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German Pages 534 [535] Year 2013
Göpfert (Hrsg.) Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz
Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz 2013
herausgegeben von Dr. Burkard Göpfert bearbeitet von Michael Baur, Dr. Gunnar Binnewies, Max Falckenberg, Tobias Frommhold, Prof. Dr. Tom Gellrich, Dr. Andree Gossak, Johannes Graner, Miguel Grosser, Dr. Karl-Friedrich Gulbins, Dr. Jens Günther, Dr. Rüdiger Helm, Ottmar Hermann, Dr. Burghard Hildebrandt, Michael Huber, Patrik Sven Jacob, Christian Köhler-Ma, Dr. Martin Prager, Ralf Reinfelder, Hendrik Röger, Jakob Rüden, Max Scholz, Carolin Sigle, Dr. Matthias Tresselt, Dr. Sven-Holger Undritz, Dr. Elena Wilke, Thomas Witt
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Inhaltsübersicht Seite
Vorwort ................................................................................................................ V Autorenverzeichnis ..................................................................................... XXIX Literaturverzeichnis ................................................................................. XXXIII Teil I Rechtsgrundlagen ..................................................................................... 1 § 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft ..... 3 Teil II Operative personalwirtschaftliche Sanierung – Case Studies 1 bis 5 – ......................................................................... 23 § 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen ........................ 25 § 3 Case Study 2 ................................................................................................. 51 § 4 Case Study 3 ................................................................................................. 57 § 5 Case Study 4 ................................................................................................. 61 § 6 Case Study 5 ................................................................................................. 89 Teil III Perspektiven des Sanierungsarbeitsrechts ........................................ 93 § 7 Die Betriebsratsperspektive: Sanierungsarbeitsrecht aus Arbeitnehmersicht ........................................................................................ 95 § 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht .................................................... 115 § 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts .................. 127 Teil IV Arbeitsrecht in der Restrukturierung und Insolvenz – Einzelthemen – ............................................................................... 149 § 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick ......................... 151
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren .......................................................................... 199 § 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung ................................ 217 § 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung ........................................ 241 § 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan ....................................... 267 § 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis .............................................. 289 § 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen ... 299 § 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern bei der operativen Abwicklung vor Insolvenz ...................................................................... 311 § 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht ............................................ 335 Teil V Formen der Beendigung von Arbeitsverträgen in der Restrukturierung und Insolvenz ....................................................... 359 § 19 Aufhebungsvertrag in der Krise .............................................................. 361 § 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz ............ 371 § 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften .............................................. 395 § 22 Beschäftigungsgesellschaft und Betriebsübergang – ein Umgehungsthema? – ...................................................................... 407 § 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz ................... 417 § 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz ....................... 437 Stichwortverzeichnis ....................................................................................... 469
VIII
§ 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht Übersicht I. II. III. 1. 2.
3.
4.
Einführung ........................................ 1 Rechtsquellen .................................... 5 Art. 10 EuInsVO ............................... 7 Anwendungsbereich........................... 7 Voraussetzungen .............................. 11 a) Arbeitsvertrag/Arbeitsverhältnis.................................... 11 b) Relevanter Zeitpunkt ............... 12 c) „Ausschließliche Geltung“........ 13 Rechtsfolge ....................................... 14 a) Verweis auf allgemeines Kollisionsrecht........................... 14 b) Internationales Arbeitsