte Bilanz-, GuV (Gewinn- und Verlustrechnung)- und Liquiditätsplanung – unterlegt durch valide ermittelte Planungsprämissen. Die GuV-Planung ist ___________ 141) Hölzle, ZIP 2011, 1890. 142) Kranzusch/Icks, IfM-Materialien, Nr. 186, S. 36, abrufbar unter http://www.ifm-bonn.org/publikationen/ ifm-materialien/publikationendetail/?tx_ifmstudies_publicationdetail[publication]= 283&cHash=efae2f2cc5ca6719aadf72535e17195e (Abrufdatum: 15.12.2022). 143) Kranzusch/Icks, IfM-Materialien, Nr. 186, S. 34, abrufbar unter http://www.ifm-bonn.org/publikationen/ ifm-materialien/publikationendetail/?tx_ifmstudies_publicationdetail[publication]=283&cHash= efae2f2cc5ca6719aadf72535e17195e (Abrufdatum: 15.12.2022). 144) Rhein in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 226.
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§ 33
Teil V Einzelfragen
hierbei Bottom-up kunden- bzw. produktbezogen aufzubauen, damit Investoren der Planung Vertrauen entgegenbringen. Ebenso sollten eine Kostenträger- sowie Deckungsbeitragsrechnung verfügbar sein. 149 Diese divergierenden Interessen145) lösen sich u. a. dadurch auf, dass die Geschäftsleitung nur mit Zustimmung des (schwachen) vorläufigen Insolvenzverwalters (sofern das AG angeordnet hat, dass Verfügungen nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters getroffen werden können)146) einen M&A-Berater beauftragen und einen entsprechenden Prozess initiieren kann. Somit kann sichergestellt werden, dass dieser Prozess auch im Eröffnungsverfahren im Gläubigerinteresse durchgeführt wird. 150 Die Praxis zeigt jedoch in manchen Fällen, dass die bestehende Geschäftsleitung aus verschiedenen Gründen häufig nicht mehr in der Lage ist, einen plausiblen mittelfristigen Geschäftsplan zu entwickeln und vor Investoren-Interessenten glaubwürdig zu vertreten. 151 Eine Veräußerung des Geschäftsbetriebs des schuldnerischen Unternehmens bzw. eine andere Art der Verwertung seiner Vermögensgegenstände ist im vorläufigen Insolvenzverfahren nicht vorgesehen.147) Hinzu kommt, dass der vorläufige Insolvenzverwalter grundsätzlich nicht zur Verwertung der Insolvenzmasse befugt ist. 152 Im Eröffnungsverfahren bietet die Insolvenzgeldvorfinanzierung einen Hebel zu Unternehmensstabilisierung. Daher bietet es sich an, sofern frühzeitig ein nach Insolvenzeröffnung eintretender Liquiditätsmangel absehbar ist, das Zeitfenster des Eröffnungsverfahrens zu nutzen, um zügig zu einem Vertragsabschluss mit einem Investor zu gelangen.148) In der Praxis legen ein oder mehrere Investoren zum Ende des Eröffnungsverfahrens ein in Vertragsform ausgefertigtes rechtsverbindliches Erwerbsangebot an den bei Verfahrenseröffnung durch das Gericht zu bestellenden Insolvenzverwalter vor, so dass dieser am Tag der Verfahrenseröffnung eines der Angebote annehmen kann. Somit dient das Eröffnungsverfahren der Ausverhandlung einer Transaktion, die unmittelbar bei Eröffnung umgesetzt werden kann. Dieser Ablauf deckt sich auch mit den arbeitsrechtlichen Vorgaben an die Ausgestaltung eines ggf. erforderlichen Interessenausgleichs mit Sozialplan. Der Sozialplan wird nur unwiderruflich verbindlich und löst entsprechende Masseverbindlichkeiten zugunsten der Begünstigten Arbeitnehmer aus, wenn er nach Verfahrenseröffnung vereinbart wird.149) 153 Als Lösungsmöglichkeit bietet sich in einem Notfallszenario an, vor Vertragsabschluss eine entsprechende Verfügungsbefugnis bei Gericht einzuholen. Hierdurch wird der (schwache) vorläufige Insolvenzverwalter partiell zum (starken) vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt – die insoweit begründeten Verbindlichkeiten sind nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten zu erfüllen.150) Auch drohen erhebliche Anfechtungsrisiken.151) Rhein schlussfolgert daher, dass eine rechtssichere Transaktion während des Eröffnungsverfahrens (bei besonders zu begründenden Ausnahmekonstellationen) die Zustimmung des Schuldners – sofern noch vertretungsbefugt – sowie des Insolvenzgerichts oder der Gläubiger voraussetze. 154 Eine sich auch aus Investorensicht abzeichnende Begrenzung des Fortführungszeitraums auf den Zeitraum bis zur Verfahrensöffnung erschwert die Verhandlungen extrem, da für die Interessenten die schwache Verhandlungsposition der Verkäuferseite erkennbar ist. ___________ 145) 146) 147) 148) 149) 150) 151)
Rhein in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 227. Hönig/Mayer-Löwy, ZIP 2002, 2162. BGH, Beschl. v. 14.12.2000 – IX ZB 105/00, BGHZ 146, 165, 172 = ZIP 2000, 296. Beck/Voss in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 851. Hensche, Hdb. ArbR, Abschn. I (Insolvenz des Arbeitgebers). Hönig/Mayer-Löwy, ZIP 2002, 2162. Rhein in: Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, S. 239.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Zusammen mit dem Mit-Autor Franc Zimmermann hat der Verfasser den nachstehen beschriebenen M&A-Prozess während des vorläufigen Insolvenzverfahrens innerhalb weniger Wochen zur Abschlussreife bringen müssen, um die Lebensfähigkeit des Geschäftsbetriebs trotz vielfältiger Hindernisse aufrechtzuerhalten. Die Transaktion wurde unmittelbar nach Verfahrenseröffnung vollzogen. Beispiel 2: Investorenprozess innerhalb des Eröffnungsverfahrens unter massivem Zeitdruck Die QSN24h GmbH & Co. KG ist ein auf Nacharbeit und Qualitätssicherung spezialisiertes Unternehmen aus der Automobilindustrie. Zu dem Kundenstamm des Unternehmens zählen viele renommierte Automobilhersteller und -zulieferer. In der Vergangenheit war das Unternehmen überregional – teilweise auch außereuropäisch – tätig und verfügte in Spitzenzeiten über bis zu 70 Arbeitnehmer. Aufgrund von Führungsmängeln geriet die QSN24h GmbH & Co. KG in eine wirtschaftliche Schieflage. Das Unternehmen verbuchte 2013 und 2014 erhebliche Umsatzrückgänge, so dass sich in Folge ein negatives Jahresergebnis einstellte. Mitte Oktober 2014 hatte der Geschäftsführer schließlich Insolvenzantrag gestellt. Am 21.10.2014 wurde Rechtsanwalt Dr. Franc Zimmermann, Mönning & Partner, zunächst zum sog. schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter und am 27.10.2014 zum sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Zum Zeitpunkt des Projektbeginns befand sich der Geschäftsbetrieb in einem äußerst bedenklichen Zustand und drohte vollständig zum Erliegen zu kommen. Durch kontraproduktive Maßnahmen des Geschäftsführers der QSN24h GmbH & Co. KG, wie bspw. die Entwendung der firmeneigenen Server, spitze sich die Situation zu. Zur nachhaltigen Fortführung des Betriebs war somit die sofortige Entbindung des Geschäftsführers von allen Verantwortlichkeiten sowie eine sehr kurzfristige Gewinnung eines Investors erforderlich. Zügige übertragende Sanierung: SSC Consult wurde am 27.10.2014 beauftragt, kurzfristig eine übertragende Sanierung des Geschäftsbetriebs umzusetzen. Die Investitionsmöglichkeit stieß bei den angesprochenen Investoren auf reges Interesse. Eine wichtige Rolle spielten hierbei die positiven Signale der Schlüsselkunden zur weiteren Beauftragung des Unternehmens. Binnen drei Wochen wurden insgesamt sechs Managementgespräche geführt und drei bindende Kaufangebote eingeholt. Am 19.11.2014, keine vier Wochen nach Beginn des Investorenprozesses, konnte eine Kaufvertrag mit einem Brancheninvestor unterzeichnet werden, wodurch der operative Geschäftsbetrieb des renommierten Wolfsburger Qualitätssicherungs- und Nachbearbeitungsbetriebs QSN24h GmbH & Co. KG vollständig erhalten bleibt und sämtliche vorhandenen Arbeitsplätze gesichert werden konnten. Der Fall QSN24 h zeigt eindeutig, dass Insolvenzverwaltung und M&A-Berater dann „mit 155 dem Rücken zur Wand“ stehen, wenn die Liquiditäts- und Ergebnissituation eine Fortführung über das vorläufige Insolvenzverfahren hinaus nicht ermöglichen und kein Raum für einen „Plan B“ verbleibt. 3.
Im eröffneten Verfahren
3.1
Mit Insolvenzplan
Die InsO führt in § 218 Abs. 1 aus:
156
„Zur Vorlage eines Insolvenzplans an das Insolvenzgericht sind der Insolvenzverwalter und der Schuldner berechtigt.“
Spies stellt fest, in § 1 InsO sei bestimmt,
157
„[…] dass das Insolvenzplanverfahren als gleichberechtigte Alternative zur Regelabwicklung der Befriedigung der Insolvenzgläubiger dient.“152)
___________ 152) Spies, ZInsO 2005, 1254, 1255.
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158 Der Insolvenzplan dient der Umsetzung eines Sanierungskonzeptes durch einen redlichen Schuldner.153) Der bestehende Rechtsträger wird somit erhalten und seine rechtsträgerspezifischen Berechtigungen, die ein Hindernis für die Umsetzung einer übertragenden Sanierung darstellen können, bleiben erhalten.154) Der Investor, der i. R. eines Insolvenzplans als neuer (Mehrheits-)gesellschafter in den sanierten Rechtsträger eintritt, kann in der Regel durch Eintritt i. R. eines Insolvenzplans drei kommerzielle Vorteile realisieren: x
Rückgriff auf bestehende Finanzierungen und Forderungen: Innerhalb der Regelungen des Insolvenzplans kann auf bestehende Finanzierungen des schuldnerischen Unternehmens, u. a. durch Lieferanten und Kreditinstitute, zurückgegriffen werden. Ebenso zieht das sanierte schuldnerische Unternehmen die bestehenden Forderungen ein, so dass der durch den Investor initial aus eigenen Mittel (Guthaben/Kreditlinien) zu erbringende Liquiditätsbetrag in der Regel im Vergleich zur übertragenden Sanierung deutlich geringer ausfällt. Insbesondere in einer Phase der Zurückhaltung vieler Banken bei der Kreditvergabe155) ist dieser Aspekt von Bedeutung für die sichere Umsetzung einer M&A-Transaktion i. R. eines Insolvenzverfahrens.
x
Höherer Ansatz der Vermögensgegenstände in der Bilanz: In bislang durchgeführten Transaktionsverfahren konnte festgestellt werden, dass nach Abschluss eines Insolvenzverfahrens in der Regel die Gegenstände des Anlage- und Umlaufvermögens in der Bilanz des sanierten Rechtsträgers mit höheren Werten zu Buche stehen als in der Eröffnungsbilanz des erwerbenden (neuen) Rechtsträgers i. R. einer übertragenden Sanierung. Hieraus ergibt sich für die Zukunft aus Sicht des fortführenden Investors ein steuerminderndes erhöhtes Abschreibungsvolumen.
x
Höhere Eigenmittelquote nach Abschluss der Transaktion: In der Praxis ist zu beobachten, dass aufgrund des üblicherweise bedeutenden, von der Ertragsbesteuerung freizustellenden Sanierungsgewinns, der sanierte Rechtsträger nach Abschluss eines Planinsolvenzverfahrens eine als attraktiv einzuschätzende Eigenmittelquote aufweist. Insbesondere weil bei übertragenden Sanierungen der bilanzielle Hebel des steuerfreien Sanierungsgewinns wegfällt, liegt die Eigenmittelquote eines neuen Rechtsträgers, der den Geschäftsbetrieb des identischen schuldnerischen Unternehmens i. R. einer übertragenden Sanierung erworben hat, deutlich niedriger. Diese Erfahrungen konnte der Verfasser i. R. von ergebnisoffenen Bieterverfahren machen, in denen den Interessenten die Wahl gelassen wurde zwischen dem Eintritt über einen Insolvenzplan und dem Erwerb des Geschäftsbetriebs i. R. einer übertragenden Sanierung.
159 Die Möglichkeit des Einstiegs des Investors durch einen Insolvenzplan als neuer Mehrheitsgesellschafter in das sanierte schuldnerische Unternehmen, als Alternative zur übertragenden Sanierung, kann die Erfolgsaussichten des M&A-Prozesses erhöhen und somit die Perspektiven für eine optimale Gläubigerbefriedigung verbessern. 160 Nach den bisher vorliegenden, noch nicht wirklich vollständig aussagekräftigen, Untersuchungen ergeben sich bei Insolvenzplanverfahren teils deutlich höhere Quoten zugunsten der Gläubiger als bei i. R. einer Regelabwicklung durchgeführten Insolvenzverfahren – allerdings ist zu beachten, dass die für die Gläubiger bei übertragenden Sanierungen erzielten Quotenergebnisse bislang nicht nachhaltig ausgewertet wurden.156) ___________ 153) Spies, ZInsO 2005, 1254, 1255. 154) Bitter/Laspeyres, ZIP 2010, 1157. 155) Braunberger/Mussler, FAZ v. 2.2.2012, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/finanzen/anleihen-zinsen/ schuldenkrise-verschaerfte-kreditbedingungen-im-euroraum-11634518.html (Abrufdatum: 15.12.2022). 156) Kranzusch/Icks, IfM-Materialien, Nr. 186, S. 36, abrufbar unter http://www.ifm-bonn.org/publikationen/ ifm-materialien/publikationendetail/?tx_ifmstudies_publicationdetail[publication]=283&cHash= efae2f2cc5ca6719aadf72535e17195e (Abrufdatum: 15.12.2022).
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Planinsolvenzverfahren zeichnen sich zwar insgesamt durch eine kürzere Verfahrensdauer 161 aus als Regelinsolvenzverfahren (Phase der Abwicklung des Rechtsträgers nach Veräußerung des Geschäftsbetriebs entfällt),157) hingegen kann sich der M&A-Prozess i. R. eines Planinsolvenzverfahrens gegenüber demjenigen einer übertragenden Sanierung auf der Zeitschiene deutlich länger hinziehen. Alleine die Einhaltung der Frist zur Anberaumung eines Erörterungs- und Abstimmungstermins über den Insolvenzplan gemäß § 235 Abs. 1 InsO, die nicht mehr als einen Monat betragen soll, ist zu berücksichtigen. In der Regel vergehen sechs bis acht Monate zwischen Insolvenzantragsstellung und Planbestätigung. Eine übertragende Sanierung kann bereits unmittelbar bei Verfahrenseröffnung und somit ca. drei Monate nach Stellung des Insolvenzantrages erfolgen. Für den erfolgreichen Abschluss eines Investorenprozesses i. R. eines Insolvenzplans kommt 162 der operativen Entwicklung des fortgeführten Geschäftsbetriebs während des Insolvenzverfahrens eine Schlüsselrolle zu. Während im vorläufigen Insolvenzverfahren grundsätzlich von einer Verpflichtung des vorläufigen Insolvenzverwalters zu Unternehmensfortführung auszugehen ist, muss dieser im eröffneten Verfahren fortlaufend prüfen, „ob die Fortführung des Unternehmens noch mit den Interessen der Gläubiger vereinbar ist.“158) Somit ist eine Situation denkbar, in der der Insolvenzverwalter entscheiden muss, die Unternehmensfortführung aufgrund sich verschlechternder wirtschaftlicher Verhältnisse des schuldnerischen Unternehmens während des Investorenprozesses zu beenden. Wenn es dann nicht gelingt, kurzfristig eine übertragende Sanierung umzusetzen, sind die Unternehmensfortführung und der M&A-Prozess gescheitert. Die Weiterverfolgung der Option eines Insolvenzplans mit Gesellschafterwechsel erübrigt sich aufgrund des reduzierten Zeithorizontes zur Umsetzung. Als problematisch kann sich der Einfluss der bisherigen Gesellschafter über den bishe- 163 rigen Geschäftsführer auf die Steuerung des Investorenprozesses auswirken. Hier besteht die Gefahr, dass eine nachhaltige Investorenlösung mit einem externen Investor, welche eine Perspektive auf eine attraktive Gläubigerbefriedigung beinhaltet, so lange als möglich blockiert wird, um eine – häufig mit geringerer Auszahlung an die Gläubiger verbundene – Eigenlösung des bisherigen Gesellschafters zu forcieren. Hierbei ist es wichtig, zwischen den nicht deckungsgleichen Zielen der in § 1 InsO erwähnten Erhaltung des Rechtsträgers und der Beibehaltung der bisherigen Gesellschafterstruktur zu differenzieren.159) Weniger führt aus, dass häufig gerade bei inhabergeführten Unternehmen diskutiert werde, ob „bereits die Suche nach einem Investor den Bestand des Unternehmens gefährde“. Letztlich stellt sich aber regelmäßig heraus, dass hier die Angst vor dem Unternehmensverlust hinter der vermeintlichen „Unverkaufbarkeitsthese“ steht. Kreplin und Buchalik argumentieren hingegen: „Soll das Unternehmen aber durch die Instrumente der Insolvenzordnung nach der Sanierung beim bisherigen Eigentümer verbleiben, kann ein M&A-Prozess störend sein, da bspw. durch das Bieterverfahren Interna an den Wettbewerb dringen können.“160)
Weniger regt an, ggf. „mit einem abgeschwächten Instrument zu arbeiten, um ein etwaiges 164 Drittinteresse zu ermitteln“, ohne einen vollständigen Verkaufsprozess anzustoßen.161) Allert erkennt keine generelle Pflicht für die Durchführung eines Investorenprozesses parallel zu einem Schutzschirm- oder Eigenverwaltungsverfahren. Allerdings sieht er die Notwen___________ 157) Kranzusch/Icks, IfM-Materialien, Nr. 186, S. 36, abrufbar unter http://www.ifm-bonn.org/publikationen/ ifm-materialien/publikationendetail/?tx_ifmstudies_publicationdetail[publication]=283&cHash= efae2f2cc5ca6719aadf72535e17195e (Abrufdatum: 15.12.2022). 158) Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 211. 159) Rebholz/Deichmann, Sanierung & Restrukturierung Heft 8 (12/2021), S. 6, 8. 160) Peters: Ein M&A-Prozess kann auch störend sein, S. E8. 161) Weniger, Sanierung & Restrukturierung Heft 8 (12/2021), S. 9, 10.
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digkeit für den Start eines strukturierten Investorenprozesses, wenn im Vergleich zu einem Insolvenzplan bei unverändertem Gesellschafterkreis, die erwartete Gläubigerbefriedigung unterhalb des erwarteten Zuflusses bei Veräußerung des Geschäftsbetriebs an einen Dritten zurückbleibt oder aber Finanzierungsbeiträge aus dem bisherigen Gesellschafterkreis zur Umsetzung des Insolvenzplans unsicher sind.162) 165 Als Risikofaktor ist hier auch eine Ablehnung des Insolvenzplans im Abstimmungstermin einzuschätzen. Gelingt es nicht, den, zusammen mit dem Investor entwickelten Plan im Abstimmungstermin durchzusetzen, so droht ein Scheitern des Investorenprozesses, da in der Regel vor Einreichung des Insolvenzplans bei Gericht eine Festlegung auf den präferierten Investor erfolgt. Die Warscheinlichkeit ist als nicht sehr hoch einzuschätzen, dass alternative Investorenkandidaten in einer solchen Konstellation nochmals motiviert werden können, diese Beteiligungsmöglichkeit in Erwägung zu ziehen. 166 Die Betriebsfortführung im eröffneten Verfahren mit Insolvenzplan eröffnet somit für Investoren und Gläubiger zugleich die Nutzung bedeutender ökonomischer Vorteile. Auf dem Weg hin zur Realisierung dieser Vorteile sind jedoch erhöhte Risiken im Transaktionsprozess in Kauf zu nehmen. 167 Abschließend sei darauf hingewiesen, dass § 217 Satz 2 in Kombination mit § 225a InsO „[…] die Möglichkeit der Einbeziehung von Gesellschafterrechten in die Reorganisation der Insolvenzschuldnerin durch einen Insolvenzplan“
vorsieht.163) Diese Regelung erlaubt es z. B. Druck auf Altgesellschafter auszuüben, die i. R. der Übertragung der Mehrheit der Geschäftsanteile auf einen Investor eine unrealistische Erlöserwartung hinsichtlich der Veräußerung ihrer Geschäftsanteile formuliert haben. Der Investoreneintritt erfolgt i. R. von Insolvenzplänen in der Regel im Wege einer Barkapitalerhöhung, die eine massive Verwässerung der Altgesellschafter zur Folge hat. Investoren streben häufig die Kontrolle über 100 % der Geschäftsanteile an und haben daher das Ziel, den Altgesellschaftern die nach Verwässerung verbleibende Restbeteiligung zu moderaten Bedingungen abzukaufen.164) 3.2
Ohne Insolvenzplan
168 Eine Betriebsfortführung im eröffneten Verfahren ohne Insolvenzplan kann für den M&AProzess bedeuten, dass die oben beschriebenen (siehe Rz. 147 ff.) unterschiedlichen Interessenlagen zwischen Geschäftsleitung und Insolvenzverwaltung durch Verzicht auf die weitere Mitwirkung der bisherigen Geschäftsleitung aufgelöst wird.165) Der Verzicht auf die weitere Mitwirkung der bisherigen Geschäftsleitung hat insgesamt die folgenden Konsequenzen: x Keine Belastung des Investorenprozesses durch eine Geschäftsleitung mit abweichendem Zielsystem. x Chance für die Investoren-Interessenten, die Geschäftsleitung nach Umsetzung der übertragenden Sanierung neu zu besetzen. x Chance für die zweite Führungsebene des schuldnerischen Unternehmens, sich im Investorenprozess zu profilieren. x In der Regel eingeschränkte Möglichkeit, eine fundierte mittelfristige Unternehmensplanung zu entwickeln. x Reduzierte Chance einen Finanzinvestor zu gewinnen. ___________ 162) 163) 164) 165)
Allert, Distressed M&A, S. 220. Hölzle, ZIP 2012, 2427, 2428. Undritz in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 136. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 659.
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Insgesamt bietet die Betriebsfortführung im eröffneten Verfahren ohne Insolvenzplan die 169 Chance, einen Investorenprozess kurzfristig nach Verfahrenseröffnung mit hoher Transaktionssicherheit abzuschließen. Die oben (siehe Rz. 165) beschriebenen Risiken aus der möglichen Beendigung der Betriebsfortführung im Vorfeld des Abstimmungstermins, wie auch das Risiko einer Abweisung des Plans im Abstimmungstermin, entfallen. Ebenso entfallen jedoch auch die oben (siehe bei Rz. 158) beschriebenen Potentiale, die – durch den Investor genutzt – die Gläubigerbefriedigung optimieren können. Denkbar ist aber auch hier ein Scheitern des Investorenprozesses: der Autor hat in einem 170 vor einigen Jahren erfolgreich abgeschlossenen Investorenprozess die Erfahrung gemacht, dass ohne Insolvenzplan (und Weiterfinanzierung des sanierten Unternehmens durch seine bisherigen Hausbanken) eine erfolgreiche Transaktion mangels einer alternativen, den Interessenten zur Verfügung stehenden Bankfinanzierung ausgeschlossen gewesen wäre. Die Vorlage eines mit den Hausbanken als Hauptgläubiger abgestimmten Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter bildete hier somit eine wesentliche Bedingung für den erfolgreichen Abschluss des Investorenprozesses und somit des Insolvenzverfahrens. Beispiel 3: Investorenprozess im eröffneten Verfahren ohne Insolvenzplan Die FFK-Unternehmensgruppe war ein mittelständisches Entsorgungsunternehmen am Standort Peitz bei Cottbus. Die Aufbereitung von Hausmüll sowie Baustellen- und anderen Abfällen zu Ersatzbrennstoffen erfolgte durch die Rohstofftiger Gesellschaft für Wertstoffaufbereitung und Rückgewinnung mbH. Deren Muttergesellschaft, die FFK Environment GmbH, war für das Stoffstrom-Management (Beschaffung der zu verarbeitenden Abfälle sowie Veräußerung des produzierten Ersatzbrennstoffes) der im Verarbeitungsprozess selektierten Wertstoffe, verantwortlich. Zugleich unterhielt sie einen umfangreichen Fuhrpark für Nah- und Fernlogistik. Eine weitere Tochtergesellschaft, die FFK Compositepellets Forst GmbH, war gegründet worden, mit dem Ziel, aus Kohlestaub und biogenen Reststoffen sog. Compositepellets herzustellen. Diese sollten es den Anwendern erlauben, den Verbrauch von CO2-Zertifikaten zu reduzieren. Die Pellet-Produktion war aufgrund technischer Probleme mit der von einem namhaften Maschinenbauer hergestellten innovativen Pelletiermaschine nicht aufgenommen worden. Übertragung von Vermögensgegenständen und Personal i. R. zweier Einzeltransaktionen: Zur Refinanzierung vorgenommener Investitionen sowie zur Rückzahlung aufgenommenen Mezzanine-Kapitals hatte die FFK Environment GmbH einen Finanzinvestor am Kapital beteiligt und zudem eine Unternehmensanleihe emittiert. In 2012 hatte die FFK-Unternehmensgruppe mit 195 Beschäftigten bei Umsatzerlösen von 26,4 Mio. € ein negatives EBIT von 7,1 Mio. € erzielt. In 2013 waren Umsatz und Verlust rückläufig. Im Oktober 2013 stellten alle drei vorgenannten Gesellschaften der FFK-Unternehmensgruppe Insolvenzantrag beim Amtsgericht Cottbus. Professor Rolf-Dieter Mönning wurde zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Nachdem sich die Gesellschafter über eine Reorganisation der drei schuldnerischen Unternehmen nicht verständigen konnten, wurde das Insolvenzverfahren zum 1.1.2014 eröffnet und Professor Rolf-Dieter Mönning zum Insolvenzverwalter bestellt. Anschließend wurde SSC Consult mit einem strukturoffenen Investorenprozess für alle drei schuldnerischen Unternehmen beauftragt. Ziel war es zunächst, die Geschäftsbetriebe aller drei schuldnerischen Unternehmen an einen Investor zu veräußern oder aber einen Investoreneintritt bei den drei Rechtsträgern i. R. einer Reorganisation zu strukturieren. Im Februar 2014 wurde deutlich, dass die technischen Probleme bei der Pelletieranlage gravierender als erwartet waren, so dass der Investorenprozess für die FFK Compositepellets Forst GmbH angehalten wurde und die Investorengespräche sich nun zunächst auf die Entsorgungssparte konzentrierten. Aufgrund mangelnder kontinuierlicher und vertraglich gebundener Input-Stoffströme, war das Erwerbsinteresse unter den zahlreichen kontaktierten Unternehmen der Entsorgungsindustrie, Deichmann
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der Abnehmerbranchen (insbesondere Papier- und Zementindustrie) limitiert. Finanzinvestoren blieben aufgrund des sehr kompetitiven und staatlich regulierten Branchenumfeldes sowie der anhaltenden Verlustsituation zurückhaltend. Dennoch konnten fünf indikative Erwerbsangebote eingeholt und nach vertiefter Prüfung und Verhandlung im Juli 2014 mit der EurologistikUnternehmensgruppe, Senftenberg, zwei Verträge zur Übertragung des Rohstofftiger-Geschäftsbetriebs sowie zur Übertragung wesentlicher Teile des Geschäftsbetriebs der FFK Environment GmbH, abgeschlossen werden. Die Eurologistik-Unternehmensgruppe, ein regionaler Wettbewerber, war an dem Ausbau der eigenen Kapazitäten in den Bereichen EBS-Produktion und Logistik interessiert. Der Investorenprozess hatte sich allerdings aufgrund rechtlicher Probleme im Zusammenhang mit einem Erbbaurecht sowie infolge der Entdeckung einer Müll-Ablagerung auf dem zu veräußernden Gelände verzögert. Der weder in technischer, noch in kaufmännischstrategischer Hinsicht ausgereifte Geschäftsbetrieb der FFK Compositepellets Forst GmbH, musste liquidiert werden. 171 Das Beispiel FFK zeigt sehr deutlich, dass nach Verfahrenseröffnung und Entstehen der Durchgriffskraft des Insolvenzverwalters Optimierungen am schuldnerischen Unternehmen mit dem Ziel einer Ergebnisverbesserung durchgeführt werden können. Sofern die Ergebnisund Liquiditätslage auskömmlich sind, besteht der „Plan B“ in der (für den M&A-Berater in der Regel weniger erfreulichen) Perspektive eines Abbruchs der Verhandlungen und einer längerfristigen Fortführung durch den Insolvenzverwalter. Der Insolvenzverwalter muss daher unbedingt persönlich oder aber durch sehr erfahrende Mitarbeitende als Verkäufer die Verhandlungen begleiten und dort, wo der M&A-Berater qua seiner lediglich beratenden Rolle an seine Grenzen stößt, konkrete Aussagen bzw. Entscheidungen treffen. 4.
In der Eigenverwaltung
172 Hier sind die oben (siehe bei Rz. 156 ff.) bereits aufgeführten Vor- und Nachteile, die sich aus der Vorlage eines Insolvenzplans für die Umsetzung des Investorenprozesses und damit auch für die Erzielung eines aus Gläubigersicht akzeptablen Ergebnisses des Insolvenzverfahrens gleichlautend ergeben, zu berücksichtigen. 173 Hinzu kommen die folgenden Elemente: x
Ergänzung der Geschäftsleitung: Im Rahmen der Eigenverwaltung kommt es in der Regel zu einer Neubesetzung in der Geschäftsleitung des schuldnerischen Unternehmens durch einen erfahrenen Insolvenzrechtsexperten. Ziel dieser Maßnahme ist es, das Vertrauen der Arbeitnehmer, Lieferanten, Gläubiger und Mitarbeiter, wie auch der sonstigen Stakeholder des schuldnerischen Unternehmens, in die Geschäftsleitung wieder herzustellen.166)
x
Anreiz für eine rechtzeitige Insolvenzantragsstellung mit einem ersten Sanierungskonzept: Das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung bildet einen Anreiz für die Geschäftsleitung des schuldnerischen Unternehmens, rechtzeitig einen Insolvenzantrag zu stellen und hierbei ein erstes Sanierungskonzept vorzulegen.167) „Die Kombination aus Eigenverwaltung und Insolvenzplan bietet sich geradezu an. Denn der Schuldner, der daran interessiert ist, die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nicht zu verlieren, verbindet diese Absicht mit dem Ziel, eine Erhaltungslösung für sein Unternehmen zur verwirklichen.“168)
Die Gläubiger und sonstigen Stakeholder haben das Recht, i. R. des vorläufigen Gläubigerausschusses, zu dem vorgelegten Sanierungskonzept Stellung zu nehmen.169) Hieraus ___________ 166) 167) 168) 169)
R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 645. Spies, ZInsO 2005, 1254, 1259; Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337, 1340. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 649; Spies, ZInsO 2005, 1254, 1256. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 661.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
folgt in der Regel, dass die Gläubiger und die sonstigen Beteiligten den für das insolvente Unternehmen handelnden Personen sowie dem gesamten Restrukturierungsprozess das erforderliche Vertrauen entgegenbringen, das auch erforderlich ist, um bei den Verhandlungen mit interessierten Investoren eine Konzeption zu entwickeln, die aus Investorensicht tragfähig und aus Gläubigersicht akzeptabel ist. x In der Regel optimale Möglichkeit, eine fundierte mittelfristige Unternehmensplanung zu entwickeln: Die Ergänzung der Geschäftsleitung durch einen Experten mit insolvenzrechtlichem Sachverstand erlaubt es, frühzeitig eine fundierte mittelfristige Unternehmensplanung zu entwickeln, die die bestehenden insolvenzrechtlichen Gestaltungsspielräume ausnutzt und aus Sicht interessierter Interessenten einen Anreiz schafft, als neuer (Mehrheits-)gesellschafter in den zu sanierenden Rechtsträger einzutreten. Entsprechend der oben dargestellten Diskussion (siehe unter Rz. 162) über die Frage, ob 174 bisherige Geschäftsführung und Gesellschafter einem Gesellschafterwechsel nach objektiven Maßstäben beurteilen, kann die Anordnung der Eigenverwaltung den M&A-Prozess sogar erschweren. Angesichts negativer Erfahrungen mit Erwerben aus Eigenverwaltungen, bei denen Investoren sich nicht transparent und objektiv informiert fühlten, zeigt sich aus Sicht des Verfassers abweichend von der in der vorherigen Auflage formulierten Einschätzung ein Trend zum Erwerb insolventer Unternehmen auch bei angeordneter Eigenverwaltung im Wege des Asset Deals. Beispielhaft zu erwähnen sind hier aus der eigenen Beratungspraxis die Erwerbe der Geschäftsbetriebe der Kahla Thüringen Porzellan GmbH sowie der Eisengießerei Torgelow GmbH – in beiden Fällen hatte das Gericht die Eigenverwaltung angeordnet. Jeweils trat die Eigenverwaltung mit Zustimmung des Sachwalters als Verkäufer des Geschäftsbetriebes auf. Generell gilt für Investorenprozesse in der Eigenverwaltung, das entweder der Sachwalter 175 persönlich oder aber einer seiner besonders erfahrenen Mitarbeitenden die Verhandlungen sehr detailliert mitbegleiten sollte, um einen erfolgreichen Transaktionsabschluss im Sinne aller „stakeholder“ sicherzustellen. 5.
Im Schutzschirmverfahren
Mönning bezeichnet das Schutzschirmverfahren (im Gesetzestext bezeichnet als „Verfahren 176 zur Vorbereitung einer Sanierung“) als „Instrument gefährdeter Unternehmen, die das Insolvenzverfahren als Problemlösungshilfe nutzen wollen“.170) Dieses Verfahren begünstigt die Erfolgsaussichten eines M&A-Prozesses i. R. einer Betriebsfortführung aus folgenden Gründen gegenüber dem Planverfahren in Eigenverwaltung: x Geringere Störung der Gläubiger-Beziehungen: Das am Markt zu platzierende Unternehmen ist bei Antragstellung noch nicht zahlungsunfähig; der Antrag wird bereits bei drohender Zahlungsunfähigkeit gestellt.171) x Erleichterte Willensbildung: Der Antrag auf Eröffnung eines Schutzschirmverfahrens kann verbunden sein mit dem Vorschlag des Schuldners auf Bestellung eines bestimmten Sachwalters.172) In der Regel muss das Gericht diesem Vorschlag folgen.173) Dieser quasi-verbindliche Vorschlag eines „mitgebrachten Sachwalters“174) vermeidet das ansonsten in der Eigenverwaltung angelegte Konfliktpotential zwischen Sachwalter und Geschäftsleitung.175) ___________ 170) 171) 172) 173) 174) 175)
R.-D. Mönning in: FS Kübler, S. 433. Schelo, ZIP 2012, 712; R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 661. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 662. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 662; Schelo, ZIP 2012, 712, 713. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 662. R.-D. Mönning in: FS Wellensiek, S. 641, 657 – 660.
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§ 33 x
Teil V Einzelfragen
Gesellschaftsrechtliche Veränderungssperre: Laut Hölzle sperrt bereits der Antrag auf Einleitung eines Schutzschirmverfahrens „die gesellschaftsrechtlich den Gesellschaftern vorbehaltenen Kompetenzen […].“176) Hierdurch können Einflüsse obstruierender Gesellschafter, die das Insolvenzverfahren insgesamt und insbesondere den Investorenprozess belasten könnten, verhindert werden.
177 Grundsätzlich birgt das Schutzschirmverfahren für den M&A-Prozess Vorteile, da die Gläubigerbeziehungen in der Regel in einem Verfahren zur Vorbereitung einer Sanierung nach § 270b InsO noch nicht vollständig zerrüttet sind, der Willlensbildungsprozess auf Seiten des schuldnerischen Unternehmens erleichtert wird und störende Einflüsse aus dem Gesellschafterkreis abgewehrt werden können. Wichtig ist aber auch aus Investorensicht, dass das Kontrollsystem in dieser Variante des Insolvenzverfahrens nicht ins Wanken gerät,177) da Investoren darauf achten, dass das von ihnen bereit gestellte Kapital nur in vertretbarem Rahmen auch Belangen der Altgesellschafter zugutekommt. IV.
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und Würdigung
178 Der M&A-Prozess i. R. einer vorinsolvenzlichen Krisensituation dient der vollständigen Rückführung oder Sicherstellung aller Gläubiger und nach Möglichkeit der Sicherung einer Restbeteiligung oder Restabfindung für die Gesellschafter. Er kann allerdings auch in außergerichtliche Verzichtsverhandlungen mit den Gläubigern münden, wenn aus Investorensicht der Enterprise Value des Unternehmens den Betrag der vorhandenen Finanzschulden unterschreitet. Der vorinsolvenzliche Investorenprozess beinhaltet zum einen den Vorzug, dass ein Erwerb außerhalb des Insolvenzverfahrens für auf Sondersituationen fokussierte Finanzinvestoren in der Regel attraktiver ist. Zum anderen gibt er den handelnden Personen die Chance, mit der Möglichkeit der Einleitung eines geordneten Insolvenzverfahrens unter Beibehaltung des Transaktionsteams die Verhandlungsposition gegenüber Investoren zu stärken. Diese Option zur Überleitung des Investorenprozesses in ein verändertes Rechtskleid stellt seit ESUG und verstärkt mit Hilfe des StaRUG eine große Chance dar. 179 Der M&A-Prozess i. R. der Unternehmensfortführung i. R. von Insolvenzverfahren dient einer Gläubigerbefriedigung, die in der Regel höher ausfällt als bei der Unternehmensliquidation. Er ist angelegt als ein Bietungsverfahren, in dem eine ausreichend große Anzahl geeigneter strategischer Investoren und Finanzinvestoren auf die möglichst detailliert und zukunftsbezogen beschriebene Investitionsmöglichkeit angesprochen werden. 180 Als Messlatte für strategische Entscheidungen der Gesellschafter oder aber des Insolvenzverwalters i. R. von M&A-Prozessen steht der, aus den in der Zukunft erzielbaren Zahlungsströmen abzuleitende Zukunftserfolgswert des krisenbehafteten bzw. schuldnerischen Unternehmens zur Verfügung. Zur Bewertung von Unternehmen/Geschäftsbetrieben bilden die verschiedenen Methoden zur Abschätzung der zukünftig mit dem Unternehmen/Geschäftsbetrieb aus Sicht der verschiedenen Investorengruppen erzielbaren Zahlungsüberschüsse die geeignete Entscheidungsgrundlage. 181 Im vorinsolvenzlichen M&A-Prozess haben die Gesellschafter die Möglichkeit, eine nach Möglichkeit vollständige Gläubigerbefriedigung i. V. m. der Sicherung eines noch verbleibenden Teils des eigenen unternehmerischen Vermögens zu realisieren. 182 Während im Eröffnungsverfahren in der Regel die Interessen von Geschäftsleitung, Gesellschaftern und vorläufigem Insolvenzverwalter (Sachverwalter) parallel zur Entfaltung kommen, stehen die Gläubigerinteressen im eröffneten Verfahren im Fokus. ___________ 176) Hölzle, ZIP 2012, 2427, 2428. 177) R.-D. Mönning in: FS Kübler, S. 447.
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M&A-Prozesse im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 33
Während der Insolvenzplan für einen Investor verschiedene wirtschaftliche Vorteile beinhaltet, die mit der Unsicherheit eines länger andauernden Transaktionsprozesses und evtl. einer ungewünschten Einflussnahme durch die bisherigen Gesellschafter und Organe erkauft werden müssen, bietet die klassische übertragende Sanierung mit ihrer aus Erwerbersicht hohen Rechtssicherheit in der Regel ein überschaubares Ergebnis für die Gläubiger, aber auch eine hohe Wahrscheinlichkeit für den erfolgreichen Abschluss des Transaktionsprozesses und damit des Insolvenzverfahrens – sofern den Investoren die erforderliche Liquidität zur Verfügung steht. Die Eigenverwaltung und das Schutzschirmverfahren im Besonderen erleichtern eine frühzeitige Einleitung des Restrukturierungsverfahrens und zugleich die Ausarbeitung eines detaillierten mittelfristigen Wirtschaftsplan des zu restrukturierenden Unternehmens. Begibt sich ein Unternehmen unter den „Schutzschirm“ des § 270b InsO, so sind die Einflussmöglichkeiten von Gesellschaftern, die eine Sanierung behindern möchten, sehr begrenzt. Insolvenzplan, Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren setzen eine Mindestgröße des Unternehmens voraus. Je nach Gegenstand des Unternehmens sowie der mittelfristig mit dem Unternehmen erzielbaren Ergebnismargen ist in etwa ab einer Umsatzgrößenordnung i. H. von 20 Mio. € pro Jahr davon auszugehen, dass diese Alternativen zur klassischen übertragenden Sanierung unter Kostengesichtspunkten ernsthaft in Erwägung gezogen werden können. Das Forum 270 zog im März 2022 Bilanz hinsichtlich der nun zehnjährigen Erfahrung mit ESUG. Zum Ausdruck gebracht wird hierbei, dass Schutzschirm- und Eigenverwaltungsverfahren mittlerweile fest etablierte Sanierungswege beschreiben. Im Jahr 2021 entfielen von den 50 größten Insolvenzverfahren des Jahres am deutschen Markt ca. 50 % auf Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren. Das Forum 270 hat mit dazu beigetragen, dass die Vorschriften für die Durchführung von Schutzschirm- und Eigenverwaltungsverfahren im Zuge des SanInsFoG infolge des Erfordernisses, eine durch ausgewiesene Experten erstellte Fortführungsplanung für das zu sanierende Unternehmen vorzulegen, verschärft wurden. Allerdings weisen die Mitglieder des Forums darauf hin, dass jeweils im Einzelfall die geeignete Sanierungsstrategie abzuwägen ist.178) Die durch das ESUG geschaffenen Möglichkeiten der Gestaltung von Investorenprozessen in der Unternehmenskrise (beginnend im vorinsolvenzlichen Bereich und ggf. überleitend in ein geordnetes Insolvenzverfahren) senken das Risiko einer Liquidation des schuldnerischen Unternehmens – die Wahrscheinlichkeit einer langfristigen Fortführung des zu sanierenden Unternehmens steigt.179) Der Verfasser ist der Meinung, dass der durch das SanInsFoG nochmals angereichte Instrumentenkasten für Unternehmenssanierungen beste Voraussetzungen mit sich bringt, um unter Nutzung der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung von Unternehmenssanierungen Unternehmen vor dem Marktaustritt zu bewahren und die Gläubigerinteressen sowie die Belange der Arbeitnehmer angemessen zu berücksichtigen. Im Einzelfall zeigt sich, ob eine Unternehmenssanierung mit einem Gesellschafterwechsel oder der Veräußerung des Geschäftsbetriebs einhergeht oder ob die bisherigen Gesellschafter ein entschuldetes und neu aufgestelltes Unternehmen weiter fortführen können. Insgesamt lässt sich eine Differenzierung und Professionalisierung der Sanierungswege feststellen. ___________ 178) Forum 270, Zehn Thesen zu zehn Jahren ESUG abrufbar unter https://www.forum270.de/de/pressemitteilungen-29-html (Abrufdatum: 15.12.2022). 179) Roland Berger Strategy Consultants/Noerr LLP/Noerr Consulting AG, ESUG-Studie 2012: Erste Praxiserfahrungen mit der neuen Insolvenzordnung, S. 29, abrufbar unter http://www.rolandberger.com/media/ pdf/Roland_Berger_ESUG-Studie_20121106.pdf (Abrufdatum: 15.12.2022).
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§ 34 Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz Klöck/Gerdes
Übersicht I. II. III. IV. 1.
2. 3.
Problemaufriss............................................. 1 Typen von Genehmigungen ..................... 2 Realkonzessionen in der Insolvenz .......... 4 Personalkonzessionen in der Insolvenz............................................................... 9 Gewerberechtliche Personalkonzessionen .............................................. 11 1.1 Widerruf der Erlaubnis.................. 14 1.1.1 Unzuverlässigkeit .......................... 16 1.1.2 Geltung von § 12 GewO ............... 24 1.2 Fortführung in der Insolvenz ....... 30 Personalkonzessionen außerhalb der GewO ................................................... 35 Sonderfall: Freiberufler.............................. 37 3.1 Widerruf der Berufszulassung ...... 41
3.1.1 3.1.2
Gesundheitsberufe ........................ 43 Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer............. 49 3.1.3 Architekten .................................... 58 3.2 Möglichkeiten der Fortführung ... 59 3.2.1 Gesundheitsberufe ........................ 61 3.2.2 Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer............. 70 V. Alternativszenarien .................................. 77 1. Verwertung öffentlich-rechtlicher Befugnisse................................................... 78 2. Freigabe zur Fortführung durch den Schuldner .................................. 83 VI. Fazit ............................................................ 89
Literatur: Arens, Steuerforderungen im Zusammenhang mit dem Neuerwerb nach Neuregelung des § 35 InsO, DStR 2010, 446; Berger, Die unternehmerische Tätigkeit des Insolvenzschuldners nach § 35 Abs. 2 InsO, ZInsO 2008, 1101; Braun/Gründel, Approbationsentzug wegen Unwürdigkeit und Anspruch auf Wiedererteilung der Approbation, MedR 2001, 396; Friauf, Kommentar zur Gewerbeordnung, Loseblatt, Stand: 03/2022; Graf/Wunsch, Eigenverwaltung und Insolvenzplan – gangbarer Weg in der Insolvenz von Freiberuflern und Handwerkern, ZIP 2001, 1029; Haarmeyer, Die Freigabe selbständiger Tätigkeit des Schuldners und die Erklärungspflichten des Insolvenzverwalters, ZInsO 2007, 696; Hahn, Einige Rechtsprobleme des § 12 GewO, GewA 2000, 361; Hoppe/Beckmann/Kauch, Umweltrecht, 2. Aufl., 2000; Janca, „Endlich Rechtsanwalt bleiben?“, ZInsO 2005, 242; Jarass, BundesImmissionsschutzgesetz, Kommentar, 14. Aufl., 2022; Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 3. Aufl., 1997; Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, hrsg. v. Körner/Krasney/Mutschler/Rolfs, 117. EL, Stand: 12/2021; Kläner/Krause, Die Fortführung erlaubnispflichtiger Gewerbe im Insolvenzverfahren, ZVI 2019, 47; Kluth, Die freiberufliche Praxis „als solche“ in der Insolvenz – Viel Lärm um nichts?, NJW 2002, 186; Krumm, Die Auslegung des § 12 GewO zwischen Sonderinteresse und gemeinwohlorientierter Gefahrenabwehr, GewA 2010, 465; Landmann/Rohmer (Hrsg.), Gewerbeordnung und ergänzende Vorschriften, Kommentar, Loseblatt, Stand: 2/2021; Mai, Die selbständig tätige natürliche Person im Insolvenzverfahren – Besonderheiten im Hinblick auf Pfändungsschutz und Unternehmensfortführung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., 2009, Kap. 19; Piekenbrook, Das ESUG – fit für Europa?, NZI 2012, 905; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 5. Aufl., 2020; Schick, Der Konkurs des Freiberuflers – Berufsrechtliche, konkursrechtliche und steuerrechtliche Aspekte, NJW 1990, 2359; Schaeffer, Der Begriff der Unzuverlässigkeit in § 35 Abs. 1 GewO, WiVerw 1982, 100; Schallen, Zulassungsverordnung für Vertragsärzte, Vertragszahnärzte, Medizinische Versorgungszentren, Psychotherapeuten, Kommentar, 8. Aufl., 2012; Schliesky, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl., 2014; Schmittmann, Freie Kammerberufe und Insolvenzplanverfahren, ZInsO 2004, 725; Smid, Freigabe des Neuerwerbs in der Insolvenz selbstständig tätiger Schuldner, DZWIR 2008, 133; Spickhoff, Medizinrecht, 2011; Tettinger/Wank/Ennuschat, Gewerbeordnung, Kommentar, 9. Aufl., 2020; Tetztlaff, Rechtliche Probleme in der Insolvenz des Selbstständigen, ZInsO 2005, 393; Uhlenbruck, Die Verwertung einer freiberuflichen Praxis durch den Insolvenzverwalter, in: Festschrift für Wolfram Henckel, 1995, S. 877; Vallender, Gewerbeuntersagung während des Insolvenzverfahrens, VIA 2010, 55; Vallender, Rechtliche und tatsächliche Probleme bei der Abwicklung der Arztpraxis in der Insolvenz, NZI 2003, 530; Vallender, Die Arztpraxis in der Insolvenz, in: Festschrift für Friedrich Wilhelm Metzeler, 2003, S. 21; Vierhaus, Abtretbarkeit von Wirtschaftssubventionen, NVwZ 2000, 734; Voigt/Gerke, Die insolvenzfreie, selbständige Arbeit, ZInsO 2002, 1054; Wischemeyer, Freigabe einer selbstständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO – Praxisfragen und Lösungswege, ZInsO 2009, 2121.
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§ 34
Teil V Einzelfragen
I.
Problemaufriss
1 Die Führung eines Gewerbes, Handwerks oder einer freiberuflichen Praxis ebenso wie der Betrieb einer Anlage ist in vielen Fällen von der Erteilung einer Genehmigung abhängig. Ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Begünstigten der Genehmigung hat unterschiedliche Auswirkungen – je nachdem, welche inhaltliche Ausgestaltung die Genehmigung hat.*) II.
Typen von Genehmigungen
2 Genehmigungen sind öffentlich-rechtliche Befugnisse zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten, zum Bau und Betrieb von Gebäuden und Anlagen oder zur Nutzung von Sachen, welche die öffentliche Verwaltung hoheitlich, also in der Form eines Verwaltungsakts, erteilt. Traditionell wird zwischen sog. Sach- oder Realkonzessionen einerseits und Personalkonzessionen andererseits unterschieden.1) x
Realkonzessionen werden einem Unternehmen als solchem erteilt, sie knüpfen an bestimmte dingliche oder sachliche Voraussetzungen, wie etwa bestimmte Erfordernisse einer Anlage, an (z. B. §§ 4 ff. BImSchG).2)
x
Personalkonzessionen dagegen knüpfen an die Person des Unternehmers an, der bestimmte persönliche Voraussetzungen erfüllen muss (z. B. § 34c GewO).3)
x
Häufig finden sich zudem gemischte Konzessionen bzw. sachgebundene Personalerlaubnisse, die beide Arten der Voraussetzungen kombinieren.4) Ein typisches Beispiel für eine solche gemischte Konzession ist die Gaststättenerlaubnis als raumbezogene Personalkonzession.
3 Bedeutsam ist die Unterscheidung vor allem im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit. Während eine Sachkonzession auf den Rechtsnachfolger übertragen werden kann, muss der Rechtsnachfolger in den Fällen der Personalkonzession in seiner Person die Voraussetzungen erfüllen. Er muss daher eine neue Genehmigung beantragen.5) Insbesondere die Personalkonzessionen bereiten vor diesem Hintergrund i. R. der Betriebsfortführung in der Insolvenz Probleme. Deshalb wird der Schwerpunkt der nachfolgenden Betrachtung auf den Personalkonzessionen liegen. III.
Realkonzessionen in der Insolvenz
4 Realkonzessionen sind auf die Sache (Anlage, Grundstück etc.) und nicht auf die Person des Inhabers bezogen.6) Es handelt sich um Rechte zur Ausübung eines bestimmten Gewerbes, die gleichsam dinglichen Charakter haben, nämlich veräußerlich und vererblich sind.7) Deshalb lässt ein Wechsel der Person, etwa des Betreibers einer Anlage, ihre Wirksamkeit unberührt.8)
___________ *) 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)
Wir bedanken uns für die Unterstützung von Mareike Götte, Nadine Schriek und Miriam Tigges. Tünnessen-Harmes in: Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 9 Rz. 12 ff. Hoppe/Beckmann/Kauch, Umweltrecht, § 8 Rz. 25. Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, § 4 Rz. 406. Schliesky, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 232. Schliesky, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 232. Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 588. Sydow in: BeckOK-GewO, § 10 Rz. 12. Jarass, BImSchG, § 6 Rz. 65.
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Klöck/Gerdes
§ 34
Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz
Die Sachbezogenheit eröffnet die Möglichkeit, den Vermögenswert der Konzession un- 5 mittelbar zu Gunsten der Insolvenzmasse zu realisieren: x
Setzt das Gericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter ohne Verfügungsverbot und mit Zustimmungsvorbehalt (sog. „halbstarker“ Insolvenzverwalter) ein, kann eine (bspw. nach BImSchG) genehmigungsbedürftige Anlage durch den bisherigen Betreiber fortgeführt werden, sofern der vorläufige Insolvenzverwalter hierzu seine Zustimmung erteilt. Dies wird und muss der vorläufige Insolvenzverwalter jedenfalls dann tun, wenn es sich um eine grundsätzlich profitable Anlage handelt.9)
x
Im eröffneten Insolvenzverfahren stellen die Realkonzessionen einen Teil der Insolvenzmasse dar, da ihnen regelmäßig ein Vermögenswert zukommt.10) Der Insolvenzverwalter übernimmt spätestens jetzt, soweit nicht durch einen Insolvenzplan etwas anderes bestimmt wurde und auch keine Eigenverwaltung angeordnet wurde, die Verwaltungsund Verfügungsbefugnis über das schuldnerische Unternehmen. Er übernimmt nicht lediglich die schuldnerische Betriebsstätte und dessen Anlagen, sondern rückt durch die Übernahme einer Anlage in die Betreiberstellung ein.
Dies folgt daraus, dass Betreiber einer Anlage derjenige ist, der unter Berücksichtigung der 6 rechtlichen, wirtschaftlichen und tatsächlichen Umstände einen bestimmenden Einfluss auf die Errichtung, Beschaffenheit und den Betrieb der Anlage hat.11) Einer förmlichen Übertragung bedarf es nicht. Als reine Sachkonzession geht die Genehmigung ohne Übertragungsgenehmigung oder Anzeige auf den neuen Betreiber über.12) Hieraus folgt, dass der Insolvenzverwalter sämtliche Rechte und Pflichten in Bezug auf den Betrieb der Anlage zu beachten hat, die bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beachten waren. Er hat insbesondere eine ordnungsgemäße Betriebsorganisation und die Einhaltung aller (v. a. öffentlich-rechtlicher) Pflichten eines Anlagenbetreibers sicherzustellen. Bedeutung hat der Eintritt des Insolvenzverwalters in die Betreiberposition u. a. für Alt- 7 lastenfälle. So trifft bspw. den Insolvenzverwalter als letzten Betreiber einer immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Anlage die Nachsorgepflicht zur ordnungsgemäßen Beseitigung von Abfällen gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 2 BImSchG, wenn er die Anlage des Insolvenzschuldners nach Insolvenzeröffnung kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen fortbetrieben hat. Die dadurch begründete Pflicht des Insolvenzverwalters ist nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO als Masseschuld zu erfüllen13) – ein Umstand, den der Insolvenzverwalter bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat, ob er den Betrieb fortführt. Zu dem Themenkomplex „Altlasten/Immissionsschutz und Haftung“ siehe auch nachfolgend Zimmermann, § 35. Auf ein bereits eingeleitetes, aber noch nicht abgeschlossenes Genehmigungsverfahren 8 für einen zur Masse gehörigen Gegenstand hat die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 240 Satz 1 ZPO eine unterbrechende Wirkung. Der Grund für die Unterbrechung liegt darin, dass der Insolvenzschuldner gemäß § 80 InsO seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse verliert, sobald ein Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt ist. Die Unterbrechung soll dem Insolvenzverwalter die Gelegenheit geben, sich mit dem Prozessstoff vertraut zu machen.14) ___________ 9) 10) 11) 12) 13) 14)
Braun-Böhm, InsO, § 22 Rz. 21. Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 588. OVG Münster, Beschl. v. 27.11.2008 – 8 B 1476/08, UPR 2009, 238; Jarass, BImSchG, § 3 Rz. 87. Jarass, BImSchG, § 6 Rz. 65. VGH Mannheim, Beschl. v. 17.4.2012 – 10 S 3127/11, GewArch 2012, 272. OLG Karlsruhe, Urt. v. 25.7.2003 – 14 U 207/01, DZWIR 2004, 123.
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§ 34
Teil V Einzelfragen
Dies gilt auch für den Fall, dass das Insolvenzgericht eine Eigenverwaltung des Schuldners nach den §§ 270 ff. InsO anordnet hat.15) IV.
Personalkonzessionen in der Insolvenz
9 Aufgrund der Tatsache, dass Personalkonzessionen nicht ohne weiteres auf einen Rechtsnachfolger übertragen werden können, drängt sich die Frage geradezu auf, ob und in welchem Rahmen eine Fortführung eines Gewerbes oder einer freiberuflichen Praxis, welches bzw. welche einer Personalkonzession bedarf, in der Insolvenz möglich ist. Hier kollidiert das Insolvenzrecht mit dem jeweiligen Berufsrecht. Wegen ihres höchstpersönlichen Charakters gehen die berufsrechtlichen Verpflichtungen und Befugnisse nicht wie andere öffentlich-rechtliche Rechte und Verpflichtungen auf den Insolvenzverwalter über. Anders als bspw. in den Fällen einer immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Anlage kann der Insolvenzverwalter nicht ohne weiteres an die Stelle des Schuldners treten.16) Dies gilt jedenfalls insoweit, als ihm die entsprechende Qualifikation für die betreffende Tätigkeit fehlt. 10 Allgemein ist zunächst zu beachten: Nach keiner der berufsrechtlichen Regelungen erlöschen Qualifikation oder Zulassung des Berufsangehörigen automatisch kraft Gesetzes.17) Immer sind ein besonderes Verfahren und ein Ausspruch der zuständigen Stelle erforderlich. Je nach Anknüpfungspunkt der Personalkonzessionen gilt sodann: 1.
Gewerberechtliche Personalkonzessionen
11 Unter den Personalkonzessionen dürfte die gewerberechtliche Personalkonzession vom Insolvenzverwalter in der Praxis am häufigsten anzutreffen sein. Als Gewerbe i. S. der GewO wird gemeinhin jede nicht sozial unwertige, erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete, selbstständige Tätigkeit bezeichnet, die fortgesetzt und nicht nur gelegentlich ausgeübt wird. Ausgenommen von dem Gewerbebegriff sind die Urproduktion18), die freien Berufe und die Verwaltung bloßen Vermögens.19) 12 Grundsätzlich steht es jedem frei, ein Gewerbe zu eröffnen (§ 1 GewO). Allerdings besteht für zahlreiche Gewerbe ein Erlaubnisvorbehalt, um besonderen Schutzanforderungen in bestimmten Bereichen des Wirtschafts- und Arbeitslebens gerecht werden zu können.20) Unterschieden werden deshalb zulassungsfreie und zulassungspflichtige Gewerbe. Zur Ausübung eines zulassungspflichtigen Gewerbes bedarf der Betreiber einer Erlaubnis, in der Regel einer Personalkonzession. Zu den zulassungspflichtigen Gewerben gehören bspw. der Betrieb von Schank- und Speisewirtschaften sowie Beherbergungsbetrieben, die Maklertätigkeit, die Erbringung von Finanzdienstleistungen, die Anlageberatung und –vermittlung, das Aufstellen von Automaten, die Altenpflege und die Kinderbetreuung sowie der Handel mit Waffen. 13 Die Zulassung eines solchen Gewerbes ist an verschiedene Voraussetzungen geknüpft, die teils in der GewO, teils in Spezialgesetzen, etwa dem GastG, der HwO, dem HeimG oder dem WaffG geregelt sind. Die meisten Vorschriften stellen dabei besondere Anforderungen an die Person des Gewerbetreibenden. Dabei stehen je nach der Art des Gewerbes spezielle ___________ 15) 16) 17) 18) 19) 20)
Schumacher in: MünchKomm-InsO, § 85 Rz. 12. Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1033. Depré/Kothe in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 36 Rz. 110; Schick, NJW 1990, 2359. Hierzu zählen insb. Landwirtschaft, Garten- und Weinbau, Tierzucht, Jagd, Fischerei und Bergbau. BVerwG, Urt. v. 24.6.1976 – I C 56.74, NJW 1977, 772. Landmann/Rohmer-Kahl, GewO, § 1 Rz. 2, 6.
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Klöck/Gerdes
Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz
§ 34
Kenntnisse und Fähigkeiten oder auch allgemeinere Anforderungen, etwa die Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden, im Vordergrund. 1.1
Widerruf der Erlaubnis
Ist ein vorläufiger Insolvenzverwalter oder Sachwalter durch das Gericht bestellt, sollte 14 dieser prüfen, ob erforderliche Personalkonzessionen im Falle erlaubnispflichtiger Gewerbe für den Gewerbetreibenden fortbestehen oder bereits behördlich widerrufen wurden. Ist ein Widerruf erfolgt, ist dessen Rechtmäßigkeit zu prüfen und – soweit er noch nicht bestandskräftig ist – der Widerruf bei Rechtswidrigkeit anzufechten. Die GewO sowie die für einzelne Gewerbe bestehenden Spezialgesetze kennen unterschied- 15 liche Widerrufstatbestände. In keinem der Spezialgesetze ist aber die Beantragung oder die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens als konkreter Widerrufstatbestand genannt. In Betracht kommt insofern nur ein Widerruf wegen Unzuverlässigkeit. 1.1.1 Unzuverlässigkeit Personalkonzessionen nach der GewO sind bei Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden 16 zu widerrufen, sofern ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet wäre. Dies folgt aus § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG. Die GewO selbst enthält keine eigenen Widerrufstatbestände, sodass auf das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht zurückzugreifen ist. Einige gewerberechtliche Spezialgesetze, etwa § 15 i. V. m. § 4 GastG, § 19 i. V. m. § 11 Abs. 2 Nr. 1 HeimG sowie § 45 i. V. m. § 21 Abs. 1 WaffG, sehen hingegen eigene Widerrufstatbestände vor. Auch diese setzen die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden voraus. Der Begriff der Unzuverlässigkeit ist in der GewO nicht definiert. Es handelt sich um einen 17 sog. unbestimmten Rechtsbegriff. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG ist gewerberechtlich unzuverlässig, wer keine Gewähr dafür bietet, dass er in Zukunft sein Gewerbe ordnungsgemäß ausüben wird.21) Die Behörde hat somit eine Prognoseentscheidung zu treffen, ob in Zukunft ein Fehl- 18 verhalten des Gewerbetreibenden wahrscheinlich ist.22) Dabei reichen bloße Zweifel an der Zuverlässigkeit oder Vermutungen für eine Untersagung nicht aus. Im Interesse eines umfassenden Schutzes der Allgemeinheit ist hingegen die Wahrscheinlichkeit eines späteren Schadenseintrittes, mithin eine abstrakte Gefahr für die Schutzgüter des § 35 Abs. 1 GewO ausreichend.23) Die Rechtsprechung hat mehrere Fallgruppen entwickelt, wann ein Gewerbe wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden zu untersagen bzw. wann eine gewerberechtliche Personalkonzession zu widerrufen ist. Hierzu zählen etwa Straftaten, Ordnungswidrigkeiten, Steuerrückstände, Verstöße gegen sozialversicherungsrechtliche Pflichten, aber auch mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.24) Für sich genommen führt das Vorliegen solcher Umstände noch nicht zum Widerruf der Erlaubnis oder – bei nicht zulassungspflichtigen Gewerben – zur Gewerbeuntersagung. Im Rahmen der Prognoseentscheidung sind vielmehr alle Umstände, etwa ihre Bedeutung für das fragliche Gewerbe, die Häufigkeit und Intensität etwaiger Verstöße, aber auch durchgeführte oder intendierte Gegenmaßnahmen des Gewerbetreibenden in die Betrachtung einzustellen. So kann bspw. ein einmaliger Verstoß gegen ein Strafgesetz die Unzuverlässigkeit indizieren, wenn es sich um ein gravierendes Delikt handelt.25) Allerdings ist ein Bezug der Straftat zum ausgeübten ___________ 21) 22) 23) 24) 25)
BVerwG, Urt. v. 2.2.1982 – 1 C 146.80, BVerwGE 65, 1 f. Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, § 35 Rz. 32. Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 35 Rz. 31. Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 35 Rz. 36 ff. VG Stuttgart, Urt. v. 22.10.1999 – 4 K 6116/98, GewArch 2000, 25, 26.
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Gewerbe erforderlich, der aber z. B. bei Eigentums- und Vermögensdelikten für alle Gewerbezweige zu bejahen ist.26) 19 Für die i. R. dieser Betrachtung maßgebliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Gewerbetreibender gilt: Im Interesse eines ordnungsgemäßen und redlichen Wirtschaftsverkehrs wird vom Gewerbetreibenden erwartet, dass er bei anhaltender wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit ohne Rücksicht auf die Ursachen seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten seinen Gewerbebetrieb aufgibt.27) Führt der Gewerbetreibende sein Gewerbe bei wirtschaftlicher Schieflage ohne ein tragfähiges, erfolgversprechendes Sanierungskonzept fort, so erweist er sich als unzuverlässig.28) Die Erlaubnis zur Ausübung des Gewerbes ist zu widerrufen. 20 Anknüpfungspunkt für die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden ist folglich weniger die Vermögenslosigkeit als die unterlassene Betriebsaufgabe trotz mangelnder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.29) Wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit ist anzunehmen, wenn der Gewerbetreibende in ungeordneten Vermögensverhältnissen lebt, was insbesondere dann der Fall ist, wenn er sich in einer ausweglosen wirtschaftlichen Krise befindet. Diese ist nicht erst dann festzustellen, wenn das Gewerbe nicht mehr sanierungsfähig ist, sondern schon dann, wenn der Gewerbetreibende bei Eintritt der Krise kein wirtschaftlich sinnvolles Sanierungskonzept vorlegt. Erforderlich für die Feststellung der Tragfähigkeit des Sanierungskonzepts ist es, dass der Gewerbetreibende sowohl das Konzept als auch seine laufenden Einnahmen und Ausgaben offenlegt.30) 21 Die Beurteilung der Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden wird von dem betroffenen Gewerbezweig beeinflusst. Vereinzelt wird sogar angenommen, in bestimmten Gewerbezweigen komme es für die Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden nicht darauf an, ob dieser wirtschaftlich noch leistungsfähig ist. Nach dieser Auffassung führt die wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit nur für solche Gewerbetreibende zur Unzuverlässigkeit und damit zum Widerruf ihrer Erlaubnis, die ein Gewerbe führen, zu dessen Ausübung ausreichende finanzielle Mittel erforderlich sind oder bei denen mit Rücksicht auf die Eigenart des Geschäftsbetriebs, insbesondere die dazugehörige Verwaltung fremder Vermögensteile oder die treuhänderische Verwaltung von Geldern, eine besondere Vertrauenswürdigkeit verlangt werden muss.31) Diese Ansicht dürfte zu weit gehen: Ein Gewerbe, zu dessen Ausübung keine ausreichenden finanziellen Mittel erforderlich sind, erscheint kaum vorstellbar. Für einen in seiner Leistungsfähigkeit stark geschwächten Gewerbetreibenden – gleich welchen Gewerbes – besteht jedenfalls eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Notlage ausweitet. Prognostisch steigt damit auch das Risiko, dass der Gewerbetreibende aus diesem Anlass Handlungen vornimmt, welche die Annahme der Unzuverlässigkeit stützen.32) 22 Gleichwohl lässt sich die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden nicht für jeden Gewerbezweig in gleicher Weise beurteilen.33) In diesem Sinne stellt auch das BVerwG bei bestimmten Gewerben, namentlich den sog. Vertrauensgewerben, erhöhte Anforderungen an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Zu den Vertrauensgewerben zählen bspw. solche Gewerbe, bei denen die Vorleistung der Kunden charakteristisch ist34) oder die sonst besonderes Vertrauen für ___________ 26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34)
Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 35 Rz. 38. BVerwG, Urt. v. 2.2.1982 – 1 C 146.80, DVBl. 1982, 694 ff. BVerwG, Urt. v. 2.2.1982 – 1 C 146.80, DVBl. 1982, 694 ff. Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 35 Rz. 63. OVG Münster, Beschl. v. 26.1.2004 – 4 B 2469/03, juris. Friauf-Heß, GewO, § 35 Rz. 190. Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 35 Rz. 69. So aber: Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, Bd. I, § 35 Rz. 48. Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 35 Rz. 68.
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sich in Anspruch nehmen, wie es etwa bei Maklern35) oder Versicherungsmittlern36) der Fall ist. Bei diesen Gewerbezweigen soll die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit grundsätzlich zur Annahme der Unzuverlässigkeit führen. Aber auch bei den übrigen Gewerbezweigen muss nicht erst abgewartet werden, dass der Gewerbetreibende auf Grund seiner mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Handlungen vornimmt, die für sich genommen wiederum die Annahme seiner Unzuverlässigkeit begründen. Vielmehr kann auf Grundlage der vorzunehmenden Prognose jedenfalls dann bereits von dessen Unzuverlässigkeit ausgegangen werden, wenn die wirtschaftliche Krisensituation, in der er sich befindet, ausweglos erscheint. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist mithin ebenso wenig wie die förmliche Ein- 23 tragung in das Schuldnerverzeichnis Voraussetzung für den Entzug der Gewerbeerlaubnis. Die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, die beharrliche Weigerung, trotz gesetzlicher Verpflichtung seinen Gläubigern Einblick in die eigenen Vermögensverhältnisse zu gewähren37), sowie die Nichteinhaltung von Zahlungsverpflichtungen oder das Wirtschaften ohne sinnvolles Sanierungskonzept38) können für sich genommen bereits zur Begründung der Unzuverlässigkeit ausreichen – die insbesondere auch nicht dadurch beseitigt wird, dass der leistungsunfähige Gewerbetreibende einen auf Restschuldbefreiung gerichteten Insolvenzeröffnungsantrag stellt.39) 1.1.2 Geltung von § 12 GewO Der Widerruf wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden gestützt auf dessen wirt- 24 schaftliche Leistungsunfähigkeit findet seine Grenzen in § 12 GewO. Nach dieser Norm soll eine Untersagungsvorschrift, die auf ungeordnete Vermögensverhältnisse abstellt, während eines Insolvenzverfahrens bzw. der Überwachung der Insolvenzplanerfüllung keine Anwendung finden. Nach § 12 GewO ist die Gewerbeuntersagung sowie der Widerruf einer gewerberechtlichen Erlaubnis damit im laufenden Insolvenzverfahren allein wegen ungeordneter Vermögensverhältnisse unzulässig. § 12 GewO sichert den Vorrang des Insolvenzverfahrens gegenüber den gewerberechtlichen Rücknahme- und Widerrufsverfahren.40) Sinn und Zweck der Norm ist es, Konflikte mit den Zielen des Insolvenzverfahrens zu vermeiden, indem er die Anwendung der Untersagungs-, Rücknahme- und Widerrufsvorschriften der GewO für bestimmte Zeitabschnitte aussetzt.41) Während dieser Zeitabschnitte ist zudem nach Nr. 5 des BMF-Erlasses vom 19.12.201342) die Anregung einer Gewerbeuntersagung durch das Finanzamt unzulässig und die Offenbarung entsprechender Daten nicht durch § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO gedeckt. § 12 GewO ist nicht auf den Anwendungsbereich der GewO beschränkt, sondern gilt auch für die Versagung und den Widerruf gewerberechtlicher Personalkonzessionen nach diversen Parallelvorschriften.43)
___________ 35) BVerwG, Beschl. v. 27.4.1971 – I B 7/71, GewArch 1972, 150. 36) Schaeffer, WiVerw 1982, 100, 109. 37) VGH Mannheim, Beschl. v. 4.11.1993 – 14 S 2322/93, GewArch 1994, 30, 31; VGH Kassel, Urt. v. 28.9.1992 – 8 UE 2976/90, GewArch 1993, 159. 38) VGH Mannheim, Beschl. v. 4.11.1993 – 14 S 2322/93, GewArch 1994, 30, 31. 39) OVG Münster, Beschl. v. 2.6.2004 – 4 A 223/04, NVwZ-RR 2004, 746. 40) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 272. 41) Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, § 12 Rz. 1. 42) BMF-Schreiben v. 19.12.2013 – IV A 3 – S 0130/10/10019, BStBl. I 2014, 19. 43) Teilweise über entsprechende Verweisungen in den Spezialgesetzen; so etwa § 31 GastG oder § 24 HeimG.
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25 Nach § 12 GewO finden die entsprechenden Vorschriften während eines Insolvenz- oder Restrukturierungsverfahrens keine Anwendung. Zu den erfassten Zeitabschnitten gehören x
der Zeitraum des Insolvenzverfahrens,
x
die Zeit, in der Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO angeordnet sind,
x
der Abschnitt der Überwachung der Erfüllung eines Insolvenzplanes und
x
die in § 12 Satz 1 Nr. 4 GewO genannten Phasen eines Restrukturierungsverfahrens.
26 Während des Insolvenzeröffnungsverfahrens hat das Insolvenzgericht solche Sicherungsmaßnahmen anzuordnen, die erforderlich erscheinen, um bis zur Entscheidung über den Insolvenzantrag nachteilige Veränderungen der Vermögenslage des Schuldners zu verhindern. Damit unterliegt der Insolvenzschuldner bereits in diesem Zeitraum der Überwachung durch das Insolvenzgericht. Angesichts dieser richterlichen Kontrolle darf eine Untersagung des Gewerbes aufgrund ungeordneter Vermögensverhältnisse ab dem Zeitpunkt der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO nicht ergehen. Schließlich besteht auch während dieses Zeitraums bereits das Bedürfnis, eine Sanierung des insolventen Unternehmens nach Möglichkeit offenzuhalten.44) Gleichwohl führt die Beantragung eines Insolvenzverfahrens nicht dazu, dass der unzuverlässige Schuldner seinen Gewerbebetrieb weiterführen darf, wenn bereits vor der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen bzw. der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens eine Untersagungsverfügung nach § 35 GewO erging oder eine Personalkonzession widerrufen wurde. Der entsprechende Verwaltungsakt bleibt nicht nur wirksam, sondern nach höchstrichterlicher Rechtsprechung trotz § 12 Satz 1 GewO ausdrücklich auch rechtmäßig, sodass entsprechende Anfechtungsklagen ohne Erfolg bleiben.45) Insofern behalten die von der Rechtsprechung zur wirtschaftlichen Leistungsunfähigkeit entwickelten Grundsätze, wann von einer den Widerruf begründenden Unzuverlässigkeit auszugehen ist, weiterhin Bedeutung. Fortan ist zur Erhaltung der Sanierungsfähigkeit ein frühzeitig gestellter Insolvenzantrag mithin angezeigt, um eine Fortführung eines erlaubnispflichtigen Gewerbes im Krisenfall gewerberechtlich abzusichern.46) 27 Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens verliert der Schuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen (§§ 35, 80 InsO) Die Sicherstellung der Masse und die Befriedigung der Gläubiger obliegt fortan dem Insolvenzverwalter. Versagungsgründe, die an die wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit des Schuldners anknüpfen, verlieren damit ihre Relevanz. Überdies obliegt die Entscheidung darüber, ob das insolvente Unternehmen fortgeführt werden soll, der Gläubigerversammlung, §§ 156, 157 InsO. Ein Widerruf der Erlaubnis gestützt auf die wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit – andere Widerrufsgründe behalten ihre uneingeschränkte Geltung – würde diese Vorschriften unterlaufen. Mit Vollzug der Schlussverteilung und dem darauffolgenden Beschluss des Insolvenzgerichts über die Aufhebung des Insolvenzverfahrens können Untersagungs-, Rücknahme- und Widerrufsverfahren wieder unbeschränkt durchgeführt werden. 28 Das Insolvenzplanverfahren zielt insgesamt auf Erhaltung des insolventen Unternehmens. Nach Annahme eines Insolvenzplans durch die Gläubigerversammlung, Bestätigung des Insolvenzplans durch das Insolvenzgericht und Aufhebung des Insolvenzverfahrens erlangt der Insolvenzschuldner die Verfügungsbefugnis über sein Vermögen zurück. Der Insolvenzplan wird dabei regelmäßig vom Insolvenzschuldner nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens gegenüber den Insolvenzgläubigern zu erfüllende Pflichten vorsehen. Auch hier liefe eine Untersagung bzw. ein Widerruf durch die Gewerbeaufsicht gestützt auf die wirtschaft___________ 44) Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, § 12 Rz. 6. 45) BVerwG, Urt. v. 15.4.2015 – 8 C 6/14, NZI 2015, 776. 46) Kläner/Krause, ZVI 2019, 47.
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liche Leistungsunfähigkeit, deren Wiederherstellung die Durchführung des Insolvenzplanverfahrens dient, den Zielen des Insolvenzrechts zuwider. Überdies befreit ein erfolgreich durchgeführter Insolvenzplan den Insolvenzschuldner von den Verbindlichkeiten gegenüber dessen Gläubigern. Die Verhältnisse des Schuldners können also ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als finanziell ungeordnet angesehen werden.47) Die Wohlverhaltensperiode bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO 29 dürfte nicht von § 12 GewO umfasst sein. Nach Erteilung der Restschuldbefreiung wird allerdings der Schuldner wie auch im Falle des Insolvenzplanes von seinen restlichen Verbindlichkeiten befreit, weshalb ein Untersagungs-, Rücknahme- oder Widerrufsgrund i. S. ungeordneter Vermögensverhältnisse nicht mehr besteht.48) 1.2
Fortführung in der Insolvenz
Soweit ein Widerruf nicht bereits vor der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach 30 § 21 InsO oder der Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens nach dem StaRUG49) erfolgt ist, besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Fortführung des Gewerbes. Sie ist, wie § 12 GewO zeigt, mit Blick auf die Möglichkeiten der Masseanreicherung auch ausdrücklich erwünscht. Möglich ist zunächst eine Fortführung des Gewerbes durch den (vorläufigen) Insolvenz- 31 verwalter. Zu prüfen ist dabei, ob der Insolvenzverwalter die dazu jeweils durch das Gewerberecht geforderte Qualifikation besitzt. Soweit keine nennenswerten, über die Anforderungen der persönlichen Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden hinausgehenden Anforderungen an den Betreiber des Gewerbes gestellt werden, sollten der Fortführung des Gewerbes durch den Insolvenzverwalter Gründe nicht entgegenstehen. Er kann dabei entweder selbst als gewerberechtlicher Stellvertreter i. S. von § 45 GewO tätig werden oder einen gewerberechtlich geeigneten Betriebsleiter bestellen.50) Letzteres ist zwingend, wenn der Insolvenzverwalter nicht die erforderliche Qualifikation besitzt.51) Auch der gewerberechtliche Stellvertreter muss nämlich die materiellen Voraussetzungen der Befugnis zur Ausübung des jeweiligen Gewerbes in seiner Person erfüllen. Die Möglichkeiten, die Verantwortung über das Gewerbe als Stellvertreter zu übernehmen, 32 sind jedoch nicht unbegrenzt. So ist etwa umstritten, ob der Insolvenzverwalter für die Fortführung einer Gastwirtschaft des Schuldners eine spezielle Stellvertretererlaubnis nach § 9 GastG benötigt.52) Überwiegend wird allerdings vertreten, aus § 80 InsO folge, dass der Insolvenzverwalter grundsätzlich keiner neuen Erlaubnis bedarf, sondern er die dem Schuldner zustehenden öffentlichen Rechte und Befugnisse an dessen Stelle ausüben kann, solange sie nicht widerrufen worden sind.53) Ausnahmen gelten allerdings für solche Konzessionen, die an die Person des Schuldners 33 gebunden sind, etwa Genehmigungen nach § 3 GüKG bzw. § 2 Abs. 1 PersBefG. Für solche höchstpersönlichen Genehmigungen kommt eine Fortführung allein dergestalt in Betracht, ___________ 47) Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, § 12 Rz. 8. 48) Hahn, GewA 2000, 361, 365; Friauf-Heß, GewO, § 12 Rz. 44; Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, Bd. I, § 12 Rz. 9. 49) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 50) Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 12 f. 51) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 271. 52) So für die KO Jaeger-Henckel, KO, § 1 Rz. 11. 53) Depré/Kothe in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 36 Rz. 111.
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dass der Insolvenzverwalter den Schuldner selbst für Rechnung der Insolvenzmasse und unter seiner Führung und Kontrolle einsetzt (siehe zu dieser Konstruktion Rz. 62). 34 Soll die Genehmigung für die Zwecke der Durchführung des Insolvenzverfahrens erhalten bleiben, bleibt stets der Rückgriff auf das Insolvenzplanverfahren bzw. die Eigenverwaltung. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass nicht die Regelungen über das Verbraucherinsolvenzverfahren greifen (§ 312 Abs. 2 InsO). Nach der Neufassung von § 304 Abs. 1 InsO, der die aktuell wirtschaftlich Tätigen unabhängig vom Umfang der gewerblichen Tätigkeit dem Regelinsolvenzverfahren zuweist, stehen die genannten Verfahren mittlerweile insoweit allen Gewerbetreibenden, gleich ob es sich um Kleingewerbetreibende handelt, zu.54) 2.
Personalkonzessionen außerhalb der GewO
35 Traditionell aus dem Gewerbebegriff ausgenommen sind die Urproduktion, die freiberufliche Tätigkeit und die bloße Verwaltung und Nutzung eigenen Vermögens.55) Für Personalkonzessionen i. R. der Urproduktion gelten im Hinblick auf den Widerruf der Genehmigung sowie die Fortführung einer entsprechenden Tätigkeit im Prinzip dieselben Grundsätze wie auch für die oben genannten Gewerbe. Insbesondere ist § 12 GewO nach ganz h. M.56) analog anwendbar. Die Interessenlage unterscheidet sich hier nicht von der § 12 GewO zugrundeliegenden. 36 Für die Verwaltung eigenen Vermögens, das in der Regel keiner Genehmigung bedarf, stellen sich die hinsichtlich des Betriebes eines Gewerbes dargestellten Schwierigkeiten nicht. 3.
Sonderfall: Freiberufler
37 Die Freiberufler bilden im Hinblick auf das Schicksal ihrer jeweiligen Berufszulassungen im Falle einer Insolvenz einen Sonderfall. 38 Der Begriff des Freiberuflers ist gesetzlich nicht abschließend normiert. Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 EStG umfasst der steuerrechtliche Begriff des Freiberuflers die selbstständig ausgeübte, wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Berufstätigkeit der x
Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte,
x
Rechtsanwälte, Notare, Patentanwälte,
x
Vermessungsingenieure, Ingenieure, Architekten,
x
Handelschemiker,
x
Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, beratenden Volks- und Betriebswirte, Steuerbevollmächtigten,
x
Heilpraktiker, Dentisten, Krankengymnasten,
x
Journalisten, Bildberichterstatter, Dolmetscher, Übersetzer,
x
Lotsen und ähnlicher Berufe,
x
gemeinhin wird unter den Begriff auch noch die Berufsgruppe der Apotheker57) gefasst.
39 Gemäß § 1 Abs. 2 PartGG haben Freie Berufe im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt. ___________ 54) 55) 56) 57)
Vgl. hierzu auch Braun-Buck, InsO, § 304 Rz. 1 ff.; Ott/Vuia in: MünchKomm-InsO, § 304 Rz. 18. BVerwG, Beschl. v. 16.2.1995 – 1 B 205.93, ZIP 1995, 563 = DöV 1995, 644. Tettinger/Wank/Ennuschat-Ennuschat, GewO, § 12 Rz. 4. Vgl. nur: Landmann/Rohmer-Kahl, GewO, Bd. I, Einl. Rz. 66.
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Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz
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Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt das spezifische Berufsethos des freien Berufs in der 40 Nicht-Gewerblichkeit bzw. im Verzicht auf ein (vorrangiges) Gewinnstreben.58) Aufgrund dieser Nicht-Gewerblichkeit verbietet es sich, für die freien Berufe auf die Grundsätze der GewO zurückzugreifen. Vielmehr richtet sich das Recht der freien Berufe vornehmlich nach dem jeweiligen Berufsrecht, etwa der BRAO für Rechtsanwälte, der BNotO für Notare oder dem StBerG für Steuerberater. Die Besonderheit der freien Berufe besteht in deren höchstpersönlichem Einschlag. Zum Teil verrichten Freiberufler Dienste, die nur sie selbst verrichten können, wie etwa im Fall der Künstler. In den meisten Fällen ist eine aufwändige Ausbildung notwendig. Schließlich kommen viele Angehörige der freien Berufe mit sensiblen Daten ihrer Klienten, Mandanten oder Patienten in Berührung, die auch in der Insolvenz besonders schutzwürdig sind. Diese Besonderheiten machen den Umgang mit Freiberuflern in der Insolvenz besonders schwierig. Hauptproblem in der Insolvenz des Schuldners ist die Kollision insolvenzrechtlicher Bestimmungen mit den Vorgaben des jeweiligen Berufsrechts. Hier gilt es, einen interessengerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herzustellen. 3.1
Widerruf der Berufszulassung
§ 12 GewO findet in der Insolvenz des Freiberuflers keine Anwendung, auch keine ent- 41 sprechende.59) Eine Fortführung der freiberuflichen Praxis kommt für den Freiberufler aber nur in Betracht, soweit die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zum Wegfall der Erlaubnis zur Berufsausübung führt. Auch hier kommt es auf die Entziehung der Erlaubnis durch die zuständige Stelle, häufig die entsprechende Kammer, an. Das Recht der freien Berufe ist vor allem durch die verschiedenen Berufsordnungen geprägt. 42 Wie auch im Gewerberecht finden sich in den Berufsordnungen bzw. den einschlägigen Berufsgesetzen Regelungen zum Widerruf bzw. Entzug der Zulassung. 3.1.1 Gesundheitsberufe Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten erlangen mit dem Abschluss ihrer Ausbildung 43 auf Antrag ihre Approbation – also die staatliche Zulassung, ihren Beruf auszuüben und die Berufsbezeichnung zu führen. Der Entzug der Approbation erfolgt auf Grundlage des jeweiligen Berufsrechts, bei den Ärzten bspw. auf Grundlage von § 5 Abs. 2 BÄO. Grund für den Entzug der Approbation ist hier, wie auch nach den übrigen Berufsordnungen des Gesundheitssektors, dass sich der Berufsträger eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich eine Unzuverlässigkeit oder Unwürdigkeit ergibt. x Unzuverlässig i. S. des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BÄO ist, wer nach seiner Gesamtpersönlichkeit keine Gewähr für eine ordnungsgemäße Berufsausübung bietet. Es müssen Tatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, der Arzt werde in Zukunft die berufsspezifischen Vorschriften und Pflichten nicht beachten. Ausschlaggebend ist die Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Arztes und seiner Lebensumstände.60) x Unwürdig i. S. des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BÄO ist, wer durch sein Verhalten das zur Ausübung des ärztlichen Berufes erforderliche Ansehen und Vertrauen bei der Bevölkerung nicht besitzt. Der Arzt muss also langanhaltend und in gravierender Weise gegen seine Berufspflichten verstoßen haben, so dass er nicht mehr das Vertrauen und Ansehen besitzt, das für die Ausübung seines Berufes unabdingbar notwendig ist.61) ___________ 58) 59) 60) 61)
Maunz/Dürig-Scholz, GG, Art. 12 Rz. 268. BVerwG, Beschl. v. 17.3.2008 – 6 B 7/08, ZInsO 2009, 1811, 1812; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 290. Spickhoff-Eichelberger, Medizinrecht, § 5 BÄO Rz. 33 f. BVerwG, Beschl. v. 28.01.2003 – 3 B 149/02, BeckRS 2003, 21187; eingehend zur Entziehung der Approbation wegen Unwürdigkeit: Braun/Gründel, MedR 2001, 396 ff.
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44 Die bloße Insolvenz eines Arztes, Zahnarztes oder Psychotherapeuten wird isoliert betrachtet niemals zum Entzug der Approbation führen, da sich der Vermögensverfall regelmäßig nicht unter den Begriff der Unzuverlässigkeit oder Unwürdigkeit subsumieren lässt. Ärzten obliegt keine Vermögensbetreuungspflicht. Ihre Aufgabe ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten und an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesundheit der Menschen mitzuwirken (vgl. § 1 Abs. 2 MBO-Ä). Es kann nicht per se davon ausgegangen werden, dass allein auf Grund der Insolvenz eines Arztes diese maßgebliche Berufspflicht gefährdet wird. Erst wenn sich ein Arzt bspw. auf Grund seiner Vermögenslosigkeit dazu hinreißen ließe, die persönliche Notlage seiner Patienten auszunutzen und sie zu nicht erfolgversprechenden Therapien zu verleiten, käme ein Entzug der Approbation in Betracht. Grundlage des Entzugs wäre dann aber das ärztliche Fehlverhalten und nicht die Insolvenz. 45 Die Approbation berechtigt den Arzt zwar, als angestellter Arzt in einem Krankenhaus tätig zu werden oder eine private Arztpraxis zu gründen. Für die Berechtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ist hingegen eine Zulassung erforderlich (§ 95 SGB V, §§ 19 ff. Ärzte-ZV). Die Entziehung der Zulassung richtet sich nach § 95 Abs. 6 SGB V i. V. m. § 27 Ärzte-ZV. Sie zielt darauf ab, Ärzte aus der vertragsärztlichen Versorgung auszuschließen, welche die vertragsärztliche Tätigkeit trotz Zulassung nicht ausüben oder wegen gröblicher Pflichtverletzung zur Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit ungeeignet sind. Auch hier gilt: Allein die Insolvenz eines Vertragsarztes beendet seinen Zulassungsstatus nicht und begründet auch für sich keinen Entziehungstatbestand.62) 46 Jedenfalls aber die Nicht- bzw. Nicht-mehr-Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit führt zum Entzug der Zulassung (§ 95 Abs. 6 SGB V i. V. m. § 27 Ärzte-ZV). Um diese zu vermeiden, ist es also Voraussetzung, dass der Schuldner die Praxis – unter Umständen gemeinsam mit dem Insolvenzverwalter – fortführt. 47 Weiterhin ist die Zulassung zu entziehen, wenn der Vertragsarzt seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt. Eine Pflichtverletzung ist gröblich, wenn sie so schwer wiegt, dass ihretwegen die Entziehung zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung notwendig ist.63) Ein Verschulden des Arztes wird nicht vorausgesetzt.64) In verfassungskonformer Auslegung reicht allerdings die bloße gröbliche Pflichtverletzung für sich noch nicht aus. Hinzukommen muss, dass der Arzt durch die gröbliche Pflichtverletzung nicht mehr zur Ausübung seiner vertragsärztlichen Tätigkeit geeignet erscheint.65) Hierzu zählen etwa die fortgesetzte unrichtige Abrechnung von Leistungen,66) fortgesetzte Verstöße gegen administrative Pflichten des Vertragsarztes, etwa das jahrelange Nichtbeantworten von Anfragen der Krankenkasse und verspätete Honorarabrechnungen trotz Ordnungs- und disziplinarer Maßnahmen,67) ebenso beleidigende Äußerungen gegenüber einzelnen Mitgliedern der Kassenärztlichen Vereinigung68)sowie der Verstoß gegen die gesetzlich normierte Fortbildungspflicht.69) Nur bei Hinzutreten weiterer Umstände kommt somit ein Zulassungs___________ Plagemann in: Münch-AHB SozR, § 18 Rz. 80; Schallen, Zulassungsverordnung, § 21 Rz. 11. BSG, Urt. v. 17.10.2012 – B 6 KA 49/11 R, BSGE 112, 90. BSG, Beschl. v. 25.11.2020 – B 6 KA 36/19 B, BeckRS 2020, 38509. Rademacker in: Kasseler Kommentar zum SozVersR, § 95 SGB V Rz. 223. BSG, Urt. v. 17.10.2012 – B 6 KA 49/11 R, BSGE 112, 90; BSG, Urt. v. 2.4.2014 – B 6 KA 58/13 B, RPG 2015, 112. 67) BSG, Urt. v. 2.7.1980 – 6 RKa 10/78, ArztR 1980, 325. 68) BSG, Beschl. v. 11.9.2019 – B 6 KA 14/19 B, SozR 4-2500 § 95 Nr. 37. 69) BSG, Beschl. v. 25.11.2020 – B 6 KA 36/19 B, RS 2020, 2488; LSG Hamburg, Urt. v. 19.11.2020 – L 5 KA 24/17, NZS 2021, 277. 62) 63) 64) 65) 66)
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entzug aufgrund der durch die Insolvenzeröffnung offenbarten Vermögenslosigkeit in Betracht.70) Solange der Arzt seiner Verpflichtung zur lückenlosen Abrechnung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung nachkommt, seine Abrechnungen korrekt sind und er nicht nachhaltig und schwerwiegend gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat, scheidet ein Entzug der Vertragsarztzulassung aufgrund Insolvenz regelmäßig aus. Ärzte, die eine reine Privatpraxis betreiben, bedürfen hierfür außer ihrer Approbation 48 keiner weiteren Zulassung. Die entsprechenden Anforderungen für die Berufsausübung regeln die jeweiligen Landesgesetze (z. B. die Heilberufsgesetze), konkretisiert durch die von den Ärztekammern erlassenen Berufsordnungen. Bei Zuwiderhandlung gegen ihre ärztlichen Pflichten kommen Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Feststellung der Unwürdigkeit zur Ausübung des Berufs in Betracht. Insofern unterliegen auch Ärzte in privater Praxis kontinuierlicher Kontrolle. Auch hier gilt: Die Insolvenz kann, muss aber nicht zu Konsequenzen für den Arzt führen – und wird es in der Regel, wenn keine weiteren Umstände hinzutreten, auch nicht. 3.1.2 Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer Die Entziehungspraxis bei Angehörigen dieser Berufsgruppen ist strikter als bei den zuvor 49 erwähnten Gesundheitsberufen. Grund dafür ist der erhebliche Umgang mit Fremdgeldern. Das Berufsrecht der Rechtsanwälte, Notare und Steuerberater sieht einen Widerruf der Zulassung für den Fall vor, dass sie „in Vermögensverfall“ geraten sind (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO, § 50 Abs. 1 Nr. 6 BNotO, § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG). Ein Vermögensverfall ist dann zu vermuten, wenn ein Insolvenzverfahren über das Ver- 50 mögen des Berufsträgers eröffnet worden ist oder der Berufsträger in das vom Insolvenzgericht oder vom Vollstreckungsgericht zu führende Verzeichnis nach § 26 Abs. 2 InsO bzw. § 882b ZPO eingetragen ist (vgl. § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO). Die Rechtsprechung geht zudem immer dann von Vermögensverfall aus, wenn der Schuldner in ungeordnete schlechte finanzielle Verhältnisse geraten ist, die er in absehbarer Zeit nicht ordnen kann, und er außerstande ist, seine finanziellen Verpflichtungen in absehbarer Zeit zu erfüllen.71) Beweisanzeichen hierfür sind Schuldtitel und Vollstreckungsmaßnahmen, die sich gegen den Berufsträger richten.72) Die Vermögenslosigkeit ist dabei ebenso wenig Voraussetzung wie die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Freiberuflers.73) Hinreichend für das Vorliegen „ungeordneter, finanzieller Vermögensverhältnisse“ kann es vielmehr bereits sein, dass seine Gläubiger darauf angewiesen sind, ihre berechtigten Forderungen gegen ihn i. R. der Zwangsvollstreckung durchzusetzen.74) Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt des Abschlusses des behördlichen Widerrufsverfahrens, also auf den Erlass des Widerspruchsbescheids oder – wenn das Vorverfahren entbehrlich ist – auf den Ausspruch der Widerrufsverfügung. In Bezug auf danach eingetretene Umstände ist der Freiberufler auf das Verfahren über die Widerzulassung verwiesen.75) Bei Wirtschaftsprüfern wird gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 5 WPO darauf abgestellt, ob sie sich 51 in nicht „geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen“, insbesondere in Vermögensverfall befinden. Auch hier greift gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 7 WPO die gesetzliche Vermutung des ___________ 70) In diesem Sinne auch BSG, Urt. v. 10.5.2000 – B 6 KA 67/98 R, NJW 2001, 2823. 71) BGH, Beschl. v. 22.9.2021 – AnwZ (Brfg) 14/21, JurionRS 2021, 45438. 72) BGH, Beschl. v. 22.9.2021 – AnwZ (Brfg) 14/21, JurionRS 2021, 45438; BGH, Beschl. v. 15.12.2017 – AnwZ (Brfg) 11/17, IBRRS 2017, 4444. 73) Schmittmann, ZInsO 2004, 725. 74) Uhlenbruck-Hirte/Praß, InsO, § 35 Rz. 290. 75) BGH, Beschl. v. 19.4.2022 – AnwZ (Brfg) 2/22, NJOZ 2022, 861.
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Vermögensverfalls, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen eröffnet ist oder eine Eintragung in das Verzeichnis nach § 26 Abs. 2 InsO bzw. § 882b ZPO erfolgt ist. 52 Der Insolvenzschuldner kann die gesetzliche Vermutung, dass er als Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer in Vermögensverfall geraten ist, sofern das Insolvenzverfahren über dessen Vermögen eröffnet wurde, widerlegen. Gibt es Beweisanzeichen wie offene Forderungen, Titel und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, welche den Eintritt des Vermögensverfalls nahelegen, kann der Betroffene diese Indizwirkung nur dadurch entkräften, dass er umfassend darlegt, welche Forderungen im maßgeblichen Zeitpunkt des Widerrufsbescheides gegen ihn bestanden und wie er sie in diesem Zeitpunkt zurückführen oder anderweitig regulieren wollte.76) Für die Widerlegung der Vermutung reicht es nach der Rechtsprechung des BGH allerdings nicht aus, dass sich der Freiberufler mit seinen Hauptgläubigern geeinigt hat.77) Erforderlich ist vielmehr, dass der Insolvenzschuldner auch alle anderen Vollstreckungsgläubiger befriedigt hat. Andernfalls kann von geordneten Lebensverhältnissen nicht gesprochen werden.78) Ebenso hat allein die Tatsache, dass die wirtschaftliche Situation des insolventen Freiberuflers i. R. des Insolvenzverfahrens bereinigt werden könnte, noch nicht zur Folge, dass dessen wirtschaftliche Verhältnisse nunmehr als geordnet angesehen werden können.79) Zu geordneten Vermögensverhältnissen gehört vielmehr, dass die Schulden in absehbarer Zeit entfallen und der Freiberufler-Schuldner frei über sein Vermögen verfügen kann.80) Im Falle eines Insolvenzverfahrens ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH die Vermutung des Vermögensverfalls erst dann widerlegt, wenn ein vom Insolvenzgericht bestätigter Insolvenzplan (§ 248 InsO) oder angenommener Schuldenbereinigungsplan (§ 308 InsO) vorliegt, bei dessen Erfüllung der Schuldner von seinen übrigen Forderungen gegenüber den Gläubigern befreit wird.81) 53 Überdies ist ein etwaiger Vermögensverfall von Rechtsanwälten und Steuerberatern nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO und § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG, unschädlich, wenn durch ihn die Interessen der Auftraggeber, Rechtsuchenden oder anderer Personen nicht gefährdet sind. Erforderlich ist ein substantiierter Vortrag, auf dessen Grundlage die Gefährdung von Auftraggebern, Mandanten und Klienten mit hinreichender Gewissheit ausgeschlossen werden kann.82) Hierfür gelten strenge Maßstäbe. Mit dem Vermögensverfall eines Rechtsanwalts ist grundsätzlich eine Gefährdung der Interessen seines Mandanten verbunden. Die Annahme ist regelmäßig schon im Hinblick auf den Umgang des Rechtsanwalts mit Fremdgeldern und den darauf möglichen Zugriff von Gläubigern gerechtfertigt.83) 54 Bei Notaren hingegen bedarf es keiner gesonderten Feststellung, dass die Interessen der Rechtssuchenden gefährdet sind, da die Gefährdung der Interessen der Rechtssuchenden dem § 50 Abs. 1 Nr. 6 BNotO immanent ist.84) 55 Nicht ausreichend für den Ausschluss einer Gefährdung ist es etwa, dass der angestellte Freiberufler einer Gesellschaft keine umfassende Vertretungsmacht, sondern lediglich Pro___________ 76) BGH, Beschl. v. 22.9.2021 – AnwZ (Brfg) 14/21, JurionRS 2021, 45438; BGH, Urt. v. 9.12.2015 –. AnwZ (B) 51/13, NJOZ 2015, 774. 77) BGH, Beschl. v. 16.6.2004 – AnwZ (B) 3/03, ZVI 2004, 598. 78) BGH, Beschl. v. 16.6.2004 – AnwZ (B) 3/03, ZVI 2004, 598. 79) BFH, Beschl. v. 28.8.2003 – VII B 79/02, DStR 2004, 974; BFH, Beschl. v. 20.4.2006 – VII B 188/05, BFH/NV 2006, 1522. 80) Uhlenbruck-Hirte/Praß, InsO, § 35 Rz. 291. 81) BGH Beschl. v. 19.4.2022 – AnwZ (Brfg) 2/22, NJOZ 2022, 861. 82) BFH, Beschl. v. 4.3.2004 – VII R 21/02, ZVI 2004, 302. 83) BGH, Beschl. v. 29.12.2016 – AnwZ (Brfg) 53/16, NZI 2017, 215 m. w. N. 84) BGH, Beschl. v. 23.7.2007 – NotZ 5/07, IBRRS 2007, 4127; BGH, Beschl. v. 20.11.2006 – NotZ 26/06, NJW 2007, 1287; BGH, Beschl. v. 22.3.2004 – NotZ 23/03, ZIP 2004, 1006.
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kura besitzt und ein erfolgsunabhängiges Gehalt bezieht. Dies würde nämlich bedeuten, dass der in Vermögensverfall geratende Freiberufler durch den Geschäftsführer der Gesellschaft dauerhaft kontrolliert und beaufsichtigt werden müsste, da nur auf diese Weise die Interessen der Auftraggeber gewahrt werden könnten.85) Eine derart ausgeprägte Beaufsichtigung wäre nachzuweisen, was erheblichen Schwierigkeiten begegnet. Ebenso wenig ist es ausreichend, dass der Freiberufler-Insolvenzschuldner keine Gelder seiner Mandanten oder Auftraggeber mehr über eigene Konten abwickelt. Hier besteht weiterhin die Möglichkeit von Barzahlungen.86) Zwar hat das BVerfG entschieden, dass die Anforderungen an eine Widerlegung des ge- 56 setzlich vermuteten Vermögensverfalls mit Blick auf die Berufsfreiheit des Freiberuflers aus Art. 12 GG nicht zu hoch angesetzt werden dürfen.87) Gleichwohl gelingt die Widerlegung in der Praxis sehr selten. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2004 dar.88) Unter Berücksichtigung des dem Freiberufler zustehenden Grundrechts auf Berufsfreiheit aus Art. 12 GG hatte der BGH hier einem angestellten Anwalt dessen Berufszulassung belassen. Der Anwalt hatte zuvor selbst einen Insolvenzantrag gestellt und es bestanden keine Forderungsanmeldungen von Insolvenzgläubigern, die aus Mandaten des Arbeitgebers herrührten. Allerdings hatte sich der Anwalt, der seinen Beruf bislang ohne jede Beanstandung ausgeübt hatte, beachtlichen Beschränkungen in seinem Arbeitsvertrag unterworfen. Er war weder auf dem Briefkopf noch auf dem Praxisschild genannt. Jegliche Mandate wurden im Auftrag und auf Rechnung der Sozietät geschlossen. Eigene Mandate bearbeitete der Rechtsanwalt somit nicht mehr. Schließlich überwies sein Arbeitgeber den pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens an den Insolvenzverwalter. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass nach der bisherigen Rechtsprechung im Falle 57 der Insolvenz von einem Widerruf der Zulassung nur in den seltensten Fällen abgesehen wird. Auch wenn hierdurch die Quotenerwartung verringert werden dürfte: Die besondere Vertrauensstellung, die Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer beanspruchen, rechtfertigt die Unterordnung der Interessen der am Insolvenzverfahren beteiligten Gläubiger. 3.1.3 Architekten Die Löschung eines Architekten aus der Architektenliste aufgrund von Vermögensverfall 58 ist gesetzlich nicht einheitlich geregelt. Vielmehr sind hier unterschiedliche landesrechtliche Bestimmungen zu beachten. Ausdrücklich genannt ist die Löschung wegen Vermögensverfalls bspw. in § 7 Abs. 2 i. V. m. § 6 Abs. 2 Nr. 1 ArchG Baden Württemberg. Andere Landesgesetze hingegen sprechen von einer Löschung bei Unzuverlässigkeit. In diesem Zusammenhang hat die Rechtsprechung festgestellt, dass die Durchführung eines Insolvenzverfahrens die Unzuverlässigkeit des Architekten indiziert.89) Es besteht grundsätzlich ein gewichtiges öffentliches Interesse, dass ein Architekt seine Tätigkeit an fachlichen Gesichtspunkten und an den auf wirtschaftliche und sichere Bauweise gerichteten Interessen seiner Auftraggeber orientiert und nicht aufgrund seines Vermögensverfalls an eigenen ___________ 85) 86) 87) 88) 89)
Henssler/Prütting, BRAO, § 14 Rz. 35b m. w. N. BGH, Beschl. v. 25.3.1991 – AnwZ (B) 73/90, BRAK-Mitt. 1991, 102. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2005 – 1 BvR 912/04, NJW 2005, 3057. BGH, Beschl. v. 18.10.2004 – AnwZ (B) 43/03, ZInsO 2005, 213. OVG NRW, Beschl. v. 18.12.2009 – 4 B 995/09, BauR 2010, 830; OVG NRW, Beschl. v. 3.3.2011 – 4 A 2901/09; OVG NRW, Beschl. v. 5.1.2012 – 4 B 1250/11, BauR 2012, 691; OVG Sachsen, Urt. v. 18.9.2012 – 4 A 855/11, IBR 2013, 1159; VG Ansbach, Urt. v. 2.3.2020 – AN 4 K 17.00607, IBRRS 2020, 0921.
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finanziellen Interessen; für diesen Fall fehlt die Grundlage für die erforderliche berufliche Unabhängigkeit und lässt vermuten, dass seine ungeordneten Vermögensverhältnisse sich u. a. zulasten der Einhaltung der der öffentlichen Sicherheit dienenden Regeln der Baukunst und der sonstigen baupolizeilichen Vorschriften auswirken können.90) Ein Architekt ist danach aus der Architektenliste zu löschen, wenn er in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, fremde Vermögensinteressen oder öffentliche Belange sind nicht gefährdet.91) Vor dem Hintergrund des Inkrafttretens des RDG, nach dem Architekten in gewissem Umfang auch rechtsberatend tätig werden dürfen (§ 5 Abs. 1 RDG), gilt dies umso mehr. 3.2
Möglichkeiten der Fortführung
59 Die Entscheidung, ob eine freiberufliche Praxis i. R. eines Insolvenzverfahrens fortgeführt werden kann, wird maßgeblich beeinflusst von der Frage, ob dem Freiberufler die Zulassung zu entziehen ist. Die Wahl der Verfahrensart steht dabei in engem Zusammenhang mit der Frage des Zulassungsentzugs. 60 Grundsätzlich wird die Fortführung einer freiberuflichen Praxis davon abhängig gemacht, ob diese vom Insolvenzbeschlag umfasst ist. Dies ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung bei der Praxis eines Freiberuflers der Fall, da diese veräußerbar ist.92) Eine andere Frage ist indes, ob das Unternehmen in der Insolvenz grundsätzlich fortführbar ist. 3.2.1 Gesundheitsberufe 61 Für die Fortführung einer Arzt-, Zahnarzt- oder Psychotherapeutenpraxis in der Insolvenz kommen folgende Wege in Betracht: x
Eine einstweilige Praxisfortführung durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter (§ 157 Satz 1 InsO bzw. § 22 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 InsO),
x
die Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens (§ 217 ff. InsO) sowie
x
die Eigenverwaltung durch den freiberuflich tätigen Insolvenzschuldner (§§ 270 ff. InsO).93)
62 Die Fortführung einer ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Praxis kann in der Regel nicht durch den Insolvenzverwalter allein erfolgen, sondern setzt das Zusammenwirken von Insolvenzverwalter und Arzt voraus. Das folgt daraus, dass dem Insolvenzverwalter die berufsrechtlich notwendige Qualifikation zur alleinigen Fortführung fehlt. Grundsätzlich ist ein solches Zusammenwirken aus insolvenzrechtlicher Sicht möglich: Der Insolvenzverwalter kann den Freiberufler-Schuldner selbst zur einstweiligen Fortführung der Praxis einsetzen.94) Der Freiberufler-Schuldner wird dann für Rechnung und unter der wirtschaftlichen Kontrolle und Verwaltung des Insolvenzverwalters tätig. Es entsteht eine Art „abgeschwächte Eigenverwaltung“, bei welcher der Insolvenzschuldner unter einer besonders strikten Aufsicht und Führung des Insolvenzverwalters steht.95) 63 Allerdings wird der Insolvenzverwalter den Freiberufler nicht zur Fortführung unter Aufsicht zwingen können: Eine Verpflichtung zur Bereitstellung der Arbeitskraft scheitert ___________ 90) OVG Sachsen, Urt. v. 18.9.2012 – 4 A 855/11, IBR 2013, 1159; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 17.5.2006 – 9 S 2538/05, BauR 2006, 1798. 91) Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 399. 92) BFH, Urt. v. 22.3.1994 – VII R 58/93, ZIP 1994, 1283, 1284; AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905. 93) So auch Kluth, NJW 2002, 186 ff. 94) Uhlenbruck-Hirte/Praß, InsO, § 35 Rz. 284. 95) Kluth, NJW 2002, 186, 188.
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am Wortlaut von § 97 Abs. 2 InsO, der lediglich eine Unterstützungspflicht des Schuldners vorsieht. Ein solcher Zwang wird daher zu Recht abgelehnt.96) In der Praxis wird der Arzt jedoch an einem einvernehmlichen Zusammenwirken regelmäßig bereits deshalb interessiert sein, weil er im Falle der Beantragung einer Restschuldbefreiung andernfalls Gefahr liefe, dass ein Insolvenzgläubiger seinerseits erfolgreich einen Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung gemäß § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO oder gemäß § 296 Abs. 1 Satz 1 InsO wegen eines Obliegenheitsverstoßes aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft stellt.97) Auch wenn es zweifellos wünschenswert ist, dass im Zusammenwirken zwischen dem frei- 64 beruflichen Angehörigen eines Gesundheitsberufes und dem Insolvenzverwalter die Masse angereichert werden kann, konnten die damit verbundenen Probleme bislang nur zum Teil i. S. einer gemeinschaftlichen Fortführung durch Insolvenzverwalter und Arzt geklärt werden.98) Dies liegt weitgehend an der weiterhin mangelnden Abstimmung des Berufsrechts mit den Regeln des Insolvenzrechts. Zunächst stellt sich die Frage, wie ein Zusammenwirken von Arzt, Zahnarzt oder Psycho- 65 therapeut mit dem Insolvenzverwalter generell ausgestaltet werden kann: Schick möchte eine Fortführung durch den Insolvenzverwalter dergestalt zulassen, dass Schuldner und Verwalter eine Art „Kondominium“ bilden, wobei der Insolvenzverwalter dem Schuldner das erforderliche sachliche und personelle Substrat zur Verfügung stellt, in fachlichen Fragen aber dem Schuldner freie Hand lässt.99) Ob dies aber mit dem Berufsrecht vereinbar ist, darf bezweifelt werden: Ein Arzt darf sich bei seiner Berufsausübung nicht den Weisungen eines Nichtarztes unterwerfen.100) Zwar kann ein Arzt unter der Voraussetzung, dass seine fachliche Unabhängigkeit gewahrt bleibt, in eine wirtschaftliche Abhängigkeit treten.101) Ob sich diese, vom Berufsrecht geforderte fachliche Unabhängigkeit bei wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Insolvenzverwalter aber begründen lässt, ist fraglich. Außerdem kommt es nicht allein auf eine faktische Unabhängigkeit an, sondern auch in rechtlicher Hinsicht darf eine Abhängigkeit nicht bestehen. Da, von der der Eigenverwaltung abgesehen, der Schuldner mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen verliert, lässt sich eine rechtliche Unabhängigkeit des Insolvenzschuldners in der Insolvenz nicht verwirklichen. Überdies ist Ärzten eine berufliche Kooperation mit Angehörigen von Berufen außerhalb des Gesundheitssektors aus berufsrechtlichen Gründen nur in engen Grenzen möglich. Auch wenn damit zwar noch nicht von einer generellen Unzulässigkeit einer Fortführung durch den Insolvenzverwalter unter Mitwirkung durch den Schuldner ausgegangen werden kann, so zeigen schon diese Komplikationen im Zusammenspiel des Berufsrechts mit der InsO die Schwierigkeiten auf, die diese Form der Mitwirkung mit sich bringt. Daher verweist Kluth zu Recht auf die Gefahr eines Entzugs der Vertragsarztzulassung gerade aufgrund der Schwierigkeiten des Zusammenwirkens von Insolvenzverwalter und Arzt.102) Bei den Gesundheitsberufen stellt sich zudem in besonderer Weise die Frage, inwieweit der 66 Insolvenzverwalter auf sensible Daten, etwa die Patientendatei des Arztes, zugreifen darf. Will der Insolvenzverwalter Ansprüche des Arztes gegen den Patienten geltend machen, benötigt er nähere Angaben zur Person bzw. Einblick in die Patientendatei. Der Insolvenz___________ 96) Wendler in: HK-InsO, § 97 Rz. 17; Stephan in: MünchKomm-InsO, § 97 Rz. 45; Vallender in: FS Metzeler, S. 21, 29 f.; Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1057. 97) Vallender, NZI 2003, 530. 98) Weiterführend Vallender in: FS Metzeler, S. 21 ff. m. w. N. 99) Schick, NJW 1990, 2359, 2361 f. 100) Vgl. § 2 Abs. 4 der MBO-Ä. 101) Dies ist z. B. gängige Praxis im Bereich der sog. Ärzte-GmbH, die gemäß § 23a MBO-Ä zulässig sind oder in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ). 102) Kluth, NJW 2002, 186, 188.
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schuldner ist grundsätzlich gemäß § 97 Abs. 1 und 2 InsO zur Auskunft und Mitwirkung verpflichtet. Die dort normierten Pflichten können ggf. mit den Mitteln des § 98 InsO erzwungen werden und dienen primär der Haftungsverwirklichung. Von ihnen umfasst sind alle rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die für das Insolvenzverfahren von Bedeutung sein können.103) Hierzu gehören dem Grunde nach auch diejenigen Patientendaten, die der Insolvenzverwalter benötigt, um die Ansprüche für die Insolvenzmasse vollumfänglich durchsetzen zu können. 67 Auf der anderen Seite ist der Arzt aber zur Geheimhaltung verpflichtet und macht sich ggf. gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 StGB bei der Weitergabe von Patientendaten sogar strafbar. Diese Kollision des Berufsrechts mit den Befugnissen des Insolvenzverwalters wurde durch die Gerichte unter Hinweis auf den Vorrang überragender Interessen des Gemeinwohls oder vorrangige Belange Dritter bislang weitgehend zugunsten der Verwalterbefugnisse entschieden.104) Die Verletzung des Sozialgeheimnisses durch Preisgabe dieser Daten wird insofern den Drittinteressen untergeordnet, solange der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. Dies erscheint überzeugend, auch weil der Insolvenzverwalter einer dem Berufsträger entsprechenden Geheimhaltungspflicht unterliegt.105) 68 Die früher höchst umstrittene Frage, wie die i. R. einer Praxisfortführung begründeten Verbindlichkeiten zu qualifizieren sind, ist durch die Neufassung des § 35 InsO weitgehend geklärt. Schon seit Einführung der InsO steht fest, dass Einkünfte, die der Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus selbstständiger Tätigkeit erwirbt, nunmehr in vollem Umfang und nicht nur i. H. des nach Abzug der Ausgaben verbleibenden Gewinns zur Insolvenzmasse zählen.106) Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens ist nunmehr auch über die i. R. der Fortführung begründeten Verbindlichkeiten entschieden: Soweit eine Freigabe des Insolvenzverwalters nicht erfolgt, gehören diese zu den Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, da sie durch den Verwalter begründet worden sind. Dies gilt unproblematisch dann, wenn der Verwalter ausdrücklich die Beiziehung der freiberuflichen Praxis zur Masse erklärt hat. Aber auch, wenn der Verwalter die Beiziehung lediglich duldet, muss davon ausgegangen werden, dass die Verbindlichkeiten als durch den Verwalter begründet anzusehen sind, da dieser sich mit seiner Erklärung, ob er die Praxis zur Masse beizieht oder freigibt, in der Bringschuld befindet.107) Weiterhin nicht geklärt ist allerdings die Frage, wie mit solchen Verbindlichkeiten zu verfahren ist, die der Schuldner i. R. einer Fortführung ohne Wissen bzw. gegen den Willen des Insolvenzverwalters begründet.108) 69 Es zeigt sich, dass aufgrund unterschiedlicher Kollisionslagen zwischen Berufs- und Insolvenzrecht, die im Wesentlichen deshalb entstehen, weil Weisungsrechte und Verfügungsbefugnisse auf den Insolvenzverwalter übergehen, eine Art der Betriebsfortführung zu wählen ist, in der dieses Konfliktpotential minimiert werden kann. Dies ist in den Gesundheitsberufen bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen die Eigenverwaltung.109) ___________ 103) Stephan in: MünchKomm-InsO, § 97 Rz. 15. 104) BVerfG, Beschl. v. 8.3.1972 – 2 BvR 28/71, BVerfGE 32, 373; AG Köln, Beschl. v. 5.11.2003 – 71 IN 25/02, NZI 2004, 155, 156, und AG Köln, Beschl. v. 28.2.2005 – 71 IN 25/02, NZI 2005, 226 – für den Arzt; BGH, Beschl. v. 4.3.2004 – IX ZB 133/03, ZIP 2004, 915 = NJW 2004, 2015 – für den Rechtsanwalt. 105) BGH, Urt. v. 25.3.1999 – IX ZR 223/97, ZIP 1999, 621 = NZI 1999, 191. 106) BGH, Beschl. v. 5.4.2006 – IX ZB 169/04, ZVI 2007, 78 m. w. N. 107) Lüdke in: HK-InsO, § 35 Rz. 249; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103 ff.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2122; Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/3227, S. 17; a. A. Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 55 Rz. 41; Mai in: Kölner Schrift, Kap. 19 Rz. 65. 108) Hierzu Arens, DStR 2010, 446, 447 ff.; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696 ff.; Smid, DZWIR 2008, 133 ff. 109) So auch: Vallender in: FS Metzeler, S. 21, 32.
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3.2.2 Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer Die bei den Gesundheitsberufen dargestellten Grundsätze gelten in weiten Teilen auch für 70 die rechts-, steuer- und wirtschaftsberatenden Berufe. Soweit es sich bei dem Freiberufler um einen angestellten Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer handelt, kommt für diesen eine Fortführung seiner Tätigkeit unter den bereits beschriebenen Vorgaben der Rechtsprechung für den angestellten Anwalt in Frage. Für die Fortführung der Praxis eines insolventen Berufsträgers dieser Berufsgruppen be- 71 stehen prinzipiell ebenfalls die Möglichkeiten einer Fortführung durch den Insolvenzverwalter unter Mitwirkung des Insolvenzschuldners, der Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens sowie der Eigenverwaltung. Die Fortführung durch den Insolvenzverwalter unter Mitwirkung des Insolvenzschuldners 72 wird nach der derzeitigen Verwaltungspraxis und Rechtsprechung aufgrund der Vermutung des Vermögensverfalls schon daran scheitern, dass die Zulassung des Schuldners zu widerrufen ist. Um einen solchen Widerruf zu verhindern, wäre nämlich der Nachweis zu führen, dass die Interessen der gegenwärtigen und künftigen Mandanten nicht beeinträchtigt werden.110) Hierzu müsste vordringlich sichergestellt werden können, dass ein Missbrauch von Fremdgeldern ausgeschlossen werden kann. Dies allerdings wird auch bei enger Überwachung durch den Insolvenzverwalter i. R. einer Betriebsfortführung kaum gewährleistet werden können, da die Möglichkeiten einer zweckwidrigen Verwendung aufgrund der besonderen Vertrauensstellung der Angehörigen dieser Berufsgruppen vielfältig sind. Organisatorische Maßnahmen, die eine derart enge Überwachung durch den Insolvenzverwalter ermöglichen, dass jeder Missbrauch ausgeschlossen ist, sind kaum vorstellbar. Dieserhalb erscheint eine Betriebsfortführung durch den Insolvenzverwalter schon deshalb nicht möglich, weil dem Schuldner die Zulassung zu entziehen ist. Allerdings kann ein Insolvenzverwalter immer dann mit Zustimmung des Schuldners die Praxis des Freiberuflers fortführen, wenn er selbst über die notwendige persönliche Qualifikation verfügt. Ist die Zulassung noch nicht widerrufen, könnte dem Widerruf durch die Wahl der Eigen- 73 verwaltung und der Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens zuvorgekommen werden. Es ist schnellstmöglich ein Insolvenzplan auszuarbeiten und dieser gemeinsam mit dem 74 Eigenantrag beim Insolvenzgericht einzureichen.111) Im Regelfall des Insolvenzplanverfahrens wird der Schuldner mit der im gestaltenden Teil vorgesehenen Befriedigung der Insolvenzgläubiger von seinen restlichen Verbindlichkeiten gegenüber diesen Gläubigern befreit. Insofern könnten die wirtschaftlichen Verhältnisse des Freiberufler-Schuldners nach Planbestätigung wieder als geordnet gelten, wodurch ein Widerruf der Zulassung obsolet werden könnte. Um die wirtschaftlichen Verhältnisse wieder zu ordnen – wodurch die Zulassung u. U. 75 „gerettet“ werden kann –, kommt auch die Beantragung eines Schutzschirmverfahrens nach § 270b InsO in Betracht.112) Im Rahmen dieses Verfahrens soll dem Schuldner die Möglichkeit gegeben werden, bereits im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren einen Insolvenzplan auszuarbeiten. Überdies kann auf Antrag des Schuldners ein Vollstreckungsschutz gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO angeordnet werden, so dass der Schuldner für den Zeitraum seiner Sanierungsbemühungen durch ein Moratorium geschützt ist.113) Eben diese Mechanismen ermöglichen dem lediglich drohend zahlungsunfähigen bzw. überschuldeten Schuldner weitergehend als bisher, rechtzeitig seine wirtschaftlichen Verhältnisse ___________ 110) 111) 112) 113)
Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 17. Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 399; Janca, ZInsO 2005, 242 ff.; Schmittmann, ZInsO 2004, 725, 727. Dies gilt i. E. auch für die zuvor dargestellten Praxen der Ärzte, Zahnärzte und Psychotherapeuten. Piekenbrock, NZI 2012, 905, 907.
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außerhalb des eröffneten Verfahrens zu ordnen, was auf den Widerruf der Zulassung Einfluss hat. 76 Ob hierdurch allerdings eine Abkehr von der restriktiven Entziehungspraxis der Kammern zu erreichen ist, erscheint fraglich. Die über den Widerruf der Zulassung geschützten Rechtsgüter sind bei „nur“ drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung kaum weniger gefährdet als bei bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit. Diese Gefährdung dürfte durch die Wahl eines Eigenverwaltungs- bzw. Insolvenzplanverfahrens kaum beseitigt werden können. Vielmehr sind die Vermögensverhältnisse regelmäßig erst mit erfolgreicher Durchführung des Insolvenzverfahrens in einem Maße geordnet, wie es die zu schützenden Rechtsgüter verlangen. Deshalb sollte die Widerrufspraxis bei Rechtsanwälten, Notaren, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern trotz der durch das ESUG geschaffenen weitergehenden Sanierungsmöglichkeiten im Regelfall nicht aufgeweicht werden. V.
Alternativszenarien
77 Neben der Fortführung kommen nach Beantragung der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auch Alternativszenarien in Betracht. Dies sind insbesondere die Verwertung sowie die Freigabe. 1.
Verwertung öffentlich-rechtlicher Befugnisse
78 Ob der Insolvenzverwalter die öffentlich-rechtlichen Befugnisse durch Veräußerung für die Masse verwerten kann, hängt von ihrer Zugehörigkeit zur Masse und diese wiederum davon ab, ob ihnen ein Vermögenswert zukommt.114) 79 Für die Sachkonzession ist die Frage leicht zu beantworten. Ihr kommt regelmäßig ein Vermögenswert zu, so dass sie grundsätzlich auch übertragbar ist. Die Verwertung erfolgt gemeinsam mit der Sache, dem Grundstück oder der Anlage, deren Wert sie steigert. Mit Übertragung des Grundstücks oder der Anlage selbst geht die Sachkonzession automatisch auf den Rechtsnachfolger über.115) 80 Anders stellt sich die Rechtslage bei der Verwertung einer Personalkonzession dar. Nicht zur Insolvenzmasse gehören solche Genehmigungen, die ein höchstpersönliches Recht begründen.116) Sie knüpfen regelmäßig an subjektive Zulassungsvoraussetzungen an. Aber auch soweit letzteres nicht der Fall ist, die Genehmigung also etwa durch einen Stellvertreter nach § 45 GewO oder § 9 GastG ausgeübt werden kann, ist die Zugehörigkeit zur Masse nicht ohne weiteres zu bejahen. Denn hierzu muss der Genehmigung zusätzlich auch ein Vermögenswert zukommen. Sofern die Genehmigung auf die Person des Insolvenzschuldners bezogen und damit eine Personalkonzession ist, ist sie zwar Grundlage der durch die Fortführung realisierbaren Vermögenswerte, aber nicht selbst Vermögenswert, da sie weder einzeln noch durch Verkauf des ganzen Unternehmens verwertet werden kann.117)
___________ 114) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 13 ff., 270. 115) Depré/Kothe in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 36 Rz. 113 ff.; Vierhaus, NVwZ 2000, 734, 745. 116) BVerfG, Beschl. v. 22.3.2013 – 1 BvR 791/12, NZS 2013, 543 m. w. N. – für die vertragsärztliche Zulassung, selbst im Falle eines Medizinischen Versorgungszentrums in der Rechtsform einer GmbH; BSG, Urt. v. 10.5.2000 – B 6 KA 67/98 R, BSGE 86, 121, 123 – ebenfalls für die vertragsärztliche Zulassung; BVerwG, Urt. v. 27.6.1969 – VII C 46.68, MDR 1970, 80 – für die Güternahverkehrserlaubnis nach § 80 GüKG (entspr. heute § 3 Abs. 2 GüKG bzw. § 3 Abs. 1 PersBefG); OVG Münster, Beschl. v. 2.10.2003 – 13 A 3696/02, GewArch 2004, 73 – für Genehmigungen nach dem nordrhein-westfälischen Rettungsgesetz; Depré/Kothe in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 36 Rz. 110 m. w. N. 117) Depré/Kothe in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 36 Rz. 110 f.; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 277.
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Klöck/Gerdes
Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz
§ 34
Beispiel: Für die Verwertung eine Gaststätte bedeutet dies bspw., dass der Insolvenzverwalter zwar die Gaststätte an sich, also die Räumlichkeiten und ihr Inventar verwerten kann, der etwaige Nachfolger wiederum muss aber selbst über eine Erlaubnis verfügen, um diese fortführen zu können. Eine Übernahme der Gaststättenerlaubnis i. S. einer Rechtsnachfolge findet nicht statt. Die Veräußerung einer freiberuflichen Praxis wirft weitere Fragen auf. Hierbei setzen 81 sich die schon bei der Erörterung der Fortführung genannten Probleme fort. Wenngleich mittlerweile, anders als noch unter Geltung der KO,118) generell von einer Veräußerbarkeit der freiberuflichen Praxis auch in Bezug auf ihren „Goodwill“ ausgegangen wird, ist hier doch vieles im Einzelnen streitig. Streit besteht dabei insbesondere darüber, ob der Insolvenzverwalter einer Zustimmung durch den Insolvenzschuldner zur Verwertung der Praxis bedarf. Dies wird teilweise aufgrund der persönlichen Vertrauensbeziehung zu den Mandanten bzw. Patienten verlangt.119) Überwiegend wird aber zu Recht dem Interesse der Gläubiger Vorrang gegeben.120) Sowohl Praxis als auch die Patientendatei gehören gemäß § 35 Abs. 1 bzw. § 36 Abs. 2 Nr. 2 InsO zur Insolvenzmasse. Zu weitgehend ist zwar die Ansicht, dass der Freiberufler als Insolvenzschuldner in die Patientendatei auf Grund deren Massezugehörigkeit nur mit Zustimmung des Insolvenzverwalters Einblick nehmen darf.121) Andererseits hat aber auch der Insolvenzverwalter kein allgemeines Einsichtsrecht. Dennoch muss es ihm möglich sein, die Praxis wie bei einem regulären Verkauf unter Zustimmung der Patienten zur Übernahme der Patientendatei durch den Nachfolger zu verwerten.122) Vor dem Hintergrund der nicht abschließend geklärten Rechtsfragen in diesem Themen- 82 komplex ist dem Insolvenzverwalter jedenfalls anzuraten, den Insolvenzschuldner in den Veräußerungsprozess intensiv einzubinden. Auf diese Weise kann möglichen Versuchen des Schuldners vorgebeugt werden, die Verwertung durch Einflussnahme auf Klienten, Patienten oder Mandanten zu verhindern.123) 2.
Freigabe zur Fortführung durch den Schuldner
Eine weitere Möglichkeit, die Fortführung eines Gewerbes oder einer freiberuflichen Praxis 83 durch den Schuldner zu ermöglichen, ist die Freigabe. Mit ihr endet der Insolvenzbeschlag. Der Gewerbetreibende oder Freiberufler erhält die Verwertungs- und Verfügungsbefugnis zurück. Da mit der Freigabe des Gewerbes oder der freiberuflichen Praxis eine Vielzahl von Gegenständen dem Zugriff der Masse entzogen wird und nicht nur, wie es dem Konzept der Freigabe an sich entspricht, einzelne Gegenstände, kann die Freigabe der gesamten Praxis bzw. des gesamten Gewerbebetriebes nur als Ausnahme in den Fällen gelten, in denen weder durch die Fortführung noch die Veräußerung eine Massemehrung zu erzielen ist. Aufgrund der weitreichenden Konsequenzen einer solchen Freigabe sollte der Insolvenzverwalter den gesamten Betrieb nur in Absprache mit den Gläubigern freigeben.124) ___________ 118) Der Veräußerung des nicht materiellen Vermögenswertes stand nach der KO entgegen, dass er dem Geheimschuldner erhalten bleiben musste, um die Praxis außerhalb des Insolvenzverfahrens fortführen zu können und die Einnahmen als Neuerwerb für seinen Lebensunterhalt zu verwenden. Hierzu: JaegerHenckel, InsO, § 35 Rz. 14. 119) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 9.09; Eickmann in: HK-InsO, § 35 Rz. 29; Nerlich/Römermann-Andres, InsO, § 35 Rz. 73. 120) Lüdtke in: HK-InsO, § 35 Rz. 106; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 288 sowie § 159 Rz. 32; Peters in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl., § 35 Rz. 577 ff.; Viniol in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 42 Rz. 35. 121) So aber: Schick, NJW 1990, 2359, 2361. 122) Uhlenbruck in: FS Henckel, S. 877, 886 ff. 123) In diesem Sinne auch: Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 400. 124) Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 497.
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84 Bei der Freigabe eines Gewerbes ist umstritten, wie sie sich auf eine zuvor eingeleitete Gewerbeuntersagung auswirkt. Rechtsfolge einer solchen Freigabe ist, dass der Insolvenzverwalter den aus der selbstständigen Tätigkeit zu erwartenden Neuerwerb nicht zur Insolvenzmasse zieht und dass Verbindlichkeiten, die der Schuldner i. R. seiner selbstständigen Tätigkeit begründet, nicht im Range von Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO befriedigt werden.125) Der Insolvenzschuldner wird also aus Verträgen, die er i. R. seiner selbstständigen Tätigkeit neu begründet, selbst berechtigt und verpflichtet.126) Gegen eine Sperrwirkung des § 12 GewO spricht, dass die Vermögensgegenstände infolge der Freigabe aus dem Insolvenzbeschlag ausscheiden und der Insolvenzverwalter deshalb nicht mehr auf den Schuldner und die Vermögensgegenstände einwirken kann. Die Nutzung der Vermögensgenstände kommt infolge der Freigabe nicht mehr der Masse zugute, auf die durch das freigebende Gewerbe erwirtschafteten Gewinne kann nicht zugegriffen werden, es werden keine Masseverbindlichkeiten begründet.127) Aus diesem Grunde erscheint es zunächst gerechtfertigt, dem schuldnerischen Gewerbe auch den Schutz des § 12 GewO zu entziehen. Das Gewerbe nimmt schließlich in vollem Umfang nicht mehr an dem Insolvenzverfahren teil, für das § 12 GewO seiner Konzeption nach entwickelt wurde.128) 85 Der größere Teil in Rechtsprechung und Literatur geht allerdings von einer Sperrwirkung des § 12 GewO aus.129) § 12 GewO verbietet nach seinem Wortlaut eine Anwendung der genannten Vorschriften für den gesamten Zeitraum eines laufenden Insolvenzverfahrens. Sinn und Zweck der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ist, dass der Insolvenzschuldner auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine bereits vorher ausgeübte selbstständige Tätigkeit fortsetzen bzw. eine selbstständige Tätigkeit neu aufnehmen kann.130) Dieses Ziel würde vereitelt, wenn gleichwohl eine Untersagung bzw. der Widerruf des Gewerbes möglich wäre. Schließlich wird den Gläubigerinteressen durch die entsprechende Anwendung von § 295 InsO Genüge getan, nach dem der Insolvenzverwalter gegenüber dem Schuldner eine Ausgleichszahlung zu konkretisieren hat. 86 Schließlich steht den Neugläubigern nach erfolgter Freigabe der Neuerwerb als Haftungsmasse zur Verfügung. Insofern erscheint es sachgerecht, von einer Sperrwirkung des § 12 GewO auszugehen. 87 Sie kann aber nur solange gelten, wie im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bzw. der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO noch nicht über die Unzuverlässigkeit des Gewerbetriebenden entschieden worden ist und die Verbindlichkeiten, die nach Ansicht der Behörde die Unzuverlässigkeit des Schuldners begründen, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind.131) Soweit zum Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags bereits eine abschließende Entscheidung unter Anordnung des Sofortvollzugs i. S. einer Untersagung des betreffenden Gewerbes ergangen ist, kommt § 12 GewO nicht mehr zur Anwendung.132) ___________ 125) 126) 127) 128) 129)
Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 144. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 101. Krumm, GewA 2010, 465, 471 ff. In diesem Sinne OVG Koblenz, Urt. v. 3.11.2010 – 6 A 10676/10, OVG, GewArch 2011, 37. VGH München, Urt. v. 5.5.2009 – 22 BV 07.2776, ZIP 2009, 2162 = NZI 2009, 527; VG Oldenburg, Beschl. v. 14.7.2008 – 12 B 1781/08, ZIP 2009, 334 = GewArch 2008, 413; OVG Münster, Beschl. v. 19.5.2011 – 4 B 1707/10, NVwZ-RR 2011, 813; VG Trier, Urt. v. 14.4.2010 – 5 K 11/10, VIA 2010, 55 m. Anm. Vallender; Friauf-Heß, GewO, § 12 Rz. 46; Landmann/Rohmer-Marcks, GewO, § 12 Rz. 7a. 130) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 90. 131) VGH München, Beschl. v. 28.10.2021 – 22 ZB 21.1923, NZI 2022, 88; Vallender, VIA 2010, 55. 132) So i. E.: OVG Lüneburg, Beschl. v. 8.12.2008 – 7 ME 144/08, GewArch 2009, 162.
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Klöck/Gerdes
Öffentlich-rechtliche Genehmigungen in der Insolvenz
§ 34
Keine Anwendung findet § 12 GewO ferner in dem Fall, dass die Unzuverlässigkeit des 88 gewerbetreibenden Schuldners mit Rückständen begründet wird, die aus der freigegebenen selbstständigen Tätigkeit herrühren.133) Dies folgt nunmehr auch ausdrücklich aus § 12 Satz 2 GewO, wonach die Sperrwirkung nicht für eine nach § 35 Abs. 2 Satz 1 oder Abs. 3 InsO freigegebene selbstständige Tätigkeit des Gewerbetreibenden gilt, wenn dessen Unzuverlässigkeit mit Tatsachen begründet wird, die nach der Freigabe eingetreten sind. Einem Umkehrschluss lässt sich nunmehr auch entnehmen, dass Gewerbeuntersagungen einer freigegebenen Tätigkeit, die mit ungeordneten Vermögensverhältnissen vor dem Zeitpunkt der Freigabe begründet werden, von der Sperrwirkung des § 12 Satz 1 GewO erfasst sind. VI.
Fazit
Die Auswirkungen, die ein Insolvenzverfahren auf Genehmigungen hat, sind vielfältig. Sie 89 können positiv sein, etwa bei der Veräußerung übertragbarer Rechte zur Generierung von Liquidität, aber auch ein Hindernis, das einer erfolgreichen Betriebsfortführung entgegensteht. Die Prüfung der Rechtslage in Bezug auf bestehende Genehmigungen sollte angesichts ihrer weitreichenden Bedeutung einen festen Bestandteil in der Abfolge der Maßnahmen bilden, die in Vorbereitung und Durchführung eines Insolvenzverfahrens ergriffen werden.
___________ 133) VGH München, Urt. v. 5.5.2009 – 22 BV 07.2776, ZIP 2009, 2162 = NZI 2009, 527.
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§ 35 Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung Fissenewert
Übersicht I. II. III.
Einführung................................................ 1 Insolvenzverwaltung ist ein Beruf!...... 10 Was bedeutet eigentlich Compliance?.................................................... 14 IV. Inhalte eines CMS bei Insolvenzverwaltern ............................................... 17 V. CMS und § 56 InsO als Eignungskriterien................................................... 20 VI. CMS als „Best-of“................................... 27 VII. Haftung von Insolvenzverwaltern....... 33 1. Schadensersatz......................................... 35 2. Insolvenzverwalter ist Unternehmer ..... 36 VIII. Compliance-Anforderungen an den Insolvenzverwalter .................... 38 1. Geschenke und Einladungen .................. 39 1.1 Allgemeines.................................... 39 1.2 Umgang mit Amtsträgern............. 44 1.3 Was ist zu tun, wenn es einmal schwierig oder unvermeidbar ist, Zuwendungen abzulehnen? .... 46 2. Befolgung der Datenschutzrichtlinien bzw. Compliance des fortzuführenden Unternehmens ......................................... 51 3. Vermietung .............................................. 54 4. Unternehmensbestattungen ................... 56 5. Nutzung von Firmenfahrzeugen............ 57 6. Beraterpool/Dienstleisterpool einrichten ...................................................... 58 7. CMS des schuldnerischen Unternehmens ......................................... 59 8. Fehlverhalten der Organe ....................... 60 9. Beachtung von InsO Excellence............. 61
10. 11. 12. 13. IX. X.
1. 2. 3. 4.
5. 6. 7. 8.
9.
Auswahl strafrechtlicher Risiken ........... 62 Verschleuderung...................................... 63 Untreue .................................................... 64 Steuern und Bilanzen .............................. 72 Zwischenfazit.......................................... 74 Checkliste zum Aufbau eines Compliance-Management-Systems (CMS) einer Insolvenzverwalterkanzlei inklusive Regelungen zur Betriebsfortführung ........................ 76 Klares Bekenntnis der Geschäftsführung zu Compliance .......................... 76 Unternehmensbezogene Definition von „Compliance“ ................................... 77 Aufbau eines Compliance-Teams zur Errichtung eines CMS ...................... 80 Ermittlung von Compliance-Risikobereichen.................................................. 81 4.1 Kanzleiintern ................................. 82 4.2 Kanzleiextern ................................. 83 Beachtung der Datenschutzrichtlinien des fortzuführenden Unternehmens...... 85 Beachtung der CMS des fortzuführenden Unternehmens................... 86 Überführung des CMS in den Regelbetrieb ...................................................... 87 Regelmäßige Anpassung und Überwachung der CMS-Prozesse durch einen Compliance-Beauftragten ............. 88 Sanktionen bei Verstößen gegen das CMS ........................................ 91
Literatur: Albrecht/Schütz/Taheri, Quo Vadis Insolvenzverwaltung? Plädoyer für die Einführung von Compliance-Standards, ZInsO 2022, 793; Andres, Messbarkeit der Qualität der Verwaltertätigkeit aus der Sicht eines Insolvenzverwalters, NZI 2008, 522; Beutler/Runkel, Gutachterliche Gegenstellungnahme von dreizehn Mitgliedern des Gravenbrucher Kreises zur Frage der Bestellung des Insolvenzverwalters, ZInsO 2001, 730; Bork, Die gerichtliche Informationsgewinnung im Vorfeld der Bestellung von Insolvenzverwaltern, ZIP 2017, 2173; Degenhart/Borchers, Das Anforderungsprofil des Insolvenzverwalters – Ergebnisse einer Befragung von Insolvenzgerichten und Kreditinstituten, ZInsO 2001, 337; Fissenewert, Haftung von Geschäftsführern, Wirtschaft+Markt 5/2018, S. 49; Fissenewert, Die nächste Krise kommt bestimmt, comply 4/2018, S. 28; Fissenewert, Compliance für den Mittelstand, 2. Aufl., 2008; Füchsl/Pannen/Rattunde, Bemerkungen zur Insolvenzverwalterbestellung, ZInsO 2002, 414; Henssler, Das Berufsbild des Insolvenzverwalters im Wandel der Zeit, ZIP 2022, 1053; Holzer/ Kleine-Cosack/Prütting, Die Bestellung des Insolvenzverwalters, 2001; Kesseler, Rechtsschutz des „übergangenen“ Insolvenzverwalters, ZIP 2000, 1565; Klindt/Pelz/Theusinger, Compliance im Spiegel der Rechtsprechung, NJW 2010, 2385; Lüke, Kein Bedarf an Insolvenzverwaltern, ZIP 2000, 458; Richter, Strafbarkeit des Insolvenzverwalters, NZI 2002, 121; Robrecht, Zum klagbaren Anspruch des Rechtsanwalts auf Bestellung zum Konkursverwalter, KTS 1998, 63; Schramm, Untreue durch Insolvenzverwalter, NStZ 2000, 398; Smid, Anmerkungen zu Modellen der Auswahl des Insolvenzverwalters und Neuordnung seines Berufsrechts, DZWIR 2022, 335; Smid, Rechtsgutachten zu Fragen der örtlichen Zuständigkeit des Insolvenzgerichts bei vollzogener oder in Vollzug befindlicher Sitzverlegung, Um-
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§ 35
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firmierung und Austauschs des Geschäftsleiters des schuldnerischen Unternehmensträgers und damit zusammenhängender Gegenstände, v. 10.3.2020 (zit.: Rechtsgutachten), abrufbar unter https://sd.bremische-buergerschaft.de/sdnetrim/UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZRA9dKlxHjg2XoJy2xiIMc2dT7Bv5GSMqlAZA5SC1Q5n/Gutachten_Prof_Smid_10.03.2021.pdf (Abrufdatum: 30.11.2022); Stapper, Neue Anforderungen an den Insolvenzverwalter, NJW 1999, 3441; Thole, Zertifizierungen und Qualitätsmessung bei der Verwalterauswahl, ZIP 2017, 2183; Uhlenbruck, Das Bild des Insolvenzverwalters, KTS 1998, 1; Vallender, Die Zeit ist reif – Plädoyer für eine Berufsordnung für Insolvenzverwalter, NZI 2017, 641.
I.
Einführung
1 Compliance ist in der Wirtschaft und auch im Mittelstand längst angekommen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. In jedem Fall ist ein effizientes Compliance-ManagementSystem (CMS) ein messbarer Image- und Wettbewerbsvorteil für die Wirtschaft. Der Weg dorthin war lang und von erheblichen Widerständen begleitet. Spürbar wurde Compliance in Deutschland im Grunde erst in den 90er Jahren, als die Auslandskorruption unter Strafe gestellt und die steuerliche Absetzbarkeit damit korrespondierender „nützlicher Aufwendungen“ abgeschafft wurde. Der große Paukenschlag erfolgte erst 2008, als Siemens aufgrund des seit 2006 bekannten Schmiergeldskandals allein an das US-Justizministerium und die US-Börsenaufsicht Bußgelder i. H. von insgesamt 800 Mio. US$ zahlen musste. Dies war der Auftakt zu einer Serie von Verfahren gegen deutsche Unternehmen aller Branchen. 2 Es ist noch nicht einmal eine Unternehmergeneration her, dass schwarze Kassen steuerlich absetzbar waren und teure, sogar ausschweifende Einladungen zum guten Ton gehörten. All dies ist heute nicht mehr möglich. Die Jammerei hierüber hat aus den oben genannten Gründen längst aufgehört. Und so ist es für viele heute leichter, ein Geschenk unter Hinweis auf die Compliance abzulehnen. Das ist etwas, was heute zum guten Ton gehört. Dieser Sinneswandel hat rasant stattgefunden, ohne dass es eine rechtliche Verpflichtung zu Compliance bis heute gibt. Die Vorteile liegen klar auf der Hand, nämlich mindestens ein Qualitätsnachweis sowie Imagevorteil. 3 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verständlich, warum Compliance erst in wenigen Insolvenzverwalterkanzleien und erst recht bei der Betriebsfortführung noch nicht Einzug gefunden hat. Und es gibt weitere Ungereimtheiten, die eng mit dem Thema Compliance zusammenhängen. 4 Die Verwaltung größerer Insolvenzen ist nach wie vor ein sehr lukratives Betätigungsfeld. Nach wie vor ungeklärt sind aber die Fragen des „Ob“ und „Wie“ der Ausgestaltung des Berufs des Insolvenzverwalters sowie die Frage, wie ein Bestellungsverfahren transparent und fair ausgestaltet sein könnte. Die aktuelle Praxis wird seit vielen Jahren kritisiert.1) Neben weiteren Problemen ist festzustellen, dass die gerichtliche Bestellungspraxis unterschiedlich und die Praxis jedenfalls eines Teils der Insolvenzgerichte nicht transparent ist.2) 5 Kritik wird nicht nur in der Fachliteratur geübt, sondern auch in den einschlägigen Wirtschaftsmedien. Experten monieren, viele Insolvenzverwalter seien schlicht inkompetent und sind überzeugt, dass Tausende von Arbeitsplätzen und Milliarden Forderungen der Gläubiger gesichert werden könnten, wenn die Insolvenzverwalter besser qualifiziert wären.3) 6 Kaum eine andere Gilde ist so undurchsichtig wie der amtlich bestellte Manager auf Zeit. Jeder darf sich Insolvenzverwalter nennen, egal ob Prädikatsjurist oder Buchhalter. Ent___________ 1) Henssler, ZIP 2002, 1053 ff.; Holzer/Kleine-Cosack/Prütting, Die Bestellung des Insolvenzverwalters, S. 1 ff.; Füchsl/Pannen/Rattunde, ZInsO 2002, 414; Kesseler, ZIP 2000, 1565 f.; Lüke, ZIP 2000, 485 f.; Robrecht, KTS 1998, 63 ff.; Uhlenbruck, KTS 1998, 1. 2) Henssler, ZIP 2002, 1053; Kesseler, ZIP 2000, 1565, 1566; Smid, DZWIR 2022, 335 ff. 3) Weber, Ex und hopp, Süddeutsche Zeitung v. 17.5.2010, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/insolvenzverwalter-in-der-kritik-ex-und-hopp-1.464555 (Abrufdatum: 30.11.2022).
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Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung
§ 35
sprechend gering sei die Qualifikation einiger selbst ernannter Spezialisten.4) Die Versorgung mit lukrativen Mandaten, obwohl gegen den Insolvenzverwalter bereits mehrere Jahre wegen Untreue ermittelt wird, dürfte damit auch ein Ende haben. Auch finden sich zahlreiche Presseberichte über ein sog. „Bremer Modell“. Nach diesen 7 Artikeln (insbesondere „INDat Report“, „Juve“, „FAZ“ sowie „Business Insider“) stehen rechtsmissbräuchliche Firmensitzverlegungen ebenso im Raum wie eine mit Blick auf die Zuständigkeitsregelung des Amtsgerichts gezielte Umfirmierung der wirtschaftlich angeschlagenen Firmen oder eine vermeintlich zu wohlwollend – unkritische gerichtliche Bestellung von Insolvenzverwaltern „auf Vorschlag“. Dabei sind sich die Insolvenzverwalter häufig untereinander auch nicht grün. Erlangt ein 8 Insolvenzverwalter erneut eine größere Insolvenz, reden Berufskollegen allzu häufig abfällig und spekulieren darüber, wie der Kollege das wieder geschafft haben mag. Und dass diese Bestellung nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Natürlich geht es nur um Ausnahmefälle, bei denen die Bestellung nicht mit rechten Dingen 9 zu tun gehabt haben mag. Bei Compliance geht es aber darum, schon dem „bösen Schein“ im Vorhinein zu begegnen. Das ist ein weiterer Vorteil von Compliance. Vor diesem Hintergrund werden Insolvenzverwalter bzw. deren Kanzleien, dies sich „compliant“ aufstellen, wie Unternehmen einen erheblichen Wettbewerbs- und auch Imagevorteil haben. Diese Kanzleien sind dann eben über jeden Zweifel erhaben und nebenbei auch noch perfekt aufgestellt. II.
Insolvenzverwaltung ist ein Beruf!
Es ist erstaunlich, mit welchen Argumenten Teile der Insolvenzverwalterschaft, aber auch der 10 Insolvenzrichter, versuchen, nicht nur einer Verobjektivierung der Bestellungsentscheidung zu widersprechen, sondern einer Compliance überhaupt. Es überzeugt nicht, wenn mit recht durchsichtigen Motiven ein Großteil der Insolvenz- 11 verwalter weiterhin an der These festhält, es gäbe keinen Beruf des Insolvenzverwalters,5) obwohl im gleichen Atemzug die spezifischen Befähigungen, die für die Ausübung dieses Amtes erforderlich sind, hervorgehoben werden. Zu den Hintergründen kann nur gemutmaßt werden. Auch soll hier die Frage nicht abschließend geklärt werden, ob das sehr weitgehende richterliche Ermessen bei Bestellungsentscheidungen überhaupt zulässig ist oder ob das uneinheitliche, nicht transparente Verfahren, das die Folge dieses weiteren Ermessens ist, mit der Verfassung zu vereinbaren ist.6) Compliance wird auch diese Frage regeln. Da die Insolvenzverwaltung schon jetzt gesetzlich durch §§ 56 ff. InsO vorgeprägt ist, 12 hat sie sich – das ist eine einfache Subsumtion7) – faktisch zu einem eigenständigen Beruf entwickelt. Die Zeit für eine Berufsordnung ist überreif. Argumente hierfür gibt es genügend.8) Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass die Freiheit von Berufsordnung und Richtlinien auch den Insolvenzverwaltern und Insolvenzgerichten Freiheiten bereitet. Das Gegenteil ist der Fall. Auf Dauer werden sich nur transparente und nachvollziehbare Entscheidungen durchsetzen. Wer hier klare Strukturen hat und nachweisen kann, ist als Insolvenzverwalter ebenso im Vorteil, wie ein gesundes Unternehmen, welches über eben diese klaren Strukturen verfügt. ___________ 4) Schwarzer, Mehr Henker als Helfer, Manager Magazin v. 25.2.2009, abrufbar unter https://www.managermagazin.de/magazin/artikel/a-599652.html (Abrufdatum: 30.11.2022). 5) Vgl. dazu Beutler/Runkel, ZInsO 2001, 730, 733. 6) S. hierzu ausführlich Henssler, ZIP 2002, 1053 ff. 7) So zutreffend Henssler, ZIP 2002, 1053, 1054. 8) Vgl. nur Vallender, NZI 2017, 641 ff.; zuletzt Albrecht/Schütz/Tahiri, ZInsO 2022, 793.
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§ 35
Teil V Einzelfragen
13 Ein gutes Beispiel dafür, dass in Zukunft nur noch Insolvenzverwalter mit Compliance bestellt werden dürften, bieten die Niederlande. Hier wurde aus der Anwaltschaft heraus die Organisation „Insolad“ gegründet. Dies hat dazu geführt, dass die Gerichte nahezu ausnahmslos Insolad-Anwälte als Insolvenzverwalter bestellen. Ein derartiger Kodex wie in den Niederlanden hat auch Vorbildfunktion für alle Insolvenzverwalter.9) Dies zeigt sich zunehmend auch in Deutschland. So wurden etwa Verhaltensrichtlinien von Insolvenzverwaltern bei einigen Gerichten bereits in ihren Entscheidungen verwertet.10) III.
Was bedeutet eigentlich Compliance?
14 Etwas verkürzt definiert, ist Compliance die Einhaltung von Gesetzen und Richtlinien. Dass Gesetze einzuhalten sind, versteht sich von selbst. Wofür benötigt ein Insolvenzverwalter aber „Richtlinien“? Richtlinien sind nichts anderes als Handlungsanweisungen, um Risiken vom Unternehmen oder der Kanzlei fernzuhalten. Und ein Risiko kann in der Verletzung des Datenschutzes oder der steuerrechtlichen Vorschriften, erst recht der strafrechtlichen Vorschriften, bestehen. Auch die Beschädigung des ansonsten guten Rufes des Insolvenzverwalters bzw. seiner Kanzlei kann ein Risiko darstellen. 15 Noch weiter reduziert kann man sich die Frage stellen, ob man über das, was man getan hat, am nächsten Tag in der Zeitung lesen bzw. ob man sich noch im Spiegel betrachten möchte. Jegliches Verhalten, welches einen „bösen Schein“ hervorrufen könnte, ist zu vermeiden. Der Maßstab sollte der „innere Kompass“ sein. 16 Die umfassendste Definition von Compliance ist: „Die Einhaltung der Regelungen und des Rechts ist nicht dem Zufall, dem individuellen Engagement oder dem partiellen Abteilungsinteresse zu verdanken, sondern einer ComplianceArchitektur 24/7, verbunden mit den gesamten internen wie externen Unternehmensverbindungen.“11)
IV.
Inhalte eines CMS bei Insolvenzverwaltern
17 Wenn man Compliance als etwas begreift, was vor Risiken schützen soll, hat dies auf der einen Seite auch mit Qualität zu tun, denn nur gute Qualität und klare Kanzleistrukturen etc. sichern eine nachhaltige Qualität. Zum anderen ist Compliance ja geeignet, Risiken zu erkennen, zu minimieren und sogar zu beseitigen. Hierfür ist die Kenntnis der Risiken enorm wichtig. Zum Risiko eines Insolvenzverwalters kann eben auch gehören, dass sein guter Ruf beschädigt oder gar zerstört wird. 18 Compliance ist in vielen Insolvenzverwalterkanzleien bereits vorhanden, zumindest teilweise. Jede Insolvenzverwalterkanzlei muss natürlich wie andere Unternehmen auch die DSGVO beachten und die Beachtung des Datenschutzes ist eben ein klassischer Teil von Compliance. Ein Verstoß hiergegen zieht empfindliche Bußgelder nach sich und beschädigt auch den Ruf des Unternehmens. Vor diesem Hintergrund stellt die DSGVO bzw. ein Verstoß hiergegen ein Risiko dar und entsprechende Handlungsanweisungen in der Kanzlei sollten vorhanden sein, damit eben dieses Risiko sich gar nicht erst verwirklicht. Damit ist auch die DSGVO ebenso ein Teil von Compliance wie die Tax-Compliance, die auch quasi in jedem Unternehmen und in jeder Kanzlei vorhanden sein sollte. Daneben gibt es sicherlich weitere Richtlinien, wie sich Mitarbeitende zu verhalten haben etc. Da ist also schon ein guter Teil von Compliance vorhanden, auch wenn es vielleicht anders heißt oder noch nicht so aussieht. ___________ 9) Henssler, ZIP 2002, 1053, 1062. 10) Vgl. AG Hamburg, Beschl. v. 21.11.2001 – 67g IN 280/01, ZIP 2001, 2147, dazu EWiR 2002, 71 (Holzer). 11) Klindt/Pelz/Theusinger, NJW 2010, 2385; Fissenewert, Compliance für den Mittelstand, S. 3.
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Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung
§ 35
Neben den Qualitätsmaßstäben, wie eine Kanzlei zu führen ist, sollten insbesondere dann 19 auch mindestens die Grundlagen von GOI bzw. VID-CERT und InsO Excellence berücksichtigt werden, quasi als eine Auswahl des Besten aus allen Insolvenzwelten. V.
CMS und § 56 InsO als Eignungskriterien
Es unterliegt keinem Zweifel, dass angesichts der Komplexität des gesamten Sanierungs- 20 und Insolvenzrechts hohe Qualitätsstandards zu einer Qualitätssicherung beitragen können. Sowohl die Sanierungsberatung als auch die Insolvenzabwicklung verlangen den Nachweis überdurchschnittlicher Kenntnisse des rechtlichen Rahmens und der betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge.12) Nach § 56 InsO ist die Eignung das zentrale Tatbestandsmerkmal für die Verwalteraus- 21 wahl und hier dürfte ein effizientes CMS bzw. der Nachweis dessen sehr hilfreich sein. Dabei muss dann auch nicht mehr unterschieden werden zwischen der persönlichen Eignung des Insolvenzverwalters und der sachlichen Eignung bzw. Ausstattung des Organisationsumfeldes. Ein Insolvenzverwalter ist auf Dauer nur dann erfolgreich, wenn er sich auf die sachliche und inhaltliche Ausstattung seines Büros und seiner Prinzipien verlassen kann. Die Qualität der Verwalterleistung ist ganz klar ein Auswahlkriterium, weil die Realisierung 22 der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung nur durch qualitativ gute Arbeit des Insolvenzverwalters erreicht werden kann. Dem gegenüber bieten „schlechte“ Insolvenzverwalter nicht die Gewähr für die Erfüllung der Verwalterpflichten und für die Realisierung des gesamten Verfahrensziels einer bestmöglichen nach Lage der Dinge optimalen Verwertung durch Liquidation oder Sanierung.13) Der Bewerber muss über fundierte Kenntnisse des Insolvenzrechts und – je nach Verfah- 23 renskategorie, für die eine Bewerbung vorliegt – auch über Kenntnisse des Handels- und Gesellschaftsrechts, des Vertrags- und Prozessrechts, des Arbeits- und Sozialrechts, des Steuerrechts sowie der Betriebswirtschaftslehre einschließlich Rechnungswesen und Controlling verfügen.14) Neben den fachlichen Kenntnissen werden auch persönliche Fähigkeiten und Eignungen, wie Führungsqualitäten, Verhandlungsgeschick15), Zeitmanagement, Teamfähigkeit und Konfliktmanagement16) sowie die Bereitschaft zur Kooperation mit dem Insolvenzgericht verlangt.17) All diese Fähigkeiten kann man nur in einem gut strukturierten Team erreichen und 24 qualitativ aufrechterhalten, wenn klare Strukturen, also Richtlinien, gegeben sind. Richtlinien sind Teil der Compliance-Definition. Darüber hinaus ist es notwendig, dass der Insolvenzverwalter in geordneten wirtschaft- 25 lichen Verhältnissen lebt,18) und dass sich auch bei einer unbeschränkten Auskunft aus dem Bundeszentralregister, die das Insolvenzgericht gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 1 BZRG einholen kann, keine Eintragungen zeigen, die Zweifel an seiner wirtschaftlichen oder persönlichen Integrität aufkommen lassen.19) ___________ 12) Zutreffend Vallender, NZI 2017, 641, 646. 13) Thole, ZIP 2017, 2183, 2184; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker, InsO, §§ 56, 56a Rz. 33; Braun-Blümle, InsO, § 56 Rz. 2; Graeber in: MünchKomm-InsO, § 56 Rz. 125; Andres, NZI 2008, 522. 14) Graf-Schlicker-Graf-Schlicker, InsO, §§ 56, 56a Rz. 32; Frind in: HambKomm-RestruktR, § 56 Rz. 41. 15) Stapper, NJW 1999, 3441, 3443. 16) Degenhart/Borchers, ZInsO 2001, 337; Jahntz in: FK-InsO, § 56 Rz. 2. 17) Frind in: HambKomm-RestruktR, § 56 Rz. 57; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 56 Rz. 14. 18) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.1.2011 – I-3 VA 2/10, ZIP 2011, 341; Bork, ZIP 2017, 2173, 2180. 19) BGH, Beschl. v. 17.3.2016 – IX AR 1/15, ZIP 2016, 876, 880.
Fissenewert
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§ 35
Teil V Einzelfragen
26 Wie bereits erwähnt hat das AG Hamburg in einer Entscheidung angenommen, dass die vom VID (seinerzeit: Arbeitskreis der Insolvenzverwalter Deutschland e. V.) beschlossenen Verhaltensrichtlinien, d. h. nunmehr die Berufsgrundsätze der Insolvenzverwalter, geeignet seien, die Auswahlkriterien des § 56 InsO zu konkretisieren.20) CMS und insbesondere die einhergehende Zertifizierung kann Ausdruck einer Best Practice sein und ähnlich wie bei den anerkannten Regeln zur Corporate Governance im Bereich der Unternehmensführung sich als anerkannter Standard, als gelebte Grundüberzeugung bestimmter Prozesse und Abwicklungsprinzipien erweisen.21) Und vor diesem Hintergrund kann eine Zertifizierung bzw. ein effizientes CMS, sofern sie die wesentlichen Kriterien, das „Best-of“ der Empfehlungen fordert, sehr wohl Aussagen auch über die Eignung treffen.22) VI.
CMS als „Best-of“
27 Art. 26 Abs. 1b der Restrukturierungsrichtlinie23) schreibt den Mitgliedstaaten vor, Regelungen zu treffen, aufgrund derer die Zulassungsvoraussetzungen sowie das Verfahren für die Bestellung, die Abberufung und den Rücktritt von Verwaltern klar und transparent sind. Für ein CMS spricht auch der ErwG 87 der Restrukturierungsrichtlinie: „Die Mitgliedsstaaten sollen auch sicherstellen, dass von Justiz- oder Verwaltungsbehörden bestellte Verwalter im Bereich Restrukturierung, Insolvenz und Entschuldung angemessen ausgebildet sind, in transparenter Weise unter gebührender Berücksichtigung der Notwendigkeit effizienter Verfahren bestellt werden, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben berücksichtigt werden und dass sie ihre Aufgaben integer erfüllen. Es ist wichtig, dass sich die Verwalter an die Standards für solche Aufgaben halten, etwa die Absicherung durch eine Berufshaftpflichtversicherung. Die angemessene Ausbildung, Befähigung und Sachkunde der Verwalter könnten auch während der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit erworben werden. Die Mitgliedsstaaten sollten die erforderliche Ausbildung nicht selbst anbieten müssen, sondern dies können beispielsweise Berufsverbände oder sonstige Einrichtungen tun. Insolvenzverwalter i. S. der Verordnung (EU) 2015/848 sollten in den Anwendungsbereich der vorliegenden Richtlinie einbezogen werden.“
28 Vor diesem Hintergrund stellen sich Berufsgrundsätze des VID als Verhaltenskodex dar, der von dem VID als dem in ErwG 87 angesprochenen Berufsverband ausgearbeitet worden ist und deren Ausarbeitung vom BMJV begleitet und „gefördert“ worden ist,24) aber durch ein CMS ergänzt werden muss. 29 Bei der GOI wird zwar kritisiert, dass diese eben nicht auf die Sanierungssituation zugeschnitten sei. Mit der Betriebsfortführung befassen sich die Grundsätze 56 bis 57, die in der Tat eher allgemein gehalten sind und dem Insolvenzverwalter die Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Betriebsfortführung und eine zeitnahe Liquiditätsplanung aufgeben, was ja zumindest die Mindestpflicht des Insolvenzverwalters wiedergibt. Die in der GOI niedergelegten Compliance-Regelungen waren längst überfällig (siehe Runkel/Fliegner, § 5 Rz. 54).
___________ 20) 21) 22) 23)
AG Hamburg, Beschl. v. 21.11.2001 – 67g IN 280/01, ZIP 2001, 2147. Thole, ZIP 2017, 2183, 2186. Thole, ZIP 2017, 2183. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 24) Smid, Rechtsgutachten, S. 70.
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Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung
§ 35
Die GOI des VID haben allgemeine normative Wirkung für die Auslegung der allgemein 30 durch § 56 Abs. 1 InsO formulierten Eingangskriterien. Die GOI formulieren nicht allein die Selbstverpflichtungen der Mitglieder des VID und stellen auch bei der Zertifizierung von Nichtmitgliedern des VID zugrunde gelegte Maßstäbe ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung dar, sondern sind als Teil des deutschen Insolvenzrechts bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit des Handelns von Insolvenzverwaltern und deren Auswahl durch das Insolvenzgericht zugrunde zu legen.25) Die GOI ist bei der Beurteilung der Tätigkeit eines Insolvenzverwalters zwingend zu beachten.26) InsO Excellence basiert auf einem anderen System, weil sie nicht auf einer Prüfungsord- 31 nung und Grundsätzen aufbaut, sondern auf einem umfangreichen Kriterienkatalog. Der Katalog umfasst insgesamt 216 Kriterien und ist in verschiedene Themenbereiche, wie z. B. Kanzleimanagement, Betriebsfortführung oder Berichtswesen, unterteilt. Dabei sind die GOI-Grundsätze in die Prüfung bei InsO Excellence integriert. Idealerweise sollte der Aufbau eines CMS aber nicht nur anhand von GOI oder InsO 32 Excellence Gesichtspunkten erfolgen, sondern anhand von internationalen Standards. Hier bietet sich etwa ISO 9001 an – oder sogar die ISO 37001. Bei ISO 9001 handelt es sich um anerkannte Qualitätsstandards. Tatsächliche Compliance ist aber geregelt in ISO 37001. Beiden Normen ist gemeinsam, dass es sich um sog. Managementnormen handelt, die nach dem Plan-Do-Check-Act (PDCA) handeln. ISO 37001 ist ein extrem flexibler Standard, der auch die Bereiche des Mittelstandes, auch des kleineren, berücksichtigt. Der Standard ist hervorragend auch für Insolvenzverwaltungskanzleien geeignet. Er kann darüber hinaus zertifiziert werden, was als Nachweis für ein „effizientes CMS“ perfekt sein dürfte. Zwingend notwendig ist eine Zertifizierung aber nicht. Zumindest im ersten Schritt könnte man ein CMS auf Basis der ISO-Norm aufbauen, ohne es zunächst zu zertifizieren. Wenn das System dann eingespielt ist, kann man die Zertifizierung jederzeit nachholen, etwa dann, wenn dies vielleicht sogar gesetzlich gefordert sein sollte. VII. Haftung von Insolvenzverwaltern Compliance reduziert auch Haftungsrisiken. Dem Insolvenzverwalter obliegen i. R. seiner 33 Tätigkeit zahlreiche zivilrechtliche als auch strafbewährte Pflichten. Dieses an die handelsund gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen (§ 347 Abs. 1 HGB, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 34 Abs. 1 Satz 1 GenG, § 43 Abs. 1 GmbHG) angelehnte Leitbild hat den Besonderheiten des Insolvenzverfahrens Rechnung zu tragen.27) Maßstab aller unternehmerischer Entscheidungen des Insolvenzverwalters i. R. einer Betriebsfortführung ist der Insolvenzweck der bestmöglichen gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger sowie das von Gläubigern gemeinschaftlich beschlossene Verfahrensziel – Abwicklung des Unternehmens, Veräußerung oder Insolvenzplan – als Mittel der Zweckerreichung.28) Schon allein die zahlreiche Rechtsprechung zur zivilrechtlichen und strafrechtlichen Haftung 34 zeigt, dass über diese Risiken eben uneingeschränkte Kenntnis herrschen muss. Diese Kenntnis kann – erst recht in einem Team – nur durch klare Strukturen und Schulungen i. R. einer Compliance erreicht und erst recht nachgewiesen werden.
___________ 25) 26) 27) 28)
Smid, Rechtsgutachten, S. 70. Smid, Rechtsgutachten, S. 71. BGH, Urt. v. 16.3.2017 – IX ZR 253/15, Rz. 12, BGHZ 214, 220 = NJW 2017, 1749 m. w. N. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, BGHZ 225, 90 – 121 = ZRI 2020, 303.
Fissenewert
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§ 35 1.
Teil V Einzelfragen Schadensersatz
35 Der Insolvenzverwalter ist allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach der InsO obliegen. Zu diesen Pflichten gehört es, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu bewahren und ordnungsgemäß zu verwalten.29) Diese Pflicht hat sich am gesetzlichen Leitbild des ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters auszurichten, welches an die handels- und gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen angelehnt ist, aber den Besonderheiten des Insolvenzverfahrens Rechnung zu tragen hat. Die Vorschrift des § 60 InsO sanktioniert die Verletzung solcher Pflichten, die dem Insolvenzverwalter in dieser Eigenschaft nach den Vorschriften der InsO obliegen.30) Nach § 60 InsO ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach diesem Gesetz obliegen. Er hat für die Sorgfalt eines ordentlichen gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. 2.
Insolvenzverwalter ist Unternehmer
36 Der Insolvenzverwalter darf keine Geschäftschance persönlich nutzen, die aufgrund der Umstände des jeweiligen Falles dem von ihm verwalteten Schuldnerunternehmen zuzuordnen ist. Bietet sich dem Verwalter die Möglichkeit, ein für die Masse vorteilhaftes Geschäft zu schließen, ist ihm jedenfalls dann verboten, das Geschäfts an sich zu ziehen, wenn die Geschäftschance in den Geschäftsbereich des Schuldnerunternehmens fällt und diesem zugeordnet ist.31) Der Insolvenzverwalter hat die unternehmerische Entscheidung i. R. einer Unternehmensfortführung daran auszurichten, ob die zu erwartenden mittelbaren oder unmittelbaren Vorteile für die Masse angesichts der mit der Maßnahme verbundenen Kosten, Aufwendungen, Chancen und Risiken aus der Sicht ex ante diese als eine für die Masse wirtschaftlich im Ergebnis sinnvolle Maßnahme erscheinen lassen. Maßgeblich ist, ob aus ex-ante-Sicht die für die Unternehmensfortführung und für das von den Gläubigern beschlossene Verfahrensziel erreichbaren Vorteile der Masse die damit verbundenen Kosten zu rechtfertigen mögen.32) 37 Es gibt zahlreiche Literatur zu den zivil- und strafrechtlichen Risiken von Vorständen und Geschäftsführern in der Unternehmenskrise.33) Nicht nur den Unternehmer treffen im Zusammenhang mit ihrem Verhalten in der Unternehmenskrise erhebliche Risiken. Ähnliches gilt für den Insolvenzverwalter, der ja in höchster Krise „übernimmt“. Der Insolvenzverwalter haftet einem Massegläubiger nach § 61 InsO, wenn er die Masse pflichtwidrig verkürzt.34) Ob der Insolvenzverwalter für eine unternehmerische Fehlentscheidung haftet, ist am Insolvenzweck der bestmöglichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger unter Berücksichtigung der von den Insolvenzgläubigern getroffenen Verfahrensentscheidungen zu messen. ___________ 29) BGH, Urt. v. 26.6.2014 – IX ZR 162/13, ZIP 2014, 1448 = WM 2014, 1434; BGH, Urt. v. 16.7.2015 – IX ZR 127/14, ZIP 2015, 1645 = WM 2014, 1644; BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, WM 2016, 617 = NJW 2016, 1890. 30) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129. 31) BGH, Urt. v. 16.3.2017 – IX ZR 253/15, BGHZ 214, 220 – 228 = NJW 2017, 1749. 32) BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, BGHZ 225, 90 – 121 = ZRI 2020, 303. 33) Fissenewert, comply 4/2018, S. 28 ff.; Fissenewert, Wirtschaft+Markt 5/2018, S. 49; Fissenewert, Managerhaftung: D&O-Versicherung muss auch im Insolvenzfall zahlen, abrufbar unter https://buse.de/insights/ managerhaftung-d-und-o-versicherung-im-insolvenzfall-zahlen/ (Abrufdatum: 30.11.2022); Fissenewert, Checkliste Krise: Das eigene Unternehmen im Auge haben, abrufbar unter https://buse.de/insights/checkliste-krise-das-eigene-unternehmen-im-auge-haben/ (Abrufdatum: 30.11.2022). 34) BGH, Urt. v. 6.5.2014 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 – 122 = ZIP 2004, 1107.
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Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung
§ 35
VIII. Compliance-Anforderungen an den Insolvenzverwalter Die nachfolgenden Beispiele können nicht abschließend sein, weil ständig neue Anforde- 38 rungen, Richtlinien und Gesetze, die unter „Compliance“ fallen, hinzukommen. Ein CMS ist ständig zu überprüfen. 1.
Geschenke und Einladungen
1.1
Allgemeines
Die Annahme von Geschenken und Einladungen von Geschäftspartnern (Kollegen, Banken 39 etc.) oder deren Gewährung an selbige ist ein stetiges Compliance-Thema, mit dem auch Insolvenzverwalter regelmäßig konfrontiert werden. Die nationalen und internationalen Anti-Korruptions-Gesetze normieren keine klar defi- 40 nierten Wertgrenzen in Bezug auf die Zulässigkeit der Annahme oder Gewährung von Zuwendungen im Geschäftsverkehr. Vor diesem Hintergrund legen viele Kanzleien daher in ihren Compliance-Richtlinien bezifferte Wertgrenzen in Bezug auf die Zulässigkeit von Geschenken, Einladungen oder sonstigen Zuwendungen im Umfang mit Geschäftspartnern fest. Dabei reicht die Bandbreite von „Null-Toleranz-Grenzen“, d. h., dass überhaupt keine 41 Zuwendungen angenommen oder gewährt werden dürfen, über Wertgrenzen, die an die steuerliche Sachbezugsfreiheit anknüpfen, bis hin zu individuellen Wertgrenzen, bei deren Überschreitung die Vorgesetzten bzw. Compliance-Verantwortlichen ihre Genehmigung erteilen müssen. Denkbar ist es auch, auf bezifferte Wertgrenzen zu verzichten und stattdessen auf die „An- 42 gemessenheit“ oder „Sozialadäquanz“ der Zuwendung abzustellen. Dies ist aber im Einzelfall und auch für den jeweiligen Mitarbeiter häufig sehr schwierig. Unabhängig davon, ob Wertgrenzen festgelegt werden oder nicht, sind die zu beachtenden 43 Kernkriterien hier Zeitpunkt, Häufigkeit und Angemessenheit: x
Zeitliche Nähe zu aktuellen Vertragsverhandlungen: Je enger der zeitliche Zusammenhang mit laufenden oder bevorstehenden Projektvergaben/Vertragsabschlüssen ist, desto umsichtiger sollte mit Zuwendungen an bzw. von Geschäftspartnern umgegangen werden.
x
Häufigkeit: Zudem sollte die Häufigkeit von Zuwendungen in die Beurteilung einfließen. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn sich Einladungen oder Geschenken häufen, je näher Entscheidungen über Projektvergaben/Vertragsabschlüsse rücken.
x
Angemessenheit: Schließlich ist auch die Angemessenheit einer Zuwendung zu betrachten. Dabei ist neben dem Wert einer Einladung/Geschenk auch zu berücksichtigen, ob die Zuwendung im Kontext der konkreten Situation sozial üblich ist, insbesondere auch unter Berücksichtigung lokaler Gepflogenheiten und der hierarchischen Stellung von Empfänger und Zuwendendem. Die Einladung etwa in eine schlichte Pizzeria ist also grundsätzlich unproblematischer als eine Einladung in ein Sternerestaurant.
1.2
Umgang mit Amtsträgern
Die gesetzlichen Vorgaben an die Gewährung von Zuwendungen an Amtsträger sind we- 44 sentlich strenger im Vergleich zu Gewährung von Zuwendungen an Angestellte oder Beauftragte eines Unternehmens. Im Zweifel sollte auf jegliche Zuwendung an Amtsträger verzichtet werden. Erscheint eine Einladung unverzichtbar, sollte in jedem Fall die Genehmigung des Dienst- 45 herrn eingeholt werden. Fissenewert
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§ 35 1.3
Teil V Einzelfragen Was ist zu tun, wenn es einmal schwierig oder unvermeidbar ist, Zuwendungen abzulehnen?
46 Das ist generell ein sehr schwieriges Thema, insbesondere in Ländern, in denen großzügige Einladungen oder/und Geschenke an der Tagesordnung sind. 47 Es gibt viele internationale Konzerne, die ihre „deutsche“ Compliance auch international anwenden, d. h. auch entsprechende Wertgrenzen beachten müssen. Dabei ist klar, dass der Wert eines Mittagessens in Deutschland etwa in Singapur möglicherweise nur die Einladung zu einer Suppe bedeutet. Das kann ebenso einfach wie schwierig sein. Vielen ist es einfacher, auf ihre klare Compliance und damit das mögliche „Verbotensein“ hinzuweisen. 48 Möglich sind aber auch unterschiedliche Wertgrenzen, die auf nationale Besonderheiten Rücksicht nehmen. 49 Wichtig ist es aber immer, möglichst im Vorfeld diese Situationen im Unternehmen bzw. der Kanzlei zu klären. Falls dies – wie so oft – nicht möglich sein sollte, ist in jedem Fall zu empfehlen, dass der Vorgang danach dokumentiert und ggf. entschieden wird, wie damit umgegangen werden soll. So kann ein wertvolles Geschenk etwa einer gemeinnützigen Versteigerung oder Tombola zugeführt werden. 50 Praxistipp: Sofern keine festen Wertgrenzen in der Kanzlei vorgegeben sind, sollte auf den „inneren Kompass“ in Bezug auf die Einstufung von Zuwendungen als „compliant“ oder „noncompliant“ gehört werden. 2.
Befolgung der Datenschutzrichtlinien bzw. Compliance des fortzuführenden Unternehmens
51 Nicht nur in der eigenen Kanzlei des Insolvenzverwalters sollte aus eigenem Interesse Datenschutz als „Chefsache“ verstanden werden.35) Verwalter müssen sich in ihrer Kanzlei mit den Pflichten nach der DSGVO sowohl im Hinblick auf die eigene als auch auf die übernommene Datenverarbeitung des schuldnerischen Unternehmens auseinandersetzen. 52 Aufgrund dieser besonderen Eigenart des Verwalters, der die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit für eine bislang fremde Datenschutzorganisation übernimmt, auf die er vorher keinen Einfluss hatte, entsteht zweifelsohne eine erhebliche Sonderbelastung.36) 53 Die gleichen Grundsätze gelten für die Übernahme bzw. Beachtung des CMS des übernommenen Unternehmens. 3.
Vermietung
54 Vermietet der Insolvenzverwalter Räumlichkeiten i. R. einer Untervermietung ohne vorherige Erlaubnis des Eigentümers an einen unzuverlässigen Untermieter und gefährdet er dadurch den Rückgabeanspruch des aussonderungsberechtigten Vermieters, kann dies seine persönliche Haftung begründen.37) Verletzt der Insolvenzverwalter schuldhaft insolvenzspezifische Pflichten, haftet er auf Ersatz des negativen Interesses.38) 55 In erster Linie steht dabei hier die Pflicht zur gläubigerinteressengerechten Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse.
___________ 35) 36) 37) 38)
Platzer in: BeckOK-InsR, Datenschutz in der Insolvenz, Rz. 106. Platzer in: BeckOK-InsR, Datenschutz in der Insolvenz, Rz. 107. BGH, Urt. v. 25.1.2007 – IX ZR 216/05, ZIP 2007, 539 = NJW 2007, 1596. BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 = ZIP 2004, 1107.
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Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung 4.
§ 35
Unternehmensbestattungen
Der Insolvenzverwalter hat Unternehmensbestattungen zu vermeiden, also die systematische 56 Verlegung des Sitzes schuldnerischer Unternehmensträger oder deren Umfirmierung durch den Insolvenzdienstleister selbst, dessen Geschäftsführer oder dessen Mitarbeitende, die sich unter Ablösung der bisherigen zu neuen Geschäftsleitern des Unternehmensträgers haben bestellen lassen.39) 5.
Nutzung von Firmenfahrzeugen
Die häufig vorkommende unentgeltliche Nutzung von Firmenfahrzeugen und anderer 57 Dienstleistungen ist zu vermeiden. 6.
Beraterpool/Dienstleisterpool einrichten
Bei den wesentlichen Kernaufgaben kann sich der Insolvenzverwalter zuarbeiten lassen, z. B. 58 Mitarbeitende oder spezialisierte Personen beauftragen. Hier ist aber darauf zu achten, dass nicht ständig dieselben Personen oder/und Dienstleister ausgewählt werden, sondern dass man eine Art „Beraterpool/Dienstleisterpool“ vorhält, aus dem dann die jeweiligen Experten ausgewählt werden, die selbstverständlich einem Drittvergleich standhalten müssen. Dieser Pool sollte ständig überprüft werden und in mindestens zweijährigen Abständen sollten einzelne gegen andere ausgetauscht werden. 7.
CMS des schuldnerischen Unternehmens
CMS des schuldnerischen Unternehmens ist in jedem Fall zu beachten. Sollten einzelne 59 Risikotatbestände versagt oder nicht erkannt worden sein, sind diese dann eben zu ändern, anzupassen oder zu erstellen. 8.
Fehlverhalten der Organe
Es ist Geschmackssache, ob und ggf. zu welchem Zeitpunkt man das Fehlverhalten der 60 Organe öffentlich rügt. Bei Offenkundigkeit muss ja ohnehin das Organ in Haftung genommen werden. 9.
Beachtung von InsO Excellence
Selbstverständlich sind die Kriterien von InsO Excellence zu beachten, insbesondere die- 61 jenigen zur Betriebsfortführung. 10.
Auswahl strafrechtlicher Risiken
Nahezu sämtliche Handlungen des Insolvenzverwalters, die dem Insolvenzweck der gleich- 62 mäßigen Gläubigerbefriedigung offensichtlich zuwiderlaufen, bergen strafrechtliche Risiken in sich.40) Die Fallgestaltungsvarianten reichen von zweckwidrigen Geldentnahmen aus der Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter zu eigenen Zwecken41) über die Veräußerung von Massegegenständen erheblich unter deren Wert42) bis zur Anlage von Massemitteln gegen die Gewähr von persönlichen Vorteilen in Form von Rückvergütungen.43) ___________ 39) 40) 41) 42) 43)
Smid, Rechtsgutachten, S. 74. Schramm, NStZ 2000, 398; Richter, NZI 2002, 121. AG Friedberg v. 19.9.2011 – 22 IN 46/09, zit. nach Bittmann in: Bittmann, Hdb. Insolvenzstrafrecht. LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.11.2012 – 5/26 KLs 7640 Js 208746/10, ZInsO 2014, 1811. BGH, Beschl. v. 17.3.2011 – IX ZB 192/10, NZI 2011, 282 = ZIP 2011, 671.
Fissenewert
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§ 35 11.
Teil V Einzelfragen Verschleuderung
63 Relevant sind auch Handlungen, die die gegen die Insolvenzmasse bestehenden Verbindlichkeiten bewusst pflicht- und grob wirtschaftswidrig erhöhen.44) Hierzu gehören auch alle Fälle, in denen der Insolvenzverwalter die Insolvenzmasse bewusst pflichtwidrig entgegen den Gläubigerinteressen verringert oder es bewusst pflichtwidrig unterlässt, sie trotz valider wirtschaftlicher Chancen nicht anzureichern, so z. B. durch Aufrechnung mit einer einbringbaren Schuldnerforderung gegen eine nicht oder nur mit geringen Erfolgschancen durchsetzbare Gläubigerforderung bzw. durch pflichtwidriger Unterlassung der Klageerhebung gegen Schuldner der Insolvenzmasse.45) Als massekürzende Maßnahmen kommen etwa die Verschleuderung von Massegegenständen, die Verschiebung von Geldern in das private Vermögen (Überweisungen vom Insolvenz-Anderkonto auf das private Girokonto des Insolvenzverwalters), die Nichtgeltendmachung oder das Verjährenlassen eines der Masse zustehenden Anspruchs,46) die Schuldenmasse vergrößernde Maßnahmen, z. B. die unnötige insolvenzweckwidrige Begründung von Masseverbindlichkeiten; Schädigungen individueller Gläubiger, so etwa das Vereiteln der Forderungsfeststellung durch die Nichteintragung einer angemeldeten Forderung in die Tabelle, oder die gezielte Vernichtung eines Gegenstandes. 12.
Untreue
64 Der Insolvenzverwalter ist tauglicher Täter der Untreue, weil er sowohl dem Vermögen des Gemeinschuldners als auch demjenigen seiner Gläubiger treuepflichtig ist.47) 65 Treugeber sind das insolvente Unternehmen selbst, die Insolvenz- und Massegläubiger und auch die absonderungsberechtigten Gläubiger.48) 66 Der Insolvenzverwalter, insbesondere in der Fortführungsphase, hat unstreitig eine Vermögensbetreuungspflicht. Die Verletzung dieser Pflicht ist häufig gleichbedeutend mit der Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht und kann zur Strafbarkeit des Insolvenzverwalters wegen Untreue gemäß § 266 Abs. 1 StGB führen.49) Gleiches gilt wegen der gemeinsam mit dem Schuldner bestehenden Leitungsbefugnis für den Sachwalter im Verfahren der Eigenverwaltung.50) Die Treuepflicht ist dabei in einer Gesamtbetrachtung aufgrund bestimmter Indizien festzustellen: 67 Dem Insolvenzverwalter müssen Pflichten von wirtschaftlicher Bedeutung auferlegt sein; auch die Dauer seiner Tätigkeit spielt dabei eine Rolle; die Tätigkeit darf nicht in allen Einzelheiten vorgegeben sein, sondern einen gewissen Entscheidungsspielraum und eine gewisse Bewegungsfreiheit sowie Selbständigkeit gerade bei der Betreuung fremder Interessen lassen; die Pflicht zur Wahrnehmung von Vermögensinteressen soll die Hauptpflicht darstellen und darf nicht nur bloße Nebenpflicht sein.51) ___________ 44) Schramm, NStZ 2000, 398, 399. 45) Vgl. BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 3 StR 438/12, NJW 2013, 1615 = NStZ 2013, 407; BGH, Urt. v. 11.11.1982 – 4 StR 406/82, NJW 1983, 461 = NStZ 1983, 168; BGH, Urt. v. 8.5.2014 – IX ZR 118/12, NZI 2014, 693 = NJW 2014, 2045. 46) Vgl. dazu auch BGH, Urt. v. 11.11.1982 – 4 StR 406/82, NJW 1983, 461 = NStZ 1983, 168. 47) Richter, NZI 2002, 121, 129; Schünemann in: LK-StGB, § 266 Rz. 128. 48) Schramm, NStZ 2000, 398. 49) Bittmann in: Bittmann, Hdb. Insolvenzstrafrecht, § 22. 50) Ott/Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 147. 51) BGH, Beschl. v. 21.1.1953 – 4 ARs 2/53, BGHSt 3, 392; BGH, Urt. v. 11.12.1957 – 2 StR 481/57, BGHSt 13, 315; BGH, Urt. v. 5.7.1968 – 5 StR 262/68, BGHSt 22, 190; BAG, Urt. v. 3.5.1978 – 3 StR 30/78, BGHSt 28, 20, 23; BAG, Urt. v. 13.6.1985 – 4 StR 213/85, BGHSt 33, 244; Schünemann in: LK-StGB, § 266 Rz. 9; Fischer-Tröndle, StGB, § 266 Rz. 9; Schramm, NStZ 2000, 398.
1294
Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung
§ 35
Ist das Insolvenzverfahren eröffnet worden, geht die bisherige Verwaltungs- und Verfü- 68 gungsbefugnis des Schuldners auf den Insolvenzverwalter über. Angesichts der vergleichbar starken Position des Insolvenzverwalters, die auch den Charakter einer Geschäftsbesorgung trägt,52) kann es nicht zweifelhaft sein, dass der Insolvenzverwalter wegen seines Zugriffs auf das Schuldnervermögen zugleich denjenigen gegenüber treuepflichtig ist, deren Interesse die Insolvenzmasse dient. Er ist mithin gegenüber dem Insolvenzschuldner, den Insolvenzgläubigern und Massegläubigern sowie auch den absonderungsberechtigten Gläubigern vermögensbetreuungspflichtig i. S. des § 266 StGB.53) Es muss jeweils für den Einzelfall genau festgestellt werden, welche Aufgaben dem Insol- 69 venzverwalter im jeweiligen Stadium des Insolvenzverfahrens obliegen. So häufen sich seit einigen Jahren Verurteilungen von Insolvenzverwaltern wegen Untreuehandlungen. Dabei geht es oft um Millionenbeträge, die den Gläubigern vorenthalten werden. Dabei werden sicherlich nicht alle Fälle öffentlich gemacht und damit das wahre Ausmaß der Schäden bekannt. Gleichwohl stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln hier mehr Klarheit geschaffen und Missbrauch Vorschub geleistet werden kann. Die Antwort ist ganz klar: Compliance.54) Der Insolvenzverwalter M wurde mit Urteil des LG Hildesheim vom 16.10.201755) wegen 70 Untreue in 106 Fällen in den Jahren 2000 bis 2005 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Aus dem Urteil geht hervor, dass M in seiner Tätigkeit als Insolvenzverwalter mehrfach Gelder der Insolvenzmasse veruntreute. Die Annahme von Geschenken sollte ebenso Tabu sein, wie die Gabe von Geschenken. 71 Natürlich kann man sich trefflich über Wertgrenzen etc. streiten. Es ist für alle Beteiligten aber einfacher, wenn man sich der einfachen Compliance unterwirft, dass Geschenke grundsätzlich Tabu sind. Bei Amtsträgern, wie Insolvenzrichtern oder Rechtspflegern, versteht sich dies ohnehin von selbst. Einkaufsvorteile im fortzuführenden Unternehmen sollten in keinem Fall genutzt werden. Normale Einkäufe sind allerdings dann möglich, wenn sie einem Drittvergleich standhalten. 13.
Steuern und Bilanzen
Dem Insolvenzverwalter obliegen vollinhaltlich neben den steuerlichen Pflichten auch die 72 Pflichten der Buchführung und Bilanzierung.56) Dabei ist allerdings zu prüfen, ob das schuldnerische Unternehmen diesen kaufmännischen Pflichten (noch) unterliegt. Bedeutend ist insoweit die Pflicht zum Abschluss des alten Rumpfgeschäftsjahres und der Erstellung einer Eröffnungsbilanz auf die Insolvenzverfahrenseröffnung. Das Unterlassen der Erstellung bzw. die verspätete Erstellung dieser Handelsbilanzen und die Führung der Bücher durch den Insolvenzverwalter ist strafbewährt. Dasselbe gilt für die Straf- und Ordnungswidrigkeitenvorschriften des HGB (§§ 331, 334 HGB) und des Gesellschaftsrechts (z. B. § 400 AktG). Die Lösung liegt in der Form der Regulierung der Insolvenzverwalter, welche Compliance- 73 Standards bzw. ein Compliance-Management-System (CMS) mit der Insolvenzpraxis in ___________ 52) BGH, Urt. v. 24.6.1957 – VII ZR 310/56, BGHZ 24, 393, 396; Sailer in: MünchKomm-InsO, § 675 Rz. 96. 53) Schünemann in: LK-StGB, § 266 Rz. 127; Fischer-Tröndle, StGB, § 266 Rz. 10a; Schramm, NStZ 2000, 398, 399. 54) Stavrakis, Betrüger kassiert mehr als fünf Jahre Haft, Stuttgarter Zeitung v. 23.3.2016, abrufbar unter https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.prozess-betrueger-kassiert-mehr-als-fuenf-jahre-haft.4dc69798dfaf-48c1-901c-912ca50f02fd.html (Abrufdatum: 30.11.2022). 55) LG Hannover, Beschl. v. 13.3.2009 – 20 T 142/08, juris. 56) Richter, NZI 2002, 121, 124.
Fissenewert
1295
§ 35
Teil V Einzelfragen
Einklang bringt.57) Dabei könnten die vorgeschlagenen Kontent-Management-Systeme58) ebenso wie ein CMS der Kontrolle einer Insolvenzverwalterkammer unterworfen werden. Die jüngsten Vorschläge hierzu sind beachtenswert und sollten dringend in ein effektives CMS eingeführt werden.59) Dabei ist es müßig und ein lediglich wissenschaftlicher Streit, welche Berufsordnung auf welchen Berufszweig anzuwenden ist. Richtig ist, dass nun endlich klare Regeln aufzustellen sind mit der Frage, ab wann für wen diese Regeln verbindlich gelten sollten. Die Antwort ist einfach: Am besten sollten diese Regeln ab sofort gelten und für jeden Insolvenzverwalter. IX.
Zwischenfazit
74 Sofern Insolvenzverwalterkanzleien noch nicht über ein CMS verfügen, sei hierzu dringend anzuraten. 75 Compliance wird niemals zu 100 % vorsätzliche Straftaten beseitigen können. Auch eine stets präsente Polizei wird nicht zu 100 % Einbrüche verhindern können. Compliance sorgt aber für Transparenz und Qualitätssicherung und damit auch zu einem objektiven Auswahlkriterium bei der Bestellung von Insolvenzverwaltern. X.
Checkliste zum Aufbau eines Compliance-Management-Systems (CMS) einer Insolvenzverwalterkanzlei inklusive Regelungen zur Betriebsfortführung60)
1.
Klares Bekenntnis der Geschäftsführung zu Compliance
76 Unverzichtbar für den Aufbau eines CMS ist die klare und unumwundene Entscheidung der Geschäftsführung, sich sowohl im Innenverhältnis gegenüber den Mitarbeitern als auch im Außenverhältnis gegenüber Dritten zur Einhaltung der anwendbaren Gesetze, Richtlinien und Regeln zu bekennen und für deren flächendeckende Einhaltung durch das Unternehmen zu sorgen. Diese unmissverständliche und bindende Entscheidung sollte gegenüber allen Beteiligten kommuniziert werden, auch um die Geschäftsführung selbst an die einmal getroffene Entscheidung zu binden. 2.
Unternehmensbezogene Definition von „Compliance“
77 Um spätere Diskussionen darüber, wozu man sich nun eigentlich bekannt hat, auszuschließen, sollte von Anfang an schriftlich niedergelegt werden, auf was genau sich die Geschäftsführung im Namen des Unternehmens verpflichtet. Dieses Bekenntnis sollte bei Bedarf ergänzt oder geändert und ständig weiterentwickelt werden. 78 Ausgehend von der umfangreichen Definition von Compliance umfasst Compliance damit alle Vorkehrungen, die getroffen werden, um zu gewährleisten, dass alle Gesetze, Richtlinien und Verordnungen eingehalten werden. Compliance dient damit der Sicherstellung normgerechten Verhaltens. Diese Auffassung von „Compliance“ kann bei Bedarf durch eine kanzleibezogene Umschreibung ersetzt werden; dabei ist auf Klarheit und Verständlichkeit zu achten, da dadurch die Positionierung des Unternehmens zum Thema Compliance im Innen- und Außenverhältnis festgelegt und kommuniziert wird.
___________ 57) Albrecht/Schütz/Tahiri, ZInsO 2022, 793, 800. 58) Albrecht/Schütz/Tahiri, ZInsO 2022, 793. 59) Albrecht/Schütz/Tahiri unterbreiten hier einen CMS-Standard, der für Content-Management-System steht, sehen dies aber auch i. R. eines Compliance-Management-Systems, näher Albrecht/Schütz/Tahiri, ZInsO 2022, 793 ff. 60) Nur beispielhaft, nicht abschließend.
1296
Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung x
x
§ 35
Ziele eines CMS x
Verhinderung von Reputationsschäden bzw. Erhöhung der Reputation und Schaffung eines Image- und Wettbewerbsvorteils.
x
Aufdeckung und Sanktionierung bereits begangener Compliance-Verstöße.
x
Verhinderung künftiger Verstöße, um drohenden Schaden für das Unternehmen aufgrund rechtswidrigen Verhaltens abzuwenden.
Nutzen eines CMS für die Kanzlei x
Vermeidung von Gesetzesverstößen und dadurch Vermeidung von strafrechtlichen Sanktionen wie Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Bußgelder, Schadenersatzansprüche, arbeitsrechtliche Sanktionen, gerichtliche Verfahren etc.
x
Imagevorteil;
x
Glaubwürdigkeit nach innen und nach außen;
x
Stärkung der Geschäftsbeziehungen;
x
Erhalt der Kreditwürdigkeit;
x
verbesserte Unternehmenskultur;
x
Stärkung der Organisationsstrukturen;
x
Erhaltung der Qualifikation als Lieferant für öffentlichen Auftraggeber;
x
Zulassung zu Ausschreibungen.
Um als Arbeitgeber attraktiv zu sein, empfiehlt es sich, über gesetzliche Vorschriften hinaus 79 auch ethische, moralische, religiöse oder sonstige Leitlinien zu postulieren. Hier sind die Themen ESG (Environmental Social Governance, also Umwelt, Soziales und verantwortungsvolle Unternehmensführung) auf dem Vormarsch. 3.
Aufbau eines Compliance-Teams zur Errichtung eines CMS
Wenn die Kanzlei es ernst meint mit dem Aufbau eines CMS, drückt sich dies durch 80 Schaffung ausreichender personeller Kapazitäten aus, sei es durch zeitliches Aufstocken bestehender Arbeitsverträge oder durch Einstellung zusätzlichen Personals oder Einschaltung externer Dienstleister. Für die Errichtung des CMS sollte ein Compliance-Team eingesetzt werden: x
Bestellung eines Teamleiters durch die Geschäftsführung;
x
Gewinnung weiterer Mitarbeiter zur Unterstützung (ggf. Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung oder Versetzung einzelner Mitarbeiter in das Compliance-Team nach § 99 Abs. 1 BetrVG);
x
Einbindung externer Berater wie Rechtsanwälte, Steuerberater, Unternehmensberater;
x
Unternehmensinterne und -externe Bekanntgabe des Compliance-Teams mit allen erforderlichen Kontaktdaten (z. B. E-Mailadresse [email protected]);
x
Verpflichtung aller Teammitglieder zur unverzüglichen Meldung konkreter Verdachtsmomente von Compliance-Verstößen;
x
Festlegung der Aufgaben bei der Errichtung des CMS und Verteilung dieser Aufgaben innerhalb des Compliance-Teams, etwa: x
Ermittlung der Compliance-relevanten Risikobereiche des Unternehmens (siehe dazu Liste möglicher Risikobereiche unter Rz. 81 ff.);
Fissenewert
1297
§ 35
Teil V Einzelfragen
x
Schaffung von Möglichkeiten für Mitarbeiter, sich an der Ermittlung von ComplianceRisiken/-Verstößen zu beteiligen, auch anonym (z. B. Whistleblower-Hotline per Telefon oder E-Mail);
x
Dokumentation aller Compliance-Risikobereiche und -Verstöße (Erstellung einer laufend zu aktualisierenden Übersicht), z. B. monatlich oder quartalsweise Berichterstattung an Geschäftsleitung über Compliance-Risikobereiche und -Verstöße;
x
Formulierung weiterer konkreter Maßnahmen zum Aufbau eines CMS anhand der ermittelten Risikobereiche in Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung:
x
Gewährung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats, z. B. rechtzeitige Unterrichtung des Betriebsrats über die Planung neuer Arbeitsverfahren und -abläufe, falls erforderlich (§ 90 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG) u. a. m.
4.
Ermittlung von Compliance-Risikobereichen
81 Das Compliance-Team ermittelt Compliance-relevante Risikofelder für alle Bereiche der Kanzlei. In den folgenden Bereichen können sich Compliance-Verstöße ergeben, wobei die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die nachfolgende Checkliste ist hinsichtlich der Inhalte nicht abschließend. Daher finden sich bei vielen Punkten nur Spiegelstriche ohne Inhalt – deren Bedeutung ist also lediglich ein Platzhalter. Bei jeder Unternehmung/Kanzlei ergeben sich individuelle Unterschiede. 4.1 82 x
x
x
x
x
Kanzleiintern Arbeitsrecht x
Arbeitszeitgesetz (ArbZG);
x
Arbeitnehmerdatenschutz;
x
Diskriminierungsverbote (AGG);
x
Kündigungsschutz (KSchG);
x
[…].
Sozialversicherungsrecht x
Vermeidung von Scheinselbständigkeit freier Mitarbeiter, etc.;
x
[…].
Strafrecht x
Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, etwa bei Nichtabführung von Sozialabgaben im Fall von Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit oder unrechtmäßig verkürztem Lohn (§ 266a StGB), etc.;
x
[…].
Steuerrecht x
Zeitgerechte Abgabe wahrheitsgemäßer Steuererklärung, zeitgerechte Abführung aller Steuern, z. B. Körperschaftsteuern, aber auch Umsatzsteuer. Lohnsteuer etc.;
x
[…].
Datenschutz x
Einhaltung der Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) bzw. DSGVO;
x
[…].
1298
Fissenewert
§ 35
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung x
x
x
Einhaltung der Satzung bzw. des Gesellschaftsvertrages x
Einhaltung des satzungsgemäßen Zwecks;
x
[…].
Organisationsprozesse x
Zuordnung von Verantwortlichkeiten (Organigramme, Stellenbeschreibungen);
x
Organisationshandbuch;
x
Bestellung eines Qualitätsmanagementbeauftragten;
x
Einführung standardisierter Prozesse;
x
Notfallpläne, z. B. Evakuierung der Mitarbeiter und ggf. Kunden, Klienten, Patienten o. Ä.;
x
[…].
Allgemeine Betriebsführung x
Allgemeine Verhaltensrichtlinien des Unternehmens (Leitlinien, Code of Conduct, Corporate Governance);
x
[…].
4.2 x
x
Kanzleiextern Allgemeine insolvenzrechtliche Risiken, auch Haftungsrisiken x
hier Vorschriften zur Vermeidung insolvenzstrafrechtlicher Risiken;
x
[…].
83
Vermeidung von Risiken bei Betriebsfortführung x
Unternehmensbestattung vermeiden (die systematische Verlegung des Sitzes schuldnerischer Unternehmensträger oder deren Umfirmierung durch den Insolvenzdienstleister, dessen Geschäftsführer oder dessen Mitarbeitende, die sich unter Ablösung der bisherigen zu neuen Geschäftsleitern des schuldnerischen Unternehmensträgers haben bestellen lassen);61)
x
keine Annahme von Geschenken;
x
Einkaufsvorteile im fortzuführenden Unternehmen sind für den Insolvenzdienstleister und seine Mitarbeitenden in jedem Fall zu vermeiden;
x
„normale“ Einkäufe im fortgeführten Unternehmen sind dann möglich, wenn sie einem Drittvergleich standhalten;
x
Vermeidung unentgeltlicher Nutzung von Firmenfahrzeugen und anderer Dienstleistungen; bei Einschaltung von Dienstleistern möglichst aus einem sich regelmäßig erneuernden/erweiternden Pool auswählen; nahestehende Personen können dann ausgewählt werden, wenn das Drittvergleichsprinzip angewendet wird;
x
Kommunikation: möglichst große Transparenz gegenüber allen Beteiligten unter Beachtung von Datenschutzkriterien;
x
Beachtung möglicher vorhandener CMS beim schuldnerischen Unternehmen;
x
Kritik bzw. Offenbarung von Fehlverhalten der Organe nur bei festgestellter Offenkundigkeit;
x
Abschluss notwendiger Vereinbarungen mit den Kunden des Schuldners;
___________ 61) Smid, Rechtsgutachten, S. 74.
Fissenewert
1299
§ 35
Teil V Einzelfragen
x
unverzügliche Nachkalkulation vorhandener Aufträge durch qualifizierte eigene Mitarbeiter oder beauftragte Dienstleister, um spätere Belastungen der Masse aus einer Verlusterwirtschaftung zu verhindern;
x
unverzügliche und fachgerechte Erstellung der notwendigen Planungsrechnungen (Gewinn- und Verlustrechnungsplanung, Finanzplanung) durch eigene Mitarbeiter des Verwalters oder beauftragte qualifizierte Dienstleister;
x
Vorhandensein eines Systems der vom (vorläufiger) Insolvenzverwalter ausgereichten Zahlungsbestätigungen;
x
tagesgenauer Überblick über die ausgereichten, noch nicht bezahlten Zahlungsbestätigungen;
x
Vorhandensein einer Verknüpfung der Aufstellung über die ausgereichten Zahlungsbestätigungen mit dem vom Insolvenzverwalter aufgestellten Finanzplan;
x
Evaluierung des Ergebnisses der Betriebsfortführung anhand von Soll-Ist-Vergleichen im Hinblick auf die Ertrags- und Finanzplanung durch qualifizierte Mitarbeiter des Insolvenzverwalters oder beauftragte Dienstleister;
x
Gewährleistung der ausreichenden Präsenz des Insolvenzverwalters oder der von ihm eingesetzten Mitarbeiter an den verschiedenen Produktions-, Handels- oder Dienstleistungsstandorten;
x
Berücksichtigung der Risiken der Betriebsfortführung in der Vermögensschadenhaftpflichtversicherung
x
Erfassung der nicht durch die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung abgedeckten Risiken im Risikomanagement der Kanzlei;
x
Vermögensbetreuungspflichten beachten;
x
Untreuetatbestände vermeiden.
84 Bei den wesentlichen Kernaufgaben kann sich der Insolvenzverwalter zuarbeiten lassen, z. B. Mitarbeitende oder spezialisierte Personen beauftragen, die die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen zur Vorbereitung einer Entscheidung prüfen. Auch bei der Betriebsfortführung als solcher kann er an Personen delegieren, nicht jedoch die in diesem Rahmen zu treffenden grundlegenden Entscheidungen. 5.
Beachtung der Datenschutzrichtlinien des fortzuführenden Unternehmens
85 x
Wurden die Anforderungen der DSGVO im fortzuführenden Unternehmen umgesetzt?
x
Verfügt das schuldnerische Unternehmen über einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten?
x
[…].
6. 86 x
Beachtung der CMS des fortzuführenden Unternehmens […].
7. 87 x
Überführung des CMS in den Regelbetrieb Überführung des CMS in den Regelbetrieb muss allen Abteilungen mitgeteilt werden: x
intensive Kommunikation des Themas gegenüber den Mitarbeitern;
x
schriftliche Information Mitarbeitern nachweislich zur Verfügung stellen;
x
Präsenz- oder Online-Compliance Schulungen;
x
Informationsseiten im Intranet.
1300
Fissenewert
Compliance für Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung
§ 35
x
Arbeitsvertragliche Verpflichtung der Mitarbeiter auf Compliance (Einfügung entsprechender Klauseln in neue Arbeitsverträge, Nachträge zu bestehenden Arbeitsverträgen oder schriftliche Weisungen);
x
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Aufnahme einzelner Regelungen in das CMS, die das Ordnungsverhalten und nicht lediglich das Arbeitsverhalten der Mitarbeiter betreffen, § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (z. B. Rauchverbot in bestimmten Räumen wegen Brandschutz oder zum Schutz der Nichtraucher).
x
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, wenn Regelung Gestaltungsspielraum gibt (Verbot der Annahme von Geschenken – ab welchem Wert? Auch Kleinigkeiten wie Kugelschreiber, Gebäck, Einladungen oder Gefälligkeiten?);
x
kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Aufnahme ethischer Standards (Verbot von Kinderarbeit in Ländern, in denen dies gesetzlich nicht verboten ist) oder Wiedergabe gesetzlicher Vorgaben.
8.
Regelmäßige Anpassung und Überwachung der CMS-Prozesse durch einen Compliance-Beauftragten
Die Geschäftsführung überträgt ihre originäre Verantwortung für Überwachung und 88 Einhaltung des CMS nach Errichtung des CMS auf einen Compliance-Beauftragten. Der Compliance-Beauftragte kann an unterschiedliche Bereiche des Unternehmens ange- 89 gliedert werden. In Betracht kommen sowohl die Buchhaltung (Compliance ähnelt dem Berichtswesen durch Vergleich von Soll- und Ist-Zuständen), der Rechtsabteilung (juristische Auswirkungen von Compliance-Verstößen) als auch das Risiko- oder Qualitätsmanagement, falls es eine solche Abteilung gibt. Eine Stabsfunktion mit direkter Berichtspflicht an die Geschäftsführung ist ebenso denkbar, wie ein externer Compliance-Beauftragter in kleineren Kanzleien. Aufgaben des Compliance-Beauftragten:
90
x
Kontrolle der Wirksamkeit und Qualität des CMS,
x
Weiterentwicklung und Verfeinerung der einzelnen CMS Prozesse,
x
Zusammenarbeit mit externen Beratern wie Rechtsanwälten, Steuerberatern, Unternehmensberatern,
x
Durchführung oder Organisation von Schulungen zur Sensibilisierung aller betroffenen Mitarbeiter in den wesentlichen Risikofeldern,
x
[…].
9.
Sanktionen bei Verstößen gegen das CMS
x
Mögliche Sanktionen wie Ermahnungen, Abmahnungen, Kündigungen, Versetzung, 91 Gehaltsreduzierung, Schadensersatz sind durch die Rechtsprechung im Detail geregelt; eine spezielle Festlegung für das Unternehmen wäre sehr aufwändig und müsste einer Überprüfung im Einzelfall (Interessenabwägung) jeweils standhalten und ist deshalb nicht zu empfehlen.
x
Polizeiliche Anzeige bei strafrechtlich relevanten Verstößen;
x
kein Absehen von Sanktionsmaßnahmen, da dies als Indiz für die Billigung des Rechtsverstoßes gewertet werden könnte.
Fissenewert
1301
§ 36 Betriebsfortführung und Großschadensereignisse/Pandemie Zimmermann
Übersicht I. II. III. IV.
Einleitung .................................................... 1 Krisenfrühwarnsystem ............................... 3 Krisenursachen............................................ 5 Auswirkungen von Großschadenereignissen auf die Betriebsfortführung ......... 11
V. Staatliche Hilfen, Vermeidung von Insolvenzfällen .................................. 15 VI. Auswirkungen im (vorläufigen) Insolvenzverfahren ................................... 20
Literatur: Hanisch, Zur Reformbedürftigkeit des Konkurs- und Vergleichsrechts, ZZP 90 (1977) 1; Paulus, Das Insolvenzrecht in den Zeiten der Cholera, ZIP 2022, 1129; Skauradszun/Amort, Krisenfrüherkennung und -management, Organkompetenzen und die Frage nach der Restrukturierungsverschleppungshaftung, DB 2021, 1317.
I.
Einleitung
Die Betriebsfortführung unter Restrukturierungs- und Insolvenzbedingungen ist kein Selbst- 1 zweck. Sie erfolgt einerseits, um die in ihren Vermögensinteressen unmittelbar betroffenen Gläubiger bestmöglich zu befriedigen und andererseits, um das gesamtwirtschaftliche Gefüge zu sichern. Durch den Fortbestand eines sanierungsfähigen Unternehmens sollen Belastungen des Staates durch Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle begrenzt und der Wirtschaftsverkehr durch Erhalt des Vertragspartners erhalten werden.1) Die Fortführung unter Insolvenz- und Restrukturierungsbedingungen kann daher einerseits, 2 bei Misslingen, zu einer Schadensvertiefung, und andererseits, bei deren Erfolg, zu einer Schadensminderung führen. Die Betriebsfortführung hat demgemäß auf – je nach Verfahrensstadium und -art – hinreichend gesicherter Grundlage zu erfolgen, was daher – ebenfalls je nach Verfahrensstadium und -art – eine angepasste Analyse des Unternehmens voraussetzt.2) Aus der Unternehmensanalyse sind die planerischen Grundlagen für die (vorläufige) Betriebsfortführung zu entwickeln. Während die betriebswirtschaftlichen Entscheidungsgrundlagen zur Unternehmensfortführung situationsbedingt – bereits aufgrund der engen bestehenden zeitlichen Prüfhorizonte – im Insolvenzantragsverfahren liquiditätsorientiert und bei mittel- bis langfristiger Betrachtung ertragsorientiert sind (siehe Weniger, § 7 Rz. 2, 75), bedarf es bei beiden Betrachtungsweisen eines fortlaufenden Abgleichs des Ist-Zustandes zum Soll-Zustand, um rechtzeitig Fehlentwicklungen erkennen zu können. II.
Krisenfrühwarnsystem
Abgesehen davon, dass zumindest in größeren Unternehmen bislang ohnehin grundlegende 3 Planungen vorhanden gewesen sein sollten, hat das zum 1.1.2021 in Kraft getretene StaRUG der Geschäftsleitung die Implementierung eines Krisenfrühwarnsystems auferlegt. § 1 StaRUG regelt programmatisch und allgemein, dass die Geschäftsleitung fortlaufend über Entwicklungen, welche den Fortbestand des Unternehmens gefährden können, zu wachen und bei Erkennen einer solchen Entwicklung geeignete Maßnahmen zu ergreifen hat, um der Entwicklung entgegenzuwirken. Nach Vorstellung des Gesetzgebers stellt dies nur die Normierung bereits bestehender Pflichten dar.3) Denn bereits zuvor hatte die Rechtspre___________ 1) So bereits R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 342 ff. („kollektives Schadensbegrenzungsverfahren mit ordnungspolitischer Ausrichtung“) mit Verweis auf Hanisch, ZZP 90 (1977) 1, 24 u. a. 2) Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 60 Rz. 34, 36. 3) Begr. RegE SanInsFoG z. StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 103.
Zimmermann
1303
§ 36
Teil V Einzelfragen
chung die Sorgfaltspflichten eines „ordentlichen Kaufmanns“ (§ 347 Abs. 1 HGB), eines „ordentlichen Geschäftsmannes“ (§ 43 Abs. 1 GmbHG) und die eines „ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) im Einzelnen konturiert und hieraus allgemeine Anforderungen, auch für die unternehmerischen Entscheidungsgrundlagen, herausgearbeitet. 4 Im Kern zielt die Krisenfrüherkennung gemäß § 1 StaRUG auf die Erkennbarkeit und Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer drohenden Zahlungsunfähigkeit ab.4) Nach der Gesetzesbegründung sollen die konkrete Ausformung und Reichweite der Umsetzung der Pflicht zur Implementierung des Krisenfrüherkennungssystems von der Größe, Branche, Struktur und auch der Rechtsform des jeweiligen Unternehmens abhängig sein. III.
Krisenursachen
5 Unternehmenskrisen können ihren Ursprung in endogenen Krisenursachen, also solchen, die im Betrieb selbst angelegt und potenziell durch diesen selbst verändert werden können, und exogenen Krisenursachen, also außerhalb des unmittelbaren Einflusses des Betriebes, haben. Eine eindeutige gesetzliche Regelung, ob i. R. der Überwachungspflicht nach dem StaRUG nur endogene Faktoren oder auch exogene Faktoren einzubeziehen sind, fehlt. Da ein Betrieb je nach Art und Größe stets auch von exogenen Faktoren beeinflusst wird, z. B. Preispolitik, Verfügbarkeit von benötigten Materialien und Waren am Markt, Verfügbarkeit von Fachkräften etc., kann die Überwachung sich denknotwendig nicht auf endogene Faktoren beschränken: Verändert sich ein Markt (exogene Ursache), reagiert die Geschäftsleitung nicht angemessen (endogene Ursache) und realisiert sich hieraus die Unternehmenskrise, resultiert diese aus beiden Faktoren. In der Realität treffen so auch in den meisten unternehmerischen Krisen exogene und endogene Krisenursachen aufeinander, sodass jedes Krisenfrühwarnsystem stets beide Faktoren, endogene wie exogene, einzubeziehen hat. 6 Die Rechtsprechung hat bereits in der Vergangenheit zu § 43 Abs. 1 GmbHG und § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG klargestellt, dass zwar jede Geschäftsführung riskante und ggf. nachteilige Entscheidungen impliziert und für jede unternehmerische Tätigkeit ein weiter Beurteilungsspielraum zuzubilligen ist,5) aber dieser weite Beurteilungsspielraum nur dann gewährt werden kann, wenn transparent und jederzeit nachvollziehbar eine Risikoabwägung der jeweiligen unternehmerischen Entscheidung stattgefunden hat.6) 7 Die Einbeziehung sämtlicher Umstände, die auf den Fortbestand des Unternehmens Einfluss nehmen können, führt dazu, dass ein generell geltendes, schablonenartiges Überwachungssystem für Betriebe aufgrund des individuellen Zuschnittes innerhalb eines jeden Betriebes nicht entwickelt werden kann. Infolgedessen hat der Betriebsleiter betriebsindividualisierte Priorisierungen und Gewichtungen und Eintrittswahrscheinlichkeitsprognosen zu treffen. 8 Die in die Risikobewertung einzubeziehenden endogenen Faktoren liegen insbesondere im x
Stakeholder- und Managementbereich,
x
Arbeitnehmerbereich,
x
Preisgestaltungbereich,
x
Investitionsbereich,
x
Ablaufoptimierungsbereich.
___________ 4) Skauradszun/Amort, DB 2021, 1317, 1319; Schmidt in: HambKomm-RestruktR, § 1 StaRUG Rz. 5. 5) Vgl. OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, GmbHR 2022, 752. 6) Vgl. BGH, Urt. v. 3.12.2001 – II ZR 308/99, ZIP 2002, 213 = NZI 2022, 48; OLG Koblenz, Urt. v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, NZG 2008, 280; LG Köln, Urt. v. 12.3.2002 – X ZR 226/99, NJW-RR 2000, 1056.
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Betriebsfortführung und Großschadensereignisse/Pandemie
§ 36
Die in die Risikobewertung einzubeziehenden exogenen Faktoren liegen insbesondere auf 9 x
nationalpolitischer Ebene,
x
internationalpolitischer Ebene,
x
nationalwirtschaftlicher Ebene,
x
internationalwirtschaftlicher Ebene,
x
Arbeitsmarktebene,
x
Rohstoffebene,
x
Lieferkettenebene,
x
Absatzmarktebene.
Dass sich ggf. bei retroperspektivischer Betrachtung die Gewichtung einer oder mehrere 10 Risikofaktoren bei einer unternehmerischen Entscheidung als fehlerhaft herausstellt, führt nicht dazu, dass der Unternehmensleiter über augurische Fähigkeiten verfügen müsste. Denn nach dem Gesetz und der Rechtsprechung ist lediglich entscheidend, dass die relevanten Risikofaktoren bei der Überwachung berücksichtigt und begründet entsprechend gewichtet werden. Letztlich handelt es sich somit um eine Befassungspflicht, dass sich der Unternehmensleiter also mit den möglichen Risikofaktoren ausreichend befasst und in seine Entscheidungen miteinbezieht. IV.
Auswirkungen von Großschadenereignissen auf die Betriebsfortführung
Nahezu jede Planung und jedes Frühwarnsystem kommt indes bei Hinzutreten eines Groß- 11 schadensereignisses, also einem Ereignis mit einer großen Anzahl von Verletzten oder Erkrankten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen und/oder erheblichen Sachschäden,7) an seine Grenzen. Solche Ereignisse kamen mit unmittelbaren Auswirkungen auf deutsche Unternehmen 12 zumeist nur vereinzelt vor, etwa, wenn ein Betrieb aus einem Krisenland Waren bezogen hat und etwa durch Kriegsausbruch in jenem Land die benötigte Lieferkette zusammengebrochen ist. Beginnend ab 2019 sind solche Ereignisse vermehrt und mit größeren Auswirkungen auf die deutsche Gesamtwirtschaftslage zu verzeichnen, zunächst in Form der COVID-19-Krise und sodann in Form der Ukraine-Krise. Infolge der Globalisierung ist auch damit zu rechnen, dass solche Ereignisse zukünftig vermehrt mit Auswirkungen auf deutsche Betriebe auftreten werden. Bereits die fehlende Diversität und die Abhängigkeit von Rohstoffmärkten, aber auch die Abhängigkeit von Billiglohnländern, führt dazu, dass Störungen in einem solchen Land zugleich auch erhebliche Auswirkungen auf den nationalen Markt und damit einhergehend die nationalen Betriebe haben. Es ist also für den Eintritt einer Krise nicht notwendig, dass im Inland ein Großschadens- 13 ereignis auftritt und dadurch Auswirkungen auf den nationalen Markt eintreten. Aufgrund der Globalisierung kann jedes Großschadensereignis in irgendeinem für die nationale Industrie wichtigen Land zu erheblichen planerischen Problemen des Geschäftsleiters eines nationalen Betriebes führen. Erschwerend kommt hinzu, dass durch Großschadensereignisse und Pandemien nicht nur eine Risikofaktorebene, sondern gleich mehrere betroffen sein werden, was zu weiteren Schwierigkeiten bei der Planung der Betriebsfortführung führt. Allgemeingültige Hinweise, wie eine Betriebsfortführung außerhalb oder innerhalb von 14 Restrukturierungs- und Insolvenzbedingungen im Fall eines Großschadensereignisses ___________ 7) Zur Definition: DIN 13050:2015-04 (Begriffe im Rettungswesen), abrufbar unter https://www.drk-lano.de/ fileadmin/user_upload/Dokumente/HelFuehLeit/Download_fuer_GF1/Definitionen.pdf (Abrufdatum: 8.11.2022).
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Teil V Einzelfragen
auszugestalten ist, kann es naturgemäß nicht geben, da die wirtschaftlichen und sonstigen Implikationen für jeden Betrieb unterschiedlich ausfallen werden. Sicher ist jedoch, dass in Abhängigkeit von Ort, Art, Umfang, Dauer und Intensität des Großschadensereignisses die individuell maßgeblichen Risikofaktoren unverzüglich neu zu gewichten und bei den weiteren planerischen Grundlagen fortan zu berücksichtigen sind. Zugleich sind – sofern dies möglich ist – ebenfalls unverzüglich Gegensteuerungsmaßnahmen zu ergreifen, bspw. durch den Versuch der Erschließung neuer/anderer Lieferpartner, Preisanpassungen etc. Außerhalb von Insolvenzbedingungen sind etwaig staatlicherseits zur Verfügung gestellte Hilfen (z. B. in der Vergangenheit: Coronahilfen) und Unterstützungsleistungen (z. B. Kurzarbeitergeld) nutzbar zu machen. V.
Staatliche Hilfen, Vermeidung von Insolvenzfällen
15 Wie die Erfahrungen der Lehman-Insolvenz in den USA und deren Auswirkungen auf Deutschland, aber auch die COVID-19-Pandemie gezeigt haben, sieht sich der deutsche Gesetzgeber bei Nahen von Großschadensereignissen veranlasst, entweder – wie im Fall der Lehman-Insolvenz im Jahr 2008 – den insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriff insgesamt oder aber – wie im Fall der COVID-19-Pandemie – die Insolvenzantragspflichtvoraussetzungen zu modifizieren, in dem Vorhaben, einer Insolvenzwelle im eigenen Land entgegenzuwirken.8) Auch wenn diese Maßnahmen formal das wirtschaftliche Überleben von Betrieben absichern sollen, ist diese Vorgehensweise in mindestens zweierlei Hinsicht zu überdenken: 16 Zum Einen verändert die mittelbare oder unmittelbare Veränderung der Insolvenzantragspflichten nichts an den betriebswirtschaftlichen Gegebenheiten im Betrieb, welcher schlicht nicht produzieren und damit einhergehend nicht rentabel arbeiten kann, wenn benötigte Rohstoffe, Teile etc. nicht am Markt verfügbar sind oder die Energiekosten keine kostendeckende Produktion mehr zulassen, sodass dem Betrieb und damit auch dem Betriebsleiter keine tatsächliche Entlastung wiederfährt. Daher ist auch nicht sicher, ob diese Erleichterung – unter rein betriebswirtschaftlicher Betrachtung, die einzig maßgeblich ist – dem Betrieb tatsächlich nützt. 17 Zum anderen – und dies ist noch bedeutsamer – liegt einer solchen Entscheidung offenbar der Gedanke zugrunde, dass eine „unverschuldete“ Störung in den Betriebsabläufen nicht zu einer Insolvenzantragstellungspflicht führen soll. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass die in den §§ 17 – 19 InsO geregelten Insolvenzgründe von Natur aus nicht an ein Verschulden oder ein Vertretenmüssen i. S. des § 276 BGB, sondern – und dies aus zutreffenden Gründen – ausschließlich an objektive oder objektivierbare Tatsachen anknüpfen. Dies wiederum führt dazu, dass die Ergänzung der Insolvenzantragspflichtvoraussetzungen durch subjektive Kriterien einer generellen Veränderung des Insolvenzrechts gleichkommt und im Ergebnis Unternehmen, die nicht aus eigener Kraft überlebensfähig sind, die Grundlage schafft, andere Unternehmen, den Fiskus und Sozialversicherungsträger zu schädigen. Exakt diese Gründe, die Schädigung anderer Marktteilnehmer, des Fiskus und der Sozialversicherungsträger sind es, die unter dem Begriff „Ordnungsfunktion des Insolvenzrechtes“ unter Normalbedingungen, also wenn kein Großschadensereignis akut ist, als Begründung für eine kurz bemessene Insolvenzantragspflicht angeführt werden. 18 Festzuhalten ist, dass die Veränderung der Antragspflicht für sich genommen und isoliert keine Maßnahme ist, welche in irgendeiner Form die Auswirkungen eines Großschadensereignisses auf Betriebe abzuschwächen vermag, sondern nur dann, wenn parallel dazu staatliche Hilfen erlangt werden können. Hierzu ist indes kritisch anzumerken, dass staatliche ___________ 8) Vgl. ergänzend auch Paulus, ZIP 2022, 1129, 1131.
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Betriebsfortführung und Großschadensereignisse/Pandemie
§ 36
Hilfen nicht durch den Staat erwirtschaftet werden, sondern durch Betriebe, die Bürger und die nachfolgenden Generationen, was im Ergebnis nichts anderes als die Umschichtung von vorhandenem Vermögen darstellt – oder, soweit die Staatsverschuldung erhöht wird – von Anwartschaften auf zukünftiges Vermögen der nachfolgenden Generationen. Gleiches gilt in dem Fall, wenn der Markt durch die Zentralbanken mit Geld überflutet wird, was infolgedessen inflationäre Effekte hat und damit einhergehend wieder eine reine Umschichtung von Vermögen nach sich zieht. Ob diese Art des Kreditierens zulasten der Zukunft rechnerisch Vorteile bietet, wird wenig 19 thematisiert. Dass ein Staat bei Eintritt von Großschadensereignissen in dem Bestreben marktregulierend eingreift, Schäden von Betrieben abzuwenden, ist zwar nachvollziehbar. Aber Vieles deutet darauf hin, dass dies auch zu generell veränderten Rahmenbedingungen führt, wie der Blick auf die Wiedervereinigung zeigt. Die Betriebe in der DDR waren unter den veränderten ökonomischen Bedingungen nahezu sämtlich nicht konkurrenz- und überlebensfähig mit der Folge von massiven Entlassungen. Nahezu zwei Drittel aller Arbeitsplätze, die 1990 unter Verantwortung der Treuhandanstalt standen, waren durch die Umstrukturierung bis 1994 verlorengegangen, was – zur nachhaltigen Stabilisierung der deutschen Wirtschaftslage – billigend in Kauf genommen wurde.9) Ob der neuerliche Ansatz, durch umfassende Finanzhilfen Betriebe zu erhalten, letztlich ein Erfolgsmodell wird und nicht nachteilig für die Marktwirtschaft und das soziale Gefüge ist,10) bleibt abzuwarten. VI.
Auswirkungen im (vorläufigen) Insolvenzverfahren
Unter Insolvenzbedingungen ist jedenfalls zu berücksichtigen, dass die vorgenannten (Staats-) 20 Hilfen in der Regel nicht oder nur sehr eingeschränkt i. R. einer Betriebsfortführung nutzbar gemacht werden können. In jedem Fall muss zudem ein laufender Vergleich der bisherigen planerischen Grundlagen und Annahmen mit den neu aufgestellten planerischen Grundlagen und Annahmen vorgenommen werden, um beurteilen zu können, ob und in welchem Ausmaß die Gegensteuermaßnahme Platz greift und damit dem Unternehmensziel bzw. Massemehrungs- und Sanierungsziel dient. Damit einhergehend bedarf es einer exakten Liquiditätsplanung auf Grundlage der neuen Rahmenbedingungen, um abschätzen zu können, zu welchem Zeitpunkt – bei Annahme fortdauernd geänderter Randumstände – Liquiditätsschwierigkeiten zu erwarten stehen. Denn dies wird auch Entscheidungsgrundlage für das Ergreifen weiterer Maßnahmen, z. B. Personalentscheidungen, TeilbetriebsStilllegung und sonstiger kostensenkender Maßnahmen sein. Dass der Unternehmensleiter bereits unter Normalbedingungen dazu verpflichtet ist, in seine Liquiditätsplanung im Geschäftsleben stets vorkommende Verluste (Forderungsausfälle etc.) im zu erwartenden Umfang einzuplanen, ist selbstverständlich. Die Verpflichtung verstärkt sich jedoch um so mehr, desto kritischer sich das geschäftliche Umfeld entwickelt. Man wird aber nicht so weit gehen können, vom Unternehmensleiter zu verlangen, dass 21 eine Liquiditätsbasis in Form von Rücklagen bestehen muss, die es ermöglicht, über Wochen oder gar Monate – selbst bei vollständigem Ausbleiben von Einnahmen – weiterhin bestehen ___________ 9) Zitat damalige Präsidentin der Treuhandanstalt: „Wir mussten den Menschen wirklich sehr viel zumuten, sie haben sicherlich enorm gelitten“. 10) Vgl. Studie der OECD und der Bertelsmann-Stiftung „Ist the German Middle Class Crumbling?“ 2021, online zu beziehen unter https://www.oecd-ilibrary.org/employment/is-the-german-middle-class-crumbling-risks-and-opportunities_845208d7-en; Hagelüken, Sorgen um die Mittelschicht, Süddeutsche Zeitung v. 1.12.2021, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/mittelschicht-deutschland-mittegesellschaft-1.5477348; Hagelüken, Die Mittelschicht schrumpft, die Politik schaut zu“, ZEIT Online v. 21.3.2017, abrufbar unter https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-03/wohlstand-deutschland-mittelschichtabstieg-sozialsystem-loehne?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (Abrufdatum jew. 8.11.2022).
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zu können. Verlangt werden muss indes, dass der Unternehmensleiter jede verfügbare Entlastungsmaßnahme und Maßnahme zu Schadensbegrenzung proportional zur Auswirkung der Krise auf den Betrieb ergreift. 22 Für die Enthaftung des Unternehmensleiters ist entscheidend, dass er seine jeweiligen Entscheidungen schriftlich dokumentiert, einschließlich der angestellten Überlegungen und Beweggründe. Es empfiehlt sich, externe Informationsquellen zu nutzen, wie z. B. Einschätzungen und Prognosen des ifo Instituts, und externen Sachverstand hinzuzuziehen, um die eigenen Entscheidungen zu überprüfen und abzusichern. Sollten die Maßnahmen nicht greifen, sind die allgemeinen insolvenzrechtlichen Pflichten zu beachten. 23 Die vorgenannten Maßstäbe sind auch bei einer angeordneten (vorläufigen) Insolvenzverwaltung anzulegen, wodurch sich die üblichen Schwierigkeiten, welche einer nahezu jeden Betriebsfortführung unter Insolvenzbedingungen inhärent sind, deutlich verschärfen. Denn der (vorläufige) Insolvenzverwalter hat mehrschichtig zu überwachen: Ihn treffen grundsätzlich gleichgelagerte – wenn auch nicht identische – Pflichten, wie den Unternehmensleiter, er hat jedoch zudem die insolvenzrechtlichen Besonderheiten zu beachten. Auch umfassende Planungen und ein effektives Controlling können bei einer Betriebsfortführung Misserfolge nicht verhindern.11) Zeichnet sich ab, dass der unter Insolvenzbedingungen fortgeführte Geschäftsbetrieb aufgrund eines Großschadensereignisses absehbar nicht rentabel sein wird, ist unverzüglich ein (ggf. neuer) Investorenprozess einzuleiten. Denn die geänderten Rahmenbedingungen haben auch Auswirkungen auf die Verhandlungen mit potenziellen Investoren. Kann der Verwalter sich unter Normalbedingungen einen durch einen potenziellen Investor gebotenen Preis im Hinblick auf § 1 InsO nicht rechtfertigen, kann durch den Eintritt eines Großschadensereignisses sich dieser Preis als angemessen darstellen. 24 Denn die ansonsten ggf. alternativlose Betriebsstillegung zieht in der Regel erhebliche Kosten nach sich (Kündigungslöhne, Mietzinszahlungen, Verwertungskosten etc.), welche nunmehr unter den geänderten Bedingungen „eingepreist“ werden können. Insofern ist in diesem Stadium eine Berechnung zu der zu erwartenden Massebelastung und den Auswirkungen auf die Quotenbefriedigung der Gläubiger bei Betriebsschließung vorzunehmen, um auf dieser Grundlage beurteilen zu können, bis zu welchem Grad eine Reduzierung des Preises rechtfertigbar ist. Kann eine mit dem Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung (§ 1 InsO) korrelierende Erhaltungslösung auf dieser Grundlage nicht dargestellt werden, wird in der Regel die unverzügliche Betriebsstilllegung zu beschließen sein. Als Entscheidungsgrundlage haben in diesem Fall die Planrechnungen zu dienen, denen die Stilllegungskosten gegenüberzustellen sind. Sollte sich hieraus ergeben, dass die Betriebsstilllegung einschließlich der damit zwingend einhergehenden Kosten masseschonender ist, als eine weitere Fortführung, ist der Verwalter nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, den Betrieb stillzulegen. 25 Auch von dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter kann nur verlangt werden, dass die zum Entscheidungszeitpunkt allgemein verfügbaren Erkenntnisquellen zu Andauer, Intensität und Auswirkung des Großschadensereignisses zugrunde gelegt werden. Es ist – um etwaigen späteren haftungsrechtlichen Implikationen vorzubeugen – dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter anzuraten, diese entsprechend zu dokumentieren.
___________ 11) R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 1429.
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§ 37 Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung Zimmermann
Übersicht I. Allgemeines ................................................. 1 II. Strategische Sanierung von Grundstücken und behördliche Inanspruchnahme ......................................................... 20 1. Strategische Sanierung von Grundstücken........................................................ 20 2. Ordnungsrechtliche Inanspruchnahme .... 24 III. Ordnungsrechtliche Inanspruchnahme als Zustandsstörer in den verschiedenen Insolvenzverfahrensstadien und -konstellationen................... 37 1. Schutzschirmverfahren (§ 270d InsO) ..... 37 2. Sonstige vorläufige Eigenverwaltung (§ 270b InsO)............................................. 41 3. „Schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, 22 Abs. 2 InsO)............................................... 42 4. „Starke“ vorläufige Insolvenzverwaltung (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1, 22 Abs. 1 InsO) .......................................................... 48 5. Eröffnetes Verfahren ................................. 51 5.1 Allgemeines.................................... 51 5.2 Formelle Fehler bei Inanspruchnahme ............................................. 53 5.3 Materielle Fehler bei Inanspruchnahme.................................. 56
5.3.1
Allgemeine Argumentationslinien............................................... 56 5.3.2 Verstoß gegen Treu und Glauben .......................................... 58 5.3.3 Fehlerhafte Störerauswahl ............ 59 5.3.4 Nichtberücksichtigung der Opfergrenze ............................ 63 5.3.5 Präventive (negative) Feststellungklage ........................... 67 5.3.6 Sonderkonstellation: Insolvenzverfahren und Zwangsverwaltungsverfahren .................... 68 5.4 Folgen der Inanspruchnahme wegen Alt-Kontaminationen ........ 71 5.4.1 Zeitpunkt der Anzeige der Masseunzulänglichkeit............ 71 5.4.2 Regressansprüche .......................... 75 5.5 Freigabe gemäß § 32 Abs. 3 InsO bei Inanspruchnahme ausschließlich als Zustandsstörer....... 77 IV. Besonderheiten bei Inanspruchnahme als Handlungsstörer oder Betreiber........ 80 V. Besonderheiten bei Emissionsberechtigungen ..................................................... 84
Literatur: Bickel, BBodSchG, Kommentar, 3. Aufl., 2004; Bisle, Fiskusprivileg „light“: Der neue § 55 Abs. 4 InsO, GWR 2011, 352; Brühl, Verwaltungsrecht für die Fallbearbeitung, 7. Aufl., 2006; Drasdo, Anmerkung zur Entscheidung des BVerwG v. 23.9.2004, BVerwG 7 C 22.03, ZfIR 2005, 31; Erdmann, Praktische Konsequenzen der Behandlung des Konkursverwalters als Organ der Konkursmasse, KTS 1967, 87; Finger, Neues von den Altlasten, NVwZ 2011, 1288; Grunwaldt, Zivilrechtliche Ausgleichsansprüche unter mehreren polizeirechtlichen Störern, Diss., 1994; Gundlach/Rautmann, Änderungen der Insolvenzordnung durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011, DStR 2011, 82; Heßler, Der Störerausgleich im Bodenschutzrecht, Diss., 2004; Jungclaus/Keller, Die Änderungen der InsO durch das Haushaltsbegleitgesetz, NZI 2010, 808; Kahlert, „Wiedereinführung“ des Fiskusvorrechts im Insolvenzverfahren?, ZInsO 2010, 1274; Knieper, Treu und Glauben im Verwaltungsrecht, Diss., 1932; Kothe, Die Verantwortlichkeit bei der Altlastensanierung, VerwArch (88) 1997, 456; Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Loseblatt-Kommentar, 97. Aufl., 2022, Stand: 12/2021; Lwowski/Tetzlaff, Umweltaltlasten in der Insolvenz und gesicherte Gläubiger, WM 2005, 921; Lwowski/Tetzlaff, Altlasten in der Insolvenz – Freigabe, Insolvenzplan und parallele Zwangsverwaltungsverfahren, NZI 2004, 225; Meyer, Die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters, in: Heinze/Stürner/Uhlenbruck, KTS-Schriften, Bd. 15, 2003, S. 196; Onusseit, Zur Neuregelung des § 55 Abs. 4 InsO, ZInsO 2011, 641; Oerder/ Numberger/Schönfeldt, BBodSchG, 1999; Pape, Anmerkung zur Entscheidung des BVerwG vom 22.7.2004, BVerwG 7 C 17.03, ZIP 2004, 1768; Pöhlmann, Wer bezahlt die Beseitigung von Altlasten in der Insolvenz?, NZI 2003, 486; Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, 1998; Schäling, Zur Haftungsbegrenzung bei Inanspruchnahme des Inhabers der tatsächlichen Gewalt als Verantwortlicher im Sinne des Bundes-Bodenschutzgesetzes, NVwZ 2004, 543; Schmidt, K., Keine Ordnungspflicht des Insolvenzverwalters? – Die Verwaltungsrechtsprechung als staatliche Insolvenzbeihilfe für Umweltkosten, NJW 2010, 1489; Schmidt, K., Klage und Rechtshängigkeit bei der Konkurseröffnung vor Klageerhebung, NJW 1995, 911; Schmidt, K., Der Konkursverwalter als Gesellschafts-
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§ 37
Teil V Einzelfragen
organ und als Repräsentant des Gemeinschuldners, KTS 1984, 345; Schumacher, Die Pflicht zur Abgabe von Emissionsberechtigungen bei insolventen Betreibern im Emissionshandel, ZInsO 2020, 1916; Sinz/ Oppermann, § 55 Abs. 4 InsO und seine Anwendungsprobleme in der Praxis, DB 2011, 2185; Versteyl/Sondermann, BBodSchG, Kommentar, 2. Aufl., 2005; de Wall, Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, JusPubl. 46; Wittern/Baßlsperger, Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, 20. Aufl., 2016; Zeiß/Schreiber, Zivilprozessrecht, 12. Aufl., 2014; Zimmermann, Beschlussfassung des Gläubigerausschusses/der Gläubigerversammlung bezüglich besonders bedeutsamer Rechtshandlungen (§ 160 InsO), ZInsO 2012, 245; Zimmermann, Mobiliar- und Unternehmenshypotheken in Europa, 2005.
I.
Allgemeines
1 Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO hat der Insolvenzverwalter für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass der Verwalter Gesetz und Recht zu beachten hat. Dies gilt umso mehr, wenn der Insolvenzverwalter einen schuldnerischen Betrieb fortführt. Dies, da der Insolvenzverwalter gerichtlich bestellt wird und die Betriebsfortführung im Wesentlichen Fremdinteressen, insbesondere der in ihren Vermögensinteressen unmittelbar betroffenen Gläubiger, aber auch mittelbar des Staates, also der Gemeinschaft, durch Vermeidung der Belastung durch Arbeitslosigkeit und Steuerzahlungsausfällen dient. Mindestens problematisch und enorm haftungsträchtig ist dies allerdings dann, wenn gesetzlich eindeutige Grundlagen, die für eine Fortführung von entscheidender Bedeutung sind, fehlen und die höchstrichterliche Rechtsprechung antipodisch ist. War man überwiegend der Auffassung, dass insbesondere in der Nachwendezeit die Altlastenproblematik relevant war1) und zwischenzeitlich weitgehend überholt sei, da in den meisten Fällen die als besonders problematisch zu beurteilenden Altlastenflächen der sog. neuen Bundesländer mittlerweile saniert wurden, muss die Thematik von Umweltkontaminationen und der Inanspruchnahme wegen mangelnder Erfüllung umweltschützender Pflichten unter den Bedingungen eines Insolvenzverfahrens gleichwohl nach wie vor als akut bezeichnet werden.2)
___________ 1) Vgl. hierzu insbesondere die in dieser Zeit ergangene Rspr.: BVerwG, Urt. v. 10.2.1999 – 11 C 9.97, ZIP 1999, 538 = NZI 1999, 246; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 19.6.2000 – 2 M 175/00, ZInsO 2000, 506; Hessischer VGH, Beschl. v. 22.10.1999 – 8 TE 4371/96, ZIP 1999, 2102; VG Hannover, Urt. v. 16.5.2001 – 12 A 1401/99, ZIP 2001, 1727 = NZI 2002, 171; OVG Sachsen, Urt. v. 16.8.1994 – 1 S 173/94, ZIP 1995, 852; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 12.4.1994 – 2 M 31/93, ZIP 1994, 1130; OVG Schleswig, Urt. v. 20.10.1994 – 4 L 73/92, ZIP 1993, 283, u. a. 2) Vgl. hierzu bspw. die Entscheidung des VG Berlin aus 2021 (VG Berlin, Urt. v. 1.7.2021 – 10 K 501/19, ZInsO 2021, 1926) bzgl. CO2-Emissionen oder die – zwischenzeitlich korrigierte (BayVGH, Beschl. v. 26.7.2021 – 12 ZB 18.2385, NZI 2021, 1030) – Entscheidung des VG Augsburg aus 2018 (AG Augsburg, Urt. v. 2.10.2018 – Au 8 K 18.633, NZI 2019, 165) bzgl. des Betreibens einer Deponie.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
§ 37
Es geht nicht nur um – die in der Praxis mittlerweile eher selten vorkommenden – Altlasten 2 i. S. des BBodSchG,3) das Altlasten definiert als stillgelegte Abfallbeseitigungsanlagen sowie sonstige Grundstücke, auf denen Abfälle behandelt, gelagert oder abgelagert worden sind (Altablagerungen), sowie Grundstücke stillgelegter Anlagen und sonstige Grundstücke, auf denen mit umweltgefährdenden Stoffen umgegangen worden ist, ausgenommen Anlagen, deren Stilllegung einer Genehmigung nach dem Atomgesetz bedarf (Altstandorte), durch die schädliche Bodenveränderungen oder sonstige Gefahren für den Einzelnen oder die Allgemeinheit hervorgerufen werden.4) Vielmehr geht es generell um die Frage der Behandlung von Kontaminationen der 3 Umwelt im Insolvenzverfahren, wobei in der Praxis am bedeutsamsten Kontaminationen des Grund und Bodens sind, deren Beseitigung in der Regel zu hohen Kostenbelastungen führen, aber auch – wie die Entscheidung des VG Berlin aus dem Jahr 2021 zeigt5) – die Auswirkungen von CO2-Emissionen. Hierdurch kommt der Frage, ob die Beseitigungskosten oder Ausgleichkosten in Form von kompensierenden Zahlungen (z. B. emissionsrechtlichen Abgabenpflichten) – vorrangig aus der Insolvenzmasse zu begleichen sind, überragende Bedeutung für den Verfahrensablauf und somit insbesondere auch für die Betriebsfortführung zu. Mit Insolvenzverfahrenseröffnung geht die allgemeine Vermögensverwaltungs- und -ver- 4 fügungsbefugnis über das schuldnerische Vermögen gemäß § 80 Abs. 1 InsO auf den Insolvenzverwalter über. Gemäß § 148 Abs. 1 InsO hat der Insolvenzverwalter eine unverzügliche Inbesitznahmepflicht bezüglich der Massegegenstände. Zudem ist die – zumindest vorläufige – Betriebsfortführung gesetzliche Pflichtaufgabe und greift bereits bei angeordneter vorläufiger Insolvenzverwaltung ein.6) Bei angeordneter Eigenverwaltung ist die Betriebsfortführung ohnehin alternativlos und bei dem Sanierungsverfahren nach dem StaRUG7) ebenfalls zwingend. Dadurch ist der Verwalter – bzw. in Eigenverwaltungsverfahren: die Geschäftsführung oder der CRO – grundsätzlich gezwungen, den schuldnerischen Betrieb auf den Betriebsflächen (mindestens) bis zum Berichtstermin fortzuführen, unabhängig ___________ 3) Zu beachten ist, dass Grundvoraussetzung für eine Inanspruchnahme wegen Altlasten i. S. des BBodSchG die Anlage im Fall der § 2 Abs. 5 Nr. 1 Alt. 1 und § 2 Abs. 5 Nr. 2 Alt. 1 BBodSchG bereits vollständig stillgelegt sein muss (vgl. BGH, Urt. v. 18.2.2010 – III ZR 295/09, NZM 2010, 403; BT-Drucks. 13/6701) bzw. im Falle eines sonstigen Grundstückes, auf dem Abfälle behandelt, gelagert oder abgelagert worden sind i. S. der §§ 2 Abs. 5 Nr. 1 Alt. 2 und Abs. 5 Nr. 2 Alt. 2 BBodSchG die Anlage nicht mehr in Betrieb ist (vgl. BT-Drucks. 13/6701, S. 30; Bickel, BBodSchG, § 2 Rz. 29). Eine Stilllegung ist hierbei – wie der BGH festgestellt hat – ausschließlich dann anzunehmen, wenn sämtliche Stilllegungsmaßnahmen vollständig abgeschlossen sind, wobei dem gleichzusetzen ist, wenn der Betrieb vollständig anders geführt wird, mithin ein aliud zu dem ursprünglichen Betrieb darstellt (BGH, Urt. v. 18.2.2010 – III ZR 295/09, NZM 2010, 403; vgl. hierzu auch Kothe, VerwArch (88) 1997, 456 ff.), wozu ein bloßer Inhaberwechsel oder eine Umfirmierung nicht ausreicht. Ist die Anlage nicht stillgelegt in diesem Sinne, kommt eine Inanspruchnahme für Sanierungsmaßnahmen nur wegen „schädlicher Bodenveränderungen“ i. S. des § 2 Abs. 3 BBodSchG in Betracht, wobei eine bloße Gefährdung für eine Inanspruchnahme nicht ausreicht. Vielmehr muss eine physikalische, chemische oder biologische Veränderung der Beschaffenheit des Bodens bereits eingetreten sein (vgl. BT-Drucks. 13/6701, S. 19; BGH, Urt. v. 18.2.2010 – III ZR 295/09, BGHZ 184, 288; Versteyl/Sondermann-Sondermann/Hejma, BBodSchG, § 4 Rz. 77). Ist auch dies nicht der Fall, kann der Insolvenzverwalter bzw. die von ihm verwaltete Masse bereits nicht zu Sanierungsmaßnahmen, sondern allenfalls zu Vorsorgemaßnahmen gemäß § 7 BBodSchG i. V. m. §§ 9 ff. BBodSchVO herangezogen werden. 4) Vgl. § 2 Abs. 5 BBodSchG. 5) BayVGH, Beschl. v. 26.7.2021 – 12 ZB 18.2385, NZI 2021, 1030. 6) Decker in: HambKomm-InsO, § 158 Rz. 1. 7) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256, das durch Art. 38 des Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG), v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3436, geändert worden ist.
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davon, ob die Betriebsflächen im schuldnerischen Eigentum stehen oder i. R. eines Nutzungsverhältnisses genutzt werden. 5 Bei Grundstücken, die im schuldnerischen Vermögen stehen oder durch den schuldnerischen Betrieb genutzt werden, kennt der Verwalter die Bodenbeschaffenheit zumeist nicht. Ein Prüfungszeitraum zum Zwecke der Analyse des Bestehens von etwaigen Kontaminationen ist dem Verwalter nach Insolvenzverfahrenseröffnung nicht eingeräumt. Lediglich in den Fällen, in denen eine vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet war, hatte der Verwalter die Möglichkeit zu prüfen, ob es sich um ein kontaminiertes Grundstück handelt. Dabei hat der vorläufige Insolvenzverwalter jedoch zumeist keine Veranlassung zur Bodenuntersuchung oder -prüfung, es sei denn, dass sich aus den Umständen konkrete Hinweise auf schädliche Bodenveränderungen ergeben (z. B. beim Betrieb besonders kontaminierungsgeeigneter Anlagen, sichtbaren Kontaminationen o. Ä.). 6 Haben sich während der vorläufigen Insolvenzverwaltung solche Hinweise ergeben, kann der vorläufige Insolvenzverwalter bei Anordnung der „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, 22 Abs. 2 InsO) aufgrund der begrenzten Kompetenzzuweisung (Zustimmungsvorbehalt) in der Regel keine eingehenderen, kostenauslösenden und -intensiven Untersuchungen/Maßnahmen ergreifen, um Gewissheit zu erlangen. Hierzu müsste der vorläufige Insolvenzverwalter von dem Insolvenzgericht eine Einzelermächtigung zur Begründung der entsprechenden Masseverbindlichkeit erhalten, für deren Beantragung seitens des vorläufigen Verwalters aus unterschiedlichen Gründen zumeist keine konkrete Veranlassung besteht. In der Regel fehlt es zudem auch an den erforderlichen Mitteln, sodass es sich daher bei einer Anfrage des vorläufigen Insolvenzverwalters beim Altlastenverzeichnis/ Bodenbelastungskataster bewenden wird, um eine Einschätzung zu erhalten, wie mit dem Grundstück im eröffneten Verfahren zu verfahren und mit welchen Kosten für eine Sanierung zu rechnen ist. 7 Bei einem (vorläufigen) Eigenverwaltungsverfahren gemäß § 270b InsO, einem Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO oder einem Verfahren nach dem StaRUG, wovon in der in der Praxis letztgenannte eher selten anzutreffen sind, verhält es sich hingegen teilweise – im Ergebnis jedoch nicht deutlich – anders: Bei angeordneter (vorläufiger) Eigenverwaltung hat der eingesetzte (vorläufige) Sachwalter zwar nur begrenzte Kompetenzen, da die Geschäftsführung bei der eigenverwaltenden Schuldnerin verbleibt. Der (vorläufige) Sachwalter ist jedoch gemäß § 274 Abs. 2, 3 InsO verpflichtet, die eigenverwaltende Schuldnerin in wirtschaftlicher Hinsicht zu überwachen, sodass etwaige unvorhergesehene umweltrechtliche, kostenpflichtige Sachverhalte ebenfalls durch diesen zu überprüfen und ggf. an den (vorläufigen) Gläubigerausschuss/die Insolvenzgläubiger und das Insolvenzgericht zu melden sind, mit der Folge, dass die Grundlage einer weiteren (vorläufigen) Eigenverwaltung ggf. beeinträchtigt wird oder gänzlich entfällt (§ 270e Abs. 1 Nr. 3 InsO). 8 Ist eine Sanierung mittels des StaRUG angestrebt und wird ein Restrukturierungsbeauftragter gemäß §§ 73 ff. StaRUG durch das Restrukturierungsgericht eingesetzt, hat auch dieser gemäß §§ 76 Abs. 1, 33 Abs. 2 Nr. 1, 2 StaRUG insbesondere die wirtschaftliche Lage und die Erfolgswahrscheinlichkeit des Restrukturierungsvorhabens zu prüfen. Damit sind durch den Restrukturierungsbeauftragten auch die aus Umweltrisiken folgenden Kostenbelastungen für das zu restrukturierende Unternehmen zu prüfen und zu berücksichtigen. 9 Ebenso verhält es sich, wenn ein Sanierungsmoderator gemäß §§ 94 ff. StaRUG eingesetzt wird. Auch dessen Funktion beschränkt sich nicht auf die Führung von Moderationsgesprächen, sondern der Moderator hat gemäß § 96 Abs. 2 StaRUG Einblick in die Bücher und Geschäftsaufzeichnungen zu nehmen und gemäß § 96 Abs. 4 StaRUG bei Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit und/oder – bei juristischen Personen – Überschuldung dies dem Restrukturierungsgericht (unverzüglich) anzuzeigen und haftet hierfür. Daher muss sich auch 1312
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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der Sanierungsmoderator über die wahre wirtschaftliche Lage des schuldnerischen Unternehmens informieren und insofern auch umweltbezogene potenzielle Risiken des schuldnerischen Unternehmens, insbesondere in Form von potenziellen Kostenbelastungen, sorgsam prüfen. Es sind grundsätzlich bei Betriebsfortführungen unter Restrukturierungs- und Insolvenz- 10 bedingungen die Fälle zu unterscheiden, in denen kein zeitlicher Horizont besteht, umweltrechtliche Implikationen zu prüfen. So etwa, weil ein Insolvenzverfahren durch das Insolvenzgericht unmittelbar eröffnet wurde und der Verwalter sich erst von da an orientieren konnte, oder aber der Zeitraum der vorläufigen Insolvenzverwaltung zu kurz bemessen war, um eingehende Untersuchungen vornehmen zu können und denen, in denen der umweltrechtliche, ggf. kostenträchtige Bezug bereits von vornherein erkennbar war. In den Fällen, in denen der umweltrechtliche, ggf. kostenträchtige Bezug bereits im Vorfeld 11 erkennbar oder gar evident ist, bspw. bei einem eingeleiteten Restrukturierungsverfahren, jedoch auch bei einem (vorläufigen) Eigenverwaltungsverfahren oder Schutzschirmverfahren, sind zwingend in den Planrechnungen die voraussichtlich aufzuwendenden Beträge vorzusehen, da es sonst bereits an einer seriösen Grundlage für eine Betriebsfortführung fehlt und damit das Sanierungs- und/oder Restrukturierungsziel nahezu zwingend verfehlt wird. Dies beinhaltet bei Betrieben, welche zu Boden- oder Wasserkontaminationen führen (können), dass auch entsprechende Rücklagen gebildet werden müssen. Bei treibhausgasemittierenden Betrieben werden die zu erwartenden Aufwendungen ohnehin 12 i. R. der regulären Kostenkalkulationen Berücksichtigung finden (müssen). Da sowohl bei Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG, wie auch bei (vorläufigen) Eigenverwaltungsverfahren oder Schutzschirmverfahren nach der InsO die Geschäftsführung im Amt bleibt, verändert sich i. d. R. in diesen Verfahren nichts durch die Einleitung der entsprechenden Verfahren. Lediglich sind der Restrukturierungsbeauftragte, der Sanierungsmoderator und der (vorläufige) Sachwalter gehalten, i. R. der Erfüllung ihrer Amtspflichten auch diese Themen genauestens zu überwachen. Gänzlich anders verhält es sich in den Fällen, in denen der Insolvenzverwalter erst nach 13 Verfahrenseröffnung Kenntnis von einer etwaigen Bodenkontamination oder einem entsprechenden Verdacht erlangt, regelmäßig durch die behördliche Inanspruchnahme in Form eines Erlasses einer gegen ihn gerichteten Untersuchungsanordnung oder aber eines Duldungs-/Haftungsbescheides. Hierdurch gerät der Verwalter in ein Haftungsspannungsfeld, dass nicht lediglich die durch den Verwalter verwaltete Masse, sondern auch ihn höchstpersönlich betrifft: x
Saniert der Verwalter aus Massemitteln bspw. ein kontaminiertes Grundstück oder bezahlt der Verwalter die Kosten einer etwaigen Ersatzvornahme aus den von ihm verwalteten Mitteln, obwohl der Verwalter bzw. die von ihm verwaltete Masse an sich nicht gehaftet hätte, war also der zugrunde liegende Bescheid unrichtig bzw. rechtswidrig, haftet der Verwalter gemäß § 60 InsO den Verfahrensbeteiligten persönlich, wenn bei ordentlicher und gewissenhafter Prüfung erkennbar war, dass die Maßnahme/Sanierung nicht hätte aus der Masse finanziert werden müssen.8)
Andererseits haftet der Verwalter gemäß § 61 InsO, wenn er berechtigte Masseverbindlichkeiten nicht begleicht. ___________ x
8) Selbstverständlich ist bei der Bezifferung eines solchen Haftungsanspruchs die durch die Sanierung zumeist eintretende Wertsteigerung des Grundstückes zu berücksichtigen, die den Haftungsumfang entsprechend reduzieren würde. Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Grundbesitz nicht umfänglich mit (unanfechtbaren) Sicherungsrechten belastet ist und hierdurch vorrangig der absonderungsberechtigte Gläubiger durch die aufgrund der Sanierung eingetretene Wertsteigerung profitiert, jedoch keine oder nur eine geringe freie Spitze für die Gläubiger im Rang des § 38 InsO verbleibt.
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Ebenso haftet der Verwalter nach § 61 InsO den übrigen Massegläubigern, wenn er in Anbetracht bekanntwerdender Altschäden des Betriebsgrundstückes vorschnell Masseunzulänglichkeit anzeigt, die Umweltbehörde jedoch erst danach die Ordnungsverfügung erlässt, die Behörde die Beseitigungskosten als Neumasseverbindlichkeiten gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO geltend macht und der Verwalter diese als solche begleichen muss.9)
14 Nicht viel anders verhält es sich, wenn es sich um ein Unternehmen handelt, welches Emissionsberechtigungen ersteigern oder ankaufen muss und der Verwalter auch für Zeiträume vor seiner Amtszeit, mithin rückwirkend, Emissionsberechtigungen erwirbt, sofern die verwalteten Mittel hierfür überhaupt ausreichen. Da gemäß § 7 Abs. 1 TEHG10) erst bis zum 30.4. eines Folgejahres nachzuweisen ist, dass ausreichend Emissionsberechtigungen für das Vorjahr vorhanden waren, kann sich für den Verwalter die Situation ergeben, dass ein Zertifikat-Defizit bestand. x
Wenn der Verwalter dann zum Zwecke der Vermeidung von Nachteilen Zertifikate aus Massemitteln erwirbt, es sich bei den Forderungen resultierend aus den Anforderungen des TEHG jedoch um Insolvenzforderungen gehandelt hat, sieht er sich Haftungsrisiken gemäß § 60 InsO ausgesetzt.
x
Erwirbt der Verwalter im Vertrauen darauf, dass die diesbezüglichen Forderungen nach dem TEHG – zumindest für den Zeitraum bis zur Insolvenzverfahrenseröffnung – Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO darstellen, keine Zertifikate und erfolgt eine Inanspruchnahme gemäß § 30 Abs. 1 TEHG, besteht ein Haftungsrisiko für den Verwalter i. H. des Differenzbetrages zwischen dem Preis, zu dem die notwendigen Zertifikate durch den Insolvenzverwalter hätten erworben werden können und dem nach § 30 Abs. 1 TEHG sanktionierenden (zusätzlichen) Betrag. Hierbei handelt es sich um ein hohes Schadenspotential, berücksichtigt man, dass gegenwärtig allein die Sanktion gemäß § 30 TEHG bei 100 € pro Tonne liegt.
15 Begründet werden vorbeschriebene Haftungsspannungsfelder insbesondere durch unterschiedliche Herangehensweisen, die rein ordnungs-/verwaltungsrechtliche (BVerwG), sog. „massefeindliche“, einerseits und die insolvenzrechtliche (BGH), sog. „massefreundliche“ andererseits. Nach der verwaltungsrechtlichen Herangehensweise haften – verallgemeinert – der Verwalter bzw. die von ihm verwaltete Insolvenzmasse auch für Umweltschäden, die in der Vergangenheit liegen, mithin bereits vor Insolvenzverfahrenseröffnung entstanden sind, da zwar auch das Verwaltungsrecht grundsätzlich das Verursacherprinzip zu berücksichtigen hat, jedoch harte zeitliche Zäsuren, wie durch die InsO in § 38 InsO vorgegeben, in dieser Form nicht kennt. Dies führt dazu, dass der Verwalter bzw. die von ihm verwaltete Insolvenzmasse nach verwaltungsrechtlicher Sichtweise aufgrund die Zustandsverantwortlichkeit regelnden umweltrechtlichen Normen, wie etwa § 4 Abs. 3 Satz 1 BBodSchG oder §§ 3 Abs. 9, 13, 22 KrWG11) i. V. m. §§ 22, 24 BImSchG12) auch für solche Schäden haften ___________ 9) Lwowski/Tetzlaff, WM 2005, 921 ff., 923. 10) Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz – TEHG), v. 21.7.2011, BGBl. I 2011, 1475, das zuletzt durch Art. 18 des Gesetzes v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3436, geändert worden ist. 11) Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (Kreislaufwirtschaftsgesetz – KrWG), v. 24.2.2012, BGBl. I 2012, 212, das zuletzt durch Art. 20 des Gesetzes v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3436, geändert worden ist. 12) Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge – Bundes-Immissionsschutzgesetz (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BimSchG), v. 17.5.2013, BGBl. I 2013, 1274, BGBl. I 2021, 123, das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Treibhausgasminderungs-Quote v. 24.9.2021, BGBl. I 2021, 4458, geändert worden ist.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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soll, die weit vor Verfahrenseröffnung entstanden sind.13) Solche Forderungen sollen nicht lediglich im Rang des § 38 InsO, sondern ähnlich Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO),14) nach vereinzelter Ansicht gar Masseschulden (§ 54 InsO) sein. Lediglich in dem Fall, das Kontaminationen auf Handlungen des (vorläufigen) Insolvenz- 16 verwalters zurückzuführen sind, besteht Kongruenz zwischen Verwaltungsrecht und Insolvenzrecht: In solchen Fällen haftet der Verwalter bzw. die von ihm verwaltete Insolvenzmasse stets aufgrund bestehender Handlungsverantwortlichkeit oder als Anlagenbetreiber, wobei die damit einhergehenden Verbindlichkeiten im Rang des § 55 InsO stehen. Allerdings kann auch in solchen Konstellationen das Problem von Alt-Kontaminationen virulent werden, selbst wenn die relevanten Kontaminationen bereits vor Verfahrenseröffnung vorhanden waren und die Betriebsfortführung durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter entweder zu keinen weiteren Kontaminationen geführt hat oder aber die Betriebsfortführung (lediglich) zu weiteren Kontaminationen führte, die der (vorläufige) Insolvenzverwalter isoliert, also beschränkt auf die Neuschäden, ordnungsgemäß beseitigt hat. Im Kern führt die verwaltungsrechtliche Sichtweise dazu, dass der Verwalter seinen gesetz- 17 lichen Auftrag zur Betriebsfortführung – zumindest bis zum Berichtstermin15) – oft nicht ordnungsgemäß erfüllen könnte und gegen die ihn besonders bindende Rechtsordnung (InsO) verstoßen müsste, um Haftungsgefahren aus etwaigen Bodenkontaminationen, gleich aus welchem Zeitpunkt, zu vermeiden. Jede (vorläufige) Fortführung in der Insolvenz von Betrieben in den Bereichen Lackiererei, Färberei, Tierzucht, Bau, Tankstellen, Chemie, Biogaserzeugung und dergleichen wäre in wirtschaftlicher Hinsicht unwägbar bis hin zu unkalkulierbar und würden den Insolvenzverwalter regelmäßig dazu veranlassen, den Betrieb umgehend stillzulegen oder den Betrieb/das Betriebsgrundstück freizugeben. Gerade im Hinblick auf Treibhausgase hat sich diese Thematik nochmals verschärft. Denn 18 viele Betriebe bedürfen des Zukaufs der handelbaren Emissionsberechtigungen, um ihren Emissionsausstoß zu kompensieren. Der britische Stahlgroßproduzent British Steel Limited mit ca. 4 200 Mitarbeitern drohte im Jahr 2019 in Insolvenz zu geraten, da dieser ca. 5,75 Mio. CO2-Berechtigungen nachzuweisen hatte, jedoch diesem Liquidität fehlte, um die fehlenden Zertifikate zu erwerben. Aber nicht nur produzierende Betriebe, sondern auch Fluggesellschaften die vor Insol- 19 venzverfahren – wie die Krise der Air Berlin (Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG) und assoziierte Gesellschaften eindrucksvoll gezeigt hat – nicht geschützt sind, sehen sich mit den entsprechenden Risiken konfrontiert. II.
Strategische Sanierung von Grundstücken und behördliche Inanspruchnahme
1.
Strategische Sanierung von Grundstücken
Die Sanierung eines kontaminierten Grundstücks durch den Insolvenzverwalter kann durch- 20 aus im Interesse der (Insolvenz-)Gläubiger liegen. Dies insbesondere dann, wenn das Grundstück im Eigentum des Schuldners steht und durch die Sanierung eine so erhebliche Wertsteigerung erfährt, dass sie die Ausgaben aus der Masse rechtfertigt. Dies wird allerdings ___________ 13) Vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51; BVerwG, Urt. v. 10.2.1999 – 11 C 9.97, ZIP 1999, 538 = NZI 1999, 246; BVerwG, Urt. v. 20.1.1984 – 4 C 37.80, NJW 1984, 2427; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 16.1.1997 – 3 L 94/96, ZIP 1997, 1798 = NJW 1998, 175; VGH Mannheim, Urt. v. 11.12.1990 – 10 S 7/90, ZIP 1991, 393 = NJW 1992, 64. 14) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51; BVerwG, Urt. v. 10.2.1999 – 11 C 9.97, ZIP 1999, 538 = NZI 1999, 246. 15) Vgl. insbesondere §§ 1, 22 Abs. 1 Nr. 2, 112, 157, 158 InsO.
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zumeist nur dann in Betracht kommen, wenn der Grundbesitz nicht oder nur in geringem Umfang mit Grundpfandrechten belastet ist. 21 Entscheidet sich der Insolvenzverwalter von sich aus zu einer solchen Sanierung zulasten der von ihm verwalteten Masse mit dem Ziel, den Grundstückswert im Interesse der Insolvenzgläubiger zu erhöhen, ist die Erstellung eines Wertgutachtens bezogen auf den kontaminierten Grundbesitz einerseits und bezogen auf den sanierten Zustand andererseits vor Auslösung der entsprechenden Maßnahmen zur eigenen Haftungsvermeidung unumgänglich. Denn für den Fall, dass der Grundbesitz im sanierten Zustand – wider Erwarten – nicht den durch die Durchführung der Sanierungsmaßnahme angestrebten Marktwert und damit einhergehend den kalkulierten Übererlös erreicht, sieht sich der Verwalter der Gefahr des Vorwurfs der Masseverschleuderung und damit einer Inanspruchnahme gemäß § 60 InsO ausgesetzt, wenn er nicht belastbar nachweisen kann, dass er zum Zeitpunkt der Auslösung der (freiwilligen, d. h. nicht behördlicherseits erzwungenen) Sanierungsmaßnahme bei einer Kosten-Nutzen-Analyse davon ausgehen durfte, dass die Sanierungsmaßnahme – trotz Aufwendung von Massemitteln – letztlich zu einer Erhöhung des Massebestandes führen würde. 22 Da Bodensanierungen in der Regel kostenintensiv sind, handelt es sich bei einer solchen (freiwilligen) Sanierung in der Regel um eine besonders bedeutsame Rechtshandlung i. S. des § 160 Abs. 1 InsO.16) Unabhängig davon empfiehlt es sich in solchen Fällen stets, eine besondere Gläubigerversammlung einzuberufen. Zwar verhindert die Zustimmung der Gläubigerversammlung zu einer solchen Maßnahme die Inanspruchnahme des Verwalters nach § 60 InsO nicht, wenn wider Erwarten die Sanierung mit Massemitteln nicht zu der angestrebten Wertsteigerung und Massemehrung führt. Denn die Zustimmung der Gläubigerversammlung bzw. deren Fiktion gemäß § 160 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 InsO hat keine exkulpierende Wirkung bezüglich der Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO. Vielmehr hat der Insolvenzverwalter ggf. sogar entgegen dem Abstimmungsergebnis der Gläubigerversammlung zu handeln, da er sein Amt grundsätzlich unabhängig auszuüben hat. Jedoch führt die erteilte oder gemäß § § 160 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 InsO fingierte Zustimmung der Gläubigerversammlung zu der beabsichtigen Sanierung und der infolgedessen damit im Zusammenhang stehenden Kosten zum Zwecke einer letztendlich verfolgten Massemehrung zu erhöhten Anforderungen bezüglich des Nachweises einer Pflichtverletzung des Verwalters bei einer etwaigen Inanspruchnahme gemäß § 60 InsO durch die (Insolvenz-)Gläubiger, wenn der angestrebte Massemehrungszweck nicht erreicht werden konnte. 23 Zu beachten ist – insbesondere vor dem Hintergrund der regelmäßig hohen wirtschaftlichen Bedeutung von Sanierungsmaßnahmen –, dass die besondere Gläubigerversammlung ordnungsgemäß einberufen wird. Der BGH hat in seinen Entscheidungen vom 20.3.200817) und 21.7.201118) klargestellt, dass in der Ladung zur Gläubigerversammlung wenigstens schlagwortartig die Tagesordnungspunkte genannt sein müssen. Folge einer nicht ordnungsgemäß einberufenen Gläubigerversammlung ist, dass die gefassten Beschlüsse nichtig sind und auch die Zustimmungsfiktion gemäß § 160 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 InsO ins Leere liefe.19) Der Verwalter hat daher bereits in seinem Antrag auf Einberufung einer besonderen Gläubigerversammlung darauf zu achten, dass er konkretisiert, für welche Sanierungsmaßnahme, für welches Grundstück welche Mittel aufgewandt werden sollen. Zur Vorbereitung ___________ 16) Vgl. zu dem Kriterium der besonders bedeutsamen Rechtshandlung i. S. des § 160 InsO: Zimmermann, ZInsO 2012, 245 ff. 17) BGH, Beschl. v. 20.3.2008 – IX ZB 104/07, ZIP 2008, 1030 = WM 2008, 1036. 18) Vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2011 – IX ZB 128/10, ZIP 2011, 1626 = NZI 2011, 713. 19) Vgl. ergänzend Zimmermann, ZInsO 2012, 245 ff.
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dessen bietet es sich an, dass der Insolvenzverwalter ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gibt, um die voraussichtlich entstehenden Sanierungskosten hinreichend präzise beziffern zu können. Darüber hinaus sollte der Verwalter – zumindest mündlich – in der Gläubigerversammlung erläutern, aus welchem Grunde mit einer für die Masse günstigen Wertsteigerung durch die Sanierungsmaßnahme zu rechnen ist. Auch dies sollte der Verwalter durch ein entsprechendes Gutachten unterlegen können. 2.
Ordnungsrechtliche Inanspruchnahme
In der Praxis kommen jedoch zumeist nicht die Fälle vor, in denen der Verwalter zum Wohle 24 aller Gläubiger aufgrund einer von sich aus erkannten Kontamination und einer wohlabgewogenen Kosten-Nutzen-Abwägung die Entscheidung trifft, dass das Grundstück zu sanieren ist, sondern weil eine Inanspruchnahme durch die zuständige Behörde erfolgt. Das BVerwG hat bereits mehrfach20) – tendenziell, tendenziös – entschieden, dass Forde- 25 rungen im Zusammenhang mit der Sanierung von Bodenkontaminationen ähnlich Masseverbindlichkeiten im Rang des § 55 InsO stehen würden und daher vorrangig aus der Masse zu regulieren seien, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt die Kontaminationen entstanden sind. Das BVerwG hat bei diesen Entscheidungen zwar die Regelungen der InsO zur Kenntnis genommen, jedoch rein formal verwaltungsrechtlich entschieden: Bestimmte ordnungsrechtliche Vorschriften stellten nicht auf den Verursacher oder den Zeitpunkt einer Verursachung ab, sondern ließen eine Inanspruchnahme des Inhabers der tatsächlichen Gewalt über das schädliche Objekt (Zustandsstörer) zu. Dies habe zur Folge, dass unabhängig von der Frage, wer zu welchem Zeitpunkt die Bodenverunreinigungen verursacht hat, der Inhaber der tatsächlichen Gewalt als Zustandsstörer in Anspruch genommen werden kann, wobei der Anspruch lediglich an die tatsächliche Sachherrschaft anknüpft, die der Verwalter gemäß § 148 InsO aufgrund gesetzlicher Anordnung und in Erfüllung seines gesetzlichen Auftrages erlangt. Diese Argumentation greift allerdings zu kurz und verkennt das wesentliche, für Insol- 26 venzrechtler geläufigste, in § 38 InsO geregelte, Stichtagsprinzip, wonach alle Forderungen, die dem Grunde nach vor Insolvenzverfahrenseröffnung begründet wurden, lediglich zur Insolvenztabelle angemeldet werden können und zwar auch solche, die im Zusammenhang mit Bodenkontaminationen stehen.21) Zudem berücksichtigt das BVerwG in seinen vorgenannten Entscheidungen nicht, dass der durch den Verwalter in Übereinstimmung mit seiner gesetzlichen Verpflichtung ausgeübte Besitz (§ 148 InsO) nicht gleichzusetzen ist mit der Zustandsstörereigenschaft im ordnungsrechtlichen Sinne. Denn die in § 148 InsO geregelte Besitzergreifung dient – wie der BGH festgestellt hat – zunächst nur dem allseitigen Interesse der Sicherstellung.22) Eine vollständige Integration in die Insolvenzmasse erfolgt mit Inbesitznahme noch nicht,23) und ist daher nicht geeignet, die vom BVerwG angenommene Zustandsstörerhaftung auszulösen. Auch besteht in der Inbesitznahme des (kontaminierten) Grundstücks keine Verwaltung 27 des Massegegenstandes. Eine Begründung von Masseverbindlichkeiten durch Handlungen des Verwalters scheidet daher bei bloßer Inbesitznahme des Grundstücks im insolvenzrechtlichen Sinne aus. Auch sind solche Verbindlichkeiten nicht in anderer Weise i. S. der ___________ 20) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51; BVerwG, Urt. v. 10.2.1999 – 11 C 9.97, ZIP 1999, 538 = NZI 1999, 246; BVerwG, Urt. v. 20.1.1984 – 4 C 37.80, NJW 1984, 2427. 21) Sofern nicht Ab- oder Aussonderung verlangt werden kann. 22) BGH, Urt. v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, BGHZ 130, 38 ff., 49 = ZIP 2002, 1043. 23) BGH, Urt. v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, BGHZ 130, 38 ff., 49 = ZIP 2002, 1043.
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InsO begründet, da zu den in anderer Weise24) begründeten Masseverbindlichkeiten nur solche gehören, die durch den Verwalter ausgelöst wurden.25) Nicht einmal die Herstellung entsprechenden Versicherungsschutzes für das Grundstück stellt eine Verwaltung des Grundstückes dar.26) Eine Verwaltung liegt bei einer Immobilienbewirtschaftung und eine solche erst bei Vermietung, Sicherung und Erhalt der Immobilie oder Sicherstellung der Energie-/Wasserversorgung vor. Erst wenn der Verwalter den Grundbesitz tatsächlich in die Masse vollständig integriert, ergibt sich – entgegen der Auffassung des BVerwG – überhaupt erst die Möglichkeit, den Verwalter als Zustandsstörer haftbar machen zu können. 28 Sachlich unrichtig ist zudem, dass sich das BVerwG in seinen früheren27) Entscheidungen nicht vertieft mit dem verwaltungsrechtlichen Verursacherprinzip, das sowohl eine zeitliche, wie auch personelle Komponente beinhaltet, befasst hat. Bei hinreichender Berücksichtigung dieses Grundsatzes und der daraus folgenden Konsequenzen hätte das BVerwG zu anderen Ergebnissen gelangen müssen: Es kann als weitgehend unbestritten gelten, dass der Insolvenzverwalter gerade nicht Vertreter28), Vertretungsorgan29) oder gar Rechtsnachfolger30) des Schuldners ist und bereits hieran eine direkte zeitliche Zurechnung scheitern muss. Gleiches gilt auch für die personelle Komponente. Auch in dieser Hinsicht besteht zwischen dem Insolvenzverwalter bzw. der von ihm verwalteten Masse und dem Verursacher keine Personenidentität. Vielmehr ist der Verwalter kraft seiner Bestellung Abwickler mit den durch die InsO ausgestatten Befugnissen und handelt lediglich in eigenem Namen und aus eigenem Recht mit Wirkung für die Masse.31) Erschwerend kommt hinzu, dass das durch den Verwalter verwaltete Vermögen zwar durch ihn zu verwalten, jedoch der Umsetzung des Grundsatzes des par conditio creditorum dient, damit wirtschaftlich der Gläubigergesamtheit zugeordnet ist. Diese ist ebenfalls nicht personenidentisch mit dem Schuldner. 29 Im Kern verdichtet sich die Problematik auf die Frage der Rangordnung zwischen Insolvenzrecht und Ordnungsrecht, wenn das Ordnungsrecht die Verantwortlichkeit nicht an die Vornahme von Handlungen (Verhaltensstörer), sondern an einen Zustand (Zustandsstörer) knüpft. Das BVerwG vertritt diesbezüglich die Auffassung,32) dass allein die Regelungen des Ordnungsrechts maßgeblich sind, falls diese auf eine Haftung als Zustandsstörer abstellen, und dass insoweit das Ordnungsrecht mit dem Insolvenzrecht nicht konkurrieren würde, da allein das Ordnungsrecht regele, unter welchen Voraussetzungen eine Störung der öffentlichen Sicherheit vorliege, wie dieser Störung zu begegnen sei und wer dafür in Anspruch genommen werden könne.33) 30 Zwar ist dem BVerwG zuzugeben, dass das Insolvenzrecht nicht in erster Linie Ordnungsrecht, allenfalls Wirtschafts-Ordnungsrecht, jedoch nicht Ordnungsrecht i. S. des BBodSchG oder anderer verwaltungs-/ordnungsrechtlicher Gesetze ist. Es wird verkannt, dass die ___________ 24) 25) 26) 27) 28) 29) 30)
31) 32) 33)
§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 InsO. Vgl. Jaeger-Henckel, InsO, § 55 Rz. 29; Jarchow in: HambKomm-InsO, § 55 Rz. 10. Vgl. BGH, Urt. v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, BGHZ 130, 38 ff. = ZIP 2002, 1043. In einer Entscheidung des BVerwG, Urt. v. 22.7.2004 – 7 C 17.03, ZIP 2004, 1766 ff. = NZI 2005, 55, wurde diese Frage zumindest am Rande erörtert. Vgl. BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, ZIP 2005, 1034; a. A. K. Schmidt, KTS 1984, 345; K. Schmidt, NJW 1995, 911. Kuleisa in: HambKomm-InsO, § 80 Rz. 6; a. A. Erdmann, KTS 1967, 87. BAG, Beschl. v. 7.4.2003 – 5 AZB 2/03, NZA 2003, 630; BAG, Beschl. v. 9.7.2003 – 5 AZB 34/03, ZIP 2003, 1617 = NZA 2004, 400; LAG Berlin, Beschl. v. 6.12.2002 – 9 Ta 1726/02, NZA 2003, 630; LAG Nürnberg, Beschl. v. 29.3.2004 – 5 Ta 153/03, NZI 2004, 682. Vgl. RG, Urt. v. 30.3.1892 – V 255/91, RGZ 29, 29 ff., 36; BFH, Urt. v. 22.1.1997 – I R 101/95, ZIP 1997, 797; Kuleisa in: HambKomm-InsO, § 80 Rz. 7; Plathner in: KölnKomm-InsO, § 80 Rz. 37. Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51. Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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Folgen der Anordnungen des Ordnungsrechts (Inanspruchnahme) wirtschaftliche Auswirkungen haben und die wirtschaftlichen Auswirkungen im Insolvenzfall abschließend und ausschließlich durch die InsO geregelt werden. § 55 InsO privilegiert gegenüber den Insolvenzgläubigern im Rang des § 38 InsO lediglich und ausschließlich die in der Vorschrift enumerativ aufgezählten Fälle. Durch die ordnungsrechtliche Inanspruchnahme des Verwalters als Zustandsstörer wird mittelbar ein Fiskalprivileg für bestimmte umweltrechtlich begründete Forderungen geschaffen,34) das gesetzlich nicht vorgesehen und auch nicht intendiert ist. Bereits das Ringen um das im Jahr 2010 in die InsO eingefügte Fiskalprivileg gemäß § 55 Abs. 435) InsO und die daran geäußerte,36) berechtigte Kritik zeigen, wie begehrt zwar die Bevorrechtigung ist, wie schwer sich der Gesetzgeber jedoch mit einer solchen Regelung tut, wenn er die Insolvenzverfahrensziele nicht grundsätzlich in Frage stellen will. Insbesondere aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber nicht die seit Jahrzehnten bestehenden und bekannten Unsicherheiten dadurch aufgelöst hat, dass eine Regelung entsprechend § 55 Abs. 4 InsO bspw. für Bodenkontaminationen geschaffen wurde, ist zu schließen, dass der Gesetzgeber eine solche Privilegierung der Umweltbehörden bezüglich Alt-Kontamination nicht einmal in Betracht gezogen hat. Gegen die – im Gegensatz zur Auffassung der Verwaltungsgerichte – stehende Auffassung 31 des BGH, dass die Verantwortlichkeit des Verwalters für Alt-Kontaminationen sich darauf beschränkt, dass die entsprechenden Forderungen der Behörde als Insolvenzforderungen zur Insolvenztabelle angemeldet werden können, wird vereinzelt eingewandt, dass dies in Bezug auf die Adressierung der Inanspruchnahme problematisch wäre, da ein Adressat für die ordnungsrechtliche Verfügung bzgl. Alt-Kontaminationen fehlen würde,37) wenn dem Schuldner/schuldnerischen Unternehmen die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis aufgrund der Insolvenzverfahrenseröffnung entzogen ist. Dieses Argument geht jedoch in der Sache fehl, insbesondere dadurch, dass die formale Frage der Zustellbarkeit einer ordnungsrechtlichen Verfügung nicht zur Folge haben kann, dass die Masse mit vorrangig zu regulierenden Zahlungsverpflichtungen (§ 55 InsO) belastet wird. Zudem besteht auch die angenommene Problematik der Adressierung nicht. Die gleiche Frage stellt sich auch für Steuerforderungen aus Zeiträumen vor Insolvenzverfahrenseröffnung, für die noch keine Festsetzungen erfolgt sind. Diesbezüglich ist unbestritten und anerkannt, dass die Finanzverwaltung nach Insolvenzverfahrenseröffnung Bescheide nicht gegen den Schuldner oder den Verwalter erlassen,38) sondern lediglich Steuerberechnungen durchführen und zur Insolvenztabelle anmelden kann. Denn diese Forderungen sind vor Insolvenzverfahrenseröffnung entstanden und können somit gemäß § 87 InsO ausschließlich nach den Vorschriften der InsO angemeldet werden.39) Gleiches Vorgehen würde den vermeintlichen Konflikt um die Adressierung bezüglich ordnungsrechtlicher Verfügungen lösen. Unabhängig davon ist der Rechtsprechung des BVerwG entgegenzuhalten, dass bei kon- 32 sequenter Anwendung der in den genannten Entscheidungen zum Ausdruck kommenden Auffassung ein widersinniger Anreiz für die Umweltbehörden geschaffen würde, gegen relevante, bekannt gewordene Umweltverstöße nicht unmittelbar vorzugehen, sondern ggf. die Insolvenzverfahrenseröffnung abzuwarten, um sodann die Insolvenzmasse mit den Beseitigungskosten privilegiert belasten zu können. Der Anreiz zu einer solchen Vorgehens___________ 34) Pöhlmann, NZI 2003, 486 ff., 487. 35) Eingefügt durch Art. 3 Nr. 2 des Haushaltsbegleitgesetzes, v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 188. 36) Vgl. etwa Jungclaus/Keller, NZI 2010, 808; Onusseit, ZInsO 2011, 641 ff.; Sinz/Oppermann, DB 2011, 2185 ff.; Bisle, GWR 2011, 352 ff; Gundlach/Rautmann, DStR 2011, 82, 84 f.; Kahlert, ZInsO 2010, 1274 ff. 37) Vgl. Drasdo, ZfIR 2005, 31; Jarchow in: HambKomm-InsO, § 55 Rz. 84. 38) Eine Ausnahme bildet der Feststellungsbescheid gemäß § 251 Abs. 3 AO. 39) Vgl. auch Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) § 122 Rz. 2.9.1.
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§ 37
Teil V Einzelfragen
weise verstärkt sich umso mehr, als dass bei Einordnung der Forderung als Masseverbindlichkeit eine Beschränkung nicht stattfindet und die gesamte vorhandene Masse vorrangig haften würde. Es ist offensichtlich, dass ein strategisches oder anders motiviertes Zuwarten der Umweltbehörde nicht dahingehend zu privilegieren ist, dass die Verzögerung eine Aufwertung zu einer Masseverbindlichkeit zur Folge hat und die bei rechtzeitiger Inanspruchnahme entstandenen Forderungen lediglich im Rang des § 38 InsO gestanden hätten. Häufig wird dem Verwalter der Beweis eines solchen strategischen oder anders motivierten Zuwartens durch die Behörde jedoch kaum möglich sein. Anhaltspunkte für ein solches beabsichtigtes Zuwarten ergeben sich in diesen Fällen regelmäßig daraus, dass die Behörde bereits vor Verfahrenseröffnung gegen den Schuldner einen Untersuchungs- und/oder eine Sanierungsanordnung erlassen hatte. 33 Andererseits führt auch die kompromisslose Anwendung des in § 38 InsO geregelten Stichtagsprinzips dann zu unbilligen Ergebnissen, wenn das Grundstück im schuldnerischen Eigentum steht und umfassend mit (valutierenden) Grundpfandrechten belastet ist. Die Ersatzvornahme auf Kosten der Allgemeinheit, die nur als Insolvenzforderung zur Tabelle angemeldet werden könnten, führte insofern zu einer Verteilungsungerechtigkeit, als dass das Grundpfandrecht und damit das Absonderungsrecht aufgewertet40) und auf der anderen Seite die Insolvenzgläubiger benachteiligt werden durch die Teilnahme der Inanspruchnahmeforderung als Forderung im Rang des § 38 InsO, wodurch wiederum die Befriedigungsquote belastet wird. Insbesondere in solchen Konstellationen ist einzelfallbezogen vorzugehen41) und eine eingehende Abstimmung sowohl mit der Umweltbehörde, wie auch mit den (Grundpfand-) Gläubigern für den Insolvenzverwalter unerlässlich. 34 Aus einer abfallrechtlichen Entscheidung42) des BVerwG ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass das BVerwG die ursprünglich verfolgte Linie nicht um jeden Preis beibehalten will, indem es die insolvenzrechtlichen Vorschriften als maßgeblich in seine Entscheidung miteinbezieht. Das Gericht hat in seiner Entscheidung vom 22.7.2004 als Hilfsargument darauf abgestellt, dass die zugrunde liegende Verantwortlichkeit und die daraus resultierenden Verbindlichkeiten vor Insolvenzverfahrenseröffnung entstanden sind und damit Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) darstellen würden.43) Zu Recht hat die Entscheidung in der Literatur überwiegend Zustimmung gefunden.44) Jedoch führt dies nicht dazu, dass der Insolvenzverwalter sich auf diese Rechtsprechung verlassen, die Forderung der Verwaltung mit einem Hinweis auf die Entscheidung des BVerwG und die Vorschrift des § 38 InsO abweisen und dem Haftungskonflikt entkommen könnte. Denn das BVerwG hat im Übrigen an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten und den entschiedenen Fall zu den bisherigen Fällen abgegrenzt.45) 35 Daher ist nach wie vor von einem erheblichen Haftungspotential des Insolvenzverwalters auszugehen, insbesondere da § 185 InsO der Verwaltung die Möglichkeit eröffnet, ihre Forderungen auf dem Verwaltungsrechtsweg zu verfolgen und festzusetzen. Erlässt die Behörde einen wirksamen Haftungsbescheid oder erwirkt sie eine unanfechtbare verwaltungsgerichtliche Entscheidung, ist der Verwalter hieran – trotz der zuvor dargelegten ___________ 40) Vgl. hierzu auch Frege/Keller/Riedel, Hdb. InsR, Rz. 958a. 41) Vgl. auch Kübler/Prütting/Bork-Pape/Schaltke, InsO, § 55 Rz. 39; Frege/Keller/Riedel, Hdb. InsR, Rz. 958a (ebenso). 42) BVerwG, Urt. v. 22.7.2004 – 7 C 17.03, ZIP 2004, 1766 ff. = NZI 2005, 55. 43) BVerwG, Urt. v. 22.7.2004 – 7 C 17.03, ZIP 2004, 1766 ff., 1768 = NZI 2005, 55. 44) Vgl. etwa Lwowski/Tetzlaff, WM 2005, 921 ff., 926; Pape, ZIP 2004, 1768; Uhlenbruck, EWiR 2004, 1025, 1026 (Urteilsanm.). 45) BVerwG, Urt. v. 22.7.2004 – 7 C 17.03, ZIP 2004, 1766 ff. = NZI 2005, 55; s. ergänzend auch Lwowski/Tetzlaff, WM 2005, 921 ff., 926.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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Inkonsistenz der Begründung des BVerwG für seine die Ordnungsbehörden bevorrechtigende Auffassung – gebunden. Trotzdem bzw. aus diesem Grund ist der Insolvenzverwalter jedoch nicht davon entbunden, 36 etwaige Inanspruchnahmen umfassend zu prüfen und verpflichtet, zu versuchen, solche abzuwehren; er kann sich somit nicht seiner eigenen Haftung dadurch entziehen, dass er die Inanspruchnahme der Masse unangefochten hinnimmt. III.
Ordnungsrechtliche Inanspruchnahme als Zustandsstörer in den verschiedenen Insolvenzverfahrensstadien und -konstellationen
1.
Schutzschirmverfahren (§ 270d InsO)
Wurde die vorläufige Eigenverwaltung gemäß § 270d InsO (Schutzschirmverfahren) ange- 37 ordnet, wird dem Schuldner/schuldnerischen Unternehmen ein vorläufiger Sachwalter zur Seite gestellt (§ 270d Abs. 2 InsO). Dieser verfügt nicht über die für die Annahme einer Zustandsstörereigenschaft erforderliche Vermögensverwaltungs- und -verfügungsbefugnis über das schuldnerische Vermögen, sodass eine Inanspruchnahme des vorläufigen Sachwalters selbst unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG – und ohnehin unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BGH – bereits von vornherein ausgeschlossen ist. Zwar dient die Einsetzung eines vorläufigen Sachwalters auch der Sicherung der (zukünf- 38 tigen) Masse, indem dieser die Aufsicht über den vorläufig eigenverwaltenden Schuldner (§ 274 Abs. 2 Satz 1 InsO) hat und Interventionsrechte (vgl. insbesondere § 275 Abs. 1 Satz 2 InsO) ausüben kann. Jedoch führen die Befugnisse des vorläufigen Sachwalters nicht dazu, dass er als Handlungs-, Zustandsstörer oder Betreiber, etwa i. S. des BImSchG, in Anspruch genommen werden könnte. Ein etwaig gegen den vorläufigen Sachwalter erlassener Bescheid der Umweltbehörde ist daher rechtswidrig und zwar sowohl unter Zugrundelegung der bereits benannten Rechtsprechung des BGH, als auch der des BVerwG. Etwas anderes ergibt sich auch nicht in den Fällen, in denen der vorläufige Sachwalter die 39 Kassenführung an sich gezogen hat (§ 275 Abs. 2 InsO) und damit den Zahlungsverkehr des Schuldners kontrolliert. Die Übernahme der Kassenführung durch den vorläufigen Sachwalter ändert nichts an den Kompetenzen des Schuldners im Übrigen: Dieser kann gleichwohl durch seine Rechtshandlungen die Masse verpflichten mit der Folge, dass der vorläufige Sachwalter diese Masseverbindlichkeiten auch bei Kassenführung durch ihn zu begleichen hat.46) Zu beachten ist, dass durch die Inanspruchnahme, die ggf. äußerst kostenintensiv ausfallen 40 kann, die Voraussetzungen für die Eigenverwaltung entfallen können, da die Inanspruchnahme aufgrund der regelmäßig nicht einkalkulierten hohen Kostenbelastungen zu einer Aussichtslosigkeit der Sanierung des schuldnerischen Betriebes führen kann (§ 270e Abs. 1 Nr. 3 InsO). Da die Inanspruchnahme somit erheblichen Einfluss auf den weiteren Verfahrensverlauf haben kann, ist der Sachwalter in diesen Fällen gemäß verpflichtet, den vorläufigen Gläubigerausschuss und das Insolvenzgericht hierüber zu unterrichten. Zugleich sollte der vorläufige Sachwalter in Abstimmung mit dem vorläufig eigenverwaltenden Schuldner die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme umfassend prüfen und auf die Einlegung von Rechtsmitteln zur Abwehr hinwirken. Zu den einzelnen Angriffspunkten und Argumenten wird auf die Ausführungen oben Rz. 26 ff. und unten Rz. 53 ff. verwiesen.
___________ 46) Fiebig in: HambKomm-InsO, § 275 Rz. 17.
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§ 37 2.
Teil V Einzelfragen Sonstige vorläufige Eigenverwaltung (§ 270b InsO)
41 Vorige Ausführungen gelten in jeder Hinsicht auch für den Fall der sonstigen vorläufigen Eigenverwaltung i. S. des § 270b InsO, da die Rolle des vorläufigen Sachwalters und dessen Kompetenzen im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren bei den vorläufigen Eigenverwaltungen gemäß § 270d InsO einerseits und gemäß § 270b InsO andererseits strukturell gleich sind. 3.
„Schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, 22 Abs. 2 InsO)
42 Auch im Fall der „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO) kann der vorläufige Insolvenzverwalter bzw. die von ihm vorläufig verwaltete Masse nicht durch die Umweltbehörde in Anspruch genommen werden. Dies weder als Handlungs- oder Zustandsstörer noch als Betreiber. Die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung verfolgt ausschließlich den Zweck, eine für die Gläubiger nachteilige Veränderung der Vermögenslage des Schuldners zu verhindern. Zwar übt auch der vorläufige Insolvenzverwalter zu diesem Zweck und in dieser Eigenschaft ein privates Amt im eigenen Namen mit Wirkung für das von ihm verwaltete Vermögen aus, ist aber andererseits ebenso wenig wie der Verwalter im eröffneten Verfahren Vertreter des Schuldners.47) 43 In der Praxis wird zumeist lediglich ein Zustimmungsvorbehalt (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO) verbunden mit allenfalls begrenzten Verfügungsbeschränkungen oder Verfügungsbefugnissen angeordnet, wobei es nach der Rechtsprechung des BGH auch unzulässig wäre, bei Nichtanordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter umfassend zu ermächtigen, für den Schuldner zu handeln (Nichtigkeit).48) 44 Kernfunktion des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters ist die Überwachung des Schuldners.49) Zwar folgt daraus auch eine originäre Pflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters zur Sicherung und Erhaltung des Schuldnervermögens.50) Diese führt jedoch nicht bei Bestehen einer entsprechenden Notwendigkeit dazu, dass dem „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter im Bedarfsfall automatisch weitergehende Verfügungsbefugnisse zufallen würden. Vielmehr besteht in einem solchen Fall lediglich die Pflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters, das Gericht hierüber zu informieren, sodass dieses die Sicherungsmaßnahmen verstärken kann.51) Eine Inbesitznahmepflicht bzgl. des Schuldnervermögens trifft den „schwachen“ vorläufigen Verwalter jedoch nicht,52) es sei denn, dass eine solche angeordnet wurde, etwa gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO. Eine Anknüpfung an den Besitz als Zustandsstörer i. S. der eingangs genannten Rechtsprechung des BVerwG scheidet daher in Fällen, in denen lediglich eine „schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet ist, aus. 45 Dies ändert sich auch dann nicht, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter – wie in der Praxis üblich – mit der Fortführung des schuldnerischen Unternehmens beauftragt wird. Denn bei der „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung verbleibt gleichwohl die Verwaltungsund Verfügungsbefugnis bei dem Schuldner, sodass auch der Inhalt des Fortführungsauf___________ 47) Schröder in: HambKomm-InsO, § 22 Rz. 8. 48) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625 = NJW 2002, 3326. 49) BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419 = ZInsO 2011, 1463; Kübler/Prütting/BorkBlankenburg, InsO, § 22 Rz. 124; Schröder in: HambKomm-InsO, § 22 Rz. 115; Meyer in: Heinze/Stürner/ Uhlenbruck, S. 196 f. 50) BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419 = ZInsO 2011, 1463; Haarmeyer in: MünchKommInsO, § 22 Rz. 29. 51) BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419 = ZInsO 2011, 1463. 52) OLG Celle, Beschl. v. 11.12.2002 – 2 W 91/02, ZIP 2003, 87 = ZInsO 2003, 31.
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trages bei angeordneter „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwaltung von dem Inhalt bei angeordneter starker vorläufiger Insolvenzverwaltung abweicht und lediglich zu einem Zusammenwirken des vorläufigen Insolvenzverwalters mit dem Schuldner führt,53) ohne dass jedoch der vorläufige Insolvenzverwalter hierdurch Verfügungskompetenzen erhielte. Bei angeordneter vorläufiger Insolvenzverwaltung ist in der Regel abzusehen, dass diese 46 in einem eröffneten Insolvenzverfahren münden wird. Da die aufgezeigte Rechtsprechung des BVerwG in vielen Fällen zu weitgehend unkalkulierbaren Risiken des Insolvenzverwalters im eröffneten Insolvenzverfahren führen kann, sollte der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter bereits in diesem Verfahrensstadium – sofern absehbar ist, dass die auf Masse zukommenden Belastungen wegen der Beseitigungskosten unverhältnismäßig hoch sein werden – auf eine Stilllegung des Betriebes hinwirken,54) um zumindest eine Verantwortlichkeit als Handlungsstörer im eröffneten Verfahren ebenso wie eine Betreiberhaftung, etwa nach dem BImSchG und sonstigen Gesetzen, die eine Betreiberhaftung regeln, auszuschließen. Soweit es das in diesem Verfahrensstadium absehbare Haftungsrisiko im eröffneten Verfah- 47 ren als Zustandsstörer anbelangt, sollte der vorläufige Insolvenzverwalter in den geeigneten Fällen ins Kalkül ziehen, noch während der vorläufigen Insolvenzverwaltung eine Veräußerung des Betriebes auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung vorzubereiten, um diese punktuell auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung umsetzen zu können. Gelingt dies, bestehen Haftungsrisiken des Verwalters bzw. der durch ihn verwalteten Insolvenzmasse im eröffneten Verfahren nicht. Weder ist der Verwalter in diesen Fällen Handlungsstörer noch Betreiber. Da selbst nach der Rechtsprechung des BVerwG eine nachlaufende Zustandsstörerhaftung des Verwalters nicht besteht,55) kommt somit auch eine Inanspruchnahme des Insolvenzverwalters bzw. der von ihm verwalteten Masse als Zustandsstörer durch die Umweltbehörde in derartigen Konstellationen nicht in Betracht. Allerdings müssen dann i. R. des Kauf-/Übernahmevertrages Regelungen bezüglich der Kontaminationen getroffen werden. Ein Verschweigen des Mangels an dem Kaufgegenstand führt nicht zu entsprechenden Enthaftungen, selbst wenn ein umfassender Haftungsausschluss vereinbart wurde (vgl. § 444 BGB), sondern damit einhergehend wiederum zu einer Belastung der Masse mit Masseverbindlichkeiten, dann in Gestalt von Haftungsansprüchen. Ohnehin verbietet sich ein solches Vorgehen bei ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung. Es ist daher zu empfehlen, die Kontamination und Art und Umfang – soweit bekannt – in dem Kauf-/Übernahmevertrag umfassend zu benennen und die Kontamination i. R. der Kaufpreisfindung „einzupreisen“. 4.
„Starke“ vorläufige Insolvenzverwaltung (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1, 22 Abs. 1 InsO)
Anders, als im vorigen Abschnitt beschrieben, ist die Sachlage bei angeordneter vorläufiger 48 Insolvenzverwaltung gemäß §§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1, 22 Abs. 1 InsO („starke“ vorläufige Insolvenzverwaltung). In diesem Fall geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das schuldnerische Vermögen auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über. Hierdurch ist es der Umweltbehörde grundsätzlich möglich, bereits im vorläufigen Insolvenzverfahren den vorläufigen Insolvenzverwalter in Anspruch zu nehmen. Dies unter den Gesichtspunkten der Zustandsstörerhaftung für Altschäden, wie auch der Verhaltensstörerhaftung für Neuschäden i. R. der Betriebsfortführung und schließlich auch unter dem Gesichtspunkt ___________ 53) Ausführlich Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, Rz. 230. 54) Lwowski/Tetzlaff, NZI 2004, 225 ff., 226. 55) BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51.
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der Betreiberhaftung, sofern die Umweltgesetze eine solche vorsehen, wie etwa nach den Vorschriften des BImSchG56) oder des WHG57). 49 Eine Inanspruchnahme des vorläufigen Insolvenzverwalters wird zwar in der Praxis aufgrund des typischerweise kurzen Zeitraums der vorläufigen Insolvenzverwaltung – zumeist maximal drei Monate – nicht erfolgen, jedoch kann eine solche Inanspruchnahme nicht generell ausgeschlossen werden. In diesem Verfahrensstadium sollte sich der vorläufige Insolvenzverwalter unbedingt mit der Umweltbehörde abstimmen. In der Praxis wird der Hinweis an die Behörde darüber, dass die vorläufige Insolvenzverwaltung lediglich ein Schwebezustand bis zu einer endgültigen Entscheidung über den Insolvenzantrag ist und somit die Inanspruchnahme während dieses Zeitraums der Behörde keine hinreichende Sicherheit verschafft, oftmals dazu führen, dass die Behörde mit dem Erlass eines entsprechenden Bescheides die Eröffnungsentscheidung abwartet. Hierdurch gewinnt der Verwalter wertvolle Zeit, um in die Zukunft planen zu können. Auch wenn die Behörde die Eröffnungsentscheidung nicht abwartet, sondern noch während der vorläufigen Insolvenzverwaltung einen entsprechenden Bescheid gegen den vorläufigen Insolvenzverwalter erlässt, hat der Verwalter die Möglichkeit, durch Einlegung von Rechtsmitteln die Inanspruchnahme anzugreifen, ebenso wie im eröffneten Verfahren, sodass auf die nachstehenden Ausführungen verwiesen werden kann. 50 Unbedingt sollte der Insolvenzverwalter bereits in diesem Fall für eine ausreichende Deckung seiner Vermögensschadenshaftpflichtversicherung sorgen, wobei die hierdurch entstehenden Zusatzkosten („Aufsicherung“) im Verhältnis zu den Kosten der regulären Verwalterhaftpflichtversicherung, die grundsätzlich durch die Verwaltervergütung abgegolten sind, von ihm gemäß § 4 Abs. 3 Satz 2 InsVV als gesonderte Auslagen geltend gemacht und beansprucht werden können.58) 5.
Eröffnetes Verfahren
5.1
Allgemeines
51 Die Inanspruchnahme des Verwalters als Zustands- und/oder Verhaltensstörer bzw. Betreiber im eröffneten Verfahren ist in der Praxis der Regelfall. Ebenso wie im Fall der Inanspruchnahme im vorläufigen Insolvenzverfahren, bei dem die Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Verwalter übergegangen ist, sind Inanspruchnahmen in diesem Verfahrensstadium am haftungsträchtigsten, sodass der Verwalter umgehend für ausreichenden persönlichen Versicherungsschutz Sorge tragen sollte. 52 Zugleich ist zu empfehlen, dass sich der Verwalter umfassend mit der Umweltbehörde dahingehend abstimmt, wie diese die Betriebsfortführung bzw. den gesetzlich geregelten Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis ordnungsrechtlich qualifiziert. Signalisiert die Behörde, dass sie die Betriebsfortführung als Bezugspunkt für eine Haftung auch für entstandene Altlasten nimmt, sollte der Insolvenzverwalter umgehend die Gläubiger hierüber informieren, dies dokumentieren und abwägen, ob eine Betriebsfortführung wirt___________ 56) Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BImSchG) i. d. F. der Bekanntmachung v. 17.5.2013, BGBl. I 2013, 1274, BGBl. I 2021, 123, das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes v. 24.9.2021, BGBl. I 2021, 4458, geändert worden ist. 57) Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz – WHG), v. 31.7.2009, BGBl. I 2009, 2585), das zuletzt durch Art. 2 des Gesetzes zur Umsetzung von Vorgaben der Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Neufassung) für Zulassungsverfahren nach dem BImSchG, dem Wasserhaushaltsgesetz und dem Bundeswasserstraßengesetz, v. 18.8.2021, BGBl. I 2021, 3901, geändert worden ist. 58) Wimmer/Kind in: FK-InsO, § 60 Rz. 41.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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schaftlich für die Insolvenzmasse sinnvoll ist. Ungeachtet dessen trifft den Verwalter, nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von gegen ihn gerichteten Haftungsansprüchen, sondern insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Masseschutzes, die Pflicht, die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme im Vorfeld in formeller und materieller Hinsicht umfassend zu prüfen. 5.2
Formelle Fehler bei Inanspruchnahme
Nicht selten sind bereits die Adressierungen in den entsprechenden Bescheiden fehlerhaft, 53 indem diese an den Schuldner als Bekanntgabe- und Inhaltsadressat gerichtet werden und der Insolvenzverwalter durch die Behörde lediglich („nachrichtlich“) in Kenntnis gesetzt wird. Dies hat zur Folge, dass der Verwaltungsakt dem Insolvenzverwalter gegenüber als nicht bekannt gegeben zu behandeln, nach den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen nichtig und damit unwirksam ist.59) Wurde vor Insolvenzverfahrenseröffnung ein Inanspruchnahmebescheid noch gegen den 54 Schuldner selbst erlassen und will die Behörde im eröffneten Verfahren den Verwalter bzw. die durch den Verwalter verwaltete Masse in Anspruch nehmen und ihre Forderungen nicht lediglich zur Insolvenztabelle anmelden, reicht ein Hinweis der Behörde auf den zuvor gegen den Schuldner erlassenen Bescheid nicht aus. Vielmehr ist die Behörde gehalten, wenn sie ihre Forderungen als Masseverbindlichkeiten geltend machen will, einen neuen Bescheid zu erlassen, da der Insolvenzverwalter weder Vertreter noch Rechtsnachfolger des Schuldners ist.60) Selbstverständlich sollte der Insolvenzverwalter – wie auch sonst im Hinblick auf verwal- 55 tungsrechtliche Inanspruchnahmen – insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Rechtmittelfristen prüfen, ob die nach dem einschlägigen Recht ggf. notwendige, im Bescheid enthaltene Rechtsmittelbelehrung vollständig und inhaltlich richtig ist. 5.3
Materielle Fehler bei Inanspruchnahme
5.3.1 Allgemeine Argumentationslinien Wird der Verwalter bzw. die von ihm verwaltete Masse in Anspruch genommen, obgleich 56 der Verwalter auf dem kontaminierten Grundstück weder zuvor als „starker“ vorläufiger, noch als endgültiger Verwalter einen Betrieb fortgeführt hat, steht also das kontaminierte Grundstück lediglich im Eigentum des Schuldners, kommt nur eine Inanspruchnahme als Zustandsstörer, nicht jedoch als Verhaltensstörer oder Betreiber in Betracht. In diesen Fällen sollte der Verwalter die eingangs (siehe die einzelnen Argumente oben unter Rz. 26 ff.) genannten Kritikpunkte an der Auffassung des BVerwG, wonach bereits die Anordnung der „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung bzw. die Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgrund des Übergangs der Vermögensverwaltungs- und Verfügungsbefugnis zu einer Zustandsstörerhaftung führen soll, aufzeigen und i. R. des Rechtsmittels vortragen.
___________ 59) Vgl. hierzu insb. die Rspr. zum Erlass von Steuerbescheiden gegen den Schuldner, die entsprechend anwendbar ist: BFH, Beschl. v. 26.3.2012 – VII B 191/11, BFH/NV 2012, 1410; BFH, Urt. v. 15.3.1994 – XI R 45/93, BStBl. II 1994, 600 = ZIP 1994, 1371; BFH, Urt. v. 17.3.1970 – II 65/63, BStBl. II 1970, 598; BFH, Beschl. v. 14.5.1968 – II B 41/67, BStBl. II 1968, 503; VG Darmstadt, Beschl. v. 14.3.2008 – 7 L 172/08.DA, openJur 2012, 29850. 60) Vgl. Kuleisa in: HambKomm-InsO, § 80 Rz. 7 m. w. N.; BAG, Beschl. v. 7.4.2003 – 5 AZB 2/03, NZA 2003, 630; BAG, Beschl. v. 9.7.2003 – 5 AZB 34/03, ZIP 2003, 1617 = NZA 2004, 400; LAG Berlin, Beschl. v. 6.12.2002 – 9 Ta 1726/02, NZA 2003, 630; LAG Nürnberg, Beschl. v. 29.3.2004 – 5 Ta 153/03, NZI 2004, 682.
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57 Auch ist der Verwalter gehalten, unter Bezugnahme auf die zivilrechtliche Rechtsprechung, die Begrenzung der Zugriffsmöglichkeiten der Behörde auf die Teile der Masse vorzutragen, die objektbezogen zur Verfügung stehen.61) 5.3.2 Verstoß gegen Treu und Glauben 58 Da auch das Verwaltungsrecht von dem in § 242 BGB niedergelegten Grundsatz von Treu und Glauben geprägt ist,62) und aus einem Verstoß die Rechtswidrigkeit63) bzw. Verwirkung64) eines Bescheides folgen kann, ist die Behörde unter diesem Gesichtspunkt aufzufordern, nachzuweisen, dass sie ihren Handlungspflichten im Vorfeld der Inanspruchnahme nachgekommen ist, die Entstehung der Altschäden zu verhindern65) und dass ihr eine Inanspruchnahme des Schuldners vor etwaig angeordneter „starker“ vorläufiger Verwaltung bzw. vor Insolvenzverfahrenseröffnung nicht möglich war. Nicht selten waren den Behörden Alt-Kontaminationen bereits vor der Anordnung der starken vorläufigen Insolvenzverwaltung bzw. vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bekannt. Von einer umgehenden Inanspruchnahme des Schuldners wurde jedoch entweder unter strategischen Erwägungen abgesehen, etwa weil zu vermuten stand, dass der Schuldner/das schuldnerische Unternehmen wirtschaftlich nicht dazu in der Lage sein würde, die erforderliche Maßnahme durchzuführen, oder aber weil sich der Geschäftsführer des schuldnerischen Unternehmens erfolgreich dem Zugriff der Behörde entzogen hat.66) Das in Kenntnis der Alt-Schäden Abwarten der Behörde, dass eine „starker“ vorläufiger oder aber endgültiger Insolvenzverwalter eingesetzt wird, um diesen und die von ihm verwaltete Masse in Anspruch nehmen zu können, verstößt gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und führt dazu, dass die Inanspruchnahme bzw. entsprechende Forderungen durch die Behörde nicht als Masseverbindlichkeiten, sondern lediglich als Insolvenzforderungen geltend gemacht werden können. 5.3.3 Fehlerhafte Störerauswahl 59 In inhaltlicher Hinsicht ist in Abhängigkeit von der jeweiligen Konstellation auch die Ermessensausübung durch die Behörde kritisch zu überprüfen. Häufig steht das kontaminierte Grundstück zwar im Eigentum des Insolvenzschuldners, wird jedoch nicht durch diesen selbst genutzt, sondern durch einen Dritten, der auf diesem Grundstück einen Betrieb unterhält, durch den die Schäden verursacht wurden. Hierdurch bestehen unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG mehrere Sanierungsverantwortliche, der („starke“ vorläufige) Insolvenzverwalter als Zustandsstörer einerseits und der Nutzer des Grundstücks als Betreiber oder Handlungsstörer andererseits. In einem solchen Fall steht die Auswahl des Sanierungspflichtigen im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde.67)
___________ 61) Pöhlmann, NZI 2003, 486 ff., 489. 62) Vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 26.3.2003 – 9 C 4.02, NVwZ 2003, 993; OVG Münster, Beschl. v. 26.10.1994 – 22 B 997/94, NVwZ 1995, 395; OVG Münster, Urt. v. 27.2.1992 – 13 A 1860/90, NJW 1992, 2245; de Wall, Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, S. 274 ff.; Knieper, Treu und Glauben im Verwaltungsrecht; Brühl, Verwaltungsrecht, S. 32. 63) Wittern/Baßlsperger, Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, S. 56. 64) BVerwG, Urt. v. 10.8.2000 – 4 A 11.99, BVerwGE 44, 343; OVG Münster, Urt. v. 12.4.1989 – 3 A 1637/88, NVwZ-RR 1990, 435. 65) Pöhlmann, NZI 2003, 486 ff., 489. 66) Vgl. Frege/Keller/Riedel, Hdb. InsR, Rz. 958. 67) Oerder/Numberger/Schönfeldt-Oerder, BBodSchG, § 4 Rz. 29 ff.; Landmann/Rohmer-Dombert, UmweltR, § 4 BBodSchG Rz. 17; Finger, NVwZ 2011, 1288 ff., 1289.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
§ 37
Entsprechend den Grundsätzen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts hat sich die 60 Störerauswahl an der Effektivität der Störungsbeseitigung zu orientieren,68) wobei bei gleichwertiger Effektivität der Heranziehung i. R. des Anwendungsbereichs des BBodSchG die Aufzählungsreihenfolge in § 4 Abs. 3 Satz 1 BBodSchG maßgeblich ist und die Behörde x
zunächst den Verursacher,
x
sodann den etwaigen Gesamtrechtsnachfolger,
x
danach den Grundstückseigentümer und
x
schließlich erst den Inhaber der tatsächlichen Gewalt
heranziehen darf.69) Daher ist in den entsprechenden Fällen die Ordnungsverfügung entsprechend und (auch) unter dem Gesichtspunkt der fehlerhaften Ermessensausübung bei der Störerauswahl anzugreifen und die Behörde durch den Insolvenzverwalter darauf hinzuweisen, dass vorrangig ein anderer Pflichtiger heranzuziehen ist. Besonderes Augenmerk hat der (vorläufige) Insolvenzverwalter aufgrund einer verwaltungs- 61 rechtlichen,70) durch das BVerwG bestätigten71) Entscheidung in den Fällen, in denen schuldnerische Flächen einem Dritten aufgrund eines Nutzungsvertrages (Miete, Pacht) zur Ausübung eines Betriebes überlassen wurden, auf den Nutzungsvertrag zu richten. Ergibt sich aus diesem, dass auf den überlassenen Flächen ein kontaminationsgeeigneter Betrieb geführt wird, kann eine Inanspruchnahme nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Zustandsstörung, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Verhaltensstörung in Betracht kommen. Nach der durch das BVerwG bestätigten72) Auffassung des VGH Bayern73) ist darauf abzustellen, ob mit Abschluss des Nutzungsvertrages und in Kenntnis der Gefahrgeneigtheit bei wertender Gesamtschau die polizeirechtliche Gefahrenschwelle durch den Grundstückseigentümer (Schuldner) überschritten wurde, die es rechtfertigt, den Eigentümer/Schuldner auch als Verhaltensstörer heranzuziehen. Die Verwaltungsgerichte haben ein solches Überschreiten der polizeirechtlichen Gefahrenschwelle etwa für den Fall bejaht, dass das Nutzungsverhältnis dem Nutzer auf dem Grundstück die Ablagerung von „Ölabfall“ und „übelriechenden Industrieabfällen“ in einer Sandgrube ohne abdichtende Erdschichten ermöglicht.74) Da der Verwalter sich in solchen Fällen – anders als in den Fällen der reinen Inanspruch- 62 nahme als Zustandsstörer, der er sich zumindest durch Entledigung der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, etwa durch Freigabe – der Inanspruchnahme nicht entziehen kann, sind solche Nutzungsverhältnisse extrem risikoreich, insbesondere nachdem diese gemäß § 108 Abs. 1 InsO nach Insolvenzverfahrenseröffnung qua Gesetz zulasten der Insolvenzmasse fortbestehen. In diesen Fällen sollte der Verwalter umgehend nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens – bei zuvor angeordneter „starker“ vorläufiger Insolvenzverwaltung bereits zu diesem Zeitpunkt – dem Nutzer schriftlich und nachweisbar untersagen, das Grundstück risikoreich zu nutzen, um sich auf diese Weise von der Duldung der risikoreichen ___________ 68) Vgl. auch Begr. RegE Gesetz zum Schutz des Bodens, BT-Drucks. 13/6701, S. 35; Landmann/RohmerDombert, UmweltR, § 4 BBodSchG Rz. 15 ff.; Schäling, NVwZ 2004, 543 ff.; Finger, NVwZ 2011, 1288 ff., 1289. 69) Vgl. Begr. RegE Gesetz zum Schutz des Bodens, BT-Drucks. 13/6701, S. 35; OVG Berlin/Brandenburg, Urt. v. 8.11.2007 – OVG 11 B 14.05, NJ 2008, 281. 70) VGH Bayern, Urt. v. 28.11.2007 – 22 BV 02.1560, IWW 081031. 71) BVerwG, Beschl. v. 28.2.2008 – 7 B 12.08, NVwZ 2008, 684. 72) BVerwG, Beschl. v. 28.2.2008 – 7 B 12.08, NVwZ 2008, 684. 73) VGH Bayern, Urt. v. 28.11.2007 – 22 BV 02.1560, IWW 081031. 74) BVerwG, Beschl. v. 28.2.2008 – 7 B 12.08, NVwZ 2008, 684; VGH Bayern, Urt. v. 28.11.2007 – 22 BV 02.1560, IWW 081031.
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Nutzung des Grundstückes zu distanzieren und dies gegenüber der Behörde nachweisen zu können. Zugleich sollte der Verwalter – um eine Schadensvertiefung zu vermeiden – eine Kündigung des Nutzungsverhältnisses in Betracht ziehen. 5.3.4 Nichtberücksichtigung der Opfergrenze 63 Sofern der (vorläufige) Insolvenzverwalter bzw. die von ihm (vorläufig) verwaltete Masse lediglich als Zustandsstörer und nicht als Verhaltensstörer oder Betreiber in Anspruch genommen wird, etwa weil die kontaminierte Fläche zwar im schuldnerischen Eigentum steht, jedoch i. R. der Betriebsfortführung nicht genutzt wird, es sich mithin eindeutig um Altschäden handelt und Neukontaminationen ausgeschlossen sind, ist auf die Entscheidung des BVerfG vom 16.2.200075) hinzuweisen. Hiernach ist die Belastung eines Zustandsstörers mit Kosten einer Sanierungsmaßnahme nicht als gerechtfertigt anzusehen, soweit sie nicht zumutbar ist, gemessen am Verhältnis des finanziellen Aufwands zu dem Verkehrswert nach Durchführung der Sanierung. In der vorgenannten Entscheidung des BVerfG hat dieses dargelegt, dass das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt sein kann, wenn die kostenmäßigen Belastungen außer Verhältnis zum Wert des Grundbesitzes im sanierten Zustand stehen. 64 Das BVerfG führt hierzu aus, dass zur Bestimmung der Grenze dessen, was einem Eigentümer hierdurch an Belastungen zugemutet werden kann, als Anhaltspunkt das Verhältnis des finanziellen Aufwands zu dem Verkehrswert nach Durchführung der Sanierung dienen kann. Zwar weist das BVerfG darauf hin, dass es sich bei dieser Grenzziehung der Zulässigkeit lediglich um einen Anhaltspunkt handelt, jedoch wird diese Kosten-Nutzen-Abwägung zumeist bei Erlass von Sanierungsanordnungen durch die Umweltbehörden nicht beachtet. 65 Die vorgenannte Entscheidung des BVerfG ist zwar gegen einen Grundstückseigentümer ergangen, jedoch ist diese Rechtsprechung auch im Falle einer Inanspruchnahme des („starken“ vorläufigen) Insolvenzverwalters nutzbar zu machen. Führt eine etwaige Inanspruchnahme bei der Behandlung als Zustandsstörer zu einer so hohen Belastung, dass für die Insolvenzmasse kein Restwert verbleibt, mithin mindestens die durch die Sanierung eintretende Wertsteigerung nicht dazu ausreicht, die aufzuwendenden Mittel (Masseverbindlichkeiten) aufzufangen, so muss hierin die Grenze der zumutbaren Inanspruchnahme und damit die Begrenzung der Haftung der Masse i. R. einer Masseverbindlichkeit gesehen werden. Die Interessenlage ist vergleichbar, sodass bei übergebührlichen, finanziellen Belastungen dieser Einwand des Verwalters Platz greifen kann. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass insoweit die Erwägungen des BVerfG nicht zu einer abschließenden Sicherheit des Verwalters – bei entsprechender Anwendung – führen, da oft die hypothetischen Verkehrswerte nach durchgeführter Sanierung auf dem Markt nicht erzielt werden können. Gleichwohl ist die Entscheidung des BVerfG i. R. des Erlasses von Verfügungen der Umweltbehörde bzgl. insolvenzbefangenen Grundbesitzes von erheblicher Bedeutung, da eine Kosten-Nutzen-Abwägung zumeist in den ordnungsrechtlichen Verfügungen fehlt, sodass diese bereits hierdurch angreifbar sind. 66 Dem („starken“ vorläufigen) Insolvenzverwalter ist daher zu empfehlen, das Rechtsmittel auch und insbesondere auf diesen Umstand zu stützen. Allerdings kann die vorgenannte Argumentation nur eingeschränkt zur Anwendung kommen, wenn der Schuldner das Grundstück in Kenntnis des Vorhandenseins der Altschäden erworben oder – wie zuvor erörtert – bewusst zugelassen hat, dass das Grundstück in risikoreicher Weise genutzt wurde.76) Zwar muss sich der Verwalter dieses Verhalten des Schuldners nicht zurechnen lassen, jedoch ___________ 75) BVerfG, Urt. v. 16.2.2000 – 1 BvR 242/91, BVerfGE 102, 1 = NJW 2000, 2573. 76) Vgl. hierzu auch allgemein VG Regensburg, Urt. v. 7.12.2009 – RO 8 K 09.01987, openJur 2012, 105265.
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führte es zu unbilligen Ergebnissen, wenn etwa der bewusst durch den Schuldner kontaminiert erworbene Grundbesitz auf Kosten der Allgemeinheit saniert und nach Verwertung des sanierten Grundstücks der Erlös unter den Insolvenzgläubigern verteilt würde, die ohne die Sanierung zulasten der Allgemeinheit lediglich geringere Befriedigungsaussichten hätten. 5.3.5 Präventive (negative) Feststellungklage Handelt es sich ausschließlich um Altschäden, deretwegen die Umweltbehörde beabsichtigt, 67 den Verwalter bzw. die von ihm (vorläufig) verwaltete Insolvenzmasse in Anspruch zu nehmen und die Forderungen im Rang des § 55 InsO geltend zu machen, bestehen gute Erfolgsaussichten, diesen Anspruch durch Erhebung einer (negativen) Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO vor den Zivilgerichten abwehren zu können. Die Zivilgerichte werden in aller Regel der eingangs genannten, massefreundlichen Rechtsprechung des BGH folgen. Durch Erhebung einer (negativen) Feststellungsklage mit dem Ziel, festzustellen, dass etwaige Forderungen der Umweltbehörde wegen Altschäden weder im Rang des § 54 InsO noch im Rang des § 55 InsO stehen und damit nur im Rang des § 38 InsO im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können, kann aufgrund des rechtsgebietsübergreifenden Verbots der doppelten Rechtshängigkeit77) verhindert werden, dass die voraussichtlich tendenziell der massefeindlichen Rechtsprechung des BVerwG folgenden VG ihre Forderungen auf dem Verwaltungsrechtsweg mit dem Ziel der Klassifizierung als Masseverbindlichkeit durchsetzen können.78) 5.3.6 Sonderkonstellation: Insolvenzverfahren und Zwangsverwaltungsverfahren Häufig wird das Insolvenzverfahren eröffnet, wobei bzgl. des (kontaminierten) Grundstücks 68 bereits die Zwangsverwaltung angeordnet ist. In einem solchen Fall versagt selbst die eingangs dargestellte, für die Masse nachteilige, Argumentation des BVerwG, dass mit Insolvenzverfahrenseröffnung bzw. Anordnung einer „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gemäß §§ 80, 148 InsO auf den (vorläufigen) Insolvenzverwalter übergeht und dieser hierdurch als Zustandsstörer auch für Alt-Kontaminationen in Anspruch genommen werden kann (siehe hierzu oben Rz. 25 ff.). Denn bei Anordnung der Zwangsverwaltung vor Verfahrenseröffnung hat der Zwangsverwalter das Objekt bereits in Besitz und Verwaltung (§ 152 ZVG). Diese Wirkung der angeordneten Zwangsverwaltung wird gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 InsO auch nicht mit der Insolvenzverfahrenseröffnungsentscheidung durchbrochen. Der Insolvenzverwalter übt in diesen Fällen keinen Besitz und keine Verwaltung bzgl. des Grundstückes aus, sodass es an dem Anknüpfungspunkt einer Zustandsstörerhaftung des Insolvenzverwalters fehlt. Vielmehr kann in diesen Fällen nur der Zwangsverwalter als Zustandsstörer für Alt-Kontaminationen in Anspruch genommen werden.79) Gleiches gilt aus genannten Gründen auch für den Zeitraum einer etwaigen vorangegangenen vorläufigen Insolvenzverwaltung gemäß §§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1, 22 Abs. 1 InsO. Entsprechendes gilt ab dem Zeitpunkt einer nach Insolvenzverfahrenseröffnung angeord- 69 neten Zwangsverwaltung, da selbst nach der „massefeindlichen“ Rechtsprechung des BVerwG bei einer Inanspruchnahme als Zustandsstörer keine nachlaufende Haftung besteht,
___________ 77) Thomas/Putzo-Reichhold, ZPO, § 261 Rz. 10; Zeiß/Schreiber, Zivilprozessrecht, Rz. 346; Zöller-Greger, ZPO, § 261 Rz. 8 ff. 78) Ähnlich auch Pöhlmann, NZI 2003, 486 ff., 489. 79) Vgl. auch VG Dresden, Urt. v. 19.6.2003 – 13 K 862/02, ZfIR 2003, 695 = ZIP 2004, 373; s. ergänzend auch Lwowski/Tetzlaff, NZI 2004, 225 ff., 229.
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mithin die Haftung nach dieser Rechtsprechung ausschließlich an die andauernde Inhaberschaft der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gekoppelt ist.80) 70 Eine Enthaftung kann der Insolvenzverwalter in den Fällen, in denen Grund der Inanspruchnahme ausschließlich die Zustandsstörereigenschaft ist, entgegen dem ersten Anschein nicht dadurch herbeiführen, dass er selbst bezüglich des kontaminierten Grundstücks ein Zwangsverwaltungsverfahren einleitet. Zwar ist der Verwalter gemäß § 165 InsO berechtigt, die Zwangsverwaltung zu betreiben, selbst wenn der Grundbesitz mit Absonderungsrechten belastet ist. Jedoch führt die Einleitung des Zwangsverwaltungsverfahrens durch den Insolvenzverwalter nur zu einer Umschichtung der Problemlagen, da der eingesetzte Zwangsverwalter bei dessen Inanspruchnahme als Zustandsstörer bei dem die Zwangsverwaltung betreibenden Insolvenzverwalter entsprechende Vorschüsse abfordern wird. Diese Vorschussanforderungen hat der Verwalter als Masseverbindlichkeiten zu begleichen, da anderenfalls das Zwangsverwaltungsverfahren gemäß § 161 Abs. 3 ZVG eingestellt wird. Da insoweit mittelbar die Inanspruchnahmekosten wiederum die Insolvenzmasse als Masseverbindlichkeiten treffen, kann auf die beschriebene Weise keine für die Masse günstigere Lösung, namentlich eine Enthaftung, herbeigeführt werden. Insofern ist es für den Insolvenzverwalter und die von ihm verwaltete Masse sinnvoller, auf die Betreibung des Zwangsverwaltungsverfahrens durch den etwaigen Grundpfandgläubiger hinzuwirken. 5.4
Folgen der Inanspruchnahme wegen Alt-Kontaminationen
5.4.1 Zeitpunkt der Anzeige der Masseunzulänglichkeit 71 Konnte eine Inanspruchnahme des Verwalters bzw. der von ihm verwalteten Masse wegen Altschäden nicht abgewendet werden und wurde unanfechtbar festgestellt, dass die hieraus resultierenden Forderungen als Masseverbindlichkeiten zu regulieren sind, wird der Verwalter – in Abhängigkeit von der Höhe der Inanspruchnahme – in einer Vielzahl der Fälle die Masseunzulänglichkeit gemäß § 208 InsO anzeigen müssen. Diesbezüglich ist darauf zu achten, dass die Anzeige zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, da eine vorschnelle Anzeige der Masseunzulänglichkeit – etwa unmittelbar nach Bekanntwerden der Altschäden und noch vor Erlass der Ordnungsverfügung – das Risiko birgt, dass die Umweltbehörde die Forderungen als Neumasseverbindlichkeiten gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO geltend machen kann, die als solche durch den Verwalter reguliert werden müssten.81) Dies wiederum kann gegen den Verwalter gerichtete Haftungsansprüche auslösen, wie eingangs genannt (siehe oben Rz. 13 ff.). 72 Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit zum richtigen Zeitpunkt wird in der Regel dazu führen, dass die Behörde durch den Einsatz öffentlicher Mittel die Maßnahmen zur Erfüllung der Pflichten etwa nach § 4 BBodSchG umsetzt. Hierdurch erwirbt die Behörde für den Fall, dass das kontaminierte, zu sanierende Grundstück im Eigentum des Schuldners steht, einen entsprechenden Wertausgleichsanspruch, den die Behörde gemäß § 25 Abs. 6 BBodSchG durch eine öffentliche Grundstückslast absichern kann. Dies hat zur Folge, dass die Behörde in solchen Fällen einer etwaigen Versteigerung gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG sogar den erstrangigen Grundpfandrechten (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG) vorgeht. 73 Hat die Behörde von der ihr eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht und eine Grundstückslast gemäß § 25 Abs. 6 BBodSchG erworben, wird – in Abhängigkeit von der Höhe des gesicherten Wertausgleichs – auch eine freihändige Verwertung des Grundstückes allenfalls unter sehr erschwerten Bedingungen in Betracht kommen, da die Behörde vor___________ 80) Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145 = NZI 2005, 51. 81) Lwowski/Tetzlaff, WM 2005, 921 ff., 923.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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rangig zu bedienen ist und eine Einigung mit den etwaigen weiteren Grundpfandgläubigern nur selten gelingen dürfte. In jedem Fall hat der Verwalter in gleichgelagerten Situationen auch zu prüfen, ob die Be- 74 hörde bei der Bemessung des Wertausgleichs gemäß § 25 Abs. 4 BBodSchG ordnungsgemäß die Aufwendungen abgezogen hat, die der Schuldner für eigene Maßnahmen der Sicherung oder Sanierung oder für den Erwerb des Grundstücks im berechtigten Vertrauen darauf verwendet hat, dass keine schädlichen Bodenveränderungen oder Altlasten vorhanden sind. 5.4.2 Regressansprüche Nach Regulierung der Kosten als Masseverbindlichkeit aus der Behandlung als Zustands- 75 störer kann ein Haftungsanspruch der Insolvenzmasse gegen den Verursacher der Kontaminierung insbesondere gemäß § 24 Abs. 2 BBodSchG entstehen,82) den der Insolvenzverwalter weiterzuverfolgen hat, wenn die Kontamination nicht durch den Schuldner bzw. schuldnerischen Betrieb selbst verursacht wurde und wenn nicht ein vertraglicher Ausschluss oder eine vertragliche Begrenzung des Schuldners/schuldnerischen Unternehmens mit dem Verursacher vereinbart wurde. Im letztgenannten Fall ist zu prüfen, ob dieser Vertrag anfechtbar ist. Weitere Haftungsansprüche gegen den Verursacher kommen aus Delikt (§§ 823 ff. BGB), 76 § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB, aus § 89 WHG, aus §§ 1 ff. UmweltHG und aus §§ 280 ff. BGB wegen Pflichtverletzung bei Bestehen eines Miet-/Pacht- oder sonstigen Nutzungsvertrages83) sowie gemäß §§ 437 ff. BGB in Betracht, wenn etwa der Schuldner den Grundbesitz in Unkenntnis der Altschäden kontaminiert erworben hat. Auch solche Ansprüche hat der Verwalter (spätestens) nach Inanspruchnahme durch die Umweltbehörde geltend zu machen und weiterzuverfolgen. 5.5
Freigabe gemäß § 32 Abs. 3 InsO bei Inanspruchnahme ausschließlich als Zustandsstörer
Ins Kalkül zu ziehen ist durch den Insolvenzverwalter stets auch, ob eine Freigabe des sa- 77 nierungsbedürftigen Grundstücks in Betracht kommt, wozu eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen ist. Insbesondere bei umfangreich mit Grundpfandrechten belasteten Grundstücken dürfte eine Freigabe des sanierungsbedürftigen Grundstückes zu erwägen sein, es sei denn, dass bei hypothetischer Betrachtung nach Durchführung der Sanierungsmaßnahme eine derart hohe freie Spitze erzielt werden kann, dass sämtliche als Masseverbindlichkeit für die Sanierung aufgewandten Beträge in die Insolvenzmasse zurückfließen und darüber hinaus ein Übererlös als freie Masse verbleibt. In der Praxis hat der Versuch des Verwalters, sich der Inanspruchnahme als Zustandsstörer 78 für Altschäden durch isolierte Freigabe der Alt-Kontaminationen unter Beibehaltung des kontaminierten Grundstücks im Übrigen zu entziehen, vor den VG nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Es ist davon auszugehen, dass nicht nur die Verwaltungsgerichte, sondern auch die Zivilgerichte ein solches „cherry picking“ auch zukünftig nicht zulassen (können), da die Freigabe sachenrechtlich eine Verfügung darstellt und die Freigabe von Massegegenständen daher den sachenrechtlichen Prinzipien, insbesondere dem Spezialitätsprinzip, zu folgen hat. Der freigegebene Gegenstand müsste daher konkret bestimm-, in___________ 82) Umfassend zum Anspruch gemäß § 24 Abs. 2 BBodSchG: Heßler, Der Störerausgleich im Bodenschutzrecht. 83) Vgl. auch Grunwaldt, Zivilrechtliche Ausgleichsansprüche unter mehreren polizeirechtlichen Störern, S. 57 ff.
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dividualisier- und unterscheidbar sein,84) was bei Bodenkontaminationen aufgrund der Vermischung der schädlichen Stoffe mit dem Boden nicht möglich ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die kontaminierten Flächen von den nicht-kontaminierten Flächen räumlich trennbar sind. In diesem Fall ist durch den Verwalter in Erwägung zu ziehen, gemäß § 19 BauGB das Grundstück entsprechend aufzuteilen – sofern dies sinnvoll möglich ist – und die kontaminierten Flächen hiernach freizugeben.85) 79 Weder der BGH noch das BVerwG beanstanden eine Freigabe des kontaminierten Grundbesitzes zur Vermeidung der Inanspruchnahme als Zustandsstörer, sodass die Freigabe als ultimo-ratio-Lösung dem Verwalter zur Verfügung steht, wenn die Inanspruchnahme durch die Behörde ausschließlich auf die Inhaberschaft der tatsächlichen Gewalt (Zustandsstörer) gestützt werden kann. IV.
Besonderheiten bei Inanspruchnahme als Handlungsstörer oder Betreiber
80 Soweit es Neu-Schäden anbelangt, also solche, die i. R. der Betriebsfortführung unter Aufsicht und Verantwortung des („starken“ vorläufigen) Verwalters in der Insolvenz entstehen, sind diese als Masseverbindlichkeiten zu regulieren, da sie direkt auf Verwalterhandeln zurückführbar sind.86) Daher hat der Verwalter i. R. der Betriebsfortführung besondere Sorgfalt darauf zu verwenden, dass im fortgeführten Betrieb ordnungsgemäß mit risikoreichen Stoffen umgegangen wird. Dies insbesondere nachdem der Verwalter – anders als im Fall der Verantwortlichkeit als reiner Zustandsstörer – sich bzw. die verwaltete Insolvenzmasse seiner/ihrer Verantwortung nicht durch eine Freigabe der Kontaminationen oder des Grundstückes entziehen kann,87) da die Verhaltensstörerhaftung nicht an einen Zustand, sondern an ein Verhalten anknüpft, welches dem Verwalter konkret zuzurechnen ist. 81 Als besonders problematisch sind die Fälle zu beurteilen, in denen der Verwalter den Betrieb entweder als „starker“ vorläufiger oder endgültiger Insolvenzverwalter auf einem Betriebsgrundstück fortführt, der Grundbesitz bereits mit Alt-Kontaminationen belastet ist und i. R. der Betriebsfortführung entweder keine Neu-Kontaminationen hinzukommen, oder aber solche durch den Verwalter beseitigt werden. Anknüpfungspunkt für eine Inanspruchnahme ist in diesen Fällen zumeist eine Anlagen-Betreiberhaftung, da es sich in einer Vielzahl der Fälle um eine Anlage i. S. der §§ 4 ff. BImschG bzw. des UmweltHG handeln wird88) und diese Art der Inanspruchnahme des Verwalters bzw. der von ihm verwalteten Masse durch die Umweltbehörde auch für Altschäden scheinbar erleichtert möglich ist: Für diese Fälle hatten die VG entschieden, dass der Verwalter durch die Betriebsfortführung in der Insolvenz unter seiner Aufsicht und Verantwortung als Betreiber der Anlage zu behandeln wäre und daher auch Alt-Kontaminationen durch diesen zu beseitigen sind bzw. die Ersatzvornahmekosten Masseverbindlichkeiten seien.89)
___________ 84) Vgl. ergänzend auch AG Waiblingen, Beschl. v. 4.3.2011 – M 955/11, DGVZ 2011, 94 f.; zum Spezialitätsprinzip/Bestimmtheitsgrundsatz s. a. Zimmermann, Mobiliar- und Unternehmenshypotheken in Europa, S. 206. 85) Vgl. auch Pöhlmann, NZI 2003, 486 ff., 489. 86) Nerlich/Römermann-R.-D. Mönning, InsO, 24. Lfg., § 22 Rz. 163, 166; Nerlich/Römermann-Andres, InsO, 24. Lfg., § 55 Rz. 76. Kübler/Prütting/Bork-Blankenburg, InsO, § 22 Rz. 89. 87) Schmidt, NJW 2010, 1489, 1493; Piekenbrock in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsR, § 80 InsO Rz. 35. 88) Subsidiär kommen auch Inanspruchnahmen aufgrund des Gesetzes über die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (Umweltschadensgesetz – USchadG) i. d. F. der Bekanntmachung v. 5.3.2021, BGBl. I 2021, 346, in Betracht. 89) BVerwG, Urt. v. 22.10.1998 – 7 C 38.97, ZIP 1998, 2167; OVG Lüneburg, Beschl. v. 7.1.1993 – 7 M 5684/92, ZIP 1993, 1174; OVG Lüneburg, Beschl. v. 9.9.1994 – 7 M 5048/93, NJW 1995, 413.
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Die Behandlung von Umweltkontaminationen in der Betriebsfortführung
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Zutreffend ist hierbei zwar, dass der Insolvenzverwalter bei Weiterbetrieb der Anlage 82 zumindest wie der Anlagenbetreiber zu behandeln ist. Dies führt jedoch nicht dazu, dass über diesen, im Verhältnis zur Zustandsstörerhaftung anders gearteten Ansatz der Haftungsanknüpfung die Masse verpflichtet werden kann, Alt-Kontaminationen vorrangig zulasten der Masse zu begleichen. Auch hierbei wird durch die VG die in § 38 InsO abschließend geregelte Zäsur verkannt, die eine zwingende Unterscheidung auf den Zeitpunkt des Entstehens einer Forderung abstellt: Die Betriebsfortführung durch den „starken“ vorläufigen oder endgültigen Insolvenzverwalter verläuft unter gänzlich anderen Prämissen als durch den Schuldner bis zum Zeitpunkt der Anordnung der „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung bzw. der Verfahrenseröffnung. Nach dem gesetzgeberischen Leitbild des (vorläufigen) Insolvenzverfahrens wird die Betriebsfortführung aus wohlerwogenen Gründen gerade nicht mit einer Verantwortlichkeit für und Belastung durch die Vergangenheit vollzogen. Auch i. R. der Inanspruchnahme als Betreiber ist der (vorläufige) Insolvenzverwalter nicht Vertreter oder Rechtsnachfolger mit einer Wirkung, die einem Betriebsübergang gleichkäme, die es rechtfertigen könnte, dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter auch die Verantwortung für Alt-Schäden aufzuerlegen. Aus einer Entscheidung des BVerwG aus dem Jahr 200490) ergibt sich, dass diese Grund- 83 sätze nunmehr auch von den VG zu berücksichtigen sind, sodass der Verwalter die Behörde auf diese Entscheidung – auch wenn es sich hierbei nicht um eine Grundsatzentscheidung handelt – bei einer Inanspruchnahme für Alt-Kontaminationen als Betreiber hinweisen sollte. V.
Besonderheiten bei Emissionsberechtigungen
Wie eingangs genannt, können Risiken für die Betriebsfortführung unter Restrukturierungs- 84 und Insolvenzbedingungen nicht nur aus Grund und Boden oder sonstigen Altlasten, sondern auch bei Betreibern emissionshandelsrechtlicher Anlagen oder Luftfahrtgesellschaften bestehen. Der Europäische Emissionshandel (EU-ETS) ist das Ergebnis des internationalen Klimaschutzabkommens von Kyoto und bildet seit dem Jahr 2005 das zentrale Klimaschutzinstrument der EU. Erklärtes Ziel ist, die Treibhausgasemissionen der Energiewirtschaft und der energieintensiven Industrie zu reduzieren.91) Hierzu wurde das Prinzip des „cap & trade“ implementiert, wonach die Staatengemeinschaft durch die Vorgabe des „cap“ (Obergrenze) den jährlichen Treibhausgasausstoß insgesamt festlegt und im Wege des „trade“ Emissionszertifikate erworben werden können. Verfügt ein emittierender Betreiber nicht über hinreichende Emissionsberechtigungen („Zertifikate“) muss er diese handelbaren Zertifikate hinzuerwerben und gemäß § 30 Abs. 1 TEHG92) bis zum 30.4. des Folgejahres entsprechende Nachweise führen, dass die durch ihn verursachten Emissionen im Vorjahr durch eine entsprechende Anzahl von Zertifikaten gedeckt war. Gerät ein Betreiber in die Insolvenz und sind die tatsächlichen Emissionen nicht durch 85 ausreichend Zertifikate unterlegt, stellt sich die Frage, wie mit den rückständigen Zertifikaten bis zum Zeitpunkt der Insolvenzverfahrenseröffnung umzugehen ist. Aus Sicht eines Insolvenzrechtlers stellen solche „Forderungen“ prima facie Insolvenzforderungen im Rang des § 38 InsO dar, da sie dem Grunde nach vor Insolvenzverfahrenseröffnung entstanden sind. Zudem hat Gesetzgeber in § 25 Abs. 3 Satz 2 TEHG geregelt, dass bei einer Betriebsfortführung auch die Abgabenpflichten fortbestehen. Es wäre jedoch vorschnell, hieraus ___________ 90) BVerwG, Urt. v. 22.7.2004 – 7 C 17.03, ZIP 2004, 1766 ff., 1768 = NZI 2005, 55. 91) Seit dem Jahr 2012 nimmt der innereuropäische Luftverkehr am Europäischen Emissionshandel teil. 92) Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz – TEHG), v. 21.7.2011, BGBl. I 2011, 1475, das zuletzt durch Art. 18 des Gesetzes v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3436, geändert worden ist.
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§ 37
Teil V Einzelfragen
im Umkehrschluss zu folgern, dass damit zum einen im Fall einer endgültigen Betriebsstilllegung vor Verfahrenseröffnung keine Abgabenpflichten mehr zu erfüllen wären und andererseits, dass bei einem Weiterbetrieb auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung eine Zäsur eintritt und rückständige Abgabenverpflichtungen nur Insolvenzforderungen wären.93) Im Wesentlichen wird argumentiert, dass eine Einordnung der Abgabenpflicht als Insolvenzforderung schon deswegen ausgeschlossen sei, weil es sich um eine unvertretbare Handlung handele und daher durch den Insolvenzverwalter zu erfüllen wäre. Bemerkenswert ist hierbei indes, dass diese unvertretbare Handlung eine Masseverbindlichkeit darstellen soll.94) Masseverbindlichkeiten sind jedoch stets auf Geldleistungen gerichtet, was bei Annahme einer Unvertretbarkeit der Handlung und in Anbetracht dessen auch die Sanktionszahlung gemäß § 30 Abs. 1 TEHG gemäß § 30 Abs. 3 TEHG nicht von der Abgabenpflicht entbindet, widersprüchlich erscheint. 86 Infolge der COVID-19-Krise, jedoch auch in Folge der Ukraine-Krise 2022, welche beide die Absatzmärkte stark getroffen haben, werden emittierende Betreiber besonders auf die Probe gestellt, wenn diesen aus den Vorjahren Umsätze und damit einhergehend Liquidität fehlt, um die etwaig notwendigen Zertifikate fristgerecht hinzukaufen zu können. Folgt man der Ansicht, dass die Anforderungen des TEHG keine Insolvenzforderungen sein können, potenzieren sich die Probleme: Nicht nur, dass die Zertifikate nicht erworben werden können, vielmehr werden dann auch zugleich die Sanktionen gemäß § 30 TEHG zu zahlen sein, was somit jedes Sanierungsvorhaben von vornherein als aussichtslos erscheinen lässt. 87 Selbst eine sanierende Übertragung durch Verkauf des Unternehmens in Form eines Asset Deals würde, wenn man der Rechtsprechung des VG Berlin folgt,95) nicht zu einem Sanierungserfolg führen können, da der Erwerber als Anlagenbetreiber nach vorgenannter Rechtsprechung auch für die nicht erfüllten Verpflichtungen aus der Vergangenheit haftet (Nachsorgepflicht). Auch wenn der grundsätzliche Wunsch, den Umweltschutzvorschriften umfassende Geltung zu verschaffen, nachvollziehbar ist, bedarf es für Restrukturierungsund Insolvenzszenarien Ausnahmeregelungen, da die Stilllegung von für die Gesamtwirtschaft benötigten Betrieben mit der Folge des Verlustes von Arbeitsplätzen und dem Wertverfall von Grundstücken und Anlagen kein nachvollziehbares ordnungs- oder wirtschaftspolitisches Ziel sein kann.
___________ 93) Vgl. hierzu ausführlich Schumacher, ZInsO 2020, 1916 ff. 94) Schumacher, ZInsO 2020, 1916 ff. 95) VG Berlin, Urt. v. 1.7.2021 – 10 K 501.19, openJur 2021, 22730.
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§ 38 Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung Wirth/Göb
Übersicht I. 1. 2. 3.
4.
Wettbewerbsrecht........................................ 1 Rechtliche und tatsächliche Ausgangslage ................................................ 1 Konflikt zwischen Insolvenz- und Wettbewerbsrecht ........................................ 5 Entwicklungen des UWG und Einfluss auf das Insolvenzverfahren .......................... 6 3.1 Rechtslage nach dem UWG bis 2004 ............................................ 7 3.2 Rechtslage nach der Reform von 2004 und den Novellierungen von 2008 und 2015......................... 10 3.3 Weitere Änderungen des UWG bis 2022 .......................................... 13 Fallgruppen nach aktuellem Recht............ 15 4.1 Reklame mit Insolvenzwarenverkauf bei Betriebsfortführung – Irreführung nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG? .................................. 16 4.1.1 Schutzzweck des § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG .................................... 17 4.1.2 Irreführung durch Betriebsfortführung? .................................. 19 4.1.3 Irreführung durch Preissenkungen ohne Ausverkauf?.......................... 26 4.1.4 Irreführung durch Zukauf von Waren beim Insolvenzwarenverkauf? ................................ 30 4.1.5 Irreführung durch Rückkehr zu alten Preisen? ............................ 34 4.2 Irreführung durch Unterlassen bei Verschweigen der Insolvenz, § 5a Abs. 1 UWG?......................... 38 4.3 Kein Verstoß gegen Mitbewerberschutz durch PreisDumping (§ 4 Nr. 4 UWG).......... 42 4.4 Insolvenzwarenverkauf als intransparente Verkaufsförderungsmaßnahme (§§ 5, 5a Abs. 2 UWG)?............................... 44
4.4.1
Insolvenzwarenverkauf als Verkaufsförderungsmaßnahme?......... 45 4.4.2 Verstoß gegen § 5a Abs. 2 Nr. 1 UWG wegen fehlenden Hinweises auf Betriebsfortführung? .... 48 4.4.3 Verstoß gegen § 5a Abs. 2 Nr. 1 UWG wegen fehlenden Hinweises auf zeitlichen Rahmen des Insolvenzwarenverkaufs? ....... 49 5. Zusammenfassung...................................... 52 II. Lizenzen und immaterielle Wirtschaftsgüter................................................ 55 1. Wirtschaftliche Bedeutung für die Betriebsfortführung ....................................... 55 2. Rechtliche Ausgangslage ........................... 59 3. Betriebsfortführung und einzelne Immaterialgüterrechte .................................... 64 3.1 Urheberrechte................................ 64 3.2 Patentrechte................................... 68 3.3 Arbeitnehmererfindungen ............ 72 3.4 Gebrauchsmusterrechte ................ 74 3.5 Designs........................................... 75 3.6 Markenrechte................................. 76 3.7 Knowhow....................................... 77 3.8 Firma .............................................. 78 3.9 Unternehmensgeheimnisse........... 79 3.10 Domains......................................... 80 4. Betriebsfortführung und Lizenzen ........... 81 4.1 Lizenzen in der Insolvenz des Lizenzgebers .................................. 82 4.1.1 Voraussetzungen des Wahlrechts .............................................. 83 4.1.2 Ausübung des Wahlrechts und dessen Folgen ................................ 87 4.1.2.1 Ausschließliche Lizenzen.............. 88 4.1.2.2 Einfache Lizenzen ......................... 89 4.2 Lizenzen in der Insolvenz des Lizenznehmers............................... 95 5. Sicherungsrechte an immateriellen Wirtschaftsgütern und Lizenzen – Einzelne Aspekte ....................................... 98
Literatur: Bausch, Patentlizenz und Insolvenz des Lizenzgebers, NZI 2005, 289; Benkard, PatG, 11. Aufl., 2015; Berger, Immaterielle Wirtschaftsgüter in der Insolvenz, ZInsO 2013, 569; Berger, Lizenzen in der Insolvenz des Lizenzgebers, GRUR 2013, 321; Berger/Wündisch, Urhebervertragsrecht, 2. Aufl., 2015; Bork, Die Doppeltreuhand in der Insolvenz, NZI 1999, 337; Breithaupt/Ottersbach, Kompendium Gesellschaftsrecht, 2010; Brinkmann, Schiedsverfahren über Lizenzen in der Insolvenz des Lizenzgebers – eine Gleichung mit drei Unbekannten, NZI 2012, 735; Brinkmann, Wege aus der Insolvenz eines Unternehmens – oder: Die Gesellschafter als Sanierungshindernis, WM 2011, 97;
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§ 38
Teil V Einzelfragen
Dahl/Schmitz, Das Schicksal der Lizenz in der Insolvenz des Lizenzgebers – der erneut gescheiterte Versuch einer gesetzlichen Regelung und deren Notwendigkeit, BB 2013, 1032; Dahl/Schmitz, Die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen in der Insolvenz des Lizenzgebers, NZI 2013, 878; Dreier/Schulze, UrhG, Kommentar, 5. Aufl., 2015; Eichmann/v. Falckenstein/Kühne, DesignG, Kommentar, 5. Aufl., 2015; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, 11. Aufl., 2019; Enders, Know How Schutz als Teil des geistigen Eigentums, GRUR 2012, 25; Fezer/Büscher/Obergfell (Hrsg.), Lauterkeitsrecht, Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), Bd. 2, 3. Aufl., 2016; Fezer, Markenrecht, Kommentar, 4. Aufl., 2009; Fischer, Nicht ausschließliche Lizenzen an Immaterialgüterrechten in der Insolvenz des Lizenzgebers, WM 2013, 821; Freier, Insolvenz des Lizenzgebers und/oder Kooperationspartners – Risikominimierung durch Vertragsgestaltung, NZI 2016, 857; v. Frentz/Masch, Lizenzverträge in der Insolvenz des Lizenzgebers nach den Entscheidungen Reifen Progressiv, Vorschaubilder, M2Trade und Take Five des Bundesgerichtshofes – insolvenzfester Fortbestand der Lizenzen, ZUM 2012, 886; v. Frentz/Masch, Die Insolvenzfestigkeit von Nutzungsrechten an Schutzrechten, ZIP 2011, 1245; Ganter, Patentlizenzen in der Insolvenz des Lizenzgebers, NZI 2011, 833; Gloy/Loschelder/ Erdmann (Hrsg.), Handbuch des Wettbewerbsrechts, 5. Aufl., 2019; Götting/Nordemann (Hrsg.), UWG Handkommentar, 2. Aufl., 2013; Gundlach/Frenzel/Schmidt, N., Die Verwertungsbefugnis aus §§ 166 ff. InsO, NZI 2001, 119; Himmelmann/Leuze/Rother/Kaube/Trimborn, ArbEG, Kommentar, 8. Aufl., 2007; Hölder/Schmoll, Insolvenz des Lizenzgebers, GRUR 2004, 830; Kilian/Heussen, Computerrechts-Handbuch, Loseblatt, 37. EL, 2021; Köhler/Bornkamm/Feddersen, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 40. Aufl., 2022; Koehler/Ludwig, Die Behandlung von Lizenzen in der Insolvenz, NZI 2007, 79; Koós, Lizenzvereinbarungen in der Insolvenz, MMR 2017, 13; Loewenheim, Handbuch des Urheberrechts, 2. Aufl., 2010; Marotzke, Das M2Trade-Urteil des BGH v. 19.2.2012 (ZInsO 2012, 1611): Ein Stolperstein auf dem Weg zur gesetzlichen Regelung des Insolvenzfestigkeit von Lizenzen?, ZInsO 2012, 1737; Marotzke, Die dinglichen Sicherheiten im neuen Insolvenzrecht, ZZP 109 (1996) 429; McGuire, Nutzungsrechte an Computerprogrammen in der Insolvenz – Zugleich eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen, GRUR 2009, 13; Mes, PatG, GebrMG, Kommentar, 4. Aufl., 2015; Meyer-van Raay, Der Fortbestand von Unterlizenzen bei Erlöschen der Hauptlizenz, NJW 2012, 3691; Ohly/Sosnitza, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb mit Preisgabenverordnung, Kommentar, 7. Aufl. 2016; Raeschke-Kessler/Christopeit, Sukzessionsschutz für Lizenzketten (UrhG), ZIP 2013, 345; Rüther, Anforderungen an beiderseitige Erfüllung eines Lizenzvertrags – Anmerkung zum Urteil des BGH vom 21.10.2015, NZI 2016, 103; Schmid/Kampshoff, Lizenzen in der Insolvenz – (Wie) kann sich der Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers absichern?, GRUR-Prax 2009, 50; Schmittmann/Ademi, Immaterielle Wirtschaftsgüter in der Insolvenz, DZWIR 2022, 342; Scholz, Zum Fortbestand abgeleiteter Nutzungsrechte nach Wegfall der Hauptlizenz – Zugleich Anmerkung zu BGH „Reifen Progressiv“, GRUR 2009, 1107; Simon, Der Debt Equity Swap nach dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), CF Law 2010, 448; Steinbeck, Die Verwertbarkeit der Firma und der Marke in der Insolvenz, NZG 1999, 133; Tappmeier, Wettbewerbsrechtliche Probleme des Konkurswarenverkaufs, ZIP 1992, 679; Ullmann (Hrsg.), juris PraxisKommentar UWG, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 4. Aufl. 2016; Werkmeister, Insolvenzfeste Lizenzverträge, (Teil I) GRUR-Prax 2021, 661, (Teil II), GRUR-Prax 2021, 695; Wallner, Sonstige Rechte in der Verwertung nach den §§ 166 ff. InsO, ZInsO 1999, 453.
I.
Wettbewerbsrecht
1.
Rechtliche und tatsächliche Ausgangslage
1 Wird das Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Unternehmens eröffnet, so haben die Gläubiger die Wahl, ob sie das Unternehmen zerschlagen und den Erlös verteilen wollen oder ob das Unternehmen mit dem Ziel der Sanierung fortgeführt werden soll, § 1 Satz 1 InsO.1) Der Liquidation wird regelmäßig eine temporäre Betriebsfortführung vorangehen, um die Waren i. R. des allgemeinen Geschäftsganges zu veräußern, womit häufig erhebliche Preissenkungen einhergehen. 2 Aber auch bei der Betriebsfortführung kommt es oft zu insolvenzbedingten Verkäufen. Jedenfalls dann, wenn sich das bisher verfolgte Konzept des Unternehmens gerade nicht als effektiv herausgestellt hat. Die Betriebsfortführung wird dann zu einer Neuausrichtung am Markt genutzt. Produkte, die im neuen Sortiment nicht mehr vorgesehen sind, werden möglichst zügig verkauft. Hierbei ist es für den Insolvenzverwalter besonders reizvoll mit der Insolvenz für den Verkauf der Waren zu werben, weil diese dem Kunden besonders ___________ 1)
Kübler/Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 1 Rz. 16.
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Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 38
günstige Preise verspricht. Der Erlös aus dem Warenverkauf, kann dann wieder in andere Marketingkonzepte investiert werden. Fällt die Wahl auf die Betriebsfortführung, so hat der Insolvenzverwalter unverzüglich die 3 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sanierung zu schaffen. Die Insolvenz kann dabei durchaus auch positive Effekte auf den operativen Fortgang des Unternehmens haben. So sind Insolvenzen von Unternehmen, die zumindest regional bedeutsam sind immer mit einer Publizitätswirkung verbunden und finden in den lokalen Medien und ggf. auch überregionalen oder gar bundesweiten Medien Erwähnung. Nicht selten schafft dies einen Imagegewinn, etwa durch die Solidarisierung der Öffentlichkeit mit den nun von der Arbeitslosigkeit bedrohten Mitarbeitern. Das Bemühen des Insolvenzverwalters, den Betrieb fortzuführen wird zudem von einer 4 Reihe gesetzlicher Rechtsfolgen der Insolvenz unterstützt. So kann der Insolvenzverwalter unter Ausnutzung des Insolvenzgeldzeitraums zusätzliche Liquidität schöpfen. Zudem müssen Altverbindlichkeiten nicht mehr bedient werden, insbesondere entfällt der Kapitaldienst nebst Zinszahlungen.2) Schließlich kann sich der Insolvenzverwalter i. R. von § 103 InsO von unliebsamen Verträgen lösen und muss teilweise nur verkürzte Kündigungsfristen beachten. 2.
Konflikt zwischen Insolvenz- und Wettbewerbsrecht
Da das insolvente Unternehmen unter der Regie des Insolvenzverwalters weiterhin am Markt 5 teilnimmt, ist es auch dessen gesetzlichen Regeln unterworfen. Insbesondere muss das Unternehmen auch in der Insolvenz die Regelungen des UWG beachten, insofern besteht kein Insolvenzprivileg im Wettbewerbsrecht.3) Gemäß § 1 UWG dient das Gesetz dem Schutz der Mitbewerber, der Verbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen.4) Zugleich schützt es das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb, § 1 Satz 2 UWG.5) Gerade das Ausnutzen der Insolvenz zu Werbezwecken birgt Konfliktpotential mit dem Lauterkeitsrecht.6) Das insolvente Unternehmen ist ohne sanierungsrechtliche Hilfen nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Konkurrenz hat sich mit besseren Strategien durchgesetzt und die Gunst der Kunden erworben. Mit Hilfe des Insolvenzverfahrens kann dieser Erfolg nun aber konterkariert werden. Durch den Werbeeffekt der Insolvenz und die gesetzlichen Erleichterungen wird das Unternehmen nun möglicherweise für sein schlechtes Abschneiden am Markt zulasten der anderen Marktteilnehmer auch noch belohnt. Es droht eine Verzerrung des Wettbewerbs. Auf der anderen Seite stehen die Interessen der Gläubiger, an einer möglichst hohen Befriedigung ihrer Forderungen. Auch diesen Interessen muss bei der Beantwortung der Frage, inwieweit die Ausnutzung der Insolvenz zu Werbezwecken zulässig ist, Rechnung getragen werden. 3.
Entwicklungen des UWG und Einfluss auf das Insolvenzverfahren
Das UWG unterlag in der Vergangenheit einigen Veränderungen, die auch Einfluss auf 6 den Schutzumfang hatten. Dies hatte auch Einfluss auf die Frage, inwieweit die Werbung mit der Insolvenz wettbewerbsrechtlich zulässig ist.
___________ 2) 3) 4) 5) 6)
§ 39 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Tappmeier, ZIP 1992, 679; Ott/Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 116. Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG, § 1 Rz. 9, 14. Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG, § 1 Rz. 42. Ott/Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 116.
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§ 38 3.1
Teil V Einzelfragen Rechtslage nach dem UWG bis 2004
7 Bis 2004 beinhaltete das UWG ein sehr restriktives Wettbewerbsrecht.7) Die Problematik des Insolvenzwarenverkaufs war in § 6 UWG a. F. spezialgesetzlich geregelt, der einen abstrakten Gefährdungstatbestand darstellte.8) Danach war eine Reklame mit dem Hinweis, die Ware komme aus einer Insolvenzmasse nur zulässig, wenn diese tatsächlich aus einer solchen stammte und vom Insolvenzverwalter selbst verkauft wurde. Die Ware durfte nicht durch die Hände Dritter gegangen sein, weil man anderenfalls die Gefahr einer Täuschung der Kunden sah. Diese würden nicht davon ausgehen, dass eine Ware, die als Insolvenzware bezeichnet wurde noch durch die Hände weiterer Händler gegangen sei, die den Preis durch ihre Gewinnspanne erhöht hätten.9) 8 Des Weiteren durfte nach überwiegender Auffassung mit dem Begriff „Insolvenzwarenverkauf“ nur geworben werden, wenn das Unternehmen später liquidiert werden sollte.10) Im Falle einer Sanierung bzw. übertragenden Sanierung war dies nicht zulässig, da der Verbraucher die Erwartung habe, gerade durch den Ausverkauf der Ware besonders günstige Preise erzielen zu können. Vor allem sollten auf diese Weise die Mitbewerber geschützt werden. Durch die Werbemaßnahme des Rivalen verlieren diese wiederum Marktanteile. Dies mögen sie noch toleriert haben, wenn der insolvente Konkurrent danach liquidiert wird und vom Markt verschwindet. Müssen sie allerdings zusehen, wie das insolvente Unternehmen wieder erstarkt, werden sie auf die Einhaltung der allgemeinen Regeln bestehen. Vor 2004 folgte das UWG diesem Interesse und erlaubte die Werbung nur im Falle der Liquidation. 9 Auch §§ 7, 8 UWG a. F. stellten Bedingungen auf, die einen Warenverkauf erschwerten. Unter gewissen Voraussetzungen wurde dieser als Sonderveranstaltung qualifiziert, woran wiederum erschwerte Anforderungen gestellt wurden. So musste für Sonderveranstaltungen ein genauer Zeitrahmen angegeben werden. Ware, die nicht innerhalb dieses Zeitfensters abgesetzt werden konnte, durfte nicht mehr im freien Verkauf angeboten werden. 3.2
Rechtslage nach der Reform von 2004 und den Novellierungen von 2008 und 2015
10 Im Jahre 2004 kam es zu einer grundlegenden Reform des UWG. Ziel war es das nationale Wettbewerbsrecht an das der anderen EU-Staaten anzupassen. Dabei wurden die Zwecke Modernisierung, Europäisierung, Kodifizierung und Intensivierung verfolgt.11) In diesem Zuge wurden die abstrakten Gefährdungstatbestände wie § 6 UWG a. F. und die Regeln für Sonderveranstaltungen gemäß § 8 UWG a. F. abgeschafft. Nun boten sich mehr Möglichkeiten für Werbeaktionen. Die Grenze bildete das Irreführungsverbot nach § 5 UWG.12) 2008 war dann eine erneute Überarbeitung des UWG notwendig, um dieses an die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vom 11.5.2005 (Richtlinie 2005/29/EG) anzupassen.13) Ziel war eine Vollharmonisierung der Wettbewerbsgesetze der Mitgliedstaaten im Binnenmarkt.14) ___________ Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, § 1 Rz. 16 ff. Köhler/Bornkamm/Feddersen-Bornkamm, 33. Aufl., 2015, UWG, § 5 Rz. 1.88. Köhler/Bornkamm/Feddersen-Bornkamm, 33. Aufl., 2015, UWG, § 5 Rz. 6.28. Tappmeier, ZIP 1992, 679, 681. Gloy/Loschelder/Erdmann-Erdmann, Hdb. Wettbewerbsrecht, § 1 Rz. 18; Köhler/Bornkamm/FeddersenKöhler, UWG, Einl. Rz. 2.11. 12) Gloy/Loschelder/Erdmann-Erdmann, Hdb. Wettbewerbsrecht, § 1 Rz. 29. 13) Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG, Einl. Rz. 2.22; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, § 1 Rz. 27, 28. 14) Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, § 1 Rz. 30. 7) 8) 9) 10) 11)
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Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 38
Die nun weitergehenden Werbemöglichkeiten hatten auch Auswirkungen auf das Verhältnis 11 zwischen dem Wettbewerbs- und dem Insolvenzrecht. Es war jetzt zumindest ein Hinweis auf die Herkunft aus einer Insolvenzmasse nicht mehr irreführend, wenn die Insolvenzware nicht vom Insolvenzverwalter selbst verkauft, sondern ein Zwischenhändler eingeschaltet war.15) Voraussetzung war nur, dass die Ware tatsächlich aus einer Insolvenzmasse stammte. Des Weiteren mussten die zu veräußernden Gegenstände auch zu reduzierten Preisen angeboten werden, weil andernfalls die Erwartung der Verbraucher, Ware zu besonders günstigen Preisen zu erzielen, enttäuscht werden würde.16) Auch hier tendierte die Rechtsprechung dazu, eine solche Werbung nur zuzulassen, wenn das insolvente Unternehmen später auch tatsächlich liquidiert werden sollte.17) Die Umsetzung der zuvor genannten Richtlinie wurde von der EU-Kommission gegenüber 12 Deutschland beanstandet. Infolgedessen erfolgte seitens des Gesetzgebers mit dem zweiten UWG-Änderungsgesetz vom 2.12.2015.18) Die Änderungen betreffen im Wesentlichen Anpassungen an den Wortlaut der Richtlinie.19) Materiell-rechtliche Änderungen hinsichtlich des Verkaufs und Vertriebs von Waren und Dienstleistungen i. R. der Sanierung oder der Insolvenz waren damit nicht verbunden. 3.3
Weitere Änderungen des UWG bis 2022
In der Folgezeit erfolgten zahlreiche Änderungen des UWG durch das Gesetz zur Stärkung 13 des fairen Wettbewerbs vom 26.11.2020,20) das Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes vom 19.11.202021), das Gesetz über faire Verbraucherverträge vom 10.08.202122) und das Gesetz zur Stärkung des Verbraucherschutzes im Wettbewerbs- und Gewerberecht vom 10.08.202123). Die mit den Änderungen verbundenen Anpassungen des UWG haben zwar eine Stärkung 14 des Mitbewerber- und Verbraucherschutzes zur Folge, ein materiell-rechtlicher Einfluss auf das Spannungsfeld zwischen Wettbewerbs- und Insolvenzrecht erfolgte indes nicht. 4.
Fallgruppen nach aktuellem Recht
Nach den grundlegenden Änderungen des UWG ist die Betriebsfortführung in der Insolvenz 15 i. R. der einschlägigen Fallgruppen i. E. zu beleuchten. 4.1
Reklame mit Insolvenzwarenverkauf bei Betriebsfortführung – Irreführung nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG?
Die Werbung mit dem Begriff „Insolvenzwarenverkauf“ hat eine hohe Anziehungskraft. 16 Die Adressaten der Reklame verbinden damit einen Verkauf von Produkten zu deutlich reduzierten Preisen.24) Es wird also ein erheblicher Kaufanreiz geschaffen. Im Sinne aller ___________ 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23) 24)
Ohly/Sosnitza-Sosnitza, UWG, § 5 Rz. 426; Götting/Nordemann-Nordemann, UWG, § 5 Rz. 1.172. Ohly/Sosnitza-Sosnitza, UWG, § 5 Rz. 426. Dahingehend: BGH, Urt. v. 11.5.2006 – I ZR 206/02, ZIP 2006, 1208, 1210. Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (2. UWG-ÄndG), v. 2.12.2015, BGBl. I 2015, 2158. Köhler/Bornkamm/Feddersen-Borkamm/Feddersen, UWG § 1 Rz. 5, § 5 Rz. 0.7, § 5a 1.7 ff. Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs, v. 26.11.2020, BGBl. I 2020, 2568. Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes und weiterer Gesetze, v. 19.11.2020, BGBl. I 2020, 2456. Gesetz für faire Verbraucherverträge, v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3433. Gesetz zur Stärkung des Verbraucherschutzes im Wettbewerbs- und Gewerberecht, v. 10.8.2021, BGBl. I 2021, 3504. Fezer/Büscher/Obergfell-Pfeifer/Obergfell, UWG, § 5 Rz. 340.
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§ 38
Teil V Einzelfragen
Marktteilnehmer ist deshalb darauf zu achten, dass dieser Begriff nicht missbräuchlich, also nicht unlauter verwendet wird. 4.1.1 Schutzzweck des § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG 17 Diesen Zweck verfolgt u. a. § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG. Danach ist eine geschäftliche Handlung irreführend, wenn sie x
unwahre oder sonst zur Täuschung geeignete Angaben enthält
x
über den Anlass des Verkaufs,
x
wie das Vorhandensein eines besonderen Preisvorteils, den Preis oder die Art und Weise, in der er berechnet wird, oder die
x
Bedingungen, unter denen die Ware geliefert oder die Dienstleistung erbracht wird.25)
18 Dem Kunden soll bei seiner Kaufentscheidung also klar vor Augen geführt werden, welchen Hintergrund die Preisaktion hat. Gleichzeitig dient dies auch dem Schutz der Mitbewerber vor den wettbewerbsverzerrenden Folgen von irreführender Werbung.26) 4.1.2 Irreführung durch Betriebsfortführung? 19 Die Kunden verbinden mit einem Insolvenzwarenverkauf eine erhebliche Preissenkung. Grund dafür ist nicht zuletzt § 159 InsO. Danach hat der Insolvenzverwalter das zur Masse gehörende Vermögen unverzüglich zu verwerten. Unverzüglich meint dabei ohne schuldhaftes Zögern i. S. des § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB.27) Der Insolvenzverwalter steht also unter einem gewissen Zeitdruck, das Vermögen des Schuldners möglichst zügig zu versilbern. Gerade hieraus ergibt sich auch die Erwartung der Kunden auf eine erhebliche Preissenkung. 20 Dieser Druck, die Ware möglichst schnell zu Geld zu machen, ist bei einer Betriebsfortführung nicht immer im gleichen Maße gegeben.28) Dennoch kann die Reklame mit einem Insolvenzwarenverkauf in der Betriebsfortführung nicht schlechthin unzulässig sein.29) Zunächst stammen die angebotenen Waren tatsächlich aus einer Insolvenzmasse (§ 35 InsO). Es handelt sich dabei also nicht um eine unwahre Angabe i. S. des § 5 Abs. 2 UWG. 21 Des Weiteren ist die Angabe auch nicht grundsätzlich zur Täuschung geeignet. Eine solche wäre nur gegeben, wenn die mit dem Insolvenzwarenverkauf in Aussicht gestellten Preisnachlässe tatsächlich nicht gewährt würden30). In diesem Fall läge in der Tat eine Täuschung vor, weil dem Adressaten der Werbung suggeriert würde, aufgrund der Insolvenz sei eine besonders günstige Kaufgelegenheit entstanden. 22 Eine Betriebsfortführung wird aber oft einen Wechsel des Sortiments erforderlich machen. Insbesondere dann, wenn das Unternehmen am Markt mit seiner Produktpalette und seiner Verkaufsstrategie versagt hat. Eine Sanierung wird dann nur gelingen, wenn sich das Unternehmen am Markt neu orientiert. Auch die Betriebsfortführung wird daher häufig Räumungsverkäufe zur Folge haben. Der Insolvenzverwalter steht auch hier unter Zugzwang. Er ist gehalten, die alte Ware zeitnah zu verwerten, um den Ertrag in ein neues Verkaufskonzept zu investieren. Die Verwendung des Begriffs „Insolvenzwarenverkauf“ ist also ___________ 25) 26) 27) 28) 29) 30)
Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, § 14 Rz. 1. Köhler/Bornkamm/Feddersen-Bornkamm/Feddersen, UWG, § 5 Rz. 0.10. Jansen in: MünchKomm-InsO, § 159 Rz. 5. Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 117. A. A.: Kübler/Prütting/Bork-Webel, InsO, § 159 Rz. 23a. Ohly/Sosnitza-Sosnitza, UWG, § 5 Rz. 426.
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nicht irreführend, weil die Erwartungen der Kunden in einer Preissenkung aufgrund des mit der Insolvenz verbundenen Zeitdrucks nicht enttäuscht werden. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass die Drucksituationen des Insolvenzverwalters 23 in der Liquidation und der Betriebsfortführung durchaus von unterschiedlicher Intensität sein können.31) Soll das Unternehmen liquidiert werden, wird es häufig noch so lange fortgesetzt werden, bis alle Waren zu Geld gemacht wurden. Geschieht dies nicht besonders rasch, sind die Kosten, die die Masse für die Anmietung der Verkaufsfläche sowie für die Löhne der Verkäufer aufbringen muss, unter Umständen höher als die Einnahmen durch den Ausverkauf der Waren. Diese Dringlichkeit ist i. R. der Betriebsfortführung nicht zwingend gegeben. Denn oft sind diese Kosten ohnehin im Sanierungskonzept eingeplant. Auch wenn die Verkaufsfläche regelmäßig schnell für die neuen Waren frei gemacht werden soll, hat es der Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung im Einzelfall nicht ganz so eilig. Dies wird sich auch im Preis widerspiegeln. Gleichwohl ist nicht von einer Irreführung i. S. des § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG auszugehen. 24 Dies hängt insbesondere mit dem geänderten Verständnis vom Begriff der Insolvenz beim angesprochenen Kundenkreis zusammen. Früher wurde die Insolvenz mit der Zerschlagung des Unternehmens gleichgesetzt. Heute ist die Öffentlichkeit über prominente Beispiele32) in den Medien aber dafür sensibilisiert, dass eine Insolvenz nicht zwingend das Ende eines Unternehmens sein muss. Dem durchschnittlichen Angehörigen des angesprochenen Kundenkreises ist also durchaus bewusst, dass eine Insolvenz auch zu einer Sanierung des Unternehmens führen kann. Folglich ist er nicht über das Zustandekommen des Preises getäuscht. Dem Kunden ist bewusst, dass die Preissenkung möglicherweise nicht die erhofften Ausmaße annehmen wird.33) Dieses Bild von der Insolvenz in der Öffentlichkeit soll gerade auch durch das ESUG34) 25 gefördert werden. Das ESUG will gerade die Chancen einer erfolgreichen Sanierung verbessern.35) Dazu muss die Öffentlichkeit auch damit vertraut gemacht werden, dass die Insolvenz insbesondere auch Möglichkeiten zur nachhaltigen Sanierung ermöglicht und das diese Möglichkeiten in einem Spannungsverhältnis zum Wettbewerbsrecht stehen. 4.1.3 Irreführung durch Preissenkungen ohne Ausverkauf? Wie bereits erörtert, ist eine Werbung mit dem Begriff „Insolvenzwarenverkauf“ i. R. der 26 Betriebsfortführung jedenfalls dann zulässig, wenn es zu einem Räumungsverkauf einer bestimmten Filiale oder eines bestimmten Lagers kommt, weil die Situation sich in diesen Fällen nicht erheblich von der eines zu liquidierenden Unternehmens unterscheidet. Fraglich ist, ob mit diesem Begriff auch geworben werden kann, wenn ein Ausverkauf des 27 bestehenden Sortiments überhaupt nicht angestrebt wird, sondern nur neue Kunden durch die reduzierten Preise angelockt werden sollen. Die Adressaten könnten darüber irregeführt werden, dass es zu einem Ausverkauf der Insolvenzware kommen soll und die damit einhergehenden Preissenkungen verbunden sind. Der Begriff „Insolvenzwarenverkauf“ suggeriert nach wie vor, dass ein bestimmtes Waren- 28 sortiment mit einem gewissen Zeitdruck abverkauft werden muss. Insofern wären die Kunden getäuscht, wenn es hierzu gerade nicht käme, sondern nur eine Preissenkung zur ___________ Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 117. Z. B. „Ihr Platz“, „Sinn Leffers“, „Karstadt“. Kritisch hierzu: Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 117; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 159 Rz. 19. Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 35) Allg. Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 17 ff. 31) 32) 33) 34)
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Belebung des Geschäfts vorläge. Werden Produkte als Insolvenzware bezeichnet, so entsteht der Eindruck, dass das Unternehmen dieser Ware überdrüssig ist und sie daher schnell verkauft werden soll. Ein Räumungsverkauf zum Zwecke der Liquidierung und ein solcher zum Zwecke der Betriebsfortführung gleichen sich in dieser Hinsicht im Wesentlichen. Dass der Ausverkauf bei einer Betriebsfortführung unter Umständen nicht ganz so eilig ist wie bei der Liquidation, muss mit Blick auf die gesetzgeberische Intention einer nachhaltigen Sanierungsmöglichkeit hingenommen werden. Etwas anderes muss aber gelten, wenn ein Räumungsverkauf überhaupt nicht angestrebt wird. Rechtlich ist die Ware dann zwar Insolvenzware, faktisch hat dies aber keine Auswirkungen. Es ist daher irreführend, wenn mit der Insolvenz eine Dringlichkeit suggeriert wird, die tatsächlich nicht besteht. 29 Soll es also zu keinem Leerverkauf kommen, ist der Insolvenzverwalter bei Werbemaßnahmen gehalten, dies durch Zusätze hinreichend deutlich zu machen oder den Verweis auf die Insolvenz ganz zu unterlassen. 4.1.4 Irreführung durch Zukauf von Waren beim Insolvenzwarenverkauf? 30 Zur Masse des Schuldners gehört nicht nur dessen Vermögen im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung. Auch Vermögen, das er während des Insolvenzverfahrens erlangt, wird zur Masse gezogen, § 35 Abs. 1 InsO. Insofern ist es denkbar, dass der Insolvenzverwalter während eines Insolvenzwarenverkaufs weitere Gegenstände hinzukauft und diese dann als Insolvenzware weiterveräußert. 31 Neben der praktischen Frage der Wirtschaftlichkeit eines solchen Vorgehens stellt sich auch hier die der Vereinbarkeit mit dem Lauterkeitsrecht. Da auch der neu erworbene Gegenstand zur Insolvenzmasse gehört, wäre es keine unwahre Angabe, ihn als Insolvenzware zu veräußern. Allerdings wäre die Reklame mit dem Begriff „Insolvenzwarenverkauf“ eine zur Täuschung über den Anlass des Verkaufs geeignete Angabe, § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG. 32 Der Adressatenkreis einer solchen Werbung glaubt, dass aufgrund der besonderen Notsituation der Insolvenz ein mehr oder weniger zügiger Verkauf von Ware zu reduzierten Preisen von Nöten ist. Keinesfalls erwartet er jedoch, dass i. R. dieser Aktion noch ein wirtschaftlich lohnendes Geschäft des Werbenden gemacht wird. Der Kunde wäre also über entscheidende Hintergründe der Preisgestaltung getäuscht. 33 Durch ein solches Verhalten wären auch die Interessen der anderen Marktteilnehmer erheblich beeinträchtigt. Die Möglichkeiten des Schuldners mit der Insolvenz zu werben, sind ohnehin starke Beeinträchtigungen des Wettbewerbs, die aber durch die Ziele der InsO gerechtfertigt sind. Versuche über die Überwindung der Notsituation hinaus noch ein Geschäft zu machen, müssen jedoch als unlauter angesehen werden.36) Ein insolventes Unternehmen darf Ware, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinzugekauft worden ist, nicht als Insolvenzware bewerben. 4.1.5 Irreführung durch Rückkehr zu alten Preisen? 34 Werden Produkte zu reduzierten Preisen angeboten, kann das Interesse an ihnen auch unabhängig von der günstigen Einkaufsgelegenheit neu entstehen. Fraglich ist, ob ein Warenbestand, der einmal als Insolvenzware beworben und deshalb im Preis reduziert wurde, wieder zu normalen Konditionen verkauft werden kann, wenn das Interesse daran wieder gestiegen ist. In einer solchen Preiserhöhung könnte ein Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Nr. 2 UWG liegen. Die Kunden haben sich nämlich zunächst darauf eingerichtet, dass sie die ___________ 36) Gloy/Loschelder/Erdmann/Helm-Helm, Hdb. Wettbewerbsrecht, § 59 Rz. 406; Janssen in: MünchKommInsO, § 159 Rz. 19; a. A. Kübler/Prütting/Bork-Webel, InsO, § 159 Rz. 22.
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vergünstigten Waren bis zum Ausverkauf erwerben können. Dieses Vertrauen wird nun nachträglich enttäuscht, indem schon vor diesem Zeitpunkt die günstige Verkaufsgelegenheit aufgehoben wird. Die Rechtsprechung bejaht daher eine Irreführung, wenn ein Unternehmen nach einem 35 angekündigten Räumungsverkauf wieder zu alten Preisen zurückkehrt.37) Dies gelte auch, wenn eine solche Rückkehr nicht von vornherein angestrebt, sondern erst nachträglich durch einen Sinneswandel verursacht worden sei. Die subjektive Einstellung des Unternehmers spiele keine Rolle; es komme auf die objektive Wirkung beim angesprochenen Kundenkreis an.38) Eine Rückkehr zu alten Preisen sei daher nicht möglich. Dies gilt auch für den Insolvenzwarenverkauf. Wie bereits dargelegt, ist ein solcher grund- 36 sätzlich nur in Form eines Räumungsverkaufs möglich. Anders als bei einem „normalen“ Räumungsverkauf liegt beim Insolvenzwarenverkauf aber erkennbar keine völlig freiwillige kaufmännische Entscheidung zugrunde. Der Insolvenzverwalter ist hierzu vielmehr wegen der finanziellen Notlage gedrängt. Durch die Verwendung des Begriffs „Insolvenz“ wird dies auch den Kunden deutlich. Diese müssen daher ggf. damit rechnen, dass die Preise wieder steigen, wenn die Notlage aufgrund besserer Absatzchancen wieder beseitigt ist. Allerdings wäre damit eine hohe Missbrauchsgefahr verbunden. Es ist kaum messbar, ab 37 wann eine Übernahme der Insolvenzware in den regulären Warenbestand wieder wirtschaftlich lohnenswert ist. Dies wäre vom Gutdünken des Insolvenzverwalters abhängig, was zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen würde. Des Weiteren sind auch Räumungsverkäufe nur selten ganz freiwillig. Auch diese werden durch wirtschaftliche Zwänge veranlasst, so dass eine Differenzierung zwischen „normalen“ und insolvenzbedingten Räumungsverkäufen nicht gerechtfertigt erscheint. Die Gläubiger müssen sich also an ihrem einmal getroffenen Entschluss, einen Räumungsverkauf durchzuführen, festhalten lassen. Eine Übernahme der einmal als Insolvenzware beworbenen Produkte in das reguläre Sortiment ist nicht mehr möglich.39) 4.2
Irreführung durch Unterlassen bei Verschweigen der Insolvenz, § 5a Abs. 1 UWG?
In vielen Fällen ist eine Werbung mit dem Schlagwort „Insolvenzwarenverkauf“ lohnenswert. 38 Oft wird so ein besonderer Kaufanreiz geschaffen und der Warenabsatz kurzfristig erhöht. In manchen Fällen mag der Insolvenzverwalter jedoch doch lieber davon Abstand nehmen, mit diesem Begriff zu werben. Dies kann etwa der Fall sein, wenn das insolvente Unternehmen einen besonders guten Ruf hat, der in der Betriebsfortführung erhalten bleiben soll und nicht mehr als unbedingt notwendig mit dem Makel einer Insolvenz in Verbindung gebracht werden soll. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob ein solches Vorgehen aus wettbewerbsrechtlicher Sicht 39 zulässig ist oder gegen § 5 a Abs. 1 UWG verstößt. Danach sind bei der Beurteilung, ob das Verschweigen einer Tatsache irreführend ist, insbesondere deren Bedeutung für die geschäftliche Entscheidung nach der Verkehrsauffassung sowie die Eignung des Verschweigens zur Beeinflussung der Entscheidung zu berücksichtigen. In der Regel wird die Tatsache der Insolvenz die Kaufentscheidung eines Kunden aber nur 40 positiv beeinflussen. Dies kann im Einzelfall jedoch anders sein. Gerade bei Geschäften, mit denen ein längerer Kontakt mit dem Kunden verbunden ist, kann die Insolvenz die Entscheidung des Kunden maßgeblich beeinflussen. Dies kann der Fall sein, wenn die ___________ 37) OLG Köln, Urt. v. 18.9.2009 – 6 U 79/09, GRUR-RR 2010, 250, hier allerdings nicht in Bezug auf den Räumungsgrund, sondern auf die unrichtige Angabe der Geschäftsschließung in einer Woche. 38) OLG Köln, Urt. v. 18.9.2009 – 6 U 79/09, GRUR-RR 2010, 250. 39) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 27.3.2008 – 6 U 66/07, ZIP 2008, 1092.
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Leistungsfähigkeit des Unternehmens über das konkrete Geschäft hinaus von Bedeutung ist. So kann der Käufer eines Produkts gerade darauf angewiesen sein, dass ihm das insolvente Unternehmen auch in Zukunft für Wartungsarbeiten zur Verfügung steht. Oder es ist für den Kunden erkennbar von wirtschaftlicher Bedeutung, dass das Unternehmen bei Mängeln der Ware haften kann.40) 41 Die Hinweispflicht ist also vom Einzelfall abhängig. In der Regel, insbesondere bei Bargeschäften des täglichen Lebens, wird sie aber nicht notwendig sein.41) 4.3
Kein Verstoß gegen Mitbewerberschutz durch Preis-Dumping (§ 4 Nr. 4 UWG)
42 Die Preisunterbietung zu Wettbewerbszwecken ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich zulässig42) und gehört zu den wichtigsten Merkmalen eines freien Wettbewerbs.43) So ist auch der Verkauf unter Selbstkosten und selbst die kostenlose Abgabe von Ware oder Dienstleistungen wettbewerbsrechtlich grundsätzlich möglich.44) 43 Ausnahmen zu diesen Grundsätzen liegen nach allgemeiner Auffassung nur dann vor, wenn die Maßnahme geeignet ist und dazu dient, einzelne Wettbewerber zu verdrängen.45) Die Ausnahmen werden i. R. einer insolvenzrechtlichen Betriebsfortführung schon praktisch kaum anwendbar sein. Aber auch sofern solche Maßnahmen geeignet erscheinen sollten, einen Mitbewerber zu verdrängen, dürfte die temporäre Pflicht des Verwalters zur Verwertung der Masse und bestmöglichen Befriedigung der Gläubiger den wettbewerbsrechtlichen Einschränkungen vorgehen.46) Der Insolvenzverwalter ist zudem nicht an Preisbindungsvereinbarungen des Schuldners i. R. der Verwertung gebunden.47) 4.4
Insolvenzwarenverkauf als intransparente Verkaufsförderungsmaßnahme (§§ 5, 5a Abs. 2 UWG)?
44 Das Wettbewerbsrecht unterscheidet zwischen irreführender Werbung einerseits und der intransparenten Ausgestaltung von Verkaufsförderungsmaßnahmen andererseits, d. h. zwischen einem Täuschungsverbot und einem Informationsgebot.48) Bereits mit der UWGNovelle 2008 hat der Gesetzgeber die bislang strikte Trennung zwischen unrichtiger und unvollständiger Information aufgebrochen und mit der UWG-Novelle 2015 das u. a. in § 4 Nr. 4 UWG a. F. normierte Informationsgebot gestrichen. Die gestrichenen Regelungen sollen durch die §§ 5 und 5a UWG aufgefangen werden.49)
___________ 40) Kübler/Prütting/Bork-Webel, InsO, § 159 Rz. 21a; Vuia in: MünchKomm-InsO, § 80 Rz. 116; Köhler/ Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG, § 5a Rz. 2.8 ff. 41) BGH, Urt. v. 11.5.1989 – I ZR 141/87, GRUR 1989, 682, 683 = ZIP 1989, 937. 42) BGH, Urt. v. 6.10.1983 – I ZR 39/83, GRUR 1984, 204, 206 = NJW 1984, 1618. 43) Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG § 4 Rz. 4.185; Fezer/Büscher/Obergfell-Götting/Hetmank, UWG, § 4 Nr. 4 Rz. 36. 44) Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler UWG § 4 Rz. 4.187; Fezer/Büscher/Obergfell-Götting/Hetmank, UWG, § 4 Nr. 4 Rz. 36. 45) BGH, Urt. v. 27.10.1988 – I ZR 29/87, GRUR 1990, 371, 372 = ZIP 1989, 187; Fezer/Büscher/ Obergfell-Götting/Hetmank, UWG, § 4 Nr. 4 Rz. 38 ff.; Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG, § 4 Rz. 5.14 ff. 46) So auch Janssen in: MünchKomm-InsO, § 156 Rz. 20. 47) Wegener in: FK-InsO, § 159 Rz. 10; Janssen in: MünchKomm-InsO, § 156 Rz. 20. 48) Fezer/Büscher/Obergfell-Peifer/Obergfell, UWG, § 5 Rz. 29 – 30. 49) Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses R/V z. RegE 2. UWG-ÄndG, BT-Drucks. 18/6571, S. 14.
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4.4.1 Insolvenzwarenverkauf als Verkaufsförderungsmaßnahme? Differenziert ist zu betrachten, ob es sich bei einem Insolvenzwarenverkauf um eine Ver- 45 kaufsförderungsmaßnahme handelt. Es käme eine solche in Form eines Preisnachlasses in Frage, weil der Insolvenzwarenverkauf mit Preissenkungen verbunden ist. Bislang sieht die Rechtsprechung im Insolvenzwarenverkauf keine Verkaufsförderungsmaß- 46 nahme.50) Bei der Frage, ob es sich um einen Preisnachlass und damit um eine Verkaufsförderungsmaßnahme handelt, sei nämlich auf die konkrete Situation des Unternehmens in der Insolvenz abzustellen. In dieser Situation handele es sich aber nicht um ermäßigte, sondern um neue, von nun an dauerhaft geltende Preise.51) Ein Verstoß gegen wettbewerbsrechtliche Vorschriften soll danach bereits aus diesem Grund ausscheiden. Zu beachten ist jedoch, dass sich diese Rechtsprechung bisher nur auf Unternehmen bezog, 47 die später liquidiert werden sollten. Unklar ist, ob die genannten Gedanken auch für die Betriebsfortführung in der Insolvenz fruchtbar gemacht werden können. Dagegen spricht, dass eben nicht dauerhaft reduzierte Preise gefordert werden sollen. Nach Abverkauf eines bestimmten Warensortiments soll das Unternehmen vielmehr neu aufgestellt werden und dann wieder am normalen Marktgeschehen teilnehmen. Die Situation ähnelt damit aber eher der eines Räumungsverkaufes. Preissenkungen i. R. eines Räumungsverkaufes wurden von der Rechtsprechung aber als Preisnachlässe und damit als Verkaufsförderungsmaßnahmen i. S. des § 4 Nr. 4 UWG a. F. angesehen.52) Es spricht deshalb viel dafür, einen Insolvenzwarenverkauf in der Betriebsfortführung als wettbewerbsrechtlich relevante Verkaufsförderungsmaßnahme zu betrachten. 4.4.2 Verstoß gegen § 5a Abs. 2 Nr. 1 UWG wegen fehlenden Hinweises auf Betriebsfortführung? Allein im fehlenden Hinweis auf die Betriebsfortführung kann kein Verstoß gegen das 48 Transparenzgebot erblickt werden. Denn dem angesprochenen Kundenkreis ist bewusst, dass er i. R. der Insolvenz vergünstigte Waren in Anspruch nehmen kann. Ob das Unternehmen später liquidiert oder ob es saniert und fortgesetzt werden soll, hat keinen Einfluss auf die Bedingungen der Inanspruchnahme. Dem Adressaten der Werbung ist klar, dass er die vergünstigten Preise für die Dauer des Insolvenzverfahrens in Anspruch nehmen kann. Die Preise sind aber unabhängig vom Schicksal des Unternehmens reduziert. Die Frage, was mit dem Unternehmen später geschieht, hat für die Kaufentscheidung des Kunden also keine Relevanz. 4.4.3 Verstoß gegen § 5a Abs. 2 Nr. 1 UWG wegen fehlenden Hinweises auf zeitlichen Rahmen des Insolvenzwarenverkaufs? Mag es für den Kunden irrelevant sein, ob das Unternehmen liquidiert oder saniert wird, 49 so ist es für seine Kaufentscheidung doch von Wichtigkeit, in welchem Zeitrahmen er die im Preis reduzierte Ware in Anspruch nehmen kann. Allerdings sollen Werbungen mit Preisnachlässen ohne Angabe eines zeitlichen Rahmens 50 nur dann gegen das Transparenzgebot verstoßen, wenn ein solcher Rahmen bereits tatsächlich abgesteckt ist.53) Keinesfalls besteht die Pflicht des Werbenden eine solche Begrenzung ___________ 50) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 27.3.2008 – 6 U 66/07, ZIP 2008, 1092. 51) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 27.3.2008 – 6 U 66/07, ZIP 2008, 1092; in Bezug auf die Rechtlage vor 2004: BGH, Urt. v. 11.5.2006 – I ZR 206/02, ZIP 2006, 1208, 1210. 52) BGH, Urt. v. 30.4.2009 – I ZR 66/07, GRUR 2009, 1183, 1184. 53) BGH, Urt. v. 11.9.2008 – I ZR 120/06, GRUR 2008, 1114, 1115; BGH, Urt. v. 30.4.2009 – I ZR 66/07, GRUR 2009, 1183, 1184; Köhler/Bornkamm-Bornkamm, UWG, § 5 Rz. 6.6.
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erst zu schaffen.54) Denn eine solche Pflicht würde der Intention des Gesetzgebers zuwiderlaufen.55) Mit der Reform des UWG im Jahre 2004 sollte gerade eine Liberalisierung der Werbemaßnahmen erreicht werden.56) Unter anderem sollten die engen Voraussetzungen der Sonderveranstaltungen nach § 8 UWG a. F. wegfallen. Fortan sollte es möglich sein, zu jeder Zeit Werbeaktionen durchzuführen.57) Würde man nun eine zeitliche Begrenzung fordern, so liefe dies doch wieder auf eine Sonderveranstaltung hinaus, weil diese Grenzen dann auch eingehalten werden müssten und die Preisnachlässe in der Folge gerade nicht beliebig gegeben werden könnten.58) Es muss also kein zeitlicher Rahmen für den Insolvenzwarenverkauf vorgegeben werden. 51 Etwas anderes gilt aber für den Anfang der Maßnahme. Beginnt der Insolvenzwarenverkauf sofort, ist kein weiterer Hinweis notwendig, da ein durchschnittlich verständiger Kunde, die Reklame in diesem Sinne verstehen wird. Soll der Insolvenzwarenverkauf aber erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnen, ist ein Hinweis auf diesen Zeitpunkt erforderlich, um die Bedingungen der Inanspruchnahme klar und eindeutig anzugeben. 5.
Zusammenfassung
52 Auch i. R. einer Betriebsfortführung darf ein insolventes Unternehmen mit dem Begriff „Insolvenzwarenverkauf“ werben. Da die Kunden damit einen Ausverkauf zu erheblich vergünstigten Preisen erwarten, ist eine solche Werbung nur im Zusammenhang eines Räumungsverkaufes einer Filiale oder eines bestimmten Warenlagers zulässig. Dass die Preissenkungen wegen des geringeren Zeitdrucks in der Betriebsfortführung unter Umständen nicht immer denen in der Liquidation entsprechen, muss mit Blick auf die Intention der InsO, eine nachhaltige Sanierung zu ermöglichen, hingenommen werden. 53 Unzulässig ist die Reklame mit „Insolvenzwarenverkauf“ hingegen, wenn der Preis nur gesenkt wird, ohne dass dabei ein Ausverkauf der Ware angestrebt wird. Die gilt erst recht, wenn der Preis überhaupt nicht reduziert wird. Weiterhin darf sich die Preissenkung beim Ausverkauf nicht nur auf bestimmte Produkte beziehen, während andere weiterhin zum regulären Preis angeboten werden. Ein einmal unter Insolvenzwarenverkauf angebotenes Produkt, darf nicht wieder zum alten Preis in das Sortiment aufgenommen werden. 54 Nicht erforderlich ist hingegen die Angabe eines Zeitrahmens für den Insolvenzwarenverkauf. Lediglich auf den Anfang muss in der Reklame aufmerksam gemacht werden, wenn der Insolvenzwarenverkauf nicht ab sofort, sondern erst später beginnen soll. II.
Lizenzen und immaterielle Wirtschaftsgüter
1.
Wirtschaftliche Bedeutung für die Betriebsfortführung
55 Die Zulässigkeit der Nutzung von immateriellen Wirtschaftsgütern kann je nach Geschäftsmodell für die Fortführung des schuldnerischen Unternehmens von erheblicher oder sogar entscheidender Bedeutung sein. Aber auch die Existenz von Unternehmen, die Rechte an immateriellen Wirtschaftsgütern von dem Insolvenzschuldner ableiten, ggf. als Lizenznehmer oder Unterlizenznehmer, kann von der Behandlung immaterieller Wirtschaftsgüter und Nutzungsrechten in der Insolvenz abhängig sein. ___________ 54) OLG Köln, Beschl. v. 6.3.2006 – 6 W 27/06, GRUR 2006, 786; Köhler/Bornkamm-Bornkamm, UWG, § 5 Rz. 6.6. 55) BGH, Urt. v. 11.9.2008 – I ZR 120/06, GRUR 2008, 1114, 1115. 56) Gloy/Loschelder/Erdmann-Erdmann, Hdb. Wettbewerbsrecht, § 1 Rz. 20; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, § 1 Rz. 20. 57) Köhler/Bornkamm/Feddersen-Köhler, UWG, Einl. Rz. 2.12. 58) BGH, Urt. v. 30.4.2009 – I ZR 66/07, GRUR 2009, 1183, 1184.
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Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
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Diese Fragen der Nutzung und Verwertbarkeit immaterieller Wirtschaftsgüter und Lizenzen 56 können den Insolvenzverwalter während des gesamten Insolvenzverfahrens begleiten. Die Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass im eröffneten Insolvenzverfahren sowohl insolvenz- als auch immaterialgüterrechtliche Regelungen beachtet und miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Zudem stellen sich regelmäßig Fragen der insolvenzfesten Bestellung von Sicherheiten an immateriellen Wirtschaftsgütern und Nutzungsrechten. Aber auch schon bei der Erstellung einer Überschuldungsbilanz sind immaterielle Wirt- 57 schaftsgüter zu berücksichtigen und einzustellen, soweit sie tatsächlich veräußerlich sind.59) Bei der Bestimmung des Umfangs der Insolvenzmasse ist zu beachten, dass immaterielle 58 Wirtschaftsgüter nicht an einen Ort gebunden, sondern weltweit belegen sein können. Nach dem immaterialgüterrechtlichen Territorialprinzip können daher in jedem Staat gesonderte Schutzrechte (z. B. Urheber-, Patenrechte) an einem Wirtschaftsgut bestehen, weshalb der Insolvenzverwalter in diesem Fall ein „Rechtebündel“ in der Insolvenzmasse vorfinden wird.60) In Europa ist mit der EuInsVO sichergestellt, dass sich die Sicherung, Verwaltung und Verwertung auch auf außerhalb des Eröffnungsstaats belegene, immaterielle Wirtschaftsgüter erstreckt.61) 2.
Rechtliche Ausgangslage
Für die rechtliche Zuordnung zur Insolvenzmasse und somit für die Verwert- und Nutz- 59 barkeit bei der Betriebsfortführung ist zwischen dem Immaterialgüterrecht als solchem und den daraus ableitbaren Nutzungsrechten, insbesondere Lizenzen, zu differenzieren. Immaterielle Wirtschaftsgüter können vom Insolvenzverwalter zur Betriebsfortführung 60 genutzt werden, wenn sie zur Insolvenzmasse (§ 35 InsO) gehören und sich die Verwaltungsund Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters (§ 80 InsO) auf das jeweilige Immaterialgüterrecht erstreckt. Dies richtet sich primär nach spezialgesetzlichen Regelungen für das jeweilige Wirtschaftsgut. Sofern solche nicht existieren, ist zu prüfen, ob das jeweilige Immaterialgüterrecht der Zwangsvollstreckung unterliegt (vgl. §§ 35, 36 InsO). Dies ist bei freier Übertragbarkeit (§§ 851, 857 ZPO) des Rechts der Fall. Diese Übertragbarkeit von Immaterialgüterrechten richtet sich wiederum nach den spezialgesetzlichen Regelungen des jeweiligen Rechts.62) Vom Insolvenzbeschlag wird grundsätzlich auch der Lizenzvertrag erfasst.63) Inwieweit 61 schuldrechtliche Ansprüche aus einem bei Insolvenzeröffnung ungekündigten Lizenzvertrag für die Betriebsfortführung genutzt werden können – sei es als Lizenzgeber oder (Unter-) Lizenznehmer – hängt davon ab, ob dem Insolvenzverwalter ein Wahlrecht nach § 103 InsO zusteht und wie er dieses ausübt. Ob neben den schuldrechtlichen Ansprüchen aus dem Lizenzvertrag auch das dem Insol- 62 venzschuldner vor Insolvenzeröffnung erteilte Nutzungsrecht als solches in die Insolvenzmasse fällt, ist umstritten (Einzelheiten und Konsequenzen siehe Rz. 81 ff.).64) Ungeklärt ist bislang auch die Frage, ob dem Insolvenzverwalter ein Verwertungsrecht 63 (analog § 166 InsO) bei Immaterialgüterrechten zusteht, die mit einem Absonderungsrecht ___________ 59) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 19 Rz. 79; Breithaupt/Ottersbach-Ehrlichmann, Kompendium GesR, § 1 Rz. 14, die auf eine Veräußerbarkeit im Insolvenzverfahren abstellen; Gehde in: Münch-AHB PersonengesR, § 24 Rz. 48, stellt auf die tatsächliche Möglichkeit der Veräußerung ab. 60) Berger, ZInsO 2013, 569, 570; Reinhardt in: MünchKomm-InsO, Art. 15 EuInsVO Rz. 5. 61) Berger, ZInsO 2013, 569, 570. 62) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 238. 63) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 337; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 104. 64) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 254; Brinkmann, NZI 2012, 735, 737; Marotzke, ZInsO 2012, 1737, 1744; Berger, ZInsO 2013, 569, 572 f.
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Teil V Einzelfragen
(so z. B. bei Sicherungsübertragung oder Verpfändung) belastet sind (Einzelheiten und Konsequenzen siehe Rz. 98 ff.). 3.
Betriebsfortführung und einzelne Immaterialgüterrechte
3.1
Urheberrechte
64 Gemäß § 29 Abs. 1 UrhG ist die rechtsgeschäftliche Übertragung von Urheberrechten (vgl. zu den geschützten Werken § 2 UrhG) ausgeschlossen und die Zwangsvollstreckung in das Recht gemäß § 113 Abs. 1 UrhG nur mit Zustimmung des Rechtsinhabers zulässig. Im Ergebnis gehören Urheberrechte daher nur dann zur Insolvenzmasse, wenn der Schuldner hierzu seine Zustimmung erteilt hat.65) 65 Die Verweigerung der Zustimmung soll in Einzelfällen als rechtsmissbräuchlich anzusehen sein, so dass die Zustimmung als erteilt anzusehen ist.66) Rechtsmissbräuchlich kann die Zustimmungsverweigerung dann sein, wenn der Urheber mit anderen Vertragspartnern bereits die Verwertung in einer Weise eingeleitet hat, die seine persönlichen Interessen nicht berücksichtigt.67) 66 Inhaltlich kann das Urheberrecht für die Insolvenzmasse – bei Zustimmung des Schuldners – wegen der Unübertragbarkeit gemäß § 29 Abs. 1 UrhG nur durch die eigene Nutzung oder die Gewährung von Nutzungsrechten verwertet werden;68) eine Vollübertragung des Rechts ist ausgeschlossen.69) 67 Werkoriginale können hingegen mit Einwilligung des Schuldners veräußert werden.70) Vervielfältigungsstücke und Kopien gehören nur dann nicht ohne weiteres zur Insolvenzmasse, wenn der Schuldner sich die Veröffentlichung noch vorbehalten hatte.71) 3.2
Patentrechte
68 Das Recht auf das Patent, der Anspruch auf Erteilung des Patents und das Recht aus dem Patent können nach § 15 Abs. 1 Satz 2 PatG beschränkt oder unbeschränkt übertragen werden. Aufgrund der Übertragbarkeit und der daraus folgenden Pfändbarkeit (§§ 857 Abs. 1, 851 Abs. 1 ZPO)72), gehören diese Rechte grundsätzlich zur Insolvenzmasse.73) 69 Umstritten ist aber, ab welchem Zeitpunkt das vor der Anmeldung zum Deutschen Markenund Patentamt bestehende Recht auf das Patent aufgrund seiner Doppelnatur – vermögensund personenrechtlicher Charakter – pfändbar und damit Bestandteil der Insolvenzmasse ist.74) Nach h. M. entsteht das Recht auf das Patent, wenn der Erfinder seine Erfindung in der Weise verlautbart hat, dass Dritte die Möglichkeit haben, von der Erfindung Kenntnis zu ___________ 65) Berger, ZInsO 2013, 569, 571; Berger/Wündisch-Abel, Urhebervertragsrecht, § 11 Rz. 94; LoewenheimKreuzer/Reber, Hdb. Urheberrecht, § 95 Rz. 52; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 363, 369; JaegerHenckel, InsO, § 35 Rz. 44; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 248. 66) Berger, ZInsO 2013, 569, 571; Berger/Wündisch-Abel, Urhebervertragsrecht, § 11 Rz. 95. 67) Berger/Wündisch-Abel, Urhebervertragsrecht, § 11 Rz. 95. 68) Loewenheim-Kreuzer/Reber, Hdb. Urheberrecht, § 95 Rz. 52; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 43; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 248. 69) Berger, ZInsO 2013, 569, 571; Dreier/Schulze-Schulze, UrhG, § 29 Rz. 3. 70) Loewenheim-Kreuzer/Reber, Hdb. Urheberrecht, § 95 Rz. 53; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 45; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 248. 71) Loewenheim-Kreuzer/Reber, Hdb. Urheberrecht, § 95 Rz. 52; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 44; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 248. 72) BGH, Urt. v. 24.3.1994 – X ZR 108/91, NJW 1994, 3099 = BB 1994, 1246. 73) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 318, 322; Nerlich/Römermann-Andres, InsO, § 35 Rz. 70. 74) Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 58; Kilian/Heussen-Kammel, Computerrechts-Hdb., Software in der Insolvenz Rz. 30; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 323 ff.
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Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 38
nehmen.75) Aufgrund des personenrechtlichen Charakters soll es jedoch erst dann pfändbar sein und damit in die Insolvenzmasse fallen, wenn der Erfinder seine Absicht kundgetan hat, seine Erfindung zu verwerten.76) Der Persönlichkeitsgehalt des Rechts führt dazu, dass dem Erfinder ein Wahlrecht zusteht, ob er seine Erfindung wirtschaftlich verwerten oder ungenutzt lassen möchte.77) Geheimpatente (§ 50 PatG) fallen in die Insolvenzmasse des Schuldners, bei der Verwer- 70 tung durch Lizenzvergabe oder Veräußerungen sind die Geheimhaltungsvorschriften weiterhin zu berücksichtigen.78) Wurde ein Patent beim Europäischen Patentamt angemeldet (sog. europäisches Patent)79), 71 zerfällt es mit Erteilung in ein „Bündel“ einzelner nationaler Patente in den Staaten, die in der Anmeldung benannt worden sind.80) Die im Ausland belegenen Wirtschaftsgüter werden dann von dem deutschen Insolvenzverfahren erfasst und können zur Insolvenzmasse gehören, wenn x
die Insolvenzeröffnung von dem Staat, in dem die Wirtschaftsgüter belegen sind, anerkannt wird81) und
x
das Patent pfändbar ist.
3.3
Arbeitnehmererfindungen
Die Massezugehörigkeit von Arbeitnehmererfindungen richtet sich nach den insolvenz- 72 rechtlichen Sonderregeln des § 27 ArbnErfG. Die vermögensrechtlichen Werte der Arbeitnehmererfindung fallen in die Insolvenzmasse, wenn der Arbeitgeber die Erfindung vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 7 Abs. 1 ArbnErfG in Anspruch genommen hat.82) Hinsichtlich der Verwertung von Arbeitnehmererfindungen ist zwischen den in § 27 ArbnErfG aufgeführten Konstellationen zu unterscheiden: x
Wird die Arbeitnehmererfindung vom Insolvenzverwalter mit dem Geschäftsbetrieb veräußert, so tritt der Erwerber für die Zeit ab Insolvenzeröffnung in die Vergütungspflicht des Arbeitgebers (§ 9 ArbnErfG) ein (§ 27 Nr. 1 ArbnErfG).83)
x
Wird die Erfindung durch Benutzung im insolventen Betrieb verwertet (§ 27 Nr. 2 ArbnErfG), hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf eine angemessene Vergütung.
___________ 75) Benkard-Melullis, PatG, § 6 Rz. 7. 76) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 327; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 58; Kilian/Heussen-Kammel, Computerrechts-Hdb., Software in der Insolvenz Rz. 30; Nerlich/Römermann-Andres, InsO, § 35 Rz. 70; Gottwald-Klopp/Kluth/Wimmer, Hdb. InsR, § 25 Rz. 56; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 98; a. A. auf die Kundgabe der Verwertungsabsicht kommt es nicht an, schon die Verlautbarung ist ausreichend Mes, PatG, GebrMG, § 15 PatG Rz. 8 unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 10.11.1970 – X ZR 54/67 (Wildbissverhinderung), GRUR 1971, 210, 213. 77) RG, Urt. v. 3.10.1902 – VII 204/02, RGZ 52, 227, 231; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 327. 78) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 328; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 61. 79) Abzugrenzen vom sog. Europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung (vormalig: Gemeinschaftspatent); das europäische Patent entfaltet nicht in der gesamten europäischen Gemeinschaft seine Wirkung, lediglich die Patentanmeldung und das Verfahren der Patenterteilung ist einheitlich; vgl. Reinhardt in: MünchKommInsO, Art. 15 EuInsVO Rz. 5. 80) Reinhardt in: MünchKomm-InsO, Art. 15 EuInsVO Rz. 5. 81) Berger, ZInsO 2013, 569, 570. Innerhalb der Europäischen Union wird die Insolvenzeröffnung unter Geltung der EuInsVO grundsätzlich anerkannt, vgl. Art. 19 Abs. 1 i. V. m. Art. 3, 2 Nr. 4, Anhang A EuInsVO. 82) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 354; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 240; Himmelmann/Leuze/ Rother/Kaube/Trimborn-Rother, ArbEG, § 27 Rz. 2. 83) Vgl. hierzu LG Düsseldorf, Urt. v. 10.8.2010 – 4 a O 132/09, NZI 2012, 627, 630; Peters in: MünchKommInsO, § 35 Rz. 360.
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§ 38 x
Teil V Einzelfragen
Will der Insolvenzverwalter die Diensterfindung ohne den Geschäftsbetrieb veräußern oder das Schutzrecht nicht aufrechterhalten, hat er die Erfindung dem Arbeitnehmer anzubieten (§ 27 Nr. 3 Satz 2 ArbnErfG).
73 Sofern es zu einer isolierten Veräußerung kommt, kann der Insolvenzverwalter mit dem Erwerber eine angemessene Vergütung des Erfinders i. S. von (§ 9 ArbnErfG) vereinbaren. Ansonsten ist eine angemessene Vergütung aus dem Veräußerungserlös zu zahlen; die Literatur84) hält hier ca. 40 % des Bruttoverkaufspreises, abzüglich etwaiger, nach Fertigstellung erforderliche, anteilige Entwicklungskosten, für angemessen. 3.4
Gebrauchsmusterrechte
74 Das Recht auf das Gebrauchsmuster, der Anspruch auf seine Eintragung und das durch die Eintragung begründete Recht sind aufgrund ihrer – wahlweise beschränkten oder unbeschränkten – Übertragbarkeit (§ 22 Abs. 1 Satz 2 GebrMG) pfändbar (§§ 857 Abs. 1, 851 Abs. 1 ZPO) und gehören somit zur Insolvenzmasse. Dies gilt auch für Geheimgebrauchsmuster (§ 9 GebrMG), soweit die Geheimhaltungsvorschriften weiterhin beachtet werden.85) 3.5
Designs
75 Das angemeldete Design ist übertragbar, pfändbar und unterliegt dem Insolvenzbeschlag (§§ 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 DesignG).86) Nach früherer Rechtslage sollte das geschmacksmusterrechtliche Anwartschaftsrecht vor Anmeldung des Geschmacksmusters beim Deutschen Patent- und Markenamt nur dann Teil der Insolvenzmasse sein, wenn der Gestalter des Musters das Recht zur Anmeldung dem Insolvenzschuldner eingeräumt hatte87) oder das Geschmacksmuster vom Entwerfer erkennbar zur Verwertung bestimmt wurde.88) Nach neuer Rechtslage ist ein Teil der Literatur heute der Ansicht, dass das Anwartschaftsrecht auch dann in die Masse fällt, wenn der Designer hierzu seine Einwilligung erteilt hat.89) Unterfällt das Design zugleich dem Urheberrechtsschutz (§ 2 UrhG; sog. Doppelschutz) sind die urheberrechtlichen Einschränkungen (§§ 112 ff. UrhG, siehe Rz. 64 ff.) bei der insolvenzrechtlichen Verwertung zu beachten. 3.6
Markenrechte
76 § 29 MarkenG bestimmt ausdrücklich, dass Marken der Zwangsvollstreckung unterliegen und setzt in Absatz 3 voraus, dass sie vom Insolvenzverfahren erfasst werden können. Diese gesetzliche Wertung ist der Tatsache geschuldet, dass Marken keine verkörperte Leistung, sondern in erster Linie eine Zuordnung zu Produkten darstellen und insofern kein persönlichkeitsrechtliches Element aufweisen.90) Ab Insolvenzeröffnung liegt das Verfügungsund Verwertungsrecht beim Insolvenzverwalter, der die Marke unabhängig vom Geschäfts___________ 84) Henn-Anschütz in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 112. 85) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 317; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 57. 86) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 350; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 56; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 247 – zum Geschmacksmuster; Eichmann/v. Falckenstein/Kühne-Eichmann, DesignG, § 30 Rz. 6. 87) Eichmann/v. Falckenstein/Kühne-Eichmann, DesignG, § 30 Rz. 6; BGH, Urt. v. 2.4.1998 – IX ZR 232/96, NJW-RR 1998, 1057, 1058 = ZIP 1998, 830 – die Notwendigkeit einer Zustimmung des Gestalters lässt der BGH mangels Relevanz im konkreten Fall offen. 88) Eichmann/v. Falckenstein/Kühne-Eichmann, DesignG, § 30 Rz. 6. 89) Peters in: MünchKomm InsO, § 35 Rz.°351. 90) Schmittmann/Ademi, DZWIR 342, 344.
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Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 38
betrieb – selbst dann, wenn die Marke einen Personenamen enthält91) – verwerten kann.92) Ansprüche aus einer Markenrechtsverletzung (§§ 14 ff. MarkenG) sind ebenso Massebestandteil und können vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden.93) 3.7
Knowhow
Unter dem Begriff des „Knowhow“ fällt kaufmännisches, betriebswirtschaftliches und 77 technisches Wissen, das nicht allgemein zugänglich und durch ein Patent geschützt ist.94) Noch kein Bestandteil der Insolvenzmasse ist das Knowhow, solange es sich noch im Kopf des Wissensträgers befindet und weder konkretisiert noch fassbar ist.95) Besteht bereits ein Knowhow-Vertrag oder wurde ein Preis für den Knowhow-Gegenstand vereinbart, so fallen die schuldrechtlichen Ansprüche aus dem Knowhow-Lizenzvertrag in die Insolvenzmasse und in den Anwendungsbereich des § 103 InsO.96) Das Nutzungsrecht am Knowhow ist ein unveräußerbares und unpfändbares Recht und soll daher nicht in die Insolvenzmasse des Knowhow-Nehmers fallen.97) 3.8
Firma
Heute ist weitestgehend anerkannt, dass der Insolvenzverwalter die Firma, unabhängig davon, 78 ob sie den persönlichen Namen eines Einzelkaufmanns oder Gesellschafters enthält, auch ohne dessen Zustimmung vom Insolvenzverwalter veräußern werden kann.98) Entscheidet sich der Einzelkaufmann oder Gesellschafter zur kommerziellen Nutzung seines Namens, die nach § 18 HGB nicht zwingend ist, kann der in der Firma steckende Vermögenswert der Insolvenzmasse nicht entzogen werden.99) 3.9
Unternehmensgeheimnisse
Ungeklärt ist, ob Betriebs- und Unternehmensgeheimnisse in die Insolvenzmasse fallen, da 79 ihnen kein subjektives Vermögensrecht zugrunde liegt und es folglich an einem pfändbaren Recht fehlt.100) Der BGH hat Produktionsgeheimnissen im Geltungsbereich der KO einen Vermögenswert zugewiesen, weshalb sie vom Insolvenzbeschlag erfasst und veräußert werden können.101) 3.10 Domains Nach der Rechtsprechung des BGH102) kann eine „Internetdomain“, d. h. der Domainname 80 selbst, nicht Gegenstand einer Pfändung sein, da sie als solche kein Vermögensrecht i. S. von § 857 Abs. 1 ZPO darstellt. Die Internetdomain sei lediglich eine technische Adresse, die dem Inhaber keinen Absolutheitsanspruch gewährt, der durch Parteivereinbarung geschaffen ___________ 91) 92) 93) 94) 95) 96) 97) 98) 99) 100) 101) 102)
Berger, ZInsO 2013, 569, 570; Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 37. BGH, Urt. v. 1.12.1999 – I ZR 49/97, NJW 2000, 2195, 2198. Fezer, Markenrecht, § 29 MarkenG Rz. 34. Enders, GRUR 2012, 25, 26; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 253; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 398 f. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 253; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 400. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 253; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 400, 403. Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 404. Berger, ZInsO 2013, 569, 570; Steinbeck, NZG 1999, 133, 135 ff.; Bedenken äußert Jaeger-Henckel, InsO, § 35 Rz. 23 ff. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, InsO, § 35 Rz. 71a; Gehde in: Münch-AHB PersonengesR, § 24 Rz. 128 f. Berger, ZInsO 2013, 569, 571. BGH, Urt. v. 25.1.1955 – I ZR 15/53, NJW 1955, 628, 629. BGH, Beschl. v. 5.7.2005 – VII ZB 5/05, GRUR 2005, 969, 970.
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§ 38
Teil V Einzelfragen
werden kann oder vom Gesetzgeber herrührt.103) Vielmehr sei die Gesamtheit der zwischen dem Schuldner und der Registrierungsbehörde abgeschlossenen schuldrechtlichen Verträge als andere Vermögensgegenstände i. S. von § 857 Abs. 1 ZPO Gegenstand der Pfändung in eine Domain.104) Im Einzelnen kann somit der Insolvenzmasse x
der Registrierungsanspruch,
x
der Anspruch auf Aufrechterhaltung der Eintragung,
x
der Anspruch auf Anpassung des Registers an die veränderten persönlichen Daten des Kunden sowie
x
das Nutzungsrecht
zugeordnet werden.105) 4.
Betriebsfortführung und Lizenzen
81 Lizenzen, d. h. Nutzungsrechte an geistigem Eigentum bzw. immateriellen Gütern, wie z. B. an Patenten (§ 15 Abs. 2 PatG), Marken (§ 30 MarkenG), Gebrauchsmustern (§ 22 Abs. 2 GebrMG) und Designs (§ 31DesignG) werden durch Vertrag erteilt. Problematisch hierbei ist insbesondere die ungeklärte Rechtsnatur des Nutzungsrechts in Abgrenzung zum schuldrechtlichen Anspruch, wie ihn der Nutzungsvertrag fasst.106) Diese gedankliche Abgrenzung gilt es bei jeder vertraglichen Weitergabe einer Lizenz zu beachten, sei dies durch den Urheber oder nachfolgende Lizenznehmer. Eine Argumentation mit dem dinglichen Charakter des Nutzungsrechts (siehe dazu nachfolgend Rz. 88 ff.) zielt nur auf dieses, die Erfüllungswahl des Verwalters nach § 103 InsO bzw. eine Argumentation mit dem Sukzessionsschutz (siehe dazu Rz. 82 ff.) auf den schuldrechtlichen Anspruch. Gerade vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des BGH (siehe dazu Rz. 89 ff.) spricht jedoch Einiges für die schuldrechtliche Gestaltung des Lizenzvertrages als dem sicheren Weg zur Insolvenzfestigkeit des Nutzungsrechts. 4.1
Lizenzen in der Insolvenz des Lizenzgebers
82 Dem Insolvenzverwalter steht nach § 103 InsO ein Wahlrecht zu, ob er die Erfüllung eines noch nicht vollständig erfüllten Lizenzvertrages verlangt oder ablehnt, wobei die Voraussetzungen und Folgen einer – möglichen – Erfüllungsablehnung im Einzelfall genau zu betrachten sind. Der BGH ordnet Lizenzverträge zwar grundsätzlich entsprechend der Rechtspacht als Dauernutzungsvertrag i. S. der §§ 108, 112 InsO ein.107) Da aber kein unbewegliches Vermögen betroffen ist, eröffnen solche Nutzungsverträge auch nach Ansicht des BGH für den Insolvenzverwalter einer jeden Vertragspartei – vorbehaltlich der tatsächlichen Voraussetzungen – ein Wahlrecht nach § 103 InsO.108)
___________ 103) BGH, Beschl. v. 5.7.2005 – VII ZB 5/05, GRUR 2005, 969, 970. 104) BGH, Beschl. v. 5.7.2005 – VII ZB 5/05, GRUR 2005, 969, 970; Fezer, Markenrecht, G. Domainrecht – Kennzeichen im Internet, Rz. 108; Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 406; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 252. 105) BGH, Beschl. v. 5.7.2005 – VII ZB 5/05, GRUR 2005, 969, 970; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 252. 106) Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 661, 661. 107) BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14 (ECOsoil), Rz. 43, NZI 2016, 97, 101; Gottwald-Huber, Hdb. InsR, § 37 Rz. 49 m. w. N. 108) BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14 (ECOsoil), Rz. 43, NZI 2016, 97, 101. So. i. E. auch: KG Berlin, Beschl. v. 23.4.2012 – 20 SCHH 3/09, NZI 2012, 759, 761 = ZIP 2012, 990; Commandeur in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 36 Rz. 356; a. A. wendet § 108 InsO analog an; v. Frentz/Masch, ZIP 2011, 1245, 1249.
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4.1.1 Voraussetzungen des Wahlrechts Voraussetzung für das Wahlrecht des Insolvenzverwalters gemäß § 103 InsO ist neben der 83 Anwendbarkeit von § 103 InsO auf Lizenzverträge (siehe dazu vorstehend Rz. 82), dass der Lizenzvertrag in seinen synallagmatischen Haupt- und Nebenleistungspflichten noch nicht beidseitig vollständig erfüllt ist.109) Bedeutsam, insbesondere i. R. kautelarer Gestaltung, ist daher deren Abgrenzung zu nicht wesentlichen Nebenpflichten. Hinsichtlich der Frage der Erfüllung kann auf die in Bezug auf § 362 BGB entwickelten Maßstäbe abgestellt werden, damit auf die Bewirkung eines Leistungserfolges – im Unterschied zur Leistungshandlung – i. S. des vertraglich fixierten Parteiwillens.110) Beide Fragen – Abgrenzung im Pflichtenprogramm sowie deren Erfüllung – sind jeweils 84 einzelfallbezogen aufgrund des konkreten Lizenzvertrages zu beantworten. Bei Verträgen, in denen die Lizenzgebühren ratierlich für die Nutzungseinräumung für bestimmte Zeiträume zu entrichten sind, wird man regelmäßig davon ausgehen können, dass beidseitig noch keine vollständige Vertragserfüllung vorliegt. Im Fall des Lizenzkaufs, bei dem gegen einmalige Zahlung eines „Kaufpreises“ die Lizenz erteilt wird, ist hingegen im Regelfall davon auszugehen, dass der Vertrag mit dem Austausch dieser beiden Hauptleistungen beidseitig vollständig erfüllt ist und damit ein Wahlrecht nach § 103 InsO ausscheidet;111) gleiches kann der Fall sein, wenn der Lizenzgeber die Lizenz unwiderruflich eingeräumt hat.112) Ein Wahlrecht kann aber z. B. auch dann ausscheiden, wenn sich die Lizenznehmerin auf Grundlage eines Austauschvertrag mit weiteren Konzerngesellschaften im Interesse eines gemeinsamen Markenauftritts zur Nutzung einer Marke und die (insolvente) Lizenzgeberin im Gegenzug zur unentgeltlichen Einräumung eines entsprechenden Nutzungsrechts für die Dauer des Bestehens des Konzerns verpflichten.113) Mit der Einräumung der Lizenz und deren vereinbarungsgemäßen Nutzung kann dann eine beidseitige vollständige Erfüllung vorliegen.114) Zu beachten ist wie ausgeführt, dass ggf. nichterfüllte Nebenleistungspflichten – sofern 85 diese nach dem Parteiwillen nicht bedeutungslos sind – ein Wahlrecht nach § 103 InsO eröffnen können.115) Hierbei kann es sich auf Seiten des Lizenznehmers etwa um Ausübungs- oder Nichtangriffspflichten oder ein Recht zur Weiterentwicklung handeln, mit entsprechender Verpflichtung zur Rücklizensierung an den Lizenzgeber. Auf dessen Seite kommen bspw. in Betracht die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des Schutzrechts (durch Zahlung von Verlängerungsgebühren) bzw. die Verteidigung gegen Dritte oder zur Information hinsichtlich solcher Umstände, die es gefährden könnten.116) Die Zusammensicht dieser beiden Elemente – Identifizierung von Synallagma und geschul- 86 detem Leistungserfolg – deutet bereits die erforderlichen Konsequenzen für die Praxis an, ___________ 109) BGH Urt. v. 16.5.2019 – IX ZR 44/18, Rz. 23, 28, NZI 2019, 587 = BeckRS 2019, 10835; BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14 (ECOsoil), Rz. 45, NZI 2016, 97, 101. 110) OLG München, Urt. v. 25.7.2013 – 6 U 541/12 (Technische Schutzrechte), GRUR 2013, 1125, 1132. Zum Leistungsbegriff des § 362 BGB statt aller Fetzer in: MünchKomm-BGB, § 362 Rz. 2. 111) BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14 (ECOsoil), Rz. 45, NZI 2016, 97, 101 m. w. N.; Brinkmann, NZI 2012, 735, 739 f.; vgl. auch LG München I, Urt. v. 9.2.2012 – 7 O 1906/11, ZIP 2012, 1770 = GRUR-RR 2012, 142 ff. 112) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 74 ff. 113) Vgl. BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 143/14 (ECOsoil), Rz. 45, NZI 2016, 97, 101. 114) BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 143/14 (ECOsoil), Rz. 45, NZI 2016, 97, 101. 115) BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14 (ECOsoil), Rz. 45, NZI 2016, 97, 101 m. w. N.; Rüther, NZI 2016, 103, 104; Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 47 Rz. 74; Braun-Kroth, InsO, § 103 Rz. 20; Huber in: MünchKomm-InsO, § 103 Rz. 123. 116) Vgl. zu Differenzierung des Pflichtenprogramms Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 661 (Teil I) und GRUR-Prax 2021, 695 (Teil II).
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Teil V Einzelfragen
nämlich Isolierung der Hauptpflichten in einer sprachlich und durch Mittel des Layouts abgesetzten Klausel, sowie ausdrückliche Bezeichnung der nicht wesentlichen Nebenpflichten als solche, dies insbesondere vor dem Hintergrund der Abdingbarkeit des § 320 BGB.117) Eine sprachliche Verquickung beider (z. B. durch Bezugnahme auf eine zukünftige Rücklizensierung bei Weiterentwicklung innerhalb der Hauptlizenzklausel) sollte deshalb aus Sicherheitserwägungen vermieden werden. 4.1.2 Ausübung des Wahlrechts und dessen Folgen 87 Sofern eine Erfüllungsablehnung i. S. von § 103 InsO möglich und wirtschaftlich z. B. wegen einer besseren Verwertungsmöglichkeit des lizensierten Rechts aus Sicht der Insolvenzmasse zweckmäßig ist, kann die Insolvenz des Lizenzgebers für den Lizenznehmer gravierende Folgen haben, wenn er durch die Erfüllungsablehnung das Nutzungsrecht an dem immateriellen Gut verliert. Hinsichtlich der Folgen der Erfüllungsablehnung ist zu unterscheiden, ob dem Lizenznehmer eine einfache oder eine ausschließliche Lizenz gewährt wurde. 4.1.2.1
Ausschließliche Lizenzen
88 Mit der ausschließlichen Lizenz wird dem Lizenznehmer die alleinige und ausschließliche Nutzungsmöglichkeit an immateriellen Gütern eingeräumt. Sie begründet ein Abwehrrecht gegen Dritte sowie ggf. gegen den Lizenzgeber selber.118) Nach (wohl noch) h. M. kann der Lizenznehmer eine ausschließliche Lizenz in der Insolvenz des Lizenzgebers – trotz Erfüllungsablehnung – aussondern, (§ 47 InsO) da die ausschließliche Lizenz dem Lizenznehmer eine quasi absolute, dingliche Rechtsposition zuweist.119) Dem Lizenznehmer wird somit ermöglicht, die Lizenz für die im Lizenzvertrag vereinbarte Nutzungszeit zu nutzen. Der Inhalt und Umfang des Aussonderungsrechts bestimmen sich sowohl nach den Gesetzen, die außerhalb des Insolvenzverfahrens gelten (§ 47 Satz 2 InsO), als auch nach dem Lizenzvertrag.120) 4.1.2.2
Einfache Lizenzen
89 Eine einfache Lizenz gewährt dem Lizenznehmer zwar ein positives Nutzungsrecht, räumt ihm jedoch kein Abwehrrecht gegen die Nutzung Dritter ein.121) Nach Entscheidungen des BGH122), wird in der Literatur123) diskutiert, ob auch einfache Lizenzen trotz Ablehnung der Erfüllung in der Insolvenz des Lizenzgebers weiterhin vom Lizenznehmer genutzt werden können. ___________ 117) Emmerich in: MünchKomm-BGB, § 320 Rz. 57. Im Einzelnen dazu Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 695, 697, der in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf Hölder/Schmoll, GRUR 2004, 830, 835, auch einen Verzicht des Lizenznehmers auf die Einrede des § 320 BGB vorschlägt, da es letztlich den Zweck des § 103 InsO darstelle, sie dem Vertragspartner (bei Ablehnung der Erfüllung) nehmen zu können. 118) Commandeur in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 15 Rz. 12, 17. 119) Gottwald-Huber, Hdb. InsR, § 37 Rz. 50 m. w. N. Ganter in: MünchKomm-InsO, § 47 Rz. 339, 339m, 5a, konkretisiert auf Patent- und Knowhow-Lizenzen, falls sie (positiv und) exklusiv sind; Koehler/ Ludwig, NZI 2007, 79, 82; Bausch, NZI 2005, 289, 293 ff.; Raeschke-Kessler/Christopeit, ZIP 2013, 345, 349 f. 120) Bausch, NZI 2005, 289, 293 ff. 121) Commandeur in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 15 Rz. 14; Berger, ZInsO 2013, 569, 572. 122) BGH, Urt. v. 26.4.2009 – I ZR 153/06 (Reifen-Progressiv), NJW-RR 2010, 186; BGH, Urt. v. 29.4.2010 – I ZR 69/08 (Vorschaubilder), ZIP 2010, 5 = NJW 2010, 2731; BGH, Urt. v. 19.7.2012 – I ZR 70/10 (M2Trade), NJW 2012, 3301, 3303 = ZIP 2012, 1561; BGH, Urt. v. 19.7.2012 – I ZR 24/11 (Take Five), ZIP 2012, 1671 = NJW-RR 2012, 1127. 123) Brinkmann, NZI 2012, 735, 737; Marotzke, ZInsO 2012, 1737, 1744; v. Frentz/Masch, ZUM 2012, 886; Meyer-van Raay, NJW 2012, 3691, 3693 f.; Raeschke-Kessler/Christopeit, ZIP 2013, 345, 349.
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Wirth/Göb
Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 38
Der BGH124) hatte sich in diesen Entscheidungen mit der Frage beschäftigt, ob der Unterli- 90 zenznehmer das lizenzierte Recht unabhängig vom Bestand des Hauptlizenzvertrages – dieser war in den entschiedenen Fällen wegen Kündigung des Hauptlizenzgebers bzw. Rückruf der Hauptlizenz beendet – weiterhin nutzen kann und dies in den konkreten Fällen angenommen. Aus dieser Rechtsprechung wird von Teilen der Literatur gefolgert, dass auch die einfache Lizenz insolvenzfest sei und ihr ein „dinglicher Charakter“ zugesprochen werden könne.125) Dies führe dazu, dass der Lizenznehmer – auch im Zwei-Personen-Verhältnis – trotz Wahl der Nichterfüllung des Insolvenzverwalters über das Vermögen des Lizenzgebers berechtigt sein soll, die einfache Lizenz zu nutzen.126) Diese Annahme wird inzwischen zutreffend abgelehnt.127) Aus der Rechtsprechung des 91 BGH – die nicht im Zusammenhang mit § 103 InsO oder der Frage des Bestehens eines Aussonderungsrechts erging – könne nicht auf den insolvenzrechtlichen Charakter von einfachen Lizenzen geschlossen werden. Auch der BGH hat in aktuelleren Entscheidungen die Behandlung der Unterlizenz bei Wegfall des Hauptlizenzvertrags nicht mehr an dem „dinglichen Charakter“128) der Lizenz, sondern vielmehr an dem sog. Sukzessionsschutz festgemacht.129) Das Institut des Sukzessionsschutzes führt zur Aufrechterhaltung eines abgeleiteten Rechts (z. B. Unterlizenz) auch wenn der Inhaber des Mutterrechts das Mutterrecht überträgt.130) Die Tatsache, dass ein Recht – außerhalb eines insolvenzrechtlichen Zusammenhangs – Sukzessionsschutz genießt, begründet aber weder dessen dinglichen Charakter noch dessen Insolvenzfestigkeit.131) Mithin beurteilt sich das Recht des Lizenznehmers zur Nutzung der nicht ausschließlichen Lizenz alleine nach den Regelungen des Lizenzvertrags.132) Grundsätzlich erlöschen solche Lizenzen mit der Beendigung des Lizenzvertrags. Die Erfüllungsablehnung gemäß § 103 InsO führt zwar nicht zum Erlöschen der vertraglichen Pflichten,133) aber, wegen der daraus resultierenden dauerhaften Undurchsetzbarkeit des Überlassungsanspruchs aus dem Lizenzvertrag, dazu, dass der Lizenznehmer das Recht verliert, das immaterielle Gut zu nutzen.134) ___________ 124) BGH, Urt. v. 26.4.2009 – I ZR 153/06 (Reifen-Progressiv), NJW-RR 2010, 186, 187; BGH, Urt. v. 19.7.2012 – I ZR 70/10 (M2Trade), NJW 2012, 3301, 3303 = ZIP 2012, 1561. 125) v. Frentz/Masch, ZUM 2012, 886, 887; Scholz, GRUR 2009, 1107, 1111. 126) Scholz, GRUR 2009, 1107, 1111. 127) Ganter, NZI 2011, 833, 835; Brinkmann, NZI 2012, 735, 737; Berger, GRUR 2013, 321, 324; RaeschkeKessler/Christopeit, ZIP 2013, 345, 349; Fischer, WM 2013, 821, 828 f.; Rüther, NZI 2016, 103, 104; Dahl/Schmitz, NZI 2013, 878, 879; Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 661, 663. 128) Der BGH hat in den Entscheidungen „M2Trade“ und „Take Five“ nicht erneut auf einen dinglichen Charakter des durch die Lizenz begründeten Nutzungsrechts hingewiesen; so zuvor noch BGH, Urt. v. 29.4.2010 – I ZR 69/08 (Vorschaubilder), ZIP 2010, 5 = NJW 2010, 2731, 2734; BGH, Urt. v. 26.3.2009 – I ZR 153/06 (Reifen-Progressiv), NJW-RR 2010, 186, 189. Auch in der Entscheidung „ECOsoil“ zitiert er (Rz. 16, 41) das Berufungsgericht zur „quasi dinglich wirkenden Abspaltung“ lediglich, ohne diesen Aspekt jedoch selbst aufzugreifen. 129) Brinkmann, NZI 2012, 735, 737; Berger, GRUR 2013, 321, 324; Raeschke-Kessler/Christopeit, ZIP 2013, 345, 347; Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 661, 663; Rüther, NZI 2016, 103, 104 weist auch darauf hin, dass der BGH (BGH, Urt. v. 21.10.2015 – I ZR 173/14, NZI 2016, 97) den (angeblich) „dinglichen“ Charakter der Lizenz nicht angesprochen habe. 130) Berger, GRUR 2013, 321, 323; der Sukzessionsschutz für Lizenzen lässt sich aus § 33 Satz 2 UrhG, § 30 Abs. 5 MarkenG, § 31 Abs. 5 DesignG, § 15 Abs. 3 Fall 1 PatG, § 22 Abs. 3 Fall 1 GebrMG herleiten. 131) Brinkmann, NZI 2012, 735, 738; Berger, GRUR 2013, 321, 324; Ganter, NZI 2011, 833, 836; McGuire, GRUR 2009, 13, 16; Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 661, 663; Dahl/Schmitz, BB 2013, 1032, 1035; Fischer, WM 2013, 821, 829. 132) Die einfache Lizenz ist untrennbar mit dem schuldrechtlichen Vertrag verbunden, vgl. KG Berlin, Beschl. v. 23.4.2012 – 20 SCHH 3/09, NZI 2012, 759, 761 = ZIP 2012, 990. 133) Materiell-rechtlich lässt die Erfüllungsablehnung den Vertrag unberührt, vgl. Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 103 Rz. 157; Braun-Kroth, InsO, § 103 Rz. 51. 134) Ganter, NZI 2011, 833, 838; Brinkmann, NZI 2012, 735, 739.
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§ 38
Teil V Einzelfragen
92 Um den Lizenznehmer in der Insolvenz des Lizenzgebers gegen die Erfüllungsablehnung abzusichern, werden unterschiedliche Möglichkeiten diskutiert. Als rechtlichen Gestaltungen werden u. a. x
ein aufschiebend bedingtes Recht zur weiteren Nutzung/zum Erwerb der Lizenz im Fall außerordentlicher Kündigung aus wichtigem Grund gegen einmalige Vergütung,135)
x
die Einräumung eines Nießbrauchsrechts,136)
x
die „Flucht in den Sukzessionsschutz“ durch Erteilung von Unterlizenzen,137)
x
die treuhänderische Übertragung des Immaterialgüterrechts auf eine unabhängige Gesellschaft (Doppeltreuhand),138)
x
das Einbringen der Lizenz in eine Gesellschaft, die im Insolvenzfall des Lizenzgebers fortgesetzt wird, so dass der Anteil des ausscheidenden Lizenzgebers den übrigen Gesellschaftern anwachsen kann,139) oder
x
auch die Sicherungsübertragung bzw. -verpfändung des lizensierten Schutzrechts angeführt.140)
93 Solche Gestaltungen sind im Einzelfall auf ihre Insolvenzfestigkeit zu durchleuchten, z. B. unter dem Gesichtspunkt der Umgehung von § 103 InsO (vgl. § 119 InsO).141) Aus diesem Grund ist bei der Gestaltung einer Kündigungsmöglichkeit der Insolvenzfall als wichtiger Grund zu vermeiden. Empfohlen wird weiter die klare sprachliche Trennung von synallagmatischen Haupt- und Nebenpflichten durch abschließende Formulierung der eigentlichen Lizenzklausel (Verpflichtung zur Gewährung der Lizenz gegen Vergütung).142) Eine sprachliche Vermischung mit solchen Pflichten, die hinsichtlich ihrer Wesentlichkeit Interpretationsspielraum eröffnen, ist zu vermeiden. Eine Trennung wird etwa empfohlen bei x
Verpflichtung des Lizenzgebers zur Aufrechterhaltung des Rechts,
x
zukünftige Verpflichtung des Lizenzgebers zur Lizensierung eigener Weiterentwicklungen oder Informations-, Aufklärungs- und Verteidigungspflichten gegen Dritte, oder
x
Verpflichtungen des Lizenznehmers zu rechtserhaltender Ausübung oder Nichtangriff auf die Lizenz.143)
94 Als wirtschaftlicher Anreiz für die Insolvenzmasse wird zudem vorgeschlagen, in dem Lizenzvertrag entsprechende Regelungen aufzunehmen. Dies könne z. B. dadurch erfolgen, dass gestaffelte Lizenzgebühren über den gesamten, im Lizenzvertrag vorgesehenen Nutzungszeitraum vereinbart werden, so dass der Insolvenzverwalter aufgrund der weiteren erwarteten Zahlungseingänge geneigt ist, Erfüllung zu wählen.144) Gleichwohl kann hierdurch ___________ 135) BGH, Urt. v 17.11.2005 – IX ZR 162/04 (Softwarenutzungsrecht), ZIP 2006, 87, als einzige ausgeurteilte Möglichkeit, deren praktischer Nachteil aber in der Notwendigkeit der Einmalvergütung liegt. Das gleiche wirtschaftliche Problem stellt sich, zieht man sogleich einen Erwerb des Rechts in Betracht. Vgl. Commandeur in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 36 Rz. 440, 447. 136) Koós, MMR 2017, 13, 14; Freier, NZI 2016, 857, 858. 137) Vgl. hierzu Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 695, 697. 138) Koós, MMR 2017, 13, 14. 139) Freier, NZI 2016, 857, 859. Auch hier stellt sich das in Fn. 135 angesprochene wirtschaftliche Problem der Erforderlichkeit eines Abfindungsanspruchs. 140) Vgl. hierzu Schmid/Kampshoff, GRUR-Prax 2009, 50; Ganter, NZI 2011, 833, 837 f. – unter Hinweis auf Berger, GRUR 2004, 20, 22; Bork, NZI 1999, 337, 339 ff.; Hölder/Schmoll, GRUR 2004, 830, 831 ff. 141) Ganter, NZI 2011, 833, 837 f. unter Hinweis auf Berger, GRUR 2004, 20, 22; Bork, NZI 1999, 337, 339 ff.; Hölder/Schmoll, GRUR 2004, 830, 831 ff. 142) Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 695, 697. 143) Vgl. hierzu Werkmeister, GRUR-Prax 2021, 661, 662 und GRUR-Prax 2021, 695, 697. 144) Commandeur in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, 2. Aufl., § 36 Rz. 399.
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Wettbewerbsrecht und Lizenzen im Rahmen der Betriebsfortführung
§ 38
nicht die Verwertung der Lizenz sichergestellt, sondern nur ein möglicher Schaden begrenzt werden.145) 4.2
Lizenzen in der Insolvenz des Lizenznehmers
Unabhängig davon, ob man der einfachen Lizenz – wie der ausschließlichen Lizenz – einen 95 dinglichen Charakter zuspricht146), fallen die schuldrechtlichen Ansprüche aus dem Lizenzvertrag in die Insolvenzmasse des Lizenznehmers.147) Ob der Insolvenzverwalter die Lizenzen daher für die Masse weiterhin nutzen oder verwerten kann, hängt davon ab, ob er die Erfüllung des noch nicht vollständig erfüllten – und bislang ungekündigten148) – Lizenzvertrages verlangt oder ablehnt (§ 103 InsO).149) Wählt der Insolvenzverwalter die Erfüllung des Vertrages, kann er die Lizenz nach den im Vertrag vorgesehenen Bedingungen weiternutzen; der Anspruch des Lizenzgebers auf Lizenzgebühr wird zur Masseforderung (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO).150) Trotz der Möglichkeit Lizenzen grundsätzlich mittels Erfüllungswahl nach der Insolvenz- 96 eröffnung weiter zu nutzen, besteht oftmals die Problematik, dass diese aufgrund der vertraglichen Ausgestaltung des Lizenzvertrags unübertragbar und damit rechtsträgergebunden sind. Eine Verwertung i. R. einer übertragenden Sanierung ohne Mitwirkung des Lizenzgebers scheidet damit bei einer solchen Gestaltung aus. Ist dies nicht der Fall, erlaubt § 34 Abs. 3 Satz 1 UrhG den Einbezug des Rechts bei einer übertragenden Sanierung ohne Zustimmung des Urhebers.151) Allerdings soll der Lizenzgeber auch bei entgegenstehender vertraglicher Gestaltung diese Zustimmung zur Übertragung im Insolvenzfall nicht treuwidrig verweigern dürfen.152) Im Zusammenhang mit dem Urheberrecht unterliegenden Softwarelizenzen hat der BGH vor dem Hintergrund einer fraglichen konkludenten Zustimmung angenommen, dass bei der Weiterübertragung im Zuge der Verwertung der Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter in der Regel für den Urheber keine vernünftigen Gründe vorlägen, darauf zu bestehen, dass nur der ursprüngliche Vertragspartner das Werk nutzt. Zudem sei der Rechtsinhaber gehalten, seine Zustimmung zur Weiterübertragung nicht wider Treu und Glauben zu verweigern (§ 34 Abs. 1 Satz 2 UrhG).153) Unter anderem vor dem Hintergrund, dass die Übertragung rechtträgergebundener Vermö- 97 genswerte grundsätzlich der Zustimmung des Lizenzgebers bedarf, sind i. R. des ESUG die Vorschriften zur Sanierung des insolventen Rechtsträgers (Lizenznehmers) mittels Insolvenzplan ergänzt worden, um dieses Sanierungsinstrument handhabbarer und damit attraktiver zu machen;154) bei dieser Sanierungsvariante bedarf es keiner Übertragung der Lizenz. Um zu verhindern, dass die – durch §§ 217, 225a InsO möglichen – Änderungen der Gesellschafterstrukturen der insolventen Gesellschaften Lizenzgebern Kündigungsrechte geben (Change-of-Control-Clauses), wurde § 225a InsO im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens um Absatz 4 ergänzt.155) Danach berechtigen Änderungen in der Gesellschafter___________ 145) 146) 147) 148) 149) 150) 151) 152) 153) 154) 155)
Commandeur in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, 2. Aufl., § 36 Rz. 399. Vgl. zu der Diskussion eines dinglichen Charakters der Lizenz Rz. 85 ff. Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 337; Uhlenbruck-Hirte/Praß, InsO, § 35 Rz. 254. Hier sind insbesondere die zwingenden Kündigungsbeschränkungen der §§ 112, 119 InsO zu berücksichtigen. Berger, ZInsO 2013, 569, 572. Heye/Lachmann in: Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 44 Rz. 68. Schmittmann/Ademi, DZWIR 2022, 342, 350. Berger, ZInsO 2013, 569, 576 f. BGH, Urt. v. 3.3.2005 – I ZR 111/02 (Fash 2000), NJW-RR, 2005, 1403, 1405. Vgl. Begr. RegE ESUG, BR-Drucks. 127/11, S. 42, der ausdrücklich Lizenzen als rechtsträgergebundene Positionen nennt. Vgl. hierzu Stellungnahme des BRats v. 15.4.2011, BR-Drucks. 127/11 (Beschluss), S. 13; vgl. zur Kritik an der ursprünglichem Entwurf Brinkmann, WM 2011, 97, 100; Simon, CF Law 2010, 448, 457.
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§ 38
Teil V Einzelfragen
struktur durch Insolvenzplan nicht zum Rücktritt oder zur Kündigung von Verträgen und führen auch nicht zu einer anderweitigen Beendigung der Verträge. Auch entgegenstehende vertragliche Vereinbarungen sind danach unwirksam. 5.
Sicherungsrechte an immateriellen Wirtschaftsgütern und Lizenzen – Einzelne Aspekte
98 An Immaterialgüterrechten bestehen häufig Absonderungsrechte (§§ 50 f. InsO) in Form von Sicherungsübertragungen oder Verpfändungen. Die Sicherungsübertragung führt dazu, dass dem Sicherungsgeber das Recht zur Nutzung des immateriellen Wirtschaftsguts nicht mehr zusteht.156) Soweit das Immaterialgüterrecht aber von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung für den Produktionsprozess des Sicherungsgebers ist – was in diesen Fällen regelmäßig der Fall sein dürfte, da es ansonsten faktisch mangels Wertes keinen wesentlichen Sicherungsvorteil für den Kreditgeber bringt – ist eine Rücklizensierung erforderlich. 99 Besondere Relevanz kommt der Frage zu, wem die Verwertungsbefugnis bei absonderungsrechtsbelasteten Immaterialgüterrechten in der Insolvenz zusteht.157) Maßgeblich ist hierbei die Auslegung von § 166 Abs. 2 InsO, der dem Insolvenzverwalter das Recht zur Verwertung sicherungsabgetretener „Forderungen“ gibt. Hierbei ist in einem ersten Schritt zwischen der Verpfändung und der Sicherungsübertragung des Immaterialgüterrechts zu unterscheiden. 100 In der Begründung zum Regierungsentwurf zur InsO wird ausgeführt, dass eine verpfändete Forderung des Schuldners nicht in den Anwendungsbereich des § 166 Abs. 2 InsO fallen soll, so dass die Verwertungsbefugnis beim Pfandgläubiger liegt.158) Dementsprechend steht dem Insolvenzverwalter bei einer Verpfändung von Immaterialgüterrechten kein Verwertungsrecht zu. 101 Im Hinblick auf die Verwertungsbefugnis sicherungsabgetretener (Immaterialgüter-)Rechte ist in der Rechtsprechung ungeklärt und in der Literatur umstritten, ob diese beim Sicherungsnehmer159) oder analog § 166 InsO beim Insolvenzverwalter liegt.160) Eine Analogiebildung wird mit der Rechtslage unter Geltung der KO – nach der dem Verwalter eine Verwertungsbefugnis zustand – gerechtfertigt, da nicht anzunehmen sei, dass an dem bisherigen Rechtszustand etwas geändert werden sollte.161) Liegt die Verwertungsbefugnis nicht beim Insolvenzverwalter könnte eine Unternehmensfortführung erschwert werden, da die wirtschaftliche Einheit (z. B. Maschine und Patent) zerrissen werden könnte.162) Gegen eine Analogie spricht aber der eindeutige Wortlaut des § 166 Abs. 2 InsO, nachdem nur „Forderungen“ und nicht auch „sonstige Rechte“ erfasst sind. Eine Analogiebildung würde mithin die deutliche Entscheidung des Gesetzgebers gegen ein Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters missachten.163) ___________ 156) Berger, ZInsO 2013, 569, 577. 157) Uhlenbruck-Brinkmann, InsO, § 166 Rz. 35; Braun-Dithmar, InsO, § 166 Rz. 30; Berger, ZInsO 2013, 569, 578. 158) Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 178 f.; so auch BGH, Urt. v. 11.4.2013 – IX ZR 176/11, Rz. 15, ZIP 2013, 987 = BeckRS 2013, 07710 m. w. N.; a. A. Marotzke, ZZP 109 (1996) 429, 447 f. 159) Tetzlaff in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl., 2013, § 166 Rz. 97 ff m. w. N.; Kern in: MünchKomm-InsO, § 166 Rz. 11, 101 ff.; Gundlach/Frenzel/N. Schmidt, NZI 2001, 119, 123; Landfermann in: HK-InsO, § 166 Rz. 19; Wallner, ZInsO 1999, 453, 454. 160) Nerlich/Römermann-Becker, InsO, § 166 Rz. 35; Braun-Dithmar, InsO, § 166 Rz. 30; Berger, ZInsO 2013, 569, 578. 161) Marotzke, ZZP 109 (1996) 429, 450; Nerlich/Römermann-Becker, InsO, § 166 Rz. 35; Braun-Dithmar, InsO, § 166 Rz. 30. 162) Berger, ZInsO 2013, 569, 577. 163) Wallner, ZInsO 1999, 453, 454; Gundlach/Frenzel/N. Schmidt, NZI 2001, 119, 123.
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§ 39 Betriebsfortführung in Sonderfällen Mönig/Coordes
Übersicht I. Einführung .................................................. 1 II. Insolvenzrecht versus sonstige Rechtsgebiete (Berufs-/Verbandsrecht) ............................................................ 8 III. Die Betriebsfortführung der freien Berufe ......................................................... 14 1. Ärzte und Ärztinnen/Zahnärzte und Zahnärztinnen ............................................ 15 1.1 Allgemeines.................................... 15 1.2 Modelle der Fortführung einer Arztpraxis ............................. 20 1.3 Offenlegung der Honorarforderungen gegenüber dem Insolvenzverwalter ................ 26 1.4 (Un-)Wirksamkeit von Vorausabtretungen der Forderungen gegen die kassenärztliche Vereinigung.................................... 27 2. Apotheker/Apothekerinnen...................... 37 3. Rechtsanwälte/Rechtsanwältinnen ........... 40 3.1 Allgemeines.................................... 40 3.2 Keine Widerlegung der Vermutung durch bloße Eröffnung des Insolvenzverfahrens ................ 45 3.3 Widerlegung der Vermutung durch Ankündigung der Restschuldbefreiung ............................. 46 3.4 Widerlegung der Vermutung durch Wechsel in ein Angestelltenverhältnis............................ 51 3.5 Widerlegung der Vermutung durch einen Insolvenzplan ............ 54
3.6
Kompetenzkonflikt zwischen Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter......................................... 60 4. Steuerberater/Steuerberaterinnen ............. 62 5. Wirtschaftsprüfer/Wirtschaftsprüferinnen ....................... 63 6. Architekten/Architektinnen ..................... 67 IV. Die Betriebsfortführung des Profifußballvereins............................. 71 1. Rechtliche und tatsächliche Ausgangslage .............................................. 72 2. Vorrang der InsO bzw. des staatlichen Rechts ......................................................... 83 2.1 Kein Vorrang der Vertragsautonomie ...................................... 84 2.2 Wirksamkeit der Regelungen zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bzw. ihrem Wegfall ........ 88 2.2.1 Wegfall der Leistungsfähigkeit und Insolvenz eines Vereins in der Lizenzliga ............................ 97 2.2.2 Automatischer Entzug der Lizenz mit Verfahrenseröffnung ............ 101 2.2.3 Wegfall der Leistungsfähigkeit und Insolvenz eines Vereins in der dritten Liga und Amateurligen ............................... 105 2.2.4 Regelungen zum Erlöschen von Lizenzen bzw. Zulassungen....115 2.3 Anwendbarkeit und Vorrang der §§ 1, 103, 119 InsO ............... 117 3. Besonderheiten in der Kommunikation .... 127 V. Zusammenfassung .................................. 130
Literatur: Adolphsen, Lizenz und Insolvenz von Sportvereinen, KTS 2005, 53; Akhamal/Jantos/ Panthel/Simon, Kommunikation in der Krise – eine Fallstudie am Beispiel der Insolvenz der Handballbundesligamannschaft TUSEM Essen, InsbürO 2009, 406; Dworak, Finanzierung für Fußballunternehmen – Erfolgreiche Wege der Kapitalbeschaffung, 2010; Ehlers, Vermeidung des Widerrufs der Zulassung als kammergebundener Freiberufler wegen Vermögensverfalls, NJW 2008, 1480; Fritzweiler/ Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Aufl., 2020; Graf/Wunsch, Nochmals: Insolvenzplan und Eigenverwaltung – Ein gangbarer Weg auch in der Insolvenz von Rechtsanwälten, Notaren und Steuerberatern?, ZVI 2005, 105; Graf/Wunsch, Eigenverwaltung und Insolvenzplan – gangbarer Weg in der Insolvenz von Freiberuflern und Handwerkern?, ZIP 2001, 1029; Gutzeit, Die Vereinsinsolvenz unter besonderer Berücksichtigung des Sportvereins, 2003; Haas, Die Auswirkungen der Insolvenz auf die Teilnahmeberechtigung der Sportvereine am Spiel- und Wettkampfbetrieb, NZI 2003, 177; Heermann (Hrsg.), Lizenzentzug und Haftungsfragen im Sport, 2005; Keramati/Hölken, Hürden in der Insolvenz einer Apotheke, NZI 2019, 833; Kleine-Cosack, Verschärfte Voraussetzungen beim Widerruf freiberuflicher Zulassungen, NJW 2004, 2473; Kluth, Die freiberufliche Praxis „als solche“ in der Insolvenz – „viel Lärm um nichts“?, NJW 2002, 186; Koch, Die Insolvenz des selbstständigen Rechtsanwalts, 2008; König/de Vries, Nach dem Spiel ist vor dem Spiel? – Auswirkungen der Insolvenz eines Fußballbundesligavereins auf die Spiellizenz, SpuRt 2006, 96; Korff, Der Fall Alemannia Aachen – Die Rechtswirksamkeit der Lösungs- und Insolvenzklauseln in den DFB-Regelwerken, ZInsO
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§ 39
Teil V Einzelfragen
2013, 1277; Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf die Rechtsverhältnisse von Proficlubs, 2007 (Diss.); Pfister, Auswirkungen des Insolvenzverfahrens auf Verbandsmitgliedschaft, SpuRt 2002, 103; Reichert, Sportverbandslizenzen im Bereich des Profimannschaftssports, (Teil 1) SpuRt 2003, 3; Ries, Die Praxis des Vertragsarztes in der Insolvenz; die Masse zahlt alle Betriebskosten und die Bank kassiert das Honorar?, ZInsO 2003, 1079; Schick, Der Konkurs des Freiberuflers – Berufsrechtliche, konkursrechtliche und steuerrechtliche Aspekte, NJW 1990, 2359; Schinkel, StaRUG: Viel Lärm um nichts oder das Beste aus beiden Welten?, ZVI 2021, 371; Schmittmann, Vermögensverfall und Widerruf der Bestellung bei freien kammergebundenen rechts- und steuerberatenden Berufen, NJW 2002, 182; Scholze, Grenze richterlicher Ermessensentscheidung: Die Ablehnung der Eigenverwaltung bei zwingender Einstellung des Geschäftsbetriebes im Falle der Bestellung eines Insolvenzverwalters?, NZI 2015, 923; Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl., 2018; Uhlenbruck, Insolvenzrechtliche Probleme der vertragsärztlichen Praxis, ZVI 2002, 49; Vallender, Die Arztpraxis in der Insolvenz, in: Festschrift für Friedrich Wilhelm Metzeler, 2003, S. 21; Walker, Zur Zulässigkeit von Insolvenzklauseln in den Satzungen der Sportverbände, KTS 2003, 169; Zeuner/Nauen, Der Lizenzligaverein in der Krise – Auswirkungen und Lösungsansätze in sportlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, NZI 2009, 213; Ziegler, Aktuelle Rechtsfragen der Insolvenz von Ärzten, Medizinischen Versorgungszentren, Krankenhäusern und Pflegeheimen, ZInsO 2014, 1577.
I.
Einführung
1 Die Entscheidung zur Fortführung des Geschäftsbetriebes mit dem Ziel der gleichmäßigen und bestmöglichen Befriedigung der Gläubiger und dem weiteren Verfahrensziel der Sanierung beruht zunächst auf betriebswirtschaftlichen sowie Potential- und Ursachenanalysen. In der Praxis werden die Entscheidung zur Fortführung und ihre Durchführung jedoch auch von Faktoren beeinflusst, die in der Eigenart der Unternehmung liegen und nicht allein durch betriebswirtschaftliche Mittel zu steuern sind. Um das Ziel einer wirtschaftlich sinnvollen Fortführung effektiv erreichen zu können, geht das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf den (vorläufigen) Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Zumindest erfolgt über die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO) oder Sachwalters (§ 270c InsO) eine Überwachung und Steuerung der Betriebsfortführung. Der (vorläufige) Insolvenzverwalter übernimmt daher die wirtschaftliche (Mit-)Verantwortung für das Unternehmen. 2 Dies ist bei kaufmännisch betriebenen Unternehmen, die ihre Einkünfte über den Einsatz von Kapital erwirtschaften, unproblematisch, da der Insolvenzverwalter in der Regel die nötige Geschäftskundigkeit mit sich bringen wird, wie es § 56 Abs. 1 InsO verlangt. Darüber hinaus kann sich der Insolvenzverwalter fachkundigen Personals bedienen. 3 Anders liegt die Situation jedoch, wenn der Wert des Unternehmens gerade in den persönlichen Fähigkeiten des insolventen Schuldners liegt, wie es bei den freien Berufen der Fall ist. Auch freiberufliche Praxen stellen Unternehmen dar, die von der InsO erfasst werden.1) Dies wird durch § 35 Abs. 2 InsO klargestellt, der allgemein selbstständige Tätigkeit erfasst, zu der auch die freien Berufe zu rechnen sind. Die Übernahme der Verantwortung für diese Unternehmen durch den Insolvenzverwalter ist insbesondere unter zwei Gesichtspunkten problematisch: x
Zum einen wird es dem Insolvenzverwalter oftmals an der erforderlichen Qualifikation fehlen.2) So wird bspw. im Falle eines insolventen Arztes ein Insolvenzverwalter regelmäßig nicht über die zum Betrieb einer Praxis notwendige Approbation verfügen.
Zum anderen fußt der Wert des Unternehmens auf den persönlichen Bindungen der Kunden zum insolventen Schuldner. Den Kunden geht es also nicht bloß um die Inanspruchnahme irgendeiner Dienstleistung. Wesentlich ist oftmals, dass genau der bestimmte Arzt oder Rechtsanwalt diese vornimmt. Denn im Gegensatz zu anderen ___________ x
1) 2)
Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 268, 276. Kluth, NJW 2002, 186, 188; Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1033.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
Dienstleistungen sind die freien Berufe durch das persönliche Vertrauensverhältnis zum Kunden geprägt.3) Dieses kann naturgemäß nicht vom Insolvenzverwalter übernommen werden. Darüber hinaus müssen die Kunden in die Überlassung ihrer Unterlagen zur Einsicht und ggf. zur Weiterführung der Angelegenheiten durch den Insolvenzverwalter einwilligen.4) Auch dies erweist sich als Hürde für die Betriebsfortführung. Einen weiteren Sonderfall in der Betriebsfortführung stellen Insolvenzen von Vereinen, 4 insbesondere von Sportvereinen und die von ihnen gehaltenen Kapitalgesellschaften, dar. Durch ihre zunehmende wirtschaftliche Beteiligung gewinnen diese erheblich an Bedeutung. Die Vermögenswerte eines professionell am Markt teilnehmenden Sportvereins, z. B. in Form von Werbe-, und Sponsoringverträgen und Merchandising, stehen in der Regel in unmittelbarem Zusammenhang mit der Fortführung des Spielbetriebes. Eine bestmögliche Befriedigung der Gläubiger wird in diesen Fällen daher nur durch eine Fortführung des Spielbetriebes zu erreichen sein. Auch die Teilnahme des Vereins am Spielbetrieb ist von der InsO erfasst, unabhängig 5 davon, ob es sich um eine korporationsrechtliche oder durch Lizenzvertrag vermittelte Teilnahmeberechtigung handelt. Zwar ist umstritten, ob eine korporationsrechtliche Teilnahmeberechtigung, also eine Teilnahmeberechtigung aus der Mitgliedschaft in einem Verband i. S. des § 38 BGB selbst übertragbar und verwertbar ist; nach einhelliger Auffassung unterliegt sie aber in jedem Fall insoweit dem Insolvenzbeschlag, als dass der Insolvenzverwalter das Teilnahmerecht durch Teilnahme am vom Verband organisierten Spiel- und Wettkampfbetrieb ausüben kann.5) Für den Insolvenzbeschlag der vertraglich gewährten Lizenz gilt selbiges. Die Befugnis des Insolvenzverwalters zur Teilnahme ergibt sich hierbei nach der Maßgabe des § 857 Abs. 3 ZPO.6) Mit wirtschaftlicher Krise und Insolvenz der Sportvereine geht jedoch ein ausdifferenziertes 6 Sanktionensystem der den Profisport organisierenden Verbände einher, welches trotz der Teilnahmerechte eine Fortführung nachhaltig erschwert. Bei der Entscheidung ob und in welchem Umfang eine Fortführung des Geschäftsbetriebes 7 vorgenommen wird, sind daher auch die der Unternehmung immanenten Besonderheiten, hier anhand der freien Berufe und am Beispiel des Profifußballvereins, zu berücksichtigen. II.
Insolvenzrecht versus sonstige Rechtsgebiete (Berufs-/Verbandsrecht)
Stellt die Fortführung einer Unternehmung die Möglichkeit zur bestmöglichen Befriedigung 8 der Gläubiger, dar, steht die Erfüllung dieser gesetzlichen Pflicht des Insolvenzverwalters zur Fortführung gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis mit Vorschriften anderer Rechtsgebiete. Im Rahmen der freien Berufe spielen hier besonders berufsrechtliche Regelungen, i. R. des Spielbetriebes von Sportvereinen das verbandsrechtliche Sanktionensystem eine Rolle. Diese haben andere Schutzrichtungen als die InsO. Die InsO dient in erster Linie der 9 gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger.7) Zielsetzung der Verbandsrechte ist es, insolvente Mitglieder möglichst aus dem Spielbetrieb zu entfernen, um den Ligabetrieb
___________ 3) 4) 5) 6) 7)
Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1031; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 282. Kluth, NJW 2002, 186, 188. Adolphsen in: Heermann, Lizenzentzug, S. 65, 74; Reichert, SpuRt 2003, 3, 6. Adolphsen in: Heermann, Lizenzentzug, S. 65, 74; Reichert, SpuRt 2003, 3, 6; ausführlich zum Streitstand: Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf Proficlubs, S. 128 ff. Braun-Kießner, InsO, § 1 Rz. 2.
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Teil V Einzelfragen
wirtschaftlich sicherzustellen,8) wobei selbst die Statuten der Verbände die Fortführungsmöglichkeiten des Insolvenzrechtes erkannt haben und nur noch einen Punkteabzug im Insolvenzfalle vorsehen. Die Berufsrechte dienen regelmäßig dem Schutz der Allgemeinheit. So sollen z. B. §§ 5, 23 ApoG zum Schutz der Volksgesundheit verhindern, dass jemand anderes als ein approbierter Apotheker den Betrieb einer Apotheke leitet. Dies kann sich im Falle einer Insolvenz mit Blick auf § 80 Abs. 1 InsO auswirken, wonach dem Insolvenzverwalter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das zur Masse gehörende Vermögen des Schuldners zukommt. 10 Auch aus anderen Gründen können Berufsregeln mit dem Insolvenzrecht in Konflikt geraten. So sehen insbesondere die Berufsordnungen für rechts- und steuerberatende Berufe zum Schutze Dritter den Entzug der Zulassung bei Vermögensverfall vor. Zu nennen sind hier die Vorschriften § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO, § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG und § 20 Abs. 2 Nr. 5 WPO. Eine Insolvenz geht aber regelmäßig mit einem Vermögensverfall einher. Die strikte Anwendung der Berufsrechte hätte dann stets zur Folge, dass der Freiberufler seine Zulassung verlöre; die Möglichkeit einer Betriebsfortführung schiede aus. 11 Dieses Ergebnis kann in dieser Absolutheit keinen Bestand haben. § 1 Satz 1 InsO stellt gerade zwei Wege zur Gläubigerbefriedigung zur Auswahl.9) Mit Blick auf § 35 Abs. 2 InsO, der auch selbstständige Tätigkeit in den Anwendungsbereich der InsO miteinbezieht, zu der die freien Berufe zu zählen sind, ist es nicht hinnehmbar, dass den Gläubigern eine dieser Möglichkeiten, die darüber hinaus regelmäßig die lukrativere sein wird, von vornherein genommen wird. Dies muss umso mehr nach Einführung des ESUG gelten, das grundsätzlich eine Sanierung des Betriebes erleichtern will.10) Eine solche ist in der Regel nur mit einer Betriebsfortführung zu erreichen. 12 Hinzu kommt, dass mittlerweile auch Freiberufler explizit dem persönlichen Anwendungsbereich der Restrukturierungsrichtlinie11) unterfallen, was die Betriebsfortführung zwingend voraussetzt.12) 13 Gleiches muss für Sportvereine bzw. die von ihnen betriebenen Kapitalgesellschaften gelten. Der in vielen Verbandsregelungen vorgesehene Lizenzentzug als unmittelbare Folge der Insolvenzeröffnung dürfte regelmäßig zur Stilllegung der Unternehmung führen und damit in einem Spannungsverhältnis zu den Zielen der InsO stehen. III.
Die Betriebsfortführung der freien Berufe
14 Auf welche Weise der Betrieb eines Freiberuflers in der Insolvenz fortgesetzt werden kann, ist für den jeweiligen Einzelfall anhand Besonderheiten des jeweiligen Berufsbildes zu beantworten.
___________ 8) Vgl. Präambel der Lizensierungsordnung (LO) des Ligaverbandes, Stand: 16.5.2019, abrufbar unter https:// media.dfl.de/sites/2/2019/06/Lizenzierungsordnung-LO-2019-05-16-Stand.pdf (Abrufdatum: 21.11.2022). 9) Schmittmann, NJW 2002, 182, 185. 10) RegE eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), BT-Drucks. 17/ 5712, S. 17. 11) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. 12) Schinkel, ZVI 2021, 371.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen 1.
Ärzte und Ärztinnen/Zahnärzte und Zahnärztinnen
1.1
Allgemeines
Im Fall der Insolvenz von Ärzten und Zahnärzten wird nach ganz überwiegender Ansicht 15 der gesamte Praxisbetrieb vom Insolvenzbeschlag erfasst.13) Das bedeutet, dass über den reinen Sachwert der darin enthaltenen Gegenstände, der Betrieb als solcher in der Insolvenz verwertet werden kann.14) Dies umfasst gerade den immateriellen Wert der Praxis wie den Patientenstamm und den Ruf des Arztes in der Öffentlichkeit.15) Dieser immaterielle Wert, der sog. Goodwill der Praxis, macht regelmäßig den Vermögens- 16 kern aus.16) Zwar verfügen Arztpraxen häufig über eine im Anschaffungszeitpunkt hochpreisige medizinische Ausstattung. Allerdings schreitet die Medizintechnik schnell fort, so dass Geräte in Arztpraxen häufig nicht mehr auf dem aktuellen Stand sind und deshalb bei der Verwertung bei weitem nicht mehr ihren Einkaufspreis erzielen. Eine für die Gläubiger bessere Befriedigungsmöglichkeit ergibt sich in der Regel dadurch, sich den immateriellen Wert der Praxis für sich nutzbar zu machen. Dies ist faktisch nur durch eine Betriebsfortführung möglich.17) Es ist allgemein anerkannt, dass eine Veräußerung des gesamten Praxisbetriebes zulässig ist;18) der Patientenstamm, und damit der eigentliche Wert der Praxis, ist aber aufgrund der Höchstpersönlichkeit der ärztlichen Dienstleistung untrennbar mit dem Schuldner verbunden. Dies stellt i. R. der Verwertung grundsätzlich kein rechtliches Hindernis dar, wird sich aber negativ auf den Kaufpreis auswirken. Eine Betriebsfortführung wird daher in vielen Fällen die günstigere Verwertungsmöglichkeit darstellen, indem die Gläubiger an den Erlösen aus der Fortführung der Praxis partizipieren. Dies gilt umso mehr, als die Gründe für die Insolvenz nicht selten außerhalb des Praxisbetriebes liegen.19) Häufige Insolvenzursachen sind zu hohe Privatentnahmen oder Fehlinvestitionen in sog. „Steuersparmodelle“,20) bei einer im Übrigen ertragreichen Praxis. Die Betriebsfortführung einer Arztpraxis wirft aber spezifische Probleme auf, die es zu lösen 17 gilt. Dabei ist anerkannt und unproblematisch, dass ein Insolvenzverwalter die Praxis fortsetzen kann, wenn er die hierfür nach § 2 BÄO nötig Qualifikation aufweist,21) also ein approbierter Arzt ist. Dies ist bei der ganz überwiegenden Zahl der Insolvenzverwalter jedoch nicht der Fall. Der Insolvenzverwalter darf also den Praxisbetrieb nicht selbst fortführen, weil er andernfalls gegen § 2 BÄO verstoßen würde.22) Gleiches gilt für den vorläufigen Insolvenzverwalter, unabhängig, ob es sich um sog. „schwachen“ Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt oder den sog. „starken“ Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis handelt. Des Weiteren hängt der zu realisierende Goodwill der Praxis auch an der Person des Schuldners, da die Patienten zu ihm ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben.23) ___________ 13) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 576; Uhlenbruck, ZVI 2002, 49. 14) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 576; Vallender in: FS Metzeler, S. 26; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 282. 15) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 507; Vallender in: FS Metzeler, S. 27; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 282. 16) Vallender in: FS Metzeler, S. 27. 17) Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1031; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 283. 18) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 576 – 580. 19) Vallender in: FS Metzeler, S. 21; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 283. 20) Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1035. 21) Vallender in: FS Metzeler, S. 25, 27. 22) Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1033. 23) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 282.
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Teil V Einzelfragen
18 Der Insolvenzverwalter kann den Schuldner daher nicht ersetzen; es kommt vielmehr auf eine Zusammenarbeit mit dem Schuldner an, will man die Betriebsfortführung erfolgreich gestalten.24) Eine erfolgreiche Zusammenarbeit hängt aber von verschiedenen Faktoren ab, einschließlich der Bereitschaft des Schuldners zur Fortführung seiner Praxis. Denn eine rechtliche Verpflichtung des Schuldners, den Praxisbetrieb fortzuführen besteht nicht.25) In der Regel wird es aber dem Interesse des Schuldners entsprechen, seinen Beruf weiter ausüben zu können.26) Außerdem besteht für den Schuldner die Aussicht, sich durch ein Insolvenzplanverfahren vor Ablauf der Wohlverhaltensphase zu entschulden und den Praxisbetrieb zu sanieren. 19 Grundsätzlich wird daher die Fortführung des Praxisbetriebes der Zerschlagung vorzuziehen sein. 1.2
Modelle der Fortführung einer Arztpraxis
20 Die Fortführung kann zunächst i. R. des Regelverfahrens durch ein Zusammenwirken des Schuldners mit dem Insolvenzverwalter erfolgen. Eine solche gemeinsame Praxisfortführung von Insolvenzverwalter und Arzt wird trotz § 2 BÄO für zulässig erachtet. Durch die Anordnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens oder dessen Eröffnung wird die Berechtigung des Praxisbetriebes nicht berührt. Der Praxissitz ist nicht betroffen, der betroffene Arzt darf sogar unter den entsprechenden Voraussetzungen des § 24 Abs. 7 Ärzte-ZV seinen Sitz verlegen.27) Der Insolvenzverwalter ordnet insofern den wirtschaftlichen Rahmen der Praxis, ein Eingriff in medizinische Fragen bleibt ihm aber verwehrt.28) Der Arzt muss in seiner Berufsausübung völlig frei bleiben, darf vor allem nicht Weisungen eines medizinischen Laien unterworfen sein.29) Hierbei kann es zu einer Kollision mit den Pflichten des Insolvenzverwalters kommen. Die Entscheidungen des Arztes über bestimmte medizinische Behandlungen können erhebliche finanzielle Folgen haben, die dann letztlich die Insolvenzmasse belasten.30) Der Verwalter dürfte den Arzt bspw. nicht daran hindern, einem gesetzlich versicherten Patienten ein Medikament zu verschreiben, das vom Budget des Arztes nicht gedeckt ist. Die Kosten hierfür würden die Masse belasten, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass hiermit gleichzeitig ein Verstoß gegen die Pflichten des Insolvenzverwalters vorliegt, mit der Folge der Haftungsgefahr des § 60 InsO.31) Der Insolvenzverwalter befindet sich somit stets in dem Spannungsverhältnis, sich nicht über das erlaubte Maß hinaus in die Tätigkeit des Arztes einmischen zu dürfen, aber gleichzeitig seiner Pflicht nachzukommen, das Beste für die Masse zu erzielen. 21 Eine Alternative hierzu stellt die Eigenverwaltung durch den Schuldner dar, §§ 270 ff. InsO. Diese hat den Vorteil, dass so eine Kollision mit dem Berufsrecht vermieden wird.32) Der Arzt bleibt unter Aufsicht eines Sachwalters handlungsbefugt. Auf diese Weise werden auch die Verfahrenskosten gesenkt, die sonst für den Insolvenzverwalter aufgewandt werden müssten. Die Eigenverwaltung im Falle einer Arztinsolvenz erscheint vor allem deshalb sinnvoll, da der Insolvenzverwalter aufgrund der berufsrechtlichen Regelungen ohnehin in seinem Wirkungskreis eingeschränkt ist. Darf er auf die medizinischen Entscheidungen, ___________ 24) 25) 26) 27) 28) 29) 30) 31) 32)
Schick, NJW 1990, 2359, 2361; Vallender in: FS Metzeler, S. 27; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 285. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 278. Vallender in: FS Metzeler, S. 24. BSG, Urt. v. 10.5.2000 – B 6 KA 67/98 R, NZS 2001, 160, 162; Ziegler, ZInsO 2014, 1577, 1578. Schick, NJW 1990, 2359, 2362; Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1034. Vallender in: FS Metzeler, S. 29. Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1034; Vallender in: FS Metzeler, S. 29. Graf/Wunsch, ZIP 2001, 1029, 1034. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 287.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
die gerade auch für die finanziellen Belange wichtig sind, keinen Einfluss nehmen, nähert sich seine Stellung der eines Sachwalters an. Die Eigenverwaltung hängt letztlich aber von der Zustimmung des Insolvenzgerichts ab 22 (§ 270 Abs. 1 InsO). Von der Möglichkeit der Anordnung einer Eigenverwaltung haben in der Praxis die Gerichte nur äußerst zurückhaltend Gebrauch gemacht. Mit Einführung des ESUG und schließlich des SanInsFoG33) haben die Regelungen der Eigenverwaltung eine erhebliche Neuerung erfahren, die den Zugang zur Eigenverwaltung erleichtern. Gemäß Absatz 2 Nr. 3 a. F. durfte die Anordnung der Eigenverwaltung nur erfolgen, wenn „[…] nach den Umständen zu erwarten war, dass die Anordnung nicht zu einer Verzögerung des Verfahrens oder zu sonstigen Nachteilen für die Gläubiger führen wird”.
Bis zum 31.12.2021 setzte § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur noch voraus, dass keine Umstände 23 bekannt sind, die erwarten lassen, dass die Anordnung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Voraussetzung für die Ablehnung war daher immer, dass das Gericht überhaupt Tatsachen feststellt, die auf Nachteile für die Gläubiger schließen lassen. Ohne entsprechende Anknüpfungspunkte darf es die Eigenverwaltung nicht ablehnen.34) Nunmehr hängt die Anordnung der Eigenverwaltung nach § 270a Abs. 1, Abs. 2 InsO im Wesentlichen von der Schlüssigkeit der Finanzplanung und den Erklärungen des Schuldners, ob und inwieweit er sich mit Zahlungen in Verzug befindet. Dem Schuldner obliegt sodann die Verwaltung der Insolvenzmasse einschließlich des Si- 24 cherungsgutes selbst (§ 270 Abs. 1 Satz 1, § 282 InsO). Er führt die Verzeichnisse, §§ 151 ff. InsO und übt das Wahlrecht bei gegenseitigen Verträgen aus. Er erstattet darüber hinaus im Berichtstermin den Gläubigern Bericht (§ 281 Abs. 2 Satz 1 InsO). Die ordnungsgemäße Verfahrensabwicklung wird hierbei durch die Befugnisse des Sachwalters gesichert, welchem die Prüfung der wirtschaftlichen Lage, § 274 Abs. 2 Halbs. 1 InsO, die Überwachung der Geschäftsführung und der Ausgaben für die Lebensführung, § 274 Abs. 2 Halbs. 2 InsO, bis hin zur Übernahme der Kassenführung (§ 275 Abs. 2 InsO) obliegen.35) Den Befürchtungen, dass dem Schuldner bereits im Eröffnungsverfahren die Verfügungs- 25 macht über das Unternehmensvermögen entzogen und ein „starker” vorläufiger Verwalter eingesetzt wird, wodurch das Vertrauen der Geschäftspartner in die Geschäftsleitung des Schuldners und deren Sanierungskonzept zerstört wird, ist das ESUG durch Einführung des § 270a InsO begegnet, wonach keine Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters und keine Verfügungsbeschränkungen bei nicht offensichtlich aussichtlosem Antrag auf Eigenverwaltung erfolgen soll, § 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO a. F. Stattdessen erfolgt die Bestellung eines vorläufigen Sachwalters, dem die Befugnisse gemäß §§ 274, 275 InsO zustehen. Seit dem 1.1.2021 ergibt sich diese Voraussetzung aus der dem Antrag zwingend beizufügende Eigenverwaltungsplanung, welche durch das Gericht auf Schlüssigkeit geprüft wird. 1.3
Offenlegung der Honorarforderungen gegenüber dem Insolvenzverwalter
Umstritten war, inwieweit der insolvente Arzt befugt ist, dem Insolvenzverwalter Einblick 26 in offene Honorarforderungen gegen Patienten zu gewähren. Dieser Streit ist durch die Rechtsprechung mittlerweile zugunsten der Gläubigerinteressen entschieden worden.36) Der Arzt ist grundsätzlich nicht befugt, Geheimnisse, die ihm als Arzt bekannt geworden sind, zu offenbaren, § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Insofern wurde auch ein Eingriff in das Recht ___________ 33) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. 34) Kübler/Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 270 Rz. 122. 35) Keramati/Hölken, NZI 2019, 833. 36) BGH, Beschl. v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, ZIP 2005, 722, 723.
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Teil V Einzelfragen
auf informationelle Selbstbestimmung der Patienten aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG bejaht, dieser jedoch unter Abwägung mit dem durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Vollstreckungsinteresse der Gläubiger als verhältnismäßig qualifiziert.37) Die bloße Honorarforderung betreffe nur die Sozialsphäre der Patienten. Denn aus der bloßen Existenz einer Honorarforderung lasse sich nur ableiten, dass ein Arztbesuch stattgefunden habe. Dies allein sei jedoch ohnehin öffentlich wahrnehmbar gewesen.38) Die Offenbarung der Honorarforderung sei nicht geeignet, Rückschlüsse auf eine Krankheit des Patienten zu ziehen und damit dessen Intimsphäre zu verletzen.39) Der Arzt macht sich demnach nicht nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar, wenn er dem Insolvenzverwalter Einblick in die Honorarforderungen gegen Patienten gewährt.40) 1.4
(Un-)Wirksamkeit von Vorausabtretungen der Forderungen gegen die kassenärztliche Vereinigung
27 Ein weiterer Streit im Zusammenhang mit der Insolvenz einer Arztpraxis ist mittlerweile ebenfalls von der Rechtsprechung entschieden worden. Die Haupteinnahmequelle eines Kassenarztes stellt regelmäßig der quartalsmäßige Anspruch gegen die kassenärztliche Vereinigung dar. Durch die Behandlung eines Kassenpatienten erlangt der Arzt grundsätzlich einen Vergütungsanspruch gegen die jeweils zuständige gesetzliche Krankenkasse.41) Aufgrund eines Gesamtvertrages gemäß § 83 SGB V zahlt die Krankenkasse nicht an den Arzt, sondern mit befreiender Wirkung an die kassenärztliche Vereinigung (§ 85 Abs. 1 SGB V).42) Der Arzt hat dann wiederum einen Anspruch gegen die kassenärztliche Vereinigung auf Teilnahme an deren Honorarverteilung (§§ 87a Abs. 2, 87b Abs. 1 Satz 1 SGB V).43) Der Arzt erhält also pro Quartal eine Zahlung der kassenärztlichen Vereinigung für seine Leistungen. 28 Wurden diese Forderungen im Voraus zur Kreditsicherung an einen Sicherungsnehmer abgetreten, stellte sich die Frage, welche Auswirkungen eine zwischenzeitliche Eröffnung des Insolvenzverfahrens hierauf hat. Eine Wirksamkeit der Vorausabtretungen unterstellt, hätte der Sicherungsnehmer ein Absonderungsrecht an den Forderungen (§§ 50, 51 Nr. 1 InsO). Eine Betriebsfortführung wäre damit quasi unmöglich, da die wesentliche Einnahmequelle nicht der Masse, sondern einem Absonderungsgläubiger zugutekommen würde. Die Aufgabe des Insolvenzverfahrens ist aber die gemeinschaftliche Befriedigung aller Gläubiger und nicht die eines einzelnen Absonderungsberechtigten.44) 29 Einer solchen Handhabung steht jedoch § 91 Abs. 1 InsO entgegen, der einen Rechtserwerb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausschließt. Nur wenn der Erwerber bereits vor der Eröffnung eine hinreichend gesicherte Rechtsposition erlangt hat, ist er im Insolvenzverfahren absonderungsberechtigt.45) Dies ist aber nur der Fall, wenn die abgetretene For___________ 37) BGH, Beschl. v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, ZIP 2005, 722, 723; Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 74. 38) BGH, Beschl. v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, ZIP 2005, 722, 723. 39) Peters in: MünchKomm-InsO, § 35 Rz. 386, mit dem Hinweis, dass ggf. anders zu entscheiden sei, wenn aus der Honorarforderung der Krankheitsbefund abgeleitet werden könne (z. B. Spezialist für HIVErkrankungen oder Schwangerschaftsabbruch); umfassend hierzu: Ziegler, ZInsO 2014, 1577, 1578. 40) Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 108; BGH, Beschl. v. 4.3.2004 – IX ZB 133/03, NZI 2004, 312, 313 = ZIP 2004, 915. 41) BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1255. 42) BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1255. 43) Boecken/Bristle in: Sodan, Hdb. Krankenversicherungsrecht, § 17 Rz. 163. 44) BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1256; Braun-Kießner, InsO, § 1 Rz. 2. 45) BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1255.
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derung bereits entstanden ist.46) Dies ist bei der Forderung des Kassenarztes aber erst der Fall, wenn dieser seinen Vergütungsanspruch durch die Behandlung eines Patienten erwirbt. In der Literatur47) wird dagegen teilweise vertreten, schon allein durch die Beteiligung am 30 kassenärztlichen System erhalte der Kassenarzt einen Anspruch gegen die kassenärztliche Vereinigung, der lediglich bis zum Quartalsabschluss noch nicht fällig sei. Es handle sich quasi um einen „Arztlohn“.48) Diese Ansicht ist jedoch abzulehnen. Der Vergütungsanspruch entsteht nämlich nicht allein durch die Beteiligung an diesem System, sondern nur für konkret geleistete Behandlungen.49) Ein Absonderungsrecht besteht deshalb nur in der Höhe der Vergütung, auf die der Arzt 31 durch Behandlungen schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Anspruch erworben hat. Alle zukünftigen Forderungen, insbesondere solche zukünftiger Quartale, können vom Sicherungsnehmer wegen § 91 Abs. 1 InsO nicht erworben werden. Auch die inzwischen mit Wirkung zum 1.7.2014 aufgehobene Vorschrift des § 114 Abs. 1 32 InsO a. F. steht dem nicht entgegen.50) § 114 Abs. 1 InsO a. F. ist eine Ausnahmevorschrift zu § 91 Abs. 1 InsO,51) nach der eine Verfügung nur wirksam ist, soweit sie sich auf die Bezüge für die Zeit vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Ende des zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens laufenden Kalendermonats bezieht, soweit der Schuldner vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Forderung für die spätere Zeit auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis oder an deren Stelle tretende laufende Bezüge abgetreten oder verpfändet hat. Eine Vorausabtretung einer Forderung, die erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entsteht, ist danach für Insolvenzverfahren, die vor dem 1.4.2014 eröffnet wurden, für die Dauer von zwei Jahren wirksam, wenn es sich bei der abgetretenen Forderung um Bezüge aus einem Dienstverhältnis handelt. Auf den Betrieb einer Arztpraxis ist § 114 Abs. 1 InsO a. F. aber nicht anwendbar. Nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift sind davon nur Forderungen erfasst, die durch den Einsatz der „nackten“ Arbeitskraft erwirtschaftet werden.52) Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Schuldner nämlich ohnehin nicht verpflichtet, seine Arbeitskraft der Masse zur Verfügung zu stellen.53) § 114 Abs. 1 InsO a. F. privilegiert deshalb Vorausabtretungen solcher Forderungen, deren Entstehen zugunsten der Masse sowieso nicht hätte erzwungen werden können;54) diese bleiben für den Zeitraum von zwei Jahren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam. Eine Arztpraxis erfordert neben der Arbeitskraft des Arztes aber auch den Betrieb der 33 Praxis als solchen. Der Arzt ist bei der Durchführung seiner Tätigkeit auf Personal und medizinische Einrichtungsgegenstände angewiesen, für deren Unterhalt die Masse aufkommen müsste. Hierauf ist § 114 Abs. 1 InsO a. F. jedoch nicht anwendbar.55) Dieses Ergebnis wird auch von praktischen Erwägungen getragen. Wollte man dem Siche- 34 rungsnehmer ein Absonderungsrecht an allen zukünftig entstehenden Quartalsforderungen zusprechen, so müsste der Insolvenzverwalter dies bei seiner Entscheidung berücksichtigen, ___________ 46) 47) 48) 49) 50) 51) 52) 53) 54) 55)
BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1255. Uhlenbruck, ZVI 2002, 49, 52. Uhlenbruck, ZVI 2002, 49, 52. Ries, ZInsO 2003, 1079, 1081; BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1256. BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1255; a. A. Uhlenbruck, ZVI 2002, 49, 51; Vallender in: FS Metzeler, S. 27. Löwisch/Caspers in: MünchKomm-InsO, § 114 Rz. 2. Braun-Kroth, InsO, § 114 Rz. 3, § 35 Rz. 131. Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 131. BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1256. BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1256; Braun-Kroth, InsO, § 114 Rz. 3.
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§ 39
Teil V Einzelfragen
ob er den Betrieb fortführt oder einstellt. Ohne die Vergütung durch die kassenärztliche Vereinigung wird sich eine Betriebsfortführung aber kaum lohnen. Damit müsste der Betrieb zum Nachteil aller eingestellt werden. Denn auch der Sicherungsnehmer hätte davon schließlich keinen Nutzen, weil ohne die Betriebsfortführung die zur Sicherheit abgetretenen, zukünftigen Forderungen dann niemals entstehen werden.56) Vorausabtretungen von Forderungen gegen die kassenärztliche Vereinigung stehen der Betriebsfortführung aus diesem Grunde nicht im Wege. 35 Entwickelt sich die Fortführung des Praxisbetriebes, unabhängig von der Fortführung durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter oder im Wege der Eigenverwaltung wirtschaftlich Erfolg versprechend, kann dies die idealtypische Ausgangssituation für einen Insolvenzplan darstellen, denn oft wird es naheliegen, dass die Fortführung für die Gläubiger günstiger ist als die Zerschlagung. Eine Finanzierung des Insolvenzplanes kann und wird in der Regel durch die Praxiseinnahmen erfolgen. Bei Ärzten mit Kassenzulassung wird eine Finanzierung in der Regel auch durch die Einnahmen aus Ansprüchen gegen die kassenärztlichen Vereinigungen erfolgen. Hierbei ist zu beachten, dass die Honorarbescheide der kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in der Regel bis zum Ende des auf das Abrechnungsquartal folgenden Monats erlassen werden, wobei der Vertragsarzt monatliche Abschlagszahlungen erhalten kann. Das heißt, dass die bereits vereinnahmten Zahlungen der KV und bis dahin mit der KV noch abzurechnenden Leistungen bei Verfahrensaufhebung noch Massegegenstand sind und der Arzt frühestens über Zahlungseingänge zum folgenden Quartal verfügen kann. Es entsteht eine Unterbrechung des Liquiditätsflusses. 36 Ist bei Planerstellung die Unterbrechung des Liquiditätsflusses aufgrund der zeitlich verzögerten KV-Zahlungen zu berücksichtigen, sind auch etwaige Vorausabtretungen der kassenärztlichen Honorare insbesondere bei Freigabe der Unternehmung gemäß § 35 Abs. 2 InsO zu beachten. Nicht selten sieht die Planregelung vor, dass der Betrieb aus der Insolvenzmasse freigegeben wird. Auch wenn ein Insolvenzplan trotz positiver Fortführungsprognose nicht finanzierbar ist, kommt eine Freigabe in Betracht. Hat jedoch der Insolvenzverwalter die Freigabe eines insolventen Arztes erklärt, erfasst eine vor Verfahrenseröffnung durch den Schuldner vereinbarte Zession auch Forderungen, die nach Verfahrenseröffnung entstehen,57) die Zession lebt wieder auf.58) Voraussetzung hierfür ist allerdings die Verfahrensaufhebung. Solange das Insolvenzverfahren andauert, fallen auch abgetretene Forderungen in das freie Vermögen des Schuldners.59) Führt der Vertragsarzt dann die Arztpraxis fort, so ist die KV im Falle einer Sicherungszession berechtigt die zu Gunsten des Gläubigers abgetretenen Forderungen zu bedienen.60) Der Praxis würde somit jede Liquidität mit der Folge der Betriebsstilllegung entzogen. Zum Erhalt der Praxis ist daher im Sicherungsfalle eine entsprechende Planregelung oder Vereinbarung mit dem Sicherungsgläubiger herbeizuführen. 2.
Apotheker/Apothekerinnen
37 Auch bei der Betriebsfortführung einer Apotheke sind berufsrechtliche Besonderheiten zu beachten. Anders als die rechts- und steuerberatenden Berufe ist nicht der Vermögensverfall des Apothekers von ausschlaggebender Bedeutung,61) sondern der Betrieb der Apo___________ 56) BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, ZIP 2006, 1254, 1256. 57) LG Hamburg, Urt. v. 29.6.2011 – 317 O 42/11, WM 2011, 1524; LSG Düsseldorf, Beschl. v. 12.10.2011 – L 11 KA 96/11 B ER, www.justiz.nrw.de. 58) BGH, Urt. v. 18.4.2013 – IX ZR 165/12, ZIP 2013, 1181 = ZInsO 2013, 1146. 59) BGH, Urt. v. 6.6.2019 – IX ZR 272/17, BGHZ 222, 165 = ZIP 2019, 1291. 60) LSG Düsseldorf, Beschl. v. 12.10.2011 – L 11 KA 96/11 B ER, www.justiz.nrw.de. 61) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 296.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
theke. Im Interesse der Volksgesundheit stellt das Apothekergesetz jedoch strenge Anforderungen an den Betrieb einer Apotheke.62) Gemäß § 5 ApoG ist dieser ausschließlich approbierten Apothekern vorbehalten.63) Nach § 23 ApoG ist ein Verstoß hiergegen sogar strafbewehrt. Sofern der Insolvenzverwalter daher nicht zufällig ebenfalls approbierter Apotheker ist, kann er die Leitung der Apotheke nicht nach § 80 Abs. 1 InsO übernehmen und fortsetzen. Dies soll auch für die mit dem Betrieb einer Apotheke verbundene, rein wirtschaftliche Aktivitäten gelten. Zum Wohle der Volksgesundheit soll es nicht genügen, dass der Apotheker den medizinisch-pharmazeutischen Bereich in eigener Verantwortung leitet. Vielmehr muss der Apotheker auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Apotheke selbst regeln.64) Nur so sei der Schutzzweck des ApoG gewahrt. Denn auch die wirtschaftliche Seite des Betriebes hängt unmittelbar mit der Volksgesundheit zusammen. Nur wer weiß, welche Medikamente der Gesundheit förderlich sind, kann bei Lieferanten entsprechend einkaufen. Nur wer seine finanzielle Situation selbst in der Hand hat, kann seine Produktpalette zum Wohle der Allgemeinheit gestalten. Eine Aufspaltung in den pharmazeutischen und den wirtschaftlichen Apothekenbetrieb ist nicht möglich. Dem Insolvenzverwalter bleiben, sofern er nicht selbst eine Approbation besitzt, nur drei 38 Optionen: x
Zunächst könnte er den Betrieb der Apotheke an einen anderen Apotheker verpachten, wie es § 9 ApoG vorsieht.65)
x
Oder er setzt einen approbierten Treuhänder ein, der den Betrieb an seiner Stelle übernimmt.
x
Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, den insolventen Apotheker den Betrieb in Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO fortsetzen zu lassen.66)
Welche Möglichkeit ergriffen wird, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Ver- 39 pachtung und die Einsetzung eines Treuhänders haben den Nachteil, dass dadurch Kosten entstehen, die der Masse zur Last fallen. Die Option der Eigenverwaltung wird von der Frage abhängen, ob Umstände bekannt sind, die erwarten lassen, dass die Anordnung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Die drohende Schließung einer Apotheke i. R. der gerichtlichen Ermessensentscheidung führt dabei dann nicht zu einer Anordnung der Eigenverwaltung, wenn schwerwiegende Umstände bekannt geworden sind, die eine zukünftige Benachteiligung der Gläubiger erwarten lassen. Dabei müssen die Anforderungen an die konkrete Gefahr der zu erwartenden Gläubigerbenachteiligung für den Fall, dass die Ablehnung der Eigenverwaltung zur Betriebseinstellung führt, sehr hoch angesetzt werden. Nach einer einzelnen Auffassung reicht es aus, dass der Apotheker, auch wenn er dies im Antrag selbst bekannt gegeben hat, sich nach § 266a StGB in der Vergangenheit strafbar gemacht habe und ein weiteres, noch nicht abgeschlossenes Ermittlungsverfahren anhängig sei, um die Ablehnung der Eigenverwaltung zu bejahen.67) Hierdurch sei die konkrete Gefahr gegeben, dass der Schuldner die geschädigten Gläubiger – hier die Sozialversicherungsträger – zur Erlangung strafmildernder Umstände befriedigen könnte.68) Diese Erwägungen tragen grundsätzlich nicht, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Schuldner ___________ 62) 63) 64) 65) 66)
OVG Berlin, Beschl. v. 18.6.2002 – 5 S 14.02, ZVI 2004, 620. Braun-Bäuerle, InsO, § 36 Rz. 46. VG Berlin, Beschl. v. 7.6.2002 – VG 14 A 51.02, ZVI 2004, 618, 619; Braun-Bäuerle, InsO, § 36 Rz. 27. VG Berlin, Beschl. v. 7.6.2002 – VG 14 A 51.02, ZVI 2004, 618, 620. Dahingehend OVG Berlin, Beschl. v. 18.6.2002 – 5 S 14.02, ZVI 2004, 620; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 297. 67) AG Essen, Beschl. v. 1.9.2015 – 163 IN 14/15, ZInsO 2015, 1981 – 1982. 68) AG Essen, Beschl. v. 1.9.2015 – 163 IN 14/15, ZInsO 2015, 1981, 1982.
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Teil V Einzelfragen
die Sachverhalte offengelegt hat und tatsächlich – statt strafmildernde Umstände zu erwarten – den Tatbestand der Untreue erfüllen und damit eher die zu erwartende Gesamtstrafe erhöhen würde, soweit er die Gläubiger aus der Insolvenzmasse befriedigen würde. Darüber hinaus muss auch in Erwägung gezogen werden, dass der eingesetzte Sachwalter die Aufgabe hat, i. R. seiner Überwachung dafür Sorge zu tragen, dass dies nicht geschieht und dem AG nach § 274 Abs. 3 InsO auch unmittelbar drohende Nachteile anzuzeigen hätte.69) 3.
Rechtsanwälte/Rechtsanwältinnen
3.1
Allgemeines
40 Auch im Falle der Insolvenz der Praxis eines Rechtsanwalts ist deren immaterieller Wert regelmäßig höher als deren bloßer Sachwert. Die Gründe entsprechen im Wesentlichen denen anderer Freiberufler. Den Wert einer Kanzlei machen gerade der gute Ruf und der Mandantenstamm aus, die sich der Rechtsanwalt während seiner Tätigkeit aufgebaut hat.70) Um diesen Wert für die Gläubiger zu realisieren und damit den Verfahrenszielen der InsO nachzukommen, ist dem Rechtsanwalt eine Fortsetzung seiner Tätigkeit in der Insolvenz zu ermöglichen. 41 Allerdings bringt das Berufsbild des Rechtsanwaltes in der Insolvenz besondere Schwierigkeiten mit sich. An den Rechtsanwalt wird im Vergleich zu anderen Berufsgruppen ein erhöhter der Anspruch an seine wirtschaftliche Integrität gestellt. Aufgrund seiner Tätigkeit kommt der Rechtsanwalt typischerweise mit Fremdgeldern in Kontakt. Zu seinen Pflichten gehört es, mit diesen Geldern vertrauensvoll umzugehen und sie gemäß den Vorgaben und Interessen seiner Mandanten zu verwalten. Befindet sich der Rechtsanwalt jedoch selbst in einer finanziellen Schieflage, ist das in ihn gesetzte Vertrauen regelmäßig gefährdet. Erfahrungsgemäß besteht hier die Gefahr, dass der Rechtsanwalt der Versuchung erliegt, auf anvertraute Fremdgelder zurückzugreifen, um eigene finanzielle Löcher zu stopfen und den persönlichen wirtschaftlichen Kollaps abzuwenden. Die Entnahme eines solchen „Überbrückungskredites“71) stellt regelmäßig eine erhebliche Gefahr für die Mandanten dar. Außerdem ist die Unabhängigkeit eines in wirtschaftliche Not geratenen Anwalts nicht mehr gewährleistet. Wer dringend auf Geld angewiesen ist, wird auch Mandate annehmen, denen er eigentlich nicht gewachsen ist72) oder zum Nachteil seiner Mandanten Prozesse führen, die rechtlich aussichtslos, aber für ihn finanziell lohnenswert sind. 42 Der Gesetzgeber hat diese Gefahr erkannt und begegnet ihr mit § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO. Danach ist die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu widerrufen, wenn der Rechtsanwalt in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, dass dadurch die Interessen der Rechtssuchenden nicht gefährdet sind.73) Vermögensverfall liegt vor, wenn der Rechtsanwalt in ungeordnete, schlechte finanzielle Verhältnisse, die er in absehbarer Zeit nicht ordnen kann, geraten und außerstande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.74) Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 7 Halbs. 2 BRAO wird ein Vermögensverfall gesetzlich vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Rechtsanwalts eröffnet ist.75) Die vollständige Beweislast zur Widerlegung
___________ 69) 70) 71) 72) 73) 74) 75)
Scholze, NZI 2015, 923, 924. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 282. Ehlers, NJW 2008, 1480, 1482. Schmittmann, NJW 2002, 182, 184. AGH NRW, Urt. v. 20.11.2015 – 1 AGH 32/15, JurionRS 2015, 34190. Henssler/Prütting-Henssler, BRAO, § 14 Rz. 29. Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 68.
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§ 39
Betriebsfortführung in Sonderfällen
der Vermutung obliegt dem Rechtssuchenden.76) Die Zuständigkeit für die Überprüfung des Widerrufs liegt bei den Anwaltsgerichten und Anwaltsgerichtshöfen.77) Das öffentliche Interesse am Schutz der Mandanten des Rechtsanwalts und der Schutz einer 43 ordnungsgemäßen Rechtspflege als solcher konkurrieren nun mit dem Interesse der Insolvenzgläubiger, eine möglichst hohe Befriedigung ihrer Forderungen zu erzielen. Aus der Konzeption der InsO ergibt sich jedoch, dass § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO einer Betriebsfortführung in der Insolvenz nicht schlechthin entgegenstehen kann. § 1 Satz 1 InsO stellt nämlich die Verwertung und Verteilung des Erlöses und die Betriebsfortführung als zwei gangbare Wege zur Gläubigerbefriedigung gegenüber. § 35 Abs. 2 InsO bezieht dabei selbstständige Tätigkeiten, zu der gerade auch die freien Berufe zu zählen sind, in den Anwendungsbereich der InsO mit ein. Außerdem ist ein Widerruf der Zulassung ein erheblicher Eingriff in die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts nach Art. 12 Abs. 1 GG, der jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt ist, wenn es dem Anwalt gelingt, eine Gefährdung der Mandanten auszuschließen. Eine Betriebsfortführung ist also möglich, wenn gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO der Nachweis gelingt, dass trotz des Vermögensverfalls die Interessen der Rechtssuchenden nicht gefährdet sind. Das BVerfG hat entschieden, dass mit Blick auf die Berufsfreiheit des Schuldners gemäß 44 Art. 12 Abs. 1 GG und der von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Interessen der Gläubiger auf eine möglichst umfangreiche Befriedigung ihrer Forderungen keine überspannten Anforderungen an diesen Nachweis gestellt werden dürfen.78) Auf der anderen Seite besteht kein Vorrang des Insolvenz- vor dem Berufsrecht. Die Rechtsanwaltskammer ist also nicht verpflichtet und auch nicht berechtigt, mit dem Widerruf zuzuwarten bis Schuldner und Gläubiger Maßnahmen ergriffen haben, die eine Gefährdung der Mandanteninteressen nicht mehr vermuten lassen. Aus der Formulierung „es sei denn“ nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO ergibt sich, dass der Schuldner darlegungs- und beweispflichtig ist, die gesetzliche Vermutung der Gefährdung zu widerlegen.79) 3.2
Keine Widerlegung der Vermutung durch bloße Eröffnung des Insolvenzverfahrens
Keinesfalls genügt allein die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, um eine solche Gefährdung 45 auszuschließen. Zwar führt das Insolvenzverfahren zu einer Offenlegung der wirtschaftlichen Situation des Rechtsanwalts und zu einem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen auf den Insolvenzverwalter. Insofern könnte wieder von „geordneten Verhältnissen“ ausgegangen werden. Die Insolvenzeröffnung begründet aber gerade die Vermutung, dass ein Vermögensverfall vorliegt. Folglich kann dies nicht zugleich zu einer Widerlegung dieser Vermutung führen.80) Die wirtschaftlichen Verhältnisse sollen gerade durch das Insolvenzverfahren wieder geordnet werden. Die bloße Verfahrenseröffnung reicht hierzu nicht aus. Vielmehr muss der Schuldner nachweisen, dass er in absehbarer Zeit seine Schulden abbauen und wieder frei über sein Vermögen verfügen kann.81)
___________ 76) 77) 78) 79) 80) 81)
AGH NRW, Urt. v. 20.11.2015 – 1 AGH 32/15, JurionRS 2015, 34190. AGH NRW, Urt. v. 20.11.2015 – 1 AGH 32/15, JurionRS 2015, 34190. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2005 – 1 BvR 912/04, NJW 2005, 3057, 3058. Henssler/Prütting-Henssler, BRAO, § 14 Rz. 34; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 292. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 291. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 291.
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3.3
Widerlegung der Vermutung durch Ankündigung der Restschuldbefreiung
46 Eine solche Aussicht bietet grundsätzlich das Restschuldbefreiungsverfahren, §§ 286 ff. InsO. Hält sich der Schuldner in der Wohlverhaltensperiode an die Obliegenheiten des § 295 Abs. 1 InsO, ist er nach Ablauf von sechs Jahren schuldenfrei. So lange er sich i. S. dieser Vorschrift redlich verhält, erlangt er die Restschuldbefreiung sogar unabhängig von einer eingetretenen Einkommensverschlechterung oder einer bestimmten Befriedigungsquote der Gläubiger. Darüber hinaus ist er während dieser Zeit gemäß § 294 Abs. 1 InsO vor Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubiger geschützt. Der finanzielle Druck, der die Gefährdungssituation heraufbeschwört, vor der § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO schützen soll, ist nicht mehr gegeben. Daher wird während der Wohlverhaltensperiode davon ausgegangen, dass eine Gefährdung der Rechtssuchenden nicht vorliegt.82) 47 Problematisch ist dabei, dass der Schuldner erst nach sechs Jahren in den Genuss der Restschuldbefreiung gelangt und dies auch nur, wenn er seine Obliegenheiten nicht verletzt. Ob also tatsächlich eine Schuldenbefreiung und damit eine Behebung des Vermögensverfalls eintreten, hängt ganz wesentlich vom Verhalten des Schuldners ab.83) 48 Wegen der Vorgabe des BVerfG,84) keine überspannten Anforderungen an eine Widerlegung der Gefährdung der Rechtssuchenden zu stellen, dürfte aber die bloß abstrakte Vermutung, dass der Schuldner die Wohlverhaltensperiode nicht durchstehen werde, grundsätzlich nicht zum Widerruf ausreichen.85) 49 Jedoch bestehen gegen das bloße Restschuldbefreiungsverfahren als Mittel der Widerlegung Bedenken: x
Zunächst steht in Ermangelung einer zugesicherten Befriedigungsquote nicht fest, dass die Gläubiger überhaupt etwas bekommen werden.
x
Darüber hinaus reicht die bloße Aussicht auf Restschuldbefreiung nicht aus, um die Gefährdung der Mandanten zu widerlegen.86) Vielmehr bedarf es der Ankündigung der Restschuldbefreiung gemäß § 291 InsO.87)
50 Die Rechtsanwaltskammer muss und wird in der Regel aber mit dem Widerruf nicht bis zur Ankündigung warten. Bei Ankündigung der Restschuldbefreiung wird die Zulassung daher oftmals bereits widerrufen sein. Der Rechtsanwalt hat dann zwar einen Anspruch auf erneute Zulassung.88) Die Reputation des Anwalts und der Mandantenstamm, welche den Hauptwert der Praxis ausmachen, sind dann aber möglicherweise bereits derart geschädigt, dass eine Fortsetzung der Tätigkeit entweder gar nicht mehr oder weit weniger wirtschaftlich lohnenswert ist. 3.4
Widerlegung der Vermutung durch Wechsel in ein Angestelltenverhältnis
51 Eine weitere Möglichkeit dem Widerruf der Zulassung zu begegnen, bietet der Wechsel des Anwalts in ein Angestelltenverhältnis. Allerdings werden an ein Absehen vom Widerruf in diesem Fall strenge Anforderungen gestellt.89) Es reicht nicht aus, dass der Zugriff auf Mandantengelder durch den Schuldner allein durch arbeitsrechtliche Vereinbarungen aus___________ 82) 83) 84) 85) 86) 87) 88) 89)
Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 291, 292. Ehlers, NJW 2008, 1480, 1484. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2005 – 1 BvR 912/04, NJW 2005, 3057, 3058. So bereits BGH, Beschl. v. 7.12.2004 – AnwZ (B) 40/04, NJW 2005, 1271. Koch, Insolvenz des selbstständigen Rechtsanwalts, S. 254. Koch, Insolvenz des selbstständigen Rechtsanwalts, S. 262. Graf/Wunsch, ZVI 2005, 105, 109. BGH, Beschl. v. 18.10.2004 – AnwZ (B) 43/03, NJW 2005, 511 f.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
geschlossen wird.90) Vielmehr muss tatsächlich sichergestellt werden, dass der Schuldner keine Möglichkeit hat, der Versuchung zu erliegen, seine finanziellen Probleme auf diese Art und Weise zu lösen.91) Dies erfordert zum einen eine Kontrolle durch andere Mitglieder der Sozietät auch während der Urlaubszeit. Eine kleinere Kanzlei ist also hierfür ungeeignet, weil sich mangels ausreichender Kontrollmöglichkeiten für den Schuldner die Gelegenheit bieten könnte, unbeobachtet Fremdgelder veruntreuen zu können.92) Zum anderen muss nach außen hin eindeutig vermittelt werden, dass der Schuldner nicht 52 berechtigt ist, selbstständig Mandate zu übernehmen und Forderungen einzutreiben. Dies kann dadurch geschehen, dass der Schuldner nicht auf Briefköpfen oder Kanzleischildern aufgeführt wird.93) In der Praxis wird dies jedoch eine deutliche Reduzierung des Mandantenstammes zur Folge haben. Letztlich hängt die Durchführbarkeit dieses Modells ganz maßgeblich von der Person des 53 Schuldners ab. Er muss zur Überzeugung der Kammer derart redlich sein, dass man ihm eine Fortführung des Berufes zutraut. Dafür ist auch erforderlich, dass die Insolvenz ihren Grund nicht in einem unsachgemäßen Betrieb der Praxis hatte und dem Schuldner auch sonst keinerlei Vorwürfe in Bezug auf seine Berufsführung gemacht werden können.94) Die Weiterbeschäftigung im Angestelltenverhältnis wird die Kammer daher nur in Ausnahmefällen vom Widerruf der Zulassung abhalten. 3.5
Widerlegung der Vermutung durch einen Insolvenzplan
Probates Mittel i. S. der Vorgabe des BVerfG zur Widerlegung der Vermutung dürfte das 54 Insolvenzplanverfahren sein, §§ 217 ff. InsO. Ist der Insolvenzplan ausgearbeitet und wirtschaftlich realistisch, weist er dem Schuldner den Weg in die Schuldenfreiheit. Während des Insolvenzverfahrens ist der Schuldner darüber hinaus durch § 89 InsO vor Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubiger geschützt. Hält er sich an die Planvorgaben, kann er sich in wesentlich kürzerer Zeit als im Restschuldverfahren wirtschaftlich konsolidieren. Kein Gläubiger kann ihn durch Zahlungsaufforderungen oder Androhungen von Vollstreckungsmaßnahmen in die Lage bringen, quasi als letzten Ausweg auf Fremdgelder zuzugreifen. Die Gefahr für die Mandanten ist damit gebannt,95) die Vermutung des § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO widerlegt. Bis ein Insolvenzplan ausgearbeitet ist, von den Gläubigern angenommen und vom Gericht 55 bestätigt wurde, wird die Kammer die Zulassung in der Regel jedoch längst widerrufen haben. In der Praxis kann die Durchführung eines Insolvenzplanes erheblich beschleunigt werden, wenn mit Antragstellung bereits ein ausgefertigter Entwurf eines Insolvenzplanes vorgelegt wird, der mit den Gläubigern bereits im Vorfeld der Antragstellung erörtert wurde. Wie gezeigt, dürfen nach dem BVerfG keine überspannten Anforderungen an eine Wider- 56 legung einer Mandantengefährdung gestellt werden. Zukünftige Entwicklungen müssen daher i. R. einer Gefahrenprognose mitberücksichtigt werden.96) Die Kammer darf zwar ___________ Schmittmann, NJW 2002, 182, 183; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 292. Ehlers, NJW 2008, 1480, 1481. Ehlers, NJW 2008, 1480, 1481. BGH, Beschl. v. 18.10.2004 – AnwZ (B) 43/03, NJW 2005, 511 f.; Koch, Insolvenz des selbstständigen Rechtsanwalts, S. 246. 94) BGH, Beschl. v. 18.10.2004 – AnwZ (B) 43/03, NJW 2005, 511 f.; Henssler/Prütting-Henssler, BRAO, § 14 Rz. 35. 95) Koch, Insolvenz des selbstständigen Rechtsanwalts, S. 256. 96) Kleine-Cosack, NJW 2004, 2473, 2477; Ehlers, NJW 2008, 1480, 1484.
90) 91) 92) 93)
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dem Schuldner nicht erst die Gelegenheit zur Ausarbeitung eines Planes geben, bevor Sie über einen Widerruf entscheidet,97) hat aber bereits ein Insolvenzverwalter zu erkennen gegeben, dass er die Durchführung eines Insolvenzplanes für möglich hält und haben die Gläubiger den Insolvenzverwalter daraufhin mit der Ausarbeitung eines solchen Planes beauftragt, so hat die Kammer von einem Widerruf abzusehen. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass der Plan angenommen und auch erfolgreich durchgeführt wird. Dies gilt insbesondere, wenn unter den Gläubigern auch solche mit Erfahrung im Insolvenzrecht der Erstellung eines Planes zugestimmt haben, wie dies z. B. bei Banken der Fall ist.98) 57 Ist in diesem Fall vom Widerruf der Zulassung abzusehen, muss dies erst recht gelten, wenn der Schuldner seinen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit einem bereits zuvor ausgearbeiteten Insolvenzplan verbindet (sog. „prepackaged plan“). Auch in diesem Fall dürfte unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG von einem Widerruf der Zulassung so lange abzusehen sein, bis über die Annahme des Plans entschieden wird.99) Ob gleiches für den Fall der Anordnung der Eigenverwaltung gilt, erscheint insofern zweifelhaft, als dass nach aktueller Regelung des § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur bestätigt wird, dass keine Umstände bekannt sind, die erwarten lassen, dass die Anordnung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Voraussetzung für die Ablehnung der Eigenverwaltung ist daher immer, dass das Gericht überhaupt Tatsachen feststellt, die auf Nachteile für die Gläubiger schließen lassen. Demgegenüber stellt § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO allein auf die Gefährdungslage ab. In der Regel wird mit der Eigenverwaltung jedoch auch die Durchführung eines Insolvenzplanes beabsichtigt und angekündigt sein, so dass davon auszugehen ist, dass auch im Falle der Eigenverwaltung die jeweils zuständige Kammer von einem Widerruf absehen wird. 58 Sollten die Voraussetzungen für die Widerlegung der Vermutung § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO im Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung nicht vorliegen, eine Sanierung jedoch erfolgversprechend sein, wird in der Praxis gegen einen Widerruf gemäß § 16 Abs. 5 BRAO Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem Anwaltsgerichtshof zu stellen sein. Der Antrag hat grundsätzlich aufschiebende Wirkung, § 16 Abs. 6 Satz 1 BRAO. Sollte die sofortige Vollziehung angeordnet sein, kann auf Antrag die aufschiebende Wirkung durch den Anwaltsgerichtshof wieder hergestellt werden, § 16 Abs. 6 Satz 5 BRAO. Die Einlegung der Rechtsmittel verschafft insofern Gelegenheit, die Voraussetzungen für eine Widerlegung der Vermutung zu prüfen und zu schaffen. 59 Nach ständiger Rechtsprechung des BGH endet der Vermögensverfall, wenn ein vom Insolvenzgericht bestätigter Insolvenzplan gemäß § 248 InsO oder ein angenommener Schuldenbereinigungsplan gemäß § 308 InsO vorliegt, bei dessen Erfüllung der Schuldner von seinen Verbindlichkeiten gegenüber den Gläubigern befreit wird. Insofern hat jüngst auch der BGH entschieden, dass es einem Rechtsanwalt bis zur Entschuldung erlaubt ist, unter bestimmten Voraussetzungen seine Tätigkeit fortzusetzen. Wesentliche Voraussetzung hierfür ist nach wie vor, dass die konkret belastbare Erwartung begründet wird, dass der Schuldner von den Forderungen gegenüber seinen Gläubigern befreit wird.100) Nicht ausreichend ist, mit dem Insolvenzverwalter über zwei Jahre im Eröffneten Verfahren über einen Plan zu verhandeln.
___________ 97) BGH, Beschl. v. 20.11.2006 – NotZ 26/06, NJW 2007, 1287; Ehlers, NJW 2008, 1480, 1484; UhlenbruckHirte, InsO, § 35 Rz. 294. 98) BVerfG, Beschl. v. 31.8.2005 – 1 BvR 912/04, NJW 2005, 3057, 3058. 99) Ehlers, NJW 2008, 1480, 1484. 100) BGH, Beschl. v. 27.8.2019 – AnwZ (B) 35/19 (AGH Frankfurt), NJOZ 2020, 1074.
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Mönig/Coordes
§ 39
Betriebsfortführung in Sonderfällen 3.6
Kompetenzkonflikt zwischen Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter
Der Insolvenzverwalter kann wie bei anderen Freiberuflern auch bei der Insolvenz von 60 Rechtsanwälten nicht ohne weiteres an deren Stelle treten. Zwar ist der Insolvenzverwalter grundsätzlich in der Lage, die Praxis auch in eigener Regie weiterführen, wenn er die nötige Qualifikation dafür hat. In der Regel wird eine Betriebsfortführung aber nur zusammen mit dem Schuldner erfolgversprechend sein, weil nur auf diese Weise der durch das Vertrauensverhältnis zu den Mandanten geschaffene immaterielle Wert realisierbar ist.101) Gemäß §§ 1, 2 BRAO und § 1 BORA ist der Rechtsanwalt in seiner Berufsausübung un- 61 abhängig bzw. frei, selbstbestimmt und unreglementiert. Auch hier stellt sich erneut ein Kompetenzkonflikt mit dem Insolvenzverwalter. Führen Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter die Praxis gemeinsam fort, so dürfte der Insolvenzverwalter nicht berechtigt sein, sich in die konkrete Berufsausführung des Anwalts einzumischen, sondern wäre auf die Regelung der finanziellen Belange beschränkt. Auch hier könnte der Konflikt durch die Anordnung der Eigenverwaltung vermieden werden (§§ 270 ff. InsO). 4.
Steuerberater/Steuerberaterinnen
Die Situation eines insolventen Steuerberaters gleicht der eines insolventen Rechtsanwaltes. 62 Auch der Beruf des Steuerberaters erfordert eine hohe Vertrauenswürdigkeit gerade im Umgang mit Fremdgeldern. Wie beim Rechtsanwalt so ist auch die Vertrauenswürdigkeit des Steuerberaters erschüttert, wenn er in finanzielle Schwierigkeiten gerät. Es besteht die abstrakte Gefahr, der Steuerberater werde der Versuchung erliegen, seine finanzielle Lage durch den Zugriff auf fremde Gelder zu entspannen. § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG ordnet deshalb an, dass die Zulassung des Steuerberaters zu widerrufen ist, wenn dieser in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, dass dadurch die Interessen der Auftraggeber nicht gefährdet sind. Die Vorschrift entspricht dem Wortlaut des § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO. Damit entspricht sowohl die tatsächliche als auch die rechtliche Situation des insolventen Steuerberaters der des insolventen Rechtsanwaltes. Die oben gemachten Ausführungen gelten daher entsprechend für den Steuerberater. Auch hier liegt die volle Darlegungs- und Beweislast beim rechtssuchenden Steuerberater, es obliegt nicht dem Finanzgericht, eine konkrete Gefährdung von Mandanteninteressen darzulegen.102) Auch hier hat die Finanzgerichtsbarkeit festgestellt, dass die bloße Insolvenzeröffnung automatisch dazu führt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht mehr geordnet zu betrachten seien.103) Erforderlich ist ein substantiierter und glaubhafter Vortrag, aufgrund dessen mit hinreichender Gewissheit die grundsätzlich beim Vermögensverfall zu unterstellende Gefahr ausgeschlossen werden kann, dass der Steuerberater seine Berufspflichten unter dem Druck seiner desolaten Vermögenslage verletzen wird.104) 5.
Wirtschaftsprüfer/Wirtschaftsprüferinnen
Auch der Wirtschaftsprüfer gerät in der Insolvenz in Konflikt mit seinem Berufsrecht. An 63 ihn werden in Bezug auf seine Vertrauenswürdigkeit hohe Anforderungen gestellt. Gemäß § 2 Abs. 1 WPO hat er die berufliche Aufgabe, betriebswirtschaftliche Prüfungen, insbesondere solche von Jahresabschlüssen wirtschaftlicher Unternehmen, durchzuführen und Bestätigungsvermerke über die Vornahme und das Ergebnis solcher Prüfungen zu erteilen. Diese Tätigkeit setzt voraus, dass der Wirtschaftsprüfer völlig unabhängig ist. Die Unab___________ 101) 102) 103) 104)
Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 285. BFH, Beschl. v. 5.6.2015 – VII B 181/14, DStR 2015, 14. FG Hamburg, Urt. v. 4.5.2021 – 6 K 35/20, ZVI 2022, 83. BFH, Beschl. v. 5.6.2015 – VII B 181/14, BFH/NV 2015, 1440.
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§ 39
Teil V Einzelfragen
hängigkeit ist aber dann gefährdet, wenn der Wirtschaftsprüfer finanziell notleidend ist. Dies macht ihn bestechlich und beschwört die Gefahr herauf, er werde „geschönten“ Bilanzen seinen Segen geben.105) Aus diesem Grund sieht § 20 Abs. 2 Nr. 5 WPO vor, die Bestellung zum Wirtschaftsprüfer zu widerrufen, wenn dieser sich in nicht geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen, insbesondere in Vermögensverfall befindet. Gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 7 WPO wird ein Vermögensverfall vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Wirtschaftsprüfers eröffnet wurde. 64 Auffällig ist, dass nach den §§ 16 Abs. 1 Nr. 7 und 20 Abs. 2 Nr. 5 WPO der Vermögensverfall offenbar eine besondere Ausprägung der nicht geordneten wirtschaftlichen Verhältnisse darstellt, was die Formulierung „insbesondere“ nahelegt. Im Gegensatz dazu wird der Vermögensverfall nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO und § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG gerade mit ungeordneten wirtschaftlichen Verhältnissen definiert.106) Danach ist der Vermögensverfall mit den ungeordneten wirtschaftlichen Verhältnissen gleichbedeutend. 65 Hieraus ist nicht der Schluss zu ziehen, dass die Anforderungen an einen Widerruf der Bestellung eines Wirtschaftsprüfers geringer sind als die an einen Zulassungswiderruf eines Rechtsanwaltes oder Steuerberaters. Letztlich ist kaum bestimmbar, wann „nur“ von einfachen ungeordneten Vermögensverhältnissen ausgegangen werden kann und ab wann die Vermögensverhältnisse derart schlecht sind, dass ein Vermögensverfall vorliegt. Es ist daher anzunehmen, dass die unterschiedlichen Formulierungen aus der Entstehungsgeschichte der jeweiligen Berufsordnung herrühren, in der Sache aber dasselbe meinen.107) 66 Gemäß § 20 Abs. 4 Satz 4 WPO kann von einem Widerruf abgesehen werden, wenn der Wirtschaftsprüferkammer nachgewiesen wird, dass durch die nicht geordneten wirtschaftlichen Verhältnisse die Interessen Dritter nicht gefährdet sind. Auch hieran dürfen im Hinblick auf Art 12 Abs. 1 GG keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Die an diesen Nachweis zu stellenden Voraussetzungen entsprechen denen für Rechtsanwälte und Steuerberater zur Widerlegung der Gefährdung der Mandanteninteressen trotz des Vermögensverfalls. 6.
Architekten/Architektinnen
67 Auch im Falle der Insolvenz von Architekten kann es zu einem Konflikt zwischen deren Berufsrecht und der InsO kommen. Das Berufsrecht der Architekten ist in Landesgesetzen geregelt. Um als Architekt arbeiten zu können, ist eine Eintragung in die Architektenliste notwendig. Neben anderen Merkmalen setzt diese Eintragung voraus, dass der Architekt die zur Wahrnehmung der Berufsaufgaben erforderliche Zuverlässigkeit mitbringt. Fällt diese später weg, ist der Architekt von der zuständigen Architektenkammer wieder aus der Liste zu löschen wie dies z. B. § 6 Satz 1 lit. d i. V. m. § 5 Abs. 1 BauKaG NRW anordnet. Die Zuverlässigkeit eines überschuldeten Architekten wird grundsätzlich verneint.108) Da die Eröffnung des Insolvenzverfahrens regelmäßig mit einer Überschuldung einhergeht, würde diese zu einer Löschung aus der Architektenliste führen. Eine Betriebsfortführung wäre damit ausgeschlossen. 68 Hintergrund dieser Regelungen ist auch hier die abstrakte Gefahr, dass sich der verschuldete Architekt nicht mehr allein von seiner fachlichen Einschätzung, sondern „sich von eigenen ___________ 105) Graf/Wunsch, ZVI 2005, 105, 108. 106) Henssler/Prütting-Henssler, BRAO, § 14 Rz. 29. 107) Dahingehend auch OVG Münster, Beschl. v. 9.2.2001 – 4 A 5645/99, NJW 2002, 234, das bzgl. § 20 Abs. 2 Nr. 5 WPO auf die „vom Wortlaut her ähnliche Regelung“ in § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG abstellt; BVerwG, Urt. v. 17.8.2005 – 6 C 15.04, NJW 2005, 3795; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 290. 108) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 295.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
finanziellen Interessen aufgrund des Zahlungsdrucks seiner Gläubiger leiten lässt“.109) Zum Schutze der Auftraggeber soll der Architekt aus der Liste gelöscht werden, wobei der Architektenkammer kein Ermessensspielraum eingeräumt wird. Auch hier besteht für den Architekten die Möglichkeit, im Einzelfall eine Unzuverlässigkeit 69 zu widerlegen. Die Anforderungen hierfür entsprechen denen, die auch an Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zur Widerlegung des Vermögensverfalls gestellt werden.110) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens allein reicht demnach nicht aus, um seine Zuverlässigkeit wiederherzustellen.111) Diese deckt nämlich nur die ungeordneten wirtschaftlichen Verhältnisse auf, ohne dass damit zugleich eine baldige Entschuldung absehbar wäre. Ist diese nicht absehbar, kann der Beschluss zur Löschung aus der Architektenliste auch sofort vollzogen werden, da das Interesse der Allgemeinheit an einem funktionierenden Architektenwesen überwiegt und ansonsten die Gefahr bestünde, dass der betroffene Architekt aufgrund seiner Vermögenslosigkeit seinen Beruf pflichtwidrig ausübe und Schädigungen von Bauherren verursache.112) Wie auch bei Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern muss eine Restschuld- 70 befreiung bereits angekündigt oder ein Insolvenzplan ausgearbeitet sein, um einer Löschung aus der Architektenliste zuvorzukommen und den Betrieb fortsetzen zu können. Auch die Eigenverwaltung dürfte ein geeignetes Instrument darstellen. Schließlich ist die Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit in einem Angestelltenverhältnis denkbar. Wie schon beim Rechtsanwalt muss auch hier sichergestellt werden, dass der überschuldete Architekt arbeitsvertraglich und auch tatsächlich keine Gelegenheit hat, selbstständig Aufträge zu übernehmen und Zugriff auf Fremdgelder zu erhalten. IV.
Die Betriebsfortführung des Profifußballvereins
Die Vereine der ersten und zweiten Bundesliga sind noch heute als nicht wirtschaftliche 71 Idealvereine in den Vereinsregistern eingetragen. Mag dies zum Zeitpunkt der Eintragung noch gerechtfertigt gewesen sein, so sind die Profifußballvereine heute Wirtschaftsbetriebe und damit Unternehmen i. S. der InsO.113) Die Beibehaltung des Status als nicht wirtschaftlicher Verein wird dabei als geduldete Rechtsformverfehlung bezeichnet.114) Die gestiegene wirtschaftliche Bedeutung wirft aber auch neue Fragen im Bereich des Insolvenzrechts auf, die im Folgenden am Beispiel des Profifußballvereins erörtert werden, im Übrigen aber auf alle anderen Vereine anderer Sparten und den von ihnen gehaltenen Kapitalgesellschaften Anwendung finden. 1.
Rechtliche und tatsächliche Ausgangslage
Keine Sportart hat in den vergangenen Jahrzehnten eine derartige Kommerzialisierung er- 72 fahren wie der Fußball. Dies hängt eng mit dem stetig gestiegenen Interesse der Bevölkerung für diesen Sport zusammen. Gerade die WM 2006 und die Weltmeisterschaft 2014 haben eine zusätzliche Begeisterungswelle ausgelöst und die Popularität des Fußballs in Deutschland noch erhöht. Fernsehgelder, Sponsorenverträge, Trikotwerbung und Merchandising stellen für die Vereine beträchtliche Einnahmen dar. In der Saison 2011/12 erzielten allein die 18 Bundesligavereine der ersten Bundesliga Erlöse von insgesamt ___________ 109) 110) 111) 112) 113) 114)
OVG NRW, Beschl. v. 18.12.2009 – 4 B 995/09, ZInsO 2010, 481, 482; Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 67. Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 35 Rz. 295. OVG NRW, Beschl. v. 18.12.2009 – 4 B 995/09, ZInsO 2010, 481, 482; Braun-Bäuerle, InsO, § 35 Rz. 67. OVG NRW, Beschl v. 16.09.2015 – 4 B 333/15, ZVI 2016, 11 – 12. Zeuner/Nauen, NZI 2009, 213. Reuter in: MünchKomm-BGB, § 42 Rz. 7.
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Teil V Einzelfragen
1,94 Mrd. €.115) Im Durchschnitt erwirtschaftete jeder Club damit rund 108 Mio. €. Der FC Bayern München konnte als umsatzstärkster Verein in der Saison 2011/12 sogar über 350 Mio. € erwirtschaften.116) In der Saison 2020/21 erzielte die höchste Spielklasse der DFL insgesamt 3,5 Mrd. €. Und das, obwohl die Coronakrise den Bundesligen insgesamt mehr als eine Milliarde Euro an Umsatz gekostet hat.117) Der FC Bayern nahm rund 611 Mio. € ein, der BVB konnte einen Gesamtumsatz von 338 Mio. € vermelden.118) Obwohl ursprünglich der rein ideelle Zweck der Sportförderung angestrebt wurde, so führt dieser bei den Profivereinen nunmehr eine untergeordnete Rolle. Angesichts dieser Zahlen wird die wirtschaftliche Bedeutung des Profifußballs offensichtlich. Dennoch erwirtschaftete die Bundesliga insgesamt ein negatives Ergebnis. Nur acht Clubs konnten ein positives Ergebnis nach Steuern erwirtschaften.119) 73 Diese wirtschaftliche Zugkraft geht aber über die erste Bundesliga hinaus. Auch die zweite und dritte Liga erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Über die zweite Liga wird schon seit längerer Zeit im gleichen Umfang wie über die erste berichtet, einschließlich der LiveÜbertragung von Spielen. Und auch die dritte Liga hat Einzug in die regelmäßige Berichterstattung der Sportschau gefunden. Dies führt wiederum zu höheren Fernsehgeldern und neuen Möglichkeiten in Bezug auf Sponsorenverträge. 74 Mit der steigenden wirtschaftlichen Bedeutung steigt aber auch das wirtschaftliche Risiko. So hängt der wirtschaftliche maßgeblich vom sportlichen Erfolg ab, der nur bedingt vorhergesagt werden kann.120) Außerdem führt die Notwendigkeit von Kapitaleinsatz zum Spielbetrieb gerade bei kleineren Vereinen häufig zur Abhängigkeit von einzelnen Sponsoren. Sind diese aus welchen Gründen auch immer nicht bereit, weiterhin Geld für den Spielbetrieb zu Verfügung zu stellen und gelingt es dem Verein nicht, zeitnah einen neuen Sponsor zu finden, so entstehen oftmals finanzielle Engpässe. Auch falsches Management in der Vereinsführung kann dazu führen, dass der Verein in Geldnot gerät.121) Aus diesen und anderen Gründen kam es in den letzten Jahren auch zunehmend zu Insolvenzen von Fußballvereinen. Als Beispiele seien hier nur die ehemaligen Bundesligisten VfB Leipzig122), SSV Ulm123) und Rot-Weiss Essen124) angeführt. 75 Stehen die Gläubiger nun vor der Wahl, ob ein insolventer Fußballverein fortgesetzt oder stillgelegt werden soll, so werden sie regelmäßig zu einer Betriebsfortführung tendieren. ___________ 115) Bundesliga-Report 2012, abrufbar unter https://www.bpb.de/medien/177860/Report_2012_01-12_dt_72 dpi.pdf (Abrufdatum: 21.11.2022). 116) Abrufbar unter http://www.augsburger-allgemeine.de/sport/fc-bayern/Umsatz-wieder-ueber-der-350Millionen-Euro-Marke-id20090556.html (Abrufdatum: 21.11.2022). 117) Abrufbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4867/umfrage/entwicklung-der-erloesein-der-ersten-und-zweiten-fussballbundesliga/ (Abrufdatum: 21.11.2022). 118) Abrufbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/192749/umfrage/umsatz-deutscher-bundesligavereine/#:~:text=Fu%C3%9Fball%2DBundesliga%202020%2F2021&text=Der%20FC%20Bayern%20M%C3%BCnchen%20nahm,rund%20338%20Millionen%20Euro%20vermelden (Abrufdatum 21.11.2022). 119) Abrufbar unter https://media.dfl.de/sites/2/2021/03/D_DFL_Wirtschaftsreport_2021_M.pdf (Abrufdatum 21.11.2022). 120) Dworak, Finanzierung für Fußballunternehmen, S. 8. 121) Pfister/Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 140. 122) Abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball-der-vfb-leipzig-ist-schon-wieder-pleite-1128740. html (Abrufdatum: 21.11.2022). 123) Vgl. https://www.rws-verlag.de/aktuell/newsticker-kanzleien/schultze-braun-ssv-ulm-1846-fussball-evglaeubiger-stimmen-insolvenzplan-zu-verfahren-kann-zeitnah-abgeschlossen-werden-45902/ (Abrufdatum: 31.3.2023). 124) Vgl. https://www.augsburger-allgemeine.de/sport/Rot-Weiss-Essen-Traditions-Klub-meldet-Insolvenzan-id7935676.html (Abrufdatum: 31.3.2023).
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
Vereine der Bundesliga sind europaweit, manche sogar weltweit bekannt. Sie locken tausende Zuschauer in die Stadien und vor die Bildschirme der Fernseher und werden so auch als Werbeträger für Wirtschaftsunternehmen interessant. Nur durch den Spielbetrieb erhalten sie Fernsehgelder und behalten die Möglichkeit, durch die Qualifikation für einen internationalen Wettbewerb ihre Bekanntheit noch zu erhöhen. Durch die steigende Bekanntheit steigt auch der Zuspruch der Sportbegeisterten für diesen Verein, was sich wiederum im Absatz von Merchandising-Artikeln und einem höheren Werbewert bemerkbar macht.125) Dies gilt im Wesentlichen auch für die unterklassigen Vereine. Auch sie leben vom Zuschauerzuspruch, der aus dem Interesse am sportlichen Wettkampf hervorgeht. Bei vielen Vereinen kommt außerdem ein rein ideeller Wert hinzu. Viele Menschen und 76 damit auch spätere Gläubiger fühlen sich unabhängig vom sportlichen Erfolg mit „ihrem“ Verein verbunden. Dieser Sympathiewert führt dazu, dass unterklassige Vereine teilweise mehr Zuschauer verbuchen können als Erstligisten. Auch dies wirkt sich neben den Einnahmen durch Kartenverkäufe letztlich wieder auf den Werbewert des Vereins aus. Legt man den Verein nun still, findet eine Vernichtung dieser Werte statt. Dem Verein 77 wird die Möglichkeit genommen, sich Fernsehgelder zu erspielen und neue Sponsoren auf sich aufmerksam zu machen. Die mit dem Verein verbundenen Sympathisanten haben keine Gelegenheit mehr durch Stadionbesuche am Vereinsleben zu partizipieren; sie scheiden damit auch als Käufer von Fanartikeln und als Zielgruppe von Trikotwerbung aus. Hinzu kommt, dass es oftmals keine verwertbaren Sachwerte mehr gibt. Stadien oder Trainingsgelände sind, sofern sie nicht ohnehin nur von einem öffentlichen Träger angemietet waren, häufig schon vor Eintritt der Insolvenzreife verpfändet worden, stehen den Insolvenzgläubigern mithin nicht mehr zur Verfügung. Mit Wegfall des Spielbetriebes wird auch der Wert der Stadionimmobilie sinken. Alternative Nutzungsmöglichkeiten werden aufgrund der in der Regel hohen Unterhaltskosten nur sehr eingeschränkt möglich sein. Eine Betriebsfortführung verspricht daher eine wesentlich höhere Befriedigung der Forderungen. An dieser Stelle geraten die Interessen der Gläubiger an einer Betriebsfortführung mit denen 78 der Fußballverbände an einer ordnungsgemäßen Durchführung des sportlichen Wettbewerbs in Konflikt. Der Fußball in Deutschland wird in Verbänden organisiert. Dachverband ist der Deutsche 79 Fußballbund (DFB).126) Dazu existieren Verbände der Länder, die den Fußball der unteren Ligen organisieren. Die Verbände haben die Rechtsform eines eingetragenen nicht wirtschaftlichen Vereins, dessen Mitglieder wiederum die Fußballvereine sind.127) Die von dem jeweiligen Verband zur Verfügung gestellten Ligen sind die Vereinseinrichtungen, die von den Fußballclubs als Vereinsmitgliedern genutzt werden. Welcher Verein an welcher Liga teilnehmen darf, wird von den Verbänden in ihren Satzungen bestimmt.128) Die Organisation, Durchführung und Vermarktung der ersten und zweiten Bundesliga ist 80 vom DFB auf den Ligaverband e. V. übertragen worden.129) Die dritte Liga wird vom DFB selbst betrieben. Die Teilnahme am Spielbetrieb der ersten und zweiten Bundesliga ist vom Erwerb einer Lizenz abhängig. Die beiden obersten Spielklassen werden deshalb auch als Lizenzligen bezeichnet. Die Lizenz kann Vereinen oder Kapitalgesellschaften erteilt werden; die Vereine der ersten und zweiten Liga haben ihre Profiabteilung regelmäßig auf eine von ___________ Dworak, Finanzierung für Fußballunternehmen, S. 44. Dworak, Finanzierung für Fußballunternehmen, S. 9. Gutzeit, Vereinsinsolvenz, S. 155. Regelungen des DFB und des Ligaverbandes abrufbar unter: https://www.dfb.de/verbandsservice/ verbandsrecht/satzungen-und-ordnungen/ (Abrufdatum: 21.11.2022). 129) Gutzeit, Vereinsinsolvenz, S. 155; Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 126, 127.
125) 126) 127) 128)
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ihnen beherrschte Kapitalgesellschaft übertragen. Der Erwerb einer Lizenz berechtigt zur Teilnahme am Spielbetrieb und ist gleichzeitig Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Ligaverband, weshalb die Mitgliedschaft und die Spielberechtigung untrennbar miteinander zusammenhängen. Die tatsächliche Lizenzerteilung erfolgt für jeweils ein Spieljahr durch die vom Ligaverband geschaffene Ligaverbands-GmbH (DFL), die mit der Ausführung der satzungsgemäßen Aufgaben betraut ist.130) 81 Um am Spielbetrieb der dritten Liga teilnehmen zu können, muss ein Verein bzw. eine Kapitalgesellschaft zugelassen werden. Dies geschieht durch den Abschluss eines sog. Zulassungsvertrages. 82 Welche Voraussetzungen die Vereine erfüllen müssen, um am Spielbetrieb der jeweiligen Liga teilnehmen zu können regelt für die Lizenzligen im Wesentlichen die Lizenzierungsordnung (LO) und für die dritte Liga das Statut-3. Liga. Ziel der gestellten Anforderungen ist die Gewährleistung eines attraktiven, sportlichen und ausgeglichenen Wettkampfs. Neben sportlichen, rechtlichen und anderen Voraussetzungen muss ein Verein zum Erwerb einer Lizenz bzw. Zulassung auch seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nachweisen. Fällt diese Leistungsfähigkeit später weg, kann die Lizenz bzw. die Zulassung auch wieder entzogen werden. Andere Klauseln beziehen sich explizit auf die Insolvenz eines Vereins und sehen einen Punktabzug oder gar einen Zwangsabstieg vor. Wieder andere Klauseln sehen für den Fall der Vereinsauflösung ein automatisches Erlöschen der Lizenz bzw. der Zulassung vor. 2.
Vorrang der InsO bzw. des staatlichen Rechts
83 Sowohl die korporativen Regelungen der Sportverbände als auch die Regelungen in Lizenzverträgen stehen im Spannungsverhältnis zum Zivilrecht und der InsO. Die Grenzen der Vertragsautonomie werden an den Maßstäben der §§ 134, 138, 242 BGB gemessen.131) Darüber hinaus sind Vereinbarungen unwirksam, durch die im Voraus die Anwendung der §§ 103 bis 118 InsO ausgeschlossen oder beschränkt wird (§ 119 InsO). Schließlich tangieren die Verbandsregelungen das in § 1 InsO definierte Ziel der gleichmäßigen und bestmöglichen Befriedigung der Gläubiger mit dem weiteren Verfahrensziel der Sanierung. 2.1
Kein Vorrang der Vertragsautonomie
84 Die Satzungen der Sportverbände sind an § 242 BGB zu messen.132) Grundsätzlich sind Vereine bezüglich des Inhalts ihrer Satzungen frei. Diese Satzungsautonomie findet ihre Stütze in Art. 9 Abs. 1 GG, genießt somit Verfassungsrang.133) Vereinssatzungen sind der Kontrolle durch staatliches Recht daher normalerweise entzogen. Die Rechtsprechung macht hiervon aber bei Vereinen, die eine Monopolstellung innehaben, eine Ausnahme.134) 85 Die Satzungsautonomie soll die Vereinsmitglieder in die Lage versetzen, unabhängig vom Gutdünken Außenstehender eigene Regeln für ihr Vereinsleben aufzustellen. Ist jemand mit den beschlossenen Regelungen nicht einverstanden, steht es ihm frei, zu gehen, einen anderen Verein zu gründen, sich einem anderen Verein anzuschließen oder Vereinen gänzlich fern zu bleiben. Genau diese Freiheit besteht aber nicht, wenn der Verein eine Monopolstellung innehat, die auch nicht ohne weiteres durch die Gründung eines neuen Vereins ___________ 130) 131) 132) 133) 134)
Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 132. BGH, Urt. v. 28.11.1994 – II ZR 11/94, ZIP 1995, 752 – 753. BGH, Urt. v. 28.11.1994 – II ZR 11/94, ZIP 1995, 752 – 753. Grüneberg-Ellenberger, BGB, § 25 Rz. 7. BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, ZIP 1989, 14, 16; Haas, NZI 2003, 177, 178; GrünebergEllenberger, BGB, § 25 Rz. 9; Reuter in: MünchKomm-BGB, Vor § 21 Rz. 115, 116.
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Betriebsfortführung in Sonderfällen
gebrochen werden kann. Hier ist der Einzelne auf eine Mitgliedschaft angewiesen. Deshalb gewährt ihm die Rechtsprechung insoweit Schutz, als sie die Satzung einer Kontrolle nach Treu und Glauben unterzieht (§ 242 BGB).135) Neben den Vereinsinteressen sind dabei auch die Wertungen der InsO und damit die Vermögensinteressen der Insolvenzgläubiger zu berücksichtigen.136) Sowohl die Verbände als auch die Vereine sind daran interessiert, dass ihr Sport durch Geldgeber aus der Wirtschaft gefördert wird. Es ist deshalb gerechtfertigt und auch geboten, deren Belange i. R. einer Interessensabwägung angemessen zu berücksichtigen.137) Der DFB und der Ligaverband e. V. besitzen für den Profifußball in Deutschland eine Mo- 86 nopolstellung.138) Will ein Fußballclub seinen Sport professionell betreiben, führt kein Weg an ihnen vorbei. Die Klauseln sind deshalb an § 242 BGB zu messen.139) Sie können nur Wirksamkeit beanspruchen, wenn sie ein berechtigtes Interesse der Verbände verfolgen, dass nicht ausnahmsweise hinter überwiegenden Interessen der Vereine und der Insolvenzgläubiger zurückstehen muss. Bei dieser Kontrolle kann die Satzung nicht als Ganzes betrachtet werden. Jede Klausel ist i. E. einer Wirksamkeitskontrolle zu unterwerfen. Der Nachweis und der Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Vereins werden 87 nahezu von allen Fußballverbänden in Deutschland als Voraussetzung zur Teilnahme am jeweiligen Ligabetrieb gefordert. Dies dient vorrangig dem Schutz eines sportlich attraktiven und ausgeglichenen Wettbewerbs.140) Es soll vermieden werden, dass ein Verein aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten genötigt ist, den Spielbetrieb einzustellen und den Wettbewerb auf diese Weise zu verfälschen.141) Dabei unterscheiden sich die Klauseln in der Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll. 2.2
Wirksamkeit der Regelungen zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bzw. ihrem Wegfall
Klauseln, die den Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit voraussetzen, sind § 2 88 Nr. 1 lit. g i. V. m. § 8 LO für die Lizenzligen und § 6 Nr. 4 Statut-3. Liga (i. V. m. den Richtlinien für das Zulassungsverfahren – Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit 3. Liga) für die dritte Liga. Entsprechende Regelungen finden sich auch in den Satzungen der untergeordneten Verbände.142) Diese Klauseln müssen auch unter Beachtung des Grundsatzes von Treu und Glauben als rechtmäßig angesehen werden (§ 242 BGB).143) Sie sollen gewährleisten, dass die Vereine die finanziellen Voraussetzungen mitbringen, die 89 Saison vollständig zu absolvieren.144) Es soll verhindert werden, dass ein Verein während ___________ 135) BGH, Urt. v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, ZIP 1989, 14, 16; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.7.2000 – 11 U (Kart) 36/00, SpuRt 2001, 28, 29. 136) Pfister/Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 150; dahingehend GrünebergEllenberger, BGB, § 25 Rz. 9; a. A.: Adolphsen, KTS 2005, 53, 65. 137) Hierfür spricht insbesondere auch das in der Präambel zur LO ausgedrückte Ziel des Lizenzierungsverfahrens, „[…] das öffentliche Image und die Vermarktung […] der Lizenznehmer zu fördern und zu sichern, dass sie […] zuverlässige Partner […] der Wirtschaft sind“. 138) LG Frankfurt/M., Urt. v. 26.7.1982 – 2/8 0 180/82, NJW 1983, 761, 763. 139) Haas, NZI 2003, 177, 178. 140) Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 132. 141) Haas, NZI 2003, 177, 178; Adolphsen, KTS 2005, 53, 54. 142) So z. B. § 6 Nr. 4 des Statuts für die Regionalliga West (RLSt) des Westdeutschen Fußball- und Leichtathletikverbands. 143) Walker, KTS 2003, 169, 182; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.7.2000 – 11 U (Kart) 36/00, SpuRt 2001, 28, 29, i. S. eines Verstoßes gegen § 20 Abs. 1 i. V. m. Abs. 6 GWB und Art. 3 Abs. 1 GG. 144) König/de Vries, SpuRt 2006, 96, 97.
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des laufenden Wettbewerbs aus Geldmangel aus dem Spielbetrieb ausscheiden muss.145) Dies würde zu einer erheblichen Wettbewerbsverzerrung führen und dem Ansehen des gesamten Ligabetriebs schaden.146) Einige Vereine hätten möglicherweise schon gegen den nun ausscheidenden Verein gespielt, andere noch nicht. Man wäre genötigt, die Spiele gegen den ausscheidenden Verein zu annullieren. Eine vermeintlich sicher geglaubte Tabellensituation könnte sich dann völlig verschieben.147) Aber auch wenn es dem Verein gelingt, trotz erheblicher Geldnot den Spielbetrieb noch aufrechtzuerhalten, so schwebt über ihm das Damoklesschwert des endgültigen Bankrotts. Diese Situation kann sich nur demotivierend auf alle Spieler auswirken. Sowohl der notleidende Verein als auch seine Gegner müssen damit rechnen, dass der Spielbetrieb nicht bis zum Saisonende durchgehalten werden kann und die Spiele aus der Wertung genommen werden müssten. Dies würde auch zu einer erheblichen Attraktivitätseinbuße für die Zuschauer führen. 90 Diesem gewichtigen Interesse der Verbände können die Fußballvereine und deren Gläubiger kein überwiegendes Interesse entgegenhalten. Insbesondere steht die ungesicherte Aussicht, sich möglicherweise sanieren zu können, hinter der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Ligabetriebs zurück.148) Anders läge der Fall freilich, wenn bereits ein Insolvenzplan vorläge, der schon ein Sanierungskonzept enthält. Zu beachten ist aber, dass ein Insolvenzverfahren einer Zulassungs- bzw. Lizenzerteilung nach § 6 Nr. 3 Statut-3. Liga und § 2 Nr. 1 lit. g i. V. m. § 8 LO nicht per se entgegensteht. Nach diesen Regelungen wäre eine Zulassungsbzw. Lizenzerteilung also auch möglich, wenn ein Insolvenzplan die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit für das Spieljahr sicherstellen könnte.149) Die Klauseln sind daher grundsätzlich rechtmäßig. 91 Mit dem Erhalt der Zulassung zum Spielbetrieb ist die Verantwortung eines Vereins zum wirtschaftlichen Haushalten aber noch nicht beendet. So stellt § 8 Nr. 1 LO Anforderungen an die Lizenzvereine für den Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit während der Spielzeit und nach Nr. 6 der Richtlinien für das Zulassungsverfahren – Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit 3. Liga – obliegt der DFB-Zentralverwaltung die laufende Prüfung, Beobachtung und Beratung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Vereine. 92 Während der Spielaussetzungen in der Coronakrise wurde der Punktabzug ausgesetzt. Im Lizensierungsverfahren für die Saison 2020/21 wurde auf die Überprüfung der Liquidität der Vereine verzichtet. Liquiditätslücken wurden allenfalls mit einer Einschränkung der Transfermaßnahmen bestraft. Ab der Spielzeit 2020/21 gelten wieder die die ursprünglichen Regelungen der §§ 8, 8a und 11 LO. Die Regelungen des § 11 LO gelten nunmehr im Übrigen auch für die Anzeige der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung während der Rechtshängigkeit einer Restrukturierungssache nach dem StaRUG150). Insofern wird in der Lizenzordnung nicht die Restrukturierung sanktioniert. 93 Einige Klauseln sehen nun Konsequenzen vor, falls die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht mehr gegeben sein sollte. So eröffnen § 10 Nr. 2 lit. a LO und § 3 Nr. 2 Statut-3. Liga den Verbänden in diesem Fall die Möglichkeit, die Lizenz bzw. die Zulassung wieder zu entziehen. Andere Klauseln knüpfen unmittelbar an die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ___________ 145) 146) 147) 148) 149) 150)
Gutzeit, Vereinsinsolvenz, S. 157; Zeuner/Nauen, NZI 2009, 213. Walker, KTS 2003, 169, 182. Adolphsen, KTS 2005, 53, 54. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.7.2000 – 11 U (Kart) 36/00, SpuRt 2001, 28, 31; Haas, NZI 2003, 177, 179. Walker, KTS 2003, 169, 172. Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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an. § 11 Nr. 5 LO sieht einen Abzug von neun Gewinnpunkten vor, wenn ein Insolvenzgericht die Verfahrenseröffnung über das Vermögen eines lizenzierten Vereins beschließt. § 6 Nr. 1 Spielordnung des DFB (SpO) ordnet im Falle der Insolvenz einen Zwangsabstieg an. Die SpO gilt zwar ausweislich § 6 Nr. 5 SpO nicht für die Lizenzligen; zu beachten ist jedoch, dass ein Entzug der Zulassung nach § 10 Nr. 2 lit. a LO ebenfalls einen Zwangsabstieg in die dritte Liga zur Folge hätte, da gemäß § 10 Nr. 2 LO a. E. ein erneuter Antrag auf Lizenzerteilung nicht möglich ist.151) Das heißt, die Vereine sind zwar weiterhin berechtigt bis zum Saisonende am Spielbetrieb 94 teilzunehmen. Nach der Spielzeit steigen sie jedoch unabhängig von ihrem sportlichen Erfolg ab. Dies ist hinsichtlich der Prüfung nach § 242 BGB nicht unproblematisch. Wie bereits dargelegt, soll die Lizenzerteilung sicherstellen, dass der Spielbetrieb über die gesamte Saison aufrechterhalten werden kann. Der sportliche Wettkampf soll nicht durch äußere Faktoren beeinflusst werden. Dies wäre aber bei einem Lizenz- bzw. Zulassungsentzug oder einer Insolvenz während der Saison der Fall. Eine Mannschaft, die wüsste, dass sie am Saisonende unabhängig von ihrer sportlichen Leistung absteigt, verlöre die Motivation.152) Ab diesem Zeitpunkt hätten es die Gegner wesentlich leichter gegen dieses Team zu gewinnen. Einerseits wären die noch durchzuführenden Spiele für die Zuschauer unattraktiv und andererseits wäre es unfair gegenüber Mannschaften, die noch vor dem Lizenz- bzw. Zulassungsentzug oder der Insolvenz gegen eine voll motivierte Elf antreten mussten. Das mit der Lizenz- bzw. Zulassungserteilung verfolgte Ziel eines ausgeglichenen Wettkampfeswird verfehlt.153) Gleichzeitig dienen diese Regelungen der Aufrechterhaltung des Ligabetriebes und dem 95 Schutz des fairen sportlichen Wettkampfs. Die Regelungen verfolgen zwei Ziele. Zunächst sollen die Vereine vor einem ruinösen „Wettrüsten“ bewahrt werden. Die Fußballclubs stehen auch außerhalb des Platzes in Konkurrenz zueinander, wenn es bspw. um die Verpflichtung neuer Spieler geht. Ein maßgebliches Kriterium für den Spieler bei der Vereinswahl ist die Verdienstmöglichkeit. Durch einen drohenden Lizenzentzug bei Wegfall der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sollen die Vereine vor sich selbst geschützt werden. Kein Verein soll sich genötigt fühlen, über seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinauszugehen, um einen anderen Verein zu überbieten. Mit der Androhung des Zwangsabstiegs soll diesem Verbandsinteresse Nachdruck verliehen werden. Darüber hinaus sollen unlauter erlangte Vorteile abgeschöpft werden. Hat ein Verein über seinen finanziellen Verhältnissen gelebt, hat er sich gegenüber anderen Vereinen einen Vorteil verschafft, die sich an die wirtschaftlichen Regeln gehalten haben. Außerdem eröffnet das Insolvenzverfahren dem betroffenen Verein eine Reihe von Möglichkeiten, die anderen Vereinen nicht zu Verfügung stehen. Aufgrund der insolvenzrechtlichen Vorschriften ist es ihm z. B. möglich, zeitlich befristete Arbeitsverträge mit überteuerten Spielern oder Trainern zu kündigen (§ 113 InsO). Diese Vorteile sollen ihm am Saisonende wieder genommen, der Anreiz zu unsolidem Wirtschaften im Keime erstickt werden.154)
___________ 151) Walker, KTS 2003, 169, 173; König/de Vries, SpuRt 2006, 96, 99; vgl. § 54 Nr. 3 SpO und § 55a Nr. 3 SpO bzgl. des Lizenzentzuges eines Zweit- und Drittligisten. 152) Walker, KTS 2003, 169, 182, 183; Pfister/Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 149; Zeuner/Nauen, NZI 2009, 213, 214. 153) Dahingehend Pfister, SpuRt 2002, 103, 104. 154) Walker, KTS 2003, 169, 183; Zeuner/Nauen, NZI 2009, 213, 214.
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96 Die Verbände haben also grundsätzlich ein Interesse zum Schutze des Wettbewerbs, Vereine durch Zulassungsentzug und Zwangsabstieg zu disziplinieren. Zur Wirksamkeit dieser Reglungen im Einzelnen: 2.2.1 Wegfall der Leistungsfähigkeit und Insolvenz eines Vereins in der Lizenzliga 97 § 10 Nr. 2 lit. a LO ermöglicht dem Verband den Entzug der Lizenz, wenn die Voraussetzungen für deren Erteilung wieder weggefallen sind. Insbesondere soll dies für den Wegfall der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gelten. § 10 Nr. 2 lit. a LO räumt dem Ligaverband dabei ein Ermessen ein, wann von einem Lizenzentzug Gebrauch gemacht werden soll. § 11 Nr. 5 LO sieht speziell für den Fall der Insolvenz eines Lizenznehmers einen Abzug von neun Gewinnpunkten vor. Hiervon kann abgesehen werden, wenn auch der Hauptsponsor oder ein ähnlicher Finanzgeber des Vereins insolvent ist. 98 § 11 Nr. 5 LO ist mit § 242 BGB vereinbar. Zwar wird die Betriebsfortführung des Vereins in der Spielklasse durch den Punktabzug erschwert. Der Ligaverband hat aber ein Interesse daran, dass die Vorteile des unsoliden Wirtschaftens wieder entzogen werden. Andernfalls läge eine Benachteiligung der Konkurrenten vor, die sich an die wirtschaftlichen Auflagen gehalten haben und deshalb bei der Zusammenstellung ihres Kaders Abstriche machen mussten. Auch der pauschale Abzug von neun Punkten ist gerechtfertigt. Ein sportlicher Vorteil durch einen teureren Kader ist zwar kaum messbar. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die finanzielle Möglichkeit, talentierte Spieler zu verpflichten, langfristig auch zu sportlichem Erfolg führt. Deshalb ist es vertretbar, den so erlangten Vorteil pauschal mit dem Aberkennen von praktisch drei Siegen zu sanktionieren. Die Strafe ist ausreichend, um Vereine vor unsolidem Wirtschaften abzuschrecken. Gleichzeitig ist sie aber niedrig genug, um eine Betriebsfortführung zu ermöglichen und den Verbleib in der Liga sportlich zu erreichen. Auf diese Weise haben die noch auszutragenden Spiele auch noch eine sportliche Bedeutung. 99 Des Weiteren ermöglicht § 11 Nr. 5 LO ein Absehen vom Punktabzug, wenn auch ein wichtiger Finanzgeber des Vereins insolvent ist. Ist der Verein also ohne eigenes Verschulden in den Sog der Insolvenz geraten, soll ihm dies sportlich nicht zum Nachteil gereichen. § 11 Nr. 5 LO ist demnach ein fairer Kompromiss zwischen Verbands- und Insolvenzrecht. 100 Fraglich ist jedoch, welcher Raum noch für § 10 Nr. 2 lit. a LO bleibt. Die Klausel räumt dem Verband Ermessen ein, wann er von einem Lizenzentzug Gebrauch macht. Aufgrund der speziellen Regelung in § 11 Nr. 5 LO ist davon auszugehen, dass ein Lizenzentzug nicht im Falle einer Betriebsfortführung zum Zwecke der Sanierung in Frage kommt, weil § 11 Nr. 5 LO bereits eine konkrete Konsequenz dafür vorsieht. Der Verband könnte hiervon aber Gebrauch machen, wenn der Verein liquidiert werden soll. Dies gilt vor allem für die Phase zwischen der Lizenzerteilung und dem Saisonbeginn. Das Interesse der Gläubiger muss dann hinter dem Interesse des Verbandes an der Ausrichtung eines ausgeglichenen, sportlichen Wettkampfs zurückstehen. Auch § 10 Nr. 2 lit. a LO verstößt damit nicht gegen § 242 BGB. 2.2.2 Automatischer Entzug der Lizenz mit Verfahrenseröffnung 101 Sofern Verbandsregelungen das automatische Erlöschen vorsehen, verstoßen diese gegen §§ 138, 242 BGB und sind somit rechtwidrig.155) ___________ 155) Korff, ZInsO 2013, 1277 – 1284; Walker, KTS 2003, 169, 171; Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf Proficlubs, S. 61; Pfister, SpuRt 2002, 103, 104; a. A. Haas, NZI 2003, 177, 179.
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Sinn und Zweck der vorgenannten Klausel ist es, die am Sportbetrieb teilnehmenden Vereine, 102 die zwar nicht das organisatorische, wohl aber das finanzielle Risiko des Spiel- und Wettkampfbetriebes tragen, davor zu schützen, dass ein Verein infolge der Insolvenz seinen Pflichten aus der gemeinsamen Zweckverfolgung nicht mehr nachkommen kann.156) In Entsprechung des § 1 InsO ist vorgesehen und wird auch umgesetzt, dass insolvente 103 Unternehmen nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens am Wirtschaftsleben teilnehmen. Dadurch, dass der insolvente Club als erster Absteiger feststeht, wird den Spielern des Clubs ab Insolvenzeröffnung bis Saisonende auch jeder sportliche Reiz genommen. Es fehlt auch jeglicher Anreiz für die Zuschauer des gegnerischen Clubs. Die Regelung führt mithin zu keinerlei Verbesserung der finanziellen Situation des Clubs, die gegen den Club sportlich wertlose Spiele bestreiten müssten. Darüber hinaus steht mit dem wirtschaftlichen Lizenzprüfungsverfahren dem DFB ein 104 ebenso geeignetes Mittel zur Überprüfung und Sicherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Einzelfall zur Verfügung. Ergibt sich bei Anwendungen der Lizensierungsregeln i. R. der Wirtschaftlichkeitsprüfung, dass der insolvente Club oder durch Insolvenzplan sanierte Club die Kriterien in wirtschaftlicher Hinsicht nicht erfüllt, so ergibt sich für den prüfenden Verband die Möglichkeit der Verweigerung der Lizenzvergabe. Es bedarf also keiner weiteren satzungsrechtlichen Abstiegsklausel.157) 2.2.3 Wegfall der Leistungsfähigkeit und Insolvenz eines Vereins in der dritten Liga und Amateurligen Für den Bereich der dritten Liga und der Amateurligen ist § 6 SpO die zentrale Insolvenz- 105 regelung. Als DFB-Satzung gilt § 6 SpO unmittelbar für die vom DFB selbst betriebene dritte Liga. Da auch die Regionalverbände ihre Satzungen an den Regelungen des DFB ausrichten müssen, gilt § 6 SpO mittelbar auch für die Mitgliedsverbände und deren Ligen.158) Ausgenommen sind nur die Lizenzligen, § 6 Nr. 5 SpO. § 6 Nr. 1 SpO sieht einen Zwangsabstieg der klassenhöchsten Herrenmannschaft zum Sai- 106 sonende vor, wenn über einen Verein das Insolvenzverfahren eröffnet oder dies mangels Masse abgelehnt wurde. Nach § 6 Nr. 2 SpO werden die ausgetragenen oder noch auszutragenden Spiele dieser Mannschaft nicht gewertet. Dies gelte nur dann nicht, wenn die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach dem letzten Spieltag, aber vor dem 30.6., stattgefunden habe. Gemäß § 6 Nr. 3 SpO kann ein Mitgliedsverband abweichende Regelungen schaffen, wenn ein Verein vor oder während der Saison aus dem Spielbetrieb ausscheidet. Dabei ist davon auszugehen, dass sich § 6 Nr. 3 SpO nur auf § 6 Nr. 2 SpO bezieht, § 6 Nr. 1 SpO aber unberührt lässt. Aus der Systematik des § 6 Nr. 1 i. V. m. Nr. 2 der Spielordnung des DFB kann der Schluss 107 gezogen werden, dass auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur dann der Zwangsabstieg der klassenhöchsten Mannschaft folgt, sofern die Entscheidung über die Insolvenzeröffnung oder deren Ablehnung mangels Masse vor dem letzten Spieltag getroffen wurde. Mit Verfahrenseröffnung nach dem letzten Spieltag könnten somit – z. B. durch Durchführung eines Insolvenzplanes vor Beginn der folgenden Saison – die Voraussetzungen geschaffen werden, das Lizenzprüfungsverfahren für die nachfolgende Spielzeit erfolgreich zu durchlaufen und die entsprechende Lizenz auch zu erhalten.
___________ 156) Walker, KTS 2003, 169, 171. 157) Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf Proficlubs, S. 61. 158) Walker, KTS 2003, 169, 171.
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108 Vertritt man die Auffassung, dass der Zwangsabstieg auch dann erfolgt, wenn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder die Ablehnung mangels Masse im Laufe des Spieljahres erfolgt, unabhängig ob vor oder nach dem letzten Spieltag, so kommt § 6 Nr. 1 der Spielordnung des DFB in seiner Wirkung einem Lizenzentzug für die dritte Bundesliga für das nachfolgende Spieljahr gleich, wenn die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung der jeweils begehrten Lizenz (z. B. sportlicher Erhalt der dritten Bundesliga, sonstige wirtschaftlichen Voraussetzungen) gegeben sind. 109 § 6 SpO verstößt dann in jedem Falle gegen § 242 BGB. Insbesondere handelt es sich bei § 6 SpO nicht um eine bloße Spielregel, die der Kontrolle durch staatliches Recht entzogen ist.159) Denn die Insolvenz und damit die wirtschaftliche Situation des Vereins sind Faktoren, die außerhalb des Sports liegen. An einem automatischen Zwangsabstieg, ohne dass eine Berücksichtigung des Einzelfalls möglich wäre, hat der Verband kein Interesse. Zwar soll auch hier der insolvente Verein für seine schlechte Wirtschaftsführung bestraft werden. Es ist aber nicht ersichtlich, warum dies nur durch einen Zwangsabstieg geschehen soll. Vor allem läuft dies auch dem eigenen Interesse der Verbände an einem geordneten, sportlichen Wettbewerb entgegen, wenn ein insolventer Verein unabhängig von seinem sportlichen Abschneiden am Saisonende absteigen müsste und dessen Spiele nicht gewertet würden. Mildere Mittel wie z. B. einen Punktabzug sieht § 6 SpO grundsätzlich nicht vor. Eine Strafe für unsolides Wirtschaften, die der Zwangsabstieg darstellt, ist darüber hinaus nur gerechtfertigt, wenn dem insolventen Verein ein Verschulden zur Last gelegt werden kann und die Insolvenz nicht durch äußere, vom Verein nicht zu beeinflussende Umstände hervorgerufen wurde. § 6 SpO eröffnet dem Verband aber keine Möglichkeit, solche Gegebenheiten in die Entscheidung einzubeziehen. 110 Auf der anderen Seite wird dem Insolvenzverwalter die Betriebsfortführung erheblich erschwert.160) Die Sanierungschancen werden durch den Zwangsabstieg stark beeinträchtigt.161) Dies läuft auch der mit dem ESUG verfolgten gesetzgeberischen Intention zuwider, die Sanierungschancen für ein Unternehmen zu erleichtern.162) 111 Mit dem automatischen Verlust der Ligazugehörigkeit wird den Gläubigern nicht nur eine aussichtsreiche Option zur Befriedigung der Insolvenzforderungen genommen. Die Sanierung ist auch einer erheblichen Unwägbarkeit ausgesetzt. Sponsoren- und Spielerverträge sind nämlich häufig an den Verbleib in der Liga geknüpft. Bei einem Abstieg müssten also in vielen Fällen erst neue Sponsoren gewonnen und neue Spieler unter Vertrag genommen werden. Kann dies nicht kurzfristig bewerkstelligt werden, wirkt sich dies negativ auf die Prognose aus, ob eine Betriebsfortführung überhaupt erstrebenswert ist. Insbesondere müssen nun die Schulden, die sich durch die Teilnahme an einer höheren Spielklasse angehäuft haben, mit Mitteln der niedrigeren Klasse zurückgezahlt werden. Der Zwangsabstieg beeinträchtigt damit massiv die Interessen der Vereine und der Gläubiger. Die Wahlmöglichkeit nach § 1 Satz 1 InsO wird faktisch eingeschränkt. 112 Auf der Gegenseite kann auch kein berechtigtes Interesse des DFB, an dieser Klausel festzuhalten, bestehen. Steht mit Antragstellung für einen vorläufigen Insolvenzverwalter oder eine vorläufige Eigenverwaltung bereits während der Spielzeit fest, dass mit Verfahrenseröffnung unabhängig der sportlichen Leistungen der Zwangsabstieg erfolgen wird, dürfte für den vorläufigen Insolvenzverwalter auch kein wirtschaftliches Interesse bestehen, den Spielbetrieb mit der bestehenden Kostenstruktur bis zum Ende der Spielzeit aufrechtzu___________ 159) 160) 161) 162)
A. A. Walker, KTS 2003, 169, 182; Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf Proficlubs, S. 55. Pfister/Summerer in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Sportrecht, S. 150. A. A. Adolphsen, KTS 2005, 53, 72. Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 18 f.
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erhalten, nur um den verbleibenden Teilnehmern die Punktebewertung zu ermöglichen. Er wird vielmehr erwägen, schnellstmöglich die Verfahrenseröffnung zu betreiben, um sodann mit den Privilegien des Insolvenzverfahren, insbesondere der verkürzten Kündigungsfristen gemäß §§ 113 ff. InsO und der Wahl des Eintritts in bestehende Verträge, das Unternehmen zu restrukturieren und mittels Insolvenzplan in der nächsten Spielklasse zu sanieren. Durch die Nichtwertung der bereits ausgetragenen Spiele wird der vom Verband verfolgte Zweck, nämlich der Schutz des fairen sportlichen Wettkampfs, nicht erreicht. § 6 SpO ist nach § 242 BGB unwirksam. Dieser Rechtsauffassung ist der DFB nunmehr gefolgt und hat mit Wirkung zum 1.7.2015 § 6 Nr. 6 SpO eingeführt, wonach für die Vereine und Kapitalgesellschaften der 3. Liga, Frauen-Bundesliga, 2. Frauen-Bundesliga oder der Regionalliga statt des Zwangsabstieges ein Punktabzug i. H. von neun bzw. sechs Punkten für die Frauenbundesliga erfolgt. Für den Bereich der dritten Liga kommt darüber hinaus ein Entzug der Zulassung in Frage, 113 wenn die Voraussetzungen für deren Erteilung nachträglich weggefallen sind, § 3 Nr. 2 Statut-3. Liga. Hierzu zählt nach § 6 Nr. 3 Statut-3. Liga auch der Nachweis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wie bei § 10 Nr. 2 lit. a LO handelt es sich auch hier um eine Ermessensvorschrift. Es sind durchaus Situationen denkbar, in denen ein Entzug der Zulassung durch den Verband rechtmäßig ist. Dies ist bspw. anzunehmen, wenn der Verein noch vor Saisonbeginn in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und eine Liquidation bereits abzusehen ist. Soll der Betrieb jedoch zum Zwecke der Sanierung fortgesetzt werden, wäre ein Zulassungsentzug treuwidrig. Nach § 3 Nr. 4 Statut-3. Liga schiede der Verein nämlich am Ende der Saison aus dem Ligabetrieb aus, müsste also auch absteigen. Auch dies wäre eine Benachteiligung der Gläubiger, die nicht durch ein berechtigtes Interesse des DFB gedeckt wäre. Vor allem steht dem Verband ein milderes Mittel zur Verfügung. Nach § 3 Nr. 3 Statut-3. Liga können dem insolventen Verein anstatt eines Zulassungsentzuges nachträglich Auflagen erteilt werden. Auf diese Weise kann der Verband berechtigte Interessen zum Schutze des sportlichen Wettbewerbs festlegen, ohne dass den Gläubigern eine Betriebsfortführung versperrt würde. § 3 Nr. 2 Statut-3. Liga verstößt nicht gegen § 242 BGB. Eine konkrete Entscheidung eines Zulassungsentzuges kann aber mit diesem Einwand angegriffen werden. Die Verbände halten nach wie vor an solchen Zwangsabstiegsklauseln fest. Für die Be- 114 triebsfortführung bedeutet dies bis zur Klärung der Rechtslage, dass die zuständigen Verbände voraussichtlich unter Berufung auf die Zwangsabstiegsklausel eine beantragte Zulassung bzw. Lizenz verweigern werden und diese im Rechtswege geltend gemacht werden müsste, was mit einem erheblichen Zeitverlust verbunden wäre. Da Sponsoren- und Spielerverträge häufig an den Verbleib in der Liga geknüpft sind, dürfte dies die Sanierungsmöglichkeiten erheblich erschweren. In Fällen, in denen für den Mutterverein eine Kapitalgesellschaft am Spielbetrieb zugelassen ist besteht zur Vermeidung des Zwangsabstieges lediglich die Möglichkeit, dass Mutterverein und Tochtergesellschaft die Berechtigung zur Beantragung einer Zulassung für die folgende Spielzeit einvernehmlich auf den Mutterverein zurückübertragen können, wenn die Tochtergesellschaft für diese Spielzeit sportlich qualifiziert ist und der DFB-Spielausschuss zustimmt, § 10 Nr. 4 Statut-3. Liga Voraussetzung hierfür ist selbstverständlich, dass der Mutterverein sodann die weiteren Voraussetzungen zur Erteilung der begehrten Lizenz erfüllt. 2.2.4 Regelungen zum Erlöschen von Lizenzen bzw. Zulassungen Neben Klauseln, die einen Entzug der Lizenz bzw. der Zulassung vorsehen, existieren solche, 115 die unter bestimmten Umständen ein Erlöschen anordnen. Die Lizenz bzw. Zulassung ginge damit ohne eine weitere Anordnung unter. Für die Lizenzligen stellt § 10 Nr. 1 lit. c
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LO und für die dritte Liga § 10 Nr. 3 Statut-3. Liga eine solche Regelung dar. Beide Klauseln sehen ein Erlöschen der Lizenz bzw. Zulassung der Kapitalgesellschaft vor, wenn sich der Mutterverein auflöst oder seine Rechtsfähigkeit verliert. 116 Umstritten ist, ob mit dem Begriff „Auflösung“ eine tatsächliche oder bloß eine rechtliche i. S. des § 42 Abs. 1 Satz 1 BGB für den Verein bzw. § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG für die Kapitalgesellschaft, gemeint ist. Danach löst sich ein Verein bzw. die Kapitalgesellschaft auf, wenn über sein Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wird. Sofern vertreten wird, dass unter § 10 Nr. 1 lit. c LO und für die dritte Liga § 10 Nr. 3 Statut-3. Liga nur die endgültige Beendigung und nicht rechtliche Auflösung erfasst wird, bleiben die Institutionen des Vereins auch nach der Auflösung i. S. des § 42 Abs. 1 Satz 1 BGB erhalten und dieser kann als rechtsfähiger oder nicht rechtsfähiger Verein fortgesetzt werden.163) Folgte man dieser Auffassung nicht, würde es sich bei den vorgenannten Regelungen um verkappte Insolvenzklauseln handeln, weil dann mit der Insolvenzeröffnung automatisch auch die Lizenz erlöschen würde. Die Klauseln verstießen dann gegen § 242 BGB.164) 2.3
Anwendbarkeit und Vorrang der §§ 1, 103, 119 InsO
117 Nach § 119 sind Vereinbarungen unwirksam, durch die im Voraus die Anwendung der §§ 103 bis 118 InsO ausgeschlossen oder beschränkt wird. Sowohl für den Bereich der ersten und zweiten Bundesliga als auch für den der dritten Liga wird die Teilnahme durch den Abschluss eines Vertrages des jeweiligen Fußballclubs mit dem Verband bewirkt. Für die dritte Liga wird dieser Vertrag als Zulassungsvertrag und für die Lizenzligen als Lizenzvertrag bezeichnet. 118 Vor allem die Klauseln § 10 Nr. 1 lit. c LO, § 10 Nr. 2 lit. a LO und § 3 Nr. 2, § 10 Nr. 3 Statut-3. Liga, die ein Erlöschen bzw. einen Entzug der Lizenz vorsehen, schränken § 103 InsO ein. Die h. M. in Literatur und Rechtsprechung geht zunächst davon aus, dass Gesellschaftsverträge nicht in den Anwendungsbereich des § 119 InsO fallen.165) Danach dienen vereinsrechtliche Mitgliedschaftspflichten zwar der Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes, stehen jedoch nicht in einem synallagmatischen Austauschverhältnis.166) Die Bestimmungen der Verbände enthielten zwar Verpflichtungsregelungen der Vereine, sie seien jedoch nicht als Gegenleistung i. S. des § 320 BGB zu qualifizieren.167) Die Verpflichtungen dienten ausnahmslos dem ordnungsgemäßen Betrieb der Lizenzligen. Die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Spielbetriebs sei aber in beiderseitigem Interesse,168) denn der Lizenznehmer wolle an einem Wettbewerb teilnehmen, der gerade aufgrund seines ausgeglichenen sportlichen Wettkampfs attraktiv ist. Die zu erbringende Leistung diene auf diese Weise der Förderung eines gemeinsamen Zwecks und nähere sich damit dem Gesellschaftsvertrag an.169) Dieser sei jedoch gerade aus dem Anwendungsbereich des § 103 InsO ausgenommen.170) Die Verpflichtungen, die ein Fußballverein mit dem Lizenzerwerb eingeht, stellen danach also keine Gegenleistungen i. S. des § 320 BGB dar, sondern erweiterte Auf- bzw. Teilnahme___________ 163) 164) 165) 166) 167)
Grüneberg-Ellenberger, BGB, § 42 Rz. 2, 3. König/de Vries, SpuRt 2006, 96, 98. LG Köln, Urt. v. 26.2.2003 – 91 O 116/02, SpuRt 2003, 162. Walker, KTS 2003, 169, 176. OLG Köln, Urt. v. 8.1.2004 – 18 U 59/03, SpuRt 2004, 110, 112; Walker, KTS 2003, 169, 176; Haas, NZI 2003, 177, 179; König/de Vries, SpuRt 2006, 96, 98. 168) Walker, KTS 2003, 169, 176. 169) Haas, NZI 2003, 177, 179; Walker, KTS 2003, 169, 176; OLG Köln, Urt. v. 8.1.2004 – 18 U 59/03, SpuRt 2004, 110, 112. 170) Marotzke in: HK-InsO, § 103 Rz. 21; Braun-Kroth, InsO § 103 Rz. 16; Huber in: MünchKomm-InsO, § 103 Rz. 114.
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§ 39
Betriebsfortführung in Sonderfällen
bedingungen.171) Entsprechendes gelte für den Zulassungsvertrag i. R. des Spielbetriebs der dritten Liga. § 103 InsO findet danach keine Anwendung. Nach neuer Ansicht wird unterschieden zwischen der Anwendung der §§ 103 ff. InsO 119 auf den Gesellschaftsvertrag selbst und der Anwendung der §§ 103 ff. InsO auf das aus dem Gesellschaftsverhältnis hergeleitete Teilnahmerecht. Danach sind die §§ 103 ff. InsO zumindest auf das Teilnahmerecht anwendbar.172) Das Hauptinteresse der Verbandsmitglieder ist jedoch nicht auf die Mitgliedschaft im 120 Verband gerichtet, sondern auf die Möglichkeit der Teilnahme am Liga-Betrieb. Hierfür schließen die Parteien einen Lizenzvertrag ab und werden zusätzlich Mitglied im Verband. Insofern ist der Auffassung zu folgen, dass Gesellschaftsvertag und Lizenzvertrag eine Einheit bilden, die die Anwendung des § 119 InsO allein auf den Gesellschafts- oder den Lizenzvertrag als nicht dem Willen der Vertragspartner des gesamten Regelwerkes Rechnung tragend ausgeschlossen erscheinen ließe.173) Um dem Willen der Parteien daher gerecht zu werden und zu einem einheitlichen Ergebnis zu kommen, sind Satzungsklauseln und Bestimmungen im Lizenzvertrag als Einheit anzusehen, die den Bestimmungen der §§ 103 ff. InsO unterliegen.174) Die Regelungen der einzelnen Lizenzverträge sowie die korporativen Regelungen sind somit, 121 auch hinsichtlich der bisherigen Ausführungen, einheitlich zu beurteilen. Folgt man der Auffassung, dass eine Anwendbarkeit der §§ 103 ff. InsO gegeben ist, ist 122 umstritten, ob gemäß § 119 InsO Lösungsklauseln generell rechtmäßig sind. In Literatur und Rechtsprechung wird diesbezüglich vertreten, Lösungsklauseln für den Fall der Insolvenzeröffnung bei gegenseitigen Vertragsverhältnissen i. S. der §§ 103 ff. InsO, §§ 320 ff. BGB grundsätzlich als rechtmäßig anzusehen.175) Die Gegenauffassung sieht schon aufgrund des Wortlautes des § 119 InsO Lösungsklauseln grundsätzlich als unwirksam an.176) Der BGH dürfte diesem Rechtsstreit ein Ende gesetzt haben, nachdem er für vertragliche AGB festgestellt hat, dass der Anwendbarkeit des § 119 InsO nicht entgegen steht, dass die streitgegenständliche Klausel die Vertragsauflösung bereits für den Fall eines Eigenantrags oder eines zulässigen Gläubigerantrags vorsieht.177) Soll die Vorschrift des § 119 InsO in der Praxis nicht leer laufen, so müsse ihr eine Vorwirkung jedenfalls ab dem Zeitpunkt zuerkannt werden, in dem wegen eines zulässigen Insolvenzantrags mit der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ernsthaft zu rechnen ist.178) Im Übrigen unterliegen die Lösungsklauseln § 112 InsO, wonach Kündigungen und damit 123 auch Lösungsklauseln grundsätzlich unwirksam sind.179) Der Wortlaut des § 112 InsO beschränkt sich zwar auf Miet- und Pachtverhältnisse, aufgrund der Vergleichbarkeit mit Lizenzverträgen ist aber von einer entsprechenden Anwendung auszugehen, da wesentliches Merkmal von Lizenzverträgen die Überlassung eines Nutzungsrechts auf Zeit ist.180) ___________ 171) König/de Vries, SpuRt 2006, 96, 98. 172) Adolphsen in: Heermann, Lizenzentzug, S. 65, 74. 173) LG Köln, Urt. v. 26.2.2003 – 91 O 116/02, SpuRt 2003, 162; OLG Köln, Urt. v. 8.1.2004 – 18 U 59/03, SpuRt 2004, 110, 112. 174) Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf Proficlubs, S. 71. 175) OLG Karlsruhe, Urt. v. 30.3.2000 – 19 U 232/98, ZInsO 2001, 714. 176) Marotzke in: HK InsO, § 119 Rz. 2. 177) BGH, Urt. v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, ZIP 2013, 274, 276. 178) BGH, Urt. v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, ZIP 2013, 274, 276. 179) Adolphsen in: Heermann, Lizenzentzug, S. 65, 74; a. A. OLG Köln, Urt. v. 8.1.2004 – 18 U 59/03, SpuRt 2004, 110, 112. 180) Adolphsen in: Heermann, Lizenzentzug, S. 65, 74.
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§ 39
Teil V Einzelfragen
124 Schließlich kann eine Unwirksamkeit der Klauseln wegen unbilligen Eingriffs in die Gläubigerinteressen (§ 134 BGB) unterstellt werden. Die InsO stellt grundsätzlich über ihre allgemeine Wirkung hinaus ein Verbotsgesetz i. S. von § 134 BGB dar.181) 125 Nach § 1 InsO ist das Ziel eines Insolvenzverfahrens die gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger durch bestmögliche Verwertung des Schuldnervermögens oder durch Sanierung des Unternehmens. Ferner wurde mit Einführung der InsO faktisch eine Pflicht des Insolvenzverwalters zur Fortführung eines Unternehmens bis zum Berichtstermin geschaffen. Der Spielbetrieb eines Profisportclubs stellt ein Unternehmen gemäß § 157 InsO dar. Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung ist die verfassungsrechtlich geschützte Gläubigerautonomie nicht durch Insolvenzklauseln wie die vorgenannte tangiert. Der Lizenzentzug oder der Zwangsabstieg wirke sich nicht auf den Ablauf des Insolvenzverfahrens aus, sondern wirke lediglich auf die Chancen ein, die das insolvente Unternehmen im Falle seiner Fortführung auf dem Markt habe.182) 126 Der Verlust der Lizenz bzw. der Verlust der Lizenz nach Zwangsabstieg hat aber nicht nur Auswirkungen auf die Chancen des insolventen Clubs auf dem Markt, sondern auch die gesamte Verfahrensabwicklung des Insolvenzverfahrens und vor allem die zu erwartende Quote für ungesicherte Gläubiger i. S. des § 38 InsO. Im Übrigen führt ein Lizenzentzug, wie dargelegt dazu, dass eine Sanierung mittels Insolvenzplan unmöglich bzw. bei Zwangsabstieg zumindest erschwert würde. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den in § 1 InsO genannten Zielen der InsO.183) Dieses Ergebnis wird auch durch Art. 71 EGInsO gestützt, aufgrund dessen Regelungsgehaltes u. a. § 12 GewO dahingehend geändert wurde, dass Vorschriften, welche die Untersagung eines Gewerbes oder die Rücknahme oder den Widerruf einer Zulassung wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden, die auf ungeordnete Vermögensverhältnisse zurückzuführen ist, ermöglichen, während eines Insolvenzverfahrens keine Anwendung in Bezug auf das Gewerbe finden. 3.
Besonderheiten in der Kommunikation
127 Keine Sportart hat eine Popularität wie der Fußball, umso mehr stehen Profifußballvereine, wie auch andere Profisportvereine im Fokus der Öffentlichkeit. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird durch Krise und Insolvenz noch verstärkt. Löst diese Krise eine negative Medienberichterstattung aus, kann der Sportverein an Image, Vertrauen und Glaubwürdigkeit verlieren. Geschieht dies, sind auch unmittelbar wirtschaftliche Faktoren betroffen. Die Anbahnung neuer Sponsorenverträge wird erschwert, bestehende Verträge möglicherweise gekündigt. Der Vertrieb von Fanartikeln kann leiden. Ein Schaden, der nachhaltig die Betriebsfortführung beeinträchtigen kann, entsteht somit nicht nur durch Krise und Insolvenz selbst, sondern auch durch ihre Darstellung in der Öffentlichkeit.184) 128 Ein für eine Betriebsfortführung entscheidender Faktor ist daher die positive Begleitung des Insolvenzverfahrens durch die Medien. Hierzu gehört es, die wichtigen Zielgruppen schnellstmöglich, präzise und ausführlich über den jeweiligen Entwicklungsstand der Lage des Vereins aufzuklären. Um Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten zu vermeiden, empfiehlt sich die Bestimmung eines Presseverantwortlichen (siehe dazu und insgesamt Voskuhl, § 19). ___________ 181) Walker, KTS 2003, 169, 177. 182) Walker, KTS 2003, 169, 177. 183) Leichtle, Auswirkungen der Insolvenz auf Proficlubs, S. 77; Adolphsen in: Heermann, Lizenzentzug, S. 65, 74; a. A. Walker, KTS 2003, 169, 177, wonach sich der Zwangsabstieg nicht auf den Ablauf des Insolvenzverfahrens auswirke, sondern lediglich auf die Chancen, die das insolvente Unternehmen im Falle seiner Fortführung auf dem Markt habe. 184) Akhamal/Jantos/Panthel/Simon, InsbürO 2009, 406, 407.
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§ 39
Betriebsfortführung in Sonderfällen
Die wichtigsten Zielgruppen eines Sportvereins sind Fans, Sponsoren und Spieler. Aufgrund 129 der Insolvenz ist es notwendig, die Verunsicherung der Fans zu reduzieren und Maßnahmen vorzunehmen, damit die Fans nicht die Freude am Spiel verlieren. Hierzu gehören Maßnahmen wie z. B. Solidaritätskampagnen, Fan-Talks, aber auch wirtschaftliche relevante Maßnahmen, wie vorhandene Dauerkarten nicht für ungültig zu erklären und ihre Inhaber auf die Insolvenztabelle zu verweisen.185) Zum Erhalt der Motivation der Spieler als weitere Zielgruppe erweisen sich regelmäßige Gespräche zwischen Trainer und Spieler, sowie zwischen Geschäftsführung und Spieler als zielführend, nicht jedoch unnötiger Leistungsdruck. Auch bei den Sponsoren als weitere Zielgruppe sollte ein frühzeitiger, uneingeschränkter und offener Informationsaustausch stattfinden, verbunden mit der Zusicherung eines vorrangigen Informationsrechtes von Vereinsseite, um durch möglichst transparente Kommunikation das Vertrauen wieder herzustellen bzw. zu erhalten.186) V.
Zusammenfassung
Sowohl die Insolvenz eines Freiberuflers als auch die eines Bundesligafußballvereins werfen 130 spezifische Probleme auf. In beiden Fällen verspricht eine Betriebsfortführung den Gläubigern oftmals eine höhere Tilgung ihrer Forderungen. Doch gerade bei insolventen Freiberuflern und Profifußballvereinen bestehen Hindernisse, denen nicht mit wirtschaftswissenschaftlichen Mitteln begegnet werden kann. Die InsO steht hier in besonderer Weise im Spannungsverhältnis zu den Interessen Dritter bzw. der Öffentlichkeit, die durch Verbandssatzungen oder Berufsrechte zum Ausdruck kommen. Keiner Rechtsmaterie kann dabei ein prinzipieller Vorrang eingeräumt werden. Es muss daher im Einzelfall ein gerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gefunden werden, der nach Möglichkeit allen Belangen zu einer weitgehenden Verwirklichung verhelfen soll. Schützen also die Berufsrechte die Öffentlichkeit vor den Gefahren eines zahlungsunfähigen Freiberuflers, hat eine Betriebsfortführung nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie Instrumente bereithält, die geeignet sind, eine vollständige Sanierung des Schuldners herbeizuführen, wie z. B. die durch das ESUG gestärkte Eigenverwaltung mit dem Ziel der Verfahrensabwicklung durch ein Insolvenzplanverfahren. Gleichzeitig dürfen im Interesse der Gläubiger keine derart überspannten Anforderungen an einen Ausschluss der Gefahr gestellt werden, dass eine Betriebsfortführung quasi niemals in Betracht kommt. Für die Entscheidung zu einer Fortführung im Falle eines insolventen Freiberuflers sind 131 darüber hinaus die Person des Schuldners und seine Bereitschaft, mit den Gläubigern zu kooperieren, entscheidend. Im Profifußball steht einer uneingeschränkten Betriebsfortführung ein ausdifferenziertes 132 Sanktionensystem der den Profisport organisierenden Verbände entgegen, das, soweit es sich um Lösungsklauseln oder die Anordnung des Zwangsabstieges, handelt, im Widerspruch zur InsO befindet und ihr gegenüber keinen Vorrang genießt. Bis zur abschließenden Klärung der hier aufgeworfenen Rechtsfragen, wird eine Fortführung von Profisportvereinen mit dem Ziel der Sanierung entweder nur dann möglich sein, wenn trotz Hinnahme der Sanktionen eine Sanierung möglich ist oder eine Einigung mit den Verbänden im Einzelfall erfolgt bzw. die Verbände ihre Vorschriften angepasst haben.
___________ 185) Akhamal/Jantos/Panthel/Simon, InsbürO 2009, 406, 411. 186) Akhamal/Jantos/Panthel/Simon, InsbürO 2009, 406, 407.
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§ 40 Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich Bauch
Übersicht I. Einleitung .................................................... 1 II. Besonderheiten im Verhältnis Automobilhersteller – Zulieferer.............. 8 1. Allgemeines .................................................. 8 2. Besonderheiten im Insolvenzverfahren .... 13 III. Einzelne Maßnahmen............................... 19 1. Sofortmaßnahmen...................................... 20 1.1 Kommunikation ............................ 21 1.2 Vormaterialbelieferung ................. 24 1.3 Umstellung der Zahlungsbedingungen, Vorauszahlungen.... 26 1.4 Bildung eines (vorläufigen) Gläubigerausschusses .................... 31 2. Fortführungsvereinbarung ........................ 35 2.1 Allgemeines – Betriebsfortführung und Nichterfüllungswahl...... 38 2.1.1 Insolvenzantragsverfahren ............ 38 2.1.2 Eröffnetes Verfahren..................... 40 2.1.3 Fortführungsvereinbarung als Alternative ................................ 47 2.2 Form............................................... 48 2.3 Zeitpunkt des Abschlusses ........... 51
I.
2.4 2.5 2.5.1 2.5.2
Zustimmungsvorbehalt ................. 52 Einzelne Regelungen ..................... 53 Neue Lieferverpflichtung.............. 54 Abnahme- und Zahlungsverpflichtung.................................. 56 2.5.3 Preise .............................................. 58 2.5.4 Verlustausgleich............................. 61 2.5.5 Vorschusszahlungen auf Lieferungen und Leistungen... 66 2.5.6 Gewährleistung und Leistungsstörung ........................................... 67 2.5.7 Versicherung und Haftungsbegrenzung..................................... 69 2.5.8 Vertragsdauer und Kündigung...... 71 2.5.9 Ausproduktion .............................. 74 2.5.10 2.5.10 Restrukturierungsmaßnahmen.................................... 76 2.5.11 2.5.11 M&A-Prozess..................... 79 2.5.12 2.5.12 Endabrechnung................... 82 3. M&A-Prozess – sog. Tradeagreement...... 84 IV. Fazit ............................................................ 89
Einleitung
Die deutsche Automobilindustrie ist mit rund 833 000 Beschäftigten in Deutschland und 1 einem Jahresumsatz von über 435 Mrd. €1) auch trotz Corona-Krise der größte deutsche Industriezweig. Auf die Zulieferindustrie entfallen dabei rund dabei etwa die Hälfte der Mitarbeiter bei einem Umsatz von über 79 Mrd. €. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige der größten und bekanntesten Insolvenz- 2 verfahren der vergangenen Jahre Unternehmen der Zulieferbranche aus dem Automotivebereich betreffen. Es handelt sich um meist umsatzstarke Unternehmen mit einer großen Anzahl von Arbeitnehmern und oft bekannten, klangvollen Namen. Nachfolgend einige Beispiele: Unternehmen/Gruppe
Jahr
Umsatz (in Euro)
Mitarbeiter
Land
Edscha
2009
1 080 Mio.
6 500
D
Neumayer Tekfor
2012
500 Mio.
3 300
D
Scherer & Trier
2014
270 Mio.
2 359
D
Meteor Gummiwerke
2012
221 Mio.
2 300
D
Whitesell Germany
2015
195 Mio.
1 200
D
DGH Group Heidenau
2012
120 Mio.
1 000
D
Quelle: Oliver Wyman, abrufbar unter www.oliverwyman.com
___________ 1) Quelle: Verband der Automobilindustrie, VDA Jahresbericht 2020, Zahlen 2019.
Bauch
1393
§ 40
Teil V Einzelfragen
3 Dies bleibt aufgrund der abflauenden Konjunktur, unterbrochener Lieferketten, Technologie-Umbruch, Schwierigkeiten bei der Refinanzierung und anderen Umständen auch die Erwartung für die nächsten Jahre. 4 Abb. 1: Prognose zum Anteil insolvenzbedrohter kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland Branche
Prozent
Automobilzulieferer
23,3
Fahrzeugbau
15,1
Dienstleistungen
10,4
Automobilhersteller
9,7
Elektronik
9,0
Papier
8,6
Chemie
8,4
Verkehr
7,2
Durchschnitt
6,9
Quelle: Janson in: Statista, Automobilzulieferer besonders von Insolvenz bedroht, v. 26.10.2021, abrufbar unter https://de.statista.com/infografik/26058/prognose-zum-anteil-insolvenzbedrohter-kleiner-und-mittlerer-unternehmen/ (Abrufdatum: 3.3.2023).
5 Insolvenzen von Zulieferbetrieben von Automobilherstellern stellen bei der Betriebsfortführung eine besondere Herausforderung an den bestellten Insolvenzverwalter dar. Sie bedürfen besonderer Kenntnisse des Marktes und der Funktionsweise der sensiblen Lieferketten im Automotivebereich. Ein rasches und entschlossenes Handeln insbesondere in der Anfangsphase ist erforderlich, um die Produktion der Automobilhersteller (= Kunden) nicht zu gefährden. Neben der besonderen Beachtung in der Öffentlichkeit, können gerade Produktionsunterbrechungen beim Hersteller schnell erhebliche Schäden, die leicht im zweistelligen Millionenbereich liegen können, nach sich ziehen. 6 Ausdrücklich nicht Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen sind Insolvenzen und Betriebsfortführungen von insolventen Händlerbetrieben. Auch wenn es sich dabei durchaus um komplexe Verfahren handeln kann, so sind diese doch in der Regel mit den bekannten Instrumentarien einer Händlerinsolvenz aus anderen Branchen vergleichbar. 7 Mit dem „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)“,2) das am 1.3.2012 in Kraft getreten ist, sollte eine frühzeitige Sanierung von Unternehmen ermöglicht und die Spielräume für eine außergerichtliche Sanierung erhöht werden. Gleichzeitig soll der Weg durch die Insolvenz für den Insolvenzschuldner berechenbar werden. Mit der (vorläufigen) Eigenverwaltung und dem Schutzschirmverfahren (Verfahren zur Vorbereitung einer Sanierung) hat der Gesetzgeber Instrumente geschaffen, die auch bei einer Insolvenz im Bereich der Automobilzulieferindustrie gute Sanierungschancen bieten können. Bei den oben aufgeführten Großverfahren konnten diese Instrumente bisher aber noch nicht greifen. Insgesamt waren vier der zehn größten Insolvenzverfahren aus dem Jahr 2022 aus dem Automobilzulieferbereich, aber nur eines dieser vier Verfahren wurde in Eigenverwaltung geführt.3) ___________ 2) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 3) JUVE v. 28.12.2022, abrufbar unter https://www.juve.de/verfahren/das-waren-die-groessten-insolvenzen2022/ (Abrufdatum: 3.3.2023).
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Bauch
Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich § 40 II.
Besonderheiten im Verhältnis Automobilhersteller – Zulieferer
1.
Allgemeines
Das Verhältnis der Automobilhersteller zu den Zulieferern ist geprägt durch starke und 8 durch die technische Komplexität weiter zunehmende Abhängigkeiten. Es bestehen komplexe Lieferketten zwischen x
den OEMs (= Original Equipment Manufacturer = Erstausrüster;4) im Automotivebereich ist dies der Fahrzeughersteller) und
x
ihren Erstlieferanten (sog. TIER 1)5),
x
ihren Unter-Lieferanten (sog. TIER 2) und
x
Unter-Unter-Lieferanten (sog. TIER 3).
Häufig vorkommende Lieferprozesse sind just-in-time Lieferung (sog. JIT)6) und just-in- 9 sequence Lieferung (sog. JIS)7). Die teilweise extrem hohen technischen Anforderungen verstärken zudem die gegen- 10 seitigen Abhängigkeiten: Lieferanten unterliegen einer strengen Auswahl, vorgegeben durch sicherheitstechnische Freigabeprozesse, bevor sie überhaupt Lieferanten eines OEM werden können. Ein OEM kann daher nicht ohne weiteres und insbesondere nicht kurzfristig im Falle einer Insolvenz einen Lieferanten durch einen anderen ersetzen. Ebenso wenig kann sich ein Lieferant kurzfristig einen anderen Kunden (OEM) für die gleichen Produkte suchen, da diese in der Regel speziell jeweils für einen OEM entwickelt und nur für diesen einsetzbar sind. Die Entwicklungsdauern und -zyklen im Automotivebereich betragen mehrere Jahre und sind so speziell, dass ein kurzfristiger und einfacher Austausch – in beiden Richtungen – fast nicht möglich ist. Fällt ein Glied in der Kette aus – bspw. durch unvorhersehbare Naturereignisse wie das 11 Erdbeben von Fukushima – wird die gesamte Lieferkette empfindlich gestört oder gar ganz unterbrochen. Das Erdbeben an der Ostküste Japans im März 2011 hatte z. B. noch weit über ein Jahr Auswirkungen insbesondere auf die asiatische, aber auch auf die deutsche Automobilproduktion, obwohl nur wenige Direktlieferanten (TIER 1) deutscher OEM in Japan betroffen waren. Noch deutlicher ergeben sich die gegenseitigen Abhängigkeiten in einem globalisierten Markt im Zusammenhang mit der Corona Pandemie, dem UkraineKrieg und der allgemeinen wirtschaftlich angespannten Situation.8) Solche Störungen der Lieferkette mit Auswirkungen auf den OEM werden daher weiterhin 12 verstärkt Insolvenzverfahren auslösen und zwar auch solche nachrangiger Zulieferer auf Stufe TIER 2, TIER 3 oder auch darunter. Dies gilt nicht nur für Insolenzen von Zulieferbetrieben, sondern auch für solche von Logistikdienstleistern.
___________ 4) Kirchgeorg in: Gabler Wirtschaftslexikon, abrufbar unter http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/ original-equipment-manufacturer-oem.html (Abrufdatum: 3.3.2023). 5) Tier = engl. Rang; wird in Kombination mit einer Ziffer (Tier 1, Tier 2 bzw. Tier I, Tier II usw.) genutzt, um eine Menge in Vorrangige und Nachrangige zu teilen (wobei Tier 1 den Höchstpriorisierten beschreibt). 6) JIT = bedarfssynchrone Produktion; bezeichnet ein Organisationsprinzip, bei dem nur das Material in der Stückzahl und zu dem Zeitpunkt produziert und geliefert wird, wie es auch tatsächlich zur Erfüllung der Kundenaufträge benötigt wird. 7) JIS = reihenfolgesynchrone Produktion; bezeichnet ein Konzept bei dem der Zulieferer dafür sorgt, dass die benötigten Module rechtzeitig in der notwendigen Menge und Reihenfolge der benötigten Module angeliefert werden. 8) Bunde, IFO Branchen-Dialog 2020, abrufbar unter https://www.ifo.de/DocDL/sd-2021-01-bundebranchen-dialog-industrie.pdf (Abrufdatum: 3.3.2023).
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§ 40 2.
Teil V Einzelfragen Besonderheiten im Insolvenzverfahren
13 In einem Insolvenzverfahren eines Zulieferers in der Automotivebranche bestehen daher einige Besonderheiten für den Insolvenzverwalter, die aus der Besonderheit des Marktes und der Lieferbeziehung resultieren. 14 So haben viele Zulieferbetriebe oftmals nicht nur einen OEM als Kunden, sondern beliefern mehrere oder gar alle der namhaften OEM-Konzerne. Auch dies kann in der Insolvenz zu besonderen Herausforderungen führen, sind die Interessen unter den OEM in der Insolvenz ihres Zulieferers nicht immer gleichgelagert. Bei möglichen Kapazitätsengpässen besteht für jeden OEM der Druck, in erster Linie die eigene Versorgungslage bestmöglich zu sichern. Es können aber auch unterschiedliche Grade der Abhängigkeit verschiedener OEM vom gleichen Lieferanten bestehen: ist für einen OEM der Lieferant ein maßgeblicher TIER 1, kann ein anderer OEM bereits die Ausproduktion oder einen Lieferantenwechsel vorbereitet haben. Ist für den einen OEM dann die Fortführung des Geschäftsbetriebes also maßgeblich, kann ein anderer Kunde des gleichen Zulieferers nur ein untergeordnetes weiteres Interesse an einer Betriebsfortführung haben. Fällt dieser OEM in der Insolvenz dann als Kunde aus, fehlen natürlich dessen Deckungsbeiträge und müssen ggf. von den verbleibenden Kunden i. R. einer Fortführungsvereinbarung übernommen werden (siehe hierzu Rz. 35 ff.). 15 Hinzu kommen teilweise gegenläufige Interessen auch der übrigen beteiligten Stakeholder im Verfahren, die es zu managen gilt: die OEM als Kunden sind in der Regel auf eine sofortige Weiterführung des Geschäftsbetriebes des insolventen Zulieferers angewiesen, für finanzierende Banken muss eine Betriebsfortführung nicht immer zur bestmöglichen Befriedigung führen, die Arbeitnehmer sind häufig gewerkschaftlich organisiert und die Gesellschafter sind häufig Beteiligungsgesellschaften und nicht mehr Inhaber oder familiengeführt. Damit unterliegt auch der M&A-Prozess einigen Besonderheiten, die sich sowohl aus den starken Abhängigkeitsverhältnissen als auch aus den dargestellten unterschiedlichen Interessen ergeben. 16 Auch internationale Verflechtungen und Abhängigkeiten sind im Bereich entsprechend aufgestellter internationaler Zulieferkonzerne, die eine Produktionsstätte im – bspw. osteuropäischen – Ausland haben, häufiger anzutreffen als bei vergleichbaren Insolvenzverfahren aus anderen Branchen. Ein Insolvenzverwalter kann sich daher auch mit primär und sekundär Insolvenzverfahren und den Regelungen der EuInsVO konfrontiert sehen. 17 Die Anforderungen an den Insolvenzverwalter i. R. einer Betriebsfortführung eines Zulieferers sind daher sehr hoch. Er sieht sich nicht nur vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt, sondern auch einer hohen Erwartungshaltung der Kunden und übrigen Stakeholder, verbunden mit einem immensen wirtschaftlichen und zeitlichen Druck und dies in einem internationalen Umfeld. 18 Das wichtigste für die Kunden ist deren Versorgungssicherheit. Die Erwartung ist, dass deren Bänder nicht stillstehen und keine Produktionsausfälle entstehen. Dies alles erfordert von dem Insolvenzverwalter, der in einem Insolvenzverfahren eines Zulieferers der Automotivbranche bestellt wird, Erfahrung und ein schnelles, professionelles und entschlossenes Handeln. III.
Einzelne Maßnahmen
19 Im nachfolgenden sollen beispielhaft – und nicht abschließend – einzelne Maßnahmen, die während der Betriebsfortführung eines insolventen Zulieferers anfallen können, erörtert werden. Natürlich handelt es sich dabei überwiegend um Maßnahmen und Grundsätze, die Insolvenzverwalter auch bei der Betriebsfortführung insolventer Unternehmen aus
1396
Bauch
Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich § 40 anderen Branchen beherrschen müssen. Allerdings bestehen branchenbedingt und aus den oben genannten Gründen einige Besonderheiten. 1.
Sofortmaßnahmen
Die aus Kundensicht entscheidende Phase eines Insolvenzverfahrens ist die Phase des Eröff- 20 nungsverfahrens und dort bereits der Zeitpunkt unmittelbar nach Insolvenzantragstellung bzw. Bestellung zum vorläufigen Verwalter. Bereits hier kann sich der Erfolg bzw. das Scheitern eines Verwalters jedenfalls aus Kunden-/OEM-Sicht ergeben. Das gleiche gilt für das Schutzschirmverfahren. 1.1
Kommunikation
Die Kommunikation gehört grundsätzlich zu den wichtigsten Maßnahmen einer erfolg- 21 reichen Betriebsfortführung. Dies gilt in besonderem Maße bei der Insolenz eines Zulieferers und dort insbesondere gegenüber den Kunden. Aufgrund der oben beschriebenen Abhängigkeiten innerhalb der Lieferkette herrscht mit Antragstellung – auch wenn sich eine solche vorab schon abgezeichnet hat oder gar zuvor angekündigt wurde – eine große Nervosität auf der Kundenseite. Die Lieferkette darf nicht unterbrochen werden. Die Kunden sind daher extrem an einer schnellen Kontaktaufnahme durch den vorläufigen Insolvenzverwalter oder Sachwalter interessiert und suchen ihrerseits auch oft selbst sofort den Kontakt. Sie werden zudem jede erforderliche Information zur kurzfristigen Planung der weiteren 22 Produktion liefern. Die kurzfristige Produktionsplanung kann nur in ständiger gegenseitiger Abstimmung zwischen Insolvenzverwalter und allen betroffenen OEM erfolgen. Aber auch die Kommunikation und Koordination mit den Vormateriallieferanten ist ein wesentlicher Bestandteil zur Aufrechterhaltung der Lieferkette im Antragsverfahren. Der hierfür in der Anfangsphase notwendige Aufwand sollte nicht unterschätzt werden. 23 Es empfiehlt sich, sofort ein entsprechendes Team als Taskforce zu bilden und die Kontaktdaten an die jeweiligen Player weiterzugeben. Aufgrund der bei JIS- und JIT-Lieferungen prozessbedingten Kurzfristigkeit der Belieferung ist eine enge Abstimmung und in der Anfangsphase jederzeitige Erreichbarkeit notwendig und zu gewährleisten. Nur so kann auf sich abzeichnende Lieferengpässe gemeinsam mit den Kunden und den Vormateriallieferanten sofort reagiert und z. B. Sonderfahrten zur Belieferung organisiert werden. 1.2
Vormaterialbelieferung
In der Regel ging der Antragstellung eine Phase der Krise voraus, in der der Geschäfts- 24 betrieb des Zulieferers bereits „holprig“ lief und teils massiven Störungen ausgesetzt war. Das hat oft zur Folge, dass die Vormateriallieferungen von Unterlieferanten des insolventen Zulieferers mangels Bezahlung ausgeblieben sind, dass die Pipeline der notwendigen Vormaterialien nahezu leer ist. Vormateriallieferanten sind häufig nur noch gegen Vorkasse oder – ab Antragstellung – nach Übernahme einer Zahlungszusage durch den vorläufigen Insolvenzverwalter zur Weiterbelieferung bereit. Aufgrund der oben dargestellten Lieferströme und den bestehenden Abhängigkeiten kann 25 dies recht schnell dazu führen, dass der insolvente Zulieferer nicht mehr lieferfähig ist, weil ihm schlicht das Material für seine eigene Fertigung auszugehen droht. Als Sofortmaßnahmen sind daher erforderlich: x Sofortige Kontaktaufnahme zu den Vormateriallieferanten. x Sofortige Bestandsaufnahme der vorhandenen Vormaterialien. x Sicherstellung der weiteren Belieferung durch Übernahme von Zahlungszusagen gegenüber den Vormateriallieferanten. Bauch
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§ 40
Teil V Einzelfragen
x
Regelung hinsichtlich möglicher Aus- und Absonderungsrechte, z. B. bei vereinbartem (verlängertem) Eigentumsvorbehalt.
x
Gegebenenfalls Änderung der Zahlungsbedingungen gegenüber Lieferanten und Kunden.
1.3
Umstellung der Zahlungsbedingungen, Vorauszahlungen
26 Liquiditätssicherung auf der einen Seite und Aufrechterhaltung der Vormaterialbelieferung auf der anderen Seite, werden in der Regel eine Umstellung der Zahlungsbedingungen in beide Richtungen – die der (Unter-)Lieferanten und die der Kunden – erforderlich machen. 27 Die Unterlieferanten werden – wie oben dargestellt – häufig Vorauskasse fordern, um ihre Lieferungen aufrechtzuerhalten. 28 Mit den Kunden bestehen üblicherweise Vereinbarungen (über AGB), wonach Zahlungen einmal monatlich erfolgen oder Zahlungsziele von bis zu sechs oder mehr Wochen vereinbart sind. Dies dürfte i. R. des (vorläufigen) Insolvenzverfahrens/Schutzschirmverfahrens praktisch nicht länger umsetzbar sein, da die Liquidität zur Betriebsfortführung im laufenden Geschäftsbetrieb benötigt wird. Gegenüber den Kunden wird daher in der Regel die Umstellung auf Sofortzahlung erfolgen. Dies ist für die Kunden in der Insolvenzsituation, in der ein vorläufiger Insolvenzverwalter/Sachwalter für einen ordnungsgemäßen Geschäftsablauf sorgt, auch hinnehmbar. 29 Zur kurzfristigen Sicherstellung der Liquidität im Eröffnungsverfahren ist auch die Vereinbarung von Vorauszahlungen auf zu liefernde Teileumfänge möglich. Im Rahmen einer Vereinbarung muss aber sichergestellt werden, dass die Vorauszahlungen sofort mit den Lieferungen verrechnet werden können um sicherzustellen, dass bei Insolvenzeröffnung keine „Restguthaben“ zugunsten der Kunden mehr bestehen. Die hieraus resultierenden Rückforderungsansprüche wären andernfalls nur Insolvenzforderungen und damit für die Kunden verloren. Die Höhe der Vorauszahlungen ist daher anhand einer Vorausschau der zu liefernden Umfänge für den vorgesehenen Zeitraum möglichst genau zu ermitteln. 30 Vorauszahlungen innerhalb des eröffneten Verfahrens sind unproblematisch, da etwaige Rückforderungsansprüche Masseverbindlichkeiten darstellen. 1.4
Bildung eines (vorläufigen) Gläubigerausschusses
31 Bis zur Einführung des ESUG (siehe Fn. 2) war die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses im Antragsverfahren gesetzlich nicht vorgesehen, in der Praxis aber durchaus nicht unüblich. Mit der Änderung der §§ 21, 22 InsO und der Einführung des § 22a InsO ist dies jetzt auch gesetzlich für Verfahren vorgesehen, bei denen der Schuldner die in § 22a InsO vorgesehenen Kenngrößen erfüllt – was bei der Mehrzahl der wesentlichen Zulieferunternehmen der Fall sein dürfte. Hintergrund für den Gesetzgeber zur frühzeitigen Einbindung der Gläubiger in das Verfahren durch Konstitutionalisierung eines vorläufigen Gläubigerausschuss ist explizit, dass die Gläubiger ihr vielfach vorhandenes Wissen in das Verfahren einbringen können und zudem ein wirtschaftliches Interesse an einer erfolgreichen Sanierung haben.9) 32 Wichtig ist daher auch hier die geeignete Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses. Neben den Haupt-Stakeholdern Banken, Arbeitnehmervertretern, Lieferanten und Kleingläubigern sollte bei der Besetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses auch ein Vertreter der Kunden – also der OEM – einen Sitz im (vorläufigen) Gläubigerausschuss erhalten. Gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO können zu Mitgliedern des Gläubigerausschusses auch Personen bestellt werden, die erst mit Eröffnung des Verfahrens Gläubiger werden. ___________ 9) Kübler/Prütting/Bork-Blankenburg, InsO, § 22a Rz. 4.
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Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich § 40 Jedenfalls bei bis zur Insolvenzantragstellung in normalem Umfang weiterlaufendem Ge- 33 schäftsbetrieb gilt dies auch für die OEM als Kunden – Forderungen der Kunden gegen den Lieferanten entstehen in der Regel erst im Laufe des Insolvenzverfahrens, bspw. durch die Übernahme von Verlustbeiträgen. Die Einbeziehung der Kunden in den Gläubigerausschuss ist für den Erfolg der Betriebs- 34 fortführung für die Gesamtheit der Gläubiger maßgeblich und erforderlich – es sind in der Regel die stabilen Beziehungen zu den Kunden, die den Wert des schuldnerischen Unternehmens maßgeblich beeinflussen oder gar ausmachen. Zudem sind oft Vereinbarungen über die Betriebsfortführung mit den Kunden notwendig, so dass deren Vertretung im (vorläufigen) Gläubigerausschuss sinnvoll erscheint (siehe hierzu unten Rz. 35 ff.). 2.
Fortführungsvereinbarung
Der Erhalt des Unternehmens ist eines der gesetzlich vorgegebenen Ziele eines Insolvenz- 35 verfahrens, § 1 InsO.10) Daher enden Rechtsbeziehungen zwischen Schuldner und Dritten nicht mit Insolvenzantragstellung oder -eröffnung automatisch. Der Insolvenzverwalter hat vielmehr ab Verfahrenseröffnung bei beidseitig nicht vollständig erfüllten Verträgen gemäß § 103 InsO ein Wahlrecht. Eine für alle Seiten praktikable Alternative zu den beiden (ab Eröffnung) gesetzlich vor- 36 gesehenen Alternativen – unveränderte Fortsetzung des Lieferverhältnisses oder Nichterfüllungswahl – ist die einvernehmliche Gestaltung der bestehenden Vertragsverhältnisse im Wege einer sog. Fortführungsvereinbarung (nachfolgend: „FVB“) zwischen Insolvenzverwalter und – allen oder einzelnen – Kunden. Für den Insolvenzverwalter besteht damit die Möglichkeit, die Kunden an etwaigen betriebswirtschaftlichen Risiken aus der Fortführung des schuldnerischen Geschäftsbetriebes zu beteiligen. Die Kunden erhalten umgekehrt die so dringend notwendige Versorgungssicherheit über einen planbaren Zeitraum ohne fürchten zu müssen, dass der Verwalter die Nichterfüllung wählt oder zu einem späteren Zeitpunkt die Masseunzulänglichkeit anzeigt. Ziel der Fortführung des Geschäftsbetriebs ist daher regelmäßig, das Unternehmen der 37 Gesellschaft bis zu seiner angestrebten Veräußerung als organisatorische Einheit zu erhalten, um dadurch die Versorgung der Kunden mit Produkten sicherzustellen und gleichzeitig eine für die Gläubiger und die Mitarbeiter möglichst vorteilhafte übertragende Sanierung des Unternehmens im Insolvenzverfahren durch Verkauf eines aktiven Geschäftsbetriebs an einen Investor zu ermöglichen. 2.1
Allgemeines – Betriebsfortführung und Nichterfüllungswahl
2.1.1 Insolvenzantragsverfahren Der vorläufige (schwache) Insolvenzverwalter, auf den die Verfügungsbefugnis nicht über- 38 gangen ist, ist zunächst an die bestehenden vertraglichen Vereinbarungen zu den Kunden des Schuldners gebunden. Er unterliegt damit einer Lieferverpflichtung zu den zwischen dem Kunden und dem schuldnerischen Unternehmen vereinbarten Bedingungen. Ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht besteht – für beide Seiten – in diesem Verfahrensstadium nicht. Vorläufiger Insolvenzverwalter und Kunde bleiben daher zunächst gegenseitig vertraglich aneinander gebunden, mit genau den gleichen gegenseitigen Verpflichtungen wie vor der Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung. Eine einseitige – nur durch den vorläufigen Verwalter vorzunehmende – „Nachkalkulation“ der bereits erteilten Aufträge sieht das Gesetz ebenso wenig vor, wie die einseitige vollständige Beendigung der Vertragsbeziehung. Dies gilt auch i. R. des Schutzschirmverfahrens. ___________ 10) Kübler/Prütting/Bork-Prütting, InsO, § 1 Rz. 36 ff.
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§ 40
Teil V Einzelfragen
39 Etwas anderes gilt nur dann, wenn der schwache vorläufige Verwalter beim Insolvenzgericht per Beschluss die Genehmigung zur sofortigen Betriebseinstellung einholt. 2.1.2 Eröffnetes Verfahren 40 Ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann sich der Insolvenzverwalter einseitig durch Ablehnung der Erfüllung gemäß § 103 InsO von den Leistungspflichten aus dem Vertragsverhältnis lossagen. Da in der Regel für jeden zu liefernden Umfang einzelne Vertragsverhältnisse in Form von Einzelbeauftragungen oder sog. Nominierungen bestehen, muss der Insolvenzverwalter für jeden einzelnen Umfang überlegen, ob er die Nichterfüllung wählt. Ob man dabei die bestehenden Lieferverhältnisse als Kaufvertrag, Werkvertrag oder eine Mischform ansieht, spielt für die Ausübung des Wahlrechts gemäß § 103 InsO zunächst keine Rolle.11) 41 Der Verwalter ist aber nach wie vor an den Grundsatz der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung gemäß § 1 InsO gebunden und muss diesen auch bei der Entscheidung, ob er die Nichterfüllung erklären will, berücksichtigen. 42 Der Insolvenzverwalter steht in einem solchen Falle vor der Herausforderung, die Kalkulation der einzelnen Preise pro Teil zu ermitteln, und zu prüfen und zu entscheiden, in welchem Umfang eine Weiterproduktion und -belieferung erfolgen kann. Im Rahmen seines generellen Auftrages gemäß § 1 InsO wird der Insolvenzverwalter x
einerseits die Produktion und Belieferung von Teilen mit hohem Deckungsbeitrag aufrechterhalten müssen;
x
auf der anderen Seite muss ein Verlust aus der Weiterproduktion zulasten der Gläubiger vermieden werden.
43 Bei der betriebswirtschaftlichen Beurteilung ist allerdings mithilfe einer Planungsrechnung das Gesamtergebnis der Betriebsfortführung zu beurteilen. Davon geht auch der Regelungszweck des § 103 InsO aus. Bei der Beurteilung, ob der Verwalter die Erfüllung wählt oder ablehnt, muss er berücksichtigen, dass für die Masse ein Vertrag auch dann werthaltig ist, wenn die weitere Erfüllung für die Masse sonst, etwa als Deckungsbeitrag oder zur Marktpräsenz vorteilhaft ist. Ob der Verwalter Erfüllung verlangt, hängt daher nicht allein vom Marktwert der auszutauschenden Leistungen ab.12) Daher kann die Weiterproduktion eines einzelnen Teils mit schlechtem oder gar negativem Deckungsbeitrag jedenfalls dann in Kauf genommen werden, wenn das geplante Gesamtergebnis am Ende für die Gläubiger zu einer höheren Befriedigung führt oder – was regelmäßig der Fall sein dürfte – zu einer besseren Verwertbarkeit des Gesamtunternehmens, bspw. i. R. eines Asset Deals. 44 Der Verwalter hat also bei seinen Überlegungen zur Erfüllungswahl für jede einzelne Liefervereinbarung den Wert für die Gesamtheit der Gläubiger zu prüfen und seine Entscheidung daran auszurichten. 45 Er muss andererseits aber natürlich auch dafür sorgen, dass er neu begründete Verbindlichkeiten bedienen kann, um seiner Haftung nach § 61 InsO zu entgehen. 46 Die Nichterfüllungswahl führt zu Ansprüchen der jeweiligen Kunden auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung gemäß § 103 InsO und erhöht den Bestand an Insolvenzforderungen. Führt die Nichterfüllungswahl zu einem Produktionsausfall beim Kunden wird der dadurch verursachte und als Insolvenzforderung anzumeldende Schaden immens.
___________ 11) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 103 Rz. 48, 49, 91 ff. 12) Kübler/Prütting/Bork-Tintelnot, InsO, § 103 Rz. 7.
1400
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Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich § 40 2.1.3 Fortführungsvereinbarung als Alternative Eine für alle Seiten praktikable Alternative zur Nichterfüllungswahl oder zur unveränderten 47 Fortsetzung des Lieferverhältnisses ist der Abschluss einer sog. Fortführungsvereinbarung zwischen Insolvenzverwalter und allen – oder einzelnen – Kunden, mit der die Fortsetzung der Lieferverhältnisse einvernehmlich gestaltet werden kann. 2.2
Form
Die Fortführungsvereinbarung ist grundsätzlich formfrei. Einen vorgeschriebenen Rege- 48 lungsinhalt gibt es nicht. In der Regel werden überwiegend werk- und kaufvertragliche Elemente enthalten sein. Aus den Besonderheiten der bisher bestehenden Lieferbeziehung kann sich auch die Notwendigkeit der Aufnahme von Regelungen aus Miet- oder Leasingrecht, dem Auftragsrecht oder zu anderen schuldrechtlichen Regelungsinhalten ergeben. Sinnvollerweise sollte die Fortführungsvereinbarung zwischen allen Kunden und dem In- 49 solvenzverwalter in einer mehrseitigen Vereinbarung geschlossen werden. Bei einem jeweils bilateralen Abschluss zwischen Verwalter und einzelnem Kunden besteht die Gefahr, dass nicht mit allen Kunden gleiche Verhandlungsergebnisse erzielt werden können und dies im Ergebnis zu einer Ungleichbehandlung führen kann. Dies wird dem Verwalter insbesondere am Ende des Verfahrens Probleme im Hinblick auf die Abrechnung gegenüber den Kunden bereiten oder zu Schwierigkeiten bei einer Verwertung des schuldnerischen Unternehmens führen können. Zu beachten ist beim Abschluss einer mehrseitigen Vereinbarung aber die grundsätzliche 50 Einhaltung der Vertraulichkeit der Kundendaten im Verhältnis zu den jeweils anderen Kunden. So dürfen keinesfalls einzelne Kalkulationsgrundlagen und Preise für produzierte und gelieferte Teile für alle Parteien der Vereinbarung offengelegt werden. Dies kann nur durch individuelle Anlagen zu dem Vertrag gegenüber der jeweils betroffenen Partei erfolgen, es sei denn die Parteien haben auf eine entsprechende Geheimhaltung verzichtet. 2.3
Zeitpunkt des Abschlusses
Sinnvollerweise sollte über eine Fortführungsvereinbarung zwischen Verwalter und allen 51 betroffenen bzw. zustimmenden Kunden so früh wie möglich verhandelt werden und eine solche jedenfalls zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens rechtsgültig abgeschlossen sein. Dies gibt zum einen dem Verwalter die Sicherheit, den Geschäftsbetrieb weiterführen zu können ohne ab dem Tag der Eröffnung eine Haftung hieraus nach § 61 InsO zu riskieren. Auf der anderen Seite erhalten die Kunden die benötigte Kontinuität und Versorgungssicherheit. 2.4
Zustimmungsvorbehalt
Der Abschluss der Fortführungsvereinbarung bedarf der Zustimmung des Gläubigeraus- 52 schusses bzw. der Gläubigerversammlung. Sie sollte daher unter die aufschiebende Bedingung der entsprechenden Zustimmung gestellt werden. 2.5
Einzelne Regelungen
Nachfolgend sollen beispielhaft und nicht abschließend einige notwendige und sinnvolle 53 Regelungen einer Fortführungsvereinbarung dargestellt werden. 2.5.1 Neue Lieferverpflichtung In der Regel wird der Insolvenzverwalter unter Berücksichtigung der oben dargestellten 54 Grundsätze die Erfüllung der einzelnen Lieferverträge gemäß § 103 InsO prüfen und abBauch
1401
§ 40
Teil V Einzelfragen
lehnen. Für eine Fortführung des Geschäftsbetriebs ist daher der Abschluss neuer Lieferverpflichtungen erforderlich. Insolvenzverwalter und Kunden müssen daher bestätigen, dass die – sinnvollerweise in einer Anlage aufgeführten – Aufträge/Verträge mit Wirkung ab Insolvenzeröffnung neu abgeschlossen werden. Darüber hinaus sollte grundsätzlich die Beibehaltung der ursprünglichen Vertragsbedingungen vereinbart werden, die i. E. (z. B. hinsichtlich einzelner Preise, Zahlungsmodalitäten o. Ä.) in der Fortführungsvereinbarung modifiziert werden können. 55 Der Verwalter verpflichtet sich bei Einhaltung der vereinbarten Bedingungen zur Produktion und Belieferung. Die Parteien sollten zudem die Teile, deren Produktion und Belieferung Gegenstand der Fortführungsvereinbarung sein sollen, so genau wie möglich benennen, und zwar unter Nennung der jeweiligen Teile- und Indexnummer. Am besten geschieht dies in einer Anlage. 2.5.2 Abnahme- und Zahlungsverpflichtung 56 Der Produktions- und Lieferverpflichtung des Insolvenzverwalters steht die Abnahmeverpflichtung der Kunden gegenüber. Beide Parteien – Insolvenzverwalter und Kunden – benötigen eine entsprechende Planungssicherheit. Es ist daher sinnvoll, Regelungen aufzunehmen, wonach sich die Kunden verpflichten, x
den definierten Auftragsbestand in der schuldnerischen Gesellschaft bis zum Ende der Laufzeit der Vereinbarung zu belassen und diesen nicht abzuziehen,
x
die in ihrem Eigentum stehenden Produktionswerkzeuge nicht vor Beendigung der Laufzeit der Vereinbarung abzuziehen.
57 Neben der Abnahmepflicht besteht natürlich eine entsprechende Zahlungspflicht der Kunden zu den vereinbarten Zahlungsbedingungen. Die Kontoverbindung, auf die die Kunden schuldbefreiend leisten können – in der Regel das Insolvenzverwalter-Anderkonto – sollte in der Vereinbarung ebenfalls angegeben werden. 2.5.3 Preise 58 Soweit die Parteien eine Übernahme etwaiger Verluste aus der Betriebsfortführung (vgl. nachfolgend unter Rz. 61 ff.) vereinbaren, besteht keine Notwendigkeit, die bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens geltenden Preise in Frage zu stellen oder zu erhöhen. Der Insolvenzverwalter ist zugunsten der Gläubiger hier ausreichend abgesichert. 59 Allerdings sehen die bisher bestehenden Lieferbedingungen häufig sog. savings, die über eine definierte Laufzeit die prozentuale Verringerung der jeweiligen Teilepreise wegen Optimierung der Produktionsbedingungen regeln, vor. Derartige Bedingungen sind i. R. des Insolvenzverfahrens nicht sinnvoll, da sie sich unmittelbar auf die Liquidität des schuldnerischen Unternehmens auswirken und über mögliche Verlustübernahmen letztendlich wieder zum Ausgleich beim Kunden landen. Das gleiche gilt für Skontovereinbarungen. 60 In jedem Fall ist eine gemeinsame Preisbasis zwischen dem jeweiligem Kunden und dem Insolvenzverwalter festzulegen. 2.5.4 Verlustausgleich 61 Nachdem die Betriebsfortführung auch im maßgeblichen Interesse der Kunden liegt und in der Regel kein anderer Stakeholder bereit sein wird, Verlustausgleichszahlungen zu leisten, wird der Insolvenzverwalter versuchen, eventuell aus der Betriebsfortführung anfallende Verluste auf die Kunden abzuwälzen. Hierzu ist zunächst eine umfassende und bei Abschluss der Fortführungsvereinbarung vorliegende Ertrags- und Liquiditätsplanung erforderlich. 1402
Bauch
Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich § 40 Die Verpflichtung zum Verlustausgleich sollte zudem folgende Punkte umfassen und regeln: 62 x Verpflichtung der Kunden zum Ausgleich der Verluste, gedeckelt auf eine sich aus der Planungsrechnung ergebende Höchstsumme; Nachschusspflicht bei Überschreiten der Höchstsumme mit dem Recht der Plausibilisierung durch die Kunden; x bei mehreren Kunden, Festlegung eines Verteilungsschlüssels unter den Kunden und unter Ausschluss einer gesamtschuldnerischen Haftung; x Abrechnung der tatsächlichen Verluste am Ende der Fortführungsperiode und Prüfungsrecht der Kunden durch einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer; x Rückzahlungspflicht, wenn sich am Ende der Fortführungsperiode und nach Abrechnung der tatsächlichen Verluste ein zu viel geleisteter Betrag zugunsten der Kunden ergibt; Rückzahlung dann mit gleichem Verteilungsschlüssel unter den Kunden wie bei der Einzahlung; Rückzahlungsanspruch als Masseverbindlichkeit. Um die Liquidität im laufenden Geschäftsbetrieb sicherzustellen, sollten auf die sich ja nur 63 anhand von Planzahlen ermittelten, voraussichtlichen Verluste Vorauszahlungen vereinbart werden. Hierfür ist ein Zahlungsplan analog der Ertrags- und Liquiditätsplanung als Anlage zu der Fortführungsvereinbarung zu erstellen. Es ist zudem sicherzustellen, dass die Verlustausgleichsfinanzierung zweckgebunden ist 64 und ausschließlich für den Ausgleich der tatsächlich am Ende der Fortführungsperiode aus der Betriebsfortführung entstandenen Verluste verwendet wird. Verlustausgleichszahlungen (und Vorauszahlungen hierauf) sind bestimmungsgemäß keine Insolvenzmasse, die massemehrend der Befriedigung aller Gläubiger dient. Der Verwalter ist nur berechtigt, liquiditätswirksame Verpflichtungen der Insolvenzmasse, die in den Verlustausgleich einbezogen werden, aus der Vorauszahlung zu begleichen. Er hat die (Voraus-)Zahlungen im Übrigen getrennt von der Masse zu vereinnahmen und zu verwalten. Hierzu muss er ein Sonderkonto bereithalten. Um spätere Diskussionen bei der Abrechnung der Verlustausgleichszahlung zu verhindern, 65 sollte eine genaue betriebswirtschaftliche Definition des Begriffes „Verlust“ vorgenommen werden. Hierunter ist allgemein der durch die Betriebsfortführung bedingte massemindernde und liquiditätswirksame Verlust gemäß §§ 238 ff., 264 ff. HGB zu verstehen. x
2.5.5 Vorschusszahlungen auf Lieferungen und Leistungen Soweit sich aus der Ertrags- und Liquiditätsplanung ergibt, dass zur Aufrechterhaltung der 66 Liquidität auch auf die zukünftigen i. R. der Betriebsfortführung zu erbringenden Lieferungen und Leistungen Vorauszahlungen zu erbringen sind – bspw. zur Vorfinanzierung von Vormateriallieferanten – sind diese in die Fortführungsvereinbarung aufzunehmen. Dabei ist auch die Aufrechnungsmöglichkeit der Kunden mit den aus den tatsächlichen Lieferungen entstehenden Forderungen gegen die Rückzahlungsverpflichtung aus der Vorauszahlung vorzusehen. Je nach Liquiditätsvorschau ist der Zeitraum des „Stehenlassens“ der Rückforderungsansprüche zu definieren. 2.5.6 Gewährleistung und Leistungsstörung Auch während der Betriebsfortführung können an Lieferungen und Leistungen der Schuld- 67 nerin Mängel auftreten. Um die benötigte Liquidität nicht durch Zurückbehaltungsrechte oder Zahlungsansprüche bei mangelhaften Lieferungen zu mindern (und diese Liquiditätslücke durch höherer Vorauszahlungen durch die Kunden schließen zu lassen), sollten die Gewährleistungsrechte der Kunden für Lieferungen ab dem Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung auf Nachlieferung, Nachbearbeitung oder Nachbesserung beschränkt werden. Bauch
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§ 40
Teil V Einzelfragen
Schadensersatzansprüche der Kunden aus Nichterfüllung und Leistungsstörungen, insbesondere Verzug und Unmöglichkeit gegen den Insolvenzverwalter und die Insolvenzmasse werden in der Regel ausgeschlossen, es sei denn sie beruhen auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit. 68 Andererseits müssen die Kunden bei gravierenden Leistungsstörungen, die z. B. zu Bandstillständen geführt haben, eine Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung der Fortführungsvereinbarung haben, jedenfalls soweit dies zur Absicherung der Produktion und eventuellen Verlagerung des von der Leistungsstörung betroffenen Produktumfanges erforderlich ist. 2.5.7 Versicherung und Haftungsbegrenzung 69 Der Insolvenzverwalter hat – wie bei jeder anderen Betriebsfortführung auch – für einen ausreichenden Versicherungsschutz des schuldnerischen Unternehmens zu sorgen. 70 Im Hinblick auf die oben dargestellten nicht unerheblichen Schadenssummen, bspw. bei einem Bandstillstand, sollte zudem eine ausreichende Vermögensschadenshaftpflichtversicherung abgeschlossen werden und die persönliche Haftung des Verwalters gemäß §§ 60, 61 InsO auf die Versicherungssumme begrenzt werden. 2.5.8 Vertragsdauer und Kündigung 71 Da eine Betriebsfortführung im eröffneten Verfahren auf unbegrenzte Dauer nicht sinnvoll und nicht möglich ist, muss die Dauer der Fortführungsvereinbarung und damit des Fortführungszeitraumes befristet werden. Eine Verlängerungsoption sollte vorgesehen werden. Andererseits ist die automatische Beendigung der Fortführungsvereinbarung vorzusehen bei Verkauf des Geschäftsbetriebes. Am Ende der Fortführungsperiode wird in der Regel die Übertragung des Geschäftsbetriebes stehen oder eine Betriebseinstellung nach erfolgter Ausproduktion. 72 Für den Fall der Nichteinhaltung der gegenseitigen Pflichten aus der Fortführungsvereinbarung kann ein beidseitiges außerordentliches Kündigungsrecht geregelt werden. Schwierig wird die Fortsetzung der Fortführungsvereinbarung, wenn mehrerer Kunden Vertragspartner sind. Scheidet nur ein Kunde durch eigene Kündigung oder Kündigung durch den Insolvenzverwalter aus, haben aber die übrigen Kunden ein Interesse an der weiteren Fortführung des Geschäftsbetriebs, sollten entsprechende Regelungen vorsehen, dass die übrigen Kunden die Verlustbeiträge, Liquiditätshilfen und Vorauszahlungen des ausscheidenden Kunden mit übernehmen – denn in der Regel werden sich die möglichen Verluste bei Wegfall der Deckungsbeiträge eines Kunden insgesamt (und damit anteilig für die verbleibenden Kunden) erhöhen. Andererseits muss entsprechend den obigen Ausführungen zur Zweckgebundenheit dafür gesorgt werden, dass die Zahlungen der verbleibenden Kunden auch nur für deren Produktion und deren Belieferung verwendet werden. 73 Vor Ende der vertraglich vorgesehenen Fortführungsperiode ist den Kunden die Möglichkeit einzuräumen, die Verlagerung der in ihrem Eigentum stehenden Werkzeuge vorzubereiten und auch die noch bestehenden Aufträge auf andere Lieferanten zu verlagern. Mit Ende der Fortführungsperiode werden dann in der Regel auch die Lieferverpflichtungen enden und der Geschäftsbetrieb im schuldnerischen Unternehmen eingestellt, sowie fremdes Eigentum (also z. B. die Kundenwerkzeuge) herausgegeben. 2.5.9 Ausproduktion 74 Ein mögliches Szenario als Ziel einer Betriebsfortführung – neben der Übertragung des Geschäftsbetriebes – ist auch die sog. Ausproduktion, z. B. im Wege einer geordneten Verlagerung der Umfänge durch die Kunden auf andere Lieferanten oder durch Einstellung 1404
Bauch
Besonderheiten der Betriebsfortführung bei Zulieferern aus dem Automotivebereich § 40 der Produktion mangels Bedarf. Für diesen Fall verpflichtet sich der Insolvenzverwalter, die Kunden bei einem geordneten Abzug der Umfänge zu unterstützen. Bei einer Verlagerung auf andere Lieferanten wird in der Regel ein Herauffahren der Produktion notwendig sein, um für den Zeitpunkt der tatsächlichen Verlagerung (z. B. Umzug der Werkzeuge) einen entsprechenden Lagerbestand aufbauen zu können. Dies führt zu höheren Umsätzen. Bei der Produktion von Teilen mit einem negativen Deckungsbeitrag führt dies aber umgekehrt auch zu einer Vergrößerung des Verlustes. Entsprechende Regelungen zur Verlustübernahme, wie sie oben beschrieben wurden, sind daher auch hierfür vorzusehen. Im Übrigen gelten auch für den Fall einer Ausproduktion als Ziel einer Betriebsfort- 75 führung die oben genannten Grundsätze im Hinblick auf eine Fortführungsvereinbarung. 2.5.10 Restrukturierungsmaßnahmen Insbesondere im Hinblick auf eine angestrebte Übertragung des Geschäftsbetriebs ist es 76 häufig sinnvoll, vorab im Insolvenzverfahren oft bereits lange notwendige Restrukturierungsmaßnahmen durchzuführen oder zumindest zu beginnen. Die Ermittlung und Festlegung dieser Maßnahmen erfolgt gemeinsam zwischen Insolvenzverwalter und Kunden, ggf. unter Einschaltung einer Beratungsgesellschaft. Restrukturierungsmaßnahmen sorgen 77 x zum einen für einen optimierten Geschäftsbetrieb; sie kommen daher unmittelbar zunächst den Kunden zugute; x zum anderen wirken sich erfolgreich durchgeführte Restrukturierungsmaßnahmen aber in der Regel auch werterhöhend bei einer Veräußerung des Geschäftsbetriebes aus, was dann über eine höhere Teilungsmasse auch allen anderen Gläubigern zugutekommt. Die Finanzierung von Restrukturierungsmaßnahmen kann daher entweder über die Kunden 78 erfolgen oder im Zusammenspiel mit weiteren beteiligten Stakeholdern, z. B. Banken, die daran partizipieren. Umfassen die Restrukturierungsmaßnahmen auch die (oft schon überfälligen) Investitionen in neue Maschinen und Anlagen ist eine Beteiligung an den späteren Verkaufserlösen für die Finanzierungsgeber vorzusehen. 2.5.11 M&A-Prozess Soweit das Ziel des Insolvenzverfahrens – wie häufig – eine übertragende Sanierung mithilfe 79 eines Asset Deals auf einen Erwerber bzw. neuen Rechtsträger sein soll, können entsprechende Verpflichtungen auch hier bereits in die Fortführungsvereinbarung aufgenommen werden. Ein erfolgreicher M&A-Prozess setzt das weitere Vertrauen der Kunden in den neuen Lieferanten und in dessen Stabilität und Lieferfähigkeit voraus. Die Einbindung der Kunden in die Entscheidungsprozesse im laufenden Insolvenzverfahren und in den M&A-Prozess ist daher notwendig (siehe auch Rz. 84 ff.). Mögliche Regelungen in einer Fortführungsvereinbarung sind z. B.: 80 x Der Insolvenzverwalter verpflichtet sich, für den Geschäftsbetrieb so schnell wie möglich einen Investor zu finden und den operativen Geschäftsbetrieb auf diesen zu übertragen. x Er verpflichtet sich, die Kunden über den Fortgang des M&A-Prozesses regelmäßig zu informieren. x Die Kunden verpflichten sich, den Insolvenzverwalter bei der Suche nach Kaufinteressenten zu unterstützen und die Übertragung aktiv zu begleiten. x Die Entscheidung über die Verwertung bleibt den gesetzlich vorgesehenen Einrichtungen (Gläubigerversammlung, Gläubigerausschuss) vorbehalten. Die Verwertung der Insolvenzmasse – und damit auch die Durchführung eines Asset Deals – 81 ist Aufgabe des Insolvenzverwalters, §§ 159, 166 InsO. Soweit er sich zur Erfüllung dieser Bauch
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§ 40
Teil V Einzelfragen
Aufgaben Dritter, bspw. eines Beratungsunternehmens, bedient, hat die hieraus anfallenden Kosten die Insolvenzmasse zu tragen. Die Kosten sind nicht als Verluste über die Fortführungsvereinbarung an die Kunden weiterzugeben. 2.5.12 Endabrechnung 82 Für die finale Abrechnung aller geleisteten Zahlungen und den zu leistenden Rückzahlungen sollte ein Zeitpunkt definiert werden, der in nicht allzu ferner Zukunft nach Beendigung der Fortführungsperiode liegt. 83 Da in der Regel mit dem Ende der Fortführungsperiode auch die Verwertung der betriebsbedingten Assets erfolgt (Ausnahme: Ausproduktion und anschließende Betriebseinstellung), können auch die hieraus erzielten Erlöse berücksichtig und gegengerechnet werden, soweit sie zu einer Beteiligung der finanzierenden Stakeholder vorgesehen sind. 3.
M&A-Prozess – sog. Tradeagreement
84 Ist eine übertragende Sanierung oder eine sonstige Verwertung des schuldnerischen Geschäftsbetriebs (auch i. R. eines Insolvenzplanes) das Ziel der Betriebsfortführung, geht dem ein M&A-Prozess voraus. Aufgrund der mehrfach dargestellten Abhängigkeiten ist eine solche Übertragung – anders als bei Übertragungen in anderen Branchen – nur im gemeinsamen Zusammenwirken mit den Kunden möglich. 85 Zum einen verfügen die Kunden über die beste Markttransparenz und können gezielt interessierte Übernehmer für den Insolvenzverwalter identifizieren. 86 Ein wesentliches Asset bei einem möglichen M&A-Prozess sind zudem die Vertragsbeziehungen zu den Kunden. Ein Übernehmer wird in der Regel den Wert des von ihm zu übernehmenden Unternehmens nicht im Wert des Maschinenparks und der fertigen und halbfertigen Erzeugnisse sehen, sondern in der zukünftigen Möglichkeit, mit den von ihm erworbenen Assets weiter Kunden beliefern zu können. Er produziert keine Massenprodukte für einen relevanten Markt, sondern speziell entwickelte Einzelprodukte für einzelne Kunden. Ohne Zusage der Kunden, die Teile auch weiterhin bei dem Käufer/Investor produzieren zu lassen, macht der Erwerb für diesen meist keinen Sinn. 87 Ein Interessent mit Branchenkenntnissen wird daher von sich aus bereits während des M&A-Prozesses auf eine frühzeitige Einbindung der Kunden bestehen. Nur so kann er seinen eigenen, für die Kaufentscheidung relevanten Business Case auflegen. 88 Absprachen hinsichtlich einer zukünftigen Geschäftsbeziehung zwischen Kunden und Kaufinteressent sollten daher schon innerhalb des M&A-Prozesses getroffen werden. Dies geschieht in der Regel durch sog. „Tradeagreements“. Parteien der Vereinbarung sind üblicherweise nur die Kunden und der Übernehmer, da Gegenstand die Regelungen der zukünftigen Geschäftsbeziehungen in deren Verhältnis ist. Der Insolvenzverwalter ist hier also sowohl in der Rolle des agierenden Verkäufers, als auch in einer nur vermittelnden Rolle tätig. Vereinbarungen oder Zusagen hinsichtlich der Verwertung als solcher betreffen auch den Insolvenzverwalter, dann als weitere Partei eines Tradeagreements. IV.
Fazit
89 Die Betriebsfortführung eines insolventen Zulieferers erfordert neben dem für jede Betriebsfortführung üblichen und notwendigen Handwerkszeug spezielle Kenntnisse des Automotive-Marktes, seiner Funktionsweisen und Mechanismen. Es besteht ein hoher Zeitdruck, verbunden mit einem erhöhten Leistungsdruck, in einem komplexen und internationalen Umfeld. Dies erfordert ein erfahrenes und gut strukturiertes Team. Eine erfolgreiche Betriebsfortführung setzt zudem ein enges Zusammenwirken mit den betroffenen Kunden voraus. 1406
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§ 41 Betriebsfortführung und Versicherungsschutz Schulz
Übersicht I. II. 1. 2. 3. 4. 5.
6.
Einführung .................................................. 1 Der Verwalter – Das Verfahren............... 10 Verfahren selbst.......................................... 10 Kosten für Versicherungsgutachten ......... 14 Eigenverwaltung/Schutzschirmverfahren nach ESUG ................................ 17 Sanierung ohne Insolvenz (StaRUG) ....... 20 Auswahl von Versicherungspartnern ........ 21 5.1 Weiterbeschäftigung des bisherigen Versicherungsvermittlers..... 24 5.2 Beschäftigung eines gebundenen Versicherungsvertreters (§ 34d Abs. 1 Nr. 1 GewO) .......... 26 5.3 Beauftragung eines Versicherungsberaters (§ 34d Abs. 2 GewO) ........................................... 27 5.4 Einschaltung eines Versicherungsmaklers (§ 34d Abs. 1 Nr. 2 GewO) ................................. 29 Verfahrensbezogene Haftpflichtversicherung..................................................... 33 6.1 Für das Verfahren – den Verwalter .............................................. 33 6.1.1 Bestehender Versicherungsschutz – Deckungssumme des Verwaltervertrages ......................................... 36 6.1.2 Bestehender Versicherungsschutz – Versicherungsumfang des Verwaltervertrages............................... 41 6.1.3 Bestehender Versicherungsschutz – Aufstockung durch Anschlussdeckung .......................................... 44 6.1.4 Bestehender Versicherungsschutz des Verwalters – Fazit ................... 45 6.1.5 Verfahrensbezogene Einzeldeckung („Projektdeckung“)........ 46 6.1.6 Versicherungsschutz bei „Konzernstrukturen“ .................... 47 6.2 Für den Gläubigerausschuss ......... 49 6.2.1 Gläubigerausschuss – „Normalverfahren“....................................... 49 6.2.2 Gläubigerausschuss – „ESUGVerfahren“...................................... 50 6.2.3 Gläubigerbeirat – „StaRUGVerfahren“...................................... 51 6.2.4 Gläubigerausschuss – Besonderheiten Versicherungsschutz .......... 52 6.2.5 Gläubigerausschuss – Handlungsempfehlung .................................... 54
7.
Haftung des Insolvenzverwalters – Versicherungsschutz ................................. 55 7.1 Potentielle Fallstricke in den Versicherungsbedingungen des Verwaltervertrags .................... 57 7.2 Wichtige Zusatzklauseln im Versicherungsvertrag des Verwalters ..................................... 58 7.3 Mitversicherung von Richtern und Rechtspflegern ....................... 59 7.4 Haftungsfälle des Insolvenzverwalters ....................................... 61 7.5 Ergänzender Betriebshaftpflicht-Versicherungsschutz......... 62 8. Vorwurf strafbarer Handlungen (Strafrecht) ................................................. 67 9. Vermögensverlust durch die Verwaltung (Vertrauensschaden).................... 69 III. Risikomanagement ................................... 73 1. Risikotransfer, Unternehmensabläufe und Versicherungsschutz........................... 73 1.1 Masserisiken nach Ihrer Art ......... 74 1.2 Masserisiken aufgrund von Obliegenheiten .............................. 75 2. Prüfung des Versicherungsschutzes der Insolvenzschuldnerin .......................... 77 3. Checkliste für eine Erstbestimmung ........ 79 4. Versicherungsvermittler der Schuldnerin.... 81 IV. Rechtlicher Exkurs ................................... 84 1. Allgemeine Rechtsgrundlagen für den Versicherungsvertrag ................................. 84 1.1 Vorvertragliche Anzeigepflicht (§ 19 VVG) .................................... 85 1.2 Gefahrerhöhung (§ 23 VVG) ....... 87 1.3 Kündigung bzw. Prämienerhöhung wegen Gefahrerhöhung (§§ 24, 25 VVG) .............. 88 1.4 Obliegenheitsverletzung (§§ 28, 58 VVG) ............................ 91 1.5 Zahlungsverzug bezüglich Erstprämie (§ 37 VVG)................. 94 1.6 Zahlungsverzug bezüglich Folgeprämie (§ 38 VVG) – „qualifizierte Mahnung“................ 98 1.7 Vorzeitige Vertragsbeendigung (§ 39 VVG) .................................. 100 1.8 Vorläufiger Versicherungsschutz/Deckung (§§ 49 ff. VVG)............................................ 102
Schulz
1407
§ 41 1.9 1.10
Teil V Einzelfragen
Unterversicherung (§ 75 VVG).... 104 Herbeiführung des Versicherungsfalles (§ 81 Abs. 2 VVG) ... 107 1.11 Der Versicherungswert (§ 88 VVG, § 5 AFB) .................. 108 1.12 Insolvenz des Versicherungsnehmers (§ 110 VVG)................. 113 2. Gläubigerrechte........................................ 114 V. Versicherungsschutz der Schuldnerin....................................... 117 1. Betriebliche Versicherungen des Anlage- und Umlaufvermögens........ 117 1.1 Grundstücke ................................ 118 1.1.1 Unbebaute Grundstücke ............ 118 1.1.2 Bebaute Grundstücke.................. 119 1.2 Gebäude ....................................... 121 1.2.1 Wohngebäude .............................. 122 1.2.2 Gewerblich genutzte Gebäude ... 123 1.3 Betriebseinrichtung und Vorräte (Geschäfts- oder Inhaltsversicherung) ................... 125 1.4 Bauleistung .................................. 127 1.5 Montage ....................................... 129 1.6 Maschinen.................................... 132 1.7 Elektronik und Datentechnik sowie Geräte ................................ 135 1.8 Multi-Risk-Policen...................... 138 1.9 Vertrauensschaden und Computermissbrauch, auch sog. „Cyber-Risiken“ ......... 139 1.10 Bezüge/Versendungen/ Transportmittel ........................... 143 1.10.1 Transport ..................................... 143 1.10.2 Verkehrshaftung.......................... 148 1.11 Fuhrpark/Kraftfahrzeuge ........... 149 1.11.1 Zulassungspflichtige, aber nicht zugelassene Fahrzeuge ..... 150 1.11.2 Zugelassene Fahrzeuge ............... 151 2. Absicherung der Unternehmensaktivitäten ................................................. 157 2.1 Gewinne/Kosten ......................... 157 2.1.1 Betriebsunterbrechung................ 157 2.1.2 Mietverlust................................... 164 2.2 Betriebliche Versicherung von Ansprüchen Dritter..................... 165 2.2.1 Haftung – Betriebshaftpflicht .... 165 2.2.2 Haftungsrisiken der Schuldnerin .................................. 167 2.2.3 Ausschlüsse beachten.................. 172 2.2.4 Ergänzender/eigenständiger Versicherungsschutz ................... 173
2.2.5
Versicherungslösungen für Bautätigkeit.................................. 174 2.2.6 Optionaler Haftpflichtschutz für den Verwalter (UmbrellaCover) .......................................... 177 2.3 Unterschiedliche Schadensfalldefinitionen in der Haftpflichtversicherung...................... 178 2.3.1 Schadenereignistheorie (z. B. Betriebshaftpflichtversicherung) .............................. 178 2.3.2 Verstoßtheorie (z. B. Produkthaftpflichtversicherung) ............ 180 2.3.3 Anspruchserhebungstheorie/ Claims-Maide .............................. 184 2.4 Reine Vermögensschadenhaftpflicht ................................... 185 2.4.1 Geschäftsführer-/ Organhaftpflicht ......................... 186 2.4.2 D&O-Versicherung .................... 193 2.4.2.1 Besonderheit bei Kapitalgesellschaften, z. B. in Form einer AG oder SE ........................ 194 2.4.2.2 Anrechnungsmodell .................... 195 2.4.2.3 Echtes SB-Modell........................ 196 2.5 Kosten der Verteidigung............. 197 2.5.1 Firmen-Rechtsschutz.................. 197 2.5.2 Unternehmens-StrafRechtsschutz ............................... 203 2.6 Forderungsausfall/Warenkreditversicherung....................... 205 2.7 Bürgschaftsversicherung ............ 208 2.8 Prozessfinanzierung .................... 209 3. Privateigentum der Mitarbeiter............... 211 3.1 Dienstreisen – Allgemeines ........ 211 3.2 Dienstreisekasko – Versicherungsschutz bei Dienstfahrten ... 212 3.3 Reisegepäck ................................. 215 4. Soziale Leistungen/Absicherung von Mitarbeitern ............................................. 216 4.1 Reisekrankenversicherung .......... 216 4.2 Krankenversicherung – Rahmenverträge........................... 217 4.3 Unfallversicherung...................... 220 5. Verstöße aus Compliance-Richtlinien, Regress beim Angestellten ...................... 221 6. Spezialabsicherungen ............................... 222 VI. Fazit: Eintritt in bestehende Verträge oder Neuabschluss? ................................ 223
Literatur: Römermann, Korruption in der Verwalterszene?!?, ZInsO 2015, 2267; Siemon, Pauschale Vorverurteilung von Insolvenzrichtern und Insolvenzverwaltern in Bezug auf Korruption durch Mitversicherung ist unfair und unzutreffend, ZInsO 2015, 1968.
1408
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz I.
§ 41
Einführung1)
Die unternehmerischen Risiken – sowohl aus Sicht des Verwalters, als auch aus Sicht des 1 betreffenden Unternehmen – sind ein mannigfaltiges Themenfeld. Für Laien wirkt es oft unüberschaubar und mehr als nur komplex. Aus Sicht des Experten wiederum ist es leicht, den notwendigen Risikotransfer und entsprechende Lösungen zu finden und sodann vorzunehmen. Kurzum: Die Risiken der Unternehmen, die sich auf Versicherer abwälzen lassen, sind sowohl aus Verwaltersicht, als auch aus Sicht des Unternehmens bedeutend und sollten i. S. aller Beteiligten genutzt werden. Wichtig ist in jedem Fall sich immer wieder bewusst zu machen, dass – je nach Perspektive – 2 sich der Bedarf und mögliche Notwendigkeiten des Risikotransfers vom Blickwinkel her unterscheiden können. Eine ganzheitliche Betrachtung, gewissermaßen eine 360°-Betrachtung, ist daher das Gebot der Stunde, denn am Ende ist der Transfer auf einen Risikoträger regelmäßig die wirtschaftlich teuerste, wenngleich auch kalkulierbarste Lösung. Nach Meinung des Verfassers kann es nicht der Anspruch sein, den Verwalter zu einem 3 Experten auszubilden, denn dafür ist der Rahmen zeitlich und inhaltlich unzureichend. Es soll jedoch der Blick auf die vielen Facetten gerichtet werden und eine bessere Entscheidungsgrundlage ermöglichen. Der Bereich des Risikotransfers fristet bei den meisten gewerblichen Insolvenzen leider 4 eine nahezu stiefmütterliche Betrachtung. Eine höhere Transparenz und bessere Verständlichkeit hilft dem Insolvenzverwalter die Vielzahl von Risiken zu verstehen, die er mit der gerichtlichen Bestellung unmittelbar übernimmt. Zugleich werden Lösungsoptionen x
für den Insolvenzverwalter und das Verfahren sowie
x
für die Insolvenzschuldnerin
an die Hand gegeben. Die verschiedenen Bereiche, die im gewerblichen Insolvenzverfahren (insbesondere bei 5 einer Betriebsfortführung) eine Rolle spielen können, können durch den Verfasser nur allgemein und grundsätzlich angesprochen werden. Durch individuelle Vereinbarungen lassen sich im Versicherungsbereich – meist zum Vorteil des Versicherungsnehmers – sehr viele abweichende Regelungen finden. Zusammenfassend lassen sich die Herausforderungen des Insolvenzverwalter beschreiben 6 mit: „Masse stärken, Haftung minimieren, Zeit sparen“. Die Auswahl der richtigen Dienstleister und des passenden Versicherungsschutzes ist dabei das A und O. Für den Verwalter und die Massegenerierung lohnt es sich immer, dem Bereich Versiche- 7 rung(sschutz) mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Neben dem Ziel, das persönliche Haftungsrisiko des (vorläufigen) Insolvenzverwalters sofort zu minimieren (§ 60 InsO) trägt der richtige und zugleich angemessene Versicherungsschutz dazu bei, die Pflicht zur Sicherung und Mehrung der Insolvenzmasse zu erfüllen (§ 35 InsO). Ganz nebenbei wirkt sich die Mehrung der Masse auch auf die Vergütung des Insolvenzverwalters aus (§ 1 InsVV). Der helfende Dienstleister wiederum wird regelmäßig durch die bereits in der Prämie ent- 8 haltene Courtage aufwandsneutral vergütet. Bei größeren und umfangreicheren Mandaten ist davon abweichend eine losgelöste und entsprechend transparente Vergütung als eigenständiges Honorar grundsätzlich denkbar. Nicht behandelt bzw. lediglich gestreift wird in diesem Abschnitt der Bereich der betrieb- 9 lichen Altersversorgung. ___________ 1) Im Text wird ohne Diskriminierungsabsicht ausschließlich bzw. überwiegend die männliche Form verwendet. Die weibliche bzw. die diverse Form ist dadurch jederzeit miteinbezogen.
Schulz
1409
§ 41
Teil V Einzelfragen
II.
Der Verwalter – Das Verfahren
1.
Verfahren selbst
10 Dem Insolvenzverwalter unterliegen gemäß InsO viele Pflichten, die sich relevant auf eine mögliche Haftung nach §§ 60 ff. InsO auswirken. Die wesentliche ist hierbei § 22 InsO: Sicherung und Erhalt des Vermögens. 11 Ähnlich bzw. gleichlautend ist diese Rechtsstellung mit der sich daraus ergebenen Haftung auch für den Treuhänder (§ 292 InsO), dem vorläufigen Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO), dem Sachwalter (§ 274 Abs. 1 InsO), dem Restrukturierungsbeauftragten (§ 75 Abs. 4 StaRUG) und dem fakultativen Restrukturierungsbeauftragten (§ 78 Abs. 3 StaRUG i. V. m. § 75 Abs. 4 StaRUG). Mitnichten ist es somit ein prioritäres Risiko allein für den Insolvenzverwalters. 12 Während – vereinfacht ausgedrückt – § 60 InsO den pflichtwidrigen Bereich der Massekürzung betrifft, zielt § 61 InsO auf die pflichtwidrige Begründung von Masseverbindlichkeiten – jeweils durch den Verwalter – ab. 13 Dies vorweggeschickt wird auch ersichtlich, warum es ein vordringliches Ziel jedes Verwalters sein sollte, sich schnellstmöglich einen Überblick über die genaue Situation des Unternehmens zu verschaffen. Doch ist dies leichter gesagt als getan. Es gibt so viele Themen, die bei einer Beauftragung zu klären sind. Das leichteste davon ist noch, ob aufgrund Prämienrückstand Versicherungsschutz besteht. Die Ablagesysteme bei Schuldnern sind sehr unterschiedlich strukturiert. So können sich z. B. KFZ-Versicherungen bei den Unterlagen des Fahrzeuges oder im Versicherungsordner befinden. Erfahrungsgemäß ist es für den Verwalter schwierig, die umfangreichen Unterlagen zu sichten, Risiken zu beurteilen, Zahlungsstände festzustellen und weder Obliegenheitsverletzungen zu übersehen noch Ausschlusstatbestände oder Versicherungsklauseln mit ggf. negativer Wirkung zu erkennen. Darüber hinaus sind die Angemessenheit und der Umfang des Versicherungsschutzes und Beitrages zu prüfen. Hierbei handelt es sich um komplexe Aufgaben, die an externe Fachleute, wie es Versicherungsberater oder -makler sein können, übertragen werden sollten. 2.
Kosten für Versicherungsgutachten
14 Die Befugnisse der Verwalter im vorläufigen sowie im eigentlichen Verfahren sind voneinander abweichend. Hat der Verwalter eine „starke“ oder eine „schwache“ Stellung? Welche Mittel sind vorhanden bzw. dürfen verwendet werden, um ggf. externe Berater für Versicherungsgutachten zu beschäftigen. Zu beachten gilt auch, dass der Verwalter externe Dienstleistung in Anspruch nehmen darf und den Bereich Versicherungen auslagern kann. Bei Versicherungsverträgen, insbesondere i. R. einer Betriebsfortführung, handelt es sich um sonstige Masseverbindlichkeiten i. S. des § 55 InsO. 15 Liegt ein durch Insolvenzgutachten bestätigter „schwieriger und umfangreicher Fall“ vor, so kann § 12 JVEG i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 3 und § 4 Abs. 3 Satz 2 InsVV sowie § 54 Nr. 2 InsO angewandt werden. In diesem Fall handelt es sich um Massekosten, die dem Verwalter erstattet werden. 16 Die Insolvenzgerichte handhaben diesen Bereich sehr unterschiedlich, so dass es angeraten ist, im Einzelfall bereits vorab eine Klärung herbeizuführen, wenn derartige Kosten anfallen.
1410
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Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 3.
§ 41
Eigenverwaltung/Schutzschirmverfahren nach ESUG
Die Ziele des Verfahrensweges nach den Regelungen des ESUG2) sind die sanierungs- und 17 fortführungsorientierte Insolvenzkultur. Liquidationen sollen verhindert oder zumindest deren Anzahl verringert werden. Der Versicherungsschutz spielt oft eine untergeordnete Rolle, obgleich dieser Bereich er- 18 hebliche Kosten verursachen kann und bei fehlender Erstattung nach einem Schaden durch Vernichtung von Vermögensteilen eine Weiterführung des Unternehmens nicht mehr möglich sein könnte. Die Prüfung des Schutzes und der Verträge sollte das eingesetzte Management in seine Aufgaben unbedingt miteinbeziehen. Auch hier stellt sich die Frage, ob neue und unabhängige Partner für Vergleiche und Risikomanagement bemüht werden sollen, was sinnvoll erscheint. Insbesondere der (vorläufige) Gläubigerausschuss sollte über entsprechenden Haftungs- 19 schutz verfügen (siehe unten Rz. 49 ff.). 4.
Sanierung ohne Insolvenz (StaRUG)
Das Restrukturierungsverfahren nach StaRuG3) ist nicht im Insolvenzrecht geregelt, da es 20 auch kein Insolvenzverfahren darstellt. Anders als bei Verfahren nach dem Insolvenzrecht können jedoch keine ungünstigen bzw. „unliebsamen“ Verträge beendet werden. Ebenso ist das „Abschneiden“ von Pensionsverpflichtungen nicht möglich. Bei dem Erfordernis einer operativen Sanierung empfiehlt sich daher eher ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung. 5.
Auswahl von Versicherungspartnern
Da es an den Berufsstand des Versicherungsvermittlers standesrechtliche Anforderungen 21 gibt, wird der Insolvenzverwalter nur dann rechtskonform die Vermittlung veranlassen können, wenn der Vermittler diese Anforderungen auch vollumfänglich erfüllt. Neben der Zulassung nach § 34d GewO und einer entsprechenden IHK-Registrierung muss der Vermittler auch nachweisen können, dass er für alle beschäftigten Mitarbeiter in der Beratung die rechtlich notwendigen Weiterbildungszeiten in der Vergangenheit erbracht hat. Auch die weiteren Vermittlerpflichten x
Informations-, Beratungs- und Dokumentationspflichten,
x
Beachtung der VersVermV § 11 (Verordnung über die Versicherungsvermittlung und -beratung),
x
Wohlverhaltenspflicht,
sollten vom Vermittler bestätigt werden. Ebenso gehört der Versicherungsschutz dazu. Hier sollte dem Insolvenzverwalter bewusst 22 sein, dass oft nur eine Absicherung in der Höhe der gesetzlichen Mindestversicherung durch den Vermittler vorgehalten wird. Dies bedeutet, dass lediglich eine Absicherung je Schadenfall von ca. 1,35 Mio. € und für alle Schäden eines Jahres i. H. von ca. 2 Mio. € (Stand: 2022) besteht. Ob das im Bereich der gewerblichen oder industriellen Insolvenzen ausreichend ist, hängt jeweils vom Einzelfall ab. Es dürfte zumindest knapp werden. ___________ 2) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 3) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256).
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1411
§ 41
Teil V Einzelfragen
23 Überzeugt sich der Insolvenzverwalter nicht von diesen Punkten und wird – ggf. auch rückwirkend aufgrund der unzureichenden Ausbildung der Mitarbeiter – dem Vermittler die Zulassung entzogen oder die Deckungssumme des Vermittlers reicht in einem Schadensfall nicht aus, entsteht dem Insolvenzverwalter aufgrund Auswahlverschulden ein Haftungsszenario, welches sich bei entsprechender Prüfung hätte vermeiden lassen. 5.1
Weiterbeschäftigung des bisherigen Versicherungsvermittlers
24 Diese Vorgehensweise scheint im Regelfall unangebracht, weil keine neutrale Beratung gegeben ist und keine echte Prüfung (i. S. eines Vergleiches) des bisherigen Schutzes bzw. der Beiträge/Prämien durchgeführt wird. Darüber hinaus können monetäre Interessen des Vermittlers betroffen sein (Rückzahlungen, Nichteintritt, Haftung etc.; siehe auch Rz. 79, 101). 25 Zudem pflegt der bisherige Vermittler regelmäßig gute Kontakte zu den bisher handelnden Personen der Schuldnerin, was zu Interessenskonflikten führen und für den Verwalter nachteilig sein kann. 5.2
Beschäftigung eines gebundenen Versicherungsvertreters (§ 34d Abs. 1 Nr. 1 GewO)
26 Per Definition ist der sog. Ausschließlichkeitsvertreter oder Ein-Firmen-Agent gezwungen, Produkte des Versicherungsunternehmens oder einer Versicherungsgruppe zu vermitteln, das er vertritt. Er hat als Handelsvertreter keine oder bestenfalls eine unzureichende Marktübersicht und kann daher nicht vollständig im Interesse des Verfahrens tätig werden. Viele Banken, die ebenfalls Versicherungen vertreiben, zählen zu den gebundenen Vermittlern. Hinzu kommt, dass der Großteil der Ausschließlichkeitsvertreter privatkundenorientiert ist. Auch die Aufklärungspflichten und Beratungserfordernisse sind für den gebundenen Versicherungsvertreter deutlich reduzierter, als bei einem Versicherungsmakler bzw. -berater. 5.3
Beauftragung eines Versicherungsberaters (§ 34d Abs. 2 GewO)
27 Versicherungsberater sind gewerbsmäßig auf Honorarbasis tätige Berater, die den Verwalter bei Vereinbarungen, Änderungen oder Prüfung von Versicherungsverträgen und im Schadensfall sowie der außergerichtlichen rechtlichen Wahrnehmung gegenüber Versicherungsunternehmen vertreten können. In der Regel sind die 333 Versicherungsberater in Deutschland4) für Privatpersonen tätig und darüber hinaus können nur Versicherungsverträge vermittelt werden, die ohne jeglichen Vergütungsanspruch für den Berater kalkuliert sind. Der Versicherungsberater darf per Verordnung keinerlei wirtschaftliche Vorteile von Versicherungsunternehmen erhalten. Überwiegend vermitteln Versicherungsberater keine Produkte, sondern beurteilen Versicherungsschutz. Daher muss sich der Verwalter trotz Einschaltung eines Versicherungsberaters nach § 34e GewO oft zusätzlich an einen Vermittler wenden und zahlt somit neben einem Honorar auch noch Courtagen, die – wie schon erwähnt – in den Versicherungsprämien eingerechnet sind. 28 Im gewerblichen und industriellen Bereich ist nur ein Teil der Versicherungsberater tätig und somit aktuell selten anzutreffen.
___________ 4) Abrufbar unter: https://www.dihk.de/resource/blob/89358/d1efba45633771c4dce74c9a7c532117/ statistik-versicherungsvermittler-januar-2023-data.pdf (Abrufdatum: 10.3.2023).
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§ 41
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 5.4
Einschaltung eines Versicherungsmaklers (§ 34d Abs. 1 Nr. 2 GewO)
Wer gewerbsmäßig für seinen Auftraggeber (Versicherungsnehmer) die Vermittlung von 29 Versicherungen übernimmt, ohne von einem Versicherungsunternehmen oder von einem Versicherungsvertreter damit betraut worden zu sein, gilt als Versicherungsmakler. Der Versicherungsmakler ist Sachwalter des Kunden und externer Dienstleister. Er handelt 30 ausschließlich im Auftrag und Interesse des Mandanten. Bereits im „Sachwalterurteil“5) hat der Bundesgerichtshof diese Grundsätze vorgegeben, die zudem seit 2007 im Gesetz zur Neuregelung des Vermittlerrechts und der Gewerbeordnung verankert sind.6) Der Expertenstatus (analog den verkammerten Berufen) ist zwischenzeitlich bestätigte Rechtsmeinung. Der Versicherungsmakler übernimmt nach einzelvertraglicher Regelung Risikomanagement, 31 Dokumentation, Auswahl und Prüfung des Versicherungsschutzes und hat seinen Kunden auf Risiken hinzuweisen sowie seinen Rat zu begründen. Darüber hinaus haftet der Makler umfangreich gegenüber der Schuldnerin und dem Verwalter. Mitglieder von berufsständischen Verbänden müssen sich zudem einer umfangreichen „Code of Conduct“-Regelung unterwerfen, die somit jedem Verwalter eine zusätzliche Qualitätssicherheit bringt. Der Versicherungsmakler kann aufgrund seiner Marktkenntnisse auch beantworten, welche 32 Vorgehensweise hinsichtlich der Vertragsfortführung oder Neuindeckunggabe wirtschaftlich sinnvoller ist. So kann es sinnvoll sein, trotz offener Prämien oder bei „schweren Risiken“ (z. B. weltweite Haftpflicht, Fleischverarbeitung etc.) Außenstände nachzuentrichten, um schnell wieder eine Absicherung vorzuhalten, da der bisherige Versicherungsschutz kurzfristig wieder in Kraft gesetzt wird. Aus Sicht der Masse ist es somit nicht immer sinnvoll, offene Prämien nicht zu zahlen und einen Nichteintritt auszusprechen. In den meisten Fällen wird es jedoch zu bejahen sein, den Nichteintritt zu veranlassen und Rückprämien masseerhöhend zu generieren. Anschließend können neue Deckungen aus der Masse gezahlt werden. 6.
Verfahrensbezogene Haftpflichtversicherung
6.1
Für das Verfahren – den Verwalter
Zunächst verschafft sich der Verwalter einen Überblick über die Situation der Schuldnerin 33 (Geschäftszweck, Mitarbeiter, Vermögenswerte, Schuldverhältnisse etc.). Daraus ergibt sich, ob ergänzend zur bestehenden Berufshaftpflicht des Anwaltes/Verwalters bzw. Vermögensschadenhaftpflicht des Insolvenzverwalters ergänzender Versicherungsschutz gewünscht ist oder benötigt wird. Die regelmäßigen Fragen des Verfassers in diesem Kontext sind daher:
34
x
Wie hoch schätzt der Insolvenzverwalter die Risiken der übernommenen Aufgabe ein? Eine persönliche Inanspruchnahme ist insbesondere bei Betriebsfortführung und den damit verbundenen Risiken nicht auszuschließen.
x
Welcher Absicherungsumfang wird vom Verwalter gewünscht?
Hier kann für ein besseres Gefühl die Checkliste unten, siehe Rz. 42 verwendet werden.
35
6.1.1 Bestehender Versicherungsschutz – Deckungssumme des Verwaltervertrages Die Haftpflichtversicherung beinhaltet zwei wesentliche Leistungsbausteine: x
die Befriedigung berechtigter sowie
x
die Abwehr unberechtigter Ansprüche
36
___________ 5) BGH, Urt. v. 22.5.1985 – IVa ZR 190/83, BGHZ 94, 356 = NJW 1985, 2595. 6) Gesetz zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts, v. 9.12.2006, BGBl. I 2006, 3232.
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§ 41
Teil V Einzelfragen
37 Somit hat sie eine passive Rechtsschutzfunktion. 38 Zu prüfen ist die Höhe der Deckungssumme (gesetzlich vorgeschrieben für den Anwalt: 4 x 250 000 €) und auch, wie hoch die Anzahl der versicherten Verfahren bedingungsgemäß sein darf. Hier gibt es ganz unterschiedliche Lösungen am Markt. 39 Die vom Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands e. V. (VID) herausgegebenen Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung (GOI) beinhalten eine Empfehlung zur Vorhaltung einer Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung von mind. 2 Mio. € je Schadensfall und mind. 4 Mio. € für alle Schadensfälle eines Jahres zusammen.7) 40 Eine Haftungsbegrenzung über eine PartmbB oder GmbH scheidet aus, da nur natürliche Personen Insolvenzverwalter sein dürfen (§ 56 Abs. 1 Satz 1 InsO). 6.1.2 Bestehender Versicherungsschutz – Versicherungsumfang des Verwaltervertrages 41 Auch der Umfang des Versicherungsschutzes spielt eine große Rolle. So reicht die typische Anwaltshaftpflichtversicherung mit vereinbartem Zusatzbaustein „Insolvenzverwaltung“ für private Insolvenzverfahren und kleine gewerbliche Verfahren möglicherweise aus. Für größere und umfangreiche Verfahren in der Regel nicht. Sie kann daher nur als BasisAbsicherung verstanden werden. 42 Unbedingt geklärt werden sollte daher der Versicherungsumfang zu den Bereichen gemäß beispielhafter Checkliste: ja
nein
• Mitversicherung von kaufmännischen Risiken (Regelmäßig besteht hier ein Ausschluss oder Begrenzung, obwohl es das Kerngeschäft des Verwalters ist)
Ƒ
Ƒ
• Wird eine höhere Absicherung als 2 – 3 Mio. € im Standard auch für kaufmännische Risiken benötigt?
Ƒ
Ƒ
• Umfasst die Betriebsbeschreibung „Insolvenzverwalter“ und weitere Tätigkeiten, wie z. B. „Sachwalter“, „Treuhänder“ etc.?
Ƒ
Ƒ
• Gelten öffentlich-rechtliche Ansprüche nach §§ 34, 69 AO mitversichert? (Zum Beispiel Steuer- und Abgabenschulden)
Ƒ
Ƒ
• Gelten Fehlüberweisungen und Doppelüberweisungen mitversichert?
Ƒ Ƒ Ƒ Ƒ Ƒ
Ƒ Ƒ Ƒ Ƒ Ƒ
Ƒ Ƒ Ƒ
Ƒ Ƒ Ƒ
Ƒ Ƒ Ƒ
Ƒ Ƒ Ƒ
• Gilt der Vorsatz des Personals mitversichert? • Gilt die Tätigkeit als Aufsichtsrat, Beirat oder Stiftungsrat mitversichert? • Gilt die Abwehr wissentlicher Pflichtversicherung mitversichert? • Wie ist das Ausland abgesichert (Europa, EU/Schweiz, ohne USA/Kanada) und welcher Geltungsbereich wird benötigt, z. B. bei grenzüberschreitenden Unternehmen (außereuropäisches Recht/außereuropäische Gerichte)? • Besteht eine Nachhaftung für einzelne Verfahren länger als zwei Jahre? • Gibt es für die Nachhaftung kleinere Deckungssummen (sog. Sublimite)? • Gelten fehlerhaft abgeschlossene Versicherungsverträge vom Versicherungsschutz ausgeschlossen? • Ist der Insolvenzrichter/Rechtspfleger mitversichert? • Und besteht dadurch ein Complaince-Verstoß? • Regressverzicht gegenüber Personen, denen sich der Insolvenzverwalter zur Tätigkeitsausübung bedient?
___________ 7) Abrufbar unter https://www.vid.de/der-verband/qualitaetsstandards/goi/ (Abrufdatum: 25.11.2022).
1414
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Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
§ 41
Sollte der Verwalter eine Frage mit „nein“ beantworten und das Risiko zumindest theore- 43 tisch bestehen, so empfiehlt sich eine Rücksprache mit dem Vermittler des Verwalters zu welchen Kosten der Risikotransfer vorgenommen werden kann. 6.1.3 Bestehender Versicherungsschutz – Aufstockung durch Anschlussdeckung Der Verwalter kann ergänzend zum bestehenden Vertrag eine „Anschlussdeckung“ wählen 44 und so seinen Versicherungsschutz aufstocken. Möglicherweise sind dem Verwalter in diesem Kontext auch Excess-/Excedenten-/Xs.- bzw. Layerdeckungen bekannt geworden. Dies sind genau solche Vertragskonstrukte, bei denen dennoch die Folgedeckungen jeweils bestmöglichst auf die vorhergehende Absicherung abzustimmen sind und standardisierte Optionen möglich sind. 6.1.4 Bestehender Versicherungsschutz des Verwalters – Fazit Sinnvoll erscheint dieser Absicherungsweg häufig nicht, weil unterschiedliche Vertrags- 45 grundlagen möglich sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die möglicherweise sehr gut ausverhandelte, langfristig gut verlaufende „Basis“ – Berufshaftpflicht im Schadensfall belastet wird. Relevante Kostenvorteile gegenüber einem selbstständigen Vertrag sind in der Regel nicht gegeben und somit ermangelt es an einer wirtschaftlich sinnvollen Basis mit der bestehenden Deckung im Verfahren tätig zu werden. 6.1.5 Verfahrensbezogene Einzeldeckung („Projektdeckung“) Bei umfangreichen und schwierigen Verfahren bzw. einem höheren Haftungsrisiko räumt § 4 46 Abs. 3 Satz 2 InsVV dem Verwalter die Kostenübernahme der Haftpflichtversicherung durch die Masse ein. Von dieser Möglichkeit sollte Gebrauch gemacht und möglichst umfangreicher Versicherungsschutz vereinbart werden. 6.1.6 Versicherungsschutz bei „Konzernstrukturen“ Sind mehrere Unternehmen in verbundenen Strukturen, z. B. Holding und Tochtergesell- 47 schaften oder Schwestergesellschaften, von der Insolvenz betroffen, gilt es für den Verwalter unbedingt vorausschauend zu klären, ob der Versicherungsschutz über einen Versicherungsvertrag ausreichend ist oder ob es ggf. zu gegenläufigen Interessen kommen kann. Sind alle beteiligten insolventen oder ESUG-Unternehmen in einer Police versichert, kann 48 es vorkommen, dass künftige Prozessgegner in einem Vertrag zusammengefasst sind, was zwangsläufig zu Problemen führt. Insbesondere wenn Ansprüche untereinander auftreten. Hier gilt es den Schutz entsprechend zu regeln und Ausschlüsse zu prüfen. Möglicherweise verändern sich auch Gesellschaftsstrukturen und bisher aufgrund einer „mehrheitlich“-Regelung automatisch mitversicherte Gesellschaften fallen aus dem Versicherungsumfang heraus. 6.2 Für den Gläubigerausschuss 6.2.1 Gläubigerausschuss – „Normalverfahren“ Hier kann es zu Interessenskonflikten zwischen den am Verfahren beteiligten Personen 49 oder Organisationen kommen. Daher ist ein eigener Versicherungsschutz für den Gläubigerausschuss (§ 68 InsO) zu empfehlen, um die Haftung nach § 71 InsO abzusichern. Was jedem Mitglied bewusst sein muss, ist die persönliche Haftung. Diese entsteht schnell, wenn die Kassenprüfung verletzt wird oder andere relevante Geschäfte unzureichend überwacht werden (z. B. § 69 InsO). 6.2.2 Gläubigerausschuss – „ESUG-Verfahren“ Durch die Einbeziehung und Stärkung der Gläubiger soll schon sehr früh im Verfahren ein 50 vorläufiger Gläubigerausschuss (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a i. V. m. § 22 InsO) eingesetzt Schulz
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§ 41
Teil V Einzelfragen
werden, um nachteilige Veränderungen der Vermögenslage der Schuldnerin zu vermeiden. Dies betrifft ebenfalls den Interimsgläubiger-Ausschuss nach § 67 InsO. 6.2.3 Gläubigerbeirat – „StaRUG-Verfahren“ 51 Der Gläubigerbeirat nach § 93 Abs. 1 Satz 2 StaRuG (i. V. m. §§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a, 71 Satz 1 InsO) ist ebenfalls von der Haftung nach § 71 InsO betroffen. Aufgrund der möglichen unterschiedlichen Interessen ist auch hier eine eigenständige Absicherung empfohlen, zudem auch hier die persönliche Haftung besteht (siehe auch Rz. 55). 6.2.4 Gläubigerausschuss – Besonderheiten Versicherungsschutz 52 Zu beachten ist, dass bei Abschluss einer entsprechenden Haftpflichtversicherung für den vorläufigen Gläubigerausschuss eine sog. Rückwärtsdeckung ab Beginn der Tätigkeit mitversichert sein muss, um nicht unversichert mit dem persönlichen Vermögen zu haften. In der Praxis wird der vorläufige Gläubigerausschuss oft eingesetzt und trifft Entscheidungen bzw. spricht Handlungsempfehlungen aus, während erst in der Folge entsprechender Versicherungsschutz eingekauft wird. Um Lücken zu vermeiden muss daher einerseits rückwirkend Schutz gegeben sein, aber auch eine unbegrenzte Nachhaftung nach Beendigung des Vertrages. Dies schützt vor Ersatzansprüchen nach der Beendigung des Vertrages. 53 Eine explizite Regelung zum Kostenersatz ist derzeit nicht gegeben. Denkbar ist, dass die Regelungen des § 73 Abs. 1 InsO analog angewandt werden können. In jedem Fall können sich die Ausschussmitglieder die Kosten nach § 18 Abs. 1 InsVV vom Gericht festsetzen lassen und gegenüber der Insolvenzmasse geltend machen. 6.2.5 Gläubigerausschuss – Handlungsempfehlung 54 Um die persönliche Haftung für Mitglieder des Ausschusses oder des Beirates möglichst gering zu halten, empfiehlt sich somit folgende Vorgehensweise: x
Ist eine Kenntnisnahme der „Gerichtsmerkblätter zum Gläubigerausschuss“ erfolgt?
x
Ist eine eigenständige Absicherung für den Gläubigerausschuss vorhanden?
x
Erfolgt eine Dokumentierung der Arbeit zum lückenlosen Nachweis bei späteren Haftungsfragen?
x
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Nicht alles, was der Insolvenzverwalter kommuniziert muss richtig sein. Bei Ungereimtheiten und Zweifel ist Nachforschen angesagt! Es darf immer nachgefragt werden.
x
Gegebenenfalls Hinzuziehung eines Fachanwaltes für Insolvenzrecht oder anderer Fachbereiche, um eine mögliche Haftung frühzeitig zu verhindern.
7.
Haftung des Insolvenzverwalters – Versicherungsschutz
55 Durch Übernahme der originären Aufgabe findet – neben unzähligen weiteren Rechtsvorschriften – auch § 60 Abs. 1 InsO mit seiner weitreichenden Formulierung Anwendung. Der Verwalter haftet persönlich allen Beteiligten gegenüber bei schuldhafter Verletzung von Pflichten. Mangels Vertragsverhältnis zum Gericht oder zu den Gläubigern kann er diese Haftung vertraglich nicht begrenzen. Eine Haftungsbegrenzung wäre zudem nicht zulässig. Ebenso reduziert sich die Haftung nicht durch Hinzuziehen von Experten, da hier die Haftung als Erfüllungsgehilfe nach § 278 BGB greift.8) ___________ 8) BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, Rz. 17, ZIP 2016, 25.
1416
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Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
§ 41
Meist fühlt sich der Verwalter gut geschützt, weil er eine Haftpflichtversicherung abge- 56 schlossen hat. Dieses Sicherheitsgefühl ist häufig trügerisch. Der Verwalter sollte daher auf die Fallstricke beim Einkauf der eigenen Absicherung achten. 7.1
Potentielle Fallstricke in den Versicherungsbedingungen des Verwaltervertrags
Beispiele für negative Klauseln in den Versicherungsverträgen lassen sich zahlreiche in den 57 Bedingungen finden, wie sie von namhaften und marktführenden Versicherungen verwendet werden. x
Kündigung bestehender Versicherungsverträge der Schuldnerin: Es kommt zu einem Ereignis, welches nicht versichert ist, weil der Verwalter den bestehenden Versicherungsschutz der Schuldnerin gekündigt hat. In der Praxis geschieht dies häufig, weil der Verwalter der irrigen Meinung ist, nach Einstellung des Betriebes oder Betriebsteilen, würden keine Risiken mehr bestehen und wenn doch, tritt die Berufshaftpflichtversicherung ein (siehe hierzu auch die Ausführungen zu „Versicherungsfalldefinitionen“ unter Rz. 178– 184). Hierzu heißt es in Teil 2 A. II. Abs. 8 der AVB (Allgemeine Versicherungsbedingungen) für Insolvenzverwalter: „Mitversichert sind insbesondere Ansprüche, welche darauf beruhen, dass Versicherungsverträge nicht oder nicht ordnungsgemäß abgeschlossen, erfüllt oder fortgeführt werden, es sei denn, es wurde bewusst davon abgesehen.“
Der Versicherungsschutz des Insolvenzverwalters greift also regelmäßig nicht, wenn eine solche Klausel als vereinbart gilt. Auch der Generalausschluss „wissentliche Pflichtverletzung“ ist zu beachten. x
Vollumfängliche Betriebsfortführung: Nicht versichert ist hier z. B. die Herstellung oder der Vertrieb von Produkten, da es in Teil 2 A. II. Abs. 2 AVB – Versicherungsumfang lautet: „Im Rahmen der versicherten Tätigkeit sind, auch bei Fortführung eines Betriebes, Haftpflichtansprüche aus einer Kalkulations-, Organisations- oder Investitionstätigkeit mitversichert.“
x
7.2
In der Vermögensschadenhaftpflicht-Versicherung des Verwalters sind zudem Personen- und Sachschäden keine mitversicherten Schäden, was eine entsprechende Absicherung ausschließt, insbesondere weil die versicherte Tätigkeit des Verwalters eine Bürotätigkeit ist und kein Produktionsunternehmen oder Software etc. Wichtige Zusatzklauseln im Versicherungsvertrag des Verwalters
Es ist darauf zu achten, dass der Versicherungsschutz möglichst umfangreich ausgestaltet 58 ist. Empfohlene Praxis ist die Erfahrung eines Fachmannes einzuholen. Mitversichert sollten u. a. sein: x
Bestellung als (vorläufiger) Verwalter bzw. Gutachter,
x
(vorläufige) Sachwalterstellung bei Eigenverwaltung,
x
(fakultativer) Restrukturierungsbeauftragter,
x
Insolvenzgeld-Vorfinanzierung und Abrechnung,
x
Betriebsfortführung (hier wird es immer Einschränkungen geben, die nur über die Betriebshaftpflichtversicherung der Schuldnerin abgedeckt werden können),
x
öffentlich-rechtliche Ansprüche aus Abgabenrecht,
x
Sozien, Angestellte, freie Mitarbeiter ohne Regressmöglichkeit durch den Versicherer,
x
Liquidatoren/Abwickler,
x
Sanierungsmoderator,
Schulz
1417
§ 41
Teil V Einzelfragen
x
Treuhänder und (Gläubiger-)Ausschussmitglied
x
Kündigung bzw. Nichtabschluss von Versicherungsverträgen.
7.3
Mitversicherung von Richtern und Rechtspflegern
59 Zwischenzeitlich wird die Erweiterung des Versicherungsschutzes „Berufshaftpflicht des Insolvenzverwalters“ (Jahrespolice oder Einzelverfahren) durch Mitversicherung von Richtern bzw. Rechtspflegern äußerst kritisch betrachtet. So teilt bspw. der Bundesarbeitskreis Insolvenzgerichte e. V. (BAKinso) im Newsletter September 2015 mit, dass solche Regelungen abgelehnt werden sollten. Ein entsprechender Aufsatz von von der Meden9) bekräftigt diese Meinung auch nach kontroverser Ausarbeitung von Siemon10) und seiner selbst i. V. m. Römermann11). 60 Es soll kein Anschein einer für sachfremde Erwägungen anfälligen Justiz erweckt werden und jegliche Auslegung in diese Richtung muss vermieden werden. Vermögenswerte Vorteile sollen keinesfalls gewährt werden, da dies im Kontext § 332 Abs. 2 StGB als Bestechlichkeit gewertet werden könnte. Der Versicherungsschutz muss daher dahingehend geprüft werden. 7.4
Haftungsfälle des Insolvenzverwalters
61 Mögliche Haftungsrisiken ergeben sich z. B. aus: x
Nichtbeachtung von Anfechtungsmöglichkeiten, Abtretungen und Pfändungen,
x
fehlerhafte Berücksichtigung der Rangordnung der Insolvenzforderungen,
x
keine Einholung von Vergleichsangeboten zum Schutz der Masse, z. B. im Bereich Versicherungen
x
unterlassener Widerspruch gegen unbegründete Forderungen,
x
unrichtige Bewertung von Massegegenständen bei Veräußerung,
x
Nichtaufnahme festgestellter Forderungen ins Schlussverzeichnis,
x
Begründung vermeidbarer Masseschulden,
x
Fehler bei der Verwertung der Masse,
x
eingegangene Masseverbindlichkeiten können aus verbliebener Masse nicht bedient werden,
x
(Pflicht-)Verletzung der Rechte von Ab- und Aussonderungsberechtigten,
x
falsche bzw. unzweckmäßige Prozessführung,
x
Fehler oder Versäumnisse bei der Zerschlagung/Fortführung der Unternehmen, z. B. durch unzureichende Dokumentation bei wirtschaftlichen Ermessensentscheidungen,
x
Veruntreuung durch Mitarbeiter (siehe dazu auch „Vertrauensschadenversicherung“ unter Rz. 139 ff.),
x
(unbekannte) Versicherungsfälle, z. B. Eigenschäden des insolventen Unternehmen, wurden nicht ermittelt oder weiterverfolgt und dadurch nicht der Masse zugeführt,
x
besondere abgabenrechtliche Themen, z. B. Zoll oder Umsatzsteuer.
___________ 9) v. d. Meden, Mitversicherung von Richtern: Gefahr der Korruption in der Insolvenzverwaltung, FCH Blog, FP 07-08/2015, S. 164, abrufbar unter v. d. Meden, Mitversicherung von Richtern: Gefahr der Korruption in der Insolvenzverwaltung, FCH Blog (Abrufdatum: 5.12.2022). 10) Siemon, ZInsO 2015, 1968. 11) Römermann, ZInsO 2015, 2267.
1418
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 7.5
§ 41
Ergänzender Betriebshaftpflicht-Versicherungsschutz
Die Haftpflichtversicherung des Insolvenzverwalters ist in der Regel als Vermögensschaden- 62 haftpflicht ausgestaltet. Es sind also grundsätzlich keine Personen- oder Sachschäden, sondern Schäden an Vermögen abgedeckt. Führt der Insolvenzverwalter den Betrieb der Schuldnerin i. R. der Insolvenz fort, so ergeben sich sämtliche Haftungsrisiken, die aus dem Betrieb erwachsen und denen jede Geschäftsleitung unterliegt. Diese Haftungsrisiken werden zunächst über die Betriebshaftpflichtversicherung der In- 63 solvenzschuldnerin abgedeckt. Was aber, wenn dieser Versicherungsschutz nicht ausreicht, lückenhaft oder die Prämie unbezahlt ist? Was, wenn Obliegenheiten verletzt wurden und der Versicherer so von der Leistung frei ist? Ist es die Aufgabe des Verwalters, den Status des Vertrages genau zu prüfen und solche Hemmnisse zu erkennen? Grundsätzlich wird diese Frage bejaht, zumal sich der Verwalter externer Fachleute bedienen kann. Trotz sorgfältiger Beurteilung kann es zu Schadensfällen kommen, die massebelastend sind 64 und nicht von einer bestehenden Versicherung der Schuldnerin übernommen werden. Hier stellt sich die Frage, ob der Verwalter zum Schadensersatz verpflichtet ist. Die bestehende Berufshaftpflichtversicherung des Verwalters wird zumindest in die Schadenabwehr eintreten, aber nur dann, wenn es sich um einen grundsätzlich versicherten Schaden handelt. In allen anderen Fällen wird nicht nur die Leistung, sondern auch die Abwehr verweigert. Werden aber z. B. Ansprüche aus mangelhaften Produkten i. R. der erweiterten Produkt- 65 haftung oder der Herstellung von KFZ-Teilen oder Ansprüche aus Umweltschäden an den Verwalter herangetragen, so greift die Berufs-Haftpflichtversicherung des Insolvenzverwalters regelmäßig nicht, weil diese Bereiche über eine „normale“ Police des Insolvenzverwalters nicht versicherbar sind. Um sich gegen diese unüberschaubaren Unwägbarkeiten abzusichern, gibt es ergänzenden 66 Versicherungsschutz, der als Einzelfallpolice oder als Jahresvertrag gestaltet werden kann, und ein oder alle Verfahren des Verwalters umfasst. Hier sind bspw. auch Streitigkeiten aus Werkverträgen versicherbar. 8.
Vorwurf strafbarer Handlungen (Strafrecht)
Der Verwalter übernimmt die volle Verantwortung für das Verfahren und die damit einher- 67 gehenden notwendigen Abwicklungen. Nicht selten kommt es z. B. zu „Racheakten“ beteiligter Personen, die in Strafverfahren münden können. Regelmäßig ist dies bei Personenoder Umweltschäden der Fall. Bei schwerwiegenden Vorwürfen wird sich der Verwalter nicht selbst oder durch Kollegen der „eigenen“ Kanzlei, sondern durch externe Spezialisten vertreten lassen. Hier können hohe Kosten entstehen, die über eine Versicherungslösung abgedeckt werden können. Aus langjähriger Erfahrung ist es für jeden Verwalter ratsam einen solchen kostengünstigen, aber im Ernstfall sehr wertvollen Versicherungsschutz abzuschließen. Hier ist jedoch wichtig, keinen sog. Annex-Straf-Rechtsschutz zu versichern, da es hier 68 Limitierungen auf die Gebührenordnung (RVG/BRAGO) gibt, was aufgrund der oft geringen Streitwerte auch zu geringen Ersatzleistungen führt. Eine vollwertige Absicherung hingegen ersetzt auch angemessene Honorare. 9.
Vermögensverlust durch die Verwaltung (Vertrauensschaden)
Die weit überwiegende Mehrzahl der Verwalter und der am Verfahren beteiligten Personen 69 sind integer und handeln ausschließlich i. S. des Verfahrens. Es ist dennoch in der Vergangenheit zu namhaften Fällen gekommen, bei denen Masse veruntreut wurde. Es muss nicht der Verwalter selbst die Schäden verursachen; vielmehr können dies auch Personen Schulz
1419
§ 41
Teil V Einzelfragen
oder Organisationen aus seinem Umfeld und Netzwerk sein. Letztlich bleibt die Haftung beim Verwalter oder der Schaden bei den Gläubigern. Insofern sehen es Insolvenzgerichte gerne, wenn der Verwalter für das Verfahren eine „Vertrauensschadenversicherung“ abgeschlossen hat. Dies reduziert die Möglichkeit von Masseverlusten durch unerlaubte Handlungen weitgehend. 70 In guten Konzepten sind neben den Angestellten auch freie Mitarbeiter versichert; darüber hinaus auch die Dienstleister des Verwalters, wie Buchhalter, Steuerberater oder externe Verwertungsgesellschaften etc. In einigen Versicherungsbedingungswerken ist die Masse auch gegen Vermögensverluste durch den Verwalter selbst geschützt, was eine zusätzliche Sicherheit darstellt und insbesondere Insolvenzgerichte und Gläubiger beruhigt. 71 Mitversichert sollten Schäden an Eigen- sowie Fremdvermögen sein und eine unbegrenzte Rückwärtsdeckung (Versicherungsschutz für Handlungen der Vergangenheit) bestehen; ebenso Vertragsstrafen, Raub, Diebstahl, Fälschung, „Fake President“, „Man-in-the-middle“, Phishing, Pharming und Spyware sowie der Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Sinnvoll ist auch ein Kostenersatz zur Minderung des Reputationsschadens, um den Ruf wiederherzustellen. 72 Auch hier gilt, dass es viele, zum Teil auch kostenfreie, Mehrleistungen bei den Risikoträgern gibt, diese jedoch nicht unaufgefordert angeboten werden. III.
Risikomanagement
1.
Risikotransfer, Unternehmensabläufe und Versicherungsschutz
73 Die Beurteilung des notwendigen Versicherungsschutzes ist nur möglich, wenn genaue Kenntnisse zur Tätigkeit und Betriebsart der Insolvenzschuldnerin vorliegen und die (bisher durchgeführten) Prozessabläufe bekannt sind. Diese Risikoanalyse ist zwingend notwendig, um beurteilen zu können, welcher Versicherungsschutz sinnvoll und angemessen erscheint. Im zweiten Schritt muss eine Detailprüfung der vorhandenen Verträge bzw. des neu abzuschließenden Schutzes durchgeführt werden. Der Verwalter hat abzuwägen, ob er Schutz einkaufen oder Prämie sparen möchte. Was muss, soll oder kann in welchem Umfang und in welcher Höhe versichert werden? Bei der Risikoanalyse sind z. B. die Prüfung der „Ausschlüsse“ in den Versicherungsbedingungen und der „vereinbarten Obliegenheiten“ zu empfehlen. 1.1
Masserisiken nach Ihrer Art
74 Beispielhafte Auflistung zu möglichem Versicherungsschutz, deren Entfaltungswirkung und Eintrittswahrscheinlichkeit häufig unterschätzt wird: Bilanzrisiken I – Sachwerte
Maschinen, Gebäude, KFZ, Inventar, EDV, Vorräte
Bilanzrisiken II – Ertragsverluste
Produktionsausfall, Missbrauch des Vertrauens etc.
Bilanzrisiken III – Transporte
Bezüge und Versendungen
Management-Risiken I – Haftung
z. B. aus Betrieb, Produkt, Umwelt, Datenschutz, Gleichbehandlung
Management Risiken II – Rechtliches
z. B. Strafrecht, Schuldrecht, Sozialrecht, Compliance
Management Risiken III – Unternehmenszweck
Produktion/Dienstleistung, Standort, Gemeinnützigkeit
Liquidität/Finanzrisiken
z. B. Forderungsausfall, Bürgschaften
Mobilität
z. B. Fuhrpark
Personalrisiken
Benefits für Mitarbeiter, z. B. durch Arbeitsverträge
1420
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 1.2
§ 41
Masserisiken aufgrund von Obliegenheiten
Innerhalb der bestehenden Versicherungslösungen gibt es auferlegte Regeln der Versicherer, 75 die das Risiko und den Schadeneintritt und somit die Leistungsverpflichtung der Versicherer reduzieren sollen. Der Versicherer kann zwar das Einhalten selbiger nicht einfordern oder einklagen, er kann jedoch die Versicherungsleistung – in Abhängigkeit der Schwere des Verschuldens – reduzieren. Daher muss sich der Verwalter folgende Fragen stellen: x
Welche vertraglichen Obliegenheiten gibt es? (Diese sind abhängig von der Vertragsart)
x
Werden diese Obliegenheiten umfassend beachtet? Zum Beispiel: x
Revision der elektrischen Licht- und Kraftanlagen;
x
Prüfung der ortsveränderlichen Elektrogeräte nach DGUV 3;
x
Garagenverordnung/Stellplatzverordnung und somit das Abstellen von Kraftfahrzeugen in Gebäuden;
x
Führen eines Maschinenbuches;
x
Wartung/Prüfung von Brandschutz-Anlagen (z. B. Brandmeldeanlage, Brandschutztüren, Rauch-/Wärmeabzüge, Brandschutztüren, Sprinkler- oder Sprühanlagen) sowie sonstigen Sicherheitseinrichtungen, wie z. B. Einbruchmeldeanlage etc.;
x
weitere sonstige behördliche Verpflichtungen;
x
Datensicherung und Updates;
x
Baugenehmigungen (wurde so gebaut, wie genehmigt? Gerade bei älteren Objekten oder im ländlichen Raum ist dies wichtig).
x
Müssen Gefahrerhöhungen, wie z. B. Gerüst, Leerstand, Umzug, Neu- und Anbau, Änderung der Betriebstätigkeit oder Beendigung der Aufschaltung auf einen Wachdienst angezeigt werden?
x
Gibt es veränderte Tätigkeitsfelder oder Liefergebiete?
Hier einen schnellen Überblick zu bekommen ist das Gebot der Stunde nach Übernahme 76 des Mandates für den Verwalter. Eine schnelle, weitreichende Lösung könnte es sein, dass die Versicherer bestätigen, dass alle Obliegenheiten ab einem bestimmten Datum als erfüllt angesehen werden. In der Praxis werden einen derartigen „Freifahrtsschein“ die meisten Versicherer jedoch nicht ausfertigen. Somit kommen wieder neue Verträge „ins Spiel“, da hier die Obliegenheiten in der Zeit des Verwalters liegen. 2.
Prüfung des Versicherungsschutzes der Insolvenzschuldnerin
Bestehende (und kürzlich aufgelöste) Versicherungsverträge müssen systematisch gesichtet, 77 erfasst und geprüft werden. Diese Aufgabe kann, wie oben beschrieben, ausgelagert werden. Dies erscheint häufig sinnvoll, weil es Ressourcen beim Verwalter schont, weiterer Sachverstand hinzukommt und gleichzeitig die Haftung des Verwalters minimiert wird. Im Sinne der „Grundsätze ordnungsgemäßer Insolvenzverwaltung“ und den damit verbun- 78 denen Qualitätsrichtlinien scheint es angemessen, einheitliche und strukturierte Abarbeitungsprozesse beim Verwalter zu installieren sowie hierfür jeweils verantwortliche Personen zu benennen. 3.
Checkliste für eine Erstbestimmung
Um einen Überblick der bisher bestehenden Absicherung zu erhalten, bietet es sich an, dass 79 die Checkliste abgearbeitet wird. Im Anschluss oder auch schon während der Erarbeitung kann mit den gewonnenen Erkenntnissen die Masse gestärkt werden und Masserisiken reduziert werden. Schulz
1421
§ 41
Teil V Einzelfragen Checkliste
1
Auflistung aller bestehenden Versicherungsverträge (Gesellschaft, Versicherungsnummer, versichertes Interesse, Versicherungsumfang, Beitrag, Fälligkeit, Dauer) – evtl. über externe Dienstleister
2
Zahlungsstand zu jedem Vertrag (Mahnverfahren, Leistungsfreiheit?)
3
Liegen vollständige und aktuelle Unterlagen, Policen, Bedingungen etc. vor?
4
Sind Versicherungsumfang und Prämie angemessen? Stimmt die Risikobeschreibung? Sind alle Betriebsstandorte aufgeführt? Besteht Über- oder Unterversicherung?
5
Sind massestärkende Elemente vereinbart? Rückvergütungen, Gewinnbeteiligungen, Beitragshöhe nach Kennziffern wie Umsatz, Mitarbeiterzahl etc. Können Rückerstattungen von Vorausprämien gefordert werden, z. B. wegen Wegfall von Risikoorten? Wurden alle Ersatzleistungen aus Schäden eingefordert? Liegt eine Übersicht offener Schäden vor?
6
Zu welchen Risiken besteht kein Versicherungsschutz? Wird „vorläufige Deckung“ benötigt?
7
Zu welchem Vertrag soll Nichteintritt nach § 103 InsO erklärt werden? Versicherungen sind in der Regel Dauerschuldverhältnisse. (Besonderheiten zu Haftpflichtversicherung, D&O etc. werden später erläutert, siehe Rz. 165–173, 177–193)
8
Welche bereits gezahlten Prämien (z. B. Jahresprämien bei einer Insolvenz im April) können in welcher Höhe zurückgefordert werden, um keinen Gläubiger (hier Versicherer) zu bevorzugen?
9
Sind Verletzungen von Vertragspflichten/Obliegenheiten erkennbar, die zur Versagung des Versicherungsschutzes führen können? (siehe auch Rz. 75, 91)
10
Gibt es Optimierungsmöglichkeiten durch Risikomanagement?
11
Laufende Anpassung des Versicherungsschutzes
12
Einarbeitung des Versicherungsschutzes in das Berichtswesen
13
Risiken und Massestärkungsmöglichkeit aus den betrieblichen Versorgungssystemen und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen, z. B. Versorgung der Geschäftsführer, betriebliche Altersversorgung, Fragen der Unverfallbarkeit und sonstige Verpflichtungen
80 Die Alternative ist unmittelbar einen Versicherungsmakler zu beauftragen (siehe Rz. 29 ff.), der diese Insurance Due Diligance durchführt. Mit diesem lassen sich in einer abgestimmten Vorgehensweise auch Priorisierungen der Themenfelder klären und z. B. auch die Zeitaufwendungen des folgenden Abschnittes vermeiden sowie Haftungen reduzieren. 4.
Versicherungsvermittler der Schuldnerin
81 Es gehört zu den Aufgaben des bisherigen Versicherungsvermittlers, dem Verwalter verbindliche Übersichten (siehe Rz. 79) zu den bestehenden Verträgen mit den dort genannten Angaben auszuhändigen. 82 Erfragt werden sollte auch: x
Bestehen weitere Verträge zur Schuldnerin?
x
Wurden Verträge kürzlich aufgelöst und wenn ja, welche?
x
Wann wurden zuletzt Prüfungen/Anpassungen zu den einzelnen Verträgen vorgenommen?
x
Sind Umstände bekannt (z. B. Obliegenheitsverletzungen), die zur Versagung des Versicherungsschutzes führen können (z. B. die vorgeschriebene Prüfung der elektrischen Anlagen in Betriebsgebäuden)?
x
Gilt zu einzelnen Verträgen eine Nachhaftung vereinbart, also Versicherungsschutz trotz Aufhebung oder kann eine solche hinzugekauft werden?
1422
Schulz
§ 41
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
Es gilt diese Dienstleistung zu nutzen (ggf. inkl. Bestätigung des Versicherers) und abzu- 83 wägen, ob mit dem bisherigen Vermittler zusammengearbeitet werden soll. Mögliche Argumente zur kritischen Hinterfragung des bisherigen Dienstleisters wurden genannt. IV.
Rechtlicher Exkurs
1.
Allgemeine Rechtsgrundlagen für den Versicherungsvertrag
Grundsätzlich gelten die Vorschriften der InsO, z. B. § 103 InsO. Neben BGB und HGB 84 finden sich die anzuwendenden Rechtsvorschriften im Versicherungsvertragsgesetz (VVG), wovon nachfolgend wenige, aber bedeutende erläutert werden. Darüber hinaus gelten die jeweiligen allgemeinen oder besonderen Versicherungsbedingungen sowie vereinbarte Klauseln und möglicherweise auch Regelungen des Maklers. 1.1
Vorvertragliche Anzeigepflicht (§ 19 VVG)
Hat die Schuldnerin gegen Pflichten aus dem Versicherungsvertrag verstoßen, wirken mög- 85 liche negative Folgen (z. B, Rücktrittsrecht oder Leistungsfreiheit der Versicherer) fort, wenn der Verwalter in den Vertrag eintritt. Daher ist zu prüfen, ob „Risikoangaben, Fragebögen, Anträge etc.“ in den Versicherungs- 86 unterlagen zu finden sind und welche Angaben vor Antragsstellung oder Vertragsänderung gemacht wurden. Alles wonach der Versicherer in Textform fragt, ist Vertragsgrundlage und bindend. Sollten die dortigen Angaben fehlerhaft oder falsch sein, kann es entsprechende Folgen – insbesondere Leistungsverweigerung im Schadenfall – nach sich ziehen, z. B. Bauart des Gebäudes: Holzständer statt Beton. 1.2
Gefahrerhöhung (§ 23 VVG)
Ohne Zustimmung des Versicherers darf der Versicherungsnehmer die Gefahr nicht er- 87 höhen oder eine solche Erhöhung zulassen. Erkennt der Versicherungsnehmer eine solche Gefahrerhöhung, ist er zur Meldung verpflichtet. Beispiel: Kündigt der Verwalter z. B. den Vertrag mit dem Bewachungsdienst für das Betriebsgelände, obwohl dies im Versicherungsvertrag als zwingende Auflage vereinbart war, so findet eine sofortige Gefahrerhöhung statt, die negative Folgen auf den Versicherungsschutz haben kann. (u. a. § 24 VVG) 1.3
Kündigung bzw. Prämienerhöhung wegen Gefahrerhöhung (§§ 24, 25 VVG)
Verletzt der Versicherungsnehmer seine Pflicht nach § 23 VVG vorsätzlich (Leistungs- 88 freiheit nach § 26 Abs. 1 VVG) oder grob fahrlässig (anteilige Leistung nach Schwere des Verschuldens § 26 Abs. 1 VVG), so kann der Versicherer fristlos kündigen. Bei einfacher Fahrlässigkeit steht dem Versicherer ein Kündigungsrecht unter Einhaltung einer Frist von einem Monat zu. Kündigt der Versicherer nicht, kann er eine höhere Prämie verlangen.
89
Eine Veränderungen des Risikos während der Vertragslaufzeit muss daher mit Versicherer 90 idealerweise vorab abgestimmt werden, um so nicht von einer fristlosen Kündigung (teilweiser) Leistungsfreiheit im Schadenfall oder deutlichen Prämienerhöhung überrascht zu werden.
Schulz
1423
§ 41 1.4
Teil V Einzelfragen Obliegenheitsverletzung (§§ 28, 58 VVG)
91 In den allgemeinen oder besonderen Versicherungsbedingungen, Nachträgen sowie Klauseln und Nebenabreden können zahlreiche Vereinbarungen getroffen sein, die den Versicherungsnehmer gegenüber dem Versicherer zur Erfüllung unterschiedlichster Aufgaben verpflichten. In der Regel handelt es sich um vorbeugende Maßnahmen, um den Eintritt des Versicherungsfalles zu vermeiden. Beispiel: So schreiben bspw. die AFB (Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Feuerversicherung) vor, dass in regelmäßigen Abständen ein Prüfzeugnis der elektrischen Anlagen für die Feuerversicherung erstellt und vorgelegt werden muss. Diese Regelung kann sowohl für die Gebäudeals auch Inhalts- oder Maschinenversicherung gelten. Um eine Verletzung der vertraglichen Obliegenheit zu vermeiden, sollte nicht nur die letzte Vorlage des Prüfzeugnisses abgefragt werden, sondern auch geklärt werden, wann die Wiederholungsprüfung ansteht und ob ggf. festgestellte bzw. aufgetretene Mängel beseitigt wurden oder noch innerhalb der Fristen erledigt werden. 92 Tritt der Verwalter in bestehende Verträge ein, so muss er frühere Obliegenheitsverletzungen gegen sich gelten lassen (Rz. 75). 93 Neuere Bedingungswerke versprechen den vollen Versicherungsschutz auch bei grober Fahrlässigkeit. Diese werbewirksame Aussage wird oft durch Einschränkungen aufgehoben. Zum Beispiel, wenn die Anrechnung von Fahrlässigkeit bei Verletzung von Sicherheitsvorkehrungen oder Obliegenheitsverletzungen doch greift. Immer häufiger finden sich Spezialklauseln in den Versicherungsverträgen, die eine Anrechnung von Obliegenheitsverletzungen oder grober Fahrlässigkeit auf z. B. 20 % des Schadens oder auf eng definierte Repräsentanten begrenzen. 1.5
Zahlungsverzug bezüglich Erstprämie (§ 37 VVG)
94 Wird die einmalige oder erste Prämie nicht rechtzeitig gezahlt, kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten. Ist die Prämie zum Zeitpunkt des Schadenfalls hingegen noch nicht gezahlt, ist der Versicherer nicht zur Leistung verpflichtet. 95 Hiervon abweichend ist der Versicherer weiterhin verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer die Nichtzahlung nicht zu vertreten hat. Denkbar wäre dies z. B. immer dann, wenn der Versicherungsschein noch nicht vorgelegt wurde oder eine vorläufige Deckung besteht, denn der Versicherungsnehmer hat ein Rückbehaltungsrecht der Prämie bis zur Vorlage des Versicherungsscheins. Er muss dann jedoch unverzüglich, spätestens nach 14 Tagen zahlen. In jedem Fall muss der Verwalter dies prüfen (lassen). 96 In guten Versicherungslösungen von Versicherungsmaklern ist es denkbar, dass Erstprämien den Folgeprämien gleichgestellt werden, was eine weitere Verbesserung mit sich bringt. Diese Details zu prüfen ist mitunter anspruchsvoll und sollte daher einem Experten überlassen werden. 97 Gerade bei international tätigen, großen gewerblichen Firmen oder industriellen Unternehmen können verschiedene Versicherungskonstrukte darüber hinaus ein besonderes Augenmerk erfordern. Immer dann, wenn es eine offene Rückversicherung des führenden Versicherers oder aber eine Quotenabsicherung gibt, ist es denkbar, dass hier abweichende Regelungen getroffen sind. Übernimmt der führende Versicherer dafür die Verantwortung, z. B. durch eine Konsortialklausel, ist der Vorgang anders zu bewerten, als wenn der Versicherungsnehmer (hier das insolvente Unternehmen) bei jedem Risikoträger einen separaten Anteil „einkauft“. Dies ist z. B. dann denkbar, wenn es einen firmenverbundenen Vermittler
1424
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
§ 41
gab oder das insolvente Unternehmen beim Versicherer direkt die jeweiligen Beteiligungen eingekauft hat. 1.6
Zahlungsverzug bezüglich Folgeprämie (§ 38 VVG) – „qualifizierte Mahnung“
Wird eine Folgeprämie nicht rechtzeitig gezahlt, kann der Versicherer dem Versicherungs- 98 nehmer auf dessen Kosten in Textform eine Zahlungsfrist bestimmen, die mindestens zwei Wochen betragen muss. Die Bestimmung ist nur wirksam, wenn sie die rückständigen Beträge der Prämie, Zinsen und Kosten im Einzelnen beziffert und die Rechtsfolgen angibt, die nach den Absätzen 2 und 3 des § 38 VVG (Leistungsfreiheit und Kündigung) mit dem Fristablauf verbunden sind; bei zusammengefassten Verträgen sind die Beträge jeweils getrennt anzugeben. Zumeist sendet der Versicherer eine Erinnerung, wenn Folgeprämien nicht rechtzeitig 99 bezahlt werden. Das stellt häufig keine qualifizierte Mahnung dar, so dass die Schuldnerin weiterhin Versicherungsschutz genießt und auf die entsprechende Mahnung warten kann. 1.7
Vorzeitige Vertragsbeendigung (§ 39 VVG)
Wird ein Versicherungsvertrag vor Ablauf der Versicherungsperiode beendet, steht dem 100 Versicherer nur derjenige Teil der Prämie zu, für den Versicherungsschutz bestanden hat; ggf. kann eine Geschäftsgebühr verlangt werden. Ist die Prämie des Versicherungsvertrages durch die Schuldnerin im Voraus bezahlt worden 101 und der Vertrag wird durch die Versicherung vorzeitig beendet, so entstehen Masseansprüche. Auch hier kann es sein, dass der „alte“ Vermittler nicht mitwirkt, da sein Vergütungsschicksal am Prämienschicksal hängt. 1.8
Vorläufiger Versicherungsschutz/Deckung (§§ 49 ff. VVG)
Findet der Verwalter keinen Versicherungsvertrag zu einem zu versichernden Risiko vor, 102 wendet er sich an seinen Versicherungsvermittler oder ein Versicherungsunternehmen und beantragt entsprechenden Versicherungsschutz. Dies kann im Wege der „vorläufigen Deckung“ erfolgen, bis der Verwalter genauen Einblick in die Verhältnisse der Schuldnerin gewonnen hat. Kommt kein Hauptvertrag zustande (§ 50 VVG), so steht dem Versicherer zeitanteilig Prämie zu. In der Praxis gibt es mannigfaltige Ausgestaltungen zu diesem Thema. Häufig wird der 103 Versicherungsvermittler kostenfreie oder günstige Lösungen finden, um die Haftung des Verwalters zu minimieren und keine „unnötigen“ Masseverbindlichkeiten zu begründen. 1.9
Unterversicherung (§ 75 VVG)
Nach § 75 VVG leistet der Versicherer nur anteilig im Verhältnis, wenn die Versicherungs- 104 summe zum Zeitpunkt des Schadensfalles erheblich niedriger ist als der Versicherungswert. Daher sind Versicherungsverträge mit „Unterversicherungsverzichtsklausel“ als vorteilhaft einzustufen. Dennoch gilt auch die Unterversicherung in derartigen Fällen zu beachten. Auch ein voll- 105 ständiger Unterversicherungsschutz schützt nicht vor einer unzureichenden Versicherungssumme. Eine festgelegte und vereinbarte Versicherungssumme kann schlichtweg zu gering bemessen sein und der Versicherer zahlt nicht mehr, als vertraglich vereinbart gilt. Beispiel: Wurde eine Versicherungssumme von 1 Mio. € eingekauft und es gilt bedingungsgemäß Unterversicherungsverzicht bis 2 Mio. € vereinbart, so bedeutet es lediglich, dass der Versicherer das VorSchulz
1425
§ 41
Teil V Einzelfragen
liegen der Unterversicherung nicht prüft. Wenn im Schadenfall dann ein Gebäudekomplex im Wiederherstellungswert von 2 oder 10 Mio. € verbrennt, dann leistet der Versicherer die vereinbarte Versicherungssumme von 1 Mio. € komplett. Sie ist jedoch nicht ausreichend. Das wiederum führt zu einer unnötigen Kürzung der Insolvenzmasse und kann eine Inanspruchnahme des Verwalters begünstigen. 106 Praxistipp: Der Verwalter reduziert sinnvoll bei stillgelegten Bereichen (z. B. für Gebäude oder Betriebseinrichtung) die Versicherungssumme auf den Zeitwert (siehe Rz. 109) und benennt die relevanten Positionen. Dies entlastet die neuen Prämienverbindlichkeiten und somit auch die Masse. 1.10 Herbeiführung des Versicherungsfalles (§ 81 Abs. 2 VVG) 107 Eine grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles berechtigt den Versicherer seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Damit wurde das „Alles oder Nichts-Prinzip“ aufgehoben. In modernen Konzepten ist der maximale Abzug demnach auf z. B. 20 % begrenzt. 1.11 Der Versicherungswert (§ 88 VVG, § 5 AFB) 108 In den jeweiligen Versicherungsbedingungen (unterschiedlich nach Versicherungssparte) bzw. dem VVG werden unterschiedliche Werte verwandt, nach denen Entschädigungen im Schadensfall geleistet werden. Insofern ist es wichtig, – soweit möglich – eine Neuwertversicherung abzuschließen. 109 Die Definition nach § 88 VVG lautet: Versicherungswert ist der Wiederbeschaffungsbzw. Wiederherstellungswert zum Schadenszeitpunkt im neuwertigen Zustand unter Abzug des sich aus dem Unterschied alt und neu ergebenden Minderwertes. Das bedeutet Abzüge bei der Entschädigung für gebrauchte Gegenstände. 110 Gemäß § 5 AFB (Allgemeine Bedingungen für die Feuerversicherung) wird im Schadenfall der Neuwert (ortsüblicher Neubauwert) ersetzt, während bei einem Zeitwert von weniger als 40 % zunächst nur dieser geringere Ansatz gemäß § 88 VVG verwandt wird (Gebäude, Maschinen, Geschäftsversicherung etc.). Für Hypothekengläubiger gelten ggf. abweichende Regelungen, nach §§ 142 ff. VVG. 111 Ebenso gibt es hier die vertragliche Möglichkeit der „goldenen Regel“, welche im Schadenfall „Gold wert“ ist. Zu guter Letzt gibt es noch den „gemeinen Wert“, der gewissermaßen den reinen Materialwert oder „Schrottwert“ darstellt. 112 In den einzelnen Versicherungssparten werden unterschiedliche Begrifflichkeiten und Basisdaten verwendet, um eine klare Ausgangsbasis und Hochrechnungsmöglichkeit zum aktuellen Neuwert zu schaffen. Man spricht dann von „gleitendem Neuwert“. So passt sich der Versicherungswert und auch die Prämienabrechnung den Kostensteigerungen automatisch an. In der Gebäudeversicherung findet man den „Wert 1914“. Bei gewerblichen Gebäuden die Positionen „Wert 1970“, SK 1707 oder SK 1708, „Wert 1980“, „Wert 2000“ o. Ä. In der Maschinenversicherung „Wert 3/71“ etc. 1.12 Insolvenz des Versicherungsnehmers (§ 110 VVG) 113 Ist über das Vermögen des Versicherungsnehmers das Insolvenzverfahren eröffnet, kann der Dritte, wegen des ihm gegen den Versicherungsnehmer zustehenden Anspruchs, abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers verlangen.
1426
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 2.
§ 41
Gläubigerrechte
Sind z. B. Gebäude oder Maschinen mit Gläubigerrechten belastet, so empfiehlt es sich 114 dringend, mit den Gläubigern über den aktuellen Stand des Versicherungsschutzes zu kommunizieren. Die bloße Annahme, der Gläubiger wird aus Eigeninteresse für Versicherungsschutz sorgen, birgt ein erhebliches Haftungsrisiko. Hat der Gläubiger keine Kenntnis von fehlendem oder mangelndem Versicherungsschutz, so könnte er ggf. auf den Verwalter zurückgreifen. In der Praxis dienen häufig z. B. Firmengebäude oder Maschinen, Banken, Kapitalgebern 115 oder Leasinggesellschaften etc. als Sicherheiten. Es ist zu klären, ob 100 % des geschätzten Veräußerungswertes dem Rechteinhaber zustehen, also eine wertausschöpfende Belastung vorliegt, oder ob noch Masse generiert werden kann. Dient das Objekt höchstwahrscheinlich nicht dazu, Masse zu generieren, so verlagert der Verwalter das Besorgen von Versicherungsschutz auf den entsprechenden Gläubiger. Er hat ein entsprechendes Versicherungsinteresse. Die Klärung der Rechte empfiehlt sich in jedem Fall auch deswegen, weil mögliche Belastun- 116 gen in Form von Sicherungsscheinen einem Nichteintritt oder einer Umdeckung im Wege stehen können und weitere Gläubigerrechte begründen können. Gleichzeitig empfiehlt es sich, den Nichteintritt in evtl. bestehende Verträge zu prüfen, um Prämien zurückzuerhalten. V.
Versicherungsschutz der Schuldnerin
1.
Betriebliche Versicherungen des Anlage- und Umlaufvermögens
Befinden sich im Vermögen der Schuldnerin Sachwerte (eigene oder fremde, für welche die 117 Schuldnerin die Gefahr trägt, weil bspw. externes Rohmaterial gelagert wird), so ist zu prüfen, in welchem Umfang Versicherungsschutz notwendig, angemessen und sinnvoll ist. Nach § 55 InsO handelt es sich um sonstige Masseverbindlichkeiten. 1.1
Grundstücke
1.1.1 Unbebaute Grundstücke Auf Grund der Verkehrssicherungspflichten für Eigentümer, Pächter/Nutznießer, wird 118 Haftpflichtversicherungsschutz dringend empfohlen, auch für land- und forstwirtschaftliche Flächen. Dieser Schutz kann zumeist in die Betriebshaftpflichtversicherung eingeschlossen werden. In der Police müssen alle Adressen/Flurstücknummern etc. aufgeführt sein. Ein Blick in diese Police kann sich daher auch anbieten, um massestärkende Elemente zu finden. Die Geoportale der Bundesländer helfen hier auch schnell zu sehen, über welche Flurstücke sich z. B. ein Geschäftsbetrieb erstreckt (siehe auch Rz. 121). 1.1.2 Bebaute Grundstücke Ohne aktive Nutzung der Gebäude reicht evtl. Haftpflichtschutz aus. Baufällig oder sehr 119 alte Gebäude können ggf. zum gemeinen Wert versichert werden. Stellen die Gebäude einen Massewert dar, weil diese veräußerbar oder einer Eigennutzung 120 bzw. Fremdvermietung zugänglich sind, sollte Versicherungsschutz bestehen (siehe Rz. 121–123) 1.2
Gebäude
Auf den Punkt Gläubigerrechte wird verwiesen (siehe Rz. 114). Sorgt der Verwalter für 121 Versicherungsschutz, sollte er auf folgende beispielhafte Punkte achten: x
Sämtliche „Risikoorte“ (Adresse, Flurstück, Gebäude, Außenlager etc.) müssen in den Policen genannt sein, hier sind digitale Helfer, z. B. Dienstleistungen der einzelnen BunSchulz
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§ 41
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desländer wie bspw. http://www.geoportal-bw.de oder privatwirtschaftliche Dienstleister hilfreich, um die richtigen Grundstücke/Flurstücke mit den Gebäuden zu identifizieren; x
Selbstbeteiligungen und Sublimits prüfen (z. B. Einschluss von Aufräumkosten, Mehrkosten durch behördliche Auflagen, Neben- und Hilfsgebäude, Antennenanlagen, fest mit dem Gebäude verbundene Gegenstände etc.);
x
auf (gleitende) Neuwertversicherung mit Unterversicherungsverzicht achten;
x
Änderungen, Umbauten, Leerstand etc. müssen gemeldet werden;
x
Kürzung der Schadensersatzleistung bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung;
x
Neuwerterstattung auch ohne Wiederaufbau (zumeist wird eine Neuwerterstattung nur geleistet, wenn diese zur Wiederherstellung des Gebäudes verwendet wird).
1.2.1 Wohngebäude 122 Diese zeichnen sich durch überwiegend wohnwirtschaftliche Nutzung aus. Als Obliegenheitsverletzungen kommen hier z. B. fehlendes Heizen im Winter oder Rauchmelder (defekt/fehlend) aufgrund gesetzlicher Bestimmungen in Betracht. x
Versicherbare Gefahren: jeweils einzeln oder gemeinsam wählbar ist Versicherungsschutz nach Schäden durch Feuer, Leitungswasser, Sturm/Hagel, Elementargefahren (Überschwemmung/Hochwasser, Erdbeben, Lawinen, Erdsenkung, Erdrutsch, Schneedruck, Rückstau, Vulkanausbruch). In einigen Bundesländern wird auch eine Versicherung wegen „Hausschwamm“ empfohlen. Wichtig: Auch Allgefahren-Versicherungen sind zunehmend anzutreffen. Ein Blick in die Versicherungsbedingungen gibt hier Aufschluss, ob der Versicherungsnehmer die versicherten Gefahren auf Basis „benannter Gefahren/named perils“ oder Allgefahren eingekauft hat. Bei der Absicherung nach benannten Gefahren ist ebenfalls noch eine Definition der jeweiligen Gefahr enthalten. So wird z. B. klargestellt, dass Sturm erst ab einer Windstärke von acht Beaufort vorliegt.
x
Mietausfall: Der nach einem versicherten Ereignis entstehende Mietausfall ist in der Regel mitversichert, sollte jedoch auf das tatsächliche Vorhandensein hin geprüft werden.
x
Terrorschäden: An Gebäuden mit einem Wert von über 25 Mio. € greift bedingungsgemäß in der Regel ein Ausschluss des Bereiches „Schäden durch Terror“, der über die nach den Terroranschlägen von 2001 in den USA gegründete „Extremus“, oder weitere Spezialversicherer/Spezialmakler abgesichert werden kann. Bei höheren Werten für alle Gebäude lassen sich diese Werte möglicherweise aufteilen und so Versicherungsschutz auch außerhalb von Extremus generieren.
x
Glas: Grundsätzlich ist Glasbruch nicht über die Gebäude- oder Geschäftsversicherung abgedeckt. Es ist ein eigener Vertrag erforderlich, wenn dieses Risiko als versicherungswürdig angesehen wird.
1.2.2 Gewerblich genutzte Gebäude 123 Sobald eine gewerbliche Nutzung vorliegt ist zu klären, ob noch die Bedingungen der Wohngebäudeversicherung greifen können oder ob eine gewerbliche Gebäudeversicherung vereinbart werden muss. Die Versicherer definieren hier sehr unterschiedlich. Wichtig ist dafür den Grad/Anteil der wohnwirtschaftlichen Nutzung zu kennen. x
Versicherbare Gefahren: Grundsätzlich sind die gleichen Gefahren wählbar, wie bei Wohngebäuden, (siehe Rz. 122, 1. Punkt) zusätzlich sind gesondert wählbar EC-Gefah-
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ren (innere Unruhen, Streik, Aussperrung, mut- und böswillige Beschädigung, Graffiti, Fahrzeuganprall, Rauch, Überschallknall, Sprinkler-Leckage) oder Allgefahrendeckungen inkl. unbenannter Gefahren (alles was nicht explizit ausgeschlossen ist, gilt als versichert). x
Mietausfall: Im gewerblichen Bereich bedarf es einer gesonderten Regelung zum Ausfall der Miet- und/oder Pachteinnahmen.
x
Notwendige Betriebsausstattung ist ohne gesonderte Vereinbarung nicht versichert, z. B. Deckenkran, Lastenaufzüge, Rolltreppen, Versorgungsleitungen für Maschinen, Sprinkleranlagen etc. Dies gehört in den Bereich der Geschäftsversicherung. Der Verwalter wird häufig, wie oben beschrieben, den Versicherungsschutz dem Hypothekengläubiger überlassen. Zu achten ist darauf, dass die Betriebsausstattung als Massebestandteil gesondert versichert werden soll und ggf. muss (z. B. weil Sicherungsscheine vorliegen).
Sowohl bei Wohn- als auch bei Geschäftsgebäuden kann die Absicherung von parametri- 124 schen Risiken Optionen bieten, klassisch unversicherbare Risiken versicherbar zu machen. 1.3
Betriebseinrichtung und Vorräte (Geschäfts- oder Inhaltsversicherung)
Versichert sind die beweglichen Sachen des Betriebsvermögens, also Waren und Vorräte 125 sowie die kaufmännische und technische Einrichtung, Maschinen und Ausstattung. Auch vom Mieter/Pächter fest in das Gebäude eingefügte Sachen gelten als versichert. Fremdes Eigentum, z. B. Werkzeuge von Kunden oder Vorräte/Konsignationslager von Zulieferern, in den Räumen der Schuldnerin kann ebenfalls abgesichert werden. Alle Betriebsstandorte müssen genauso ausdrücklich in der Police genannt werden, wie bei 126 der Gebäudeversicherung. Daher gelten auch hier die weiteren Punkte analog Rz. 121 zu beachten. x
Versicherbare Gefahren der „Geschäfts-/Inhaltsversicherung“: Folgende Bestandteile sind einzeln versicherbar: Feuer, Leitungswasser, Sturm/Hagel, Elementargefahren (Überschwemmung/Hochwasser, Erdbeben, Lawinen, Erdsenkung, Erdrutsch, Schneedruck, Rückstau, Vulkanausbruch), EC-Gefahren (innere Unruhen, Streik, Aussperrung, mutund böswillige Beschädigung, Graffiti, Fahrzeuganprall, Rauch, Überschallknall, SprinklerLeckage, Einbruch-Diebstahl/Vandalismus und Raub) oder Allgefahrendeckungen inkl. unbenannter Gefahren (alles was nicht explizit ausgeschlossen ist, gilt als versichert).
x
Versicherungssumme: Zu achten ist auf eine (gleitende) Neuwertversicherung, um Abzüge „Alt für Neu“ zu vermeiden, und auf Unterversicherungsverzicht. Bemessungsgrundlage sind die Neuwerte, nicht die tatsächlichen Anschaffungskosten.
x
Obliegenheiten: Auch in diesem Bereich können zahlreiche vertragliche Obliegenheiten zu beachten sein, deren Verletzung der Verwalter gegen sich gelten lassen muss, bspw. Bewachungsauflagen oder Brandschutzvorschriften. Regelmäßig finden sich auch Vorgaben zu den Ladestationen der elektrischen Gabelstapler.
x
Begrenzungen des Versicherungsschutzes: Zumeist finden sich Begrenzungen für Bargeld, Beraubung, Urkunden, Akten, Pläne, Muster, Modelle etc. Abhängig von der Tätigkeit der Schuldnerin können erweiternde Einschlüsse, Abgrenzungen auf 1. Risiko oder hohe Kostenabsicherungen sinnvoll sein.
1.4
Bauleistung
Werden Neu- oder Umbauten durchgeführt, empfiehlt es sich das Vorhaben abzusichern. Es 127 besteht Versicherungsschutz während der Bauphase gegen „unvorhersehbare Beschädigung oder Zerstörung“ am Bauobjekt, z. B. höhere Gewalt, ungewöhnliche Witterungseinflüsse,
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Vandalismus, Diebstahl von Gebäudebestandteilen. Mitversichert werden kann auch Glasbruch oder die Beschädigung von Altbausubstanz. Für den Bereich Feuer ist regelmäßig ein eigener Versicherungsschutz notwendig, der jedoch in den Vertrag integriert werden kann. 128 Ergänzend bietet sich auch hier die Bauleistungs-Betriebsunterbrechungsabsicherung nach einem Sachschaden an. 1.5
Montage
129 Führt die Schuldnerin i. R. der geschäftlichen Tätigkeiten auch Montagen aus oder zeichnet sie sich für die Durchführung verantwortlich, so kann eine Montageversicherung (deckt unvorhergesehene und plötzlich eintretende Schäden an versicherten Sachen durch Konstruktions-, Material-, Montagefehler, höhere Gewalt oder Diebstahl ab) sinnvoll sein. Wichtig ist hier auch, dass das Maintenance-Risiko bewertet wird. 130 Diese mögliche, erweiterte Absicherung lässt sich im Wesentlichen in zwei Bausteine aufteilen: „extended maintenance“ und „visit maintenance“. Während die „extended maintenance“ den Versicherungsschutz in die Gewährleistungsphase hinein verlagert, sichert die „visit maintenance“ auch Schäden während Gewährleistungsarbeiten ab. Auch das Risiko von Schäden während des Probelaufes lässt sich absichern, was insbesondere bei großen und komplexen Maschinen(-anlagen) relevant ist. 131 Ergänzend bietet sich die Montage-Betriebsunterbrechungsabsicherung nach einem Sachschaden an. 1.6
Maschinen
132 Stationäre oder fahrbare Maschinen, maschinelle oder elektrische Anlagen unterliegen besonderen Risiken, die ergänzend oder separat zur Geschäftsversicherung abgesichert werden können. Bedienungsfehler, Ungeschicklichkeit, Konstruktions-, Material- oder Ausführungsfehler sowie technische Störungen (Zerreißen, Kurzschluss, Überlastung, Fremdkörper etc.) führen zu Schäden, die hohe Kosten zur Folge haben können. Zu beachten ist, während die Gefahr Feuer in der stationären Maschinenversicherung grundsätzlich nicht versichert ist, ist sie bei der Maschinenversicherung für mobile und fahrbare Maschinen enthalten. 133 Versichert ist der gültige Listenpreis im Neuzustand zzgl. Bezugskosten bezogen auf ein Basisjahr mit Wertzuschlag. Bei Totalschäden wird der Zeitwert vor Schadensfall erstattet. Ein Abzug „alt für neu“ gilt für Verschleißteile. 134 Auch der Maschinenstillstand birgt Gefahren. Neben dem eigenen Ertragsausfall durch Betriebsunterbrechung ergeben sich möglicherweise Folgeschäden bei den Abnehmern, die versicherbar sind. 1.7
Elektronik und Datentechnik sowie Geräte
135 Als Ergänzung zur Geschäftsversicherung oder gesondert versicherbar sind elektronische Geräte, die besonderen Gefahren unterliegen, z. B. Daten- und Kommunikationstechnik, Mess- und Prüfanlagen, Medizintechnik etc. Versichert sind alle Sachschäden, die nicht rechtzeitig vorhersehbar waren, z. B. Bedienungsfehler, Fahrlässigkeit, Konstruktions-, Material-, Ausführungsfehler, Überspannung. Zu berücksichtigen ist, dass es zu keiner Doppelversicherung mit der Geschäftsversicherung kommt. 136 Ergänzend könnte von Bedeutung sein und muss gesondert vereinbart werden: Wiederherstellung, Wiederbeschaffung, Wiedereingabe von Daten, Programmen und Datenträgern. Auch Umprogrammierungskosten, externe Lohnkosten etc. können versichert werden. Diese Bereiche können den ursächlichen Sachschaden um ein Vielfaches übersteigen. 1430
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Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
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Hier gelten jedoch ebenfalls die Obliegenheiten zu beachten und zu prüfen, ob es Sinn 137 macht, die Absicherung aufrecht zu halten, zu beenden oder ggf. neu einzukaufen. 1.8
Multi-Risk-Policen
Es handelt sich um die Bündelung verschiedener Sparten in einem Versicherungspaket. Die 138 meisten hier genannten Versicherungsarten und Gefahren können eingeschlossen werden. Durch einfache Umsatznennung oder z. B. anhand der Mitarbeiteranzahl wird umfangreicher Versicherungsschutz für alle Betriebsbereiche und deutsche Standorte gewährleistet (z. B. Haftung, Gebäude, Transport, Inhalt, Maschinen etc.). Die Prämien sind durchaus günstig und die Handhabung sehr einfach. In guten Konzepten sind auch Absicherungen für Tochtergesellschaften oder Standorte im Ausland möglich, die „compliant“ erfolgen. 1.9
Vertrauensschaden und Computermissbrauch, auch sog. „Cyber-Risiken“
Die polizeiliche Kriminalstatistik geht davon aus, dass jährlich mehr als 1 Mio. Schadensfälle 139 mit einem Schadenvolumen von mehreren Milliarden Euro durch unerlaubte Handlungen (Betrug, Unterschlagung, Sachbeschädigung, Sabotage etc.) von Betriebsangehörigen oder sonstigen Vertrauenspersonen begangen werden. Der Versicherungsschutz umfasst neben der Erstattung des entstandenen Schadens auch die internen und externen Schadensermittlungskosten bis zur vereinbarten Höhe. Gerade vor einer Insolvenz können diese strafbaren Handlungen zunehmen. Zeigen sich 140 Anzeichen für Nachteile, die der Schuldnerin durch „Vertrauensschäden“ entstanden sein können, scheint es durchaus angeraten, diesen Versicherungsschutz aufrechtzuerhalten, um einerseits die Rechtsverfolgung erstattet zu bekommen und andererseits ggf. die Masse zu erhöhen, falls die Schädiger keinen Schadensersatz leisten können. Dies ist Bestandteil des digitalen Risikomanagements und ist in vielen weiteren Rechtsbereichen relevant (z. B. Datenschutz, Arbeitsrecht).12) Eine fehlende Absicherung wirkt haftungsverschärfend13) und eine Ausweitung bzw. fehlende Delegationsmöglichkeit ist in der politischen Diskussion.14) Versichert sind beispielsweise: x
Datenverlust;
x
Datenschutzrechtsverletzungen und Persönlichkeitsrechtsverletzungen;
x
Hackerangriffe inkl. Erpressung(-sgelder);
x
Betriebsunterbrechung (immer größere Bedeutung durch IT-Einsatz).
Versichert sind sowohl Fremd- als auch Eigenschäden.
141
Die Telekom bietet mögliche Frühwarnsysteme zum Download an. Unter www.sicherheits- 142 tacho.de können Sie sich jederzeit über die aktuelle Gefährdungslage durch Cyberangriffe informieren. 1.10 Bezüge/Versendungen/Transportmittel 1.10.1 Transport Versendet oder bezieht (mit eigenen oder fremden Transportmitteln) die Schuldnerin Güter 143 oder werden diese gelagert, wird eine „eigene“ Transportversicherung empfohlen. ___________ 12) S. dazu https://www.mayerbrown.com/-/media/files/perspectives-events/publications/2021/06/die-haftungvon-geschaeftsfuehrung-bei-cyber-angriffen.pdf?rev=26b470a829ed46c9b92afe9f9264e817 (Stand: 12.6.2023). 13) S. https://360gradmanagerschutz.de/check-cyberhaftung-von-heuking-mrh-trowe/ (Stand: 12.6.2023). 14) Vgl. https://www.handelsblatt.com/finanzen/steuern-recht/steuern/eu-regulierung-cybersicherheit-alspflicht/29170502.html (Stand: 12.6.2023).
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144 Der Frachtführer haftet nach Gewicht der Ware. Erstattet werden in der Regel „8,33 Sonderziehungsrechte (SZR [Special Drawing Right – SDR])“ pro kg Rohgewicht.15) Der Wert eines „SZR“ wird täglich durch den Internationalen Währungsfond (IWF [International Monetary Fund]) festgelegt. Ein „SZR“ pendelt seit Jahren um den Betrag 1 €/kg Ladungsgewicht (0,86 € – 1,27 €). Ein Kilogramm ist somit über den Frachtführer vereinfacht mit 10 € je kg Ladungsgewicht gesetzlich abgedeckt. Das reicht regelmäßig nicht aus. Höhere Absicherungen des Frachtführers sind aufgrund vertraglicher Vereinbarungen denkbar, sollten jedoch schriftlich fixiert sein. Dennoch enden diese in aller Regel bei 40 SZR. 145 Versichert sind dann zum gemeinen Handelswert, neben z. B. Ermittlungs- oder Umladekosten, alle Gefahren, denen beförderte Güter ausgesetzt sind. Auch imaginärer Gewinn, Zollkosten etc. können versichert werden. 146 Viele Paketdienste haben eigene Haftungsregelungen aufgestellt. Neben den bedingungsgemäß festgelegten Haftungsgrenzen wird angeboten, ergänzenden Versicherungsschutz hinzuzukaufen. Diese Regelungen sind regelmäßig deutlich teurer als eigener Schutz. Darüber hinaus ist nicht der Verwalter Vertragspartner der Versicherung, sondern mögliche Schadensersatzansprüche müssen über den Paketdienst geleitet werden, was sich in der Praxis als mühsam erweisen kann. 147 Eine Regelung unabhängig der Gefahrtragung nach INCOTERM’s sollte als Masseschutz kostenfrei enthalten sein. 1.10.2 Verkehrshaftung 148 Die Haftung des gewerblichen Frachtunternehmers, der Waren von Dritten in Deutschland oder in der Welt von A nach B bringt, richtet sich nach der Haftung des Frachtführers. Dies kann z. B. nach § 7a GüKG, § 425 HGB oder Art. 29 Abs. 1 CMR (bei grenzüberschreitendem Verkehr) sein. 1.11 Fuhrpark/Kraftfahrzeuge 149 Befinden sich zulassungspflichtige Fahrzeuge im Vermögen der Schuldnerin, so ergeben sich mehrere Fragestellungen. 1.11.1 Zulassungspflichtige, aber nicht zugelassene Fahrzeuge 150 Diese dürfen nur auf umfriedeten Grundstücken abgestellt werden. Nicht öffentlich zugänglich wäre besser, wobei eine klare räumliche Abtrennung zum „üblichen“ Verkehrsraum nach herrschender Meinung bereits ausreichend ist. Möglicherweise wird Versicherungsschutz bei Diebstahl oder Sturm (Teilkasko-Ruheversicherung) gewünscht. Böswillige Beschädigung ist in aller Regel ausgeschlossen, es sei denn, dass der Versicherungsnehmer über einen speziellen, sogenannten Handel-/und Handwerk-Versicherungsschutz verfügt. Insbesondere bei Fahrzeuglogistikfirmen oder im Fahrzeughandel sind diese Absicherungsformen anzutreffen. 1.11.2 Zugelassene Fahrzeuge 151 Haftpflicht: Es besteht in Deutschland eine Pflichtversicherung. Bei Auslandsfahrten ist die „grüne Versicherungskarte“ mitzuführen – die zwischenzeitlich weiß ist. Zur Zulassung/ Ummeldung wird eine „eVB“ – elektronische Versicherungsbestätigung benötigt. Die Prämienfindung ist an zahlreiche Faktoren geknüpft. Das Nutzungsverhalten bestimmt den Beitrag. Grundsätzlich werden Ansprüche Dritter befriedigt bzw. abge___________ x
15) § 431 Abs. 1 HGB.
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wehrt. Es sind auch Schäden an eigenen Fahrzeugen untereinander versicherbar. Hier kommt es auf die Vertragsdetails an. x
Jeder Vertrag wird mit einem Schadenfreiheitsrabatt (SFR) geführt. Möglicherweise ist eine natürliche Person (früherer Mitarbeiter der Schuldnerin) berechtigt, diesen erfahrenen Rabatt mitzunehmen, weil er den Rabatt zuvor eingebracht hat. Das liegt dann an einer einzelvertraglichen Regelungen, die zum Vertragsbestandteil geworden ist. Sollten für die Schuldnerin keine „Schadenfreiheitsrabatte“ (SFR) vorhanden sein, können über so genannte Flotten- oder Stückkostenmodelle kostengünstige Lösungen gefunden werden. Hierfür werden in der Regel jedoch bestimmte Mindestmengen von Fahrzeugen benötigt.
Teilkasko: Umfasst Reparatur oder Ersatz nach Schäden am Fahrzeug durch Brand, Ex- 152 plosion, Entwendung, Raub, Sturm, Hagel, Haarwild nach dem Bundesjagdgesetz (in guten Bedingungswerken auch Tiere jeder Art), Marderbiss bis zum Versicherungswert. Auch Glasschäden sind mitversichert. Vollkasko: Nach Eigenschäden oder mut- oder böswilliger Beschädigung kommt es zur 153 Erstattung von Reparatur- oder Ersatzkosten bis zum Versicherungswert. Die zunehmende Digitalisierung (Stichwort: „fahrbarer Computer“) der Autos führt dazu, 154 dass die Auswahl der Risikoträger und auf den vorhandenen Versicherungsumfang Obacht gegeben werden muss. Es sollten unbedingt Hackerangriffe und dadurch ermöglichte Entwendungen mitversichert sein, wie auch teilautonomes oder künftig auch autonomes Fahren. Allgefahren: Aufgrund der gewollten Elektrisierung der Fahrzeugflotten sollte bei einem 155 Verfahren auch betrachtet werden, ob es e-Fahrzeuge (hybrid und/oder reine „Stromer“) im Fuhrpark gibt. Hierfür gibt es Sonderlösungen am Markt, die so auch umfangreiche Absicherungen, z. B. bei defekten Akkus oder ähnliches, sicherstellen. Eine ähnliche Absicherungsform kann sich bei hochwertigen Fahrzeugen, wie z. B. Old- 156 timern stellen, anbieten. Der Vorteil in den Sonderlösungen für Oldtimer liegt darin, dass diese regelmäßig auch Wertsteigerungen am Markt versichern, während klassische KfzVersicherungen eine zeitwertreduzierte Entschädigung im Fokus haben, wenn das sogenannte Neuwertabsicherungs-Fenster verlassen wird. 2.
Absicherung der Unternehmensaktivitäten
2.1
Gewinne/Kosten
2.1.1 Betriebsunterbrechung Kommt es durch einen Sach- oder Vermögensschaden (z. B. Feuer, Datenverlust, Maschi- 157 nenbruch, Transportschaden, Veruntreuung etc.) zur Unterbrechung des Geschäftsbetriebs, kann dies zu weitreichenden monetären Einbußen führen. Die laufenden Kosten des Unternehmens müssen weiter bedient werden (Löhne, Mieten, Leasing etc.). Der Verwalter ist ggf. Masseverbindlichkeiten eingegangen, die er über die Erträge des 158 Geschäftsbetriebs der Schuldnerin bedienen wollte. Fallen diese Einnahmen durch einen Schaden aus, kann es zu Finanzierungsproblemen kommen. Im Falle einer Betriebsfortführung wird empfohlen, die Risiken und die Versicherbarkeit zu prüfen, um die Masse und letztlich den Verwalter zu schützen. Der Versicherungsschutz und die Versicherungsprämie sind abhängig von z. B. Umsätzen, 159 Wareneinsatz, dem versicherten Zeitraum, Zeitdauer der möglichen Wiederbeschaffung bzw. Wechselwirkungen unter verschiedenen Betriebsstätten der Schuldnerin oder bei Folgen von Sachschäden bei fremden Dritten, sog. „Rückwirkungsschäden“.
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160 Auch die „Betriebsunterbrechung“ nach Schäden/Ausfall der Elektronik kann abgesichert werden. Muss bspw. die Produktion auf Grund eines Bedienfehlers angehalten werden, kann es zu erheblichen finanziellen Aufwendungen kommen. 161 Wichtig: In Deutschland überwiegt die Absicherungsnotwendigkeit eines zuvor versicherten und eingetretenen Sachschadens. Ohne einen versicherten Feuerschaden ist eine versicherte Feuer-Betriebsunterbrechung nicht möglich. Bei Großrisiken sind auch andere Formen möglich oder bereits vorhanden. 162 Neben der „großen“ Betriebsunterbrechungsversicherung gibt es noch Unterformen, die dann „mittlere Betriebsunterbrechung (MBU)“ oder „Klein-Betriebsunterbrechung (KBU)“ heißen. Auch andere Ansätze der Absicherung, wie z. B. Mehrkosten-Versicherung fallen hierunter. 163 Wichtig: Zu jeder Versicherungsart von 1.2. – 1.8., siehe Rz. 122 bis Rz. 138, ist eine Ausfallabsicherung bzw. Betriebsunterbrechungs-Versicherung möglich. 2.1.2 Mietverlust 164 Streng genommen gehört der unter Rz. 122 und Rz. 123 erfasste Bereich der Mitversicherung von Mietverlust in den Bereich der versicherten Gewinne. Da diese Absicherung regelmäßig jedoch unmittelbar in der Gebäudeversicherung enthalten oder einschließbar ist, wurde es thematisch bereits dort erfasst. 2.2
Betriebliche Versicherung von Ansprüchen Dritter
2.2.1 Haftung – Betriebshaftpflicht 165 Die Schuldnerin unterliegt aus vergangener und laufender Tätigkeit umfangreichen Haftungsrisiken, die durch rechtswidriges und schuldhaftes Handeln oder Unterlassen entstehen und versichert werden können. Erweiternd greifen evtl. verschuldensunabhängige Garantiehaftungen oder die Regelungen nach Gefährdungshaftung. 166 Der Insolvenzverwalter tritt an die Stelle der Organe der Schuldnerin und begründet dadurch weitreichende eigene Haftungsthematiken, die behandelt wurden (siehe u. a. Rz. 10–13, 57 und 61–68). 2.2.2 Haftungsrisiken der Schuldnerin 167 Aus welchen Bereichen können Haftungsrisiken bei der Schuldnerin entstehen? x
aus der Tätigkeit und/oder Betriebsart,
x
aus Produktion/Handel mit eigenen und fremden Produkten,
x
Umweltrisiken aus Anlagenbetrieb,
x
Umweltschäden an Luft, Gewässern, Boden
168 Der Versicherungsschutz soll möglichst umfangreich ausgestattet sein und die Handlungen sowie das Unterlassen der Tätigkeiten, Eigenschaften und Rechtsverhältnisse abdecken. Es kommt folglich auf die genaue Beschreibung des Geschäftszweckes und der Tätigkeiten an. 169 Versichert ist in der klassischen Betriebshaftpflicht der Ersatz bei Personen-, Sach- und den daraus folgenden Vermögensschäden, sowie Schäden durch Produkte (Achtung: ggf. Erweiterung auf Produkthaftung oder Rückrufkosten notwendig). Ebenso enthalten ist die passive Rechtsschutzfunktion zur Abwehr unbegründeter Ansprüche. Bei Dienstleistungsunternehmen ist hingegen die Absicherung einer Vermögensschaden-Haftpflicht, analog einer Anwaltsabsicherung, oft die bessere Wahl, da hier nicht ein Sach- oder Personenschaden als Mindestschadenauslöser bestehen muss.
1434
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Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
§ 41
Durch besondere Vereinbarung können z. B. nachfolgende Bereiche versichert werden: x
Mietsachschäden (Regressmöglichkeit des Gebäudeversicherers beachten),
x
Allmählichkeitsschäden,
x
erweiterte Produkthaftung, ggf. zzgl. Produkt- oder Kfz-Rückrufkosten: x
170
Fehlen zugesicherter Eigenschaften infolge Mangelhaftigkeit von Sachen, die erst durch Verbinden, Vermischen oder Verarbeitung der gelieferten Erzeugnisse mit anderen Produkten entsteht. Beispiel: Die Schuldnerin lackiert Bauteile, die mit anderen Teilen beim Kunden zu einem Endprodukt zusammengefügt werden. Durch fehlerhaftes Auftragen des Lackes blättert die Farbe ab und das Endprodukt muss zurückgerufen, zerlegt und neu zusammengesetzt werden.
x
Wichtig: Unbedingt Rückwärtsdeckung und/oder Nachhaftung vereinbaren (siehe „Schadensfalldefinition“ unter Rz. 178–184)
Umweltschaden-Versicherung inkl. Baustein 1: erst durch die Absicherung auch des Zusatzbausteines 1 inkl. der Absicherung des Grundwassers wird dem rechtlichen Haftungspotential Rechnung getragen. Ausland: Liefert die Schuldnerin Ware in angelsächsische Länder und insbesondere nach 171 USA/Kanada, aber auch nach Frankreich, so ist explizit zu prüfen, ob Haftpflichtversicherungsschutz über die deutsche Police auch in diesen Ländern besteht, was häufig, sogar überwiegend, nicht der Fall sein wird, zumal es auch die Compliance bzw. ein mögliches non-admitted-Verbot zu beachten gilt.
x
2.2.3 Ausschlüsse beachten Auch wenn die Betriebsbeschreibung umfassend ist und eine angemessene Höhe der Ver- 172 sicherungssumme besteht, kann es zu Deckungslücken aufgrund von vertraglichen Ausschlüssen kommen. Beispielhaft sind Tätigkeiten zu benennen, die ggf. einer gesonderten Betrachtung bedürfen: x Nutzung der Produkte in Waffen oder Kriegstechnik, x Verwendung der Produkte in Kfz-, Wasser-, Schiffs- und Schienentechnik, x Offshore-Risiken, x Verwendung der Produkte in Luft- und Raumfahrt, x Direktversendungen in die USA/Kanada, x (I)IOT – ([industrial] Internet of Things/Industrie 4.0), x SaaS (Software-as-a-Service), x Medizintechnik und Pharma, x Probandenversicherungsschutz, x Verwendung von Spezialchemie, x Tätigkeitsschäden/Lohnbearbeitung/Lohnfertigung. 2.2.4 Ergänzender/eigenständiger Versicherungsschutz Es gibt zahlreiche Bereiche, die besonderen Versicherungsschutz notwendig machen. Einige 173 Beispiele: x Haftung des Frachtführers, z. B. nach § 7a GüKG, § 425 HGB oder Art. 29 Abs. 1 CMR (siehe Rz. 148);
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§ 41 x x x x x x x
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Verpflichtung für Angebot einer Transportversicherung an den Auftraggeber bei Verwendung von ADSp 2017; Lagerung von gewässergefährdenden Stoffen (z. B. Öltank oder Flüssiggas); erweiterte Umwelthaftung bei Anlagenrisiko; Tierhaltung; Herstellung/Handel von Teilen die für den KFZ-Einbau vorgesehen sind; Luftfahrthaftpflicht; Betriebsschließungsversicherung wegen Seuchengefahr, insbesondere für Nahrungsmittelhersteller, Hotels, Gaststätten usw.
2.2.5 Versicherungslösungen für Bautätigkeit 174 Sollte der Insolvenzverwalter das Unternehmen fortführen und Bautätigkeiten veranlassen oder ausüben, so kann er die sich daraus ergebenden Risiken über Spezialpolicen versichern. Denkbar sind Lösungen für „Bauunternehmen, Bauträger, Generalüber- und -unternehmer“. 175 Darüber hinaus gibt es „Baugewährleistungsversicherungen“, bei denen die Mangelbeseitigung bzw. Gewährleistung abgesichert werden kann. 176 Umgekehrt ist es auch möglich die Baufertigstellung zu versichern, also die finanziellen Risiken des Ausfalles von Baupartnern auszulagern. 2.2.6 Optionaler Haftpflichtschutz für den Verwalter (Umbrella-Cover) 177 Um die Haftungsrisiken des Insolvenzverwalters auf eigene Inanspruchnahme zu reduzieren gibt es die Möglichkeit, einen „Umbrella-Cover“ als ergänzenden Schutz zu wählen. Spezialisierte Makler können diesen Schutz anbieten, der dem Verwalter mögliche Lücken in den bestehenden Bedingungswerken der insolventen Firma reduziert. 2.3
Unterschiedliche Schadensfalldefinitionen in der Haftpflichtversicherung
2.3.1 Schadenereignistheorie (z. B. Betriebshaftpflichtversicherung) 178 Ein Beispiel hierfür stellt die Regelung in § 1.1 Allgemeine Haftpflichtversicherungsbedingungen (AHB) dar. Zu prüfen ist, ob der Schaden während der Wirksamkeit des Vertrages eintritt. Der eigentliche Verstoß, die Schadensursache, kann auch vor dem Schadenseintritt liegen, so dass dies hier keine Rolle spielt. 179 Führt der Verwalter die Betriebshaftpflicht der Schuldnerin nicht weiter, so besteht kein Schutz, wenn in der Zukunft ein Schaden eintritt, der aus früherer Geschäftstätigkeit der Schuldnerin herrührt. Möglicherweise fallen diese Ansprüche in die Tabellenforderungen, bei Betriebsfortführung können aber auch Masseverbindlichkeiten und damit eine Haftung des Insolvenzverwalters entstehen. Zu lösen ist die Aufgabenstellung durch die Vereinbarung einer „Nachhaftung“ zur Betriebshaftpflichtversicherung. 2.3.2 Verstoßtheorie (z. B. Produkthaftpflichtversicherung) 180 Ein Beispiel hierfür stellt die Regelung in § 7.2 AHB dar. 181 Bestand zum Zeitpunkt des ursächlichen Verstoßes Versicherungsschutz? Abzustellen ist also nicht auf den Zeitpunkt des Bekanntwerdens eines Schadens, sondern auf den Zeitpunkt, zu dem die Ursache für den Schaden gesetzt wurde. Zu beachten ist die Nachmeldefrist für Schäden, die in der Regel zwischen ein bis drei Jahre beträgt, aber abgeändert werden kann.
1436
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Betriebsfortführung und Versicherungsschutz
§ 41
Hier bietet sich zur Problemlösung die sog. „Rückwärtsdeckung“ bzw. die Absicherung 182 von Vorumsätzen an, die Umsätze vor Versicherungsbeginn absichert und gleichzeitig ggf. die Verlängerung der Nachmeldefrist. Sollten sie selbst geschädigt werden und einen Haftpflichtanspruch Dritten gegenüber er- 183 langen, ist zunächst zu prüfen, ob eigener Versicherungsschutz gegeben ist, der möglicherweise zum Neuwert entschädigt, während Haftpflichtansprüche regelmäßig nur den Zeitwert bedienen. 2.3.3 Anspruchserhebungstheorie/Claims-Maide Hier kommt es nicht auf den Zeitpunkt des Regelverstoßes oder den Schadenseintritt an, 184 sondern ob Versicherungsschutz zum Zeitpunkt der „Anspruchserhebung“ besteht. Dieses Prinzip findet bei der Managerhaftung D&O Anwendung. (siehe Rz. 191). 2.4
Reine Vermögensschadenhaftpflicht
Einige Berufsbilder, wie beratende Ingenieure, Architekten, Steuerberater, Anwälte oder 185 Dienstleister, wie z. B. Berater, Vermögensverwalter oder Immobilienmakler stehen besonders in der Gefahr, reine Vermögensschäden zu verursachen, die nicht Folge von Personen- oder Sachschäden sind. Hierfür ist eigener Versicherungsschutz angeraten, der nicht automatisch Bestandteil einer Betriebshaftpflichtversicherung ist. 2.4.1 Geschäftsführer-/Organhaftpflicht Wesen der D&O-Versicherung ist es, Versicherungsschutz zu gewähren, berechtigte For- 186 derungen zu bedienen und unberechtigte abzuwehren, wenn versicherte Personen wegen einer, bei Ausübung der versicherten Tätigkeit, begangenen Pflichtverletzung bzgl. eines Vermögensschadens in Anspruch genommen werden. Die komplexen Problemstellungen der ständig steigenden Haftung und Inanspruchnahme 187 der Geschäftsführer und Aufsichtsorgane von Kapitalgesellschaften, aber auch von Privatunternehmen, Vereinen und Stiftungen etc. und der Schutz des Privatvermögens der Organe, lassen diesen Schutz sinnvoll erscheinen. Nachdem häufig die vor Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahren handelnden Personen/ 188 Organe der Schuldnerin vom Verwalter in Anspruch genommen werden, um durch persönliche Haftungsvorwürfe die Masse zu erhöhen, empfiehlt es sich dringend, bestehenden D&O Schutz über die Eröffnung des Verfahrens hinaus aufrechtzuerhalten. Dies geschieht durch Weiterzahlung der Prämie oder Verlängerung der Nachmeldefristen, innerhalb derer ein vermeintlicher Anspruch geltend gemacht werden muss. Zumeist wird der D&O-Versicherer mit Kenntnis der Insolvenz die Aufforderung nach 189 § 103 Abs. 2 InsO an den Verwalter richten, unverzüglich den Eintritt in den Vertrag zu erklären. Es liegt im Interesse des Versicherers, den Vertrag schnellstmöglich aufzulösen. Der Verwalter sollte nach bisherigen Erfahrungen den Vertrag zumindest so lange weiterführen, bis er Gewissheit über Anspruchsmöglichkeiten gegenüber den bisherigen Organen hat. So kann in guten Bedingungswerken bspw. die Mitversicherung folgender Ansprüche: x
§ 64 Satz 1 GmbhG
x
§ 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG
x
§ 15b Abs. 4 Satz 1 InsO
x
§§ 43 Abs. 1 und 57 StaRuG
vereinbart gelten und somit die Masse möglicherweise stärken.
Schulz
1437
§ 41
Teil V Einzelfragen
190 Häufig hat durch die wirtschaftliche Schieflage der Schuldnerin auch das Privatvermögen der bisherigen Organe gelitten und möglicherweise können Ansprüche nicht eingezogen werden. Hier soll der D&O-Versicherungsschutz eintreten. Es kann zu Masseerhöhungen kommen, die ohne einen solchen Versicherungsschutz nicht möglich wären. 191 Abweichend zur Schadensdefinition in der Haftpflichtversicherung (Rz. 178 f.), ist in den Versicherungsbedingungen auf Grund der angelsächsischen Herkunft dieses Versicherungsschutzes die sog. „Claims-made“-Regelung anzuwenden. Es ist zu klären, ob zum Zeitpunkt der „Anspruchserhebung“ Versicherungsschutz besteht. Die Schadensursache und auch der Schadenseintritt sind unbeachtlich. 192 Unbedingt beachtet werden sollten die Fristen, innerhalb derer Schadensersatzansprüche auch nach Beendigung des Vertrages geltend gemacht werden müssen. Diese Fristen sind aus den Versicherungsbedingungen oder gesonderten Vereinbarungen erkennbar und in der Regel nicht identisch mit den gesetzlichen Verjährungsregeln. 2.4.2 D&O-Versicherung 193 Je nach Betrachtung gibt es zwei unterschiedliche Formen der „D&O-Versicherung“: x
Den Vertrag über das Unternehmen, die Insolvenzschuldnerin. Hier werden alle Organe, leitende und sonstige Mitarbeiter mit Stabsstellenfunktion abgesichert. (Beschreibung siehe Rz. 186–192). Dieser Vertrag wird auch als Unternehmens-D&O bezeichnet.
x
Die persönliche „D&O“. Das Organ sichert sich höchstpersönlich ab. Dieser Vertrag ist ggf. nicht mit Einschränkungen der Firmen-D&O (z. B. kein Versicherungsschutz bei Insolvenz) versehen und fällt nicht in die Entscheidungsgewalt des Insolvenzverwalters. Er schützt das Organ gegen Vorwürfe des Verwalters oder sonstiger Dritter, unabhängig vom Bestehen eines Firmenvertrages und der Fortführung durch den Verwalter. Die Bedingungswerke werden laufend verbessert und dürfen heute als sehr umfangreich bezeichnet werden. Die mögliche eigene Absicherung kann somit als zusätzlich massestärkendes Element bei entsprechender Haftung des Organs angesehen werden.
2.4.2.1
Besonderheit bei Kapitalgesellschaften, z. B. in Form einer AG oder SE
194 Gemäß § 93 Abs. 2 AktG muss der Vorstand einer AG bzw. dem vergleichbaren Pendant einen Selbstbehalt an einem von ihm verursachten Schaden i. H. von 10 % max. des 1,5-fachen Jahresfixums tragen. Dieser Selbstbehalt trifft ggf. auch den Interimsmanager oder den Insolvenzverwalter. Organe werden diesen Pflichtselbstbehalt regelmäßig abgesichert haben. 2.4.2.2
Anrechnungsmodell
195 Bei dieser Form des Selbstbehaltes erstattet der Versicherer auch den rechtlich notwendigen Selbstbehalt. Es wird jedoch nicht mehr als die vertragliche Summe des Hauptvertrages ausgezahlt. Regelmäßig erfolgt diese Absicherung beim führenden Versicherer des D&OVertrages. 2.4.2.3
Echtes SB-Modell
196 Diese Absicherung sichert ebenfalls den rechtlich notwendigen Selbstbehalt ab. Da dieses Modell jedoch eine eigenständige Deckungskapazität absichert, kommt im Schadenfall eine Entschädigung theoretisch zur Versicherungssumme des Hauptvertrages hinzu. Möglicherweise hält das Organ der Insolvenzschuldnerin (Geschäftsführer, Vorstand, Aufsichtsrat, Beirat etc.) auch eine eigenständige, persönliche D&O vor, die ggf. beansprucht werden kann.
1438
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 2.5
§ 41
Kosten der Verteidigung
2.5.1 Firmen-Rechtsschutz In der Rechtsschutzversicherung für Unternehmen sind diverse Bausteine einzeln oder 197 gemeinsam wählbar. Grundsätzlich ist das Unternehmen mit seiner originären Tätigkeit versichert. Ausgeschlossen ist in der Regel (Ausnahme z. B. Medizinberufe) der Vertragsrechtsschutz, also die Vereinbarungen zwischen der Schuldnerin und ihren Lieferanten oder Kunden, insbesondere im Haupttätigkeitsfeld der Schuldnerin. Wählbar ist z. B. Rechtsschutz für/als:
198
x
Arbeitgeber (Streitigkeiten mit Mitarbeitern),
x
Immobilien (Miete ist regelmäßig bis 100 000 € Bruttojahresmiete mitversichert),
x
Verkehr (Kfz, LKW, Werk- und Fernverkehr etc.),
x
Vertragsrechtsschutz für Hilfsgeschäfte rund um Büro, Praxis, Werkstatt etc.,
x
Forderungsmanagement,
x
Versicherungs-Vertragsrechtsschutz,
x
Straf-Rechtsschutz als Zusatzbaustein,
x
Online-Rechtsschutz.
Für einzelne Betriebsarten wie Kfz-Handel/Handwerk, Entsorgungsbetriebe oder auch 199 Personalleasing etc. gibt es besondere Bedingungen. Sollte der Verwalter eine Rechtsschutzversicherung weiterführen? Gemäß § 3 Abs. 3 Nr. c 200 der Allgemeinen Bedingungen für Rechtsschutzversicherungen (ARB) sind Rechtsstreitigkeiten ausgeschlossen, die in ursächlichem Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren, das über das Vermögen des Versicherungsnehmers eröffnet wurde oder eröffnet werden soll. Insofern greift der Schutz vielfach nicht. Streitigkeiten mit Arbeitnehmern, weil z. B. Aufhebungsverträge vereinbart werden sollen, 201 hingegen sind nach gängiger Meinung weiterhin mitversichert. Ist der private Rechtsschutz des Inhabers der Schuldnerin mitversichert, tritt der Verwalter 202 in diesen Bereich regelmäßig nicht ein und fordert den Prämienanteil zurück. Gleiches gilt, wenn ein „Spezial-Straf-Rechtsschutz“ mitversichert ist. Für diese Bausteine besteht zunächst ein originäres Interesse der bisher Versicherten. Auch für den Insolvenzverwalter als Verwalter der Masse kann eine derartige Absicherung sinnvoll sein, da so langwierige und teure Verfahren von einer Versicherung getragen werden und diese Kosten nicht die Masse belasten. 2.5.2 Unternehmens-Straf-Rechtsschutz Diese Absicherung wird regelmäßig auch Spezial-Straf-Rechtsschutz genannt. Während 203 die Absicherung als Annex-Straf-Rechtsschutz in der Firmen-Rechtsschutz-Versicherung möglich ist, ist der Straf-Rechtsschutz eine eigenständige Absicherung. Der wesentliche Unterschied zur Annex-Versicherung ist, dass unter dieser Absicherung die 204 angemessenen Kosten der Verteidigung gezahlt werden und somit auch Honorarvergütungen. Hingegen ist bei der Annex-Versicherung eine Begrenzung auf die Rechtsanwaltsvergütung und die ist in Strafverfahren aufgrund der geringen Streitwerte häufig unzureichend. 2.6
Forderungsausfall/Warenkreditversicherung
Verkauft die Schuldnerin Waren an Abnehmer gegen Rechnung mit Zahlungsziel (Waren- 205 oder Lieferantenkredit), so besteht ein Ausfallrisiko, das die Liquiditätsplanung des Verwalters (insbesondere bei Betriebsfortführung) für die Schuldnerin durchkreuzen kann, speziell bei Warenlieferungen mit Forderungen in bedeutender Höhe oder an Großkunden. Schulz
1439
§ 41
Teil V Einzelfragen
206 Abhängig von der enthaltenen Gewinnspanne ist errechenbar, wie viel Alternativumsatz erzielt werden muss, um Forderungsausfälle zu kompensieren. Das Risiko des Forderungsausfalls kann nebst Inkasso- und Auskunftsservice über eine „Kreditversicherung“ abgedeckt werden. Zahlt der Schuldner nicht, soll die Warenkreditversicherung eintreten. 207 Ist die Schuldnerin selbst versichert, also ihre Lieferungen an dritte Abnehmer, so wird der Kreditversicherer den Vertrag nach Kenntnis der Insolvenz aufkündigen. Durch besondere Vereinbarungen besteht die Möglichkeit eine Abspaltung vorzunehmen und den Altteil vor Insolvenzeröffnung aufzukündigen, die Betriebsfortführung aber weiter zu versichern. 2.7
Bürgschaftsversicherung
208 Hat die Schuldnerin eigene Verpflichtungen Dritten gegenüber durch Bürgschaftsversicherungen abgesichert, so werden diese häufig „eingefroren“. Die Vorgehensweise richtet sich nach der Art der Bürgschaftsvereinbarung, z. B. Erfüllungs- oder Gewährleistungsbürgschaft oder weiteren, aktuell 63 anderen Absicherungsformen. Neue Bürgschaften werden durch die Schuldnerin über Versicherungslösungen nicht mehr möglich sein. 2.8
Prozessfinanzierung
209 Gerichtsprozesse können eine kostspielige Angelegenheit sein und der Verwalter steht zudem vor der Herausforderung, möglicherweise wenig Masse zur Verfügung zu haben. 210 Eine Lösung kann die Auslagerung der Prozessfinanzierung an einen externen Partner sein, der im Vorfeld die Übernahme des Prozessrisikos prüft. Tritt der Prozesskostenfinanzierer in das Risiko ein und trägt die Kosten für z. B. Gericht, Rechtsanwalt, Sachverständige etc., bekommt er bei Obsiegen in der Regel 20 – 30 % des Erlöses aus dem Prozess als Gegenleistung. 3.
Privateigentum der Mitarbeiter
3.1
Dienstreisen – Allgemeines
211 Auch während der Dienstreisen besteht ein Haftungsrisiko für den Arbeitgeber und somit mithin für den Verwalter. Daher bietet es sich an, klare Richtlinien vorzugeben, wie gereist werden darf, wenn es Dienstreisen betrifft. Wenn z. B. nur der Firmenwagen oder aber ein öffentliches Verkehrsmittel genutzt werden kann, entfällt das Risiko von Fahrten mit dem privaten PKW des Mitarbeiters. Bei einem Schaden an eben diesem während einer Dienstfahrt muss der Dienstherr/Arbeitgeber den Kaskoschaden ebenso ersetzen, wie eine mögliche Höherstufung in der Kfz-Haftpflicht-Versicherung. 3.2
Dienstreisekasko – Versicherungsschutz bei Dienstfahrten
212 Aufgrund rechtlicher Anforderungen ist der Arbeitgeber bei dienstlichen Fahrten mit privaten Fahrzeugen dem Arbeitnehmer zu einem angemessenen Kostenersatz verpflichtet. Die pauschale Erstattung i. H. von 0,30 € (Stand: 1/2023) erfüllt diese Angemessenheit nicht. Hintergrund ist, dass der Arbeitgeber das Risiko dafür tragen müsste und es nicht auf den Arbeitnehmer überwälzen kann. Die kurze Fahrt zum Briefkasten oder zur Post stellt bereits eine solche Fahrt dar. 213 Für eine vollständige Abwälzung dieses Risikos ist neben einer Dienstreisekasko-Versicherung, die in Form einer Vollkasko-Versicherung virtuell auch über bestehende Kasko-Versicherungen gezogen wird, auch eine Haftpflicht-Absicherung notwendig. 214 Als kleines Nebenrisiko lässt sich hier die schadenbedingte Mehrprämie des Mitarbeiters nach der Hochstufung durch einen Haftpflicht-Schaden ebenfalls in den Versicherungsschutz integrieren. Diese Form ist jedoch nicht so gebräuchlich.
1440
Schulz
Betriebsfortführung und Versicherungsschutz 3.3
§ 41
Reisegepäck
Gegenstände, die Mitarbeiter der Schuldnerin auf Geschäftsreisen mitführen, können 215 z. B. gegen Diebstahl oder Bruch versichert werden. Auch hier handelt es sich weitgehend um freiwillige Absicherungen. 4.
Soziale Leistungen/Absicherung von Mitarbeitern
4.1
Reisekrankenversicherung
Zu unterscheiden sind zwei Bereiche. x
216
Die Schuldnerin entsendet Mitarbeiter ins Ausland: Hier sind zahlreiche Regelungen (auch EU-Verordnungen) zu beachten. Grundsätzlich gilt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer im Bereich des Krankenschutzes so stellen muss, als sei dieser in Deutschland. Nachdem die deutsche gesetzliche Krankenversicherung (wenn überhaupt) nur rudimentären Schutz im Ausland bietet, ist eine ergänzende Auslandskrankenversicherung für Dienstreisen unbedingt zu empfehlen, damit die Schuldnerin das Kostenrisiko nicht tragen muss. Es bieten sich günstige oder pauschale Rahmenverträge als Jahresvertrag ohne namentliche Benennung der Mitarbeiter an. Eine private Auslandsreise-Krankenversicherung hilft hier meist wenig, da diese Dienstfahrten ins Ausland nur bei den besten Tarifen erfasst, der mögliche Versicherungsschutz die Sphäre der Einwirkungsmöglichkeit der Schuldnerin verlässt und somit keine nachhaltige Überwachung gewährleistet ist.
x
4.2
Ausländische Geschäftspartner beim Aufenthalt in Deutschland (Incoming): Erstattung von ambulanten und stationären Heilbehandlungen in Deutschland bei Krankheit oder Unfall, ggf. inkl. Zahnbehandlungskosten oder in vielen Einreisebestimmungen zur VISA-Erteilung notwendig ist. Krankenversicherung – Rahmenverträge
Im Rahmen der Mitarbeiterbindung und -förderung schließen Unternehmen Rahmenver- 217 träge mit privaten Krankenversicherungen ab, um ergänzend zur gesetzlichen Krankenversicherung Zusatzversicherungen mit besonderen Preisvorteilen zu bieten. Häufig können sich Mitarbeiter ohne Gesundheitsprüfung versichern, was als Einzelvertrag ggf. nicht mehr möglich wäre. Je nach Absicherungsform trägt der Mitarbeiter die Beitragszahlung alleine, so dass die Schuldnerin davon nicht belastet ist, oder aber eben der Arbeitgeber. Neuere Modelle oder unter dem Fokus der Mitarbeiterbindung können auch arbeitgeber- 218 finanzierte Formen möglich sein. In diesem Fall muss vor der Beendigung geprüft werden, ob es betriebliche Regelungen zu dieser Versicherung gibt und in welcher Form diese Vorliegen, z. B. arbeitsvertragliche Regelungen oder Betriebsvereinbarung. Zumeist gibt es Regelungen zur Weiterführungsmöglichkeit bei Ausscheiden des Mitar- 219 beiters. Eine Information an die Mitarbeiter durch den Verwalter oder die Versicherung ist wünschenswert, damit diese keine Nachteile erleiden. Auch sollte die potentielle Wirkung auf die Mitarbeiter in der heutigen Zeit bei einer schnellen Kündigung nicht außer Acht gelassen werden. 4.3
Unfallversicherung
Neben der Pflichtabsicherung über die Berufsgenossenschaft haben viele Unternehmen 220 Rahmenverträge einer ergänzenden privaten Unfallversicherung. Meist sind auch die bisher handelnden Organe der Schuldnerin mitversichert. Es handelt sich um einen rein freiwilligen Vertrag, so dass häufig Nichteintritt nach § 103 InsO erklärt werden kann. Wie so oft liegt
Schulz
1441
§ 41
Teil V Einzelfragen
der Teufel im Detail und die Arbeits-/Dienstverträge des verbleibenden Personals sollten hinsichtlich vertraglicher Pflichten geprüft werden. 5.
Verstöße aus Compliance-Richtlinien, Regress beim Angestellten
221 Neben der Organhaftung, die gesetzlich verankert und seit vielen Jahren gängige Rechtsprechung ist, weitet sich die Haftung nun auch auf leitende und normale Angestellte aus. Das Urteil des LAG Rheinland Pfalz vom 14.8.2013 bestätigt diese Tendenz.16) Arbeitgeber (und somit der Verwalter) können Arbeitnehmer bei weisungswidrigem Verhalten in Regress nehmen. Die Unternehmen können entsprechenden Versicherungsschutz einkaufen und damit die Vermögens-Schäden durch Mitarbeiter absichern. 6.
Spezialabsicherungen
222 Auch bei der Veräußerung von Geschäftsbereichen oder dem Gesamtunternehmen kann eine sog. W&I-Versicherung (Warranty & Indemnity) helfen. Typischerweise wird diese Absicherung zwar durch den Erwerber vorgenommen, es gibt hier aber auch VeräußererVerträge. Mit dieser Absicherung lassen sich wirtschaftliche Risiken (insbesondere kaufmännische) auf den Versicherungsmarkt transferieren und so höhere und schnellere Auszahlungen generieren. Spezialisierte Versicherungsmakler können helfen und auch in kurzer Zeit Lösungen präsentieren. VI.
Fazit: Eintritt in bestehende Verträge oder Neuabschluss?
223 Notwendiger und gewünschter Versicherungsschutz hängt immer von den vorherrschenden Gegebenheiten ab. Erst nach einer Aufnahme der Risiken, insbesondere bei Betriebsfortführung, kann eine Beurteilung durch den Experten vorgenommen werden. Anschließend sind die weiteren Maßnahmen zu beschließen. Vorstehende Ausführungen können zu Themen, die im Insolvenzverfahren häufig eine Rolle spielen, nur allgemeine Grundsätze und Handlungsempfehlungen wiedergeben, die im Einzelfall aber abweichend zu beurteilen sein können. 224 Tritt der Verwalter nach § 103 InsO nicht in bestehende Verträge ein oder kündigt regulär, so empfiehlt sich im Bereich der Haftpflichtversicherungen immer zu prüfen, welche Schadensersatzansprüche auf die Schuldnerin zukommen können und welche Schadenstheorie gilt (siehe Rz. 178–184) Es ist auf Nachhaftungsfristen und -möglichkeiten zu achten. 225 Wird neuer Versicherungsschutz abgeschlossen, sollte eine „Rückwärtsdeckung“ für bereits zurückliegende Geschäftstätigkeit enthalten sein. Grundsätzlich sollte der Verwalter im eigenen aber auch im Interesse aller am Verfahren Beteiligter immer auf bestmöglichen Versicherungsschutz im Bereich der „Haftung“ bedacht sein. In der Regel übernimmt die Masse diese Kosten. 226 Bei der Absicherung von Anlage- und Umlaufvermögen sowie Vermögensverlust empfiehlt sich in der Regel den Nichteintritt zu erklären, um Masse zu generieren und neuen, zeitgemäßen und richtigen Versicherungsschutz abzuschließen. Der Verwalter entgeht so auch der Gefahr, für vergangene Obliegenheitsverletzungen zu haften und stärkt dennoch die Masse allgemein. 227 Wie es in verschiedenen Bereichen der Insolvenzverwaltung längst gängige Praxis ist, sollten auch für den Versicherungsschutz spezialisierte Partner eingeschaltet werden. Um Sachverstand zu bündeln, einheitliche Qualitätsstandards zu schaffen und auch gegenüber den Produktanbietern „Marktmacht“ i. S. der Aufgabe optimalen Versicherungsschutz im Insolvenzverfahren zu erreichen bietet es sich an, Partner zu beauftragen, die mit Größe, Kompetenz und auch weltweiter Erfahrung hier i. S. einer 360°-Betrachtung weiterhelfen können. ___________ 16) LAG Rheinland Pfalz, Urt. v. 14.8.2013 – 8 Sa 136/13, JurionRS 2013, 52194.
1442
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Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
§ 42 Interne und externe Rechnungslegung, Steuern Schmittmann
Übersicht I. II. 1. 2. 3. III. IV.
Einleitung .................................................... 1 Handelsrechtliche Rechnungslegung....... 5 Gegenstand der Rechnungslegung .............. 6 Zeiträume der Rechnungslegung............... 19 Übergang auf den Insolvenzverwalter ...... 24 Offenlegung von Jahresabschlüssen ....... 31 Prüfungspflicht im Insolvenzverfahren .................................................... 37 V. Steuerrechtliche Buchführungspflicht ......................................................... 47 VI. Steuern ....................................................... 59 1. Stellung des Sanierungsmoderators, des Restrukturierungsbeauftragten, des (vorläufigen) Insolvenzverwalters, des (vorläufigen) Sachwalters und des Treuhänders ......................................... 59 1.1 Stellung des Sanierungsmoderators ..................................... 59 1.2 Stellung des Restrukturierungsbeauftragten ................................... 63 1.3 Stellung des vorläufigen Insolvenzverwalters....................... 67 1.4 Stellung des vorläufigen Sachwalters..................................... 73 1.5 Stellung des Insolvenzverwalters ....................................... 76 1.6 Stellung des Sachwalters................ 78 1.7 Stellung des Treuhänders .............. 82 2. Steuerliche Nebenleistungen, Haftung und Auskunft ............................................. 85 2.1 Zinsen............................................. 85 2.2 Säumnis- und Verspätungszuschläge ........................................ 87 2.3 Vollstreckungskosten.................... 90 2.4 Zwangs- und Ordnungsgelder .............................................. 91 2.5 Geldbußen und Geldstrafen ......... 93 2.6 Haftung des Insolvenzverwalters ....................................... 95 2.7 Auskunftsanspruch des Insolvenzverwalters .............. 100 3. Ertragsteuern (Einkommen- und Körperschaftsteuer) ................................. 111 3.1 Abgrenzung Insolvenzforderungen, Masseverbindlichkeiten und insolvenzfreie Verbindlichkeiten...................................... 112
3.2
4.
5.
Zinsabschlag und Kapitalertragsteuer .................................. 127 3.3 Besonderheiten bei der Besteuerung von Sanierungsgewinnen.... 135 3.3.1 Rechtsentwicklung bis 2017 ....... 135 3.3.2 Rechtsentwicklung ab 2017 ........ 138 3.3.2.1 Gesetzliche Regelung .................. 138 3.3.2.2 Anwendungsregelung durch das Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen .............................. 144 3.3.2.2.1 Einkommensteuer ................... 144 3.3.2.2.2 Körperschaftsteuer.................. 146 3.3.2.2.3 Gewerbesteuer......................... 149 3.3.2.3 Anwendungsregelung durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen ......... 157 3.3.2.3.1 Einkommensteuer ................... 159 3.3.2.3.2 Gewerbesteuer......................... 162 3.3.3 Rechtsprechung zu den Merkmalen des Sanierungsgewinns ..... 164 3.3.4 Fortführungsgebundener Verlustvortrag.............................. 171 3.4 Bauabzugsteuer............................ 172 Umsatzsteuer ........................................... 178 4.1 Unternehmen und Unternehmer ............................... 179 4.2 Steuerbefreiungen und Verzicht auf Steuerbefreiungen.................. 195 4.3 Steuer............................................ 199 4.4 Vorsteuer und Vorsteuerberichtigung ................................. 203 4.4.1 Vorsteuer ..................................... 203 4.4.2 Vorsteuerberichtigung ................ 215 4.5 Besteuerung ................................. 227 Gewerbesteuer.......................................... 235 5.1 Grundlagen .................................. 235 5.2 Abgrenzung Insolvenzforderungen, Masseverbindlichkeiten und insolvenzfreie Verbindlichkeiten...................................... 240 5.3 Gewerbeertrag in der Insolvenz.... 243 5.4 Gewerbesteuer und Sanierungsgewinn .......................................... 248 5.5 Aufrechnung durch die Gemeinde .......................................... 258
Schmittmann
1445
§ 42 6.
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
Kraftfahrzeugsteuer ................................. 259 6.1 Grundlagen .................................. 259 6.2 Nutzung oder Neuanmeldung des Fahrzeugs durch den Insolvenzverwalter............................... 262
6.3 6.4
Veräußerung eines Fahrzeugs durch den Insolvenzverwalter .... 264 Behandlung insolvenzfreier Fahrzeuge .................................... 267
Literatur: Bindl/Leidel, Unternehmensbesteuerung nach dem „Jahressteuergesetz 2018“, GmbHR 2019, 1; Breidert, Einkommensteuer – Zur Entrichtungspflicht des Zwangsverwalters, IGZInfo 2015, 48; Busch, Grundzüge des Insolvenzsteuerrechts, Teil 1: Grundlagen, AO, FGO, StB 2021, 128; Busch/ Heckmann, Einkommensteuer im Insolvenzverfahren, StB 2022, 161; Casse, Einkommensteuer als Masseverbindlichkeit? – Klarheit durch den BFH, ZInsO 2011, 2309; Dobler, Masseverbindlichkeit aus Forderungseinzug – Sorgt das BMF-Schreiben vom 9.12.2011 für Klarheit?, ZInsO 2012, 208; Duda/ Schmittmann, Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz, 2. Aufl., 2021; Engel, Bauabzugssteuer in der Insolvenz, InsbürO 2022, 75; Engels, Zwangsverwaltung und Einkommensteuer, Rpfleger 2015, 525; Fischer, Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis, DB 2012, 885; Gerbers, Sanierungsgewinn versus Realisierung stiller Reserven im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit, ZInsO 2006, 633; Gundlach/Rautmann, Änderungen der Insolvenzordnung durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011, DStR 2011, 82; Hölzle, Umsatzsteuerliche Organschaft und Insolvenz der Organgesellschaft, DStR 2006, 1210; Hölzle/ Kahlert, Der sog. Sanierungserlass ist tot – Es lebe die Ausgliederung, ZIP 2017, 510; Jungclaus/ Keller, Die Änderungen der InsO durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011, NZI 2010, 808; Kahlert, Das BMF-Schreiben v. 3.5.2017 betreffend die ertragsteuerlichen Pflichten des Zwangsverwalters – Überblick und Einordnung für die Praxis, ZfIR 2017, 649; Kahlert, Ein neuer Schöpfungsakt des V. BFHSenats zur Umsatzsteuer im Insolvenzverfahren und seine Entschlüsselung, ZIP 2015, 11; Kahlert, Umsatzsteuerliche Behandlung der Einschaltung eines Kassenprüfers im Insolvenzverfahren, DStR 2011, 2439; Kahlert, Zur Dogmatik der Umsatzsteuer im Insolvenzverfahren, DStR 2011, 1973; Kahlert, Die Neugeburt eines Fiskusprivilegs im Insolvenzverfahren nach Art. 3 Nr. 2 und Nr. 3 des Haushaltsbegleitgesetzes-Entwurfs 2011, ZIP 2010, 1887; Kahlert, „Wiedereinführung“ des Fiskusvorrechts im Insolvenzverfahren? – Die Fiskusvorrechte sind schon lange da!, ZIP 2010, 1274; Kahlert/ Schmidt, A., Der sog. Sanierungserlass ist tot – Wie geht es weiter ?, ZIP 2017, 503; Kahlert/Schmidt, A., Neues zu den steuerlichen Pflichten von Vermögensverwaltern, FR 2015, 596; Kanzler, Die Reanimation des steuerfreien Sanierungsgewinns, FR 2018, 794; Keilbach, Die Doppelberichtigung der Umsatzsteuer gem. § 17 UStG nach der Neufassung des § 55 IV UStG idF des SanInsFoG, NZI 2022, 256; Klasmeyer/Kübler, Buchführungspflichten, Bilanzierungspflichten und Steuererklärungspflichten des Konkursverwalters sowie Sanktionen im Fall ihrer Verletzung, BB 1978, 369; Kunz/Mundt, Rechnungslegung in der Insolvenz, (Teil I) DStR 1997, 620, (Teil II) DStR 1997, 664; Lemken, Folgen der Beendigung einer umsatzsteuerlichen Organschaft durch Insolvenz, InsbürO 2012, 417; Marotzke, Sinn und Unsinn einer insolvenzrechtlichen Privilegierung des Fiskus, ZInsO 2010, 2163; Misoch/Schmittmann, Das Auskunftsverfahren nach dem. Informationsfreiheitsgesetz des Bundes, VR 2012, 181; Nawroth, Der neue § 55 Abs. 4 InsO – Die Gedanken sind frei …, ZInsO 2011, 107; Olbing, Gewerblichkeit des Anwalts und Einkommensteuerpflicht bei Zwangsverwaltung, AnwBl. 2016, 33; Onusseit, Zur Neuregelung des § 55 Abs. 4 InsO, ZInsO 2011, 641; Pape, Zum Fortgang der Arbeiten auf der Dauerbaustelle InsO, ZInsO 2011, 1; Rennert-Bergenthal/Dähling, Die Handhabung des § 55 Abs. 4 InsO in der Praxis, ZInsO 2011, 1922; Rickert/Tielmann/Trostheide, Besteuerung in der vorläufigen Eigenverwaltung – Ausgewählte Folgen der Neufassung des § 55 IV InsO, NZI 2022, 463; Roth, Anfechtbarkeit von Umsatzsteuerforderungen gem. § 55 Abs. 4 InsO, ZInsO 2011, 1779; Sämisch/Adam, Fiskalische Begehrlichkeiten: Insolvenzforderung oder Masseverbindlichkeit?, ZInsO 2010, 934; Schacht, Erneute Stärkung der Fiskusvorrechte im Insolvenzverfahren durch den BFH?, ZInsO 2011, 1787; Schacht, Vorrechte öffentlicher und fiskalischer Forderungen im Insolvenzverfahren, ZInsO 2011, 1048; Schlauß, Ein Jahr Erfahrungen mit den neuen Jahresabschlusspublizitätspflichten, DB 2008, 2831; Schlauß, Das neue Ordnungsgeldverfahren bei Verletzung der Publizitätspflicht, DB 2007, 2191; Schmidtberger, FG Greifswald – oder das Ende der Zwangsverwaltung?, ZfIR 2011, 786; Schmittmann, Die wichtigsten Entscheidungen im Jahre 2021 an der Schnittstelle von Insolvenz- und Steuerrecht, StuB 2022, 150; Schmittmann, Steuerfreiheit bei Sanierung und Restrukturierung im Lichte der aktuellen Rechtsentwicklungen, StuB 2021, 905; Schmittmann, Besteuerung der Umsätze und Einkünfte des Sanierungsmoderators und des Restrukturierungsbeauftragten, ZRI 2021, 705; Schmittmann, Update Informationsfreiheits- und Transparenzrecht 2020/2021, K&R 2021, 568; Schmittmann, Umsatzsteuer in der Sanierungsmoderation, im Restrukturierungsverfahren und in der vorläufigen Eigenverwaltung, StuB 2021, 418; Schmittmann, Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen unter besonderer Berücksichtigung gewerbesteuerlicher Aspekte, Gemeindehaushalt 2019, 36; Schmittmann, Sanierungsgewinn und Gewerbesteuer: ein Beschluss des Großen Senats des BFH, eine Verwaltungsanweisung des BMF und eine Gesetzesänderung – die Unsicherheit aber bleibt, Gemeindehaushalt 2017, 193; Schmittmann, Der BMF macht ernst: Der Sanierungserlass ist wirklich tot, INDat-Report 8/2017, 28; Schmittmann, Mutig ist anders: Hinter der EU-Kommission versteckt, INDat-Report 4/2017, 39; Schmittmann, BFH kassiert den
1446
Schmittmann
Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
§ 42
„Sanierungserlass“ – was kommt nun?, NZI Heft 5/2017, V; Schmittmann, Die 12 wichtigsten Entscheidungen des BFH an der Schnittstelle zwischen Insolvenz- und Steuerrecht, StuB 2016, 73; Schmittmann, Auskunftsansprüche des Insolvenzverwalters gegen die Finanzverwaltung auf Grundlage der Landesinformationsfreiheitsgesetze, NZI 2015, 594; Schmittmann, Des einen Freud, des anderen Leid: BFH erweitert die steuerlichen Pflichten des Zwangsverwalters, StuB 2015, 550; Schmittmann, Einnahmen in der Zwangsverwaltung und Einkommensteuer, ZfIR 2015, 545; Schmittmann, Handelsund steuerrechtliche Pflichten in der Insolvenz und ihre Durchsetzung, StuB 2013, 67; Schmittmann, Umsatzsteuer, Aufrechnung und Insolvenz in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes, StuB 2012, 874; Schmittmann, Einkommensteuerliche Problemstellungen in und nach der Insolvenz des Steuerpflichtigen, StuB 2012, 404; Schmittmann, Das Bundesfinanzministerium, der V. Senat des BFH und die Umsatzsteuer in der Insolvenz, ZIP 2012, 249; Schmittmann, Praktische Auswirkungen der aktuellen Rechtsprechung zum Informationsfreiheitsrecht, InsbürO 2012, 246; Schmittmann, Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis im vorläufigen und eröffneten Insolvenzverfahren zwischen BMF und BFH, StuB 2012, 237; Schmittmann, Umsatzsteuer aus Einzug von Altforderungen nach Insolvenzeröffnung. Zugleich Besprechung BFH v. 9.12.2010 – V R 22/10, ZIP 2011, 782, ZIP 2011, 1125; Schmittmann, Vorsteuer aus Verwaltervergütung, InsbürO 2011, 224; Schmittmann, Das Haushaltsbegleitgesetz 2011 aus insolvenzsteuerlicher Sicht, StuB 2010, 877; Schmittmann, § 1 InsO n. F.: Das Insolvenzverfahren dient der Befriedigung des Finanzamtes, INDat-Report 3/2011, 26; Schmittmann, Turnaround durch steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten und Besteuerung von Sanierungsgewinnen, in: Krisen im Aufschwung, hrsg. v. Heinrich, 2009, S. 83; Schmittmann, EHUG und Offenlegung in der Insolvenz, StuB 2008, 289; Schmittmann, Organschaft in der Insolvenz und Umsatzsteuer, InsbürO 2007, 265; Schmittmann, Gefahren für die Organschaft in der Insolvenz, ZSteu 2007, 191; Schmittmann, Rechnungsanforderungen im Insolvenzverfahren, InsbürO 2006, 383; Schmittmann, Steuerberatungskosten im Insolvenzverfahren, InsbürO 2005, 288; Schmittmann, Offenlegungspflichten einer GmbH & Co. KG, StuB 2004, 1063; Schmittmann, Steuerpflichtiger Sanierungsgewinn bei Restschuldbefreiung und Insolvenzplan?, ZInsO 2003, 505; Schmittmann/Böing, Die Auskunft, der Rechtsweg und das Geheimnis – neue Erkenntnisse zu Auskunftsansprüchen gegenüber Sozialversicherungsträgern und Finanzverwaltung, InsbürO 2010, 15; Schmittmann/Brandau/Stroh, Umsatzsteuerliche Haftungsrisiken des Zwangsverwalters, IGZInfo 2012, 3; Schmittmann/Kupka, Auskunftsansprüche des Insolvenzverwalters gegen potentielle Anfechtungsgegner unter besonderer Berücksichtigung von Auskunftsansprüchen nach dem Informationsfreiheitsgesetz gegen Sozialversicherungsträger, InsbürO 2009, 83; Schmittmann/Schmidt, Ch., Haftung für Gewerbesteuer als Masseverbindlichkeit im Insolvenzverfahren, StB 2021, 209; Schwarz/Rühmann, Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Ende in Sicht, KSI 2018, 256; Sinz/Oppermann, § 55 Abs. 4 InsO und seine Anwendungsprobleme in der Praxis, DB 2011, 2185; Skauradszun, Die praktische Konkordanz bei der Steuerfreiheit von Sanierungserträgen anhand §§ 3a, 3c EStG, 7b GewStG n. F., ZIP 2018, 1901; Sonnleitner/Witfeld, Insolvenz- und Sanierungssteuerrecht, 2. Aufl., 2022; Trinks, Die Eingliederung der umsatzsteuerlichen Organgesellschaft und ihr Bestand im Insolvenzfall, UVR 2010, 12; Trottner, Anwendungsfragen zu § 55 Abs. 4 InsO, NWB 2012, 920; Uhländer, Steuervollzug in der Restrukturierung, Sanierung und Insolvenz, DB 2021, 1027; Uhländer, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen im „Stresstest“ – Vertrauensschutz für Altfälle durch Nichtanwendungserlass des BMF v. 29.03.2018, DB 2018, 854; Uhländer, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen im Fokus der Gewaltenteilung – BFH verwirft auch BMF-Schreiben v. 27.4.2017 zum Vertrauensschutz für Altfälle, DB 2017, 2761; Uhländer, Erlass der Einkommensteuer auf den Sanierungsgewinn, ZInsO 2005, 76; Vogel/Schlüter, GewSt auf den Sanierungsgewinn, DB 2015, 344; de Weerth, Praxisfragen zur Einkommensteuererklärung bei Zwangsversteigerung und -verwaltung, NZI 2015, 643; Weiland, Wi(e)der die Privilegierung der öffentlich-rechtlichen Gläubiger, DZWIR 2011, 224; Weiß, Zulässigkeit der Verwendung des offengelegten Jahresabschlusses einer GmbH im Strafverfahren gegen ihre Geschäftsführer?, DB 2010, 1744; Welte/Friedrich-Vache, Masseverbindlichkeit bei Entgeltvereinnahmung für vorinsolvenzlich ausgeführte Leistungen: Chancen und Risiken der geänderten Rechtsprechung des BFH, ZIP 2011, 1595; Weyand, Sanktionen bei Verletzung der Publizitätspflicht nach dem EHUG, StuB 2007, 935; Wipperfürth/Busch/Schmittmann, Einkommensteuer und die Erklärungspflicht des Treuhänders bei abhängiger Beschäftigung, InsbürO 2013, 478; Wipperfürth/Schmittmann, Die Gewerbesteuer in der Insolvenz, InsbürO 2014, 471; Wollring/Passecker, Umsatzsteuerliche Auswirkungen von Restrukturierungsplänen, ZRI 2022, 308; Zimmer, Haushaltsbegleitgesetz 2011 (§ 55 Abs. 4 InsO n. F.) – Erste Anwendungsprobleme, ZInsO 2010, 2299.
I.
Einleitung
Die Regelung des § 155 Abs. 1 Satz 1 InsO sieht vor, dass die handels- und steuerrecht- 1 lichen Pflichten des Schuldners zur Buchführung und zur Rechnungslegung unberührt bleiben. In Bezug auf die Insolvenzmasse hat der Insolvenzverwalter diese Pflichten gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO zu erfüllen.
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2 Die insolvenzrechtliche, handelsrechtliche und steuerrechtliche Rechnungslegung sind streng zu differenzieren.1) 3 Schon der Konkursverwalter war verpflichtet, unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung Bücher zu führen und Jahresabschlüsse zu erstellen,2) obgleich die KO keine der Regelung des § 155 InsO vergleichbare Norm kannte.3) Der Insolvenzverwalter ist sowohl zur internen Rechnungslegung nach der InsO verpflichtet als auch zur Erfüllung der allgemeinen Rechnungslegungspflichten des Schuldners nach außen.4) 4 Da die Rechnungslegung der Aggregation und Bereitstellung von zweckorientiertem Wissen dient,5) gibt die Buchführung dem Insolvenzverwalter wichtige Informationen für die Fortführung des schuldnerischen Betriebs.6) II.
Handelsrechtliche Rechnungslegung
5 Im Fall der Betriebsfortführung hat der Insolvenzverwalter x
den Gegenstand der Rechnungslegung zu bestimmen sowie
x
die Zeiträume der Rechnungslegung zu definieren.
1.
Gegenstand der Rechnungslegung
6 Die Regelung des § 155 Abs. 1 InsO begründet keine eigenständige Verpflichtung zur Rechnungslegung, sondern setzt eine solche voraus. Es ist also zu prüfen, ob der Schuldner bereits vor Verfahrenseröffnung zur handelsrechtlichen Rechnungslegung verpflichtet war. Gemäß §§ 238 ff. HGB unterliegen der handelsrechtlichen Buchführungspflicht nur Kaufleute nach §§ 1 und 6 HGB. 7 Der Kaufmannsbegriff umfasst auch Apotheker und Dienstleistungsunternehmen, nicht aber Freiberufler, also insbesondere Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Architekten. Diese betreiben ungeachtet der Größe ihres Unternehmens kein Handelsgewerbe.7) 8 Bei Kapitalgesellschaften ergibt sich die Kaufmannseigenschaft aus § 6 Abs. 2 HGB sowie den Einzelgesetzen. Die Auflösung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 262 Abs. 1 Nr. 4 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG) beendet die Kaufmannseigenschaft nicht. Sie endet erst durch Vermögenslosigkeit und Löschung im Handelsregister.8) Genossenschaften gelten gemäß § 17 Abs. 2 GenG als Kaufleute i. S. des HGB. 9 Die handelsrechtlichen Buchführungspflichten resultieren beim Einzelkaufmann aus der Kaufmannseigenschaft.9)
___________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
So auch Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 921; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 1. So RFH, Urt. v. 22.6.1938 – VI 687/37, RStBl. 1938, 669. So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 3. So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 4; Graf-Schlicker-Breitenbücher, InsO, § 155 Rz. 3. So Denkhaus in: HambKomm-InsO, § 155 Rz. 4; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 2. So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 5. So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 11; Graf-Schlicker-Breitenbücher, InsO, § 155 Rz. 5; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 4. So Jaffé in: MünchKomm-InsO, § 155 Rz. 11; Graf-Schlicker-Breitenbücher, InsO, § 155 Rz. 8; K. SchmidtSchmittmann, InsO, § 155 Rz. 4. So Graf-Schlicker-Breitenbücher, InsO, § 155 Rz. 6; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 7.
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Nach Einstellung des Geschäftsbetriebs besteht die Buchführungspflicht nicht fort.10) 10 Die Masseverwertung durch den Insolvenzverwalter ist Vermögensverwaltung und kein Handelsgewerbe.11) Im Falle der Betriebsfortführung besteht das Handelsgewerbe weiter, so dass auch die 11 Verpflichtung zur handelsrechtlichen Rechnungslegung fortbesteht. Bei Personenhandelsgesellschaften ist der Betrieb eines Handelsgewerbes nicht erforderlich. 12 Für die Kaufmannseigenschaft reicht die Eintragung in das Handelsregister aus (§ 105 Abs. 2 Satz 1 HGB). Die handelsrechtliche Rechnungslegung umfasst
13
x
die Führung der Handelsbücher (§ 239 HGB) und
x
die Erstellung einer Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres (§ 242 HGB).
Kapitalgesellschaften und haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften i. S. von 14 § 264a HGB haben daneben den Jahresabschluss grundsätzlich um einen Anhang zu erweitern sowie einen Lagebericht zu erstellen (§ 264 HGB). Gemäß § 264 Abs. 1 Satz 3 HGB brauchen kleine Kapitalgesellschaften den Lagebericht nicht aufzustellen.12) Der Jahresabschluss muss gemäß § 243 Abs. 2 HGB klar und übersichtlich sein. Grund- 15 sätzlich ist gemäß § 243 Abs. 3 HGB der Jahresabschluss innerhalb der, einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufzustellen. Kapitalgesellschaften und haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften sind gemäß § 264 Abs. 1 Satz 2 HGB verpflichtet, den Jahresabschluss und den Lagebericht in den ersten drei Monaten des Geschäftsjahres für das vergangene Geschäftsjahr aufzustellen. Lediglich kleine Kapitalgesellschaften dürfen den Jahresabschluss später aufstellen, wenn dies einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entspricht, jedoch innerhalb der ersten sechs Monate des Geschäftsjahres (§ 264 Abs. 1 Satz 3 HGB). Die Sechs-Monats-Frist, die grundsätzlich auch für Einzelkaufleute und Personenhandels- 16 gesellschaften gilt,13) ist weder durch das Bundesamt für Justiz noch die Finanzverwaltung verlängerbar.14) Die Bilanzierung erfolgt nach Verfahrenseröffnung nach den allgemeinen Grundsätzen, 17 sofern sich nicht aus insolvenzrechtlichen Erwägungen Abweichungen ergeben. Im Falle der Betriebsfortführung ist grundsätzlich von Fortführungswerten auszugehen. Es gilt das Going-Concern-Prinzip aus § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB.15) Zerschlagungswerte sind anzusetzen, wenn der Betrieb stillgelegt werden soll. Bei einer Fortführung des schuldnerischen Unternehmens ist die Schlussbilanz nach den 18 Gliederungs-, Ansatz- und Bewertungsvorschriften des HGB zu erstellen.16) Auch in der Insolvenz bestimmen sich diese Pflichten nach den Vorschriften der §§ 242 ff. HGB. Es ist zwischen den für alle Kaufleute geltenden Vorschriften der §§ 242 bis 263 HGB sowie
___________ 10) So OLG Celle, Beschl. v. 31.7.1968 – 1 Ws 37/68, NJW 1968, 2119, 2120. 11) So Jaffé in: MünchKomm-InsO, § 155 Rz. 9; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 7. 12) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 942; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 9; Schmittmann, StuB 2013, 67. 13) So Hopt-Merkt, HGB, § 243 Rz. 11. 14) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 11. 15) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 53; Graf-Schlicker-Breitenbücher, InsO, § 155 Rz. 19. 16) So Jaffé in: MünchKomm-InsO, § 155 Rz. 6; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 28.
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den ergänzenden Sondervorschriften in §§ 264 ff. HGB für Kapitalgesellschaften und gemäß §§ 336 ff. HGB für eingetragene Genossenschaften zu unterscheiden.17) 2.
Zeiträume der Rechnungslegung
19 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnt gemäß § 155 Abs. 2 Satz 1 InsO ein neues Geschäftsjahr. Sofern der Schuldner seinen Rechnungslegungspflichten bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht nachgekommen ist, so hat der Insolvenzverwalter die rückständigen Jahresabschlüsse aufzustellen.18) 20 Ungeachtet der Einstellung des Geschäftsbetriebs oder der Fortführung des Unternehmens entsteht mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Rumpfgeschäftsjahr. Dieses umfasst wiederum einen Zeitraum von zwölf Monaten, § 240 Abs. 2 Satz 2 HGB. Das Geschäftsjahr ist auf Stunde und Minute genau zu bestimmen, da § 27 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 InsO auf die Stunde der Eröffnung abstellt. Das Schuldnervermögen kann sich durch Handlungen des Schuldners oder eines mit Verfügungsbefugnis ausgestatteten vorläufigen Insolvenzverwalters bis unmittelbar vor Verfahrenseröffnung ändern, so dass besondere Sorgfalt bei der Aufstellung der Eröffnungsbilanz geboten ist.19) 21 Gerade in Fällen der Fortführung nach Verfahrenseröffnung ist die Bildung eines Geschäftsjahres, das sich am Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens orientiert, vielfach unpraktisch. Beispiel: Ist das Insolvenzverfahren z. B. am 18.5.2022, 10.00 Uhr, eröffnet, so erstreckt sich das auf die Insolvenzeröffnung folgende Geschäftsjahr bis zum 18.5.2023, 9.59 Uhr. Es liegt auf der Hand, dass dies für die Praxis mit unnötigem weiterem Arbeits- und Kostenaufwand verbunden ist, so dass der Insolvenzverwalter regelmäßig aus pragmatischen Gründen wieder zum satzungsmäßigen Geschäftsjahr zurückkehren will.20) 22 Der Insolvenzverwalter hat die Möglichkeit, das aus § 155 Abs. 2 Satz 1 InsO folgende „Insolvenzgeschäftsjahr“ zu ändern und zum ursprünglichen, also satzungsmäßigen, Geschäftsjahr zurückzukehren. Der Insolvenzverwalter wird regelmäßig zum satzungsmäßigen Geschäftsjahr z. B. deshalb zurückkehren, um unnötige, mit der dauerhaften Umstellung des Geschäftsjahres zusammenhängende Kosten zu vermeiden. Nach der Rechtsprechung des BGH ergibt sich diese Entscheidungsbefugnis des Insolvenzverwalters aus seinem Verwaltungsrecht nach § 80 InsO i. V. m. § 155 Abs. 1 InsO. Der Insolvenzverwalter hat in Bezug auf die Insolvenzmasse die sich aus den handelsrechtlichen Buchführungs- und Rechnungslegungsvorschriften ergebenden Pflichten des Insolvenzverwalters zu erfüllen, so dass auch die Entscheidung über die Umstellung eines Geschäftsjahres zu seinen eingeräumten Befugnissen gehört. Es handelt sich insbesondere auch nicht um eine Satzungsänderung, die der Zustimmung der Gesellschafter bedarf, sondern lediglich um die Rückkehr zum satzungsmäßigen Geschäftsjahr. Allerdings muss die Entscheidung des Insolvenzverwalters, das Geschäftsjahr zu ändern, nach außen erkennbar werden. Die Erkennbarkeit muss jedenfalls noch während des ersten laufenden Geschäftsjahres nach der Eröffnung des
___________ 17) 18) 19) 20)
So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 36; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 28. Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 14; Schmittmann, StuB 2013, 67. Vgl. Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 23; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 19. Vgl. Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 28; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 20.
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Insolvenzverfahrens eintreten, was durch die Anmeldung zur Eintragung ins Handelsregister geschehen kann, aber auch durch eine sonstige Mitteilung an das Registergericht.21) Es empfiehlt sich, gerade in den Fällen der Fortführung des Unternehmens sobald als mög- 23 lich zum satzungsmäßigen Geschäftsjahr zurückzukehren, um unnötigen Aufwand zu vermeiden. 3.
Übergang auf den Insolvenzverwalter
Die Regelung des § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO sieht vor, dass der Insolvenzverwalter die han- 24 dels- und steuerrechtlichen Pflichten des Schuldners in Bezug auf die Insolvenzmasse zu erfüllen hat. Auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung hat der Insolvenzverwalter eine umfassende 25 Inventur vorzunehmen.22) Der Insolvenzverwalter hat die Grundstücke, die Forderungen und Schulden, den Betrag des baren Geldes sowie die sonstigen Vermögensgegenstände genau zu verzeichnen und dabei den Wert der einzelnen Vermögensgegenstände und Schulden anzugeben, § 240 Abs. 1 InsO. Bei körperlichen Gegenständen, Sachen, Urkunden wird ebenfalls eine Aufstellung verlangt.23) Bei einer Fortführung des schuldnerischen Unternehmens über den Zeitpunkt der Ver- 26 fahrenseröffnung hinaus (§ 157 Satz 1 InsO) ist die Schlussbilanz nach den Gliederungs-, Ansatz- und Bewertungsvorschriften des HGB zu erstellen.24) Da mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 155 Abs. 2 Satz 1 InsO ein neues Geschäftsjahr beginnt, ist gemäß § 242 Abs. 1 Satz 1 HGB eine handelsrechtliche (Insolvenz)-Eröffnungsbilanz aufzustellen.25) Dies gilt unabhängig davon, dass der Insolvenzverwalter verpflichtet ist, gemäß § 151 InsO ein Verzeichnis der Massegegenstände sowie gemäß § 153 InsO eine Vermögensübersicht aufzustellen. Führt der Insolvenzverwalter das schuldnerische Unternehmen, wenn auch nur zeitweise, 27 fort, so behält der Einzelunternehmer seine Qualifikation als Kaufmann. Personenhandelsgesellschaften und Kapitalgesellschaften sind ohnehin Kaufleute kraft Rechtsform. Die Rechnungslegungspflichten folgen aus §§ 238 ff. HGB und werden durch § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO auf den Insolvenzverwalter übergeleitet.26) Der Gesetzgeber sieht eine Erleichterung bei der Aufstellungsfrist dahin vor, dass die Zeit 28 bis zum Berichtstermin in gesetzliche Fristen für die Aufstellung oder die Offenlegung eines Jahresabschlusses nicht eingerechnet wird (§ 155 Abs. 2 Satz 2 InsO). In der Regel wird das Insolvenzverfahren nicht innerhalb eines Jahres ab Eröffnung beendet, 29 so dass während des Insolvenzverfahrens fortlaufend Jahresabschlüsse aufzustellen sind.27) Die Jahresabschlüsse für die Zeiträume nach Verfahrenseröffnung haben eine Informations- 30 funktion für den Verwalter selbst sowie die Beteiligten, also insbesondere die Insolvenzund Massegläubiger, aber auch sonstige Beteiligte. Die jährliche Aufstellung von Jahres___________ 21) So BGH, Beschl. v. 14.10.2014 – II ZB 20/13, ZIP 2015, 88 = DB 2015, 239 m. Anm. Schmittmann; Vorinstanz: OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 21.5.2012 – 20 W 65/12, Rz. 29 ff., ZIP 2012, 1617, dazu EWiR 2012, 675 f. (Schmittmann). 22) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 39. 23) Vgl. zu den Einzelheiten der Bestandsaufnahme: Hopt-Merkt, HGB, § 240 Rz. 2; K. SchmidtSchmittmann, InsO, § 155 Rz. 22. 24) So Jaffé in: MünchKomm-InsO, InsO, § 155 Rz. 6; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 28. 25) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 28. 26) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 32. 27) So IDW, Externe (handelsrechtliche) Rechnungslegung im Insolvenzverfahren (IDW RH HFA 1.012), Stand: 6.12.2018, Rz. 26, IDW Life 11/2015, S. 610 ff., IDW Life 1/2019, S. 74 f.
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abschlüssen soll einen Überblick über die zum Stichtag bestehende Vermögenslage des Schuldners geben. Aus der Bilanz ist insbesondere zu ersehen, welche Vermögensgegenstände bereits verwertet worden sind und welche noch der Verwertung bedürfen.28) Aus der Gewinn- und Verlustrechnung ist zu ersehen, ob die Fortführung des Unternehmens zu Gewinnen geführt hat. Im Anhang und im Lagebericht ist sowohl zu den Verwertungshandlungen als auch zum wirtschaftlichen Ergebnis der Fortführung detailliert Stellung zu nehmen.29) III.
Offenlegung von Jahresabschlüssen
31 Die Pflicht zur Offenlegung von Jahresabschlüssen folgt aus § 325 HGB. Zur Offenlegung verpflichtet sind die gesetzlichen Vertreter (§ 325 Abs. 1 Satz 1 HGB). Die Verpflichtung zur Offenlegung von Jahresabschlüssen ist sowohl mit Europäischem Gemeinschaftsrecht30) als auch mit dem GG vereinbar.31) 32 Die Offenlegung der Jahresabschlüsse erfolgt nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowohl für die Jahresabschlüsse vor Verfahrenseröffnung als auch für die Jahresabschlüsse nach Verfahrenseröffnung durch den Insolvenzverwalter.32) 33 Obgleich der organschaftliche Vertreter der Schuldnerin Adressat der Verpflichtung zur Offenlegung des Jahresabschlusses bleibt,33) hat die Offenlegung – insbesondere im Falle der Unternehmensfortführung – durch den Insolvenzverwalter zu erfolgen.34) 34 Die Verpflichtung zur Offenlegung wird durch Ordnungsgeldverfahren (§ 335 HGB) durchgesetzt. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt ein Ordnungsgeldverfahren gegen den Insolvenzverwalter nicht in Betracht.35) Ordnungsgelder können daher auch nicht Masseverbindlichkeiten i. S. des § 55 InsO sein.36) 35 Eine Befreiung von der Offenlegungspflicht kommt – auch nicht aufgrund einer doppelt analogen Anwendung der § 270 Abs. 3 AktG, § 71 Abs. 3 GmbHG – aus Gründen des Gläubigerschutzes nicht in Betracht.37) 36 Im Strafverfahren gegen organschaftliche Vertreter der Schuldnerin dürfen die aus offengelegten Jahresabschlüssen gewonnenen Erkenntnisse, z. B. im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen Betruges, Insolvenzverschleppung oder Verletzung der Buchführungspflicht ohne Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 EMRK verwendet werden.38)
___________ 28) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 62. 29) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 62. 30) So EuGH, Beschl. v. 23.9.2004 – Rs. C-435/02 und Rs. C-103/03, Slg. 2004, I-8663 ff. = ZIP 2004, 2134, dazu EWiR 2004, 1229 f. (Volmer); vgl. Schmittmann, StuB 2004, 1063 ff. 31) So BVerfG, Beschl. v. 11.2.2009 – 1 BvR 3582/08, NZG 2009, 515 = BB 2009, 1122; LG Bonn, Beschl. v. 7.10.2008 – 30 T 122/08, GmbHR 2009, 95 = StuB 2009, 158; LG Köln, Urt. v. 8.10.2008 – 28 O 302/08, BB 2009, 211. 32) Vgl. Weyand, StuB 2007, 935, 938; Schlauß, DB 2007, 2191, 2194; Schlauß, DB 2008, 2831; Schmittmann, StuB 2008, 289. 33) So LG Bonn, Beschl. v. 16.5.2008 – 11 T 52/07, NZI 2008, 503. 34) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 47. 35) So Schmittmann, StuB 2008, 289, 292. 36) So LG Bonn, Beschl. v. 13.11.2008 – 30 T 275/08, ZIP 2009, 332, dazu EWiR 2009, 319 (Holzer); entgegen LG Bonn, Beschl. v. 6.3.2008 – 11 T 53/07, ZIP 2008, 1082 m. Anm. Weitzmann; Weyand, StuB 2007, 935, 938; Schlauß, DB 2007, 2191, 2194. 37) So Jaffé in: MünchKomm-InsO, InsO, § 155 Rz. 22; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 52. 38) So Weiß, DB 2010, 1744, 1749; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 53.
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Prüfungspflicht im Insolvenzverfahren
Die Prüfungspflichten ergeben sich grundsätzlich aus §§ 316 ff. HGB.39)
37
Vergütungsansprüche des noch von der Insolvenzschuldnerin bestellten Abschlussprüfers, 38 die sich auf vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbrachte Tätigkeiten beziehen, sind auch dann keine Masseverbindlichkeiten, wenn die Prüfung erst nach der Insolvenzeröffnung abgeschlossen wird.40) Die Bestellung des Abschlussprüfers erfolgt außerhalb des Insolvenzverfahrens gemäß 39 § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB durch die Gesellschafter. Aufgrund der Sonderregelung in § 155 Abs. 3 Satz 1 InsO erfolgt die Bestellung des Abschlussprüfers im Insolvenzverfahren ausschließlich durch das Registergericht auf Antrag des Verwalters, da die Wahl durch die Gesellschafter wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der Prüferbestellung im Insolvenzverfahren nicht mehr angemessen ist.41) Ist für das Geschäftsjahr vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits ein Abschluss- 40 prüfer bestellt, so wird die Wirksamkeit dieser Bestellung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt (§ 155 Abs. 3 Satz 2 InsO). Eine gerichtliche Ersetzung des bereits bestellten Abschlussprüfers kommt dann nicht mehr in Betracht.42) Dies führt zu der schwerlich nachvollziehbaren Konsequenz, dass ein Wirtschaftsprüfer, der vor Verfahrenseröffnung durch die Gesellschafter bestellt worden ist, aber nicht das Vertrauen des Verwalters genießt, im Amt bleibt. Zumindest in den Fällen, in denen nicht ausgeschlossen ist, dass der Wirtschaftsprüfer an Unredlichkeiten der Unternehmensleitung beteiligt ist oder von diesen zumindest gewusst hat, muss dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit offenstehen, die Bestellung aus wichtigem Grund durch das Registergericht widerrufen zu lassen.43) In der Abwicklung (Liquidation) sehen die Vorschriften der § 270 Abs. 3 AktG bzw. § 71 41 Abs. 3 GmbHG die Möglichkeit vor, dass das Gericht von der Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts durch einen Abschlussprüfer befreien kann, wenn die Verhältnisse der Gesellschaft so überschaubar sind, dass eine Prüfung im Interesse der Gläubiger und Gesellschafter nicht geboten erscheint.44) Eine entsprechende Anwendung dieser Regelungen auf Jahresabschlüsse, die Zeiträume vor 42 Auflösung der Gesellschaft oder vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens betreffen, scheidet mangels Regelungslücke aus.45) Bei der Unternehmensfortführung durch den Insolvenzverwalter ist die Möglichkeit eines 43 Dispenses für Zeiträume nach Insolvenzeröffnung lediglich theoretisch möglich. Gerade in umfangreicheren Insolvenzverfahren wird es kaum möglich sein, dem Gericht gegenüber plausibel darzustellen, dass die Verhältnisse der Gesellschaft so überschaubar sind, dass eine Prüfung im Interesse der Gläubiger und Aktionäre nicht geboten erscheint. Wenn in ___________ 39) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 54 f.; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 971. 40) So BGH, Urt. v. 28.4.2022 – IX ZR 69/21, ZRI 2022, 600 = DZWIR 2022, 493; BGH, Urt. v. 28.4.2022 – IX ZR 68/21, ZRI 2022, 513 = NZI 2002, 554 m. Anm. Jakobs = BB 2022, 1517 m. Anm. Eisolt; a. A. OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.3.2021 – 5 U 91/20, BB 2022, 368 m. Anm. Eschenfelder = DStR 2022, 575 m. krit. Anm. Kruth = ZInsO 2021, 1915 m. Anm. Gehrlein. 41) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 68; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 56. 42) So OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 4.12.2003 – 20 W 232/03, ZIP 2004, 1114 = NZG 2004, 285; a. A. Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 71. 43) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 57. 44) Vgl. Scholz-K. Schmidt, GmbHG, § 71 Rz. 25; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 974; Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 66; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 59. 45) So OLG München, Beschl. v. 10.8.2005 – 31 Wx 61/05, ZIP 2005, 2068, dazu EWiR 2006, 115 (Luttermann).
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§ 42
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
der Abwicklung noch wesentliche Geschäftstätigkeit zu erwarten ist, fehlt es an überschaubaren Gesellschaftsverhältnissen.46) Die Unternehmensgröße allein steht einer Befreiung nicht entgegen.47) Gerade i. R. einer Unternehmensfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren kann die Prüfung des Jahresabschlusses durch einen Abschlussprüfer für den Insolvenzverwalter durchaus zweckmäßig sein, insbesondere um sich gegen allfällige Vorwürfe von Gläubigern substantiiert zur Wehr setzen zu können. 44 Die Regelungen der § 270 Abs. 3 AktG und § 71 Abs. 3 GmbHG sind auf haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften analog anwendbar.48) 45 Bei Genossenschaften ist zu differenzieren. Das Recht und die Pflicht des genossenschaftlichen Prüfungsverbandes, nach §§ 53, 54 GenG die gesetzlichen Pflichtprüfungen durchzuführen, besteht nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens jedenfalls dann nicht mehr, wenn der Geschäftsbetrieb der Genossenschaft eingestellt worden ist. Bestehen die Voraussetzungen für die Prüfung des Jahresabschlusses nach § 53 Abs. 2 GenG, ist gemäß § 155 Abs. 3 Satz 1 InsO auf Antrag des Insolvenzverwalters durch das Registergericht ein Abschlussprüfer zu bestellen, wobei es sich auch um einen Prüfungsverband handeln kann.49) 46 Die Regelungen der § 270 Abs. 3 AktG und § 71 Abs. 3 GmbHG betreffen ausschließlich die Prüfungs-, nicht aber die Offenlegungspflicht, von der ein Dispens nicht erteilt werden kann.50) V.
Steuerrechtliche Buchführungspflicht
47 Die steuerrechtlichen Buchführungs- und Rechnungslegungspflichten bleiben im Insolvenzverfahren unberührt und sind nach § 34 Abs. 3 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO vom Insolvenzverwalter zu erfüllen, soweit seine Verwaltung reicht. Der Insolvenzverwalter hat alle Pflichten zu erfüllen, die dem Schuldner oblägen, wenn über sein Vermögen nicht das Insolvenzverfahren eröffnet worden wäre. Dies gilt sowohl für Steuerabschnitte vor als auch nach Insolvenzeröffnung.51) 48 Die steuerrechtliche Pflicht des Insolvenzverwalters zur Buchführung besteht sowohl gegenüber dem Fiskus als auch gegenüber dem Schuldner. Der Insolvenzverwalter hat nicht nur während des eröffneten Insolvenzverfahrens die steuerlichen Buchführungspflichten des Schuldners zu erfüllen, sondern muss auch i. R. des Zumutbaren eine bei Insolvenzeröffnung mangelhafte Buchführung nacharbeiten.52) 49 Die Androhung und Festsetzung von Zwangsgeldern gegenüber dem Insolvenzverwalter einer Kapitalgesellschaft zur Einforderung von Steuererklärungen ist nach Auffassung des FG Thüringen verfehlt, wenn die Finanzbehörde die finanziellen Verhältnisse der GmbH durch das Gutachten aus dem Insolvenzeröffnungsverfahren kennt, die GmbH nach der Insolvenz keine Geschäftstätigkeit mehr entfaltete und der Finanzbehörde bekannt ist, dass ___________ 46) 47) 48) 49)
Amtl. Begr. z. § 211 AktG 1937, RAnz 1937 Nr. 28, 2. Beilage. So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 59. So OLG München, Beschl. v. 9.1.2008 – 31 Wx 66/07, ZIP 2008, 219 = NZI 2008, 263. So BGH, Beschl. v. 21.6.2011 – II ZB 12/10, BGHZ 190, 110 = ZIP 2011, 1673, dazu EWiR 2011, 595 (Haas/Hoßfeld). 50) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 62; a. A. Kunz/Mundt, DStR 1997, 664, 668. 51) So BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 = ZIP 1994, 1969, dazu EWiR 1995, 165 (Braun); BFH, Beschl. v. 19.11.2007 – VII B 104/07, BFH/NV 2008, 334; BGH, Urt. v. 16.9.2010 – IX ZR 121/09, ZIP 2010, 2164, dazu EWiR 2010, 827 (Müller). 52) So BGH, Urt. v. 29.5.1979 – VI ZR 104/78, BGHZ 74, 416 = ZIP 1980, 25; BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 = ZIP 1994, 1969, dazu EWiR 1995, 165 (Braun); Schmittmann, StuB 2013, 67, 68; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 60 Rz. 63; Kübler/Prütting/Bork-Lüke, InsO, § 60 Rz. 24; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 65.
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Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
§ 42
sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine steuerlichen Auswirkungen durch die Abgabe der Steuererklärungen ergeben.53) Der BFH hat diese Entscheidung aufgehoben und entschieden, dass ein Verwaltungsakt, der auf Vornahme einer Handlung gerichtet ist, mit Zwangsmitteln (Zwangsgeld, Ersatzvornahme und unmittelbarer Zwang) durchgesetzt werden kann. Das Finanzamt kann daher gegen einen Insolvenzverwalter, der trotz Masseunzulänglichkeit keine Steuererklärungen abgibt, Zwangsmittel festsetzen, ohne gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verstoßen.54) Das Insolvenzgeld ist gegen den Insolvenzverwalter persönlich und nicht gegen die Insolvenzmasse festzusetzen.55) Bei der Fortführung des Unternehmens im eröffneten Insolvenzverfahren ist die Erfüllung 50 der steuerrechtlichen Buchführungs- und Rechnungslegungspflichten durch den Insolvenzverwalter selbstverständlich. Die Erfüllung der steuerrechtlichen Buchführungs- und Rechnungslegungspflichten ist Voraussetzung dafür, dass der Insolvenzverwalter die ihm obliegenden Voranmeldungs- und Steuererklärungspflichten erfüllen kann. Gemäß § 155 Abs. 2 Satz 1 InsO beginnt auch für die steuerrechtliche Rechnungslegung 51 ein neues Geschäftsjahr. Grundsätzlich ist bei Gewerbetreibenden, deren Firma im Handelsregister eingetragen ist, der Zeitraum, für den sie regelmäßig Abschlüsse machen, das Wirtschaftsjahr (§ 4a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG). Bei anderen Gewerbetreibenden ist Wirtschaftsjahr das Kalenderjahr (§ 4a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 EStG). Bei Gewerbetreibenden ist die Umstellung des Wirtschaftsjahres auf einen vom Kalenderjahr abweichenden Zeitraum steuerlich gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Satz 2 EStG nur wirksam, wenn sie im Einvernehmen mit dem Finanzamt vorgenommen wird. Aufgrund der Regelung des § 155 Abs. 2 Satz 1 InsO entsteht handelsrechtlich zwingend ein neues Geschäftsjahr. Die Finanzverwaltung handelt daher ermessensfehlerhaft, wenn sie das durch die Verfahrenseröffnung entstehende abweichende Wirtschaftsjahr nicht anerkennt.56) Die Buchführungspflicht besteht auch nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit. Die Buch- 52 führungspflichten des Insolvenzverwalters bestehen unabhängig davon, ob die dafür erforderlichen Kosten (bei Beauftragung eines Steuerberaters) durch die Insolvenzmasse gedeckt sind.57) Die Erfüllung der öffentlich-rechtlichen Pflichten, die durch die Steuergesetze begründet werden, liegt im übergeordneten öffentlichen Interesse. Es kann daher nicht darauf abgestellt werden, ob die Erfüllung der Buchführungspflichten für die Insolvenzmasse günstig ist, also eine höhere Teilungsmasse zu erwirtschaften ist.58) Durch das ESUG59) wurde mit § 210a InsO eine gesetzliche Möglichkeit geschaffen, einen 53 Insolvenzplan auch bei Masseunzulänglichkeit umzusetzen.60) Auch in diesen Fällen hat der Insolvenzverwalter dafür zu sorgen, dass die Buchführungs- und Rechnungslegungspflichten erfüllt werden. In diesen Fällen ist eine zeitnahe Erledigung dieser Arbeiten, ggf. mit Hilfe eines externen Steuerberaters, dringend zu empfehlen, um zu verhindern, dass die ___________ 53) So Thüringer FG, Urt. v. 1.9.2011 – 1 K 355/10, EFG 2012, 388 = ZIP 2011, 2021; aufgehoben durch BFH, Urt. v. 6.11.2012 – VII R 72/11, BStBl. II 2013, 141 = ZIP 2013, 83; kritisch Schmittmann, StuB 2013, 67 f. 54) So BFH, Urt. v. 6.11.2012 – VII R 72/11, BStBl. II 2013, 141 = ZIP 2013, 83; kritisch Schmittmann, StuB 2013, 67, 68. 55) So FG Hessen, Beschl. v. 18.4.2013 – 4 V 1796/12, EFG 2013, 994. 56) Ebenso Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 155 Rz. 89; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 67. 57) So BFH, Urt. v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 = ZIP 1994, 1969, dazu EWiR 1995, 165 (Braun); Klasmeyer/Kübler, BB 1978, 369, 372; Schmittmann, InsbürO 2005, 288, 289. 58) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 70. 59) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 60) Vgl. dazu kritisch Pape/Uhländer-Schmittmann, InsO, § 210a Rz. 1.
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§ 42
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
Steuerberatungskosten nicht mehr gezahlt werden können und ein Zurückbehaltungsrecht des Steuerberaters wegen der nicht gezahlten Honorare ausgeübt wird.61) 54 Der Insolvenzverwalter ist im Übrigen als Vermögensverwalter (§ 34 Abs. 3 AO) des Schuldners nach § 149 Abs. 1 AO i. V. m. den Einzelsteuergesetzen verpflichtet, die Steuererklärungen für den Schuldner abzugeben.62) Die Steuererklärungspflicht umfasst insbesondere die Einkommen- und Körperschaftsteuererklärungen sowie die Umsatz- und Gewerbesteuererklärungen.63) 55 Eine Verpflichtung des Insolvenzverwalters einer Personengesellschaft, Erklärungen für die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung nach §§ 179 ff. AO abzugeben, besteht nicht, da die Folgen der Gewinnfeststellung nicht den Vermögensbereich der Personengesellschaft betreffen, sondern die Gesellschafter persönlich.64) 56 Die Steuererklärungspflicht des Insolvenzverwalters erstreckt sich auf Zeiträume vor und nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens.65) 57 Ebenso wie die Buchführungs- und Rechnungslegungspflicht (siehe oben Rz. 47) besteht die Steuererklärungspflicht auch nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit und kann bei Nichterfüllung durch den Verwalter grundsätzlich Zwangsgeldfestsetzungen nach § 328 AO auslösen.66) 58 Der Insolvenzverwalter ist berechtigt, mit der Erledigung steuerlicher Tätigkeiten, die besondere Kenntnisse erfordern oder dem Umfang nach über das hinausgehen, was mit der Erstellung einer Steuererklärung allgemein verbunden ist, einen Steuerberater zu beauftragen. Besteht Masseunzulänglichkeit und hat der Insolvenzverwalter die Finanzverwaltung auf die Masseunzulänglichkeit hingewiesen und hält diese gleichwohl an der Aufforderung fest, Steuererklärungen einzureichen, so steht dem Insolvenzverwalter bei Kostenstundung ein Anspruch auf Erstattung der den Umständen nach angemessenen Kosten für die Beauftragung eines Steuerberaters als Auslagen aus der Staatskasse zu.67) VI.
Steuern
1.
Stellung des Sanierungsmoderators, des Restrukturierungsbeauftragten, des (vorläufigen) Insolvenzverwalters, des (vorläufigen) Sachwalters und des Treuhänders
1.1
Stellung des Sanierungsmoderators
59 Die Bestellung eines Sanierungsmoderators erfolgt auf Antrag eines restrukturierungsfähigen Schuldners. Es handelt sich dabei um eine geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige natürliche Person (§ 94 Abs. 1
___________ Vgl. dazu Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 3025 ff. So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 496; Busch, StB 2021, 128, 133. Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 498 f. So BFH, Beschl. v. 12.11.1992 – IV B 83/91, BStBl. II 1993, 265 = ZIP 1993, 374; BFH, Beschl. v. 23.11.1994 – VIII R 51/94, BFH/NV 1995, 663; Schmittmann, StuB 2013, 67; a. A. Klasmeyer/Kübler, BB 1978, 369, 372. 65) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 501; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 75 ff. 66) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 508; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 78. 67) So BGH, Beschl. v. 22.7.2004 – IX ZB 161/03, BGHZ 160, 176 = ZIP 2004, 1717, dazu EWiR 2004, 1037 (Schäferhoff); Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 510; Schmittmann, InsbürO 2005, 288, 290. 61) 62) 63) 64)
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Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
§ 42
Satz 1 StaRUG68). Die Sanierungsmoderation scheidet gemäß § 94 Abs. 1 Satz 2 StaRUG aus, wenn der Schuldner offensichtlich zahlungsunfähig ist, oder es sich um einen antragspflichtigen Rechtsträger handelt, der offensichtlich überschuldet ist (§ 94 Abs. 1 Satz 3 StaRUG). Aufgabe des Sanierungsmoderators ist gemäß § 96 Abs. 1 StaRUG die Vermittlung zwi- 60 schen dem Schuldner und seinen Gläubigern bei der Herbeiführung einer Lösung zur Überwindung der wirtschaftlichen oder finanziellen Schwierigkeiten, wozu der Schuldner dem Moderator Einblick in seine Bücher und Geschäftsunterlagen gibt und ihm die angeforderten zweckmäßigen Auskünfte erteilt (§ 96 Abs. 2 StaRUG).69) Die Aufgabe des Sanierungsmoderators ist, einen Sanierungsvergleich zustande zu bringen, 61 der gemäß § 97 StaRUG vom Restrukturierungsgericht bestätigt wird,70) ist er nicht Verwalter i. S. von § 34 Abs. 3 InsO.71) Im Fall der Bestellung eines Sanierungsmoderators wird keine neue Steuernummer ver- 62 geben.72) 1.2
Stellung des Restrukturierungsbeauftragten
Gemäß § 73 Abs. 1 StaRUG bestellt das Restrukturierungsgericht von Amts wegen einen 63 Restrukturierungsbeauftragten, wenn x
i. R. der Restrukturierung die Rechte von Verbrauchern oder mittleren, kleinen oder Kleinstunternehmen berührt werden sollen (§ 73 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG);
x
die Schuldner eine Stabilisierungsanordnung erwirkt, welche sich mit Ausnahme der nach § 4 StaRUG ausgenommenen Forderung gegen alle oder im Wesentlichen alle Gläubiger richtet (§ 73 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG);
x
der Restrukturierungsplan eine Überwachung der Erfüllung der den Gläubiger zustehenden Ansprüche vorsieht (§ 73 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG).
Gemäß § 73 Abs. 2 StaRUG erfolgt eine Bestellung auch, wenn absehbar ist, dass das Re- 64 strukturierungsziel nur gegen den Willen von Inhabern von Restrukturierungsforderungen oder Absonderungsanwartschaften erreichbar ist, ohne deren Zustimmung zum Restrukturierungsplan eine Planbestätigung allein unter den Voraussetzungen des § 26 StaRUG möglich ist. Die Rechtsstellung und Aufgaben des von Amts wegen bestellten Restrukturierungsbe- 65 auftragten sind Gegenstand von §§ 75 f. StaRUG. Der Restrukturierungsbeauftragte soll lediglich die Beratungen fördern und ist nicht Verwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO.73) Ausnahmen sind lediglich denkbar, wenn das Restrukturierungsgericht dem Restrukturie-
___________ 68) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256 (= Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts [Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG], v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256). 69) Vgl. Sonnleitner/Witfeld, Insolvenz- und Sanierungssteuerrecht, Kap. 9 Rz. 4. 70) Ebenso Duda/Schmittmann, Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz, Rz. 134; Schmittmann, ZRI 2021, 705, 707. 71) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 484; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 5; Uhländer, DB 2021, 1027, 1030; Schmittmann, StuB 2021, 418. 72) So auch Uhländer, DB 2021, 1027, 1032. 73) So Sonnleitner/Witfeld, Insolvenz- und Sanierungssteuerrecht, Kap. 9 Rz. 81; Duda/Schmittmann, Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz, Rz 129; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 484; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 5; Uhländer, DB 2021, 1027, 1028; Schnittmann, ZRI 2021, 705, 710; Schmittmann, StuB 2021, 418.
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§ 42
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
rungsbeauftragten die Kassenführungsbefugnis übertragen hat.74) Meines Erachtens führt dies allerdings noch nicht dazu, dass der Schuldner wie bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach außen Befugnisse verliert. Daher ist der Anwendungsbereich des § 34 Abs. 3 AO nicht eröffnet. 66 Im Fall der Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten wird keine neue Steuernummer vergeben.75) 1.3
Stellung des vorläufigen Insolvenzverwalters
67 Grundsätzlich ist zwischen dem sog. starken und dem sog. schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter zu unterscheiden, wobei diese Differenzierung im Hinblick auf die Regelung von § 55 Abs. 4 InsO i. d. F. des Haushaltsbegleitgesetzes 201176) erheblich an Bedeutung verloren hat. Durch das SanInsFoG77) wurde die Reichweite von § 55 Abs. 4 InsO auf das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren erweitert, aber zugleich auf die Umsatzsteuerverbindlichkeiten sowie Verbindlichkeiten aus sonstigen Ein- und Ausfuhrabgaben, bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern, Luftverkehr- und Kraftfahrzeugsteuer und Lohnsteuer, beschränkt. 68 Der starke vorläufige Insolvenzverwalter hat die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren.78) Verbindlichkeiten, die von einem starken vorläufigen Insolvenzverwalter begründet worden sind, gelten gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO nach Eröffnung des Verfahrens als Masseverbindlichkeiten. Der starke vorläufige Insolvenzverwalter ist Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 und Abs. 1 AO. 69 Im Fall der Bestellung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters kann eine neue Steuernummer vergeben werden. 70 Wird lediglich ein schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, so liegt kein Fall von § 34 Abs. 3 und Abs. 1 AO vor, so dass der schwache vorläufige Insolvenzverwalter weder berechtigt noch verpflichtet ist, die steuerlichen Angelegenheiten des Schuldners zu regeln.79) Im Fall der Bestellung eines schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters wird eine neue Steuernummer nicht vergeben. 71 Durch das Haushaltsbegleitgesetz 201180) wurde geregelt, dass Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründet worden sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten gelten ___________ 74) Vgl. Sonnleitner/Witfeld, Insolvenz- und Sanierungssteuerrecht, Kap. 9 Rz. 82; Uhländer, DB 2021, 1027, 1028. 75) So auch Uhländer, DB 2021, 1027, 1032. 76) Vgl. Fischer, DB 2012, 885; Gundlach/Rautmann, DStR 2011, 82; Jungclaus/Keller, NZI 2010, 808; Kahlert, ZIP 2010, 1274; Kahlert, ZIP 2010, 1887; Marotzke, ZInsO 2010, 2163; Nawroth, ZInsO 2011, 107; Onusseit, ZInsO 2011, 641; Pape, ZInsO 2011, 1; Rennert-Bergenthal/Dähling, ZInsO 2011, 1922; Roth, ZInsO 2011, 1779; Sämisch/Adam, ZInsO 2010, 934; Schacht, ZInsO 2011, 1048; Schacht, ZInsO 2011, 1787; Schmittmann, StuB 2010, 877; Schmittmann, INDat-Report 3/2011, 26; Schmittmann, StuB 2012, 237; Schmittmann, StuB 2012, 404; Sinz/Oppermann, DB 2011, 2185; Trottner, NWB 2012, 920; Weiland, DZWIR 2011, 224; Zimmer, ZInsO 2010, 2299. 77) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256; vgl. Keilbach, NZI 2022, 256; Rickert/Tielmann/Trostheide, NZI 2022, 463. 78) So BFH, Beschl. v. 16.10.2009 – VIII B 346/04, Rz. 7, BFH/NV 2010, 56; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 463; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 4. 79) So Tipke/Kruse-Loose, AO/FGO, § 251 AO Rz. 28; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 484; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 5; Schmittmann, StuB 2012, 237. 80) So Haushaltsbegleitgesetz 2011 (HBeglG), v. 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1885.
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§ 42
(§ 55 Abs. 4 InsO). Gleichwohl ist der schwache vorläufige Insolvenzverwalter nicht Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 und Abs. 1 AO.81) Im Fall der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters wird keine neue Steuernummer 72 vergeben. 1.4
Stellung des vorläufigen Sachwalters
Das Gericht kann gemäß § 270b Abs. 1 InsO n. F. im Eröffnungsverfahren einen vorläu- 73 figen Sachwalter bestellen, auf den die § 274 und § 275 InsO Anwendung finden. Im Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO n. F. hat das Insolvenzgericht gemäß § 270d Abs. 2 Satz 3 InsO n. F. grundsätzlich die vom Schuldner vorgeschlagene Person zum vorläufigen Sachwalter zu bestellen, wenn sie nicht offensichtlich für die Übernahme des Amtes nicht geeignet ist. Der vorläufige Sachwalter ist ungeachtet der Tatsache, dass nach der mit dem SanInsFoG 74 eingeführten Neufassung des § 55 Abs. 4 InsO die Umsatzsteuerverbindlichkeiten sowie der Verbindlichkeiten aus sonstigen Ein- und Ausfuhrabgaben, bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern, Luftverkehr- und Kraftfahrzeugsteuer und Lohnsteuer, die ab Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet werden, ebenfalls nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten gelten, nicht Vermögensverwalter i. S. des § 34 Abs. 3 und Abs. 1 AO.82) Gegenüber dem vorläufigen Sachwalter ist somit das Steuergeheimnis gemäß § 30 AO zu wahren, sofern der Schuldner die Finanzverwaltung nicht durch ausdrückliche Erklärung von der Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber dem vorläufigen Sachwalter befreit hat. Im Fall der Bestellung eines vorläufigen Sachwalters wird eine neue Steuernummer nicht 75 vergeben. 1.5
Stellung des Insolvenzverwalters
Mit Verfahrenseröffnung ernennt das Insolvenzgericht den Insolvenzverwalter, der ver- 76 fahrensrechtlich Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO ist und daher gemäß § 34 Abs. 1 AO die steuerlichen Pflichten des Insolvenzschuldners im Insolvenzverfahren zu erfüllen hat.83) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Bestellung des Insolvenzverwalters lässt gleichwohl die Steuerrechtsfähigkeit des Schuldners unberührt, so dass Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters den Schuldner persönlich berechtigen und verpflichten.84) Der Insolvenzschuldner bleibt verfahrensrechtlich Beteiligter i. S. von § 78 AO. Der Insolvenzverwalter hat die sich aus §§ 90, 93 ff., 137 ff., 140 ff. und 149 ff. AO ergebenden Pflichten zu erfüllen.85) Im Fall der Bestellung eines Insolvenzverwalters wird eine neue Steuernummer vergeben. 77 1.6
Stellung des Sachwalters
Das Gericht kann im eröffneten Verfahren anordnen, dass der Schuldner gemäß § 270 78 Abs. 1 Satz 1 InsO berechtigt ist, unter der Aufsicht eines Sachwalters die Insolvenzmasse ___________ 81) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 481; FG Düsseldorf, Beschl. v. 21.3.2012 – 1 V 152/12 A (U), ZIP 2012, 688, dazu EWiR 2012, 323 (Schmittmann/Gorris). 82) Schmittmann, StuB 2021, 418, 419. 83) So BFH, Beschl. v. 15.9.2010 – II B 4/10, Rz. 6, BFH/NV 2011, 2; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 12. 84) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 482. 85) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 514; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 13.
Schmittmann
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Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
zu verwalten und über diese zu verfügen. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis geht nicht wie bei § 80 InsO auf den Insolvenzverwalter über, da ein solcher nicht bestellt wird. 79 Der Sachwalter ist nicht Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO86) und hat daher nicht die steuerlichen Pflichten des Schuldners zu erfüllen.87) 80 Im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung und Bestellung eines Sachwalters wird eine neue Steuernummer vergeben. 81 In der Eigenverwaltung hat grundsätzlich der Schuldner, ggf. durch seine Organe, die steuerlichen Pflichten zu erfüllen. Ob im Falle der Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) die Rechtsprechung des BFH, bei Uneinbringlichkeit von Forderungen,88) Anwendung findet, wird im Bereich der Umsatzsteuer erörtert. 1.7
Stellung des Treuhänders
82 In Verbraucherinsolvenzverfahren wurden früher die Aufgaben des Insolvenzverwalters gemäß § 313 Abs. 1 Satz 1 InsO a. F. vom Treuhänder wahrgenommen. Der Treuhänder im vereinfachten Insolvenzverfahren war ebenso wie der Insolvenzverwalter Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO. Mit Wirkung ab dem 1.7.2014 sind §§ 312 bis 314 InsO weggefallen, so dass es lediglich noch einen einheitlichen Insolvenzverwalter im eröffneten Insolvenzverfahren gibt.89) 83 In der Wohlverhaltensphase ist der vom Gericht bestimmte Treuhänder dafür zuständig, die pfändbaren Bezüge des Schuldners nach Maßgabe der Abtretungserklärung (§ 287 Abs. 2 InsO) einzuziehen. Der Treuhänder in der Wohlverhaltensphase ist nicht Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO.90) 84 Im Fall der Bestellung des Treuhänders in der Wohlverhaltensphase wird keine neue Steuernummer vergeben. 2.
Steuerliche Nebenleistungen, Haftung und Auskunft
2.1
Zinsen
85 Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) werden nur verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 233 Satz 1 AO). Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 AO) und die entsprechenden Erstattungsansprüche werden nicht verzinst (§ 233 Satz 2 AO). 86 Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens anfallende Zinsen sind Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, sofern die zugrunde liegende Steuer ebenfalls Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 InsO ist. 2.2
Säumnis- und Verspätungszuschläge
87 Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO fällt ein Säumniszuschlag für jeden angefangenen Monat der Säumnis i. H. von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrages an, wenn eine ___________ 86) Vgl. BFH, Urt. v. 27.2.2014 – V R 21/11, ZIP 2014, 894; BFH, Urt. v. 18.5.1988 – X R 27/80, BFHE 153, 299 = BStBl. I 1988, 716 – zu § 92 VerglO; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 484; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 16. 87) So Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 3.24; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 16. 88) Vgl. BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner). 89) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 18. 90) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 19; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1143; Wipperfürth/Busch/Schmittmann, InsbürO 2013, 478, 481.
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Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
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Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Durch diese Regelung hat der Gesetzgeber für die Finanzverwaltung ein Druckmittel eigener Art geschaffen, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung der Steuer anhalten soll.91) Weiterhin soll der Säumniszuschlag den wirtschaftlichen Vorteil abschöpfen, der beim Steuerpflichtigen durch die verspätete Zahlung fälliger Steuern entsteht.92) Der Säumniszuschlag dient letztlich auch der Abgeltung des Verwaltungsaufwandes, der der steuerverwaltenden Behörde durch die Tilgung der Schuld erst nach Fälligkeit entsteht.93) Nach Verfahrenseröffnung fallen Säumniszuschläge an, wenn der Insolvenzverwalter fällige 88 Steuern verspätet zahlt. Die Erhebung von Säumniszuschlägen ist allerdings sachlich unbillig, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert.94) Hat der Insolvenzverwalter gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 InsO die Masseunzulänglichkeit angezeigt und zahlt der Insolvenzverwalter aufgrund der gesetzlichen Befriedigungsreihenfolge aus § 209 Abs. 1 InsO fällige Steuern nicht, so ist der hälftige Erlass der Säumniszuschläge zu gewähren. Ein vollständiger Erlass scheidet aus, weil ein Säumiger grundsätzlich nicht besser stehen soll als ein Steuerpflichtiger, dem Aussetzung der Vollziehung oder Stundung gewährt wurde.95) Für Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV gelten die gleichen Grundsätze. Es handelt sich für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens um Altmasseverbindlichkeiten i. S. des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO, wenn der Insolvenzverwalter dem Insolvenzgericht Masseunzulänglichkeit angezeigt und die Arbeitnehmer von der Arbeitsleistung freigestellt hat. Nach der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit sind die Säumniszuschläge vollständig zu erlassen.96) Es ist sachgerecht, dies grundsätzlich auch auf Säumniszuschläge nach der AO anzuwenden. Verspätungszuschläge nach § 152 AO sind kein Zwangsmittel, sondern dienen dazu, den 89 rechtzeitigen Eingang der Steuererklärung und damit auch die rechtzeitige Festsetzung und Entrichtung der Steuer sicherzustellen. Die vorstehenden Grundsätze gelten auch für Verspätungszuschläge.97) Der Verspätungszuschlag ist ein Druckmittel eigener Art mit sowohl repressivem als auch präventivem Charakter.98) 2.3
Vollstreckungskosten
Im Vollstreckungsverfahren werden Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben (§ 337 90 Abs. 1 Satz 1 AO). Schuldner dieser Kosten ist der Vollstreckungsschuldner (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO).99) Die nach Verfahrenseröffnung entstandenen Vollstreckungskosten sind Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 AO, sofern die zu vollstreckende Steuerforderung Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 InsO ist.
___________ 91) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2571. 92) So BFH, Urt. v. 21.9.1973 – III R 154/72, BStBl. II 1974, 17; BFH, Urt. v. 9.7.2003 – V R 57/02, BStBl. II 2003, 901 = ZIP 2003, 2036. 93) So BFH, Urt. v. 29.8.1991 – V R 78/86, BStBl. II 1991, 906 = HFR 1992, 44. 94) So BFH, Urt. v. 30.3.2006 – V R 2/04, BStBl. II 2006, 612 = ZIP 2006, 1266; BFH, Urt. v. 9.7.2003 – V R 57/02, BStBl. II 2003, 901 = ZIP 2003, 2036. 95) So BFH, Beschl. v. 21.4.1999 – VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440; BFH, Urt. v. 18.6.1998 – V R 13/98, BFH/NV 1999, 10 = StuB 1999, 332; BFH, Urt. v. 30.3.2003 – V R 2/04, BStBl. II 2006, 612 = ZIP 2006, 1266. 96) So SG Düsseldorf, Urt. v. 10.3.2015 – S 44 R 1270/13, ZIP 2015, 2139. 97) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2572. 98) So BFH, Urt. v. 19.1.2005 – VII B 286/04, BFH/NV 2005, 1001 = ZVI 2005, 375. 99) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2601.
Schmittmann
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§ 42
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
2.4
Zwangs- und Ordnungsgelder
91 Ein Verwaltungsakt, der auf Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, kann mit Zwangsmitteln (Zwangsgeld, Ersatzvornahme oder unmittelbarer Zwang) durchgesetzt werden (§ 328 Abs. 1 Satz 1 AO). 92 Auch gegen den Insolvenzverwalter können Zwangsmittel festgesetzt werden, sofern er Verpflichtungen nach der AO nicht erfüllt. Die Festsetzung von Zwangsmitteln hat aber zu unterbleiben, wenn der Insolvenzverwalter aus insolvenzrechtlichen Gründen nicht verpflichtet ist, eine ihm nach der AO obliegende Handlung vorzunehmen (siehe oben Rz. 49). 2.5
Geldbußen und Geldstrafen
93 Steuerstraftaten (§§ 369 ff. InsO) können mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft werden. Steuer- und Zollordnungswidrigkeiten (§§ 377 ff. AO) können mit Geldbuße geahndet werden. 94 Der Insolvenzverwalter kann tauglicher Täter einer Steuerstraftat bzw. Steuer- und Zollordnungswidrigkeit sein, wenn nach Verfahrenseröffnung Sachverhalte vorliegen, die den gesetzlichen Tatbestand erfüllen. Dies betrifft in besonderem Maße Sachverhalte im Zusammenhang mit der Umsatzsteuer. Ebenso können lohnsteuerliche Sachverhalte betroffen sein. Der Insolvenzverwalter wird daher besondere Sorgfalt auf die Ordnungsmäßigkeit der Umsatzsteuer- und Lohnsteuervoranmeldungen sowie der Jahreserklärungen legen, da hier erhebliches Haftungsrisiko droht.100) 2.6
Haftung des Insolvenzverwalters
95 Der Insolvenzverwalter ist Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 und Abs. 1 AO (siehe oben Rz. 47). Die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen haften, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) x
infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder
x
nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder
x
soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden (§ 69 Satz 1 AO);
x
die Haftung umfasst auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge (§ 69 Satz 2 AO).101)
96 Der Insolvenzverwalter unterliegt persönlich und unbeschränkt sowohl der abgabenrechtlichen Haftung gemäß §§ 34, 69 AO als auch der insolvenzrechtlichen Haftung nach §§ 60, 61 AO.102) Die Haftung setzt eine abgabenrechtliche Pflichtverletzung voraus, die z. B. darin besteht, dass der Insolvenzverwalter Mitwirkungs- und Leistungspflichten im Festsetzungs- und Erhebungsverfahren verletzt hat oder entstandene Steuern aus der Fortführung des Betriebs nicht entrichtet.103) 97 Reicht die Insolvenzmasse nicht aus, die anfallenden Steuern zu zahlen, und hat der Insolvenzverwalter Masseunzulänglichkeit (§ 208 Abs. 1 InsO) angezeigt, so gilt die insolvenzrechtliche Befriedigungsreihenfolge gemäß § 209 Abs. 1 InsO. Eine Haftung des Insol___________ 100) 101) 102) 103)
Vgl. umfassend: Duda/Schmittmann, Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz. Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 82. Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 84. Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1252; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 84.
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§ 42
venzverwalters scheidet bei Einhaltung dieser Verteilungsreihenfolge aus. Verstößt er allerdings gegen diese Verteilungsreihenfolge und erhält die Finanzverwaltung dadurch eine geringere Zahlung, so haftet der Insolvenzverwalter nach dem Grundsatz der anteiligen Tilgung.104) Der Insolvenzverwalter haftet selbst dann nicht, wenn er ein Geschäft abschließt und dabei 98 bereits absehbar ist, dass die entstehende Umsatzsteuerschuld aufgrund der von der InsO vorgesehenen Befriedigungsreihenfolge nicht gezahlt werden kann. Der Insolvenzverwalter ist nicht verpflichtet, von Geschäften Abstand zu nehmen, weil diese Umsatzsteuer auslösen, die voraussichtlich nicht beglichen werden kann, so dass eine Haftung gemäß §§ 191, 69, 34 AO ausscheidet.105) Grundsätzlich kommt gegen den Insolvenzverwalter auch ein insolvenzrechtlicher Haf- 99 tungsanspruch nach §§ 60, 61 InsO in Betracht, der allerdings nicht eingreift, wenn der Verwalter durch den Abschluss von Rechtsgeschäften Steuern auslöst. Es handelt sich nicht um eine insolvenzspezifische Pflichtverletzung gegenüber dem Fiskus. Darüber hinaus scheidet eine Haftung des Verwalters nach § 61 InsO für Steuern aus, weil die Umsatzsteuerschuld zwar Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist, die Regelung des § 61 InsO jedoch nur dem Schutz von Gläubigern dient, die für oder im Zusammenhang mit ihrem Anspruch gegen die Masse eine Gegenleistung erbringen, was bei der Finanzverwaltung nicht der Fall ist.106) 2.7
Auskunftsanspruch des Insolvenzverwalters
Im steuerlichen Verfahrensrecht ist ein allgemeines Akteneinsichtsrecht der Beteiligten 100 anders als im finanzgerichtlichen Verfahren gemäß § 78 FGO nicht vorgesehen. Der Steuerpflichtige hat lediglich einen Anspruch darauf, dass über seinen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden wird.107) Die Finanzverwaltung vertritt die Auffassung,108) dass jedenfalls dann eine Akteneinsicht 101 ausscheidet, wenn Amtshaftungsansprüche109) oder Insolvenzanfechtungsansprüche nach erfolgter Akteneinsicht geltend gemacht werden sollen. Da über Anträge auf Bewilligung von Akteneinsicht nach der AO der Finanzrechtsweg einschlägig ist, scheitert die Geltendmachung der Ansprüche regelmäßig.110) Nach § 1 Abs. 1 IFG Bund hat ab 1.1.2006 jeder nach Maßgabe des Gesetzes gegenüber 102 den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen.111) In den meisten Bundesländern bestehen zudem Transparenz- oder Landesinformationsfreiheitsgesetze, die zum Teil Beschränkungen der Auskunftspflicht der Finanzverwaltung ___________ 104) Vgl. BFH, Urt. v. 26.8.1992 – VII R 50/91, BFHE 169, 13 = BStBl. II 1993, 8; BFH, Urt. v. 21.6.1994 – VII R 34/92, BStBl. II 1995, 230 = ZIP 1995, 229. 105) So BGH, Beschl. v. 14.10.2010 – IX ZB 224/08, ZIP 2010, 2252 = NZI 2011, 60, dazu EWiR 2011, 59 (Ries). 106) So BGH, Beschl. v. 14.10.2010 – IX ZB 224/08, ZIP 2010, 2252 = NZI 2011, 60, dazu EWiR 2011, 59 (Ries). 107) So BFH, Beschl. v. 4.6.2003 – VII B 138/01, BFHE 202, 331 = BStBl. II 2003, 790; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2302; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 80. 108) So BMF-Schreiben v. 17.12.2008 – IV A 3 – S 0030/08/10001, BStBl. I 2009, 6. 109) A. A. OVG Schleswig, Urt. v. 6.12.2012 – 4 LB 11/12, AO-StB 2013, 44. 110) Vgl. zuletzt: BFH, Urt. v. 19.3.2013 – II R 17/11, NZI 2013, 706 m. Anm. Schmittmann = ZIP 2013, 1133, dazu EWiR 2013, 487 f. (v. Spiessen). 111) Vgl. Misoch/Schmittmann, VR 2012, 181 ff.; Schmittmann, InsbürO 2012, 246 ff.; Schmittmann, NZI 2015, 594 ff.
Schmittmann
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vorsehen.112) Sofern keine Bereichsausnahme nach Landesrecht vorlag, war dem Insolvenzverwalter grundsätzlich Auskunft zu erteilen. Der Insolvenzverwalter brauchte sich nicht darauf verweisen zu lassen, sich die erforderlichen Informationen aus anderweitigen Quellen zu erschließen oder unkooperative Schuldner vor das Gericht laden zu lassen. Vielmehr gehört es zu den Amtspflichten des Insolvenzverwalters, alle Informationsquellen, einschließlich der Auskunftserteilung durch Körperschaften des öffentlichen Rechts, auszunutzen.113) 103 Das Steuergeheimnis wird nach der Rechtsprechung des BVerwG bei Einsicht des Insolvenzverwalters in die den Schuldner betreffenden steuerlichen Unterlagen nicht verletzt; für ihn gilt insoweit nichts anderes als für den steuerpflichtigen Insolvenzschuldner. Das Steuergeheimnis steht dem Auskunftsanspruch des Insolvenzverwalters gegenüber dem Finanzamt auch dann nicht entgegen, wenn die Auskunft mit Blick auf mögliche Anfechtungen begehrt wird.114) 104 Für Rechtsstreitigkeiten, die auf das Informationsfreiheitsgesetz gestützte Auskunftsansprüche des Insolvenzverwalters über Bewegungen auf den Steuerkonten des Insolvenzschuldners betreffen, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.115) 105 Das IFG schafft einen eigenständigen Auskunftsanspruch des Insolvenzverwalters gegen die Finanzverwaltung, der ihm die Möglichkeit gibt, auf dem Verwaltungsgerichtsweg Auskunft über Steuervorgänge aus dem schuldnerischen Unternehmen zu erhalten.116) 106 Mit der durch Art. 17 Nr. 11 des Gesetzes vom 17.7.2017117) eingeführten Bestimmung des § 32e Satz 1 AO wurde geregelt, dass soweit die betroffene Person oder ein Dritter nach dem IFG des Bundes oder der Länder gegenüber der Finanzbehörde einen Anspruch auf Informationszugang hat, Art. 12 bis 15 DSGVO i. V. m. den §§ 32a bis 32d AO entsprechend gelten. Weitergehende Informationsansprüche über steuerliche Daten sind gemäß § 32e Satz 2 AO ausgeschlossen. Diese Bestimmungen sind gemäß Art. 31 Abs. 4 des Gesetzes vom 17.7.2017 am 25.5.2018 zugleich mit der DSGVO in Kraft getreten. 107 Nach einem Vorlageverfahren an den EuGH und dessen Erkenntnis seiner Unzuständigkeit118) hat das BVerwG inzwischen entschieden, dass durch § 32e AO die in den §§ 32a bis 32d AO vorgesehenen Beschränkungen des Auskunftsanspruchs aus Art. 15 DSGVO mittels Rechtsfolgenverweisung auf Informationszugangsansprüche erstreckt werden, die sich aus den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes oder der Länder ergeben. Art. 23 Abs. 1 lit. j DSGVO stehe einer nationalen Regelung, die Beschränkungen von Betroffenenrechten und von Informationspflichten im Interesse der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche von Behörden vorsieht, nicht entgegen. Die Verteidigung gegen zivilrechtliche Ansprüche sei von der Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 lit. j DSGVO erfasst. Die Bestimmung des § 32c Abs 1 Nr. 2 AO sei nach seinem Sinn und Zweck dahingehend zu ___________ 112) Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, § 155 Rz. 83; Haarmeyer/Huber/Schmittmann, Praxis der Insolvenzanfechtung, Teil IV Rz. 208; Schmittmann, K&R 2021, 568, 570. 113) So VG Minden, Gerichtsbescheid v. 12.8.2010 – 7 K 23/10, ZInsO 2010, 1839, 1840 m. Anm. Birkemeyer, ZInsO 2010, 1842; Schmittmann/Kupka, InsbürO 2009, 83, 86; Schmittmann/Böing, InsbürO 2010, 15, 16. 114) So BVerwG, Urt. v. 26.4.2018 – 7 C 6.16, DStR 2018, 2441; BVerwG, Urt. v. 26.4.2018 – 7 C 5.16, ZVI 2018, 415 = ZIP 2018, 1554 = NZI 2018, 715 m. Anm. Schmittmann, dazu EWiR 2018, 627 (Hess); BVerwG, Urt. v. 26.4.2018 – 7 C 4.16, DStR 2018, 2441; BVerwG, Urt. v. 26.4.2018 – 7 C 3.16, BFH/NV 2018, 1135 = DZWIR 2018, 470 = NJW-Spezial 2018, 599. 115) So BVerwG, Beschl. v. 18.11.2019 – 10 B 20.19, BFH/NV 2020, 336 (LS) = AO-StB 2020, 173 m. Anm. Uhländer = ZInsO 2020, 719. 116) So VG Trier, Beschl. v. 26.6.2012 – 5 K 504/12, ZIP 2012, 1862; VG Berlin, Urt. v. 30.8.2012 – VG 2 K 147/11, ZInsO 2012, 1843; FG Münster, Beschl. v. 25.6.2012 – 15 K 874/10, ZD 2012, 443 = ZVI 2012, 315. 117) Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften, v. 17.7.2017, BGBl. I 2017, 2541, 2552. 118) S. EuGH, Urt. v. 10.12.2020 – Rs. C-620/19 (J & S Service), ZRI 2021, 74 = ZIP 2021, 43 = DSB 2021, 91 m. Anm. Schmittmann/A. Schmidt.
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§ 42
verstehen, dass die Formulierung „geltend gemacht“ auch „noch geltend zu machende“ bzw. „mögliche“ Ansprüche umfasst. Die Vorschrift des § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO kann auch auf Art. 23 Abs. 1 lit. e DSGVO gestützt werden.119) Die Rechtslage ab dem 25.5.2018 sowie die Rechtsprechung des BVerwG lassen die Frage 108 aufkommen, welche Möglichkeiten der Informationsbeschaffung dem Insolvenzverwalter nunmehr noch verbleiben. Die Informationsfreiheitsgesetze der Länder bieten keine erfolgversprechende Anspruchsgrundlage für den Insolvenzverwalter mehr. Die sich aus der AO ergebenden Ansprüche stehen nur dem Schuldner, nicht aber dem Insolvenzverwalter zu. Das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht des Betroffenen nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO geht als höchstpersönliches Recht, das nicht zur Insolvenzmasse gehört, nicht auf den Insolvenzverwalter über.120) Der Insolvenzverwalter kann den Schuldner nach § 97 InsO auffordern, selbst beim Fi- 109 nanzamt Auskunftserteilung zu beantragen. Wenn der Schuldner schon verpflichtet ist, Angaben zur Systematik der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen zu machen und Übersichten über Geschäftsvorgänge zu fertigen,121) wird man von ihm erst recht verlangen können, dass er den, ggf. vom Insolvenzverwalter vorbereiteten, Antrag auf Auskunftserteilung durch die Finanzverwaltung unterzeichnet und einreicht sowie die Antwort des Finanzamtes dem Insolvenzverwalter zur Kenntnis gibt. Die Finanzverwaltung wird sich allerdings regelmäßig darauf berufen wird, zur Auskunfts- 110 erteilung nicht verpflichtet zu sein. Gemäß § 32a Abs. 1 Nr. 3 AO kann die Finanzverwaltung die Erteilung der Information verweigern, wenn sie durch die Informationserteilung in der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung zivilrechtlicher Ansprüche oder in der der Verteidigung gegen sie geltend gemachter zivilrechtlicher Ansprüche beeinträchtigt würde.122) 3.
Ertragsteuern (Einkommen- und Körperschaftsteuer)
Der Einkommensteuer unterliegt das Einkommen (§§ 2 ff. EStG), das im Inland steuer- 111 pflichtige Personen (§§ 1 f. EStG) erzielen. Der Körperschaftsteuer unterliegen unbeschränkt (§ 1 KStG) und beschränkt (§ 2 KStG) Steuerpflichtige, also Kapitalgesellschaften, Genossenschaften, Versicherungs- und Pensionsfondsvereine auf Gegenseitigkeit sowie sonstige juristische Personen des privaten Rechts und nicht rechtsfähige Vereine, Anstalten, Stiftungen etc. 3.1
Abgrenzung Insolvenzforderungen, Masseverbindlichkeiten und insolvenzfreie Verbindlichkeiten
Da Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 InsO vorrangig zu befriedigen sind, hat der In- 112 solvenzverwalter sorgfältig zwischen Insolvenzforderungen, Masseverbindlichkeiten und insolvenzfreien Verbindlichkeiten zu differenzieren, was insbesondere bei der Betriebsfortführung rechtliche Fragen aufwirft. Nach dem Wortlaut der Bestimmung des § 38 InsO knüpft das Insolvenzrecht an den eigen- 113 ständigen insolvenzrechtlichen Begriff der „Begründetheit“ eines Anspruchs an, der weder mit dem Begriff der Entstehung noch dem Begriff der Fälligkeit verwechselt werden darf.123) ___________ 119) So BVerwG, Urt. v. 25.2.2022 – 10 C 4.20, ZRI 2022, 608 = NZI 2022, 756 = ZGI 2022, 143 m. Anm. Schmittmann. 120) So OVG Niedersachsen, Beschl. v. 26.6.2019 – 11 LA 274/18, NZI 2019, 689 m. Anm. Schmittmann. 121) So J. Schmidt in: HK-InsO, § 97 Rz. 38. 122) So FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.10.2021 – 16 K 11306/19, NZI 2022, 404 m. Anm. Schmittmann. 123) So zuletzt BFH, Urt. v. 24.8.2011 – V R 53/09, BStBl. II 2012, 256 = ZIP 2011, 2421; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 703; Schmittmann/Ch. Schmidt, Stb 2021, 209, 211.
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114 Für die insolvenzrechtliche Einordnung ist dem Grundsatz nach der sog. „Schuldrechtsorganismus“ maßgebend, so dass darauf abzustellen ist, ob die Hauptforderung ihrem Kern nach bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist: x
War im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Anspruch bereits gelegt, handelt es sich um eine Insolvenzforderung i. S. von § 38 InsO.124)
x
Bei später begründeten Steuerforderungen handelt es sich um Masseverbindlichkeiten, die vorweg aus der Insolvenzmasse zu befriedigen sind,125) sofern es sich nicht um Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners handelt.126) Um Masseverbindlichkeiten handelt es sich bei der Umsatzsteuer (siehe dazu sogleich Rz. 200 ff.) auch bei Steuerforderungen, die aus einer Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale der Berichtigungsvorschrift des § 17 Abs. 2 UStG resultieren127) oder aus dem Einzug von Forderungen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, vor der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters128) oder vor der Bestellung eines vorläufigen Sachwalters (in Neufällen) herrühren.129)
115 Da es sich bei der Einkommensteuer um eine Jahressteuer handelt, die nach Ablauf des Kalenderjahres (Veranlagungszeitraum) nach dem Einkommen veranlagt wird, ist die Einkommensteuerschuld des Schuldners im Jahre der Verfahrenseröffnung ggf. aufzuteilen.130) Gegebenenfalls ist eine weitere Differenzierung aufgrund von § 55 Abs. 4 InsO bei Verfahren geboten, die nach dem 31.12.2010131) bzw. nach dem 31.12.2020132) beantragt worden sind. Durch das SanInsFoG wurde zwar das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren ausdrücklich in den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO einbezogen, die Ertragsteuern aber ausgeschlossen. Dies eröffnet z. B. im vorläufigen Insolvenzverfahren die Möglichkeit, stille Reserven in Grundstücken durch Veräußerung aufzudecken und den Erlös für die Masse zu sichern, aber gleichzeitig die Ertragsteuern lediglich als Insolvenzforderungen i. S. des § 38 InsO entstehen zu lassen. 116 Die Einkünfte des Schuldners, die er in einem Veranlagungszeitraum erzielt hat, sind ggf. in drei unterschiedliche Zeiträume aufzuteilen.133) Die Aufteilung erfolgt nach dem Maßstab des Verhältnisses der jeweiligen Teileinkünfte, damit die progressive Einkommensteuerbelastung abgebildet werden kann.134)
___________ 124) So BFH, Beschl. v. 1.4.2008 – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 = ZIP 2008, 1780; BFH, Beschl. v. 6.10.2005 – VII B 309/04, BFH/NV 2006, 369; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 106. 125) So BFH, Urt. v. 29.3.1984 – IV R 271/83, BFHE 141, 2 = BStBl. II 1984, 602. 126) So BFH, Urt. v. 18.9.2012 – VIII R 47/09, BFH/NV 2013, 411; BFH, Urt. v. 14.12.1978 – VIII R 28/73, BFHE 124, 411 = BStBl. II 1978, 356; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 110. 127) Vgl. BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 56/09, BFH/NV 2013, 413. 128) Vgl. BFH, Urt. v. 1.3.2016 – XI R 21/14, BStBl. II 2016, 756 = MwStR 2016, 721 m. Anm. Hummel, dazu EWiR 2016, 439 (Schmittmann); BFH, Urt. v. 22.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451 m. Anm. Kahlert, ZIP 2015, 11, dazu EWiR 2015, 1 (Schmittmann). 129) Vgl. BMF-Schreiben v. 11.1.2022 – IV A 3 – S 0550/21/10001:001, BStBl. I 2022, 116 ff. 130) So BFH, Urt. v. 7.11.1963 – IV 210/62 S, BStBl. III 1964, 70. 131) Vgl. i. E. BMF-Schreiben v. 17.1.2012 – IV A 3 – S 0550/10/10020-05, BStBl. I 2012, 120 ff.; vgl. dazu Trottner, NWB 2012, 920 ff.; Schmittmann, ZIP 2012, 249 ff. 132) Vgl. BMF-Schreiben v. 11.1.2022 – IV A 3 – S 0550/21/10001:001, BStBl. I 2022, 116 ff. 133) So BFH, Urt. v. 11.11.1993 – IX R 73/92, BFH/NV 1994, 477 = ZIP 1994, 1286; K. SchmidtSchmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 116. 134) So BFH, Urt. v. 11.11.1993 – XI R 73/92, BFH/NV 1994, 477 = ZIP 1994, 1286; BFH, Urt. v. 29.3.1984 – IV R 271/83, BFHE 141, 2 = BStBl. II 1984, 602. Vgl. Nr. 9.1.4 zu § 251 AEAO.
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Die aus der Fortführung des Unternehmens oder die Verwertung der Insolvenzmasse 117 resultierende Einkommensteuerschuld ist Masseverbindlichkeit und für den Zeitraum nach Insolvenzeröffnung durch Steuerbescheid gegen den Insolvenzverwalter festzusetzen.135) Geht der Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit Duldung des Insolvenz- 118 verwalters einer Geschäftsführertätigkeit nach, so entsteht keine Masseverbindlichkeit, wenn der Schuldner sich Schadensersatz- oder Haftungsansprüchen aussetzt.136) Bei Personengesellschaften erfolgt die Gewinnermittlung auf der Ebene der Gesellschaft. 119 Die Gewinne werden dann aber im Wege der einheitlichen und gesonderten Feststellung den einzelnen Gesellschaftern zugerechnet und i. R. ihrer Einkommensteuererklärung verarbeitet. Wird auf der Ebene der Personengesellschaft z. B. eine Rückstellung aufgelöst und erfolgt diese Auflösung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des insolventen Gesellschafters, entsteht eine Masseverbindlichkeit, ohne dass der Insolvenzverwalter dies beeinflussen kann.137) Werden nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens stille Reserven aufgedeckt, stellt die 120 daraus resultierende Einkommensteuer grundsätzlich eine Masseverbindlichkeit dar.138) Der BFH hat früher die Auffassung vertreten, dass bei der Verwertung von Vermögens- 121 gegenständen mit Absonderungsrechten eine Masseverbindlichkeit nur insoweit entsteht, wie trotz der dinglichen Belastung ein Mehrerlös zur Insolvenzmasse gelangt.139) Nunmehr vertritt der BFH die Auffassung, dass Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht deshalb ausscheiden, weil die Einkommensteuerschuld aus der Verwertung der zur Insolvenzmasse (und zum Betriebsvermögen) gehörenden Wirtschaftsgüter resultiert. Diese Einkommensteuerschuld ist auch dann in voller Höhe Masseverbindlichkeit, wenn das verwertete Wirtschaftsgut mit Absonderungsrechten belastet war und – nach Vorwegbefriedigung der absonderungsberechtigten Gläubiger aus dem Verwertungserlös – der (tatsächlich) zur Masse gelangte Erlös nicht ausreicht, um die aus der Verwertungshandlung resultierende Einkommensteuerforderung zu befriedigen.140) Dies gilt selbst bei der Zwangsversteigerung eines Grundstücks durch einen absonderungs- 122 berechtigten Grundpfandgläubiger. Wird ein zur Insolvenzmasse gehörendes und mit einem Absonderungsrecht belastetes Betriebsgrundstück nach Insolvenzeröffnung auf Betreiben eines Grundpfandgläubigers ohne Zutun des Insolvenzverwalters versteigert und hierdurch – infolge Aufdeckung stiller Reserven – ein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn ausgelöst, ist nach der Rechtsprechung des BFH die auf den Gewinn entfallende Einkommensteuer eine „in anderer Weise“ durch die Verwaltung bzw. Verwertung der Insolvenzmasse begründete Masseverbindlichkeit. Die Massezugehörigkeit des Vermögensgegenstandes ___________ 135) Vgl. BFH, Urt. v. 5.3.2008 – X R 60/04, BStBl. II 2008, 787 = ZIP 2008, 1643; BFH, Urt. v. 25.7.1995 – VIII R 61/94, BFH/NV 1996, 117; BFH, Urt. v. 11.11.1993 – VI R 73/92, BFH/NV 1994, 477 = ZIP 1994, 1286; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 120. 136) So BFH, Urt. v. 21.7.2009 – VII R 49/08, BStBl. II 2010, 13 = ZIP 2009, 2208. 137) So BFH, Urt. v. 18.5.2010 – X R 60/08, BFHE 2009, 62 = ZIP 2010, 1612; kritisch K. SchmidtSchmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 122. 138) Vgl. BFH, Urt. v. 11.11.1993 – XI R 73/92, BFH/NV 1994, 477 = ZIP 1994, 1286; BFH, Urt. v. 23.3.1984 – IV R 271/83, BFHE 141, 2 = BStBl. II 1984, 602; BFH, Urt. v. 7.11.1963 – IV 210/62 S, BFHE 78, 172 = BStBl. III 1964, 70; kritisch Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1469; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 124. 139) So BFH, Urt. v. 14.2.1978 – VIII R 28/73, BFHE 124, 411 = BStBl. II 1978, 356; K. SchmidtSchmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 126. 140) So BFH, Urt. v. 26.5.2013 – IV R 23/14, ZIP 2013, 1481 = NZI 2013, 709, dazu EWiR 2013, 621 (Schmittmann); Vorinstanz: FG Düsseldorf, Urt. v. 2.2.2011 – 2 K 3953/10, EFG 2011, 1920 = DStRE 2012, 274.
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sowie dessen fehlende Freigabe durch den Insolvenzverwalter stellen die entscheidenden Wertungsmomente für die Annahme von Masseverbindlichkeiten dar.141) 123 Gleiches gilt, wenn die Einkünfte aus einer Beteiligung an einer Personengesellschaft nicht in die Insolvenzmasse geflossen sind, da der Insolvenzverwalter den Schuldner nicht persönlich mit seinem insolvenzfreien Vermögen verpflichten kann, so kann die Einkommensteuer auf Handlung des Insolvenzverwalters nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Masseverbindlichkeit sein. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sind u. a. die Gewinnanteile den Mitunternehmern zuzurechnen, da die Personengesellschaft selbst nicht einkommensteuerpflichtig ist. Die Ergebnisse der gemeinschaftlichen Tätigkeit sind anteilig nach den vertraglichen oder gesetzlichen Gewinnverteilungsschlüsseln als originäre eigene Einkünfte zuzurechnen.142) 124 Ist der Schuldner Eigentümer eines unter Zwangsverwaltung stehenden Grundstücks, so gelten Besonderheiten, wenn zugleich das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Nach früherer Rechtsprechung bestand für den Zwangsverwalter keine Zuständigkeit, die Einkommensteuer für den Grundstückseigentümer einzubehalten und abzuführen, unabhängig davon, ob das Grundstück im Eigentum des Schuldners stand oder im Eigentum einer Erbengemeinschaft, an der der Schuldner beteiligt war.143) Nunmehr vertritt der BFH die Auffassung, dass der Zwangsverwalter auch die Einkommensteuer des Vollstreckungsschuldners zu entrichten hat, soweit sie aus der Vermietung der im Zwangsverwaltungsverfahren beschlagnahmten Grundstücke herrührt, und zwar unabhängig davon, ob das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet worden ist.144) Der BFH begründet dies damit, dass Insolvenz- und Zwangsverwalter gemäß § 34 Abs. 3 letzter Halbsatz AO die steuerlichen Pflichten des Schuldners zu erfüllen haben, soweit ihre Verwaltung jeweils reicht. Eine Zwangsverwaltung hat vor der Insolvenzverwaltung den Vorrang. Im Übrigen entspricht die Entrichtungspflicht des Insolvenzverwalters auch dem Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung und vermeidet Verzerrungen, die ansonsten entstehen, wenn die Insolvenzmasse mit Steuern belastet wird, die im Zusammenhang mit Einnahmen stehen, welche nicht der Insolvenzmasse, sondern dem Zwangsverwalter zuzurechnen sind. Nach zutreffender Auffassung des BFH ist kein Grund ersichtlich, weshalb die absonderungsberechtigten Gläubiger aus der Zwangsverwaltung die Bruttomieten vereinnahmen und die anderen Insolvenzgläubiger die darauf entfallende Einkommensteuer tragen sollten. Die Einzelheiten der Umsetzung der Entscheidung hat das BMF inzwischen geregelt.145)
___________ 141) So BFH, Urt. v. 7.7.2020 – X R 13/19, ZRI 2021, 38 = NZI 2020, 1119 m. Anm. Schmittmann = Verbraucherinsolvenz aktuell 2021, 16 m. Anm. Cymutta = ZInsO 2020, 2544 ff. m. Anm. de Weerth. 142) So BFH, Beschl. v. 18.12.2014 – X B 89/14, ZIP 2015, 389 = InsbürO 2015, 357 m. Anm. Schmittmann = NZI 2015, 427 m. Anm. Riewe, dazu EWiR 2015, 157 (de Weerth). 143) So BFH, Urt. v. 9.12.2014 – X R 12/12, BFH/NV 2015, 988 = ZIP 2015, 1035, dazu EWiR 2015, 357 (Schmittmann). 144) So BFH, Urt. v. 10.2.2015 – IX R 23/14, BFHE 249, 202 = ZfIR 2015, 573 m. Anm. Onusseit = ZIP 2015, 1503 = BB 2015, 1764 m. Anm. Hilbert = NJW 2015, 2524 ff. m. Anm. Drasdo = StuB 2015, 555 m. Anm. jh, dazu EWiR 2015, 581 f. (Cranshaw); vgl. Breidert, IGZInfo 2015, 48 ff.; Engels, Rpfleger 2015, 525 ff.; Kahlert/Schmidt, FR 2015, 596 ff.; Olbing, AnwBl. 2016, 33 f.; Schmittmann, StuB 2015, 550 f.; Schmittmann, ZfIR 2015, 545 ff.; de Weerth, NZI 2015, 643 ff.; ausdrücklich unter Ablehnung der Gegenauffassung bestätigt durch BFH, Beschl. v. 7.1.2019 – IX B 79/18, NZI 2019, 308 = DZWIR 2019, 128 = IGZInfo 2019, 19 = StuB 2019, 248 m. Anm. jh; Vorinstanz: FG Düsseldorf, Beschl. v. 10.7.2018 – 3 V 1143/18, NZI 2018, 860 m. Anm. Drasdo. Vgl. dazu auch AG Brilon, Beschl. v. 17.12.2018 – 10 L 6/15, NZI 2019, 243 = IGZInfo 2019, 55 – Entrichtungspflicht des Zwangsverwalters für Einkommensteuer mit Bezug zum beschlagnahmten Vermögen. 145) S. BMF-Schreiben v. 3.5.2017 – IV A 3 – S 0550/15/10028, IGZInfO 2017, 43; dazu Förster, IGZInfo 2017, 49 (Urteilsanm.); Wilhelm, IGZInfo 2017, 78 (Urteilsanm.); Kahlert, ZfIR 2017, 649 ff.
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Der Neuerwerb eines Schuldners führt nicht zu einer Belastung der Insolvenzmasse mit 125 Masseverbindlichkeiten. Dies gilt sowohl für eine insolvenzfreie Tätigkeit eines Schuldners im Regelinsolvenzverfahren146) als auch bei Schuldnern im Verbraucherinsolvenzverfahren, die Einkünfte aus nicht selbständiger Tätigkeit erzielen.147) Ergibt sich allerdings eine Erstattung, so ist diese dem Schuldner auszuzahlen, sofern der Finanzverwaltung keine Aufrechnungspositionen zur Verfügung stehen. Bei der Kalkulation einer Betriebsfortführung hat der Insolvenzverwalter die sich erge- 126 benden steuerlichen Effekte zu berücksichtigen, insbesondere aber auch die bestehenden Verlustvorträge i. R. der gesetzlichen Möglichkeiten zu nutzen, um Zahllasten zu vermeiden. 3.2
Zinsabschlag und Kapitalertragsteuer
Für Kapitalerträge, die nach dem 31.12.2008 zufließen, gilt, dass auf der Ebene des Privat- 127 vermögens grundsätzlich eine Abgeltungsteuer i. H. von 25 % und auf der Ebene des Betriebsvermögens sowie im Anwendungsbereich des § 17 EStG das sog. „Teil- bzw. Halbeinkünfteverfahren“ Anwendung finden.148) Die Zinsabschlag- und Kapitalertragsteuer (Abgeltungsteuer) sind keine eigenen Steuerar- 128 ten, sondern stellen eine besondere Erhebungsform der auf bestimmte inländische Kapitalerträge erhobenen Einkommen- oder Körperschaftsteuer dar. Treuhandkonten sind i. R. der Abgeltungsteuer nach den für die Einkünfte aus Kapital- 129 vermögen geltenden Regeln, d. h. grundsätzlich wie Privatkonten, zu behandeln. Die Verlustverrechnung und die Anrechnung ausländischer Quellensteuer hat nach § 43a 130 Abs. 3 EStG zu erfolgen.149) Bei Treuhandkonten scheidet eine Abstandnahme vom Steuerabzug aufgrund eines Freistellungsauftrages oder einer NV-Bescheinigung aus, da nach § 44a Abs. 6 EStG Voraussetzung für die Abstandnahme ist, dass Kontoinhaber und Gläubiger der Kapitalerträge identisch sind.150) Die von einem Insolvenzverwalter verwalteten betrieblichen Konten und Depots fallen 131 nicht unter die Regelungen der Tz. 152 und Tz. 154 des BMF-Schreibens vom 22.12.2009. Zum Nachweis, dass es sich um ein betriebliches Konto handelt, reicht eine Bestätigung des Insolvenzverwalters gegenüber dem Kreditinstitut aus.151) In Verfahren, in denen Masseunzulänglichkeit angezeigt ist, führt das Abgeltungsverfahren 132 zu Schwierigkeiten. Aufgrund des Steuerabzugsverfahrens (§ 43 EStG) verschafft sich die Finanzverwaltung gegenüber allen anderen Gläubigern einen Vorteil dahin, dass die Schuldner der Kapitalerträge bei Meidung der eigenen Haftung (§ 44 Abs. 5 EStG) verpflichtet sind, die Steuern einzubehalten und abzuführen. Die Befriedigungsreihenfolge des § 209 InsO wird in masseunzulänglichen Insolvenzverfahren (§ 208 InsO) von der Finanzverwaltung dadurch unterlaufen, dass die Steuerzahlung, die Masseverbindlichkeit i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist, von dem Kreditinstitut zu Lasten der Masse an die Finanzverwaltung abgeführt wird, ohne dass der Insolvenzverwalter darauf Einfluss nehmen kann. Auch eine In___________ 146) So BFH, Urt. v. 14.2.1978 – VIII R 28/73, BFHE 124, 411 = BStBl. II 1978, 356; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1455. 147) So BFH, Urt. v. 14.2.2011 – VI R 21/10, BStBl. II 2011, 520 = ZIP 2011, 873; vgl. Casse, ZInsO 2011, 2309; Schmittmann, StuB 2012, 404. 148) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1551; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 135. 149) So BMF-Schreiben v. 22.12.2009 – IV C 1 – S 2252/08/10004, Rz. 152, BStBl. I 2010, 94. 150) So BMF-Schreiben v. 22.12.2009 – IV C 1 – S 2252/08/10004, Rz. 153, BStBl. I 2010, 94. 151) So BMF-Schreiben v. 22.12.2009 – IV C 1 – S 2252/08/10004, Rz. 155, BStBl. I 2010, 94.
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solvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO scheidet aus, da es sich um eine Zahlung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens handelt. Der Insolvenzverwalter ist verpflichtet, der auszahlenden Stelle sowie der Finanzverwaltung die Masseunzulänglichkeit mitzuteilen und diese aufzufordern, den Einbehalt und die Abführung zu unterlassen (Anweisung gegenüber der auszahlenden Stelle) bzw. die Abgeltungsteuer zurückzufordern (Finanzamt). Der Insolvenzverwalter hat diesen Anspruch für die Insolvenzmasse zur Meidung der eigenen Haftung geltend zu machen.152) 133 In der Insolvenz von Personengesellschaften wird zu Lasten der Insolvenzmasse Abgeltungsteuer einbehalten, die auf die Einkommensteuer der Gesellschafter angerechnet wird (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG; § 180 Abs. 1 Nr. 2a AO). Der Gesellschafter mindert somit auf Kosten der Insolvenzgläubiger seine Verbindlichkeiten gegenüber der Finanzverwaltung.153) Die Fehlleitung der Kapitalertragsteuer ist nicht auf öffentlich-rechtlicher (fiskalischer), sondern auf gesellschafts- und insolvenzrechtlicher Ebene zu beseitigen, indem der Insolvenzmasse ein Anspruch gegen den Gesellschafter auf Herausgabe des ihm zugeflossenen Vorteils zusteht.154) Der Insolvenzverwalter hat ggf. gegen den Gesellschafter einen Zahlungsanspruch aus Gesellschaftsrecht.155) Er braucht sich insbesondere nicht darauf verweisen zu lassen, dass der Gesellschafter ihm seinen Steuererstattungsanspruch gegen die Finanzverwaltung abtritt.156) 134 In der Insolvenz von Kapitalgesellschaften erfolgt die Erstattung der Abzugsteuer i. R. der Erstellung der Steuererklärungen und Veranlagung.157) 3.3
Besonderheiten bei der Besteuerung von Sanierungsgewinnen
3.3.1 Rechtsentwicklung bis 2017 135 Bis zum 31.12.1997 waren Sanierungsgewinne gemäß § 3 Nr. 66 EStG, § 8 Abs. 1 KStG und § 7 GewStG steuerfrei.158) Nach Abschaffung dieser Norm unterlagen Sanierungsgewinne zunächst keinen steuerlichen Besonderheiten, bevor sich das BMF veranlasst sah, einen Erlass auf Steuern der Sanierungsgewinne nach Maßgabe der §§ 163, 227 ff. AO anzuordnen.159) Die Anweisung des BMF vom 20.3.2003 wurde vom BFH inzwischen verworfen: „Mit dem unter den Voraussetzungen des BMF-Schreibens vom 27.3.2003 IV A 6-S 2140-8/03 (BStBl. I 2003, 240; ergänzt durch das BMF-Schreiben vom 22.12.2009 IV C 6-S 2140/07/ 10001-01, BStBl. I 2010, 18; sog. Sanierungserlass) vorgesehenen Billigkeitserlass der auf einen Sanierungsgewinn entfallenden Steuer verstößt das BMF gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.“160)
___________ 152) Vgl. Maus, Steuern im Insolvenzverfahren, Rz. 402; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 139. 153) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1553; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 142. 154) So OLG Dresden, Beschl. v. 29.11.2004 – 2 U 1507/04, GmbHR 2005, 238 = StuB 2005, 516; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 143. 155) So BGH, Urt. v. 16.4.2013 – II ZR 118/11, ZIP 2013, 1174 = NZI 2013, 661, dazu EWiR 2013, 409 (Kahlert). 156) So OLG Dresden, Beschl. v. 29.11.2004 – 2 U 1507/04, GmbHR 2005, 238 = StuB 2005, 516; LG Freiburg, Urt. v. 3.8.1999 – 12 O 39/99, ZIP 1999, 2063 = NZI 2000, 87. 157) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 146. 158) Vgl. Schmittmann, Turnaround durch steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten, S. 83, 104; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1681 ff. 159) So BMF-Schreiben v. 27.3.2003 – IV A 6 – S 2140 – 8/03, BStBl. I 2003, 240; vgl. dazu Schmittmann, ZInsO 2003, 505 ff.; Uhländer, ZInsO 2005, 76 f. 160) S. BFH, Beschl. v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 = ZIP 2017, 338 = NZI 2017, 163 m. Anm. Willemsen = StuB 2017, 161 m. Anm. jh, dazu EWiR 2017, 149 (Möhlenkamp). Vgl. dazu Hölzle/Kahlert, ZIP 2017, 510 ff.; Kahlert/Schmidt, ZIP 2017, 503 ff.; Schmittmann, NZI Heft 5/2017, V.
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Bereits mit Schreiben vom 27.4.2017 hat das BMF mit einer Verwaltungsanweisung auf die 136 Rechtsprechung des Großen Senats des BFH reagiert161) und angeordnet, dass bei einem Schuldenerlass bis zum 8.2.2017 der Sanierungserlass vom 27.3.2003 uneingeschränkt weitergelte. Dies gelte auch für das BMF-Schreiben vom 22.12.2009. Der BFH hielt allerdings an seiner Auffassung fest und veröffentlichte am 25.10.2017 zwei Urteile, die alle bisherigen Bemühungen des Gesetzgebers und der Finanzverwaltung zunichtemachten.162) Billigkeitsmaßnahmen nach dem BMF-Schreiben vom 27.3.2003 oder vom 27.4.2017 scheiden aus, da sowohl der X. Senat des BFH163) als auch der I. Senat des BFH164) der Rechtsprechung des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 folgen und auch das Schreiben vom 27.4.2017 als Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ansehen. Der Streit zwischen dem BMF und dem BFH war damit allerdings keineswegs beendet. Das BMF teilte mit: „Wir sehen uns an die mit BMF-Schreiben vom 27. April 2017 (BStBl I S. 741) veröffentlichte Vertrauensschutzregelung im Umgang mit Altfällen (Schuldenerlass bis einschließlich 8. Februar 2017) durch den Willen des Gesetzgebers weiterhin gebunden.“165)
Der BFH bestätigte kurz darauf seine Rechtsprechung, wonach bei einem Sanierungsge- 137 winn, der dadurch entstanden ist, dass die Schulden vor dem 9.2.2017 erlassen worden sind, weder eine Einkommensteuerbefreiung dieses Sanierungsgewinns nach § 3a EStG n. F. noch eine Billigkeitsmaßnahme nach den BMF-Schreiben vom 27.3.2003166) oder vom 27.4.2017167) in Betracht komme. Die Wiederholung der Verwaltungsauffassung durch das BMFSchreiben vom 29.3.2018168) ändere daran nichts.169) Die Zustimmung des VII. Senats des BFH folgte schnell.170) 3.3.2 Rechtsentwicklung ab 2017 3.3.2.1
Gesetzliche Regelung
Mit der Verkündung des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit 138 Rechteüberlassungen vom 27.6.2017171) hat der Gesetzgeber begonnen, die Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen zu regeln.172) Gemäß § 3a Abs. 1 EStG sind Betriebsvermögensmehrungen oder Betriebseinnahmen aus 139 einem Schuldenerlass zum Zwecke einer unternehmensbezogenen Sanierung i. S. des § 3a Abs. 2 EStG (Sanierungsertrag) gemäß § 3a Abs. 1 EStG steuerfrei. Sind Betriebsvermögensmehrungen oder Betriebseinnahmen aus einem Schuldenerlass steuerfrei, sind steuerliche Wahlrechte in dem Jahr, in dem ein Sanierungsertrag erzielt wird (Sanierungsjahr) ___________ 161) So BMF-Schreiben v. 27.4.2017 – IV C 6 – S 2140/13/10003, BStBl. I 2017, 741. 162) Vgl. Uhländer, DB 2017, 2761 ff.; Schmittmann, INDat-Report 8/2017, 28. 163) S. BFH, Urt. v. 23.8.2017 – X R 38/15, BStBl. II 2018, 236 = ZIP 2017, 2161, dazu EWiR 2017, 763 (v. Spiessen). 164) S. BFH, Urt. v. 23.8.2017 – I R 52/14, BStBl. II 2018, 232 = ZIP 2017, 2158 = NZI 2017, 936 m. Anm. Schmittmann, dazu EWiR 2017, 761 (Anzinger). 165) S. BMF-Schreiben v. 29.3.2018 – IV C 6 – S-2140/13/10003, BStBl. I 2018, 588; vgl. Uhländer, DB 2018, 854 ff. 166) So BMF-Schreiben v. 27.3.2003 – IV A 6 – S 2140 – 8/03, BStBl. I 2003, 240. 167) So BMF-Schreiben v. 27.4.2017 – IV C 6 – S 2140/13/10003, BStBl. I 2017, 741. 168) BMF-Schreiben v. 29.3.2018 – IV C 6 – S 2140/13/10003, BStBl. I 2018, 588. 169) S. BFH, Beschl. v. 16.4.2018 – X B 13/18, NZI 2018, 570 m. Anm. Schmittmann. 170) S. BFH, Beschl. v. 8.5.2018 – VIII B 124/17, BFH/NV 2018, 822 = ZInsO 2018, 1511 = StuB 2018, 645 (LS) m. Anm. jh. 171) Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen, v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074 ff. 172) S. Schmittmann, Gemeindehaushalt 2019, 36, 38; Busch/Heckmann, Stb 2022, 161, 168.
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und im Folgejahr im zu sanierenden Unternehmen gewinnmindernd auszuüben. Insbesondere ist der niedrigere Teilwert, der nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 und Nr. 2 Satz 1 EStG angesetzt werden kann, im Sanierungsjahr und im Folgejahr anzusetzen. 140 Eine unternehmensbezogene Sanierung liegt gemäß § 3a Abs. 2 EStG vor, wenn der Steuerpflichtige für den Zeitpunkt des Schuldenerlasses die Sanierungsbedürftigkeit und die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, die Sanierungseignung des betrieblich begründeten Schuldenerlasses und die Sanierungsabsicht der Gläubiger nachweist. 141 Nicht abziehbare Beträge i. S. des § 3c Abs. 4 EStG, die in Veranlagungszeiträumen vor dem Sanierungsjahr und im Sanierungsjahr anzusetzen sind, mindern gemäß § 3a Abs. 3 EStG den Sanierungsertrag. Dieser Betrag mindert nacheinander x
den aufgrund einer Verpflichtungsübertragung i. S. des § 4f Abs. 1 Satz 1 EStG in den dem Wirtschaftsjahr der Übertragung nachfolgenden 14 Jahren verteilt abziehbaren Aufwand des zu sanierenden Unternehmens, es sein denn, der Aufwand ist gemäß § 4f Abs. 1 Satz 7 EStG auf einen Rechtsnachfolger übergegangen, der die Verpflichtung übernommen hat und insoweit der Regelung des § 5 Abs. 7 EStG unterliegt (§ 3a Abs. 3 Nr. 1 EStG);
x
den nach § 15a EStG ausgleichsfähigen oder verrechenbaren Verlust des Unternehmers (Mitunternehmers) des zu sanierenden Unternehmens des Sanierungsjahrs (§ 3a Abs. 3 Nr. 2 EStG);
x
den zum Ende des dem Sanierungsjahr vorangegangenen Wirtschaftsjahrs nach § 15a EStG festgestellten verrechenbaren Verlust des Unternehmers (Mitunternehmers) des zu sanierenden Unternehmens (§ 3a Abs. 3 Nr. 3 EStG);
x
den nach § 15b EStG ausgleichsfähigen oder verrechenbaren Verlust derselben Einkunftsquelle des Unternehmers (Mitunternehmers) des Sanierungsjahrs; bei der Verlustermittlung bleibt der Sanierungsertrag unberücksichtigt (§ 3a Abs. 3 Nr. 4 EStG);
x
den zum Ende des dem Sanierungsjahr vorangegangenen Jahres nach § 15b EStG festgestellten verrechenbaren Verlust derselben Einkunftsquelle des Unternehmers (Mitunternehmers) (§ 3a Abs. 3 Nr. 5 EStG);
x
den nach § 15 Abs. 4 EStG ausgleichsfähigen oder nicht abziehbaren Verlust des zu sanierenden Unternehmens des Sanierungsjahrs (§ 3a Abs. 3 Nr. 6 EStG);
x
den zum Ende des dem Sanierungsjahr vorangegangenen Jahres nach § 15 Abs. 4 EStG festgestellten in Verbindung mit § 10d Abs. 4 EStG verbleibenden Verlustvortrag, soweit er auf das zu sanierende Unternehmen entfällt (§ 3a Abs. 3 Nr. 7 EStG);
x
den Verlust des Sanierungsjahrs des zu sanierenden Unternehmens (§ 3a Abs. 3 Nr. 8 EStG);
x
den ausgleichsfähigen Verlust aus allen Einkunftsarten des Veranlagungszeitraums, in dem das Sanierungsjahr endet (§ 3a Abs. 3 Nr. 9 EStG);
x
im Sanierungsjahr ungeachtet des § 10d Abs. 2 EStG den nach § 10d Abs. 4 EStG zum Ende des Vorjahres gesondert festgestellten Verlustvortrag (§ 3a Abs. 3 Nr. 10 EStG);
x
in der nachfolgenden Reihenfolge den zum Ende des Vorjahres festgestellten und den im Sanierungsjahr entstehenden verrechenbaren Verlust oder die negativen Einkünfte nach § 15a EStG, nach § 15b EStG anderer Einkunftsquellen, nach § 15 Abs. 4 EStG anderer Betriebe und Mitunternehmeranteile, nach § 3a EStG, nach § 2b EStG, nach § 23 Abs. 3 Satz 7 und 8 EStG, nach sonstigen Vorschriften (§ 3a Abs. 3 Nr. 11 EStG);
x
ungeachtet der Beträge des § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG die negativen Einkünfte nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG des Folgejahrs. Ein Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 Satz 1
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und 2 EStG ist nur möglich, soweit die Beträge nach § 10d Abs. 1 Satz 1 und 2 EStG durch den verbleibenden Sanierungsertrag i. S. des Satzes 4 nicht überschritten werden (§ 3a Abs. 3 Nr. 12 EStG); x
den zum Ende des Vorjahres festgestellten und den im Sanierungsjahr entstehenden Zinsvortrag nach § 4h Abs. 1 Satz 5 EStG, den EBITDA-Vortrag nach § 4h Abs. 1 Satz 3 EStG (§ 3a Abs. 3 Nr. 13 EStG).
Erträge aus einer nach den §§ 286 ff. InsO erteilten Restschuldbefreiung, einem Schulden- 142 erlass aufgrund eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans zur Vermeidung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens nach den §§ 304 ff. InsO oder aufgrund eines Schuldenbereinigungsplans, dem in einem Verbraucherinsolvenzverfahren zugestimmt wurde oder wenn diese Zustimmung durch das Gericht ersetzt wurde, sind, soweit es sich um Betriebsvermögensmehrungen oder Betriebseinnahmen handelt, gemäß § 3a Abs. 5 EStG ebenfalls steuerfrei, auch wenn die Voraussetzungen einer unternehmensbezogenen Sanierung i. S. des Absatz 2 nicht vorliegen; Absatz 3 gilt entsprechend. Die Neuregelung in § 3c EStG betrifft die Sanierungskosten. In § 3c Abs. 4 EStG ist nun 143 Folgendes geregelt: „Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben, die mit einem steuerfreien Sanierungsertrag i. S. des § 3a EStG in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, dürfen unabhängig davon, in welchem Veranlagungszeitraum der Sanierungsertrag entsteht, nicht abgezogen werden. Satz 1 gilt nicht, soweit Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben zur Erhöhung von Verlustvorträgen geführt haben, die nach Maßgabe der in § 3a Abs. 3 EStG getroffenen Regelungen entfallen. Zu den Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben i. S. des Satzes 1 gehören auch Aufwendungen im Zusammenhang mit einem Besserungsschein und vergleichbare Aufwendungen. Satz 1 gilt für Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben, die nach dem Sanierungsjahr entstehen, nur insoweit, als noch ein verbleibender Sanierungsertrag i. S. von § 3a Abs. 3 Satz 4 EStG vorhanden ist. Wurden Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben i. S. des Satzes 1 bereits bei einer Steuerfestsetzung oder einer gesonderten Feststellung nach § 180 Abs. 1 Satz 1 AO gewinnmindernd berücksichtigt, ist der entsprechende Steuer- oder Feststellungsbescheid insoweit zu ändern. Das gilt auch dann, wenn der Steuer- oder Feststellungsbescheid bereits bestandskräftig geworden ist; die Festsetzungsfrist endet insoweit nicht, bevor die Festsetzungsfrist für das Sanierungsjahr abgelaufen ist.“
3.3.2.2
Anwendungsregelung durch das Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen
3.3.2.2.1 Einkommensteuer Hinsichtlich der Anwendung regelt § 52 EStG Folgendes:
144
„Die Bestimmung des § 3a EStG ist gemäß § 52 Abs. 4 EStG erstmals in den Fällen anzuwenden, in denen die Schulden ganz oder teilweise nach dem 8. Februar 2017 erlassen wurden. Satz 1 gilt bei einem Schuldenerlass nach dem 8. Februar 2017 nicht, wenn dem Steuerpflichtigen auf Antrag Billigkeitsmaßnahmen aus Gründen des Vertrauensschutzes für einen Sanierungsertrag auf Grundlage von § 163 Abs. 1 Satz 2 und den §§ 222, 227 AO zu gewähren sind.“
Die Regelung des § 3c Abs. 4 EStG ist gemäß § 52 Abs. 5 EStG für die Betriebsvermögens- 145 minderungen oder Betriebsausgaben in unmittelbarem wirtschaftlichem Zusammenhang mit einem Schuldenerlass nach dem 8.2.2017 anzuwenden, für den § 3a EStG angewendet wird. 3.3.2.2.2 Körperschaftsteuer Auch hinsichtlich der Körperschaftsteuer erfolgen Änderungen: Kommt es bei einem Betrieb 146 gewerblicher Art, der sich durch eine Zusammenfassung ergeben hat, innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach der Zusammenfassung zur Anwendung des § 3a EStG, ist § 3a
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Abs. 3 Satz 3 EStG gemäß § 8 Abs. 8 KStG entsprechend auf die in Satz 4 genannten Verlustvorträge anzuwenden. 147 Die §§ 3a und 3c Abs. 4 EStG sind entsprechend anzuwenden; § 3a Abs. 2 EStG ist für die Kapitalgesellschaft anzuwenden, § 8 Abs. 9 KStG. 148 Die Regelung des § 3a Abs. 3 EStG ist gemäß § 8c Abs. 2 KStG auf verbleibende nicht genutzte Verluste anzuwenden, die sich nach einer Anwendung des Absatz 1 ergeben. 3.3.2.2.3 Gewerbesteuer 149 In das GewStG wurde darüber hinaus eine Sonderregelung bei der Ermittlung des Gewerbeertrags bei unternehmensbezogener Sanierung eingeführt. Gemäß § 7b Abs. 1 GewStG sind die §§ 3a und 3c Abs. 4 EStG vorbehaltlich der weiteren Regelungen bei der Ermittlung des Gewerbeertrags entsprechend anzuwenden. 150 Der nach der Anwendung des § 3a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 EStG verbleibende geminderte Sanierungsertrag i. S. des § 3a Abs. 3 Satz 1 EStG mindert nacheinander den negativen Gewerbeertrag des Sanierungsjahres des zu sanierenden Unternehmens (§ 7b Abs. 2 Nr. 1 GewStG), Fehlbeträge i. S. des § 10a Satz 3 (§ 7b Abs. 2 Nr. 2 GewStG) und im Sanierungsjahr ungeachtet des § 10a Satz 2 GewStG die nach § 10a Satz 6 GewStG zum Ende des vorangegangenen Erhebungszeitraums gesondert festgestellten Fehlbeträge; die in § 10a Satz 1 und 2 GewStG genannten Beträge werden der Minderung entsprechend aufgebraucht (§ 7b Abs. 2 Nr. 3 GewStG). 151 Ein nach § 7b Abs. 2 Satz 1 GewStG verbleibender Sanierungsertrag mindert die Beträge nach Satz 1 Nr. 1 bis 3 eines anderen Unternehmens, wenn dieses die erlassenen Schulden innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren vor dem Schuldenerlass auf das zu sanierende Unternehmen übertragen hat und soweit die entsprechenden Beträge zum Ablauf des Wirtschaftsjahres der Übertragung bereits entstanden waren. Der verbleibende Sanierungsertrag nach Satz 2 ist zunächst um den Minderungsbetrag nach § 3a Abs. 3 Satz 2 Nr. 13 EStG zu kürzen. Bei der Minderung nach Satz 1 ist § 10a Satz 4 und 5 GewStG entsprechend anzuwenden. In Fällen des § 10a Satz 9 GewStG ist § 8 Abs. 9 Satz 9 KStG entsprechend anzuwenden. An den Feststellungen der vortragsfähigen Fehlbeträge nehmen nur die nach Anwendung der § 7b Abs. 2 Satz 1 GewStG verbleibenden Beträge teil. 152 Zur Anwendung regelt § 36 Abs. 2c GewStG, das § 7b GewSt erstmals in den Fällen anzuwenden ist, in denen die Schulden ganz oder teilweise nach dem 8.2.2017 erlassen wurden. Satz 1 gilt bei einem Schuldenerlass nach dem 8.2.2017 nicht, wenn dem Steuerpflichtigen auf Antrag Billigkeitsmaßnahmen aus Gründen des Vertrauensschutzes für einen Sanierungsertrag auf Grundlage von § 163 Abs. 1 Satz 2 und den §§ 222, 227 AO zu gewähren sind. 153 Während das Gesetz im Übrigen am Tage nach der Verkündung in Kraft trat (Art. 6 Abs. 2 Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken), sollten die Art. 2, 3 Nr. 1 bis 4 und Art. 4 Nr. 1 bis 3 lit. a Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken gemäß Art. 6 Abs. 2 an dem Tag in Kraft, am dem die Europäische Kommission durch Beschluss feststellt, dass die Regelungen der Art. 2, 3 Nr. 1 bis 4 und des Art. 4 Nr. 1 bis 3 lit. a Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken entweder keine staatlichen Beihilfen i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV oder mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilfen darstellen. Der Tag des Beschlusses der Kommission sowie der Tag des Inkrafttretens werden vom BMF gesondert im BGBl. bekannt gemacht.173) 154 Die Sorge des Gesetzgebers, dass die Kommission eine unzulässige Beihilfe annimmt, ist historisch begründet. Die Kommission hatte am 24.2.2010 ein förmliches beihilferechtliches Prüfungsverfahren wegen § 8c Abs. 1a KStG eröffnet und später die Sanierungsklausel ___________ 173) Vgl. Schmittmann, INDat-Report 4/2017, 39; Schmittmann, INDat-Report 8/2017, 28.
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als nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar angesehen.174) Eine von der Bundesregierung gegen die Kommission eingereichte Nichtigkeitsklage ist sowohl vom EuG als auch vom EuGH als unzulässig abgewiesen worden.175) Der Beschluss 2011/527/EU der Kommission vom 26.1.2011 war zunächst nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichts Erster Instanz rechtmäßig.176) Der deutsche Gesetzgeber wollte ein weiteres Unterliegen in dieser Thematik offenbar um jeden Preis vermeiden. Der EuGH hat diese Rechtsprechung des EuG nicht bestätigt, sondern die Nr. 2 und 3 des 155 Tenors des Urteils des EuG v. 4.2.2016, „Heitkamp BauHolding/Kommission“ (T-287/11, EU:T:2016:60), aufgehoben. Der Beschluss 2011/527/EU der Kommission vom 26.1.2011 über die staatliche Beihilfe Deutschlands C 7/10 (ex CP 250/09 und NN 5/10) „KStG, Sanierungsklausel“ wurde für nichtig erklärt.177) Die Kommission hat nach dieser Entscheidung des EuGH nicht durch Beschluss über die 156 deutschen Regelungen entschieden, sondern der Bundesrepublik Deutschland lediglich einen „Comfort Letter“ zur Verfügung gestellt178). Aus dem Comfort Letter sowie der Entscheidung des EuGH hat die Bundesregierung den Schluss gezogen, dass die Rechtsprechung des EuGH der in Deutschland durch das Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken eingeführten Regelungen zum Sanierungsgewinn nicht entgegensteht, und sich entschlossen, die Bestimmungen in Kraft treten zu lassen.179) 3.3.2.3
Anwendungsregelung durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen
Durch das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren 157 im Internet vom 11.12.2018180) wurde in Art. 19 (Inkraftsetzung der Steuerbefreiung für Sanierungserträge) geregelt, dass die genannten Vorschriften am Tag nach der Verkündung des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen vom 27.6.2017181) in Kraft treten und Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen vom 17.6.2017 aufgehoben wird. Damit ist die Regelung der Besteuerung von Sanierungsgewinnen bereits 2017 in Kraft 158 getreten. 3.3.2.3.1 Einkommensteuer Gemäß Art. 2 Nr. 5 wird § 52 Abs. 4a EStG folgender Satz angefügt:
159
„Auf Antrag des Steuerpflichtigen ist § 3a auch in den Fällen anzuwenden, in denen die Schulden vor dem 9. Februar 2017 erlassen wurden.“
___________ 174) Vgl. EU-Kommission, Beschl. v. 26.1.2011 – C-710, DB 2011, 2069 f. 175) Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 190. 176) So EuG, Urt. v. 4.2.2016 – Rs. T-287/11 (Heitkamp Bauholding GmbH), GmbHR 2016, 384; vgl. Hübler, NZI 2016, 481, 483; EuG, Urt. v. 4.2.2016 – Rs. T-620/11 (GFKL Financial Services AG), EWiR 2016, 319 (Roth). 177) S. EuGH, Urt. v. 28.6.2018 – Rs. C-203/16 (Heitkamp Bauholding GmbH), ECLI:EU:C:2018:505 = ZIP 2018, 1345 = BB 2018, 2079 m. Anm. Korneev = ZInsO 2018, 1783 m. Anm. de Weerth, dazu EWiR 2018, 517 (Hentschel). 178) Vgl. Bindl/Leidel, GmbHR 2019, 1 ff.; Kanzler, FR 2018, 794 ff.; Schwarz/Rühmann, KSI 2018, 256 ff.; Skauradszun, ZIP 2018, 1901 ff. 179) Schmittmann, Gemeindehaushalt 2019, 36, 41. 180) Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften, v. 11.12.2018, BGBl. I 2018, 2338; vgl. Schmittann, StuB 2021, 905. 181) Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074.
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160 Dem Absatz 5 wird folgender Satz angefügt: „§ 3c Absatz 4 ist auch in den Fällen anzuwenden, in denen dem Steuerpflichtigen die Steuerbefreiung des § 3a auf Grund eines Antrags nach Absatz 4a Satz 3 gewährt wird.“
161 Der Gesetzgeber schafft damit die Grundlage für eine rückwirkende Anwendung der Vorschriften, damit auch in früheren Sanierungsfällen eine Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns eintritt. Dies war insbesondere deshalb erforderlich, weil der Große Senat des BFH den Sanierungserlass von 2003 für nicht mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung vereinbar erklärt hat und daher eine Rechtsgrundlage für die Altfälle geschaffen werden musste.182) 3.3.2.3.2 Gewerbesteuer 162 Auch bei der Gewerbesteuer wird eine Rückwirkung auf Antrag des Steuerpflichtigen ermöglicht. Die Bestimmung des § 36 Abs. 2c GewStG wird folgender Satz angefügt: „Auf Antrag des Steuerpflichtigen ist § 7b auch in den Fällen anzuwenden, in denen die Schulden vor dem 9. Februar 2017 erlassen wurden.“
163 Schon nach der Formulierung des § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG n. F., auf den § 7b Abs. 1 GewStG aufbaut, handelt es sich nicht mehr um einen Erlass, sondern um eine gesetzlich normierte Steuerfreiheit. 3.3.3 Rechtsprechung zu den Merkmalen des Sanierungsgewinns 164 Für den Anwendungsbereich des Sanierungsgewinns i. S. des § 3a EStG gelten folgende Grundsätze: 165 Ein steuerfreier Sanierungsertrag i. S. des § 3a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EStG liegt nicht vor, wenn es dem Gläubiger an der erforderlichen Sanierungsabsicht fehlt. Ein Gläubiger hat jedenfalls dann keine Sanierungsabsicht, wenn er die Forderung erlässt, weil es ihm allein auf die Erzielung möglichst hoher Erträge aus der Abwicklung eines Kreditengagements ankommt. Ein Erlass oder eine Stundung der aus dem steuerpflichtigen Sanierungsertrag resultierenden Steuern kommt dann aufgrund des bloßen Forderungserlasses nicht in Betracht.183) 166 Eine Steuerfreiheit nach § 3a EStG kommt nicht in Betracht, weil es sich bei der Vergleichsvereinbarung nicht um einen betrieblich bedingten Schuldenerlass handelt, sondern Anfechtungsansprüche abgewehrt werden sollten.184) 167 Die Sanierungsfähigkeit bzw. Sanierungseignung ist gegeben, wenn das Überleben des Unternehmens durch den Schuldenerlass und ggf. weitere Sanierungsmaßnahmen bei objektiver Beurteilung gesichert ist. Abzustellen ist insbesondere auf die Ertragslage und die Höhe des Betriebsvermögens vor und nach der Sanierung, auf die Kapitalverzinsung durch die Erträge des Unternehmens und darauf, ob das Unternehmen die Zins- und Tilgungsleistungen für die verbliebenen Verbindlichkeiten aus den voraussichtlich positiven Zahlungsüberschüssen der künftigen Geschäftstätigkeit leisten kann. Die Frage der Sanierungsfähigkeit, sowie die hiermit zusammenhängende Frage der Sanierungseignung, kann auf Basis der präsenten Beweismittel im Aussetzungsverfahren nicht abschließend geklärt werden. An das Vorliegen der Sanierungsabsicht sind keine strengen Anforderungen zu stellen. Die ___________ 182) Vgl. Schmittmann, Gemeindehaushalt 2017, 193, 194. 183) S FG Hamburg, Urt. v. 12.6.2020 – 5 K 160/17, DStRE 2021, 897 = BB 2021, 1684 (LS). Der BFH, Beschl. v. 27.11.2020 – X B 63/20, DStR 2021, 6 = EStB 2021, 203, hat die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision als unbegründet zurückgewiesen. 184) S. FG Münster, Urt. v. 24.8.2021 – 6 K 3905/19 E, EFG 2022, 31 = NZI 2022, 85; vgl. dazu Schmittmann, StuB 2022, 150, 151. Der BFH (Beschl. v. 15.9.2022 – III B 117/21) hat die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet zurückgewiesen.
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§ 42
Sanierungsabsicht wird vermutet, wenn der Schuldner sanierungsbedürftig ist und der Erlass geeignet war, die Sanierung herbeizuführen. Unschädlich ist es insoweit, dass der Gläubiger mit dem Forderungserlass typischerweise auch eigene Motive verfolgt und der Schulderlass nur das Mittel zum Zweck ist, zumindest einen Teil seiner Restforderung oder eine Geschäftsbeziehung zu retten. Solche Motive sind unschädlich, sofern die Sanierungsabsicht mitentscheidend ist. Allerdings darf die fremdnützige Sanierungsabsicht auch nicht völlig fehlen.185) Eine Sanierungsbedürftigkeit eines Einzelunternehmers liegt nicht vor, wenn durch He- 168 ranziehen des Privatvermögens die Verpflichtungen erfüllt werden können. Die Sanierungseignung des Schuldenerlasses erfordert, dass dieser allein oder zusammen mit anderen Maßnahmen geeignet ist, das Überleben des Betriebes herbeizuführen. Ein steuerfreier Sanierungsgewinn liegt nicht vor, wenn der Schulderlass das sanierungsbedürftige Unternehmen zwar vor dem Zusammenbruch bewahrt, hierdurch aber die Ertragsfähigkeit nicht wiederhergestellt wird.186) Der Insolvenzverwalter wird i. R. der Aufstellung eines Insolvenzplanes prüfen, welche 169 steuerlichen Auswirkungen sich ergeben. Dabei ist es zweckmäßig, bei der Finanzverwaltung in Erfahrung zu bringen, ob auf einen entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen die Steuer zunächst nach § 163 AO abweichend festgesetzt und nach § 222 AO mit dem Ziel des späteren Erlasses ab Fälligkeit gestundet wird. Der Insolvenzverwalter wird insbesondere auch zu prüfen haben, welche Auswirkungen sich 170 hinsichtlich von Aufrechnungslagen ergeben. Ein bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehendes Aufrechnungsrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die aufgerechnete Gegenforderung nach einem rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan als erlassen gilt.187) 3.3.4 Fortführungsgebundener Verlustvortrag Die erst durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung 171 bei Körperschaften vom 20.12.2016188) geschaffene Regelung in § 8d KStG zum fortführungsgebundenen Verlustvortrag wurde im Zuge der gesetzlichen Regelung der Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns dahin ergänzt, dass Absatz 1 Satz 8 bei Anwendung des § 3a Abs. 3 EStG entsprechend gilt. Gemäß § 8d Abs. 1 Satz 8 KStG ist der fortführungsgebundene Verlustvortrag vor dem nach § 10d Abs. 4 EStG festgestellten Verlustvortrag abzuziehen. 3.4
Bauabzugsteuer
Die sog. „Bauabzugsteuer“ ist keine eigene Steuerart, sondern lediglich eine besondere Er- 172 hebungsform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, aufgrund derer nach §§ 48 ff., § 52 Abs. 56 EStG unternehmerisch tätige Auftraggeber von Bauleistungen (Leistungsempfänger) im Inland für Gegenleistungen, die nach dem 31.12.2001 erbracht werden, einen Steuerabzug für Rechnung des die Bauleistung erbringenden Unternehmers (Leistender) vorzunehmen
___________ 185) S. BFH, Beschl. v. 27.11.2020 – X B 63/20, DStR 2021, 6 = EStB 2021, 203; BFH, Urt. v. 12.10.2005 – X R 20/03, BFH/NV 2006, 713; FG Münster, Beschl. v. 7.2.2022 – 9 V 2784/21, ZInsO 2022, 894. 186) So BFH, Urt. v. 12.12.2013 – X R 39/10, ZIP 2014, 638 = NZI 2014, 470, dazu EWiR 2014, 255 (Schmittmann). 187) So BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 222/09, ZIP 2011, 1271 = NZI 2011, 538. 188) S. Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften, v. 20.12.2016, BGBl. I 2016, 2998 f.
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haben, wenn bestimmte Freigrenzen nicht überschritten werden, oder eine gültige, vom zuständigen Finanzamt des Leistenden ausgestellte Freistellungsbescheinigung nicht vorliegt.189) 173 Die deutsche Regelung zur Steuerschuldnerschaft bei Bauleistungen ist grundsätzlich mit dem Recht der EU vereinbar, allerdings ist Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290/EG des Rates vom 30.3.2004 zur Ermächtigung Deutschlands zur Anwendung einer von Art. 21 6. EG-Richtlinie abweichenden Regelung dahin auszulegen, dass Deutschland berechtigt ist, die ihr mit dieser Entscheidung erteilte Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen oder für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben. Bei der Bildung dieser Untergruppen hat der Mitgliedstaat den Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit zu beachten, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.190) 174 Legt der Leistende dem Leistungsempfänger eine gültige Freistellungsbescheinigung vor, so muss der Steuerabzug gemäß §§ 48 Abs. 2, 48b EStG nicht vorgenommen werden. Verfügt das schuldnerische Unternehmen vorinsolvenzlich über eine Freistellungsbescheinigung, so wird die Finanzverwaltung diese grundsätzlich wegen Gefährdung des Steueranspruchs widerrufen.191) Wurde die Freistellungsbescheinigung bereits widerrufen, so sollte der vorläufige Insolvenzverwalter unverzüglich eine neue Freistellungsbescheinigung beantragen, um den Steuerabzug zu vermeiden.192) Dem Insolvenzverwalter ist grundsätzlich eine Freistellungsbescheinigung auf Antrag auszustellen, da davon auszugehen ist, dass er die steuerlichen Pflichten erfüllt. Die Bescheinigung wird nicht auftragsbezogen, sondern unternehmerbezogen erteilt.193) 175 Verweigert die Finanzverwaltung die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung, so kann der Anspruch auch im Wege der Regelungsanordnung i. S. des § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO geltend gemacht werden, ohne dass dem der Gesichtspunkt einer Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache entgegensteht.194) 176 Solange der Insolvenzverwalter, was insbesondere bei einer Fortführung des Unternehmens von Bedeutung ist, nicht über eine Freistellungsbescheinigung verfügt, z. B. weil deren Erteilung zunächst noch gerichtlich geltend gemacht werden muss, wird der Leistungsempfänger die Bauabzugsteuer an das Finanzamt abführen. Nach insolvenzrechtlichen ___________ 189) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1594; Schmittmann/Theurich/Brune, Das insolvenzrechtliche Mandat, § 9 Rz. 91; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 157; L. Schmidt-Loschelder, EStG, § 48 Rz. 1 ff.; Engel, InsbürO 2022, 75; BMF-Schreiben v. 1.11.2001 – IV A 5 – S 1900 – 292/01, BStBl. I 2001, 804; OFD Kiel, Schreiben v. 11.12.2001 – S 2274a A – St 236, DB 2002, 70; BMF-Schreiben v. 27.12.2002 – IV A 5 – S 2272 – 1/02, BStBl. I 2002, 1399. 190) So EuGH, Urt. v. 13.12.2012 – Rs. C-395/11 (BLV Wohn- und Gewerbebau GmbH), DB 2012, 2911, 2913; vgl. zur Bauabzugsteuer in Belgien: EuGH, Urt. v. 9.11.2006 – Rs. C-433/04, DStR 2007, 655; Schmittmann/Theurich/Brune, Das insolvenzrechtliche Mandat, § 9 Rz. 91. 191) Vgl. OFD Hannover, Verfügung v. 22.4.2003 – S 2272 b – 9 – StO 223/S 2272 b – 2 – StH 216, DB 2003, 1250. 192) Soweit die OFD Hannover, Verfügung v. 22.4.2003 – S 2272 b – 9 – StO 223/S 2272 b – 2 – StH 216, DB 2003, 1250, noch davon ausgeht, dass nur dem starken vorläufigen Insolvenzverwalter eine Freistellungsbescheinigung erteilt werden kann, da davon auszugehen ist, dass er die steuerlichen Pflichten erfüllt, ist daran im Hinblick auf § 55 Abs. 4 InsO nicht mehr festzuhalten. Allenfalls, wenn nicht mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu rechnen ist, kann von einer Ausstellung der Freistellungsbescheinigung abgesehen werden; vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1596. 193) So OFD Hannover, Verfügung v. 22.4.2003 – S 2272 b – 9 – StO 223/S 2272 b – 2 – StH 216, DB 2003, 1250; Schmittmann/Theurich/Brune, Das insolvenzrechtliche Mandat, § 9 Rz. 95. 194) So BFH, Beschl. v. 13.11.2002 – I B 147/02, BStBl. II 2003, 716 = ZIP 2003, 173; der Streitwert für den Rechtsstreit um die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung beträgt 10 % des Betrages, der als Steuerabzug in Betracht kommt; vgl. Sächsisches FG, Beschl. v. 6.10.2003 – 7 K 1693/02, EFG 2004, 61. Nach Auffassung des Saarländischen FG, Beschl. v. 10.6.2005 – 2 V 429/04, EFG 2005, 1803, ist der Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG i. H. von 5 000 € zugrunde zu legen.
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Grundsätzen darf die Finanzverwaltung den abgeführten Betrag aber nicht außerhalb des Insolvenzverfahrens vereinnahmen, so dass dem Insolvenzverwalter gegen die Finanzverwaltung – nicht gegen den Vertragspartner des schuldnerischen Unternehmens – ein Anspruch auf die Zahlung des Einbehalts zusteht.195) Ist bei einer Unternehmensfortführung das schuldnerische Unternehmen nicht Leistungs- 177 erbringer, sondern Leistungsempfänger, hat der Insolvenzverwalter darauf zu achten, dass er entweder eine gültige Freistellungsbescheinigung des Leistungserbringers vorlegen lässt oder aber den Steuerabzug i. H. von 15 % vornimmt, um die Haftung des Leistungsempfängers gemäß § 48a Abs. 3 EStG zu vermeiden.196) 4.
Umsatzsteuer
Die Umsatzsteuer spielt im Insolvenzverfahren eine erhebliche Rolle. Das Umsatzsteuer- 178 aufkommen lag im Haushaltsjahr 2021 bei 250,8 Mrd. €. Gegenüber dem Haushaltsjahr 2020 stieg das Umsatzsteueraufkommen im Jahr 2021 aufgrund der Besonderheiten während der Corona-Pandemie dabei um 31,3 Mrd. € beziehungsweise 14,3 %. Das Aufkommen aus der Binnenumsatzsteuer erhöhte sich um 11,2 % auf 187,6 Mrd. € und das Aufkommen aus der Einfuhrumsatzsteuer um 24,4 % gegenüber dem Jahr 2020 auf 63,2 Mrd. €.197) Weiterhin fällt bei der Umsatzsteuer ins Gewicht, dass – anders als bei den Ertragsteuern – ausschließlich auf die Durchführung von Lieferungen und sonstigen Leistungen abzustellen ist und nicht auf ggf. durch Verlustvorträge zu kompensierende Gewinne. 4.1
Unternehmen und Unternehmer
Der Umsatzsteuer unterliegen im Wesentlichen die Lieferungen und sonstigen Leistungen, 179 die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt i. R. seines Unternehmens ausführt (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG), die Einfuhr von Gegenständen im Inland oder in den österreichischen Gebieten Jungholz und Mittelberg (Einfuhrumsatzsteuer; § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG) und der innergemeinschaftliche Erwerb im Inland gegen Entgelt (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG). Nicht steuerbar sind gemäß § 1 Abs. 1a Satz 1 UStG die Umsätze i. R. einer Geschäfts- 180 veräußerung im Ganzen an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen. Unternehmer ist gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG, wer eine gewerbliche oder berufliche 181 Tätigkeit selbständig ausübt. Dabei ist nicht auf die Verhältnisse des Insolvenzverwalters abzustellen, sondern auf die Verhältnisse des schuldnerischen Unternehmens. Nach Verfahrenseröffnung besteht dem Grundsatz nach die Unternehmenseinheit fort.198) Allerdings besteht das Unternehmen nach Verfahrenseröffnung aus mehreren Unternehmensteilen, zwischen denen einzelne umsatzsteuerrechtliche Berechtigungen und Verpflichtungen nicht miteinander verrechnet werden können. Es handelt sich um den x
vorinsolvenzlichen Unternehmensteil,
x
den insolvenzlichen Unternehmensteil und
x
das vom Insolvenzverwalter freigegebene Vermögen.199)
___________ 195) Vgl. auch BFH, Beschl. v. 13.11.2002 – I B 147/02, BStBl. II 2003, 716 = ZIP 2003, 173; Engel, InsbürO 2022, 75, 76. 196) Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 165. 197) So BMF, Die Steuereinnahmen des Bundes und der Länder im Haushaltsjahr 2021, abrufbar unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2022/01/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-2steuereinnahmen-2021.html (Abrufdatum: 25.11.2022). 198) So BFH, Beschl. v. 1.9.2010 – VII R 35/08, ZIP 2010, 2359 = ZVI 2011, 59. 199) So BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner); vgl. Kahlert, DStR 2011, 1973 ff.; Schacht, ZInsO 2011, 1787 ff.; Schmittmann, ZIP 2012, 249 ff.; Schmittmann, ZIP 2011, 1125 ff.; Welte/Friedrich-Vache, ZIP 2011, 1595 ff.
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182 Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens tritt der Insolvenzverwalter – unabhängig von einer etwaigen Fortführung des Unternehmens – in die Stellung des Schuldners als Unternehmer ein. Der Insolvenzverwalter wird damit Verwalter fremden Vermögens i. S. von § 34 Abs. 3 AO.200) 183 Die Unternehmereigenschaft fehlt, wenn eine juristische Person gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft).201) Die Bestellung eines schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters202) wie die Abweisung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse203) führte nach bisheriger Auffassung nicht zur Beendigung der organisatorischen Eingliederung und damit auch nicht zur Beendigung der Organschaft.204) Nunmehr nimmt der BFH bereits bei der Bestellung eines sog. schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters die Beendigung der umsatzsteuerlichen Organschaft an.205) 184 Weder die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung beim Organträger noch die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung bei der Organgesellschaft beenden eine Organschaft, wenn das Insolvenzgericht lediglich bestimmt, dass ein vorläufiger Sachwalter bestellt wird, sowie eine Anordnung gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO erlässt.206) 185 Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gilt Folgendes: x Mit der Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Organträgers endet die Organschaft. x Unabhängig von den Verhältnissen beim Organträger endet die Organschaft jedenfalls mit der Insolvenzeröffnung bei der Organgesellschaft. x Die Bestellung eines Sachwalters i. R. der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO in den Insolvenzverfahren des bisherigen Organträgers und der bisherigen Organgesellschaft ändert hieran nichts.207) x Im Falle der Liquidation des Organträgers endet die Organschaft mit dem Beginn der Liquidation, da durch die Einstellung der aktiven unternehmerischen Tätigkeit beim Organträger die wirtschaftliche Eingliederung der Organgesellschaft nicht mehr gegeben ist.208) 186 Wird über das Vermögen des Organträgers und der Organgesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, so differenzierte die Finanzverwaltung früher danach, ob für den Organträger und die Organgesellschaft derselbe Insolvenzverwalter bestellt wird. Die organisatorische Eingliederung bestand nach Auffassung der Finanzverwaltung fort, wenn die gleiche Person bestellt wird.209) Der Streit über diese Auffassung ist obsolet, da die Finanzverwaltung inzwischen in Abschn. 2.8 Abs. 12 Satz 5 UStAE geregelt hat, dass die Personenidentität unbeachtlich ist. ___________ 200) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 206. 201) Vgl. Lemken, InsbürO 2012, 417 ff.; Schmittmann, InsbürO 2007, 265 ff.; Hölzle, DStR 2006, 1210 ff. 202) Vgl. BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, BStBl. II 2011, 988 = ZIP 2010, 383, dazu EWiR 2010, 227 (Kahlert); BFH, Urt. v. 29.1.2009 – V R 67/07, BStBl. II 2009, 1029; BFH, Beschl. v. 10.3.2009 – XI B 66/08, BFH/NV 2009, 977 = DZWIR 2009, 288. 203) So BFH, Beschl. v. 28.9.2007 – V B 213/06, juris. 204) Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh, Steuerrecht Rz. 208 ff. 205) So BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, ZIP 2013, 1773 = DStR 2013, 1883. 206) So BFH, Urt. v. 27.11.2019 – XI R 35/17, BStBl. II 2021, 252 = ZRI 2020, 489 = NZI 2020, 378 m. Anm. Piroth = StuB 2020, 247 m. Anm. jh. 207) So BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 14/16, BStBl. II 2017, 600 = NZI 2017, 360. 208) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1938. 209) So OFD Hannover, Schreiben v. 6.8.2007 – S 7105 – 49 – StO 172, Rz. 1.3.2; OFD Frankfurt/M., Schreiben v. 20.7.2009 – S 7105 A – 21 – St 110, Rz. 2.3.
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Mit der Beendigung der Organschaft sind sowohl Organträger als auch Organgesellschaft 187 wieder zwei selbständige Rechtsobjekte. Umsätze, die von der Organgesellschaft noch vor Beendigung der Organschaft ausgeführt worden sind, sind dem Organträger zuzurechnen und von diesem zu versteuern. Umsätze, die nach Beendigung der Organschaft von der Organgesellschaft ausgeführt werden, sind grundsätzlich von der Organgesellschaft als leistendem Unternehmer zu versteuern.210) Der BFH sieht es als ernstlich zweifelhaft an, ob die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Unternehmen durch die umsatzsteuerliche Organschaft nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortbesteht. Dies gilt gleichermaßen für die Insolvenzeröffnung beim Organträger wie auch bei der Organgesellschaft.211) Ein Organträger ist verpflichtet, einen Erstattungsanspruch, der aus der Organschaft re- 188 sultiert, an die Organgesellschaft weiterzuleiten. Der Organträger ist daher nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert, einen Erstattungsanspruch gegen die Finanzverwaltung geltend zu machen, wenn der Organträger eine Zahlung erbracht hat, die vom Insolvenzverwalter der Organgesellschaft bereits erfolgreich angefochten worden ist, da ohne diese Anfechtung der Organträger keinen Anspruch gegen die Finanzverwaltung hätte.212) Beim Vorsteuerabzug ist nach den vorstehenden Grundsätzen zu verfahren, so dass der 189 Vorsteuerabzug noch dem Organträger zusteht, sofern die Lieferungen und sonstigen Leistungen vor Beendigung der Organschaft erfolgt sind.213) Der Insolvenzverwalter hat mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu prüfen, ob mög- 190 licherweise eine „unerkannte Organschaft“ vorliegt, da kein Wahlrecht besteht, von den Regeln der umsatzsteuerlichen Organschaft Gebrauch zu machen.214) Entdeckt der Insolvenzverwalter eine unerkannte Organschaft, so hat er unabhängig davon, ob die Finanzverwaltung eine Korrektur wünscht, die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.215) Der Insolvenzverwalter wird daher ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Voraussetzungen der umsatzsteuerlichen Organschaft die erteilten Rechnungen korrigieren, die Umsatzsteuererklärungen berichtigen und die möglichen Zahlungsansprüche gegen die Finanzverwaltung geltend machen. Dabei ist die Person des Erstattungsberechtigten nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO zu beachten: Erstattungsberechtigt i. S. von § 37 Abs. 2 Satz 1 AO ist derjenige, auf dessen Rechnung und nicht auf dessen Kosten eine Zahlung bewirkt worden ist. Es kommt nicht darauf an, von wem und mit wessen Mitteln gezahlt worden ist, sondern nur darauf, wessen Steuerschuld nach dem Willen des Zahlenden, so wie er im Zeitpunkt der Zahlung dem Finanzamt gegenüber erkennbar hervorgetreten ist, getilgt werden sollte. Dies gilt auch im Fall einer vermeintlichen Organschaft.216) Im Falle einer Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 InsO entsteht ein insolvenzfreier Vermögens- 191 bereich des Schuldners, der durch die Finanzverwaltung i. R. der Erteilung einer „dritten Steuernummer“ organisiert wird.217) Gleichwohl bleibt der Grundsatz der Einheit des Unter___________ 210) Vgl. BFH, Urt. v. 21.6.2001 – V R 68/00, BStBl. II 2002, 255 = NZI 2002, 334; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1943. 211) So BFH, Beschl. v. 19.3.2014 – V B 14/14, ZIP 2014, 889 = NZI 2014, 421, dazu EWiR 2014, 329 (Debus/Elpers); ebenso bereits: Schmittmann, ZSteu 2007, 191 ff. 212) So BFH, Urt. v. 26.8.2014 – VII R 16/13, ZIP 2014, 2404 ff. m. Anm. Kahlert. 213) So OFD Hannover, Schreiben v. 6.8.2007 – S 7105 – 49 – StO 172, Rz. 2.4; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 222. 214) So BFH, Urt. v. 17.1.2002 – V R 37/00, BStBl. II 2002, 373 = ZIP 2002, 1813; Schmittmann, StuB 2009, 71. 215) Vgl. Schmittmann, ZSteu 2007, 191 ff.; Schmittmann, InsbürO 2007, 265 ff. 216) So BFH, Urt. v. 14.12.2021 – VII R 20/18, NZI 2022, 585 = StuB 2022, 399 (LS) m. Anm. jh, dazu EWiR 2022, 487 (Schmittmann). 217) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1999.
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nehmens bestehen, so dass z. B. für die Anwendung der Regelungen über Kleinunternehmer (§ 19 UStG)218) der insolvenzfreie Bereich und die Insolvenzmasse zusammenzurechnen sind. Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO entstehen durch Handlungen des Insolvenzverwalters, aber nicht durch eine Tätigkeit des Schuldners hinter dem Rücken des Insolvenzverwalters, selbst wenn eine Freigabe durch den Insolvenzverwalter nicht erfolgt ist.219) 192 Ergibt sich aus der i. S. von § 35 Abs. 2 InsO freigegebenen Tätigkeit ein Vorsteuervergütungsanspruch zugunsten des Schuldners, so fällt dieser nicht in die Insolvenzmasse und kann vom Finanzamt mit vorinsolvenzlichen Steuerschulden verrechnet werden.220) Der Vorsteuererstattungsanspruch kann in unbegrenzter Höhe aufgerechnet werden, da die Pfändungsschutzvorschriften für Arbeitseinkommen nicht anwendbar sind.221) Die Umsatzsteuer ist weiterhin nicht Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 5 InsO, wenn der Schuldner – unabhängig von einer Freigabe i. S. von § 35 Abs. 2 InsO – mit nach § 811 Nr. 5 ZPO unpfändbaren Gegenständen steuerpflichtige Leistungen erbringt.222) 193 Das Finanzamt ist durch das insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbot (§ 96 Abs. 1 InsO) nicht daran gehindert, rückständige Steuerforderungen gegen einen Erstattungsanspruch des Schuldners aufzurechnen, wenn diese Forderung „ihrem Kern nach“ bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden war, d. h. sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung erfüllt waren und nur noch die Geltendmachung fehlte.223) 194 Die insolvenzrechtliche strukturelle Unterscheidung der Vermögensmassen steht einer Aufrechnung des Finanzamtes mit vorinsolvenzlichen Forderungen gegen Umsatzsteuererstattungsansprüche des insolvenzfreien Vermögens i. S. des § 35 Abs. 2 InsO nicht entgegen.224) 4.2
Steuerbefreiungen und Verzicht auf Steuerbefreiungen
195 Gemäß § 1 Nr. 1 bis Nr. 28 UStG sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen bestimmte steuerfrei, wobei sich insolvenzspezifische Besonderheiten nicht ergeben. 196 Im Falle einer Unternehmensfortführung ist der Insolvenzverwalter dafür verantwortlich, dass bei umsatzsteuerbefreiten Lieferungen und sonstigen Leistungen nicht unberechtigt Umsatzsteuer in Rechnung gestellt wird, da dies zu einer Haftung gemäß § 14c UStG führt. Darüber hinaus ist der Insolvenzverwalter auch dafür verantwortlich, dass die Rechnungen gemäß § 14b UStG aufbewahrt werden. 197 Bei bestimmten Umsätzen kann der Unternehmer einen nach § 14 UStG steuerfreien Umsatz als steuerpflichtig behandeln, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird (Option), § 9 Abs. 1 UStG; bei dem Verzicht auf die Steuerbefreiung im Zusammenhang mit der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken ist dies nur möglich, soweit der Leistungsempfänger das Grundstück aus___________ 218) Das Recht zum Verzicht auf die Kleinunternehmer-Regelung („Option zur Umsatzsteuer“) kann nur einheitlich und durch den Insolvenzverwalter ausgeübt werden, so BFH, Urt. v. 20.12.2012 – V R 23/11, ZIP 2013, 469, dazu EWiR 2013, 285 (Paul). 219) So BFH, Urt. v. 18.5.2010 – X R 11/09, BFH/NV 2010, 2114 = ZIP 2010, 214, dazu EWiR 2010, 751 (Kahlert); Vorinstanz: FG Nürnberg, Urt. v. 11.12.2008 – 4 K 1394/07, EFG 2009, 867 m. Anm. Loose = ZInsO 2009, 488 m. Anm. Schmittmann. 220) So BFH, Beschl. v. 1.9.2010 – VII R 35/08, ZIP 2010, 2359 = ZVI 2011, 59. 221) So FG Nürnberg, Urt. v. 11.9.2012 – 2 K 1153/10, juris. 222) So BFH, Urt. v. 7.4.2005 – V R 5/04, ZIP 2005, 1376 = ZVI 2006, 253, s. a. Anm. Schmittmann, ZInsO 2005, 774 ff. 223) So BFH, Urt. v. 18.8.2015 – VII R 29/14, ZIP 2015, 2237 = ZVI 2016, 17, dazu EWiR 2016, 81 (Ries); vgl. Schmittmann, StuB 2016, 73 f. 224) So FG Stuttgart, Urt. v. 15.7.2015 – 1 K 732/14, (rkr.), ZIP 2015, 1894.
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schließlich für Umsätze verwendet oder zu verwenden beabsichtigt, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen, § 9 Abs. 2 Satz 1 UStG. Der Unternehmer hat gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 UStG die Voraussetzungen nachzuweisen. Die Möglichkeit der Umsatzsteueroption hat im Wesentlichen Auswirkungen auf den Vor- 198 steuerberichtigungsanspruch gemäß § 15a UStG. Die Einzelheiten werden dort erläutert, siehe Rz. 216 ff. 4.3
Steuer
Die Steuer entsteht für Lieferungen und Leistungen bei der Berechnung der Steuer nach 199 vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG – „Soll-Versteuerung“) mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind (§ 13 Abs. 1 Nr. 1a UStG). Bei der Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten (§ 20 UStG – „Ist-Versteuerung“) entsteht die Steuer mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind. Besondere Regelungen für die Entstehung der Steuer ergeben sich aus § 13 Abs. 1 Nr. 2 bis Nr. 9 UStG. Der BFH hat sich inzwischen vom Grundsatz des Schuldrechtsorganismus (siehe oben 200 Rz. 114) gelöst, wonach darauf abzustellen war, wann die zivilrechtliche Leistungsbeziehung, die der Umsatzsteuer zugrunde liegt, vollzogen worden ist: x
Die bis zur Insolvenzeröffnung ausgeführten Umsätze führten hinsichtlich der Umsatzsteuer nach bisheriger Auffassung stets zu einfachen Insolvenzforderungen.225)
x
Vereinnahmt der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens i. R. der Ist-Besteuerung Entgelte für Leistungen, die bereits vor Verfahrenseröffnung erbracht worden sind, handelt es sich bei der für die Leistung entstehenden Umsatzsteuer nach der Rechtsprechung des BFH um eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.226) Diese Rechtsprechung hat der BFH inzwischen auch auf die Soll-Besteuerung erstreckt,227) so dass der Insolvenzverwalter unabhängig vom Vorliegen einer Ist- oder SollBesteuerung beim Schuldner die auf den Forderungseinzug nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens anfallende Umsatzsteuer als Masseverbindlichkeit zu berücksichtigen hat.
x
Vereinnahmt ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt und mit Recht zum Forderungseinzug Forderungen des Schuldners, sind Steuerbetrag und Vorsteuerabzug für die Leistungen, die der Unternehmer bis zur Verwalterbestellung erbracht oder bezogen hat, nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG zu berichtigen. Gleiches gilt für den Steuerbetrag und den Vorsteuerabzug aus Leistungen, die das Unternehmen danach bis zum Abschluss des Insolvenzeröffnungsverfahrens erbringt oder bezieht.228)
Im Falle der Unternehmensfortführung hat der Insolvenzverwalter nach den vorstehenden 201 Grundsätzen vorzugehen. Bei der Anwendung sind folgende Regelungen maßgebend: x
Die Regelung des § 55 Abs. 4 InsO, die durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011 eingeführt worden ist, gilt gemäß Art. 103e EGInsO für Insolvenzverfahren, die nach dem 31.12.2010 beantragt worden sind.229)
___________ 225) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1978. 226) So BFH, Urt. v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 = ZIP 2009, 977, dazu EWiR 2009, 315 (Berger). 227) So BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner); vgl. dazu Schmittmann, ZIP 2011, 1125 ff.; Welte/Friedrich-Vache, ZIP 2011, 1595 ff. 228) So BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451, dazu EWiR 2015, 19 (Schmittmann). 229) Vgl. dazu BMF-Schreiben v. 20.5.2015 – IV A 3 – S 0550/10/10020-05, BStBl. I 2015, 476 = ZIP 2015, 1093.
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x
Die Rechtsprechung des BFH zum Forderungseinzug durch den Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens230) ist auf Insolvenzverfahren anzuwenden, die nach dem 31.12.2011 eröffnet worden sind.231)
x
Die Rechtsprechung des BFH zum Forderungseinzug durch einen vorläufigen Insolvenzverwalter mit dem Recht zum Forderungseinzug232) ist auf Insolvenzverfahren anwendbar, in denen die Sicherungsmaßnahmen nach dem 31.12.2014 angeordnet worden sind.233)
x
Die Regelung des § 55 Abs. 4 InsO i. d. F. des SanInsFoG gilt gemäß Art. 103m EGInsO in allen Insolvenzverfahren, die nach dem 31.12.2020 beantragt worden sind.234)
x
Hinsichtlich aller Lieferungen und sonstigen Leistungen, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbracht werden, ist die Umsatzsteuer in allen Insolvenzverfahren Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.
202 Besonderheiten ergeben sich bei der Vereinnahmung von Entgelten vor Ausführung der Leistung. Die Steuer entsteht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1a Satz 4 UStG bei Vereinnahmung des Entgelts oder eines Teils des Entgelts, bevor die Leistung oder die Teilleistung ausgeführt worden ist, mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt oder das Teilentgelt vereinnahmt worden ist. Diese Vorschrift enthält einen selbständigen und abschließenden Steuerentstehungstatbestand, so dass die auf An- und Vorauszahlung entfallende Umsatzsteuer Insolvenzforderung ist, wenn die Vereinnahmung vor Verfahrenseröffnung erfolgt ist.235) 4.4
Vorsteuer und Vorsteuerberichtigung
4.4.1 Vorsteuer 203 Der Unternehmer kann gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen, was voraussetzt, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Im Falle der Fortführung des Unternehmens wird der Insolvenzverwalter veranlassen, dass aus Eingangsrechnungen die Vorsteuerbeträge geltend gemacht werden, was voraussetzt, dass die Rechnungen an die Insolvenzmasse ausgestellt sind und den Schuldner erkennen lassen.236) 204 Der Vorsteuerabzug kommt im Übrigen nur dann in Betracht, wenn der Insolvenzverwalter mit der Insolvenzmasse keine vorsteuerschädlichen Umsätze getätigt hat.237) Die Einhaltung der Erfordernisse gemäß § 14 UStG ist durch den Insolvenzverwalter zu prüfen.238)
___________ 230) S. BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner); BFH, Urt. v. 24.11.2011 – V R 13/11, BStBl. II 2012, 298 = NZI 2012, 96. 231) So BMF-Schreiben v. 9.12.2011 – IV D 2 – S 7330/09/10000:001, BStBl. I 2011, 1273. 232) So BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451, dazu EWiR 2015, 19 (Schmittmann). 233) So BMF-Schreiben v. 18.11.2015 – IV A 3 – S 0550/10/10020-05, BStBl. II 2015, 886 = DStR 2015, 2669. 234) Vgl. zu den Einzelheiten: BMF-Schreiben v. 11.1.2022 – IV A 3 – S 0550/21/10001:001, BStBl. I 2022, 116 ff. 235) So BFH, Urt. v. 21.6.2001 – V R 68/00, BStBl. II 2002, 255 = NZI 2002, 334; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1981; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 251. 236) So Schmittmann, InsbürO 2006, 383 f. 237) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2091. 238) So Dobler, ZInsO 2012, 208, 211; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 268.
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Der Besitz an der Rechnung ist für das materielle Entstehen des Vorsteueranspruchs 205 nicht maßgeblich. Auch auf den Zeitpunkt der Rechnungserteilung kommt es nicht an.239) Ist der Vorsteuervergütungsanspruch zum Teil vor und zum Teil nach Eröffnung des 206 Insolvenzverfahrens begründet, erfolgt eine Aufteilung. Das Finanzamt hat sicherzustellen, dass zwischen den vor und nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vorsteuerabzugsbeträgen differenziert wird und eine Aufrechnung nur insoweit erfolgt, als sich diese auf Vorsteuerbeträge bezieht, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden sind. Im Rahmen der Saldierung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 UStG ist die für den Besteuerungszeitraum berechnete Umsatzsteuer vorrangig mit vor Insolvenzeröffnung begründeten Vorsteuerabzugsbeträgen zu verrechnen.240) Der Insolvenzmasse steht auch die Vorsteuer aus der Rechnung des vorläufigen Insolvenz- 207 verwalters zu. Eine Verrechnung mit Insolvenzforderungen des Finanzamtes scheidet regelmäßig aufgrund der Anfechtbarkeit gemäß §§ 130, 131 InsO aus.241) Ein Vorsteuerabzug kommt regelmäßig nur in Betracht, wenn es sich beim Schuldner um einen Unternehmer handelt, der zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Der Vorsteuererstattungsanspruch erstreckt sich allerdings lediglich auf den Teil der Vergütung des Insolvenzverwalters, der dem unternehmerischen Bereich des Schuldners zuzurechnen ist.242) Der Aufteilungsmaßstab und die Einzelheiten waren lange umstritten.243) Sowohl der BGH als auch der BFH haben inzwischen – in unterschiedlichen Konstella- 208 tionen – zur Bestimmung der Vorsteuer aus der Vergütung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters Stellung genommen. In einer Vergütungsentscheidung hat der BGH festgestellt, dass eine im Hinblick auf die Insolvenzverwaltervergütung erforderliche Aufteilung der Vorsteuern für Leistungsbezüge, die einer wirtschaftlichen und einer nicht wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners dienen, sich nach der Quote der betrieblichen Insolvenzforderungen an den Gesamtverbindlichkeiten richtet.244) Dient ein Insolvenzverfahren sowohl der Befriedigung von Verbindlichkeiten des – zum Vorsteuerabzug berechtigten – Unternehmens wie auch der Befriedigung von Privatverbindlichkeiten des Unternehmers, ist nach Auffassung des BFH der Unternehmer aus der Leistung des Insolvenzverwalters grundsätzlich im Verhältnis der unternehmerischen zu den privaten Verbindlichkeiten, die im Insolvenzverfahren jeweils als Insolvenzforderung geltend gemacht werden, zum anteiligen Vorsteuerabzug berechtigt.245) Die Referenzierung sowohl von BGH als auch BFH auf die Verbindlichkeiten des Schuld- 209 ners ist meines Erachtens nicht sachgerecht. Zwar dient das Insolvenzverfahren gemäß § 1 Satz 1 InsO der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger. Maßstab für die Berechnung ___________ 239) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2094; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 271. 240) So BFH, Urt. v. 16.1.2007 – VII R 7/06, BStBl. II 2007, 745 = ZIP 2007, 490, dazu EWiR 2007, 311 (Beck); BFH, Urt. v. 16.11.2004 – VII R 75/03, BStBl. II 2006, 193 = ZIP 2005, 628. 241) So BFH, Urt. v. 2.11.2010 – VII R 6/10, BStBl. II 2011, 493 = ZIP 2011, 181, dazu EWiR 2011, 87 (de Weerth); K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 274. 242) So OFD Münster, Kurzinformation Umsatzsteuer Nr. 9/2011 v. 15.6.2011, DB 2011, 1005. 243) Vgl. FG Nürnberg, Urt. v. 11.5.2010 – 2 K 1513/08, EFG 2010, 1843 m. Anm. Loose; im Revisionsverfahren gegen diese Entscheidung blieb eine Klärung aus, da der BFH (Urt. v. 26.9.2012 – V R 9/11, BFH/NV 2013, 489 = ZIP 2013, 325, dazu EWiR 2013, 213 [Schmittmann]) den Vorsteuerabzug in vollem Umfang ablehnte, da keine Rechnung, sondern nur der Vergütungsbeschluss des Gerichts vorlag; s. a. FG München, Urt. v. 21.4.2010 – 3 K 3736/07, DStRE 2011, 1411, 1412; Schmittmann, InsbürO 2011, 224 ff. 244) So BGH, Beschl. v. 26.2.2015 – IX ZB 9/13, ZIP 2015, 996 = NZI 2015, 388 m. Anm. Graeber, dazu EWiR 2015, 353 (Zimmer). 245) So BFH, Urt. v. 15.4.2015 – V R 44/14, BStBl. II 2015, 679 = ZIP 2015, 1237 m. Anm. Kahlert = NZI 2015, 625 m. Anm. de Weerth, dazu EWiR 2015, 489 (Schmittmann).
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der Insolvenzverwaltervergütung ist allerdings gemäß § 1 Abs. 1 InsVV der Wert der Insolvenzmasse, auf die sich die Schlussrechnung bezieht. Die Insolvenzverwaltervergütung knüpft also gerade nicht an die Passiva, sondern an die Aktiva an. Gleichwohl hält der BFH an seiner Rechtsprechung fest und hat diese für Nachlassinsolvenzverfahren sowie für Insolvenzverfahren über das Vermögen von Personenhandelsgesellschaften bestätigt. 210 Dient ein Insolvenzverfahren über einen Nachlass sowohl der Befriedigung von Verbindlichkeiten des vormals als Unternehmer zum Vorsteuerabzug berechtigten Erblassers wie auch der Befriedigung von dessen Privatverbindlichkeiten, ist der Gesamtrechtsnachfolger aus den Leistungen des Insolvenzverwalters grundsätzlich im Verhältnis der unternehmerischen zu den privaten Verbindlichkeiten, die im Nachlassinsolvenzverfahren jeweils als Insolvenzforderung geltend gemacht werden, zum anteiligen Vorsteuerabzug berechtigt.246) Im Insolvenzverfahren einer KG, die ihre Tätigkeit bereits vor Insolvenzeröffnung eingestellt hatte, ist über den Vorsteuerabzug aus der Rechnung des Insolvenzverwalters nach der früheren Unternehmenstätigkeit der KG zu entscheiden.247) Zudem – und dies ist das eigentlich brisante an der Entscheidung – weist der BFH248) zu Recht darauf hin, dass der Insolvenzverwalter seine Leistung erst mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens erbracht hat. Daher kommt ein Vorsteuerabzug bereits im Insolvenzverfahren nur nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 UStG in Betracht. Dort heißt es: „Soweit der gesondert ausgewiesene Steuerbetrag auf eine Zahlung vor Ausführung dieser Umsätze entfällt, ist er bereits abziehbar, wenn die Rechnung vorliegt und die Zahlung geleistet worden ist.“ 211 In der Praxis wird es daher erforderlich sein, zunächst eine Vorschussrechnung nach Maßgabe des Vergütungsantrages zu stellen. Es ist allerdings darauf zu achten, dass die Entnahme des Betrages aus der Insolvenzmasse und somit die Zahlung erst erfolgen darf, wenn der Vergütungsbeschluss des Insolvenzgerichts rechtskräftig geworden ist. Die Aufhebung des Insolvenzverfahrens führt dann dazu, dass die Leistung des Insolvenzverwalters vollständig erbracht ist. Erst dann kann die Abschlussrechnung erteilt werden, so dass der Vorgang endgültig buchhalterisch abgeschlossen werden kann. Es ergeben sich zwar hinsichtlich der Vorsteuerbeträge keine Auswirkungen, allerdings ist der administrative Aufwand ungleich höher als bisher.249) 212 Wird der Vorsteuervergütungsanspruch nicht vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens eingezogen, so besteht die Gefahr, dass die Finanzverwaltung mit Insolvenzforderungen aufrechnet. Der Insolvenzverwalter wird daher dafür zu sorgen haben, dass eine Nachtragsverteilung angeordnet wird.250) 213 Streitig ist, ob aus der Vergütung des Kassenprüfers, der vom Gläubigerausschuss eingesetzt worden ist, der Vorsteuerbetrag geltend gemacht werden kann.251) 214 Auf die Vorsteuer aus der Vergütung des Schlussrechnungsprüfers wird unten, siehe Schmittmann, § 43 Rz. 27, eingegangen.
___________ 246) So BFH, Urt. v. 21.10.2015 – XI R 28/14, ZIP 2016, 731 = NZI 2016, 370; Vorinstanz: FG Köln, Urt. v. 9.5.2014 – 4 K 2584/13, EFG 2014, 1726 = ZIP 2014, 1796. 247) So BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/15, ZIP 2016, 631 = NZI 2016, 372, dazu EWiR 2016, 245 (Schmittmann); Vorinstanz: FG Köln, Urt. v. 29.1.2015 – 7 K 25/13, EFG 2015, 1397 = ZIP 2015, 1241, dazu EWiR 2015, 491 (Onusseit). 248) BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/15, ZIP 2016, 631 = NZI 2016, 372. 249) Vgl. dazu Schmittmann, EWiR 2016, 245, 246 (Urteilsanm.). 250) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 277. 251) Vgl. Kahlert, DStR 2011, 2439, 2440; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 278.
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4.4.2 Vorsteuerberichtigung Von besonderer Bedeutung ist die Vorsteuerberichtigung wegen
215
x
Änderung der maßgeblichen Verhältnisse (§ 15a UStG) und
x
die Vorsteuerberichtigung wegen Änderung der Bemessungsgrundlage (§ 17 UStG).
Gemäß § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG ist eine Berichtigung des ursprünglichen Vorsteuerabzugs 216 erforderlich, wenn sich bei einem Wirtschaftsgut, das nicht nur einmalig zur Ausführung von Umsätzen verwendet wird, innerhalb von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Verwendung die maßgeblichen Verhältnisse ändern. Der Berichtigungszeitraum verlängert sich gemäß § 15a Abs. 1 Satz 2 UStG bei Grundstücken einschließlich ihrer wesentlichen Bestandteile auf zehn Jahre. Die Vorsteuerberichtigung gemäß § 15a UStG ist haftungsträchtig, da sowohl ein Insol- 217 venzverwalter252) als auch ein Zwangsverwalter253) den Berichtigungstatbestand dadurch auslösen können, dass eine bisher unter Option zur Umsatzsteuer an einen anderen Unternehmer vermietete Immobilie nunmehr an einen nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Mieter vermietet wird. Beispiel: Findet z. B. zunächst eine Vermietung an ein Ingenieurbüro statt und wird nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Auszug des Ingenieurbüros ein Mietvertrag mit einem Arzt abgeschlossen, liegt eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse vor. Der Berichtigungstatbestand des § 15a UStG wird darüber hinaus ausgelöst, wenn der Insolvenzverwalter ein Grundstück durch freihändigen Verkauf veräußert und nicht zur Umsatzsteuer optiert, obwohl beim Erwerb seitens des schuldnerischen Unternehmers zur Umsatzsteuer optiert worden war.254) Beruht die Berichtigung nach § 15a UStG auf einer Maßnahme des Insolvenzverwalters 218 i. R. der Verwaltung und Verwertung der Masse, ist unabhängig von der Rechtsprechung des BFH255) der Berichtigungsanspruch Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, da es sich bei der Vorsteuerberichtigung materiell-rechtlich um einen gegenüber dem Vorsteuerabzug gemäß § 15 UStG eigenständigen Tatbestand handelt.256) Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG ist bei dem leistenden Unternehmer die geschuldete 219 Umsatzsteuer zu berichtigen, wenn sich die Bemessungsgrundlage geändert hat. Beim Leistungsempfänger ist gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG der Vorsteuerabzug zu berichtigen. Dies gilt gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG sinngemäß, wenn das vereinbarte Entgelt für eine steuerpflichtige Lieferung, sonstige Leistung oder einen steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerb uneinbringlich geworden ist. Wird das Entgelt nachträglich vereinnahmt, sind Steuerbetrag und Vorsteuerabzug erneut 220 zu berichtigen. Uneinbringlichkeit ist gegeben, wenn der Anspruch auf Entrichtung des Entgelts nicht erfüllt wird und bei objektiver Betrachtung damit zu rechnen ist, dass der Leistende die Entgeltforderung (ganz oder teilweise) jedenfalls auf absehbare Zeit rechtlich ___________ 252) So BFH, Urt. v. 9.2.2011 – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000 = ZIP 2011, 1122, dazu EWiR 2011, 471 (de Weerth); K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 282. 253) So BFH, Beschl. v. 28.6.2011 – XI B 18/11, ZIP 2011, 2018 = ZfIR 2011, 667, s. a. Anm. Wedekind, ZfIR 2011, 648 ff.; vgl. Schmidtberger, ZfIR 2011, 786 ff.; Schmittmann/Brandau/Stroh, IGZInfo 2012, 3, 7 f. 254) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2146; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 281. 255) BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner). 256) So BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 24/11, BStBl. II 2012, 466 = ZIP 2012, 684, dazu EWiR 2012, 289 (Schmittmann).
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oder tatsächlich nicht durchsetzen kann.257) Uneinbringlichkeit liegt nicht erst bei Zahlungsunfähigkeit vor, sondern bereits dann, wenn der Leistungsempfänger das Bestehen der Forderung substantiiert bestreitet.258) 221 Für den Insolvenzverwalter ist zu unterscheiden, ob es sich um Forderungen handelt, die vorinsolvenzlich entstanden sind, oder ob es sich um Forderungen handelt, die i. R. einer Fortführung des Geschäftsbetriebes des schuldnerischen Unternehmens entstanden sind. Da der BFH annimmt, dass mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinsichtlich der Forderungen, die vorinsolvenzlich entstanden sind, Uneinbringlichkeit eintritt, ist mit Insolvenzeröffnung eine Berichtigung vorzunehmen und im Falle des erfolgreichen Einziehens der Forderung eine erneute Berichtigung erforderlich, die dann freilich zum Entstehen einer Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO führt.259) Der Insolvenzverwalter hat allerdings zu prüfen, ob nicht ggf. bereits vorher Uneinbringlichkeit eingetreten ist, z. B. weil auf Seiten des Leistungsempfängers Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist oder dieser er substantiiert Mängel gerügt hat. Entscheidend ist, wann der materiell-rechtliche Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 UStG verwirklicht worden ist.260) 222 In Insolvenzverfahren, in denen die Rechtsprechung des BFH261) nicht anwendbar ist, also die ab dem 1.1.2012 eröffnet worden sind, ergibt sich für den Insolvenzverwalter konkreter Handlungsbedarf. Es reicht nicht aus, bei einem gescheiterten Forderungseinzug die Forderung auszubuchen. Es ist vielmehr erforderlich, den genauen Zeitpunkt festzustellen, an dem rechtlich der Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 UStG verwirklicht worden ist. Da nach der neueren Rechtsprechung des BFH der Zeitpunkt der Anmeldung unbeachtlich ist, sondern es auf die materiell-rechtliche Uneinbringlichkeit ankommt,262) ist bei einem „Uneinbringlichwerden“ nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners der Berichtigungsanspruch gemäß § 17 Abs. 2 UStG erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden, so dass er von der Finanzverwaltung nicht mit Steuerforderungen i. S. von § 38 InsO aufgerechnet werden darf.263) 223 Für Insolvenzverfahren, die ab dem 1.1.2012 eröffnet worden sind, hat diese Rechtsprechung keine Bedeutung, da ohnehin mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Berichtigung gemäß § 17 UStG zu erfolgen hat.264) Hinsichtlich der Berichtigung der Vorsteuer gemäß § 17 UStG bei Forderungen, die i. R. der Fortführung des Unternehmens durch den Insolvenzverwalter entstanden sind, ergeben sich Besonderheiten nicht. 224 In Insolvenzverfahren, in denen ab dem 1.1.2015 Sicherungsmaßnahmen angeordnet worden sind, ist nach der Rechtsprechung des BFH265) zu verfahren (siehe dazu oben Rz. 201). Auch in den Fällen der vorläufigen Eigenverwaltung266) und der Eigenverwal___________ 257) So BFH, Urt. v. 20.7.2006 – V R 13/04, BStBl. II 2007, 22 = DStR 2006, 1699. 258) So BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 49/10, BFH/NV 2012, 1665 = StuB 2012, 723. 259) So BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner). 260) So BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 = ZIP 2012, 2217 = UR 2012, 927 m. Anm. Marchal. 261) BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner). 262) So BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 = ZIP 2012, 2217 = UR 2012, 927 m. Anm. Marchal. 263) So Schmittmann, StuB 2012, 874 f. 264) So BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, dazu EWiR 2011, 323 (Mitlehner). 265) BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451, dazu EWiR 2015, 19 (Schmittmann). 266) Vgl. BMF-Schreiben v.11.1.2022 – IV A 3 – S 0550/21/10001:001, BStBl. I 2022, 116.
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Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
§ 42
tung im eröffneten Verfahren267) ist die Doppelberichtigung vorzunehmen. In der Sanierungsmoderation und im Restrukturierungsverfahren gilt die Rechtsprechung zur Doppelberichtigung nicht, da der Schuldner in der Regel die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nicht verliert.268) Die Quotenzahlung im Insolvenzverfahren führt zu einer neuerlichen Berichtigung.269) 225 Die Quotenzahlung ist auf Seiten des Leistungserbringers und des Leistungsempfängers zu berücksichtigen, so dass im Falle der Quotenzahlung im Insolvenzverfahren auf der Ebene der Insolvenzmasse ein Vorsteuererstattungsanspruch entsteht.270) Hinsichtlich der Berichtigung i. R. von Organschaften wird auf Rechtsprechung und Lite- 226 ratur verwiesen.271) 4.5
Besteuerung
Besteuerungszeitraum ist gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 UStG das Kalenderjahr. Der Besteue- 227 rungszeitraum wird durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht unterbrochen.272) Gemäß § 46 Satz 1 UStDV hat das Finanzamt dem Unternehmer auf Antrag für die Abgabe 228 der Voranmeldungen und für die Entrichtung der Vorauszahlungen eine sog. Dauerfristverlängerung um einen Monat zu gewähren. Der Antrag wird abgelehnt oder eine gewährte Fristverlängerung widerrufen, wenn der Steueranspruch gefährdet ist, § 46 Satz 2 UStDV. Die Bewilligung der Dauerfristverlängerung hängt davon ab, dass der Unternehmer eine Sondervorauszahlung gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 UStG leistet. Das weitere Verfahren ergibt sich aus § 48 UStDV. Spätestens mit Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist der Steuer- 229 anspruch gefährdet, so dass die Finanzverwaltung die Dauerfristverlängerung widerruft. Die Sondervorauszahlung wird für den letzten Voranmeldungszeitraum, für den die Frist- 230 verlängerung gilt, angerechnet. Soweit ein nicht verbrauchter Betrag verbleibt, so wird dieser nicht erstattet, sondern mit der Jahressteuer verrechnet. Ein Erstattungsanspruch entsteht nur dann, wenn die Sondervorauszahlung auch durch die Verrechnung mit der Jahressteuer nicht verbraucht ist.273) Nach Festsetzung der Jahressteuer kommt die Erstattung einer solchen Sondervorauszahlung nach § 37 Abs. 2 Satz 2 AO nur dann in Betracht, soweit die Sondervorauszahlung nicht zur Tilgung der Jahressteuer benötigt wird. Auf § 48 Abs. 4 UStDV kann der Erstattungsanspruch nach Festsetzung der Jahressteuer nicht mehr gestützt werden. Diese Grundsätze gelten auch im Fall der Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens.274) ___________ 267) So BFH, Urt. v 27.9.2018 – V R 45/16, BStBl. II 2019, 356 = ZIP 2018, 2232 = BB 2018, 2854 m. Anm. Wagner, dazu EWiR 2018, 721 (Schmittmann). 268) So Duda/Schmittmann, Steuerstrafrechtliche Risiken in Krise und Insolvenz, Rz. 266; differenzierend: Wollring/Passecker, ZRI 2022, 308. 269) So BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, BStBl. II 2011, 988 = ZIP 2010, 383, dazu EWiR 2010, 227 (Kahlert), s. a. NZI 2010, 272 ff. m. Anm. de Weerth. 270) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2124; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 286. 271) Vgl. BFH, Beschl. v. 5.12.2008 – V B 101/07, BFH/NV 2009, 432; Niedersächsisches FG, Urt. v. 4.3.2010 – 16 K 305/08, EFG 2010, 1259; Hölzle, DStR 2006, 1210 ff.; Lemken, InsbürO 2012, 417 ff.; Schmittmann, ZSteu 2007, 191 ff.; Trinks, UVR 2010, 12 ff. 272) So BFH, Urt. v. 16.12.2008 – VII R 17/08, BStBl. II 2010, 91 = ZIP 2009, 1290; BFH, Urt. v. 6.11.2002 – V R 21/02, BStBl. II 2003, 39 = ZIP 2003, 83; BFH, Urt. v. 18.7.2002 – V R 56/01, BStBl. II 2002, 705 = ZIP 2003, 85. 273) So BFH, Urt. v. 16.12.2008 – VII R 17/08, BStBl. II 2010, 91 = ZIP 2009, 1290. 274) So BFH, Beschl. v. 21.9.2021 – VII R 9/18, ZRI 2021, 1006 = BB 2022, 163 = NZI 2022, 34 m. Anm. Schmittmann.
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Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
231 Die Umsatzsteuer gehört zu den sog. Selbstberechnungssteuern, so dass der Unternehmer bis zum zehnten Tag nach Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums eine Voranmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung nach Maßgabe der Steuerdaten-Übermittlungsverordnung zu übermitteln hat, in der er die Steuer für den Voranmeldungszeitraum (Vorauszahlung) selbst zu berechnen hat (§ 18 Abs. 1 Satz 1 UStG). 232 Das Kalendervierteljahr ist grundsätzlich Voranmeldungszeitraum (§ 18 Abs. 2 Satz 1 UStG). Nimmt der Unternehmer seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit auf, ist im laufenden und folgenden Kalenderjahr Voranmeldungszeitraum der Kalendermonat (§ 18 Abs. 2 Satz 4 UStG). Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Finanzamt den Unternehmer von der Verpflichtung zur Abgabe der Voranmeldungen befreien, so dass er lediglich noch die Jahreserklärung abzugeben hat (§ 18 Abs. 2 UStG). 233 Unternehmer, deren Umsatz im vorangegangenen Kalenderjahr 22 000 € nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 50.000 € voraussichtlich nicht übersteigen wird, werden als Kleinunternehmer i. S. von § 19 Abs. 1 UStG angesehen, so dass für deren Umsätze Umsatzsteuer nicht erhoben wird. Der Kleinunternehmer ist weder berechtigt, Umsatzsteuer in Rechnung zu stellen noch Vorsteueransprüche aus den Rechnungen anderer Unternehmer geltend zu machen. 234 Der Kleinunternehmer hat ein Optionsrecht gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 UStG. Er kann bis zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung erklären, dass er auf die Anwendung von § 19 Abs. 1 UStG verzichtet. Daran ist der Unternehmer für mindestens fünf Kalenderjahre gebunden, § 19 Abs. 2 Satz 2 UStG. Nach Verfahrenseröffnung ist der Insolvenzverwalter befugt, über den Verzicht auf die Steuerbefreiung zu entscheiden.275) Ungeachtet der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und einer ggf. erfolgten Freigabe des Schuldners nach Verfahrenseröffnung besteht die Unternehmenseinheit im umsatzsteuerlichen Sinne fort, so dass die Option gemäß § 19 Abs. 1 UStG nur einheitlich ausgeübt werden kann.276) In der Regel ist ein Verzicht auf die Kleinunternehmerregelung i. R. der Fortführung des Unternehmens zweckmäßig, da sodann die Möglichkeit besteht, den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen anderer Unternehmen in Anspruch zu nehmen. 5.
Gewerbesteuer
5.1
Grundlagen
235 Der Status des Schuldners als Gewerbetreibender geht nicht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens verloren. Bei Einzelgewerbetreibenden und Personenhandelsgesellschaften bleibt die Eigenschaft als Gewerbetreibender und damit die Gewerbesteuerpflicht bis zur vollständigen Beendigung der werbenden Tätigkeit des Betriebes bestehen.277) Wird über das Vermögen eines Einzelgewerbetreibenden oder einer Personenhandelsgesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und führt der Insolvenzverwalter den Betrieb fort, so ändert sich an der Gewerbesteuerpflicht nichts. 236 Wird der Geschäftsbetrieb eingestellt, bleibt die Gewerbesteuerpflicht bis zur Veräußerung der wesentlichen Betriebsgrundlagen bestehen, wobei die Veräußerung des Anlagevermögens und die damit einhergehende Aufdeckung stiller Reserven nicht mehr der Gewerbesteuerpflicht unterliegt.278) ___________ 275) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 307. 276) So BFH, Urt. v. 20.12.2012 – V R 23/11, ZIP 2013, 469; Vorinstanz: Sächsisches FG, Urt. v. 11.5.2011 – 2 K 535/10, EFG 2012, 1204 m. Anm. Büchter/Hole. 277) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1856. 278) So BFH, Urt. v. 20.4.1980 – IV R 68/77, BStBl. II 1980, 658 = ZIP 1980, 795; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1857.
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Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
§ 42
Kapitalgesellschaften, Genossenschaften sowie Versicherungs- und Pensionsfondvereine auf 237 Gegenseitigkeit sind gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 GewStG für die gesamte Dauer ihrer Existenz rechtsformabhängig gewerbesteuerpflichtig. Die Gewerbesteuerpflicht endet erst dann, wenn das gesamte Vermögen der Gesellschaft verteilt worden ist.279) Gemäß § 18 GewStG entsteht die Gewerbesteuer, soweit es sich nicht um Vorauszahlungen 238 (§ 21 GewStG) handelt, mit Ablauf des Erhebungszeitraums, für den die Festsetzung vorgenommen wird. Die Vorauszahlungen sind gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG am 15.2., 15.5., 15.8. und 15.11. zu entrichten. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbricht den Veranlagungszeitraum nicht, so 239 dass auch für das Jahr der Insolvenzeröffnung ein einheitlicher Messbescheid ermittelt wird. Für die Zeit vor und nach der Insolvenzeröffnung wird eine gemeinsame Veranlagung durchgeführt, allerdings ist eine Aufteilung erforderlich.280) 5.2
Abgrenzung Insolvenzforderungen, Masseverbindlichkeiten und insolvenzfreie Verbindlichkeiten
Für das Jahr der Insolvenzeröffnung ist eine Aufteilung nach Insolvenzforderungen i. S. des 240 § 38 InsO und Masseverbindlichkeiten i. S. des § 55 InsO erforderlich. Für die Aufteilung sind die allgemeinen insolvenzrechtlichen Grundsätze anwendbar:281) x Soweit die Abschlusszahlung des Jahres der Insolvenzeröffnung vor der Insolvenzeröffnung begründet war, handelt es sich um eine Insolvenzforderung i. S. von § 38 InsO. x Eine Masseverbindlichkeit (§ 55 InsO) liegt vor, wenn die Abschlusszahlung nach Verfahrenseröffnung begründet war.282) x Für einen bei Insolvenzeröffnung bereits beendeten Veranlagungszeitraum ist die Abschlusszahlung gemäß § 41 InsO abgezinst als Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle anzumelden.283) Die Gewerbesteuervorauszahlungen gemäß § 19 GewStG sind nach vorstehenden Grund- 241 sätzen zu behandeln. Es handelt sich bei den Vorauszahlungen um Insolvenzforderungen, soweit das Insolvenzverfahren nach dem Beginn des Voranmeldungszeitraums eröffnet worden ist. Im laufenden Insolvenzverfahren sind die Vorauszahlungen gemäß § 19 Abs. 3 GewStG anzupassen.284) Die Finanzverwaltung darf der hebeberechtigten Gemeinde nach Eröffnung des Insolvenz- 242 verfahrens nur noch eine formlose Mitteilung über den Gewerbesteuermessbetrag zur Verfügung stellen. Ein Gewerbesteuermessbescheid darf nicht mehr ergehen. Ergeht er trotzdem, so ist er unwirksam.285) 5.3
Gewerbeertrag in der Insolvenz
Gewerbeertrag ist der nach den Vorschriften des EStG oder des KStG zu ermittelnde Ge- 243 winn aus dem Gewerbebetrieb, der bei der Ermittlung des Einkommens für den dem Erhebungszeitraum (§ 14 GewStG) entsprechenden Veranlagungszeitraum zu berücksichtigen ___________ 279) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1859; Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 4.556. 280) So K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 318. 281) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1852. 282) Vgl. Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 4.549; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 319. 283) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1885; Wipperfürth/Schmittmann, InsbürO 2014, 471 ff. 284) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1886. 285) So BFH, Urt. v. 2.7.1997 – I R 11/97, BStBl. II 1998, 428 = ZIP 1997, 2160; Waza/Uhländer/ Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1893.
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ist, vermehrt und vermindert um die in den §§ 8 und 9 GewStG bezeichneten Beträge (§ 7 Satz 1 GewStG). Hinsichtlich der Hinzurechnungen (§ 8 GewStG) und der Kürzungen (§ 9 GewStG) ist auf das Gesetz und weiterführendes Schrifttum zu verweisen. 244 Der Gewerbeertrag, der bei einem in der Abwicklung befindlichen Gewerbebetrieb i. S. des § 2 Abs. 2 GewStG im Zeitraum der Abwicklung entstanden ist, ist gemäß § 16 Abs. 1 GewStDV auf die Jahre des Abwicklungszeitraums zu verteilen. Dies gilt gemäß § 16 Abs. 2 GewStDV entsprechend, wenn über das Vermögen des Unternehmens ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. 245 Die Regelung des § 16 Abs. 4 EStG (Besteuerung des Veräußerungsgewinns) ist auf Liquidationsgewinne einer Kapitalgesellschaft sowohl bei der Ermittlung des körperschaftssteuerpflichtigen Einkommens als auch bei der Ermittlung des Gewerbeertrags i. S. von § 7 GewStG anzuwenden.286) 246 Der Ertrag des Liquidationszeitraums ist zeitanteilig auf die einzelnen Jahre des Abwicklungszeitraums zu verteilen. Die Anzahl der Kalendermonate, für die in dem jeweiligen Jahr die Gewerbesteuerpflicht bestand, ist mit der Gesamtzahl der Kalendermonate des Zeitraums, in dem die Steuerpflicht während des Insolvenzverfahrens bestand, mit der Gesamtzahl der Kalendermonate des Zeitraums, in dem die Steuerpflicht während des Insolvenzverfahrens bestand, ins Verhältnis zu setzen.287) 247 Hinsichtlich der gewerbesteuerlichen Organschaft in der Insolvenz ist auf Spezialliteratur zurückzugreifen.288) 5.4
Gewerbesteuer und Sanierungsgewinn
248 Sanierungsgewinne waren bis zum 31.12.1997 gemäß § 3 Nr. 66 EStG a. F., § 8 Abs. 1 KStG und § 7 GewStG steuerfrei. Die durch den Wegfall dieser Bestimmungen ausgelöste Unsicherheit wurde vom BMF im Verwaltungswege versucht zu beseitigen.289) Der BFH hat dies jedoch als Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung angesehen (siehe oben Rz. 135 ff.). 249 Mit der Verkündung des Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken vom 27.6.2017290) hat der Gesetzgeber begonnen, die Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen zu regeln.291) 250 In das GewStG wurde darüber hinaus eine Sonderregelung bei der Ermittlung des Gewerbeertrags bei unternehmensbezogener Sanierung eingeführt. Gemäß § 7b Abs. 1 GewStG sind die §§ 3a und 3c Abs. 4 EStG vorbehaltlich der weiteren Regelungen bei der Ermittlung des Gewerbeertrags entsprechend anzuwenden. 251 Ein nach § 7b Abs. 2 Satz 1 GewStG verbleibender Sanierungsertrag mindert die Beträge nach Satz 1 Nr. 1 bis 3 eines anderen Unternehmens, wenn dieses die erlassenen Schulden innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren vor dem Schuldenerlass auf das zu sanierende Unternehmen übertragen hat und soweit die entsprechenden Beträge zum Ablauf des Wirtschaftsjahres der Übertragung bereits entstanden waren. Der verbleibende Sanierungsertrag nach § 7b Abs. 2 Satz 2 GewStG ist zunächst um den Minderungsbetrag nach § 3a Abs. 3 Satz 2 Nr. 13 EStG zu kürzen. Bei der Minderung nach § 7b Abs. 2 Satz 1 GewStG ___________ 286) So BFH, Urt. v. 8.5.1991 – I R 33/90, BStBl. II 1992, 437 = BB 1991, 2358. 287) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1867; Roth, Insolvenzsteuerrecht, Rz. 4.552; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 325. 288) Vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 1870. 289) So BMF-Schreiben v. 27.3.2003 – IV A 6 – S 2140 – 8/03, BStBl. I 2003, 240; vgl. Schmittmann, ZInsO 2003, 505 ff.; Uhländer, ZInsO 2005, 76 f.; Gerbers, ZInsO 2006, 633 ff. 290) Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen, v. 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074 ff. 291) Schmittmann, Gemeindehaushalt 2019, 36, 38.
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Interne und externe Rechnungslegung, Steuern
§ 42
ist § 10a Satz 4 und 5 GewStG entsprechend anzuwenden. In Fällen des § 10a Satz 9 GewStG ist § 8 Abs. 9 Satz 9 KStG entsprechend anzuwenden. An den Feststellungen der vortragsfähigen Fehlbeträge nehmen nur die nach Anwendung der § 7b Abs. 2 Sätze 1 und 2 GewStG verbleibenden Beträge teil. Zur Anwendung regelt § 36 Abs. 2c GewStG, das § 7b GewSt erstmals in den Fällen an- 252 zuwenden ist, in denen die Schulden ganz oder teilweise nach dem 8.2.2017 erlassen wurden. § 7b Abs. 2 Satz 1 GewStG gilt bei einem Schuldenerlass nach dem 8.2.2017 nicht, wenn dem Steuerpflichtigen auf Antrag Billigkeitsmaßnahmen aus Gründen des Vertrauensschutzes für einen Sanierungsertrag auf Grundlage von § 163 Abs. 1 Satz 2 AO und den §§ 222, 227 AO zu gewähren sind. Das Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren in Internet 253 vom 11.12.2018292) hat nicht lediglich das Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen in Kraft gesetzt, sondern nimmt auch noch Modifikationen vor: Auch bei der Gewerbesteuer wurde eine Rückwirkung auf Antrag des Steuerpflichtigen 254 ermöglicht: Der Bestimmung des § 36 Abs. 2c GewStG wurde folgender Satz angefügt: „Auf Antrag des Steuerpflichtigen ist § 7b auch in den Fällen anzuwenden, in denen die Schulden vor dem 9. Februar 2017 erlassen wurden.“
Schon nach der Formulierung des § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG n. F., auf den § 7b Abs. 1 GewStG 255 aufbaut, handelt es sich nicht mehr um einen Erlass, sondern um eine gesetzlich normierte Steuerfreiheit. Vor diesen Hintergrund kommt der Änderung des § 184 Abs. 2 AO durch das Zollkodex- 256 Anpassungsgesetz293) keine praktische Bedeutung mehr zu. Nach der Neuregelung schließt die Befugnis, Realsteuermessbeträge festzusetzen, auch die Befugnis zu Maßnahmen nach § 163 Satz 1 AO ein, soweit für solche Maßnahmen in einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, der Obersten Bundesfinanzbehörde oder einer Obersten Landesfinanzbehörde Richtlinien aufgestellt worden sind. Eine Maßnahme nach § 163 Satz 2 AO wirkt, soweit sie die gewerblichen Einkünfte als Grundlage für die Festsetzung der Steuer vom Einkommen beeinflusst, auch für den Gewerbeertrag als Grundlage für die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages. Der Gesetzgeber hatte mit dieser Regelung beabsichtigt, auch BMF-Schreiben wie z. B. den „Sanierungserlass“ zur Grundlage von Billigkeitsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gewerbesteuer zu machen. Nach Auffassung einiger Bundesländer normiert allerdings der „Sanierungserlass“ keine Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Abs. 1 AO, so dass die Änderung des § 184 Abs. 2 Satz 1 AO zu keiner Änderung der Zuständigkeit der Gemeinden für Billigkeitsmaßnahmen zur Gewerbesteuer bei Sanierungsgewinnen geführt hat.294) Eine Kommune konnte nach bisherigem Recht einen auf sachliche Unbilligkeit nach § 227 257 AO gestützten Antrag auf Erlass der auf einem Sanierungsgewinn beruhenden Gewerbesteuer ermessenfehlerhaft mit der Begründung ablehnen, dass der Gesetzgeber mit der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a. F. eine Härte für den Steuerpflichtigen bewusst in Kauf genommen habe. Eine Bindung an den „Sanierungserlass“ besteht für die Gemeinden nicht.295) ___________ 292) Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften, v. 11.12.2018, BGBl. I 2018, 2338. 293) Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Zollkodex-Anpassungsgesetz), v. 22.9.2014, BGBl. I 2014, 2417 ff. 294) So OFD Nordrhein-Westfalen, Kurzinformation v. 6.2.2015 – Gewerbesteuer Nr. 02/2015, DB 2015, 345 = ZInsO 2015, 675; dazu Vogel/Schlüter, DB 2015, 344 f. 295) So VG Münster, Urt. v. 21.5.2014 – 9 K 1251/11, ZInsO 2014, 1817.
Schmittmann
1493
§ 42 5.5
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung Aufrechnung durch die Gemeinde
258 Sofern der Schuldner aufgrund von Vorauszahlungsbescheiden zu viel Gewerbesteuer geleistet hat, hat der Insolvenzverwalter gegen die Gemeinde einen Anspruch auf vollständige oder teilweise Rückerstattung. Sofern die Gemeinde eine Aufrechnung erklärt, ist insbesondere unter Berücksichtigung von § 96 Abs. 1 InsO zu prüfen, ob die Aufrechnung insolvenzrechtlich zulässig ist.296) 6.
Kraftfahrzeugsteuer
6.1
Grundlagen
259 Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 KraftStG unterliegt u. a. das Halten von inländischen Fahrzeugen zum Verkehr auf öffentlichen Straßen der vom Hauptzollamt verwalteten Kraftfahrzeugsteuer. Die Steuer ist gemäß § 11 Abs. 1 KraftStG für die Dauer eines Jahres im Voraus zu entrichten. Die Steuer wird, wenn der Zeitpunkt der Beendigung der Steuerpflicht nicht feststeht, unbefristet, in allen anderen Fällen für einen bestimmten Zeitraum oder tageweise, festgesetzt, § 12 Abs. 1 Satz 1 KraftStG. 260 Da die Kraftfahrzeugsteuer taggenau berechnet und festgesetzt werden kann, stellt die Aufteilung in Insolvenzforderungen i. S. von § 38 InsO und Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 InsO vergleichsweise wenig Probleme.297) 261 Die Finanzverwaltung bzw. das Hauptzollamt teilt mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Kraftfahrzeugsteuerschuld in einen vor- und nachinsolvenzlichen Teil auf. Sofern der Schuldner die Kraftfahrzeugsteuer vorausgezahlt hat, entsteht für die Tage nach Verfahrenseröffnung ein Erstattungsanspruch, gegen den das Finanzamt mit Insolvenzforderungen aufrechnen kann.298) 6.2
Nutzung oder Neuanmeldung des Fahrzeugs durch den Insolvenzverwalter
262 Ist ein Fahrzeug Teil der Insolvenzmasse, so ist die nach Insolvenzeröffnung entstehende Kraftfahrzeugsteuer Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.299) x
Eine Zugehörigkeit zur Insolvenzmasse und damit eine Kraftfahrzeugsteuerschuld als Masseverbindlichkeit ist gegeben, wenn der Insolvenzverwalter das Fahrzeug für die Insolvenzmasse weiter nutzt oder ggf. i. R. der Fortführung des Geschäftsbetriebs neue Fahrzeuge anschafft.300)
x
Keine Masseverbindlichkeit liegt vor, wenn das Fahrzeug Zubehör eines unter Zwangsverwaltung stehenden Grundstücks ist. In diesem Falle ist die Kraftfahrzeugsteuer gegenüber dem Zwangsverwalter festzusetzen.301)
x
Keine Massezugehörigkeit besteht bei einem Fahrzeug, das bereits vor Insolvenzeröffnung untergegangen ist.302)
___________ 296) Vgl. Roth, Insolvenzsteuerrecht Rz. 4.558; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 329. 297) Vgl. K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 350. 298) So BFH, Urt. v. 16.11.2004 – VII R 62/03, BStBl. II 2005, 309 = ZVI 2005, 134 = NZI 2005, 279 m. Anm. Gundlach/Frenzel; vgl. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2536; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 352. 299) So BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, BStBl. II 2012, 149 = ZIP 2012, 42; BFH, Urt. v. 13.4.2011 – II R 49/09, BStBl. II 2011, 944 = ZIP 2011, 1728 = ZVI 2011, 420. 300) So Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2533; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 351. 301) So BFH, Urt. v. 1.8.2012 – II R 28/11, ZIP 2012, 2306 ff. 302) So BFH, Urt. v. 21.3.2019 – III R 30/18, NZI 2020, 81 = ZIP 2019, 1434 = StuB 2019, 607 (LS) m. Anm. jh, dazu EWiR 2019, 597 (Hackl).
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Schmittmann
Interne und externe Rechnungslegung, Steuern x
§ 42
Keine Massezugehörigkeit liegt originär vor, wenn der Gegenstand bereits im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung unpfändbar ist, z. B. weil der Schuldner des Gegenstandes bedarf, um seine Erwerbstätigkeit i. S. des § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO a. F. (heute: § 811 Abs. 1 Nr. 1a ZPO n. F.) fortsetzen zu können. Dies ist dann der Fall, wenn der Schuldner als Arbeitnehmer keine andere zumutbare Möglichkeit hat, zu seiner Arbeits- oder Ausbildungsstätte zu gelangen.303)
Die Freigabe einer selbständigen Tätigkeit gemäß § 35 Abs. 2 InsO hat auf den Rechts- 263 status der vom Schuldner zur Fortsetzung oder Aufnahme der Tätigkeit verwendeten Gegenstände keinen Einfluss.304) In der Regel wird der Insolvenzverwalter allerdings eine selbständige Tätigkeit des Schuldners nur dann freigeben, wenn der Schuldner diese Tätigkeit mit Gegenständen ausüben kann, die ohnehin nicht dem Insolvenzbeschlag unterliegen, sondern gemäß § 36 Abs. 1 InsO i. V. m. § 811 Abs. 1 ZPO unpfändbar sind. 6.3
Veräußerung eines Fahrzeugs durch den Insolvenzverwalter
Veräußert der Insolvenzverwalter ein Fahrzeug, das zur Insolvenzmasse gehört, so endet 264 die Steuerpflicht für die Insolvenzmasse gemäß § 5 Abs. 5 KraftStG in dem Zeitpunkt, in dem die verkehrsrechtlich vorgeschriebene Veräußerungsanzeige bei der Zulassungsbehörde eingeht, spätestens mit der Aushändigung des neuen Fahrzeugscheins an den Erwerber. Um diese Unsicherheiten zu vermeiden erscheint es zweckmäßig, dass der Insolvenzverwalter bereits vor der Veräußerung des Fahrzeugs eine Außerbetriebsetzung vornimmt, womit ebenfalls die Kraftfahrzeugsteuerpflicht für die Insolvenzmasse gemäß § 5 Abs. 4 KraftStG endet. Allein die Mitteilung des Insolvenzverwalters oder Treuhänders an das Straßenverkehrsamt, 265 dass ein Fahrzeug nicht zur Insolvenzmasse gezogen werde, beendet nach Auffassung des BFH die Steuerschuldnerschaft der Insolvenzmasse nicht. Erst die Mitteilung nach §§ 13, 14 Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV) beendet die unwiderlegliche Haltervermutung nach dem KraftStG.305) Besonderheiten ergeben sich bei der Verwertung des Fahrzeugs gemäß § 314 InsO im 266 vereinfachten Insolvenzverfahren.306) 6.4
Behandlung insolvenzfreier Fahrzeuge
Zutreffender Weise ist hier zu differenzieren:
267
x
Handelt es sich um insolvenzfreie Fahrzeuge, weil Unpfändbarkeit gemäß § 36 Abs. 1 InsO i. V. m. § 811 Abs. 1 ZPO vorliegt, besteht von Anfang an keine Massezugehörigkeit, so dass zu keinem Zeitpunkt eine Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO entstehen kann. Die Finanzverwaltung hat daher Bescheide ausschließlich an den Schuldner zu richten. Auf eine eventuelle Mitteilung an die Straßenverkehrsbehörde kommt es ebenso wenig an wie eine Mitteilung an das Finanzamt.
x
Hat der Insolvenzverwalter festgestellt, dass ein Überschuss bei der Verwertung über die Kosten der Zwangsvollstreckung nicht zu erwarten ist (§ 803 Abs. 2 ZPO) besteht ebenfalls keine Massezugehörigkeit, allerdings erst ab dem Zeitpunkt der Feststellung durch den Insolvenzverwalter, die dem Finanzamt und der Straßenverkehrsbehörde mitzuteilen ist. Die Feststellung des Insolvenzverwalters wirkt nur für die Zukunft.
___________ 303) 304) 305) 306)
So BFH, Urt. v. 13.4.2011 – II R 49/09, BStBl. II 2011, 944 = ZIP 2011, 1728 = ZVI 2011, 420. So BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, BStBl. II 2012, 149 = ZIP 2012, 42. So BFH, Beschl. v. 10.3.2010 – II B 172/09, ZIP 2010, 1302 = ZVI 2010, 307. Vgl. dazu Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, Rz. 2553; K. Schmidt-Schmittmann, InsO, Anh. Steuerrecht Rz. 358 f.
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§ 43 Externe Schlussrechnungsprüfung Schmittmann
Übersicht I. Einleitung .................................................... 1 II. Anordnung der externen Schlussrechnungsprüfung ......................... 4 III. Auswahl des Schlussrechnungsprüfers ..... 15
IV. Ort der Durchführung der Schlussrechnungsprüfung .................................... 21 V. Kosten der Schlussrechnungsprüfung ... 24
Literatur: Bähner, Die Prüfung der Schlußrechnung des Konkursverwalters, KTS 1991, 347; Bähner/ Berger/Braun, Die Schlußrechnung des Konkursverwalters, ZIP 1993, 1283; Braun/Heinrich, Auf dem Weg zu einer (neuen) Insolvenzplankultur in Deutschland – Ein Beitrag zu dem Regierungsentwurf für ein Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, NZI 2011, 505; Eisner, Vergabe an Dritte hat gewisse Präventivwirkung, INDat-Report 06/2015, 20; Graeber, Th./Graeber, A., Zur Zulässigkeit der Beauftragung externer Schlussrechnungsprüfer durch Insolvenzgerichte, NZI 2014, 298; Hebenstreit, Prüfung der Schlussrechnungen durch das Insolvenzgericht, ZInsO 2013, 276; Heyrath, Die Prüfung der Schlussrechnung, (Teil 1) ZInsO 2005, 1092; Jakob, Standardisiertes Outsourcing ist rechts- und verfassungswidrig, INDat-Report 06/2015, 13; Kahlert, Umsatzsteuerliche Behandlung der Einschaltung eines externen Kassenprüfers im Insolvenzverfahren, DStR 2011, 2439; Lissner, Nur aus besonderem Anlass im Einzelfall, INDat-Report 06/2015, 19; Madaus, Grundlage und Grenzender Bestellung von Sachverständigen in der gerichtlichen Schlussrechnungsprüfung, NZI 2012, 119; Reuter, Handlungsreisender in Sachen Insolvenz, INDat-Report 09/2012, 34; Schirmer, Kosten für einen externen Kassenprüfer im Insolvenzverfahren – Auslagen oder Masseverbindlichkeit nach § 55 InsO?, DStR 2012, 733; Schmittmann, Grenzen der Auslagerung der Schlussrechnungsprüfung auf Dritte, in: Festschrift für Bruno M. Kübler, 2015, S. 645; Schmittmann, Vergabe muss absolute Ausnahme bleiben, INDat-Report 06/2015, 16; Schreiber, Die Prüfung der Schlussrechnung des Insolvenzverwalters durch Sachverständige, in: Festschrift für Jobst Wellensiek, 2011, S. 337; Vierhaus, Zur Verfassungswidrigkeit der Übertragung von Rechtspflegeraufgaben auf Private, ZInsO 2008, 521; Weitzmann, Rechnungslegung und Schlussrechnungsprüfung, ZInsO 2007, 449.
I.
Einleitung
Der Insolvenzverwalter hat gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 InsO bei der Beendigung seines Amtes 1 einer Gläubigerversammlung Rechnung zu legen. Die als Tätigkeitsbericht anzusehende Schlussrechnung besteht aus x
einer Einnahme-Überschussrechnung,
x
ggf. einer Insolvenzschlussbilanz,
x
dem Schlussverzeichnis und
x
dem Schlussbericht, der ein vollständiges Bild der gesamten Tätigkeit des Verwalters geben muss.1)
Das Insolvenzgericht prüft vor der abschließenden Gläubigerversammlung gemäß § 66 2 Abs. 2 Satz 1 InsO die Schlussrechnung des Verwalters. Schon aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass es grundsätzlich die Aufgabe des Gerichts ist, die Schlussrechnung des Verwalters zu prüfen, bevor sie zur Einsicht der Beteiligten gemäß § 66 Abs. 2 Satz 2 InsO ausgelegt wird. Im Insolvenzplanverfahren kann seit Inkrafttreten des ESUG zunächst gemäß § 66 Abs. 1 3 Satz 2 InsO a. F. und nunmehr seit Inkrafttreten des SanInsFoG gemäß § 66 Abs. 4 InsO
___________ 1) Vgl. im Einzelnen Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 66 Rz. 5.
Schmittmann
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§ 43
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
n. F. eine abweichende Regelung getroffen werden. Das Erfordernis einer Schlussrechnungslegung wurde zur Disposition der Beteiligten gestellt.2) II.
Anordnung der externen Schlussrechnungsprüfung
4 Aus dem Gesetz ergibt sich ohne weiteres, dass die Prüfungspflicht dem Gericht obliegt. Zuständig ist gemäß §§ 3 Nr. 2 lit. e, 18 RPflG im eröffneten Verfahren der Rechtspfleger, während für die Prüfung der Rechnungslegung des vorläufigen Verwalters gemäß § 6 RPflG der Richter zuständig ist.3) 5 Obwohl die Prüfung der Schlussrechnungslegung originäre Aufgabe des Gerichts („Kernbereich“) ist,4) kann ein Sachverständiger zur Prüfung der Schlussrechnungslegung bestellt werden, wenn dem Gericht die Sachkunde fehlt.5) Dies enthebt den Rechtspfleger allerdings nicht von seiner eigenen Prüfungspflicht.6) 6 Dem Sachverständigen darf allerdings lediglich die rechnerische Prüfung der Schlussrechnung übertragen werden.7) Soweit zum Teil vertreten wird, dass auch die rechtliche Prüfung dem Sachverständigen aufgegeben werden darf,8) so ist dieser Auffassung nicht zu folgen, da ein Sachverständiger durch das Gericht nur dann bestellt werden kann, wenn dem Gericht die eigene Fachkunde fehlt, was bei Rechtsfragen, sofern es sich nicht um ausländisches Recht handelt, nicht gegeben sein kann. Im Übrigen darf das Gericht auch Wertentscheidungen nicht aus der Hand geben.9) Es ist daher richtig, wenn bei einigen Gerichten grundsätzlich Schlussrechnungsprüfungen nicht extern vergeben werden.10) 7 Die externe Schlussrechnungsprüfung kann auch auf bestimmte Bereiche beschränkt werden.11) Die Beschränkung kann sich sowohl auf bestimmte Zeiträume als auch bestimmte Sachfragen beziehen. 8 Die Anordnung einer externen Schlussrechnungsprüfung darf keinesfalls standardisiert erfolgen.12) Sie kommt nur in Betracht, wenn das Gericht nicht in der Lage ist, die Schlussrechnungsprüfung vorzunehmen, was in der Regel nur dann der Fall ist, wenn die Schlussrechnung einen Umfang hat, der die Arbeitskraft des Rechtspflegers in einem solchen Umfang bindet, dass andere Vorgänge nicht mehr sachgerecht erledigt werden können. In diesen Fällen sollte aber zugleich erwogen werden, ob das Gericht sich auf Stichproben beschränkt. Sofern sich bei den Stichproben weder Unregelmäßigkeiten noch sonstige Beanstandungen ergeben, kann auf eine lückenlose Prüfung verzichtet werden.13) Im Übrigen ist es Sache der Gläubiger, in die ausgelegte Schlussrechnung mit den Belegen Einsicht zu nehmen. ___________ 2) Vgl. Thies/Lieder in: HambKomm-InsO, § 258 Rz. 8; K. Schmidt-Rigol, InsO, § 66 Rz. 32; Braun/Heinrich, NZI 2011, 505, 513. 3) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 18; Riedel in: MünchKomm-InsO, § 66 Rz. 23; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 66 Rz. 88. 4) So ausdrücklich: Hebenstreit, ZInsO 2013, 276; Schmittmann in: FS Kübler, S. 645, 647. 5) So Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 66 Rz. 13; K. Schmidt-Rigol, InsO, § 66 Rz. 23; Kübler/Prütting/ Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 23; Heyrath, ZInsO 2005, 1092, 1096; a. A. Vierhaus, ZInsO 2008, 521 ff. 6) So auch OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.10.2009 – 8 W 265/09, ZIP 2010, 4981 = NZI 2010, 191; Vorinstanz: LG Heilbronn, Beschl. v. 4.2.2009 – 1 T 30/09, ZIP 2009, 1437 = NZI 2009, 606. 7) Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 23; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 66 Rz. 92. 8) So Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl., 2010, § 66 Rz. 33. 9) S. Hebenstreit, ZInsO 2013, 276, 277. 10) So z. B. beim AG Hof; vgl. Reuter, INDat-Report 09/2012, 34. 11) Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 23, Bähner/Berger/Braun, ZIP 1993, 1283, 1289. 12) So Weitzmann, ZInsO 2007, 449, 453; Hebenstreit, ZInsO 2013, 276, 277. 13) Vgl. Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 19.
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§ 43
Externe Schlussrechnungsprüfung
Das Gericht darf den Sachverständigen zur Überprüfung der Einhaltung der formellen 9 Voraussetzungen der Rechnungslegung, insbesondere der vollständigen und geordneten Erfassung aller Geschäftsvorfälle, der rechnerischen Richtigkeit und der Übereinstimmung der Buchungsvorgänge mit den beigefügten Belegen14) sowie der rechnerischen Prüfung der Schlussrechnung beauftragen.15) Die materielle Prüfung der Schlussrechnung kann nach einer von Uhlenbruck vertretenen 10 Auffassung Gegenstand einer Überprüfung durch den Sachverständigen sein, da die Prüfungspflicht des Sachverständigen identisch mit dem Prüfungsauftrag des Gerichts ist.16) Dieser Auffassung ist nicht zu folgen, da ein Sachverständiger durch das Gericht nur bestellt 11 werden darf, wenn dem Gericht die eigene Fachkunde fehlt. Dies ist bei Rechtsfragen, sofern es sich nicht ausnahmsweise um ausländisches Recht handelt, nicht gegeben.17) Rechtliche Beurteilungen sind nicht delegierbar, sondern vom Gericht stets selbst durchzuführen.18) Insbesondere kommt auch eine pauschale Beauftragung des Sachverständigen nicht in Betracht, weil der Prüfungsauftrag an den Sachverständigen nicht über das hinausgehen kann, was der Rechtspfleger i. R. seiner Ermessensausübung von Gesetzes wegen zu prüfen gehalten ist.19) Da das Ermessen ausschließlich vom Gericht, nicht aber von seinem Gehilfen, dem Sachverständigen,20) festgelegt wird, ist eine Ermessensausübung durch den Sachverständigen ausgeschlossen. Der Sachverständige kann somit lediglich zu Tatsachenfragen, nicht aber zu einer rechtlichen Beurteilung herangezogen werden.21) Das Gericht darf Sachentscheidungen nicht delegieren.22) Die Anordnung der Schlussrechnungsprüfung durch das Gericht begegnet insoweit Be- 12 denken, weil mangelnde personelle und sachliche Ausstattung der Insolvenzgerichte auf die Gläubiger abgewälzt werden, indem die Kosten der externen Schlussrechnungsprüfung aus der Masse gezahlt werden.23) Zu Recht wird darin ein Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG gesehen.24) Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde des früher hauptsächlich für das AG Ludwigsburg tätigen Rechtsanwalts Dr. Oliver Jakob, die sich mit der „verfassungswidrigen Teilprivatisierung der Justiz durch Übertragung richterlicher Aufgaben auf einen privaten Dienstleister“ befasst, nicht zur Entscheidung angenommen.25) Die Hinzuziehung eines Sachverständigen wird als unzulässig angesehen, wenn ein Gläu- 13 bigerausschuss vorhanden ist. In diesen Fällen ist die Wahrnehmung der gläubigerseitigen Rechnungsprüfung über die Pflicht zur Kassenprüfung, § 69 Satz 2 InsO, gewährleistet. Der Gläubigerausschuss kann einen sachverständigen Prüfer beauftragen.26) ___________ 14) So K. Schmidt-Rigol, InsO, § 66 Rz. 19. 15) So Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 23; Riedel in: MünchKomm-InsO, § 66 Rz. 29. 16) So Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl., 2010, § 66 Rz. 59 – unter Hinweis auf Bähner, KTS 1991, 347, 354. 17) So Schmittmann in: FS Kübler, S. 645, 652; Braun-Blümle, InsO, § 66 Rz. 20. 18) So Riedel in: MünchKomm-InsO, § 66 Rz. 29; Pape/Uhländer-Fliegner, InsO, § 66 Rz. 25. 19) So Schreiber in: FS Wellensiek, S. 337, 338. 20) Vgl. BGH, Beschl. v. 27.7.2006 – VII ZB 16/06, BGHZ 168, 380, 382 = ZIP 2006, 1923; Prütting/ Gehrlein-Katzenmaier, ZPO, Vorb. §§ 402 ff. Rz. 1. 21) So Th. Graeber/A. Graeber, NZI 2014, 298, 303. 22) So Th. Graeber/A. Graeber, NZI 2014, 298, 303. 23) So Hebenstreit, ZInsO 2013, 276, 277. 24) Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 66 Rz. 13; Schmittmann in: FS Kübler, S. 645, 647. 25) BVerfG, Beschl. v. 10.2.2016 – 2 BvR 212/15. Vgl. zur Vorgeschichte: Jakob, INDat-Report 06/2015, 13 ff.; Schmittmann, INDat-Report 06/2015, 16 ff.; Lissner, INDat-Report 06/2015, 19 ff.; Eisner, INDat-Report 06/2015, 20 ff. 26) So Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 66 Rz. 13; K. Schmidt-Rigol, InsO, § 66 Rz. 25. Pape/UhländerFliegner, InsO, § 66 Rz. 23.
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Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
14 Die Anordnung der Schlussrechnungsprüfung durch einen Sachverständigen ist nicht anfechtbar.27) III.
Auswahl des Schlussrechnungsprüfers
15 Das Gericht ist in der Auswahl des Sachverständigen frei.28) Dem steht insbesondere § 404 Abs. 2 ZPO nicht entgegen, da es keine öffentliche Bestellung für die Durchführung einer externen Schlussrechnungsprüfung gibt. Es liegt allerdings nahe, mit der externen Prüfung der Schlussrechnung Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer zu beauftragen. Auch die Praxis einiger Insolvenzgerichte, pensionierte Finanzbeamte oder erfahrene Betriebswirte zu beauftragen, ist nicht zu beanstanden. Die Auswahl des Sachverständigen ist von der Schwierigkeit und Größe des Verfahrens abhängig. 16 Das Gericht hat von der Beauftragung eines Sachverständigen zur Prüfung der Schlussrechnung abzusehen, der im selben Gerichtsbezirk wie der Insolvenzverwalter, der die Schlussrechnung erstellt hat, tätig ist. In diesem Falle steht dem Insolvenzverwalter ein Ablehnungsrecht wegen Besorgnis der Befangenheit zu.29) Im Hinblick darauf, dass eine Vielzahl von Insolvenzverwalterkanzleien inzwischen bundesweit tätig ist, dürfte in vielen Fällen ein Ablehnungsantrag des Insolvenzverwalters begründet sein.30) Es liegt nahe, dass ein Schlussrechnungsprüfer, der mit dem Insolvenzverwalter in einem beruflichen Konkurrenzverhältnis um die Erteilung von Aufträgen desselben Insolvenzgerichts steht, die Schlussrechnungsprüfung zum Anlass nimmt, sich selbst zu profilieren. Dies ist allerdings zunehmend auch bei einer Vielzahl anderer Schlussrechnungsprüfer zu beobachten. 17 Grundsätzlich ist allerdings die Beauftragung eines (ggf. früheren) Insolvenzverwalters mit der Durchführung von Schlussrechnungsprüfungen sinnvoll, da dieser in aller Regel die Besonderheiten der insolvenzrechtlichen Rechnungslegung kennt und dadurch Rückfragen vermieden werden.31) 18 Bei der Auswahl des Schlussrechnungsprüfers sollte neben seiner nachgewiesenen Fachkunde auch seine insolvenzrechtliche Erfahrung berücksichtigt werden. 19 Da der Schlussrechnungsprüfer als Sachverständiger anzusehen ist, sind auf ihn die Vorschriften der ZPO hinsichtlich der Bestellung eines Sachverständigen, die derzeit einem Reformprozess unterliegen, anzuwenden. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eines Gesetzes zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit hat die Bundesrechtsanwaltskammer eine standardisierte Übertragung der dem Insolvenzgericht originär obliegenden Kompetenz zur Schlussrechnungsprüfung als Verstoß gegen § 66 Abs. 2 Satz 1 InsO angesehen. Ebenso wird ein Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bei einer Abwälzung der Kosten für die Prüfung auf die Gläubiger gesehen. Es wurde daher der Vorschlag unterbreitet, als § 404 Abs. 2 ZPO einzufügen: „Vor der Ernennung sollen die Parteien zur Person des Sachverständigen gehört werden“.
___________ 27) So OLG Hamm, Beschl. v. 9.12.1985 – 15 W 441/85, ZIP 1986, 724, dazu EWiR 1986, 399 (Eickmann); Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 66 Rz. 13; Uhlenbruck-Mock, § 66 Rz. 93; Pape/Uhländer-Fliegner, InsO, § 66 Rz. 26; Schmittmann in: FS Kübler, S. 645, 647. 28) Vgl. Schmittmann in: FS Kübler, S. 645, 650. 29) So OLG Köln, Beschl. v. 6.12.1989 – 2 W 173/89, ZIP 1990, 58, dazu EWiR 1991, 381 f. (Reimer) K. Schmidt-Rigol, InsO, § 66 Rz. 24. 30) S. Schmittmann in: FS Kübler, S. 645, 650. 31) Vgl. Pape/Uhländer-Fliegner, InsO, § 66 Rz. 26.
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Externe Schlussrechnungsprüfung
Zudem schlägt die Bundesrechtsanwaltskammer eine Ergänzung von § 66 Abs. 2 InsO dahin 20 vor, dass die Übertragung der Rechnungsprüfungspflicht (gemeint ist offenbar die Rechnungsprüfung) auf einen Sachverständigen nur dann erfolgen kann, wenn die Gläubigerversammlung bzw. der Gläubigerausschuss, soweit ein solcher bestellt ist, der Übertragung zustimmt oder der Umfang des Verfahrens eine Schlussrechnungsprüfung durch das Insolvenzgericht ausschließt.32) IV.
Ort der Durchführung der Schlussrechnungsprüfung
Der Insolvenzverwalter reicht seine Schlussrechnung beim Insolvenzgericht ein. Sie wird 21 an Gerichtsstelle geprüft, wenn die Prüfung durch den Rechtspfleger erfolgt. Erfolgt die Schlussrechnungsprüfung durch einen externen Schlussrechnungsprüfer, entspricht 22 es der Praxis, dass die Schlussrechnung mit allen Unterlagen, in der Regel auch einschließlich der Gerichtsakte, dem Schlussrechnungsprüfer übersandt wird, da ihm beim Insolvenzgericht in der Regel keine Räume zur Verfügung gestellt werden können, in denen er seine Arbeiten sachgerecht erledigen kann. In Großinsolvenzverfahren werden der Schlussrechnung hunderte von Aktenordnern mit 23 Unterlagen zugrunde liegen. Im Rahmen der Überprüfung einer Teilschlussrechnungslegung gab das Insolvenzgericht einem Insolvenzverwalter auf, etwa 500 Aktenordner mit notwendigen Unterlagen dem Insolvenzgericht vorzulegen.33) In Verfahren dieser Größenordnung kann es allerdings zweckmäßig sein, die Schlussrechnungsprüfung in den Räumen des Insolvenzverwalters, in ggf. ausgelagerten Lagerstätten oder im schuldnerischen Unternehmen durchzuführen, sofern die Schlussrechnungsunterlagen dort vorliegen. In diesen Fällen sollte das Gericht sachgemäß abwägen, welche Anordnung es trifft und nicht schematisch darauf beharren, dass die Schlussrechnungsunterlagen beim Gericht vorgelegt werden. V.
Kosten der Schlussrechnungsprüfung
Die externe Prüfung der Schlussrechnung löst nicht unerhebliche Kosten aus. Eine feste 24 Gebühr ist nicht vorgesehen. Vielmehr rechnen externe Schlussrechnungsprüfer ihre Tätigkeit nach Anzahl der aufgewendeten Stunden ab, was teilweise zu Gebühren führt, die in die Nähe der Insolvenzverwaltervergütung reichen. Fraglich ist die rechtliche Einordnung dieser Kosten. Grundsätzlich obliegt die Prüfung der Schlussrechnung dem Insolvenzgericht, so dass die Kosten der Schlussrechnungsprüfung mit den Gerichtskosten für das Insolvenzverfahren abgegolten sind. Die Kosten der Schlussrechnungsprüfung durch einen externen Sachverständigen sind 25 Kosten des Insolvenzverfahrens gemäß § 54 Nr. 1 InsO, die von der Insolvenzmasse zu tragen sind.34) Diese Praxis begegnet Bedenken, da die Justiz einerseits, ohne dass sich die Gerichtskosten 26 ermäßigen, weniger Leistung erbringt und andererseits die Insolvenzmasse mit den Kosten der externen Rechnungsprüfung belastet werden, was im Ergebnis zu einer Quotenver___________ 32) So BRAK, Stellungnahme Nr. 42/2015 zum RegE eines Gesetzes zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, abrufbar unter www.brak.de; ebenso bereits Schmittmann in: FS Kübler, S. 645 ff. 33) So BGH, Beschl. v. 7.4.2011 – IX ZB 170/10, ZIP 2011, 1123 = NZI 2011, 442. 34) So OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.10.2009 – 8 W 265/09, ZIP 2010, 491 = NZI 2010, 191; LG Heilbronn, Beschl. v. 4.2.2009 – 1 T 30/09, ZIP 2009, 1437 = NZI 2009, 606; Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 66 Rz. 23; K. Schmidt-Rigol, InsO, § 66 Rz. 23; Pape/Uhländer-Fliegner, InsO, § 66 Rz. 23.
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§ 43
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
schlechterung für die Gläubiger führt. Darüber hinaus begegnet diese Praxis auch unter dem Gesichtspunkt der Übertragung hoheitlicher Tätigkeit auf Private Bedenken.35) 27 Es handelt sich nicht um Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, da die Auftragserteilung nicht durch den Insolvenzverwalter für das schuldnerische Unternehmen erfolgt, sondern durch das Gericht. Dies hat zur Folge, dass die vom externen Schlussrechnungsprüfer in Rechnung gestellte Umsatzsteuer nicht als Vorsteuer geltend gemacht werden kann, da es sich bei dem Gericht nicht um einen Unternehmer handelt, der gemäß § 15 Abs. 1 UStG i. V. m. § 14 UStG Vorsteuer geltend machen kann. Dieser Auffassung ist nun der BFH jedenfalls für die Fälle entgegengetreten, in denen der Insolvenzverwalter in die Beauftragung des Kassenprüfers eingebunden ist, indem er dem Gläubigerausschuss den Prüfer vorschlägt und dem Prüfer den Beschluss des Gläubigerausschusses über dessen Beauftragung übermittelt.36) 28 Hier zeigt sich umso deutlicher, dass es für den Staat unter mehreren Gesichtspunkten erstrebenswert ist, in möglichst vielen Insolvenzverfahren eine externe Schlussrechnungsprüfung vorzunehmen. Die externe Vergabe der Prüfung spart bei der Justiz personelle Ressourcen. Dabei ist nicht zu verkennen, dass die Gerichtskosten zumindest in großen Unternehmensinsolvenzverfahren für die Justiz eine nicht unerhebliche Einnahmequelle darstellen, denen nicht immer eine adäquate Gegenleistung gegenübersteht. Darüber hinaus hat der Schlussrechnungsprüfer die von ihm in Rechnung gestellte und von der Insolvenzmasse über die Gerichtskosten gezahlte Umsatzsteuer an das Finanzamt abgeführt, ohne dass dem ein Vorsteueranspruch eines anderen Unternehmers gegenübersteht, so dass hier ein weiterer finanzieller Vorteil für den Fiskus entsteht. 29 Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Überwachung des Insolvenzverwalters durch den Gläubigerausschuss gemäß § 69 Satz 1 InsO. Die Mitglieder des Gläubigerausschusses haben sich über den Gang der Geschäfte zu unterrichten sowie die Bücher und Geschäftspapiere einzusehen und Geldverkehr/-bestand prüfen zu lassen. Dabei kann die Prüfung einem sachverständigen Dritten übertragen werden.37) Da Auftraggeber die Mitglieder des Gläubigerausschusses sind, entstehen ebenfalls keine Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, sondern erst Massekosten nach § 54 Nr. 2 InsO, wenn diese im Wege des Auslagenersatzes gemäß § 18 Abs. 1 InsVV geltend gemacht und vom Insolvenzgericht festgesetzt worden sind.38) 30 Kahlert vertritt die Auffassung, dass es sich bei den Kosten der externen Kassenprüfung um Masseverbindlichkeiten handelt, da der Gläubigerausschuss mangels Vertretungsmacht nicht befugt ist, die Masse zu binden. Der Prüfungsauftrag ist daher zwischen dem insolventen Unternehmen und dem sachverständigen Dritten nach entsprechender Beschlussfassung des Gläubigerausschusses zu schließen.39) Daraus zieht Kahlert den aus seiner Sicht zutreffenden Schluss, dass das schuldnerische Unternehmen berechtigt ist, die vom externen Sachverständigen in Rechnung gestellte und gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend zu machen.40) ___________ 35) Vgl. Madaus, NZI 2012, 119, 124 ff. 36) So BFH, Urt. v. 21.4.2022 – V R 18/19, ZRI 2022, 779 = NZI 2022, 815 m. krit. Anm. Schmittmann. Vorinstanz: FG Düsseldorf, Urt. v. 19.7.2017 – 5 K 1959/15 U, ZInsO 2019, 2481. 37) Kübler/Prütting/Bork-Kübler, InsO, § 69 Rz. 27; Pape/Uhländer-Pape, InsO, § 69 Rz. 15; Frind in: HambKomm-InsO, § 69 Rz. 4. 38) So Frind in: HambKomm-InsO, § 69 Rz. 5. Differenzierend: BFH, Urt. v. 21.4.2022 – V R 18/19, ZRI 2022, 779 = NZI 2022, 815 m. krit. Anm. Schmittmann. 39) So Kahlert, DStR 2011, 2439, 2441. 40) So Kahlert, DStR 2011, 2439, 2441.
1502
Schmittmann
§ 43
Externe Schlussrechnungsprüfung
Dem wird entgegengehalten, dass der Insolvenzverwalter keinesfalls im eigenen Namen 31 den Auftrag gegenüber dem externen Kassenprüfer erteile, da die Prüfung des Geldverkehrs und des Geldbestandes eine höchst persönliche Verpflichtung eines jeden Mitglieds des Gläubigerausschusses sei, die auch nicht auf Umwegen delegiert werden könne.41) Daher sind die Kosten des externen Kassenprüfers auch keine Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, sondern Auslagen gemäß § 54 InsO.42) Sofern die Mitglieder des Gläubigerausschusses ihrerseits Unternehmer sind, steht diesen der Vorsteuerabzug zu. Belasten diese die Kosten dem insolventen Unternehmen weiter, besteht bei diesem die Berechtigung zum Vorsteuerabzug, wenn die Voraussetzungen im Übrigen gegeben sind.43) Die formale Auffassung wird auch von der Finanzverwaltung geteilt, so dass auch hier der 32 Vorsteuerabzug scheitert, sofern nicht ausnahmsweise sämtliche Mitglieder des Gläubigerausschusses ihrerseits originär Unternehmer sind und die ihnen in Rechnung gestellte Umsatzsteuer i. R. eines weiteren Leistungsaustauschs der Insolvenzmasse in Rechnung stellen können.
___________ 41) So Schirmer, DStR 2012, 733, 735. 42) So Schirmer, DStR 2012, 733, 736. 43) So Schirmer, DStR 2012, 733, 738.
Schmittmann
1503
§ 44 Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, des Sachwalters und der Organe der Insolvenzschuldnerin Frege/Berger/Nicht
Übersicht I. Einleitung .................................................... 1 II. Überblick über Haftungstatbestände ....... 3 1. Insolvenzspezifische Haftung gemäß §§ 60, 61 InsO .............................................. 4 2. Allgemeines Haftungsrecht......................... 8 3. Sonstige Haftungstatbestände aus dem öffentlichen Recht, dem Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht .............................. 9 III. Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters ................................................... 14 1. Abgrenzung ................................................ 14 2. Insolvenzspezifische Haftung des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters im Eröffnungsverfahren........... 18 2.1 Haftung gemäß § 60 InsO i. V. m. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO ..................................... 19 2.2 Haftung gemäß § 61 InsO ............ 20 3. Insolvenzspezifische Haftung des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters im Eröffnungsverfahren........... 25 3.1 Haftung gemäß § 60 InsO i. V. m. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO ..................................... 26 3.2 Haftung gemäß § 61 InsO ............ 27 4. Allgemeine zivilrechtliche Haftung .......... 29 4.1 Überblick ....................................... 29 4.2 Persönliche Haftungsübernahme und Garantie............... 31 4.3 Deliktische Haftung...................... 32 5. Haftung aus steuerrechtlichen Vorschriften................................................ 35 6. Sonstige Haftungsvorschriften ................. 36 IV. Haftung des Insolvenzverwalters............ 37 1. Insolvenzspezifische Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO ......... 37 1.1 Der Tatbestand des § 60 InsO...... 37 1.2 Gesamtschaden .............................. 40 1.3 Fallgruppen .................................... 43 1.3.1 Fehlerhafte Entscheidung über die Fortführung des Unternehmens......................... 43 1.3.2 Strategische Verwertungsentscheidung .................................. 48 1.3.3 Allgemeine unternehmerische Entscheidungen ............................. 53 1.3.4 Prüfung und Anzeige der Masseunzulänglichkeit ............................ 65
1.4
Bedeutung der Genehmigung durch den Gläubigerausschuss...... 72 1.5 Beteiligung der Gläubigerversammlung.................................. 77 2. Insolvenzspezifische Haftung gemäß § 61 InsO ........................................ 85 2.1 Gesetzeszweck der persönlichen Haftung gemäß § 61 Satz 1 InsO ............................................... 86 2.2 Ersatzberechtigte........................... 87 2.3 Schadensumfang ............................ 88 2.4 Abgrenzung Einzelschaden/ Gesamtschaden .............................. 89 2.5 Abgrenzung zu § 60 InsO ............ 90 2.6 Entlastungsbeweis ......................... 93 V. Haftung des Sachwalters in der Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO.......... 97 1. Haftung des Sachwalters im eröffneten Insolvenzverfahren für die schuldhafte Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten gemäß § 60 Abs. 1 InsO ............ 97 1.1 Überblick ....................................... 97 1.2 Haftung gegenüber den Beteiligten des Insolvenzverfahrens ... 100 1.3 Verschulden des Sachwalters ...... 103 1.4 Verletzung eigener Pflichten des Sachwalters im Hinblick auf die Verwaltung und Verwertung des Vermögens der Insolvenzschuldnerin............ 104 1.5 Verletzung eigener Pflichten des Sachwalters im Hinblick auf die Prüfung, Überwachung und Kontrolle des Handelns der Insolvenzschuldnerin............ 107 2. Haftung des Sachwalters i. R. des § 61 InsO .......................................................... 111 3. Haftung des Sachwalters im Eröffnungsverfahren gemäß § 270a InsO ....... 113 4. Haftung des Sachwalters im Schutzschirmverfahren gemäß § 270b InsO...... 117 VI. Haftung der Insolvenzschuldnerin und ihrer Organe in der Eigenverwaltung ............................................... 118 1. Haftung der Insolvenzschuldnerin analog §§ 60, 61 InsO .............................. 123 2. Haftung der Insolvenzschuldnerin nach allgemeinen Grundsätzen ............... 125
Frege/Berger/Nicht
1505
§ 44 3.
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
Haftung der Gesellschaftsorgane der Insolvenzschuldnerin .................................. 126 3.1 Innenhaftung der Gesellschaftsorgane gegenüber der Insolvenzschuldnerin............ 126
3.2
3.3
Analoge Anwendung von §§ 60, 61 InsO auf die Gesellschaftsorgane ........ 130 Haftung der Gesellschaftsorgane nach allgemeinen Vorschriften................................. 131
Literatur: Adam, Die Haftung des Insolvenzverwalters, VersR 2012, 1226; Adam, Die Haftung des Insolvenzverwalters aus § 61 InsO, DZWIR 2008, 14; Antoni, Die Haftung des Insolvenzverwalters für unterlassene Sanierungsmaßnahmen und gescheiterte Sanierungspläne, NZI 2013, 236; Bachmann, Organhaftung in der Eigenverwaltung, ZIP 2015, 101; Bachmann, Reformbedarf bei der Business Judgment Rule?, ZHR 177 (2013) 1; Berger, Massebezogene Verwalterpflichten: Von der Massewahrung zu einem „allgemeinen Wertmehrungsgebot“?, ZInsO 2017, 2100; Berger/Frege, Business Judgment Rule bei Unternehmensfortführung in der Insolvenz – Haftungsprivileg für den Verwalter?, ZIP 2008, 204; Berger/Frege/Nicht, Unternehmerische Ermessensentscheidungen im Insolvenzverfahren – Entscheidungsfindung, Kontrolle und persönliche Haftung, NZI 2010, 321; Böhme, Wertmehrungsgebot: Spekulationspflicht für Insolvenzverwalter?, ZInsO 2017, 1468; Bosch/Lange, Unternehmerischer Handlungsspielraum des Vorstandes zwischen zivilrechtlicher Verantwortung und strafrechtlicher Sanktion, JZ 2009, 225; Büchler, Haftungsrisiken bei „faktischer Masseunzulänglichkeit“, ZInsO 2011, 1240; Deimel, Schadensersatzpflicht des Insolvenzverwalters gegenüber Massegläubigern, ZInsO 2004, 783; Eckardt, Umwelthaftung im Insolvenzverfahren, AbfallR 2008, 197; Eckardt, Deliktische Haftpflicht im Konkurs, KTS 1997, 441; Ehlers, Haftungsprävention – ein Gebot für Insolvenzverwalter, ZInsO 2011, 458; Erker, Die Business Judgment Rule im Haftungsstatut des Insolvenzverwalters, ZInsO 2012, 199; Falkenhausen, Die Haftung außerhalb der Business Judgment Rule, NZG 2012, 644; Fest, Darlegungs- und Beweislast bei Prognoseentscheidungen im Rahmen der Business Judgment Rule, NZG 2011, 540; Fleischer, Das unternehmerische Ermessen des GmbH-Geschäftsführers und seine GmbHspezifischen Grenzen, NZG 2011, 521; Frege/Nicht, Informationserteilung und Informationsverwendung im Insolvenzverfahren, InsVZ 2010, 407 = ZInsO 2012, 2217; Frege/Nicht, Die Anwendung der Business Judgment Rule auf unternehmerische Ermessensentscheidungen des Insolvenzverwalters, in: Festschrift für Jobst Wellensiek, 2011, S. 291; Ganter, Die erneute Masseunzulänglichkeit, NZI 2019, 7; Gehrlein, Abberufung und Haftung von Insolvenzverwaltern, ZInsO 2011, 1713; Gundlach/Frenzel/ Jahn, Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit und die Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO, DZWIR 2011, 177; Gundlach/Frenzel/Jahn, Die Haftungsfreistellung des Insolvenzverwalters durch eine Beschlussfassung des Gläubigerausschusses, ZInsO 2007, 363; Heidland, Die Rechtsstellung und Aufgaben des Gläubigerausschusses als Organ der Gläubigerselbstverwaltung in der Insolvenzordnung, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2000, S. 711; Jarass, BImSchG, Kommentar, 14. Aufl. 2022; Jungmann, Die Business Judgment Rule im Gesellschaftsinsolvenzrecht – Wider eine Haftungsprivilegierung im Regelinsolvenzverfahren und in der Eigenverantwortung, NZI 2009, 80; Kirchhof, Rechtsprobleme bei der vorläufigen Insolvenzverwaltung – Zur Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters bei Unternehmensfortführung und zu Fragen der Masseschulden und Masseunzulänglichkeit, ZInsO 1999, 365; Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Kommentar, Loseblatt, 97. Aufl., 2022, Stand: 12/2021; Laws, Die Haftung des Insolvenzverwalters im Zusammenhang mit – gescheiterten – Anträgen auf Gewährung von Insolvenzgeld, ZInsO 2009, 57; Laws, Haftung des Insolvenzverwalters, MDR 2004, 1149; Lüke, Die persönliche Haftung des Verwalters in der Insolvenz, 3. Aufl., 2009; Meyer/Schulteis, Die Haftung des Insolvenzverwalters gemäß §§ 60, 61 InsO bei der Fortführung von Unternehmen, DZWIR 2004, 319; Meyer-Löwy/Poertzgen, Schranken und Beschränkbarkeit der Insolvenzverwalterhaftung aus §§ 60, 61 InsO, ZInsO 2004, 363; Meyer-Löwy/Poertzgen/Sauer, Neue Rechtsprechung zur Insolvenzverwalterhaftung im Überblick, ZInsO 2005, 691; Möhlmann, Die Berichtspflichten des Insolvenzverwalters zum Berichtstermin – eine betriebswirtschaftliche Perspektive, NZI 1999, 433; Mönning, R.-D., Unternehmensfortführung in der Insolvenz, in: Prütting, Insolvenzrecht 1996, RWS-Forum 9, 1997, S. 43; Pape, Das Risiko der persönlichen Haftung des Insolvenzverwalters aus § 61 InsO, ZInsO 2003, 1013; Pape, Gläubigerbeteiligung im Insolvenzverfahren, 2000; Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, 4. Aufl. 2013; Redeke, Zu den Voraussetzungen unternehmerischer Ermessensentscheidungen, NZG 2009, 496; Richter/Völksen, Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters wegen unterbliebener Freistellung von Arbeitnehmern bei späterer Anzeige der Masseunzulänglichkeit, ZIP 2011, 1800; Runkel/Schnurbusch, Rechtsfolgen der Masseunzulänglichkeit, NZI 2000, 49; Schmidt, K., Die Konkursverwalterhaftung aus unzulässiger Unternehmensfortführung und ihre Grenzen, NJW 1987, 812; Schultz, Die Haftung des Insolvenzverwalters, ZInsO 2015, 529; Skauradszun/Schmidt, Detailfragen zur steuerlichen Haftung des Insolvenzverwalters, ZInsO 2014, 1784; Thole, Die rechtliche Behandlung der „erneuten Masseunzulänglichkeit“, ZIP 2018, 2241; Thole/ Brünkmans, Die Haftung des Eigenverwalters und seiner Organe, ZIP 2013, 1097; Thole, Managerhaftung für Gesetzesverstöße, ZHR 173 (2009) 504; Uhlenbruck, Corporate Governance, Compliance and [sic] Insolvency Judgment Rule als Problem der Insolvenzverwalterhaftung, in: Festschrift für Karsten Schmidt, 2009, S. 1603; Weisemann/Nisters, Die Haftungsrisiken der Insolvenzverwalter und
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Frege/Berger/Nicht
Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
§ 44
die Möglichkeiten einer versicherungsmäßigen Lösung, DZWIR 1999, 138; Wellensiek, Probleme der Betriebsfortführung in der Insolvenz, in: Festschrift für Wilhelm Uhlenbruck, 2000, S. 199; Zugehör, Anwaltlicher Insolvenzverwalter: Haftungsrisiken aus Insolvenzrecht und allgemeiner Anwaltshaftung, ZInsO 2006, 857.
I.
Einleitung
Im Insolvenzverfahren hat der Insolvenzverwalter die Insolvenzmasse zu verwalten und 1 zu verwerten (§§ 80, 148, 159 InsO). Hierbei arbeitet er nach Maßgabe der §§ 69, 160 ff. InsO mit dem (vorläufigen) Gläubigerausschuss zusammen.1) Die einstweilige Fortführung eines laufenden Geschäftsbetriebs entweder mit dem Zweck der Ausproduktion oder vor dem Hintergrund des Unternehmenserhalts zur anschließenden Veräußerung oder Reorganisation auf der Grundlage eines Insolvenzplans (§§ 217 ff. InsO) ist eine solche Verwaltungstätigkeit. Im Rahmen dieser Betriebsfortführung ist die Ausübung der Verwaltungsund Verwertungskompetenz regelmäßig damit verbunden, dass durch die Organe der Insolvenzverwaltung unternehmerische Ermessensentscheidungen im Hinblick auf das verwaltete Vermögen zu treffen sind,2) denn der Insolvenzverwalter ist insbesondere für die kaufmännischen Entschlüsse zuständig, die vom Gläubigerausschuss entsprechend überwacht werden müssen.3) Insoweit beurteilen Insolvenzverwalter und Gläubigerausschuss nicht nur die Rechtmäßigkeit von verfahrensnotwendigen Handlungen bei der Betriebsfortführung, sondern auch deren unternehmerische Zweckmäßigkeit. Der BGH hat anerkannt, dass Insolvenzverwalter ohne lange Einarbeitungszeit und oftmals 2 auf lückenhafter Informationsgrundlage wirtschaftliche Ermessensentscheidungen treffen müssen,4) welche das Risiko einer persönlichen Verantwortlichkeit in sich tragen. Bleiben bei einer einstweiligen Betriebsfortführung die angestrebten wirtschaftlichen Erfolge am Ende aus, wird aber nicht selten aus dem Kreise der Insolvenzgläubiger die persönliche Haftung von Insolvenzverwalter und Gläubigerausschuss aufgrund eines (vermeintlichen) Quotenschadens geltend gemacht („interne Verantwortlichkeit“, §§ 60 Abs. 1, 92 Satz 1 InsO).5) Darüber hinaus besteht die Gefahr der persönlichen Haftung für Masseverbindlichkeiten, soweit diese nicht aus der Insolvenzmasse bedient werden können (§ 61 InsO); auch Massegläubiger können einen Quotenschaden erleiden, wenn ein gemeinschaftlich erlittener Schaden auf eine Masseschmälerung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit zurückgeht. Nicht selten geben (vorläufige) Insolvenzverwalter Erklärungen gegenüber Lieferanten und Kunden des insolventen Unternehmens ab, um die Weiterbelieferung und die Warenabnahme zu unterstützen.6) Diese Erklärungen an den Rechtsverkehr können potenzielle Haftungsgefahren in sich tragen,7) wenn der Insolvenzverwalter besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch nimmt8) oder eine Garantieerklärung gegenüber den Beteiligten abgibt9) („externe Verantwortlichkeit“). Schließlich bewegt sich der (vorläufige) Insol___________ 1) 2)
3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
Zu den haftungsrechtlichen Folgen vgl. Gundlach/Frenzel/Jahn, ZInsO 2007, 363 ff. Zur Definition des Merkmals „unternehmerische Ermessensentscheidungen“ vgl. Bachmann, ZHR 177 (2013) 1 ff.; Bosch/Lange, JZ 2009, 225 ff.; Falkenhausen, NZG 2012, 644 ff.; Fest, NZG 2011, 540 ff.; Fleischer, NZG 2011, 521 ff.; Redeke, NZG 2009, 496 ff. S. Berger/Frege, ZIP 2008, 204 ff.; Berger/Frege/Nicht, NZI 2010, 321 ff. BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, Rz. 44 f., BGHZ 159, 104 = ZIP 2004, 1107; vgl. nunmehr BGH Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, BGHZ 225, 90 ff. = ZIP 2020, 1080. Vgl. Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 1 f. m. w. N.; Meyer/Schulteis, DZWIR 2004, 319 ff. Vgl. K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 47 m. w. N. K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 44 ff. BGH, Urt. v. 12.10.1989 – IX ZR 245/88, ZIP 1989, 1584 ff.; BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, NZI 2005, 500 ff. = ZIP 2005, 1327 ff. OLG Rostock, Urt. v. 4.10.2004 – 3 U 158/03, ZIP 2005, 220 ff.
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§ 44
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
venzverwalter bei seiner Tätigkeit i. R. des Arbeits-, Sozial-, Steuer- und Ordnungsrechts10) und kann insoweit Adressat einer persönlichen Haftung sein.11) Insoweit handelt der (vorläufige) Insolvenzverwalter i. R. der Unternehmensfortführung in einem haftungsträchtigen Terrain,12) in dem besondere Sorgfalt erforderlich ist. II.
Überblick über Haftungstatbestände
3 Für den Insolvenzverwalter sind bei der Betriebsfortführung unterschiedliche Haftungssituationen von Bedeutung: 1.
Insolvenzspezifische Haftung gemäß §§ 60, 61 InsO13)
4 Zunächst kommt die schuldhafte Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten durch den Verwalter in Betracht, die zu einer persönlichen Haftung gegenüber den Beteiligten gemäß § 60 Abs. 1 InsO führen kann.14) Die Haftung gemäß § 60 Abs. 1 InsO ist gegeben, wenn der Insolvenzverwalter eine ihm nach der InsO obliegende Rechtspflicht verletzt hat, die gerade gegenüber einem Beteiligten des Insolvenzverfahrens bestand,15) und dies zu einem Schaden bei dem Beteiligten geführt hat. Hier muss der Insolvenzverwalter für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einstehen (§ 60 Abs. 1 Satz 2 InsO). 5 Bei Betriebsfortführungen besonders relevant ist daneben § 61 Satz 1 InsO, wonach bei Masseunzulänglichkeit die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters gegenüber einem Massegläubiger i. S. von §§ 53 ff. InsO gegeben ist, wenn eine Masseverbindlichkeit nicht oder nicht voll erfüllt werden kann, die durch eine Rechtshandlung des Insolvenzverwalters begründet wurde. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn der Insolvenzverwalter bereits bei der Begründung der Verbindlichkeit nicht erkennen konnte, dass die Insolvenzmasse zur Erfüllung der Verbindlichkeit voraussichtlich nicht ausreichen wird.16) 6 § 61 InsO regelt demnach eine insolvenzspezifische Pflicht gegenüber den Massegläubigern, Masseverbindlichkeiten nicht einzugehen, wenn nicht deren Erfüllung aus der Insolvenzmasse gesichert erscheint.17) Die Vorschrift wurde zum Schutz von Massegläubigern in die InsO aufgenommen, die aufgrund einer Unternehmensfortführung mit der Insolvenzmasse in wirtschaftliche Beziehung treten und deren Vermögen gemehrt oder ihr einen sonstigen Vorteil verschafft haben.18) Der Gesetzgeber möchte hiermit Unternehmensfortführungen erleichtern: Der Verwalter findet eher Geschäftspartner, die der Masse Kredit gewähren, wenn die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters das Ausfallrisiko ___________ 10) Zur Umwelthaftung vgl. Eckardt, AbfallR 2008, 197 ff.; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 141 ff., 238 ff., 247 ff. 11) Vgl. K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 48. 12) Laws, MDR 2004, 1149 ff.; Meyer/Schulteis, DZWIR 2004, 319 ff.; Meyer-Löwy/Poertzgen, ZInsO 2004, 363 ff.; K. Schmidt, NJW 1987, 812; Schultz, ZInsO 2015, 529; zur Haftungsprävention vgl. Ehlers, ZInsO 2011, 458 ff.; zur Versicherbarkeit vgl. Weisemann/Nisters, DZWIR 1999, 138 ff. 13) Vgl. Adam, VersR 2012, 1226 ff.; Gehrlein, ZInsO 2011, 1713 ff.; Zugehör, ZInsO 2006, 857 ff. 14) Die Rechtsgeschäfte des Verwalters selbst bleiben aber trotz einer Pflichtverletzung grundsätzlich wirksam (OLG Koblenz, Urt. v. 29.12.2020 – 3 U 383/20, Rz. 32 ff., NZI 2021, 277), es sei denn, es handelt sich um ein insolvenzzweckwidriges Geschäft (dazu BGH, Urt. v. 12.9.2019 – IX ZR 16/18, Rz. 12, NZI 2019, 893), BGH, Urt. v. 14.6.2018 – IX ZR 232/17, BGHZ 219, 98 ff. = ZIP 2018, 1451; BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, BGHZ 225, 90 ff. = ZIP 2020, 1080. 15) Zum Beteiligtenbegriff s. Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 5; Pape in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 33; K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 6. 16) Vgl. K. Schmidt-Thole, InsO, § 61 Rz. 6. 17) K. Schmidt-Thole, InsO, § 61 Rz. 1. 18) BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236 f. = ZIP 2005, 131; Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129 f.; Pape in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 16 ff.
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§ 44
vermindert.19) Hierin liegen zugleich Grund und Grenze für diese Haftung, die deshalb nicht eingreift, wenn der Insolvenzverwalter die Entstehung der Masseverbindlichkeiten nicht veranlasst hat oder bei ihrer Begründung nicht erkennen konnte, dass die Insolvenzmasse zur Bedienung nicht ausreichen wird.20) Die häufigsten Anwendungsfälle für § 61 InsO sind Vertragsabschlüsse durch den Insol- 7 venzverwalter, die Erfüllungswahl gemäß §§ 103 f. InsO und die unterlassene Kündigung von Dauerschuldverhältnissen zum frühestmöglichen Termin.21) Bei dem Anspruch aus § 61 InsO handelt es sich um einen Individualanspruch des jeweiligen Massegläubigers, der während des Insolvenzverfahrens von den jeweils geschädigten Massegläubigern gegen den Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann.22) Der BGH wendet aber § 92 Satz 2 InsO analog an, wenn der gemeinschaftlich erlittene Schaden durch eine Schmälerung der Insolvenzmasse nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit eintritt.23) 2. Allgemeines Haftungsrecht Daneben sind gerade im Verhältnis zu den Vertragspartnern des fortzuführenden Unter- 8 nehmens, d. h. zu den Massegläubigern, die allgemeinen zivilrechtlichen Haftungsnormen zu berücksichtigen. Nicht selten wird der (vorläufige) Insolvenzverwalter im Rechtsverkehr mit Kunden und Lieferanten bestimmte Erklärungen gegenüber den Vertragspartnern des Unternehmens abgeben, die potenziell Haftungsgefahren in sich tragen können. Hieraus können grundsätzlich vertragliche24), quasivertragliche (§ 311 Abs. 2 und 3 BGB)25) oder deliktische Ansprüche26) gegenüber dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter erwachsen.27) Rechtsgrund hierfür ist entweder eine vertragliche Mitverpflichtung des Insolvenzverwalters, eine Garantieerklärung,28) ein Verschulden beim Vertragsschluss als Sachwalter oder ein deliktisches Verschulden gemäß §§ 823, 826 BGB. Aus diesen Rechtsbeziehungen können Pflichten des Insolvenzverwalters i. R. der Betriebsfortführung resultieren, die nicht insolvenzspezifisch sind, sondern allgemeine Rechtspflichten begründen, die der Insolvenzverwalter als Verhandlungs- oder Vertragspartner zu erfüllen hat.29) 3.
Sonstige Haftungstatbestände aus dem öffentlichen Recht, dem Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht Neben die spezifische insolvenzrechtliche und die allgemeine zivilrechtliche Haftung des 9 Insolvenzverwalters tritt schließlich die persönliche Verantwortlichkeit und Haftung nach den Vorschriften des x Polizei- und Umweltrechts,30) ___________ 19) BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236 f. = ZIP 2005, 131; Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129 f. 20) BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236 f. = ZIP 2005, 131; K. Schmidt-Thole, InsO, § 61 Rz. 1. 21) BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236 f. = ZIP 2005, 131; Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129 f.; vgl. auch Adam, DZWIR 2008, 14 ff.; Richter/Völksen, ZIP 2011, 1800 ff. 22) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 23) BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 76 ff., BGHZ 225, 90. 24) S. BGH, Urt. v. 12.11.1987 – IX ZR 259/86, ZIP 1987, 1586 ff.; dazu Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 10 f. Rz. 51 f. 25) Zur Haftung wegen culpa in contrahendo vgl. BGH, Urt. v. 12.10.1989 – IX ZR 245/88, ZIP 1989, 1584 ff.; BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, NZI 2005, 500 ff. = ZIP 2005, 1327 ff.; K. SchmidtThole, InsO, § 60 Rz. 46. 26) Vgl. zu § 826 BGB im Zusammenhang mit der Entstehung von Masseverbindlichkeiten BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236 ff. = ZIP 2005, 131; K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 48. 27) Übersicht bei Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 41 ff. 28) S. OLG Rostock, Urt. v. 4.10.2004 – 3 U 158/03, ZIP 2005, 220 ff. 29) BGH, Urt. v. 25.1.2007 – IX ZR 216/05, ZIP 2007, 539 ff. 30) S. dazu Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 125 ff.; zu den öffentlich-rechtlichen Pflichten des Insolvenzverwalters vgl. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 247 ff.
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§ 44 x x
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
des Steuerrechts31) und des Arbeits- und Sozialrechts.32)
10 Insbesondere aus der Perspektive des öffentlichen Rechts kann die Betriebsfortführung dazu führen, dass der Insolvenzverwalter als verantwortlicher Handlungsstörer angesehen wird, z. B. als Anlagenbetreiber, und so in die persönliche Haftung als polizeirechtlicher Störer gerät.33) 11 Maßgeblich für die Beurteilung der Betreibereigenschaft hinsichtlich solcher Anlagen, die in die Sphäre eines insolventen Unternehmens fallen, ist bis heute eine Entscheidung des BVerwG.34) Hinsichtlich der Rechtsstellung eines Insolvenzverwalters ist zudem eine Entscheidung des VGH Kassel relevant, in der die Betreiberstellung eines Insolvenzverwalters für den Fall abgelehnt wurde, dass der Insolvenzverwalter lediglich Maßnahmen zur Gefahrenabwehr vornimmt.35) 12 Das BVerwG hatte ausgeführt, dass die Betreiberstellung zumindest dann gegeben ist, wenn der Konkursverwalter die in Rede stehende Anlage nach Eröffnung des Verfahrens „kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen“ fortführt (Übergang der Betreiberstellung). Es hat allerdings ausdrücklich offengelassen, ob dies auch dann gilt, „wenn er die Anlage sofort stilllegt“.36) 13 Der VGH Kassel hatte die ordnungsrechtliche Betreiberstellung eines Insolvenzverwalters im Hinblick auf ein Tanklager verneint, wenn der Insolvenzverwalter dieses Tanklager nicht fortführt, d. h. nicht wirtschaftlich für die Insolvenzmasse nutzt.37) Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich, dass in dem entschiedenen Fall eine Einstellung der Nutzung bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt war. Der Insolvenzverwalter hatte diese Nutzung des Tanklagers nicht wieder aufgenommen. Er hatte in der Zeitspanne zwischen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Freigabe des nicht mehr genutzten Tanklagers lediglich sichergestellt, dass die Dichtigkeit und die Funktionsfähigkeit der Sicherungseinrichtungen gewahrt sind. Er hatte damit lediglich i. R. der bestehenden Zustandsverantwortlichkeit38) Sorge dafür getragen, dass keine Gefahr für Gewässer etc. von der Sache ausgeht. Der VGH Kassel schlussfolgert, dass die Gefahrenabwehr i. R. der Zustandsverantwortlichkeit keine Betreiberstellung des Insolvenzverwalters begründet.39)
___________ 31) S. dazu Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 115 ff.; zu den steuerrechtlichen Pflichten des Insolvenzverwalters vgl. auch Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 238 ff. 32) S. dazu Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 105 ff.; Laws, ZInsO 2009, 57 ff.; zu den arbeitsrechtlichen Pflichten des Insolvenzverwalters vgl. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 141 ff. 33) Vgl. BVerwG, Urt. v. 22.10.1998 – 7 C 38.97, BVerwGE 107, 299 = ZIP 1998, 2167. 34) BVerwG, Urt. v. 22.10.1998 – 7 C 38.97, BVerwGE 107, 299 = ZIP 1998, 2167; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, BVerwGE 122, 75 = ZIP 2004, 2145. 35) VGH Kassel, Beschl. v. 20.4.2009 – 7 B 838/09, NZI 2009, 695 ff.; vgl. auch OVG Berlin, Beschl. v. 10.11.2009 – 11 N 30.07, NVwZ 2010, 594; OVG Lüneburg, Beschl. v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, ZIP 2010, 999 = NZI 2010, 235 ff.; VG Würzburg, Beschl. v. 3.2.2010 – W 4 S 09.1275, juris. 36) S. a. die Rezeption der Entscheidung bei Jarass, BImSchG, § 5 Rz. 73; Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 5 BImSchG Rz. 33. 37) VGH Kassel, Beschl. v. 20.4.2009 – 7 B 838/09, NZI 2009, 695, 698. 38) Die Zustandsverantwortlichkeit des Schuldners endet mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens; an ihre Stelle tritt die Zustandsverantwortlichkeit des Insolvenzverwalters, vgl. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 249. 39) VGH Kassel, Beschl. v. 20.4.2009 – 7 B 838/09, NZI 2009, 695, 698.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe III.
Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters
1.
Abgrenzung
§ 44
Im Hinblick auf die Haftungssituation bei der vorläufigen Insolvenzverwaltung ist zu unter- 14 scheiden zwischen der vorläufigen Insolvenzverwaltung mit gerichtlicher Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO (sog. „starke“ vorläufige Verwaltung) und der vorläufigen Insolvenzverwaltung ohne ein allgemeines Verfügungsverbot (§ 22 Abs. 2 InsO), bei der lediglich ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet wurde (sog. „schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung).40) Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter muss gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO das 15 schuldnerische Unternehmen bis zur Eröffnungsentscheidung fortführen, soweit nicht das Insolvenzgericht einer Stilllegung vorher zustimmt, um eine erhebliche Verminderung des Vermögens zu vermeiden. Hierbei entspricht seine Rechtsstellung weitestgehend derjenigen des endgültigen Insolvenzverwalters, was sich auch darin ausdrückt, dass die von ihm begründeten Verbindlichkeiten im eröffneten Insolvenzverfahren Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 2 InsO sind. Dagegen kann der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter Masseverbindlichkeiten 16 regelmäßig erst begründen, wenn er durch eine besondere Einzelermächtigung des Insolvenzgerichts hierzu ermächtigt wurde. Auch steuerrechtlich macht sich die Unterscheidung bemerkbar: der „starke“ vorläufige 17 Insolvenzverwalter ist bereits als ein Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO einzuordnen und damit potenziell von der Haftung gemäß § 69 AO bedroht. Der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter hingegen ist aufgrund seiner eingeschränkten Kompetenzen kein Vermögensverwalter i. S. von des § 34 Abs. 3 AO und daher nicht Adressat von § 69 AO. 2.
Insolvenzspezifische Haftung des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters im Eröffnungsverfahren
Der vorläufige Insolvenzverwalter ohne allgemeines Verfügungsverbot ist in seiner Rechts- 18 stellung davon abhängig, welche gerichtlichen Anordnungen seinen Wirkungsbereich definieren. Gemäß § 22 Abs. 2 InsO kann das Insolvenzgericht nach seinem Ermessen die Befugnisse des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters festlegen, wobei die gesetzlichen Befugnisse des vorläufigen „starken“ Insolvenzverwalters die Grenze bilden. Im Regelfall wird ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet.41) Die Pflicht zur einstweiligen Fortführung des Unternehmens kann ebenfalls im Beschluss angeordnet werden. Von dem Umfang der gerichtlichen Aufgabenzuweisung hängt auch die Reichweite der persönlichen Verantwortlichkeit ab. 2.1
Haftung gemäß § 60 InsO i. V. m. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO
Die Haftung gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO wegen der schuldhaften Verletzung von insol- 19 venzspezifischen Pflichten trifft gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO auch den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter. Denn das Gesetz trifft hier keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Typen der vorläufigen Insolvenzverwaltung. Dennoch ist aufgrund der unterschiedlichen Reichweite der Befugnisse und Pflichten des „schwachen“ vorläufigen ___________ 40) Zur Zulässigkeit einer „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung ohne Zustimmungsvorbehalt s. AG Düsseldorf, Beschl. v. 8.2.2011 – 503 IN 20/11, ZIP 2011, 443. 41) Vgl. aber AG Düsseldorf, Beschl. v. 8.2.2011 – 503 IN 20/11, ZIP 2011, 443.
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§ 44
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
Insolvenzverwalters auch ein eingeschränkter Bereich insolvenzspezifischer Pflichten gegeben, für deren Verletzung die Haftung gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO eingreift.42) 2.2
Haftung gemäß § 61 InsO
20 Grundsätzlich ist der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter nicht berechtigt, durch seine Handlungen Masseverbindlichkeiten zu begründen. § 55 Abs. 2 InsO ist hier nicht anwendbar.43) Deshalb kommt die persönliche Haftung gemäß § 61 InsO grundsätzlich nicht in Betracht, weil diese die pflichtwidrige Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den Insolvenzverwalter voraussetzt.44) 21 Allerdings kann der „schwache“ vorläufige Verwalter die Insolvenzmasse schuldrechtlich verpflichten, wenn eine besondere gerichtliche Ermächtigung gegeben ist. In BGHZ 151, 365 ff. weist der BGH45) darauf hin, dass es zwar nicht die Aufgabe des vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwalters mit Zustimmungsvorbehalt ist, von sich aus für die Erfüllung von Verbindlichkeiten zu sorgen, die im vorläufigen Insolvenzverfahren dadurch entstehen, dass die Gläubiger Leistungen an die Insolvenzschuldnerin erbringen. Hierfür müssen die Gläubiger grundsätzlich selbst sorgen, indem sie sich Sicherheiten bestellen lassen. Der BGH lässt es aber zu, dass das Insolvenzgericht den Insolvenzverwalter bis zur Grenze von § 22 Abs. 2 Satz 2 InsO zur Eingehung bestimmter Masseverbindlichkeiten ausdrücklich ermächtigen kann.46) Eine solche Ermächtigung muss nach Ansicht von Rechtsprechung und Literatur soweit konkretisiert sein, dass daraus die Belastung der späteren Insolvenzmasse im Wesentlichen zu erkennen ist.47) Der BGH führt aus, dass der Umfang der Ermächtigung aus Gründen der Rechtsklarheit und des gebotenen Schutzes von Vertragspartnern für diese jeweils aus der gerichtlichen Anordnung selbst unmissverständlich zu erkennen sein muss; es muss deutlich werden, mit welchen Einzelbefugnissen – nach Art und Umfang – der vorläufige Insolvenzverwalter ausgestattet ist. Der BGH stellt ferner klar, dass das Insolvenzgericht nicht pauschal Verfügungs- und Verpflichtungsermächtigungen in das Ermessen des Insolvenzverwalters stellen darf, sondern in jedem Fall selbst die einzelnen Maßnahmen bestimmt bezeichnen muss, zu denen der vorläufige Insolvenzverwalter berechtigt sein soll. Hiernach muss das Insolvenzgericht, welches den Ablauf des Eröffnungsverfahrens bestimmt, die Pflichten des Insolvenzverwalters exakt bestimmen. 22 Ferner muss das Insolvenzgericht: „[…] im Einzelnen die Rechte festlegen, die dem vorläufigen Insolvenzverwalter eingeräumt werden, damit er seine Pflichten zu erfüllen vermag“.
23 Eine dementsprechende Ermächtigung kann auch für bestimmte abgrenzbare Arten von Maßnahmen erfolgen.48) 24 Teilweise wird hieraus der Schluss gezogen, dass § 61 InsO für den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter analog angewendet werden muss, soweit dessen Befugnis reicht, auf der Grundlage einer insolvenzgerichtlichen Einzelermächtigung spätere Masseverbindlichkeiten zu begründen.49) Die ratio legis von § 61 InsO und die gesetzgeberische Zielvor___________ 42) S. Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 81 f. 43) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625; OLG Koblenz, Urt. v. 21.6.2016 – 3 U 974/15. 44) Vgl. BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 45) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625. 46) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625. 47) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625; Laroche in: HK-InsO, § 22 Rz. 56 m. w. N. 48) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625. 49) Vgl. Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 83 f.; Pape in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 2, Rz. 58 ff.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
stellung sprechen dafür, § 61 InsO im Fall der Einzelermächtigung analog anzuwenden. Auch der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter, der Masseverbindlichkeiten begründen darf, muss bei Eingehung der Masseverbindlichkeit – z. B. auf der Grundlage eines Vertragsschlusses – prüfen, ob die aus dem Geschäft resultierende Verbindlichkeit bei Fälligkeit bedient werden kann. Diese Prüfung sollte ihm grundsätzlich möglich sein, da ihm die gleichen Informationsrechte gegenüber dem Unternehmen zustehen wie dem „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter und insoweit ein Liquiditätsplan erstellt werden kann. 3.
Insolvenzspezifische Haftung des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters im Eröffnungsverfahren
Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter ist aufgrund der gesetzlichen Übertragung der 25 Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis in seiner Rechtsstellung dem endgültigen Insolvenzverwalter bereits so weit angenähert, dass die insolvenzspezifischen Haftungsvorschriften nach §§ 60, 61 InsO grundsätzlich auf ihn anzuwenden sind.50) In der Praxis hat dieser Umstand die Tendenz mit verstärkt, eine „starke“ vorläufige Insolvenzverwaltung überhaupt nicht anzuordnen, sondern auf den „schwachen“ vorläufigen Verwalter auszuweichen.51) 3.1
Haftung gemäß § 60 InsO i. V. m. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO
Die Haftung gemäß § 60 InsO wegen der schuldhaften Verletzung von insolvenzspezifi- 26 schen Pflichten trifft gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter, denn das Gesetz trifft hier keine Differenzierung zwischen den beiden Typen der vorläufigen Insolvenzverwaltung und der „starke“ vorläufige Verwalter ist hinsichtlich seiner Kompetenzen, Befugnisse und Pflichten dem endgültigen Verwalter weitgehend angenähert, so dass die haftungsrechtliche Gleichbehandlung gerechtfertigt ist. 3.2
Haftung gemäß § 61 InsO
Gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO entstehen Masseverbindlichkeiten, wenn die Verbindlich- 27 keiten durch einen vorläufigen Insolvenzverwalter begründet wurden, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen der Schuldnerin übergegangen ist. Die Norm stellt auf den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter ab, der in wesentlichen Teilen dem endgültigen Insolvenzverwalter entspricht.52) In der Kommentierung wird darauf hingewiesen, dass der vorläufige Insolvenzverwalter in der Regel nur dann wirklich handlungsfähig sei, wenn dessen Vertragspartner darauf vertrauen dürften, dass die vom Verwalter begründeten Verbindlichkeiten Masseverbindlichkeiten seien.53) Beim „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter führen dessen Rechtshandlungen ohne weiteres zur Begründung von Masseverbindlichkeiten und damit zur Anwendung von § 61 InsO. Insoweit ist bei der „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung besonders sorgfältig zu prüfen, ob die entstehenden Masseverbindlichkeiten aus der späteren Insolvenzmasse bedient werden können. Eine analoge Anwendung von § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO auf den „schwachen“ vorläufigen 28 Insolvenzverwalter wird hingegen in der Rechtsprechung abgelehnt.54) Soweit Einzeler-
___________ 50) 51) 52) 53) 54)
Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 81. Sehr weitgehend in diese Richtung AG Düsseldorf, Beschl. v. 8.2.2011 – 503 IN 20/11, ZIP 2011, 443. Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Homann, InsR, § 55 InsO Rz. 20. Vgl. nochmals Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Homann, InsR, § 55 InsO Rz. 20. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625; BGH, Urt. v. 24.1.2008 – IX ZR 201/06, NZI 2008, 295 ff. = ZIP 2008, 608.
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mächtigungen des Insolvenzgerichts vorliegen, führt auch dies nicht zur Anwendung von § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO.55) 4.
Allgemeine zivilrechtliche Haftung
4.1
Überblick
29 Neben der insolvenzspezifischen Haftung kann die Verletzung allgemeiner Pflichten in Betracht kommen, die den (vorläufigen) Insolvenzverwalter als Verhandlungs- oder Vertragspartner von Dritten treffen.56) Dies kann zu Ersatzpflichten führen. 30 Eine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters auf quasivertraglicher Grundlage – z. B. aus culpa in contrahendo i. V. m. § 311 Abs. 3 BGB – kommt nur in Betracht, wenn der (vorläufige) Insolvenzverwalter persönliche Pflichten ausdrücklich übernommen oder einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, an dem er sich festhalten lassen muss.57) Mit Blick auf die persönliche Haftung des Verwalters für eingegangene Verpflichtungen führt der BGH hierzu aus, dass die Geschäftspartner des Insolvenzverwalters durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gewarnt sind und sich bewusst sein müssen, dass sie bei Geschäften mit der Insolvenzmasse Risiken eingehen, insbesondere das Risiko der Masseunzulänglichkeit.58) Deshalb werde vom Insolvenzverwalter nicht verlangt, dass er auf die „regelmäßig vorhandenen, im allgemeinen auch bekannten Gefahren“ hinweist, die Geschäfte mit der Insolvenzmasse, insbesondere an diese erbrachte Vorleistungen, zwangsläufig mit sich bringen. Der Insolvenzverwalter sei nur Interessenvertreter der Insolvenzmasse als Interessenträgerin und stünde insoweit nicht anders als Vorstände und Geschäftsführer juristischer Personen oder ein Testamentsvollstrecker, die bei Vertragsschluss für den Interessenträger ebenfalls grundsätzlich nicht aus culpa in contrahendo haften. Deshalb werde eine persönliche Verantwortlichkeit erst unter besonderen Voraussetzungen begründet, wenn eine eigene Pflicht ausdrücklich übernommen, ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde oder eine unerlaubte Handlung gegeben ist (§§ 823 ff. BGB). Nach Ansicht von Rechtsprechung und Literatur reichen allgemeine Aussagen gegenüber Gläubigern, z. B. die Zahlungen aller Lieferungen und Leistungen seien gesichert, für die Entstehung eines besonderen Vertrauenstatbestandes noch nicht aus.59) 4.2
Persönliche Haftungsübernahme und Garantie
31 Die Haftungsübernahme durch den Insolvenzverwalter bei Vertragsschlüssen für die Insolvenzmasse setzt voraus, dass der Insolvenzverwalter klar und eindeutig zum Ausdruck bringt, er wolle eine über die gesetzliche Haftung hinausgehende persönliche Einstandspflicht übernehmen. Der BGH geht davon aus, dass eine allgemein gegenüber Lieferanten und Gläubigern gemachte Aussage, die Zahlung aller Lieferungen und Leistungen sei gesichert, wohl nicht zur Begründung einer persönlichen Einstandspflicht genügen dürfte.60)
___________ 55) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 365 ff. = ZIP 2002, 1625. 56) BGH, Urt. v. 25.1.2007 – IX ZR 216/05, ZIP 2007, 539 ff. 57) BGH, Urt. v. 5.10.1982 – VI ZR 261/80, BGHZ 85, 75 ff. = ZIP 1982, 1458; BGH, Urt. v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, BGHZ 100, 346 ff. = ZIP 1987, 650; vgl. auch K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 47. 58) BGH, Urt. v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, BGHZ 100, 346 ff. = ZIP 1987, 650. 59) S. Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 42; BGH. Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 60) BGH. Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; vgl. auch OLG Rostock, Urt. v. 4.10.2004 – 3 U 158/03, ZIP 2005, 220 ff.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe 4.3
§ 44
Deliktische Haftung
Eine deliktische Haftung des Insolvenzverwalters gemäß §§ 823 ff. BGB kann neben der 32 insolvenzspezifischen Haftung gemäß § 60 InsO bestehen.61) Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der (vorläufige) Insolvenzverwalter mit einer Handlung Pflichten aus der InsO und allgemeine zivilrechtliche Pflichten zugleich schuldhaft verletzt, z. B. die Rechte von Aus- oder Absonderungsberechtigten vereitelt, indem deren Eigentum zerstört wird. In solchen Situationen haftet neben dem Insolvenzverwalter zudem auch die Insolvenzmasse analog § 31 InsO.62) Der vorläufige „starke“ Insolvenzverwalter ist wie der endgültig bestellte Insolvenzver- 33 walter für die Einhaltung von Verkehrssicherungspflichten verantwortlich.63) Eine Haftung gemäß § 826 BGB wegen Masseunzulänglichkeit kommt nur in Betracht, 34 wenn der Insolvenzverwalter den Geschäftspartner über die Risiken des abzuschließenden Geschäfts täuscht, insbesondere die Zulänglichkeit der Masse vorspiegelt und dadurch den Geschäftsverkehr zum Vertragsschluss verleitet und einen Schaden bewusst in Kauf nimmt. 5.
Haftung aus steuerrechtlichen Vorschriften64)
Soweit ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit allgemeinem Verfügungsverbot bestellt wurde, 35 ist dieser als Vermögensverwalter i. S. von § 34 Abs. 3 AO zu behandeln. Er muss gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AO die steuerlichen Pflichten des Insolvenzschuldners erfüllen und gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 AO dafür sorgen, dass die Steuern aus der von ihm verwalteten Insolvenzmasse abgeführt werden. Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter haftet gemäß § 69 Satz 1 AO persönlich, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihm auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Das Gleiche gilt, wenn Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. 6.
Sonstige Haftungsvorschriften
Die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters kann sich ferner aus sonstigen Vor- 36 schriften, z. B. aus solchen des öffentlichen Rechts, ergeben. Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter kann Betreiber einer Anlage sein und nach polizeirechtlichen Vorschriften haften (siehe oben Rz. 9–13). IV.
Haftung des Insolvenzverwalters
1.
Insolvenzspezifische Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO
1.1
Der Tatbestand des § 60 InsO
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten65) zum Schaden- 37 ersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft66) diejenigen verfahrensspezifischen Pflichten ver___________ 61) Vgl. BGH, Urt. v. 9.5.1996 – IX ZR 244/95, NJW 1996, 2233 ff.; K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 48. 62) S. Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 10, 11; BGH, Beschl. v. 29.6.2006 – IX ZR 48/04, NZI 2006, 592; a. A. Eckardt, KTS 1997, 441 ff., Jaeger-Gerhardt, InsO, § 60 Rz. 78. 63) BGH, Urt. v. 17.9.1987 – IX ZR 156/86, ZIP 1987, 1398 ff.; Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 14. 64) Vertiefend Skauradszun/Schmidt, ZInsO 2014, 1784 ff. 65) Vgl. zum Begriff der Beteiligten Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 5: Beteiligter ist, wessen Interessen durch eine Verletzung der dem Insolvenzverwalter obliegenden insolvenzspezifischen Pflichten unmittelbar beeinträchtigt werden können. 66) Vgl. zum Verschuldensmaßstab Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 28 ff.; Pape in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 38 ff.
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letzt, die ihm nach der InsO gegenüber den Beteiligten obliegen. Der Insolvenzverwalter muss für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einstehen (§ 60 Abs. 1 Satz 2 InsO). Aus § 60 Abs. 1 InsO ergeben sich mannigfache insolvenzspezifische Pflichten des Verwalters, insbesondere zur Inbesitznahme (§ 148 InsO), Erhaltung und Mehrung der Masse67) sowie bei der Verwertung von Massegegenständen und der Verteilung. Danach muss der Verwalter die Masse ermitteln, auch soweit sich Gegenstände im Ausland befinden, anfechtbare Rechtshandlungen und Ansprüche gegen Gesellschafter und Leistungsorgane prüfen, Prozesse führen, soweit dies wirtschaftlich vertretbar ist. Die Masse ist zu versichern, ggf. sind Gegenstände frei zu geben, wenn die Kosten der Verwalter die Erträge der Verwertung übersteigen. 38 Ferner trifft den Verwalter ein allgemeines Wertmehrungsgebot. Die Anlage von Massegeldern muss sich an den Kriterien Werterhaltung, Liquidität und Rentabilität orientieren, ohne dass der Verwalter besonders günstige Anlagemöglichkeiten zu ermitteln hat.68) Geschäftschancen sind für die Masse wahrzunehmen; der Verwalter darf sie nicht für sich persönlich nutzen.69) Den Verwalter treffen aus § 60 InsO ferner Pflichten gegenüber einzelnen Beteiligten, insbesondere den Massegläubigern, den Aus- und Absonderungsberechtigten und den Insolvenzschuldnern, deren Rechte und Interessen im Insolvenzverfahren zu beachten sind.70) 39 Verschulden von Personen, die der Insolvenzverwalter bei der Erfüllung seiner sich aus § 60 Abs. 1 InsO ergebenden insolvenzspezifischen Pflichten heranzieht, hat der Verwalter nach § 278 BGB wie eigenes Verschulden zu vertreten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Dritte in einer vertraglichen Beziehung zur Insolvenzmasse oder zum Verwalter steht.71) Maßgeblich ist, dass der Verwalter ihn mit der Pflichtenwahrnehmung betraut hat. Nach § 60 Abs. 2 InsO ist der Verwalter für Angestellte des Schuldners jedoch nicht verantwortlich, soweit er sie i. R. ihrer vorinsolvenzlichen Tätigkeit beim Schuldner einsetzen „muss“, insbesondere weil sie über besonderes Knowhow verfügen. Voraussetzung für § 60 Abs. 2 InsO ist jedoch, dass der Angestellte nicht evident ungeeignet ist. In jedem Falle bleibt der Verwalter für besonders bedeutsame Entscheidungen verantwortlich; auch trifft ihn eine Überwachungspflicht (§ 60 Abs. 2 a. E. InsO). Für die deliktische Haftung gilt § 831 BGB. 1.2
Gesamtschaden
40 Gemäß § 92 Satz 1 InsO können Schäden, die die Gläubiger gemeinschaftlich72) durch eine Verminderung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlitten haben (sog. Gesamtschäden), während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur durch einen Insolvenzverwalter geltend gemacht werden.73) § 92 InsO bildet keine Anspruchsgrundlage für derartige Schadensersatzansprüche. Vielmehr regelt § 92 InsO die Art und Weise der Geltendmachung eines gemeinschaftlich erlittenen ___________ 67) BGH, Urt. v. 26.6.2014 – IX ZR 162/13, NZI 2014, 757; BGH, Urt. v. 20.7.2017 – IX ZR 310/14, NZI 2017, 1749. 68) BGH, Urt. vom 20.7.2017 – IX ZR 310/14, Rz. 16 ff., NZI 2017, 1749; zuweilen erscheinen die Vorgaben des BGH etwas eng (Tagesgeldkonto, telefonische Verfügbarkeit); dazu Berger, ZInsO 2017, 2100 ff.; Böhme, ZInsO 2017, 1468. 69) BGH, Urt. v. 16.3.2017 – IX ZR 253/15, Rz. 16 ff., NJW 2017, 1749 = NZI 2017, 442; OLG Köln, Urt. v. 9.8.2017 – 2 U 77/15, ZInsO 2018, 460; dazu Berger, ZInsO 2017, 2100, 2103 ff. 70) BGH, Urt. v. 16.3.2017 – IX ZR 253/15, Rz. 16 ff., NJW 2017, 1749 = NZI 2017, 442; OLG Köln, Urt. v. 9.8.2017 – 2 U 77/15, ZInsO 2018, 460. 71) Schoppmeyer in: MünchKomm-InsO, § 60 Rz. 93. 72) Zur Abgrenzung zum Einzelschaden s. K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 52. 73) Soweit das Insolvenzverfahren aufgehoben ist, kann der einzelne Gläubiger Schadensersatz in Höhe der auf ihn entfallenden Quote verlangen, BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, Rz. 7, NJW-RR 2016, 686.
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Schadens. Die Norm errichtet zulasten der einzelnen Gläubiger eine Rechtsverfolgungssperre. Gesamtschadensansprüche sollen gebündelt durch eine Person verfolgt werden. Diese Beschränkung dient der Gleichbehandlung der Gläubiger, der Praktikabilität und der Prozessökonomie, da nicht eine Vielzahl von Prozessen wegen Quotenschäden geführt werden müssen.74) Soweit eine Betriebsfortführung schuldhaft zu einer Verminderung der Insolvenzmasse 41 führt, weil infolge unsachgemäßer Verwaltungs- und Verwertungshandlungen des Insolvenzverwalters75) das Vermögen in seinem bei Eröffnung vorhandenen Wert nicht realisiert werden kann, ist der hieraus resultierende Schaden ein Gesamtschaden der Insolvenzgläubiger. Er kann nicht von den Insolvenzgläubigern individuell durchgesetzt werden. Ein solcher Anspruch auf Ersatz des Gesamtschadens würde sich gegen den Insolvenzverwalter (§ 60 Abs. 1 InsO) und ggf. gegen die Mitglieder des Gläubigerausschusses (§ 71 Satz 1 InsO) richten. Der BGH wendet § 92 Satz 2 InsO nunmehr analog auch auf Massegläubiger an, soweit deren gemeinschaftlich erlittener Schaden durch eine Schmälerung der Insolvenzmasse nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit eintritt.76) Richten sich diese Schadensersatzansprüche gegen den Insolvenzverwalter, sind sie grund- 42 sätzlich von einem neu bestellten Insolvenzverwalter zu verfolgen (§ 92 Satz 2 InsO). Als milderes Mittel in Relation zur Bestellung eines neuen Insolvenzverwalters hat die Rechtsprechung und Literatur die Einsetzung eines Sonderinsolvenzverwalters anerkannt.77) Haben Beteiligte einen Einzelschaden erlitten, können sie den entsprechenden Schadensersatzanspruch schon während des Insolvenzverfahrens eigenständig verfolgen.78) 1.3
Fallgruppen
1.3.1 Fehlerhafte Entscheidung über die Fortführung des Unternehmens Der Insolvenzverwalter ist unmittelbar im Anschluss an die Eröffnung des Insolvenzver- 43 fahrens verpflichtet, das Unternehmen der Schuldnerin fortzuführen, um der Gläubigerversammlung im Berichtstermin die Entscheidung über den Verfahrensfortgang zu ermöglichen (vgl. § 157 Satz 1 InsO).79) Die Fortführungspflicht untermauert die Gläubigerautonomie. Die Möglichkeit der Gläubigerversammlung, über den Fortgang des Verfahrens einschließlich einer Fortführungsmöglichkeit zu beschließen, gewinnt lediglich an Bedeutung, wenn bis dahin das Unternehmen fortzuführen ist und fortgeführt wird. Insofern ist der Insolvenzverwalter in seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit beschränkt. Er hat das Unternehmen fortzuführen, es sei denn, es drohen erhebliche Verluste.80) Auch muss die Erfüllbarkeit der neu entstehenden Masseverbindlichkeiten sichergestellt ___________ 74) Kayser in: HK-InsO, § 92 Rz. 1; Blersch/Goetsch/Haas-Blersch/v. Olshausen, BK-InsO, § 92 Rz. 1; Pohlmann in: HambKomm-InsO, § 92 Rz. 1. 75) K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 11, 12. 76) BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 76 ff., BGHZ 225, 90. 77) OLG Köln, Beschl. v. 1.6.2006 – 2 U 50/06, ZInsO 2007, 218; BGH, Beschl. v. 25.1.2007 – IX ZB 240/05, ZIP 2007, 548 = NZI 2007, 284; BGH, Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 45/05, ZIP 2007, 547 = NZI 2007, 237; BGH, Beschl. v. 29.5.2008 – IX ZB 303/05, ZIP 2008, 1294 = NZI 2008, 485; BGH, Beschl. v. 5.2.2008 – IX ZB 187/08, ZIP 2009, 529 = NZI 2009, 238; Pape in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 28. 78) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104, 111 = ZIP 2004, 1107; OLG Köln, Beschl. v. 1.6.2006 – 2 U 50/06, ZInsO 2007, 218. 79) Vgl. zum Spannungsfeld zwischen Verwalterermessen und Gläubigermitbestimmung K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 12. 80) Vgl. zum Merkmal der „erheblichen Verluste“ und zur dahingehenden Prognose Janssen in: MünchKommInsO, § 158 Rz. 16.
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werden.81) Insofern hat der Insolvenzverwalter in dieser Phase zu prüfen, ob das Unternehmen ohne erhebliche Verminderung des Vermögens (i. S. von § 22 InsO) bis zum Berichtstermin fortgeführt werden kann. Der Insolvenzverwalter hat Chancen und Risiken der Betriebsfortführung sorgfältig gegeneinander abzuwägen und eine sachgerechte Prognoseentscheidung herzuleiten.82) 44 Dies drückt sich auch in § 158 Abs. 1 InsO aus, wonach der Insolvenzverwalter im Falle einer beabsichtigten Stilllegung des Geschäftsbetriebs vor dem Berichtstermin die Zustimmung des Gläubigerausschusses einzuholen hat. Gemäß § 158 Abs. 2 Satz 1 InsO muss vor der Einstellung der Geschäftstätigkeit der Schuldner angehört werden. Schließlich kann das Insolvenzgericht auf Antrag des Schuldners die Stilllegung untersagen, wenn diese ohne eine erhebliche Verminderung der Insolvenzmasse bis zum Berichtstermin (§§ 29 Abs. 1 Nr. 1, 156 InsO) aufgeschoben werden kann. 45 Die Entscheidung des Insolvenzverwalters, diesem grundsätzlichen Fortführungsgebot nachzukommen, kann zu einer persönlichen Verantwortlichkeit führen. Bereits in der Entscheidung BGHZ 100, 346 ff., die noch zur KO und vor Geltung von § 61 InsO ergangen war, hatte der BGH ausgeführt, dass eine persönliche Haftung gegenüber Massegläubigern entstehen kann, zu deren Befriedigung die Insolvenzmasse nicht ausreicht, wenn der Insolvenzverwalter ein defizitäres Unternehmen fortführt. In der Entscheidung heißt es, der Verwalter hafte persönlich, „[…] wenn er das Unternehmen, obwohl feststand, dass es nicht wenigstens seinen Aufwand erwirtschaften wird, nicht sofort liquidiert, sondern weitergeführt hat und bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters hätte erkennen können und müssen, dass er die mit der Fortführung notwendig erwachsenden Verbindlichkeiten nicht aus der Masse werde tilgen können.“83)
46 Demnach hat der Insolvenzverwalter zumindest in der Phase bis zum Berichtstermin zu prognostizieren, welches Ergebnis die Fortführung haben wird. Die strategische Entscheidungsbefugnis der Gläubiger gemäß § 157 InsO soll faktisch nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Insolvenzverwalter das Unternehmen bereits vor dem Berichtstermin stilllegt. Die Maßgabe für die vorläufige Fortführung liefert § 158 Abs. 2 InsO: Danach ist das Unternehmen zumindest bis zum Berichtstermin fortzuführen, soweit dies ohne erhebliche Verminderung der Insolvenzmasse möglich ist. Lediglich bei erheblichen Verlusten ist der Betrieb stillzulegen. 47 Dies muss der Insolvenzverwalter entsprechend überwachen. Hierzu hat er die voraussichtliche Zeit der Betriebsfortführung zu planen und Finanz- und Ergebnispläne (Liquiditätsplan, Plan-, Gewinn- und Verlustrechnung) zu erstellen und diese fortlaufend den tatsächlichen Entwicklungen anzupassen.84) Decken die laufenden Einnahmen nicht mehr die Ausgaben, ist eine weitere Betriebsfortführung lediglich dann gerechtfertigt, wenn der Insolvenzverwalter davon ausgehen kann, dass das Unternehmen später zu einem Preis veräußert werden kann, der abzüglich der aufgelaufenen Verluste den Zerschlagungswert des Unternehmens übersteigt.85)
___________ 81) 82) 83) 84) 85)
K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 12. Vgl. Janssen in: MünchKomm-InsO, § 158 Rz. 16, 17. BGH, Urt. v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, BGHZ 100, 346 ff. = ZIP 1987, 650. Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 148 Rz. 40; Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199, 211. Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 148 Rz. 42; Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199, 212.
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1.3.2 Strategische Verwertungsentscheidung Zu Beginn des Insolvenzverfahrens hat der Insolvenzverwalter i. R. der Inbesitznahme 48 (§ 148 Abs. 1 InsO), den Verwaltungs- und Verwertungspflichten (§§ 80 Abs. 1, 148 Abs. 1, 159 InsO) sowie der Pflicht zur vorläufigen Fortführung des Unternehmens (§ 158 Abs. 1 InsO) strategische Entscheidungen für das gesamte Verfahren zu treffen. Der Insolvenzverwalter hat insbesondere zu beurteilen, mit welcher Verfahrensart die bestmöglichen wirtschaftlichen Ergebnisse erreicht werden können.86) Er hat zu beurteilen, ob die Sanierungsfähigkeit und Sanierungswürdigkeit des Unternehmens gegeben sind und ob ggf. das Planvorlagerecht in Anspruch genommen werden soll (vgl. § 218 InsO).87) Bei dieser Entscheidung hat sich der Insolvenzverwalter an den Zielen des Insolvenzver- 49 fahrens zu orientieren. Gemäß § 1 InsO dient das Insolvenzverfahren dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt wird. Demnach ist die bestmögliche gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger anzustreben. Der Insolvenzverwalter hat folglich die Verfahrensvariante auszuwählen, die die bestmögliche Masseverwertung verspricht.88) Hierbei wäre eine überstürzte Verfahrensabwicklung zu Zerschlagungswerten oder eine übereilte Unternehmensveräußerung89) in gleicher Weise pflichtwidrig wie das Erleiden von erheblichen Verlusten durch fehlerhafte Fortführung eines Betriebes.90) Hat sich der Insolvenzverwalter zur Betriebsfortführung entschlossen, ist er zu allen Maß- 50 nahmen berechtigt und verpflichtet, die der Fortführung des Schuldnerbetriebes dienen und eine vorzeitige Stilllegung verhindern. Hierbei hat er fortlaufend zu überprüfen, ob die Fortführung des Unternehmens die Insolvenzmasse nicht ungünstig beeinflusst, also zu erheblichen Verlusten führt.91) Erkennt der Insolvenzverwalter, dass die Betriebsfortführung weitere und erhebliche Ver- 51 luste verursacht, so ist er grundsätzlich verpflichtet, den Betrieb stillzulegen bzw. entsprechende Beschlüsse der Gläubigerversammlung herbeizuführen.92) Aus diesem Grunde hat der Insolvenzverwalter für die Zwecke der Betriebsfortführung 52 Finanz- und Liquiditätspläne, Plan-, Gewinn- und Verlustrechnungen zu erstellen und fortlaufend den tatsächlichen Entwicklungen im Unternehmen anzupassen.93) Demnach ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, ständig, z. B. durch Zwischenbilanzen und Zwischenrechnungen und ggf. monatliche Erfolgsrechnungen, die Rentabilität des von ihm fortgeführten Unternehmens zu kontrollieren.94) Der Verwalter hat zu prüfen, dass die finanziellen Voraussetzungen einer Betriebsfortführung gegeben sind oder geschaffen werden können. Hierzu sind die Beziehungen des Unternehmens zu Lieferanten und Kunden zu analysieren. Die Marktlage ist zu prüfen. Diese Pflichten sind zunächst Rechtspflichten. ___________ 86) Vgl. BGH, Urt. v. 4.12.1986 – IX ZR 47/86, BGHZ 99, 151 = ZIP 1987, 115; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 60 Rz. 16. 87) S. auch Antoni, NZI 2013, 236 ff. 88) BGH, Urt. v. 7.12.1977 – VIII ZR 164/76, BGHZ 70, 87 ff.; BGH, Urt. v. 22.1.1985 – VI ZR 131/83, ZIP 1985, 423 ff. 89) Vgl. OLG Rostock, Urt. v. 8.4.2011 – 5 U 31/08, NZI 2011, 488 ff., wonach im Zweifel die vorübergehende Verpachtung an den potenziellen Erwerber vorzugswürdig ist, um dem Risiko der Veräußerung unter Wert zu begegnen. 90) BGH, Urt. v. 22.1.1985 – VI ZR 131/83, ZIP 1985, 423; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 60 Rz. 14, 16. 91) Vgl. Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 100 f. 92) BGH, Urt. v. 4.12.1986 – IX ZR 47/86, BGHZ 99, 151, 156 = ZIP 1987, 115. 93) Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 100 mit Verweis auf R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 777, 785; Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199, 211. 94) OLG Koblenz, Urt. v. 16.2.1956 – 5 U 606/54, KTS 1956, 60; Uhlenbruck-Mock, InsO, § 80 Rz. 100.
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Denn der Verwalter handelt rechtlich fehlerhaft, wenn er die Lage des Unternehmens und die Sachverhalte im Einzelnen unsorgfältig aufklärt und deshalb zu falschen rechtlichen Entschlüssen gelangt.95) Bei der Fortführung des Unternehmens ist die Grundlage seiner Entscheidung eine Prognose der aktuellen Liquiditätslage sowie eine realistische Einschätzung der zukünftigen Geschäftsentwicklung für die Dauer der Fortführung.96) Der Insolvenzverwalter hat hierbei alle Erkenntnismittel auszuschöpfen und handelt fahrlässig, wenn er die Sachlage unzureichend aufklärt und infolgedessen die Fortführungsfähigkeit falsch beurteilt.97) 1.3.3 Allgemeine unternehmerische Entscheidungen 53 Bei den unternehmerischen Entscheidungen eines Insolvenzverwalters sind gleiche oder ähnliche Anforderungen zu stellen, wie an jeden sonstigen Unternehmensleiter bzw. organschaftlichen Vertreter eines Unternehmens.98) Auch der BGH erkennt an, dass hinsichtlich der Haftungsnormen im Grundsatz eine Vergleichbarkeit besteht.99) Vor diesem Hintergrund hatten sich Stimmen in der Literatur dafür ausgesprochen, die Rechtsgrundsätze der Business Judgement Rule zu ordnungsgemäßem unternehmerischen Entscheidungen eines Vorstandes einer AG (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) bei der Verwalterhaftung entsprechend anzuwenden.100) Zur Begründung wurde angeführt, dass die Business Judgement Rule der Vermeidung von Rückschaufehlern diene, soweit unternehmerische Entscheidungen101) auf unsicherer Tatsachengrundlage und – wie in der Insolvenz – regelmäßig unter hohem Zeitdruck getroffen werden müssen.102) Die Gegenansicht lehnt die Anwendung der Business Judgement Rule mit dem Argument ab, die Situation der Insolvenzverwaltung sei mit derjenigen einer Geschäftsführung einer GmbH oder AG nicht vergleichbar, weil im Insolvenzverfahren andere Interessen der Beteiligten in Frage stehen.103) 54 Der BGH hat sich in seinem für die Verwalterhaftung grundlegenden Urteil vom 12.3.2020 gegen die Anwendung der Business Judgement Rule ausgesprochen.104) Im Ausgangspukt erkennt der BGH die Besonderheiten unternehmerischer Entscheidungen des Insolvenzverwalters freilich daraus an. Insbesondere stehe dem Verwalter ein weiter, vom Insolvenzzweck geprägter und mit der Vielschichtigkeit des Insolvenzverfahrens zunehmender Ermessensspielraum zu.105) Allerdings eröffne § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO einen ausreichenden Rahmen, um den Sorgfaltsanforderungen bei unternehmerischen Entscheidungen sachge___________ 95) 96) 97) 98) 99) 100)
101)
102) 103) 104) 105)
RG, Urt. v. 5.7.1897 – VI 204/97, RGZ 39, 97, 98; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 60 Rz. 14, 16 f. Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 26. BGH, Urt. v. 9.5.1996 – IX 244/95, ZIP 1996, 1183; Lohmann in: HK-InsO, § 60 Rz. 31. BGH, Urt. v. 16.3.2017 – IX ZR 253/15, Rz. 21, 25, NJW 2017, 1749, 1751 = NZI 2017, 442; vgl. zu dieser Ansicht Wellensiek in: FS Uhlenbruck, S. 199, 212; R.-D. Mönning, 1. Aufl., 1997, Rz. 777 ff. S. BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, Rz. 44 f., BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. So Berger/Frege, ZIP 2008, 204 ff.; Berger/Frege/Nicht, NZI 2010, 321 ff.; Frege/Nicht in: FS Wellensiek, S. 291 ff.; Uhlenbruck in: FS K. Schmidt, S. 1603 ff.; Oldiges, Die Haftung des Insolvenzverwalters unter der Business Judgment Rule, S. 114 ff., 135 ff.; Erker, ZInsO 2012, 199 ff.; a. A. Jungmann, NZI 2009, 80 ff.; Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 48 f.; differenzierend K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 14. Zum Merkmal der „unternehmerischen Entscheidung“ vgl. Bachmann, ZHR 177 (2013) 1 ff.; Bosch/Lange, JZ 2009, 225 ff.; Falkenhausen, NZG 2012, 644 ff.; Fest, NZG 2011, 540 ff.; Fleischer, NZG 2011, 521 ff.; Redeke, NZG 2009, 496 ff. Zur Begründung der Anwendbarkeit ausführlich Berger/Frege/Nicht, NZI 2010, 321 ff.; Frege/Nicht in: FS Wellensiek, S. 291 ff. So Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 48, 49; auch BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 41, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 32 ff., NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 28, 33, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303.
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recht zu bestimmen.106) Der darin vorgegebene Sorgfaltsmaßstab sei am „Wirtschaftlichkeitsgebot im Insolvenzverfahren“107) auszurichten. Der Insolvenzverwalter hat dabei allerdings einen Spielraum bei der Risikoeinschätzung. Dieser hängt davon ab, in welchem Stadium das Verfahren sich befindet. Zu Anfang des Verfahrens besteht ein erheblicher Spielraum. Nach einer „großzügig zu bemessenden“ Einarbeitungszeit muss der Insolvenzverwalter den Verfahrenszweck in den Vordergrund rücken und verstärkt die Interessen der Insolvenzgläubiger an einer bestmöglichen Befriedigung berücksichtigen. Die Schwelle zur persönlichen Haftung ist dabei nicht erst dann überschritten, wenn der Verwalter insolvenzzweckwidrige Handlungen vornimmt.108) Stets muss der Verwalter seine Entscheidungen auf der Grundlage angemessener Informationen treffen.109) Für nur objektiv ex post festzustellende Fehlentscheidungen haftet der Verwalter von vornherein nicht.110) Obgleich der BGH die Anwendung der Business Judgement Rule bei der Haftung des 55 Verwalters verneint, dürften die mit ihr verbundenen Verhaltensanforderungen auch weiterhin Bedeutung haben. Entschließt sich ein Insolvenzverwalter, den Geschäftsbetrieb des Schuldnerunternehmens fortzuführen, so sollte er die folgenden Maßgaben zu berücksichtigen: x
Richtet sich die Betriebsfortführung an den gesetzlichen Verfahrenszielen der Insolvenzordnung aus, insbesondere am Insolvenzzweck der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung?111)
x
Sind die mit der Betriebsfortführung verbundenen Verbindlichkeiten gedeckt?112)
x
Verspricht die Fortführung im Vergleich zur sofortigen Liquidation ein besseres oder zumindest gleiches Verfahrensergebnis?113)
x
Sind die notwendigen rechtlichen, wirtschaftlichen und administrativen Rahmenbedingungen abgesichert?
Demnach hat der Insolvenzverwalter bei seiner Entscheidung zu prüfen, ob
56
x
die Entscheidung über die Fortführung des Unternehmens allein nach insolvenzrechtlichen und unternehmerischen Gesichtspunkten erfolgt,
x
die Entscheidung nicht von Sonderinteressen oder sachfremden Erwägungen beeinflusst wird,
x
auf angemessener Tatsachenbasis entschieden wird,
x
bei der Entscheidung alle maßgeblichen Umstände zum Wohle der Gläubigergemeinschaft abgewogen werden und
x
die Entscheidung im Hinblick auf die Angemessenheit und Zweckdienlichkeit im guten Glauben erfolgt ist.114)
Im Falle eines Schadens, den die Insolvenzmasse durch eine unternehmerische Entschei- 57 dung des Verwalters erlitten hat, können Insolvenzgläubiger bestreiten, dass die unterneh___________ 106) 107) 108) 109) 110) 111)
BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 33, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 39, 47, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 38, 46, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 37, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 36, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303. BGH, Urt. v. 10.4.1979 – VI ZR 77/77, NJW 1980, 55; BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 26, NJW 2020, 1800, 1801 = ZRI 2020, 303; R.-D. Mönning in: Prütting, Insolvenzrecht 1996, S. 43, 48. 112) BGH, Urt. v. 4.12.1986 – IX ZR 47/86, BGHZ 99, 151 = ZIP 1987, 115; R.-D. Mönning in: Prütting, Insolvenzrecht 1996, S. 43, 48. 113) R.-D. Mönning in: Prütting, Insolvenzrecht 1996, S. 43, 49. 114) In Anlehnung an die Grundsätze zur Business Judgment Rule Berger/Frege, ZIP 2008, 204.
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merische Entscheidung auf einer genügenden Entscheidungsgrundlage basiert. Lediglich wenn die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig erhoben und verarbeitet worden sind, ist die unternehmerische Entscheidung grundsätzlich vertretbar und ein in ihr sich verwirklichendes wirtschaftliches Risiko führt nicht zur Haftung. 58 Bei der Herstellung einer genügenden Entscheidungsgrundlage hat sich der Insolvenzverwalter betriebswirtschaftlicher Analysemethoden zu bedienen. Er soll eine strategische und operative Unternehmensplanung erarbeiten. 59 Der Insolvenzverwalter muss zunächst Krisensymptome und Insolvenzursachen sorgfältig analysieren. Es müssen betriebswirtschaftliche Auswertungen erstellt werden, die als Grundlage einer langfristig strategischen und einer kurzfristig operativen Planung dienen können. Der Insolvenzverwalter muss eine in die Zukunft gerichtete Sanierungskonzeption und das „Leitbild des sanierten Unternehmens“ erstellen.115) Hierzu gehört, dass die strategische Ausgangsposition des Unternehmens erfasst und bewertet wird. Wichtige Analysepunkte sind: x
das Produkt- und Leistungsprogramm,
x
Kundengruppen- und Kundenprobleme,
x
Produktions- und Absatztechnologien.116)
60 Auf der Grundlage einer langfristigen strategischen Planung ist die operative Unternehmensplanung für die einzelnen Teilbereiche des Unternehmens vorzunehmen. Die eher grob definierten Strategien müssen in konkrete Maßnahmen übersetzt werden.117) Die operative Planung ist auf kürzere Zeithorizonte bezogen. Sie muss vom Insolvenzverwalter fortlaufend aktualisiert werden. Im Schrifttum wird vertreten, dass die strategische Ausgangsposition des sanierungsbedürftigen Unternehmens durch den Einsatz von Instrumenten der Umweltanalyse, der empirischen Planungsforschung und der internen Unternehmensanalyse bestimmt werden soll.118) 61 Untersucht werden muss das Wettbewerbsumfeld des Unternehmens: x
Marktsituation,
x
Branchensituation,
x
Aufstellung und erkennbare Perspektiven der Wettbewerber.
62 Ferner sollen strategische Erfolgsfaktoren beleuchtet werden: x
relativer Marktanteil,
x
relative Produktqualität,
x
Kapitalintensität.119)
63 Hierzu sind finanzwirtschaftliche Methoden und Kennzahlen zu verarbeiten. Die unternehmensinterne Analyse muss die Gründe für eventuell vorliegende Leistungsdifferenzen benennen. Sie muss auf die Struktur des sanierungsbedürftigen Unternehmens und seine Stärken und Schwächen (z. B. in Produktion, Forschung und Entwicklung, Marketing, Personal, Finanzen) eingehen.120) ___________ 115) Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 19; Nerlich/ Römermann-Kießling, InsO, § 148 Rz. 68 ff. 116) Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 22 f. 117) Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 19. 118) Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 19. 119) Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 19. 120) Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 22.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
§ 44
Ausgehend von der Analyse der strategischen Ausgangsposition sind die zur Fortführung 64 des Unternehmens maßgebenden strategischen operativen Maßnahmen abzuleiten. Mit ihnen soll das Unternehmen neu ausgerichtet werden: x
Schwächen in den Bereichen Produkt, Qualität und Marketing sind abzustellen.
x
Die richtige Organisationsform und Organisationsstruktur ist zu wählen.
x
Unternehmensinterne Prozesse und Zuständigkeiten sollen nachvollziehbar definiert und für alle Beteiligten durchsichtig sein.
x
Informations- und Kommunikationswege sollen reibungs- und verlustfrei gestaltet werden.
x
Bei Konzernunternehmen müssen Barrieren zwischen den einzelnen Gesellschaften abgebaut werden.
x
Die Führungsebenen sollen adäquat gestaltet, besetzt und überwacht werden.
x
Die Situation des gesamten Personals ist kritisch zu überprüfen.
x
Ein geeignetes Controllingsystem ist zu installieren.121)
1.3.4 Prüfung und Anzeige der Masseunzulänglichkeit122) Gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 InsO muss der Insolvenzverwalter dem Insolvenzgericht die 65 Masseunzulänglichkeit anzeigen, wenn zwar die Kosten des Verfahrens (§ 54 InsO) aus der Insolvenzmasse bestritten werden können, nicht aber die bereits fälligen sonstigen Verbindlichkeiten (§ 55 InsO), zu denen auch die oktroyierten Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO gehören (sog. Altmasseverbindlichkeiten). Dies gilt gemäß § 208 Abs. 1 Satz 2 InsO auch dann, wenn die Insolvenzmasse im Zeitpunkt der Fälligkeit der sonstigen Masseverbindlichkeiten zu deren Bedienung nicht ausreichen wird. Die Pflicht zur Anzeige ist dem Gesetz zu entnehmen, denn der Wortlaut von § 208 Abs. 1 Satz 1 InsO lautet: „[…] so hat der Insolvenzverwalter […] anzuzeigen.“
Allerdings enthält das Gesetz keine eindeutige Aussage dazu, zu welchem Zeitpunkt die 66 Masseunzulänglichkeit angezeigt werden muss.123) Nach h. M. hat der Insolvenzverwalter einen Entscheidungsspielraum im Hinblick auf den Zeitpunkt der Masseunzulänglichkeit.124) Der BGH spricht von einem „weiten Handlungsspielraum“, da die Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht zu begründen ist und vom Insolvenzgericht nicht nachgeprüft wird. Insoweit existiert nach Ansicht des BGH auch keine insolvenzspezifische Pflicht, die Masseunzulänglichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erklären, um die Einzelinteressen bestimmter Gläubiger zu schützen. Allerdings folgt hieraus nicht, dass der Insolvenzverwalter völlig frei in seiner Entscheidung ist. Denn wie der BGH in der Entscheidung IX ZB 261/08 gezeigt hat, muss der Insolvenzverwalter die Masse nach dem Verteilungsschlüssel des § 209 Abs. 1 InsO verteilen, soweit die Voraussetzungen des § 208 Abs. 1 InsO vorliegen, d. h. bei voraussichtlicher oder tatsächlicher Masseunzulänglichkeit.125) Hiernach kann die Einhaltung der Befriedigungsreihenfolge des § 209 Abs. 1 InsO nicht dadurch vom Verwalter umgangen werden, „[…] dass er die gebotene Anzeige einfach unterlässt.“126)
___________ Gietl/Schinhärl in: Wimmer/Dauernheim/Wagner/Gietl, Hdb. FAInsR, Kap. 27 Rz. 22, 41 ff., 102 ff. Vgl. auch Kirchhof, ZInsO 1999, 365 ff. BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/98, ZIP 2010, 2356 ff. BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/98, ZIP 2010, 2356 ff. m. w. N. des Schrifttums; BGH, Urt. v. 20.7.2017 – IX ZR 310/14, Rz. 25, NZI 2017, 753, 755. 125) BGH, Beschl. v. 19.11.2009 – IX ZB 261/08, ZIP 2010, 145 ff. 126) BGH, Beschl. v. 19.11.2009 – IX ZB 261/08, ZIP 2010, 145 ff. 121) 122) 123) 124)
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67 In der Literatur ist umstritten, ob ein Insolvenzverwalter nach bereits erfolgter Anzeige der Masseunzulänglichkeit nochmals die Masseunzulänglichkeit anzeigen darf.127) Man mag sich hier Fälle vorstellen, in denen die prognostizierte Insolvenzmasse aufgrund nicht vorhersehbarer Ereignisse auch nicht ausreicht, um die Neumasseverbindlichkeiten zu bezahlen, so dass es zu einer Rückstufung auch von Neumassegläubigern kommt.128) Die Folge wäre bei mehrmaliger Anzeige der Masseunzulänglichkeit, dass verschiedene Rangklassen nachrangiger Altmassegläubiger gebildet würden, was zu einem unübersichtlichen Verfahren führt. Deshalb sind der wohl überwiegende Teil der Literatur und der BGH der Ansicht, dass nach einmaliger Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht nochmals die Masseunzulänglichkeit angezeigt werden darf.129) Dies gilt auch dann, wenn zunächst nur die drohende Masseunzulänglichkeit angezeigt wurde, später die Masseunzulänglichkeit tatsächlich eintritt.130) 68 Vielmehr ist gemäß BGH131) so zu verfahren, dass bei nicht zureichender Insolvenzmasse nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit auch die danach noch hinzutretenden Neumassegläubiger nur zusammen mit den Altmassegläubigern quotal befriedigt werden dürfen (analog § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Insoweit soll bei einer Leistungsklage eines Neumassegläubigers kein entsprechendes Leistungsurteil ergehen dürfen, sondern allenfalls ein Feststellungsurteil, mit dem festgelegt wird, dass der Neumassegläubiger quotal im Anschluss an die Bezahlung der Verfahrenskosten zu bedienen ist.132) 69 Gemäß § 209 Abs. 1 InsO hat der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Verbindlichkeiten wie folgt zu befriedigen: x
zunächst die Kosten des Verfahrens (§ 54 InsO),
x
hiernach die Verbindlichkeiten, die nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet worden sind, ohne zu den Kosten des Verfahrens zu gehören (sog Neumasseverbindlichkeiten gemäß § 55 InsO),
x
hiernach die sonstigen Masseverbindlichkeiten (sog. Altmasseverbindlichkeiten gemäß § 55 InsO).
70 Eine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 Abs. 1 InsO wegen verspäteter Anzeige der Masseunzulänglichkeit wird vom BGH nicht angenommen. Vielmehr richte sich die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters für Masseverbindlichkeiten, die bei ihrer Fälligkeit nicht bedient werden können, ausschließlich nach § 61 InsO.133) Danach dürfe die Regelung in § 61 InsO nicht dadurch unterlaufen werden, dass eine insolvenzspezifische Pflicht kreiert werde, die Masseunzulänglichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt anzuzeigen.134) 71 Eine persönliche Haftung nach § 60 Abs. 1 InsO kann allenfalls in Betracht kommen, wenn der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit die fälligen ___________ 127) Weitzmann in: HambKomm-InsO, § 208 Rz. 11. 128) Vgl. dazu Ganter, NZI 2019, 7; Thole, ZIP 2018, 2241. 129) BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 22/05, ZIP 2006, 1004 = NJW 2006, 2997, 2999; BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, ZIP 2003, 914 = NJW 2003, 2454; OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 25.11.2003 – 25 W 60/03, NZI 2005, 40; Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 208 Rz. 60; Hölzle in: HK-InsO, § 208 Rz. 6; Pape in: Mohrbutter/Ringstmeier, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 12 Rz. 100; Blersch/ Goetsch/Haas-Breutigam, BK-InsO, § 208 Rz. 4; Runkel/Schnurbusch, NZI 2000, 49, 55. 130) Hölzle in: HK-InsO, § 208 Rz. 6. 131) BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, BGHZ 154, 358 ff. = ZIP 2003, 914. 132) BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, BGHZ 154, 358 ff. = ZIP 2003, 914. 133) BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/98, ZIP 2010, 2356 ff.; vgl. Büchler, ZInsO 2011, 1240 ff.; Gundlach/Frenzel/Jahn, DZWIR 2011, 177 ff. 134) BGH, Urt. v. 21.10.2010 – IX ZR 220/98, ZIP 2010, 2356 ff.
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Masseverbindlichkeiten falsch bedient, indem er z. B. auf Altmasseverbindlichkeiten zahlt und Neumassegläubiger hierdurch ausfallen. Dies gilt nach der Rechtsprechung des BGH auch, wenn der Insolvenzverwalter fehlerhaft auszahlt, weil er nach tatsächlicher Masseunzulänglichkeit nicht entsprechend § 209 Abs. 1 InsO auszahlt, ohne die Masseunzulänglichkeit angezeigt zu haben. Der BGH hat entschieden, dass auch dann § 209 Abs. 1 InsO anzuwenden ist, wenn eine verspätete oder gar keine Anzeige der Masseunzulänglichkeit erfolgt.135) 1.4
Bedeutung der Genehmigung durch den Gläubigerausschuss
Der Gläubigerausschuss und der Insolvenzverwalter sollen als gleichberechtigte, voneinander 72 jedoch unabhängige Organe der Insolvenzverwaltung zusammenarbeiten. Der Gläubigerausschuss ist nicht Hilfsorgan des Insolvenzverwalters; umgekehrt steht dem Gläubigerausschuss gegenüber dem Insolvenzverwalter kein Weisungsrecht zu.136) Der Gläubigerausschuss ist verpflichtet, den Insolvenzverwalter zu überwachen und mit diesem zusammenzuarbeiten (§ 69 InsO). Aus diesen gesetzlichen Maßgaben zur Zusammenarbeit ist herzuleiten, dass der Gläubiger- 73 ausschuss gemeinsam mit dem Insolvenzverwalter alle wesentlichen Entscheidungen innerhalb des Insolvenzverfahrens trifft. Demnach hat er sich umfassend zu informieren. Dies ist lediglich möglich, wenn der Insolvenzverwalter dem Gläubigerausschuss gegenüber vollständig berichtet und den Gläubigerausschuss mit den für die maßgeblichen Entscheidungen erforderlichen Informationen ausstattet. Art und Umfang dieser Informationen müssen so ausgestaltet sein, dass der Gläubigerausschuss seiner Mitwirkungspflicht und seiner Kontrollaufgabe genügen kann. Denn der Gläubigerausschuss hat neben der Mitwirkung die Rechtmäßigkeit, die Zweckmäßigkeit und die wirtschaftliche Angemessenheit des Handelns des Insolvenzverwalters zu überwachen.137) Hierzu gehört u. a. die Prüfung, ob die Weiterführung des Schuldnerunternehmens sinnvoll 74 erscheint oder die Voraussetzungen für eine sofortige Stilllegung gegeben sind.138) Diese Kontrolle kann ein Gläubigerausschussmitglied lediglich dann ausüben, wenn sich das Mitglied über die relevanten wirtschaftlichen Vorgänge hinreichend informiert hat. Der inhaltlichen Prüfung geht demnach die Pflicht der Gläubigerausschussmitglieder voraus, sich über die relevanten wirtschaftlichen Vorgänge zu informieren.139) Hierzu bestehen ein Recht und eine Pflicht der Mitglieder des Gläubigerausschusses, vom Insolvenzverwalter einzelne Auskünfte oder einen Bericht über den Sachstand und die genaue Geschäftsführung zu verlangen.140) Informationsmaß und Informationsdichte richten sich nach den Besonderheiten des Schuldnerunternehmens und nach der bisherigen Geschäftsführung des Insolvenzverwalters. Bei einer Betriebsfortführung sind insbesondere die Rechte und Pflichten zu berücksichtigen, die bei der Insolvenzverwaltung eines noch bestehenden Handels- oder Industrieunternehmens zu berücksichtigen sind. In besonderen Einzelfällen ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, einen Beschluss des Gläu- 75 bigerausschusses einzuholen (dazu §§ 158 Abs. 1, 160 Abs. 1 InsO). Unterlässt der Insolvenzverwalter die gesetzlich gebotene Beteiligung des Gläubigerausschusses, macht dies die ___________ 135) BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 22/05, ZIP 2006, 1004 = NJW 2006, 2997; BGH, Beschl. v. 19.11.2009 – IX ZB 261/08, ZIP 2010, 145 ff. 136) Riedel in: HK-InsO, § 69 Rz. 7; Rattunde/Smid/Zeuner-Smid, InsO, § 69 Rz. 5; Pape, Gläubigerbeteiligung, Rz. 334; Heidland in: Kölner Schrift, S. 711, 723, Rz. 25; Frege/Keller/Riedel, InsR, Rz. 1246 ff. 137) OLG Rostock, Beschl. v. 28.5.2004 – 3 W 11/04, ZInsO 2004, 814. 138) Uhlenbruck-Knof, InsO, § 69 Rz. 20 ff. 139) Vgl. OLG Rostock, Beschl. v. 28.5.2004 – 3 W 11/04, ZInsO 2004, 814. 140) Uhlenbruck-Knof, InsO, § 69 Rz. 25, 26.
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vorzulegende Rechtshandlung im Außenverhältnis zwar nicht unwirksam (§ 164 InsO), es kann aber hieraus der Schluss gezogen werden, dass eine schuldhafte Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten gegeben ist, die zu einem Schadensersatzanspruch führen kann.141) 76 Umgekehrt enthält eine zustimmende Entscheidung des Gläubigerausschusses noch nicht die Festlegung, dass aufgrund des Votums des Ausschusses eine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters in jedem Falle ausscheidet.142) Allerdings kann von der Zustimmung des zuständigen Verfahrensorgans eine erhebliche Indizwirkung für rechtmäßiges und nicht schuldhaftes Verhalten des Verwalters ausgehen, wenn eine gesetzliche Zustimmungsbedürftigkeit gegeben war (Vorlagepflicht) und wenn der Insolvenzverwalter das zuständige Verfahrensorgan zutreffend – d. h. zeitlich und sachlich angemessen, inhaltlich richtig und vollständig – informiert hat.143) 1.5
Beteiligung der Gläubigerversammlung
77 Eine zustimmende Entscheidung der Gläubigerversammlung kann von Bedeutung hinsichtlich der Haftung des Verwalters gemäß § 60 InsO sein, wenn eine gesetzliche Pflicht zur Einholung der Zustimmung der Versammlung gegeben war und die Information der Versammlung sachlich zutreffend und inhaltlich ausreichend gewesen ist. 78 Insoweit ist zu prüfen, ob die Gläubigerversammlung ordnungsgemäß informiert wurde. Die Berichtspflicht gegenüber der Gläubigerversammlung ergibt sich aus §§ 79, 156, 160 ff. InsO.144) Das Berichtswesen des Verwalters dient der sachgerechten Vorbereitung der Beschlüsse der Gläubigerversammlung. 79 Die Gläubigerversammlung ist gemäß § 157 Satz 1 InsO dafür zuständig zu entscheiden, ob das Unternehmen stillgelegt oder vorläufig fortgeführt wird. Vor der Betriebsveräußerung an besonders Interessierte (§ 162 InsO) oder der Betriebsveräußerung unter Wert (§ 163 InsO) ist die Zustimmung der Gläubigerversammlung einzuholen. 80 Das Gesetz enthält in § 156 Abs. 1 InsO inhaltliche Anforderungen an den Bericht des Insolvenzverwalters. Er muss über die Fortführungsfähigkeit berichten und Alternativszenarien beschreiben. Darüber hinausgehend sind im Gesetz keine formalen und inhaltlichen Vorgaben für den Bericht des Insolvenzverwalters enthalten. Die Insolvenzordnung schreibt den Inhalt und die Art und Weise der Präsentation des Berichtes nicht im Einzelnen vor. Die erforderliche Informationstiefe richtet sich nach den Maßgaben des Einzelfalls. Der Bericht soll die Entscheidung der Gläubigerversammlung über den weiteren Verfahrensverlauf vorbereiten. Der Bericht des Insolvenzverwalters muss deshalb so umfangreich und detailliert sein, dass er gemeinsam mit den eingereichten Unterlagen eine Grundlage für die Entscheidung der Gläubiger bilden kann:145) x
Der Bericht muss zu den Erhaltungs- und Sanierungsaussichten Auskunft geben.
x
Der Insolvenzverwalter muss anhand der leistungswirtschaftlichen Daten des Unternehmens die Zweckmäßigkeit der Unternehmensfortführung belegen.146)
___________ 141) S. Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 50 m. Hinweis auf OLG Rostock, Urt. v. 8.4.2011 – 5 U 31/08, NZI 2011, 488. 142) BGH, Urt. v. 22.1.1985 – VI ZR 131/83, ZIP 1985, 423 ff.; Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 50, 51. 143) Vgl. BGH, Urt. v. 22.1.1985 – VI ZR 131/83, ZIP 1985, 423 ff.; Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 51. 144) Vgl. zur Informationserteilung Frege/Nicht, InsVZ 2010, 407 ff. = ZInsO 2012, 2217 ff. 145) Kübler/Prütting/Bork-Webel, InsO, § 156 Rz. 11. 146) Janssen in: MünchKomm-InsO, § 156 Rz. 19 ff.
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x
Der Insolvenzverwalter muss dabei Fortführungsrisiken und ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten möglichst genau abbilden und Entscheidungsalternativen für die Gläubigerversammlung offenlegen.147)
x
Die Krisenursachen müssen zutreffend erfasst werden.148)
x
Nach Analyse der Ursachen muss der Insolvenzverwalter überprüfen, ob die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens gegeben ist. Die Sanierungsfähigkeit ist gegeben, wenn das Unternehmen nach Umsetzung der Sanierungsmaßnahmen nachhaltig einen Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben erzielen kann.149) Soweit eine Überschussprognose nicht anzustellen ist, soll das Unternehmen liquidiert werden.
Der Bericht des Insolvenzverwalters zu den Erhaltungs- und Sanierungsaussichten des 81 Unternehmens enthält neben einer Darstellung der Fakten auch Prognosen und unternehmerische Werturteile. Er kann nicht in der gleichen Weise exakt sein, wie die Erfassung der zurückliegenden Entwicklung des Unternehmens. Gleichwohl darf ein sorgfältiger Insolvenzverwalter nicht spekulativ vorgehen.150) Die angestellten Prognosen und Werturteile müssen vielmehr kaufmännisch vertretbar und ausreichend durch Tatsachen gestützt sein.151) Der Insolvenzverwalter soll planvoll anhand eines Liquiditätsplans, der auf den Annahmen zu den leistungswirtschaftlichen Daten des Unternehmens beruht und die Zweckmäßigkeit der Fortführung belegt, vorgehen.152) Darüber hinaus sind folgende Maßgaben einzuhalten:
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x
Die denkbaren Effekte einer Unternehmenszerschlagung sollen dargestellt werden.153)
x
Der Zerschlagung soll der alternative Verfahrensverlauf bei einer Sanierung des Unternehmens gegenübergestellt werden.
x
Es soll vom Insolvenzverwalter sorgfältig prognostiziert werden, „welche Dividende die Gläubiger bei welcher Entscheidung zu erwarten haben“.154)
x
Der Insolvenzverwalter soll insoweit die verschiedenen Verfahrenswege im Hinblick auf die Gläubigerbefriedigung gegenüberstellen und miteinander vergleichen.155)
Soweit die Gläubigerversammlung aufgrund der unvollständigen oder inhaltlich falschen 83 Information durch den Bericht des Insolvenzverwalters eine objektiv fehlerhafte Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens durch Unternehmensfortführung trifft und dies zu einem Schaden führt, haftet der Insolvenzverwalter wegen Verletzung einer insolvenzspezifischen (Berichts-)Pflicht gemäß §§ 60 Abs. 1, 92 Abs. 1 InsO, wenn er das Unternehmen pflichtwidrig fortführt. Der Insolvenzverwalter kann sich zu seiner Rechtfertigung nicht auf einen Beschluss der Gläubigerversammlung berufen, wenn diese durch ihn mangelhaft informiert worden ist.156) ___________ Janssen in: MünchKomm-InsO, § 156 Rz. 30, 31. Vgl. Picot in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1168 Rz. 54. Nochmals Picot in: Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 1169 Rz. 55. Janssen in: MünchKomm-InsO, § 156 Rz. 36. Zur Prospekthaftung vgl. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.10.2008 – 23 U 348/05, juris. Janssen in: MünchKomm-InsO, § 156 Rz. 31, 32, 34. Vgl. zum Berichtswesen Voigt-Salus/Pape in: Mohrbutter/Ringstmeier, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 21 Rz. 186 ff. 154) Vgl. Voigt-Salus/Pape in: Mohrbutter/Ringstmeier, Hdb. Insolvenzverwaltung, Kap. 21 Rz. 186 ff.; Uhlenbruck-Zipperer, InsO, § 156 Rz. 5 ff. 155) Möhlmann, NZI 1999, 433. 156) Vgl. Jaeger-Gerhardt, InsO, § 60 Rz. 142; BGH, Urt. v. 22.1.1985 – VI ZR 131/83, ZIP 1985, 423 ff.; BGH, Urt. v. 24.1.1991 – IX ZR 250/89, BGHZ 113, 262 ff. = ZIP 191, 324 ff. 147) 148) 149) 150) 151) 152) 153)
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84 Ungeachtet dessen führt eine zustimmende Entscheidung der Gläubigerversammlung auch bei vollständiger und richtiger Information nicht automatisch zur Enthaftung des Insolvenzverwalters. Wenn eine gesetzliche Vorlagepflicht bestanden hat (§§ 157, 162, 163 InsO), kann jedoch die Indizwirkung derart gewichtig sein, dass ein Verschulden des Verwalters ausscheidet.157) In vorsichtiger Anlehnung an § 253 Abs. 2 InsO n. F. könnte man allenfalls erwägen, den Gläubigern die Berufung auf einen Schadensersatzanspruch zu versagen, die in der Gläubigerversammlung dem Handlungsvorschlag des Insolvenzverwalters zugestimmt haben oder nicht anwesend waren. 2.
Insolvenzspezifische Haftung gemäß § 61 InsO
85 Gemäß § 61 Satz 1 InsO haftet der Insolvenzverwalter einem Massegläubiger auf Schadensersatz, wenn eine Masseverbindlichkeit aus der Insolvenzmasse nicht voll erfüllt werden kann, die durch eine Rechtshandlung des Insolvenzverwalters begründet wurde.158) Die persönliche Haftung ist gemäß § 61 Satz 2 InsO ausgeschlossen, wenn der Insolvenzverwalter bei der Begründung der Verbindlichkeit nicht erkennen konnte, dass die Insolvenzmasse voraussichtlich zur Erfüllung der Masseverbindlichkeit nicht ausreichen wird. 2.1
Gesetzeszweck der persönlichen Haftung gemäß § 61 Satz 1 InsO
86 Nach der Rechtslage unter der KO, die keine dem § 61 InsO vergleichbare Haftungsnorm kannte, oblag es dem Vertragspartner des Verwalters, sich selbst einen Eindruck von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Masse zu machen. Das erschwerte dem Verwalter das Auffinden von Geschäftspartnern. Der Gesetzgeber erkennt mit § 61 InsO nun an, dass im Falle eines Vertragsschlusses mit einem insolventen Unternehmen ein erhöhtes Ausfallrisiko für den Gläubiger besteht, welches durch § 61 InsO abgemildert werden soll.159) Gleichzeitig soll hierdurch die Bereitschaft der potenziellen Vertragspartner gefördert werden, Rechtsgeschäfte mit dem Insolvenzverwalter einzugehen, was bei Betriebsfortführungen besonders wichtig sein kann.160) Deshalb wird der Insolvenzverwalter verpflichtet, vor der Begründung von Masseschulden „besonders sorgfältig“ zu prüfen, ob er die neu begründeten Masseverbindlichkeiten im Fälligkeitszeitpunkt wird erfüllen können. 2.2
Ersatzberechtigte
87 Zum Schadensersatz berechtigt sind Massegläubiger gemäß §§ 53 bis 55 InsO. Im Regelfall sind Vertragsgläubiger betroffen, mit denen der Insolvenzverwalter nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kontrahiert hat oder als „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter kontrahiert hatte (vgl. auch § 55 Abs. 2 InsO). In den Anwendungsbereich von § 61 InsO fallen ferner Gläubiger aus vor Verfahrenseröffnung begründeten Dauerschuldverhältnissen, die gemäß §§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, 108 InsO aus der Insolvenzmasse zu befriedigen sind, wenn der Zeitpunkt der frühestmöglichen Kündigung überschritten ist.161) 2.3
Schadensumfang
88 Die Haftung gemäß § 61 InsO ist auf das negative Interesse begrenzt, d. h. der geschädigte Vertragspartner ist so zu stellen wie er stünde, wenn die Pflichtverletzung des Insolvenz___________ 157) BGH, Urt. v. 22.1.1985 – VI ZR 131/83, ZIP 1985, 423 ff.; Lüke, Persönliche Haftung des Verwalters, S. 50, 51. 158) Vgl. Deimel, ZInsO 2004, 783 ff.; Pape, ZInsO 2003, 1013 ff. 159) Begr. Reg E InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129; Nerlich/Römermann-Rein, InsO, § 61 Rz. 2. 160) Begr. Reg E InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 129. 161) S. BGH, Urt. v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, BGHZ 154, 358 ff. = ZIP 2003, 914.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
§ 44
verwalters nicht vorgelegen hätte (vgl. auch § 249 Abs. 1 BGB).162) Es liegt ein Fall der Vertrauenshaftung vor.163) Die Pflichtverletzung durch den Insolvenzverwalter liegt in dem Abschluss des Vertrages, obgleich im Abschlusszeitpunkt ernstliche Zweifel an der Erfüllbarkeit bestanden, nicht allein in der Unfähigkeit der Insolvenzmasse zur Befriedigung des Vertragspartners.164) Der BGH sieht hier eine Parallele zum Umfang der Haftung von Geschäftsführern und Vorständen, die entgegen der Pflicht zur Insolvenzantragstellung gemäß § 64 Abs. 1 GmbHG a. F., § 92 Abs. 2 AktG a. F., § 15a Abs. 1 InsO neue Verbindlichkeiten begründen und den Geschäftspartnern auf das negative Interesse haften. Die im Grundsatz vergleichbare Haftung des Insolvenzverwalters könne nicht strenger ausfallen, obwohl der Insolvenzverwalter „[…] bei seinen Entscheidungen häufig unter großem, nicht selbst verschuldetem Zeitdruck steht und es daher viel schwerer hat, sich ein hinreichend sicheres Bild von der finanziellen Situation des Schuldners zu machen.“165)
2.4
Abgrenzung Einzelschaden/Gesamtschaden
Der Schadenersatzanspruch gemäß § 61 Satz 1 InsO ist im Grundsatz ein Individualan- 89 spruch des nicht befriedigten Massegläubigers, der auch während des Insolvenzverfahrens vom Geschädigten gegen den Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann.166) Die Geltendmachung dieses Anspruchs gegen den Insolvenzverwalter ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Insolvenzmasse noch Ansprüche gegen Dritte hat, die in der Summe den gemäß § 61 Satz 1 InsO geltend gemachten Betrag übersteigen. Zumindest wenn der Insolvenzverwalter die Masseunzulänglichkeit angezeigt hat und keine ohne weiteres durchsetzbaren Ansprüche der Insolvenzmasse gegen Dritte bestehen, aus denen die Massegläubiger befriedigt werden können, ist ein Schaden gemäß § 61 Satz 1 InsO gegeben, der individuell klageweise gegen den Insolvenzverwalter durchgesetzt werden kann.167) § 92 InsO ist im Bereich von § 61 InsO grundsätzlich nicht anzuwenden. Im Schrifttum wurde die Ansicht vertreten, dass ein Gesamtschaden i. S. von § 92 InsO vorliege, wenn eine Schmälerung der Insolvenzmasse nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit erfolgt.168) Dann sei § 92 InsO analog anzuwenden. Dem ist der BGH nunmehr gefolgt.169) 2.5
Abgrenzung zu § 60 InsO
Die Abgrenzung zu § 60 InsO erfolgt anhand des Zeitpunktes der pflichtwidrigen Hand- 90 lung des Insolvenzverwalters. Ausgangspunkt ist die Überlegung des BGH, dass § 61 InsO eine Entscheidung im Interessenkonflikt zwischen Massegläubiger und Insolvenzverwalter bewirken möchte, wen das Risiko der zukünftigen Masseunzulänglichkeit treffen soll. Hier-
___________ 162) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; BGH, Urt. v. 13.2.2014 – IX ZR 313/12, Rz. 17, NZI 2014, 400, 402; BGH, Urt. v. 11.1.2018 – IX ZR 37/17, Rz. 13, NZI 2018, 258; Nerlich/Römermann-Rein, InsO, § 61 Rz. 9, 23. 163) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 164) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 165) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 166) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; Nerlich/RömermannRein, InsO, § 61 Rz. 26. 167) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 168) Kübler/Prütting/Bork-Lüke, InsO, § 92 Rz. 5; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 92 Rz. 22; Jaeger-Müller, InsO, § 92 Rz. 20; K. Schmidt-K. Schmidt, InsO, § 92 Rz. 20; Meyer-Löwy/Poertzgen/Sauer, ZInsO 2005, 691, 694. 169) BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, Rz. 76, BGHZ 225, 90.
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§ 44
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
bei soll der Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen und des Vertragsabschlusses von entscheidender Bedeutung sein.170) 91 Dem Insolvenzverwalter wird durch § 61 Satz 1 InsO die gesetzliche Pflicht auferlegt, vor der Eingehung von neuen Verbindlichkeiten besonders sorgfältig zu prüfen, ob er diese neuen Verbindlichkeiten aus der Insolvenzmasse erfüllen kann. Er muss sich nach Ansicht des BGH vergewissern, ob er die neuen Verbindlichkeiten bei Zugrundelegung des normalen Geschäftsgangs rechtzeitig und vollständig mit Mitteln der Insolvenzmasse wird erfüllen können.171) Der Zeitpunkt der für § 61 Satz 1 InsO maßgeblichen Pflichtverletzung ist mithin der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. § 61 Satz 1 InsO erfasst daher nur primäre Erfüllungsansprüche, nicht Sekundäransprüche, auf die sich die besondere Pflicht des Insolvenzverwalters, sich zu vergewissern, ob er bei normalem Geschäftsablauf zur Erfüllung der von ihm begründeten Forderungen mit Mitteln der Masse in der Lage sein wird, nicht bezieht.172) 92 Spätere fehlerhafte Handlungen des Insolvenzverwalters, z. B. die unzutreffende Bedienung von Masseverbindlichkeiten im Fall der Masseunzulänglichkeit (§§ 208, 209 InsO), können nicht zur Haftung gemäß § 61 Satz 1 InsO führen, sondern allenfalls zur Haftung gemäß § 60 InsO, soweit eine schuldhafte Pflichtverletzung gegeben ist. Hiernach besteht ein insolvenzspezifischer Schutz für die Massegläubiger für den Zeitraum der Vertragsabwicklung. In diesem Zeitabschnitt nach dem Vertragsschluss sind diese Massegläubiger dagegen geschützt, dass der Insolvenzverwalter z. B. das Gebot nicht beachtet, Massegläubiger vorab aus der Insolvenzmasse zu befriedigen oder im Falle der unzureichenden Masse nur quotal.173) Nach Ansicht des BGH ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, Massegläubiger nur anteilig zu befriedigen, wenn er vorübergehend nicht in der der Lage ist, die Masseverbindlichkeiten vollständig zu bedienen.174) 2.6
Entlastungsbeweis
93 Nach Ansicht des BGH kann sich der Insolvenzverwalter mit zwei verschiedenen Begründungen entlasten. Er kann entweder x
darlegen und beweisen, dass im Zeitpunkt des Vertragsschlusses objektiv von einer zur Erfüllung der streitgegenständlichen Verbindlichkeit voraussichtlich ausreichenden Insolvenzmasse auszugehen war oder
x
dass die tatsächlich unzureichende Insolvenzmasse für ihn nicht erkennbar gewesen ist.175)
94 Der Beweis der objektiv zureichenden Insolvenzmasse bzw. der Nichterkennbarkeit des zukünftigen Nichtausreichens kann nach der Rechtsprechung des BGH „im allgemeinen“ nur geführt werden, indem der Insolvenzverwalter „plausible Liquiditätsrechnungen“ erstellt und diese „bis zum Zeitpunkt der Begründung der Verbindlichkeit ständig überprüft und
___________ 170) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; Nerlich/RömermannRein, InsO, § 61 Rz. 7. 171) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; Pape in: Pape/Graeber, Hdb. Insolvenzverwalterhaftung, Teil 3, Rz. 19 ff. 172) BGH, Beschl. v. 25.9.2008 – IX ZR 235/07, Rz. 5, NZI 2008, 735; BGH Urt. v. 11.1.2018 – IX ZR 37/17, Rz. 9 ff., NZI 2018, 258 – Ansprüche aus Rücktritt des Vertragspartners. 173) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 174) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 175) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; BGH, Urt. v. 11.1.2018 – IX ZR 37/17, Rz. 7, NZI 2018, 258; Nerlich/Römermann-Rein, InsO, § 61 Rz. 19.
1530
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
§ 44
aktualisiert“.176) Die Grundlage hierfür soll eine Prognose aufgrund verschiedener Faktoren bilden: x
der aktuellen Liquiditätslage der Insolvenzmasse,
x
der realistischen Einschätzung noch ausstehender offener Forderungen und
x
der künftigen Geschäftsentwicklung des insolventen Unternehmens für die Dauer der Betriebsfortführung.177)
Besondere Bedeutung kommt hierbei der Bewertung der Außenstände zu. Der BGH meint, 95 dass Forderungen der Insolvenzmasse gegenüber Dritten aus den Prognosebetrachtungen herauszunehmen sind, wenn ernsthafte Zweifel bestehen, ob diese Rechte in angemessener Zeit realisiert werden können.178) Der BGH hat im Hinblick auf den möglichen Einwand des Insolvenzverwalters, er habe die 96 Forderungen der Massegläubiger im Einzelfall nicht gekannt, darauf hingewiesen, dass in einem solchen Fall der Insolvenzverwalter darlegen und beweisen muss, dass er hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen hatte, um eine vollständige und rechtzeitige Buchung aller Masseverbindlichkeiten sicherzustellen. Hierzu muss der Insolvenzverwalter Erfüllungsgehilfen anleiten und überwachen. V.
Haftung des Sachwalters in der Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO
1.
Haftung des Sachwalters im eröffneten Insolvenzverfahren für die schuldhafte Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten gemäß § 60 Abs. 1 InsO
1.1
Überblick
Gemäß § 274 Abs. 1 InsO sind hinsichtlich der insolvenzspezifischen Haftung des Sach- 97 walters die §§ 60 und 62 InsO entsprechend anzuwenden. Auf § 61 InsO verweist die Vorschrift dagegen nicht.179) Insoweit ist der Sachwalter gemäß §§ 274 Abs. 1, 60 Abs. 1 Satz 1 InsO den Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er die ihm nach dem Gesetz obliegenden Pflichten schuldhaft verletzt. Diese Pflichten ergeben sich aus den §§ 270 ff. InsO. Es bestehen Parallelen zur persönlichen Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 Abs. 1 98 InsO, soweit sich die Pflichtenkreise decken (z. B. i. R. von § 280 InsO). Aufgrund der anders gelagerten Funktion des Sachwalteramtes, welches vorrangig auf Kon- 99 trolle, Unterstützung und Überwachung der sich selbst verwaltenden Insolvenzschuldnerin ausgelegt ist, bestehen i. R. der §§ 270 ff. InsO jedoch zahlreiche originäre Sachwalterpflichten, für die es im Regelinsolvenzverfahren keine Entsprechung gibt.180) Insofern ist zu unterscheiden zwischen den Handlungen des Sachwalters, die sich als echte formelle und materielle Verwaltungshandlungen einordnen lassen (und die im Regelinsolvenzverfahren dem Insolvenzverwalter zugeordnet sind) und den speziellen Prüfungs-, Überwachungsund Anzeigepflichten des Sachwalters in der Eigenverwaltung, die an Handlungen der Insolvenzschuldnerin anknüpfen.181) ___________ 176) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; Nerlich/RömermannRein, InsO, § 61 Rz. 20. 177) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107; strenger wohl OLG Hamburg Urt. v. 3.2.2017 – 1 U 68/14, Rz. 53, BeckRS 2017, 141247. 178) BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 ff. = ZIP 2004, 1107. 179) Zur analogen Anwendung des § 61 InsO auf den Sachwalter bei eigenständiger Begründung von Masseschulden s. Brünkmans in: HK-InsO, § 274 Rz. 9. 180) Vgl. auch Landfermann in: HK-InsO, § 274 Rz. 9. 181) Vgl. K. Schmidt-Undritz, InsO, § 274 Rz. 5; Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 165 ff. Rz. 548 ff.
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§ 44 1.2
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung Haftung gegenüber den Beteiligten des Insolvenzverfahrens
100 Infolge des Verweises von § 274 Abs. 1 InsO auf § 60 InsO gelten die dort geregelten Haftungsvoraussetzungen. Danach ist der Sachwalter allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach der InsO obliegen (§ 60 Abs. 1 Satz 1 InsO). 101 Die persönliche Haftung ist demzufolge nur gegenüber Beteiligten gegeben, wenn dem Sachwalter insolvenzspezifische Pflichten gerade gegenüber diesen konkreten Personen bestehen.182) Es gilt der materiell-rechtliche Beteiligtenbegriff.183) Es ist darauf abzustellen, wem gegenüber der Sachwalter eine konkrete Amtspflicht nach der InsO zu erfüllen hat. Dies sind zunächst x
die Insolvenzschuldnerin,
x
die Insolvenzgläubiger,
x
Aus- und Absonderungsberechtigte.184)
102 In der Literatur werden darüber hinaus benannt: x
die Mitglieder von Geschäftsführung oder Vorstand der Insolvenzschuldnerin,
x
die in der Haftung betroffenen Genossen einer insolventen Genossenschaft,
x
Massegläubiger,
x
die als Hinterlegungsstelle bestimmte Bank,
x
der Fiskus in Justizangelegenheiten,
x
die Bundesagentur für Arbeit,
x
Mitglieder des Gläubigerausschusses.185)
1.3
Verschulden des Sachwalters
103 Die persönliche Haftung des Sachwalters setzt ein Verschulden in Bezug auf die festzustellende Pflichtverletzung voraus (§ 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 InsO). Der Sachwalter haftet nur, wenn er vorsätzlich oder fahrlässig die in der InsO normierten Pflichten verletzt hat (§ 276 BGB). Insbesondere im Hinblick auf die Bestimmung der im Rechtsverkehr erforderlichen Sorgfalt als Bezugspunkt der Fahrlässigkeit sind die besonderen Umstände der Insolvenz zu beachten. Nach der Literatur ist als Maßstab die Sorgfalt eines Durchschnitts-Sachwalters zu wählen.186) Es gilt die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Sachwalters (§ 60 Abs. 1 Satz 2 InsO). 1.4
Verletzung eigener Pflichten des Sachwalters im Hinblick auf die Verwaltung und Verwertung des Vermögens der Insolvenzschuldnerin
104 Hinsichtlich der gesetzlichen Pflichten des Sachwalters ist zu unterscheiden zwischen den Befugnissen und Pflichten, die unmittelbar auf die Verwaltung und Verwertung des Vermögens bezogen sind und den Pflichten des Sachwalters, die mit der Kontrolle und Überwachung des Handelns des Insolvenzschuldners zusammenhängen. Während diese originär in die Hände des Sachwalters gelegt sind und nicht zwingend eine Tätigkeit der Insolvenz___________ So auch Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 162 Rz. 541. K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 6. K. Schmidt-Thole, InsO, § 60 Rz. 6. S. Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 162, 163 Rz. 541 – unter Bezugnahme auf Kübler/Prütting/BorkHolzer, InsO, § 274 Rz. 50; Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 274 Rz. 11; Foltis in: FK-InsO, § 274 Rz. 19. 186) Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 163 Rz. 543 m. w. N.
182) 183) 184) 185)
1532
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
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schuldnerin verlangen, setzen jene ein Handeln der Insolvenzschuldnerin voraus, auf das sich die Kontrolltätigkeit beziehen kann. Die unmittelbaren Befugnisse betreffen Verfahrenshandlungen, die im Regelinsolvenzver- 105 fahren dem Insolvenzverwalter vorbehalten gewesen wären, insbesondere x
die Führung der Insolvenztabelle einschließlich des Anmeldeverfahrens, Prüfungs- und Feststellungsverfahrens,
x
die Erstellung eines Insolvenzplans im Auftrag der Gläubigerversammlung (§ 284 Abs. 1 InsO),
x
die Ermittlung und Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen (§ 280 InsO),
x
die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gemäß §§ 92 ff. InsO (§ 280 InsO).
Verletzt der Sachwalter schuldhaft die gesetzlichen Pflichten zur Durchführung dieser in- 106 solvenzspezifischen Tätigkeiten, kommt eine persönliche Haftung in Betracht. 1.5
Verletzung eigener Pflichten des Sachwalters im Hinblick auf die Prüfung, Überwachung und Kontrolle des Handelns der Insolvenzschuldnerin
Im Hinblick auf die gesetzliche Pflicht des Sachwalters zur Prüfung, Überwachung und 107 Kontrolle des Insolvenzschuldners können insolvenzspezifische Pflichten verletzt werden. Hierbei ist führend die Pflicht zur fortlaufenden (begleitenden und vorausschauenden) Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Insolvenzschuldners einschließlich der Verwaltung der Insolvenzmasse und der sonstigen laufenden Geschäftsführung.187) Ergeben sich hier Unregelmäßigkeiten, die sich auf den Verlauf und die Ergebnisse des Insolvenzverfahrens mehr als nur unbeachtlich auswirken, muss der Sachwalter gegenüber dem Insolvenzgericht anzeigen, dass Nachteile für die Insolvenzgläubiger entstehen könnten (vgl. § 274 Abs. 3 InsO). Dem Sachwalter obliegt die Prüfung der vom Insolvenzschuldner erstellten Verzeichnisse 108 nach §§ 151 ff. InsO, des Verteilungsverzeichnisses gemäß § 188 InsO und der Schlussrechnung gemäß § 66 InsO. Soweit der Sachwalter Inhaber von Zustimmungs- oder Widerspruchsrechten ist (§§ 275 109 Abs. 1, 279 Satz 3 InsO), muss er diese Rechte fortwährend beachten und ggf. im Interesse der Insolvenzgläubiger proaktiv ausüben. Der Sachwalter darf nicht zuwarten, bis er vom Schuldner mit einer Situation konfrontiert wird, in der die Verweigerung der Zustimmung bzw. die Erhebung des Widerspruchs zweckmäßig erscheint. Er muss von sich aus die Geschäftstätigkeit des Insolvenzschuldners dahingehend prüfen, ob solche Zustimmungs- und Widerspruchsrechte bestehen und diese ggf. einsetzen. Der Sachwalter hat ein Zustimmungsrecht nach § 276a Satz 2 InsO im Hinblick auf die 110 Neubesetzung der Gesellschaftsorgane. Auch diese gesetzliche Befugnis muss im Interesse der Verfahrensbeteiligten ausgeübt werden, andernfalls der Sachwalter persönlich haftet, falls sich Schäden adäquat kausal aus einer Fehlsteuerung ergeben. 2.
Haftung des Sachwalters i. R. des § 61 InsO
Grundsätzlich gilt, dass der Sachwalter in seiner Eigenschaft als Kontroll- und Aufsichts- 111 organ nicht dafür verantwortlich ist, ob die von der Insolvenzschuldnerin begründeten Masseverbindlichkeiten im weiteren Verlauf erfüllt werden können.188) § 274 Abs. 1 InsO verweist auf die §§ 56 bis 60, 62 bis 65 InsO. Auf § 61 InsO verweist das Gesetz ganz ___________ 187) Brünkmans in: HK-InsO, § 274 Rz. 11; Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 167 Rz. 553. 188) Landfermann in: HK-InsO, § 274 Rz. 9.
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Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
ausdrücklich nicht. Im Grundsatz ist deshalb keine insolvenzspezifische Pflicht des Sachwalters gegeben, vor der Begründung von Masseverbindlichkeiten durch die Insolvenzschuldnerin zu prüfen, ob diese tatsächlich erfüllt werden können.189) Auch besteht keine Warnpflicht gegenüber potenziellen Geschäftspartnern der Insolvenzschuldnerin. 112 § 61 InsO ist auf den Sachwalter anzuwenden, soweit das Insolvenzgericht die Begründung von Masseverbindlichkeiten durch die Insolvenzschuldnerin nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 270 InsO) von der Zustimmung durch den Sachwalter abhängig gemacht hat (§ 277 Abs. 1 Satz 3 InsO). Hierbei wird die Vorschrift auf den Sachwalter nicht in gleicher Weise anzuwenden sein, wie sie im Regelinsolvenzverfahren auf den Insolvenzverwalter anzuwenden ist.190) Denn der Sachwalter erstellt im eröffneten Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung keine eigene Liquiditätsrechnung, auf deren Grundlage er sich exkulpieren könnte (vgl. § 61 Satz 2 InsO). Folglich ist der Verweis in § 277 Abs. 1 Satz 3 InsO so zu lesen, dass der Sachwalter sich auf der Grundlage der schuldnerischen Liquiditätsplanung exkulpieren kann, soweit er diese auf ihre Schlüssigkeit hin geprüft hat und dabei zu der Ansicht kommen durfte, dass die Masseverbindlichkeiten gedeckt sein werden.191) 3.
Haftung des Sachwalters im Eröffnungsverfahren gemäß § 270b, c InsO
113 Im Eröffnungsverfahren in vorläufiger Eigenverwaltung gemäß § 270b, c InsO kann das Insolvenzgericht gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO Zustimmungsvorbehalte zugunsten des vorläufigen Sachwalters anordnen (§ 270c Abs. 3 Satz 2 InsO).192) Seine Rechtsstellung weist insoweit Ähnlichkeiten mit der eines vorläufigen Insolvenzverwalters auf, der mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestattet ist. In einem solchen Fall trifft den vorläufigen Sachwalter (wie auch den vorläufigen Insolvenzverwalter) die insolvenzspezifische Pflicht, die Zustimmung zu einer Rechtshandlung der Insolvenzschuldnerin (z. B. Begründung von neuen Verbindlichkeiten) nach pflichtgemäßem Ermessen nur zu erteilen, wenn dies mit dem Sicherungszweck des Eröffnungsverfahrens vereinbar ist, mithin wenn die Begründung der Verbindlichkeit unter Beachtung der Interessen der späteren Insolvenzgläubiger erforderlich und geboten ist. Bei unsachgemäßer Prüfung der Rechtshandlungen der Insolvenzschuldnerin durch den vorläufigen Sachwalter kann eine Haftung gegenüber den späteren Insolvenzgläubigern gemäß § 60 Abs. 1 InsO gegeben sein, wenn die Insolvenzmasse durch evident unzweckmäßige Handlungen der Insolvenzschuldnerin aufgezehrt wurde. 114 Der gleiche Maßstab gilt, soweit die Insolvenzschuldnerin im Eröffnungsverfahren nach § 270b, c InsO außerordentliche Verbindlichkeiten gemäß § 275 InsO mit Zustimmung des vorläufigen Sachwalters eingehen will. Auch hier hat der vorläufige Sachwalter das Verfahrensziel des Eröffnungsverfahrens, die Sicherung der Insolvenzmasse, als Maßstab für seine Zustimmungsentscheidung heranzuziehen.193) 115 Im Eröffnungsverfahren gemäß § 270b, c InsO besteht die wichtige Aufgabe des vorläufigen Sachwalters darin, die wirtschaftliche Lage und die Geschäftstätigkeit der Insolvenzschuldnerin zu prüfen und zu überwachen (vgl. §§ 270a Abs. 1 Satz 1, 274 Abs. 2 InsO). Hierbei wird er den Sorgfaltsmaßstab eines vorläufigen Insolvenzverwalters anlegen.194) ___________ 189) 190) 191) 192) 193) 194)
Landfermann in: HK-InsO, § 274 Rz. 9. Zutreffend Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 171 Rz. 559. Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 172 Rz. 560. Vgl. Hofmann, Eigenverwaltung, S. 111 ff. Hofmann, Eigenverwaltung, S. 108 Rz. 358. Hofmann, Eigenverwaltung, S. 107 Rz. 355.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
§ 44
Der Gesichtspunkt der Masseerhaltung bildet einen Schwerpunkt der Prüfungs- und Kontrollbefugnisse. Insbesondere ist durchzusetzen, dass grundsätzlich nicht auf Altforderungen gezahlt werden darf, um so die Gleichbehandlung der Insolvenzgläubiger sicherzustellen.195) Soweit der vorläufige Sachwalter i. R. der Prüfung und Kontrolle der Geschäftstätigkeit 116 der Insolvenzschuldnerin Unregelmäßigkeiten feststellt, hat er gegenüber dem Insolvenzgericht Bericht zu erstatten und etwaige Nachteile der vorläufigen Eigenverwaltung anzuzeigen. Damit wird dem Insolvenzgericht die Möglichkeit eingeräumt, weitere Sicherungsmaßnahmen anzuordnen und ggf. in ein Regel(eröffnungs)verfahren überzugehen. Die Pflicht zur Offenbarung von Fehlern und Missständen ist insoweit eine insolvenzspezifische Pflicht, deren Verletzung zur persönlichen Haftung führen kann.196) 4.
Haftung des Sachwalters im Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO
Die oben, siehe unter Rz. 113, gezeigten Maßgaben gelten auch für die vorläufige Eigenver- 117 waltung in ihrer Gestalt als Schutzschirmverfahren. Als Besonderheit kommt hier hinzu, dass das Schutzschirmverfahren von Gesetzes wegen auf die Ausarbeitung und Vorlage eines Insolvenzplans ausgerichtet ist (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO). Insoweit wird der vorläufige Sachwalter (§ 270b Abs. 1 Satz 1 InsO) im Schutzschirmverfahren die Befugnis zur Prüfung der wirtschaftlichen Lage und Geschäftsführung der Insolvenzschuldnerin im Hinblick auf den zu erwartenden Insolvenzplan ausüben müssen. Zudem ist nach § 270d Abs. 4 Satz 1 InsO besonders auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zu achten, der vom vorläufigen Sachwalter unverzüglich dem Insolvenzgericht angezeigt werden muss. VI.
Haftung der Insolvenzschuldnerin und ihrer Organe in der Eigenverwaltung
Im Hinblick auf die mögliche Haftung der Insolvenzschuldnerin und ihrer Organe im Ver- 118 fahren der (vorläufigen) Eigenverwaltung enthält das Gesetz keine unmittelbar anwendbaren Vorschriften. § 274 Abs. 1 InsO mit dem Verweis auf § 60 InsO ist lediglich auf den Sachwalter anzuwen- 119 den, nicht jedoch auf die sich selbst verwaltende Insolvenzschuldnerin und deren Organe. § 277 Abs. 1 Satz 3 InsO mit dem Verweis auf § 61 InsO betrifft ebenfalls den Sachwalter, 120 soweit dieser der Begründung von Masseverbindlichkeiten zustimmt. Die Insolvenzschuldnerin und deren Organe werden im Wortlaut des Gesetzes nicht direkt angesprochen. Über die Verweisung in § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO können die §§ 60, 61 InsO nicht als allge- 121 meine Vorschriften berufen werden, da §§ 274, 277 InsO ausdrücklich besondere Regelungen enthalten und insoweit ein Rückgriff auf die allgemeinen Grundsätze ausscheidet.197) Es liegt hinsichtlich der Haftungsverantwortung der Insolvenzschuldnerin und ihren Or- 122 ganen eine Regelungslücke vor, die durch entsprechende Rechtsauslegung zu schließen ist.198) Unterstellt man, dass die Insolvenzschuldnerin in der (vorläufigen) Eigenverwaltung die Funktion des Insolvenzverwalters ausfüllt, erscheint es vom Ansatz her zutreffend, die insolvenzspezifischen Haftungsvorschriften der §§ 60, 61 InsO heranzuziehen, auch wenn kein zusätzliches Haftungsvermögen der Insolvenzschuldnerin zur Verfügung steht,199) welches jenseits der in Beschlag genommenen Insolvenzmasse (§ 35 InsO) zur Befriedi___________ 195) 196) 197) 198) 199)
Hofmann, Eigenverwaltung, S. 107 Rz. 355. Vgl. Hofmann, Eigenverwaltung, S. 167 Rz. 526. Anders Huhn, Die Eigenverwaltung im Insolvenzverfahren, Rz. 609, 625, Jungmann, NZI 2009, 80, 85. Vgl. eingehend König, Die Haftung bei der Eigenverwaltung, S. 65 ff. So Hofmann, Eigenverwaltung, S. 163 Rz. 516; Bachmann, ZIP 2015, 101 ff.
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§ 44
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
gung von Ersatzansprüchen aus §§ 60, 61 InsO herangezogen werden kann.200) Ergänzt wird die spezifisch insolvenzrechtliche Haftung der Insolvenzschuldnerin durch das allgemeine Bürgerliche Recht, insbesondere durch deliktische Vorschriften der §§ 823 ff. BGB.201) 1.
Haftung der Insolvenzschuldnerin analog §§ 60, 61 InsO
123 Nach zutreffender (nicht herrschender) Ansicht haftet die Insolvenzschuldnerin analog §§ 60, 61 InsO im Verfahren der (vorläufigen) Eigenverwaltung.202) Zwar ist das gesamte Vermögen der Insolvenzschuldnerin als Insolvenzmasse ohnehin zur Befriedigung der Ansprüche der Insolvenzgläubiger beschlagnahmt und es wird außerhalb dieser Vermögensmasse praktisch kein weiteres materielles Haftungssubstrat zur Verfügung stehen. Gleichwohl ist die Anwendung der insolvenzspezifischen Haftungsnormen aus den folgenden Gründen erforderlich: x
Die Insolvenzschuldnerin unterliegt auch im Verfahren der Eigenverwaltung einer umfassenden gesetzlichen Pflichtenbindung im Hinblick auf das Verfahrensziel und den Verfahrenszweck.
x
Sie ist fremdnützig im Interesse der Verfahrensbeteiligten tätig und hat die gesetzlichen Bindungen zu achten und zu befolgen.
x
Um diese Pflichtenbindung rechtlich abzusichern, muss eine entsprechende insolvenzspezifische Verantwortlichkeitsregelung eingreifen.
124 Soweit die Insolvenzschuldnerin gegen ihre insolvenzspezifischen Pflichten verstößt und analog §§ 60, 61 InsO zur Verantwortung gezogen wird, kann sie gegenüber ihren Gesellschaftsorganen Regress nehmen und insoweit die Insolvenzmasse anreichern.203) 2.
Haftung der Insolvenzschuldnerin nach allgemeinen Grundsätzen
125 Die Insolvenzschuldnerin haftet Vertragsgläubigern ferner nach den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen und gemäß §§ 823 ff. BGB im Falle deliktischer Handlungen.204) Dies können insbesondere Rechtsverstöße gegen die Eigentumszuordnung sein, z. B. die Nichtbeachtung bestehender Aus- und Absonderungsrechte bei Eigentumsvorbehaltskäufen und Sicherungsübereignungen. 3.
Haftung der Gesellschaftsorgane der Insolvenzschuldnerin
3.1
Innenhaftung der Gesellschaftsorgane gegenüber der Insolvenzschuldnerin
126 Im Verfahren der Eigenverwaltung sind die Gesellschaftsorgane einer Innenhaftung gegenüber der Insolvenzschuldnerin ausgesetzt: Diese ergibt sich zunächst aus den § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 AktG,205) wonach die Geschäftsleiter und Vorstände zur Einhaltung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes verpflichtet sind. Ihr Pflichtenkreis ergibt sich mittelbar aus den §§ 270 ff. InsO. Zwar ist die Insolvenzschuldnerin selbst zur Eigenverwaltung berechtigt, d. h. sie ist als juristische Person Adressatin der Rechte und Pflichten ___________ 200) Vgl. auch Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 131 Rz. 436. 201) Vgl. König, Die Haftung bei der Eigenverwaltung, S. 290 f.; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 132 Rz. 442; Thole/Brünkmans, ZIP 2013, 1097, 1099. 202) Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 132 Rz. 440; Thole/Brünkmans, ZIP 2013, 1097 ff.; a. A. Hofmann, Eigenverwaltung, S. 163 Rz. 516; Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 156 Rz. 513. 203) Zutreffend Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 132 Rz. 441; Thole/ Brünkmans, ZIP 2013, 1097, 1103. 204) König, Die Haftung bei der Eigenverwaltung, S. 290, 322 f., 339 f. 205) Umfassend hierzu König, Die Haftung bei der Eigenverwaltung, S. 143 ff.
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Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters, Sachwalters und der Organe
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aus den §§ 270 ff. InsO. Jedoch trifft die Geschäftsleiter und Vorstände aufgrund ihrer Organverantwortung eine allgemeine Legalitätspflicht, d. h. die Mitglieder der Geschäftsführungsorgane haben dafür zu sorgen, dass die Schuldnerin die insolvenzrechtlichen Vorgaben und Bindungen aufgrund der §§ 270 ff. InsO einhält.206) Verstöße hiergegen sind zugleich Verstöße gegen die § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 AktG und führen zur persönlichen Haftung der Geschäftsleiter, soweit in vorwerfbar kausaler Weise ein Schaden verursacht wurde. Im Schrifttum207) werden beispielhaft Geschäftsleiter- und Vorstandspflichten aufgeführt, 127 deren Verletzung reflexartig zu einer persönlichen Haftung wegen des Verstoßes gegen die Legalitätspflicht führen kann: x
die Pflicht zur Sicherung der Insolvenzmasse,
x
die Pflicht zur Ausführung der Zahlungen, die für die Unternehmensfortführung erforderlich sind,
x
die Pflicht zur ordnungsgemäßen Abwicklung des Zahlungsverkehrs,
x
die Pflicht zur Berücksichtigung bestehender Aus- und Absonderungsrechte und
x
die Pflicht zur Vorlage eines Insolvenzplans etc.
Wichtig ist hierbei, dass nicht die Gläubigerinteressen den Orientierungsmaßstab für die 128 Handlungen der Gesellschaftsorgane bilden. Diese sind und bleiben weiterhin dem Gesellschafts- oder Unternehmensinteresse verpflichtet. Gleichwohl wird die Insolvenzschuldnerin mit der Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung einem speziellen gesetzlichen Korsett aus §§ 270 ff. InsO unterstellt und insoweit wandelt sich die Leitvorstellung, da das originäre (aus Satzung und Gesellschaftsvertrag sich ergebende) Gesellschafts- oder Unternehmensinteresse nur noch so weit frei verfolgt werden darf, wie die InsO dies zulässt. Ferner kann sich eine Innenhaftung gegenüber der Insolvenzschuldnerin nach § 15b Abs. 4 129 Satz 1 InsO aus Verstößen gegen das Zahlungsverbot ergeben. Haftungsbegründend ist die Ausführung von Zahlungen an Gläubiger im Zeitpunkt der Insolvenzreife, wenn die Zahlung nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind (§ 15b Abs. 1 InsO). Es handelt sich hierbei um eine insolvenzrechtliche Haftung, die ihren Sinn und Zweck in der Sicherung der zukünftigen Insolvenzmasse findet.208) Der Anspruch aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO ist auf die Wiederauffüllung der geschmälerten Insolvenzmasse gerichtet, nach § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO allerdings begrenzt auf den tatsächlichen Schaden der Gläubigerschaft („Quotenschaden“). Gläubigerin des Anspruchs ist die Insolvenzmasse, nicht die Insolvenzgläubiger. 3.2
Analoge Anwendung von §§ 60, 61 InsO auf die Gesellschaftsorgane
Die Frage, ob die Organe der Insolvenzschuldnerin analog §§ 60, 61 InsO eine Außenhaf- 130 tung gegenüber den Verfahrensbeteiligten trifft, war lange Zeit umstritten. Die ablehnende Auffassung verneinte eine Außenhaftung;209) § 274 InsO verweise auf § 60 InsO nur für die Haftung des Sachwalters, nicht für die Haftung der Gesellschaftsorgane der Schuldnerin, die nicht Adressat der Rechte und Pflichten aus der Eigenverwaltung sind; unberührt bleibe jedoch die Innenhaftung gegenüber der Schuldnerin nach § 43 GmbHG und § 93 AktG. Der BGH befürwortet demgegenüber die Haftung des Geschäftsleiters in der ___________ 206) Vgl. Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 157 Rz. 521; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 124 Rz. 419; Thole, ZHR 173 (2009) 504; Thole/Brünkmans, ZIP 2013, 1097, 1099. 207) Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 125 Rz. 422. 208) Zutreffend Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 129 Rz. 429. 209) OLG Düsseldorf, Urt. v. 7.9.2017 – I-16 U 33/17, NZI 2018, 65 = ZIP 2017, 2211.
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Eigenverwaltung analog §§ 60, 61 InsO.210) Die Geschäftsleiter verfügen in der Eigenverwaltung der Gesellschaft über dem Insolvenzverwalter weitgehend angenäherte Befugnisse.211) Geschäftsleiter werden nach Anordnung der Eigenverwaltung nicht mehr in Ausübung ihrer gesellschaftsrechtlichen Leitungsmacht tätig, sondern nehmen die insolvenzrechtlichen Pflichten der Gesellschaft wahr, und haben dazu vorrangig auf die Belange der Gläubiger Rücksicht zu nehmen.212) Der Geschäftsleiter haftet daher für die Erfüllung insolvenzspezifischer Pflichten analog § 60 InsO und bei der Begründung von Masseverbindlichkeiten analog § 61 InsO.213) 3.3
Haftung der Gesellschaftsorgane nach allgemeinen Vorschriften
131 Eine Außenhaftung der Mitglieder der Gesellschaftsorgane gegenüber einzelnen Beteiligten des Insolvenzverfahrens ist ferner nach §§ 823 ff. BGB denkbar, wenn und soweit die Geschäftsführer und Vorstände schuldhaft in absolut geschützte Rechtsgüter eingreifen (§ 823 Abs. 1 BGB), Schutzgesetze verletzen (§ 823 Abs. 2 BGB) oder in vorwerfbar sittenwidriger Weise Rechte der Verfahrensbeteiligten stören (§ 826 BGB). Insbesondere sind hier Situationen betroffen, in denen Eigentumsrechte, Aus- und Absonderungsrechte der Beteiligten missachtet werden.214)
___________ 210) 211) 212) 213) 214)
BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, NZI 2018, 519. BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 52, NZI 2018, 519. BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 53, NZI 2018, 519. BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 64, NZI 2018, 519. Rattunde/Stark, Der Sachwalter, S. 161 Rz. 535 f.; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, S. 132 Rz. 442 – mit Verweis auf BGH, Urt. v. 3.2.1987 – VI ZR 268/85, BGHZ 100, 19 ff. = ZIP 1987, 509, und BGH, Urt. v. 5.12.1989 – VI ZR 335/88, BGHZ 109, 297 ff., sowie BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, ZIP 2012, 1552 ff.
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§ 45 Haftung der Beteiligten eines Restrukturierungsvorhabens nach dem StaRUG Fritz
Übersicht I.
Haftungsgrundsätze und Ziele des StaRUG ................................................. 1 II. Haftung des Schuldners ........................... 10 1. Pflichten des Schuldners............................ 12 1.1 Sanierungsspezifischer Sorgfaltsmaßstab (§ 32 Abs. 1 StaRUG) ................... 12 1.1.1 Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Sanierungsgeschäftsführers............................. 13 1.1.2 Wahrung der Interessen der Gläubigergesamtheit ............... 16 1.1.3 Shift of Fiduciary Duties?............. 19 1.1.4 Restrukturierungsorientiertes Controlling .................................... 22 1.2 Mitteilungspflichten (§ 32 Abs. 2 StaRUG) ................... 23 1.3 Anzeige der Insolvenzreife (§ 32 Abs. 3 StaRUG) ................... 29 1.4 Anzeige fehlender Erfolgsaussichten (§ 32 Abs. 4 StaRUG) ...... 31 1.5 Auskunftspflicht nach § 39 Abs. 2 StaRUG .............................. 32 2. Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen ....... 33 3. Analyse der haftungsrelevanten Schwerpunkte ............................................. 34 4. Folgen für die Praxis .................................. 38 III. Haftung der Organe, insbesondere der Geschäftsleitung................................. 42 1. Geschäftsleiterpflichten und -haftung nach dem StaRUG...................................... 43 1.1 Haftung nach § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG............................... 46 1.1.1 Pflichten des Geschäftsleiters....... 47 1.1.1.1 Pflicht zur sachgerechten Durchführung des Restrukturierungsvorhabens ....................................... 49 1.1.1.2 Pflicht zur Anzeige des Eintritts der Insolvenzreife .......................... 52 1.1.1.3 Pflicht zur Anzeige wesentlicher Änderungen ................................... 53 1.1.1.4 Pflicht zur Anzeige fehlender Erfolgsaussichten........................... 55 1.1.1.5 Pflicht zum Betreiben eines restrukturierungsorientierten Controllings................................... 56
2.
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1.1.1.6 Pflicht zur Abgabe wahrheitsgemäßer und vollständiger Erklärungen ................................... 57 1.1.1.7 Umgang mit den Gläubigerinteressen entgegenstehenden Weisungen der Gesellschafter....... 58 1.1.2 Verschulden und Exkulpation ...... 59 1.1.3 Haftungsausfüllender Tatbestand...................................... 60 1.1.4 Verzicht und Vergleich (§ 43 Abs. 2 StaRUG) ................... 64 1.1.5 Verjährung (§ 43 Abs. 3 StaRUG) ................... 65 1.2 Haftung nach § 57 Satz 1 StaRUG.......................................... 66 1.3 (Strafrechtliche) Haftung wegen Insolvenzverschleppung (§ 42 Abs. 3 StaRUG) ................... 72 Geschäftsleiterpflichten und -haftung außerhalb des StaRUG............................... 75 2.1 Haftung wegen Verletzung der Pflicht zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement nach § 1 StaRUG vor Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache ..................... 75 2.1.1 Pflicht zum Wachen über die den Fortbestand gefährdenden Entwicklungen............................... 78 2.1.2 Pflicht zum Ergreifen geeigneter Maßnahmen ................................... 81 2.1.3 Pflicht zur Berichterstattung gegenüber Überwachungsorganen........................................... 84 2.1.4 Pflicht zum Hinwirken auf die Beschlussfassung anderer Organe..... 85 2.1.5 Rechtsfolgen einer Verletzung der Pflichten aus § 1 StaRUG....... 86 2.2 Rechtsformspezifische Geschäftsleiterhaftung .................. 87 2.2.1 Haftungsbegründender Tatbestand...................................... 88 2.2.2 Haftungsausfüllender Tatbestand...................................... 92 2.2.3 Darlegungs- und Beweislastregeln ........................................ 94
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§ 45 2.3 2.3.1
Teil VI Rechnungslegung, Haftung, Vergütung
Deliktische Haftung...................... 95 Haftung wegen der Nutzung des präventiven Restrukturierungsrahmens auf Basis falscher Angaben (§ 823 Abs. 1 BGB)....... 95 2.3.2 Haftung wegen Verletzung der Pflicht zur Anzeige der Insolvenzreife (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG) ........................................ 96 2.3.3 Haftung wegen Verletzung restrukturierungsspezifischer Pflichten (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 StaRUG) ..................... 98 2.3.4 Haftung wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB)................................... 99 2.4 Haftung nach § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO .................................. 100 3. Haftung der Aufsichtsratsmitglieder...... 102 3.1 Pflichten in der Krise .................. 102 3.2 Haftung........................................ 105 3.2.1 Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft ........................... 105 3.2.2 Außenhaftung gegenüber Gläubiger ..................................... 110 4. Pflicht zur Verfolgung von Ansprüchen gegen Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder ........................................... 111 4.1 Ansprüche gegen Geschäftsleiter ............................................. 112 4.2 Ansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder............................... 114 5. Analyse der haftungsrelevanten Schwerpunkte........................................... 115 6. Folgen für die Praxis................................ 117 IV. Haftung des Restrukturierungsbeauftragten............................................. 121 1. Haftung nach dem StaRUG (§ 75 Abs.4 Satz 3 StaRUG) ................... 122 1.1 Restrukturierungsspezifischer Sorgfaltsmaßstab ......................... 125 1.2 Generelle Pflichten des Restrukturierungsbeauftragten ....... 128 1.2.1 Neutralitätsgebot ........................ 128 1.2.2 Verschwiegenheitspflicht............ 129 1.3 Pflichten des notwendigen Restrukturierungsbeauftragten (§ 76 StaRUG) ............................ 130 1.3.1 Mitteilungspflicht (§ 76 Abs. 1 StaRUG)................. 132 1.3.2 Weitere Aufgaben nach § 76 Abs. 2 StaRUG ............................ 133 1.3.2.1 Aufgaben zum Gläubigerschutz (§ 76 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG)....... 134
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1.3.2.2 Überwachung des Schuldners (§ 76 Abs. 2 Nr. 2 lit. a StaRUG) ...................................... 137 1.3.2.3 Vermögenssicherung (§ 76 Abs. 2 Nr. 2 lit. b StaRUG) ................... 138 1.3.2.4 Unterstützung bei der Ausarbeitung und Aushandlung des Restrukturierungskonzepts und -plans (§ 76 Abs. 2 Nr. 4 StaRUG) ...................................... 139 1.3.3 Stabilisierungsanordnung (§ 76 Abs. 3 StaRUG)................. 140 1.3.3.1 Fortlaufende Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen und Aufhebungsgründe (§ 76 Abs. 3 Nr. 1 StaRUG) ............................ 141 1.3.3.2 Geltendmachung von Aufhebungsgründen (§ 76 Abs. 3 Nr. 2 StaRUG) ............................ 142 1.3.4 Bericht zur Erklärung nach § 14 StaRUG (§ 76 Abs. 4 StaRUG)... 143 1.3.5 Durchführung von Zustellungen (§ 76 Abs. 6 StaRUG)................. 144 1.4 Pflichten des fakultativen Restrukturierungsbeauftragten....... 145 1.4.1 Unterstützung und Vermittlung ................................. 147 1.4.2 Auskunfts- und Berichtspflicht ... 149 1.4.3 Überwachung und Prüfung ........ 150 1.5 Beurteilung einer Pflichtverletzung .................................... 151 1.6 Verschulden ................................. 152 1.7 Haftungsausfüllender Tatbestand....154 1.8 Verjährung ................................... 159 1.9 Hinweis zur Formulierung der Bestellungsbeschlüsse ........... 160 2. Haftungsnormen außerhalb des StaRUG ............................ 163 2.1 (Vor-)vertragliche Haftung? ...... 164 2.2 Deliktische Haftung.................... 165 3. Keine Haftungsprivilegierung ................. 166 4. Analyse der haftungsrelevanten Schwerpunkte........................................... 167 5. Folgen für die Praxis................................ 169 5.1 Bestellungsbeschluss ................... 169 5.2 Versicherungsschutz ................... 170 V. Haftung der Schuldnerberater .............. 173 1. Haftung nach dem StaRUG .................... 173 2. Haftung außerhalb des StaRUG ............. 181 2.1 Vertragliche Haftung .................. 181 2.1.1 Haftung des Beraters im Innenverhältnis wegen Verletzung seiner Hinweis- und Warnpflichten (§§ 280 Abs. 1, 675 BGB i. V. m. § 102 StaRUG)...... 182
Fritz
Haftung der Beteiligten eines Restrukturierungsvorhabens nach dem StaRUG 2.1.2
2.1.3
Haftung des Beraters im Außenverhältnis wegen Verletzung seiner Hinweis- und Warnpflichten (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB i. V. m. § 102 StaRUG i. V. m. den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter)........ 186 Haftung des Beraters im Innenverhältnis wegen mangelhafter Implementierung eines Krisenfrüherkennungs- oder Krisenmanagementsystems (§§ 280 Abs. 1, 675 BGB i. V. m. § 1 StaRUG)...... 188
§ 45
2.1.4
3. 4. 5.
Haftung des Abschlussprüfers (§ 323 Abs. 1 Satz 3 HGB) ........................................... 191 2.2 Deliktische Haftung des Beraters wegen Mitwirkung an einer Insolvenzverschleppung (§§ 823 Abs. 2, 830 Abs. 2, 840 Abs. 1 BGB i. V. m § 15a Abs. 1 InsO bzw. § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG) ...................................... 195 Haftungsprivilegierung ............................ 196 Analyse der haftungsrelevanten Schwerpunkte ........................................... 198 Folgen für die Praxis ................................ 200
Literatur: Bea/Dressler, Praktische Erwägungen zur Organhaftung im Kontext des StaRUG, NZI 2021, 67; Brinkmann, Die Solvenzsicherungspflicht der Geschäftsleiter, KTS 2021, 303; Brinkmann, Die Haftung der Geschäftsleiter in der Krise nach dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG), ZIP 2020, 2361; Brünkmans, Geschäftsleiterpflichten und Geschäftsleiterhaftung nach dem StaRUG und SanInsFoG – Nachtrag zu ZInsO 2021, 1 ff., ZInsO 2021, 125; Fiebig, StaRUG – eine Auswertung der ersten praktischen Fälle, ZRI 2021, 561; Flöther, Der Restrukturierungsbeauftragte: Neue Figur in altbekanntem Gewand?, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 48; Frind, Überreguliert statt saniert?, ZInsO 2020, 2241; Fritz/Scholtis, Die künftige Rolle des Restrukturierungsbeauftragten im Lichte des präventiven Restrukturierungsrahmens, NZI 2020, 49; Gehrlein, Das Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG) – ein Überblick, BB 2021, 66; Guntermann, StaRUG: Neuausrichtung der Geschäftsleiterpflichten bei drohender Zahlungsunfähigkeit?, WM 2021, 214; Hölzle, Zur Begründung und Ausgestaltung einer Restrukturierungsverschleppungshaftung, in Festschrift für Markus Gehrlein, 2022, S. 261; Jungmann, Die Ausrichtung der Pflichten von Gesellschaftsorganen an den Interessen der Residualberechtigten, ZRI 2021, 209; Korch, Restrukturierungshaftung der Geschäftsleiter nach dem StaRUG, GmbHR 2021, 793; Kuntz, Geschäftsleiterhaftung bei drohender Zahlungsunfähigkeit nach StaRUG, ZIP 2021, 597; Mock, Gatekeeper und Insolvenzverschleppung – zum Irrweg der Begründung einer mittelbaren haftungsrechtlichen Verantwortung für die verspätete Insolvenzantragstellung, KTS 2020, 245; Pape, Hinweis- und Warnpflichten des Steuerberaters bei Insolvenzreife des Mandanten, NZI 2019, 260; Scholz, Die Krisenpflichten von Geschäftsleitern nach Inkrafttreten des StaRUG, ZIP 2021, 219; SchulteKaubrügger/Dimassi, Der Restrukturierungsbeauftragte nach dem StaRUG, ZIP 2021, 936; Skauradszun/ Amort, Krisenfrüherkennung und -management, Organkompetenzen und die Frage nach der Restrukturierungsverschleppungshaftung, DB 2021, 1317; Smid, Innen- und Außenhaftung des Geschäftsleiters bei Inanspruchnahme des Restrukturierungsrahmens durch die schuldnerische Gesellschaft nach § 43 StaRUG, ZInsO 2021, 117; Smid, Der Restrukturierungsbeauftragte in den Regelungen des StaRUG, ZInsO 2020, 2184; Thole, Die Geschäftsleiterhaftung im StaRUG und nach § 15b InsO n. F., BB 2021, 1347; Thole, Der Entwurf eines Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetzes (StaRUG-RefE), ZIP 2020, 1985; Thole, Das Amt des Restrukturierungsbeauftragten – Umsetzungsperspektiven für den deutschen Gesetzgeber, ZRI 2020, 393; Weber/Dömmecke, Das Haftungsregime des StaRUG, NZI Beilage z. Heft 5/2021, S. 27.
I.
Haftungsgrundsätze und Ziele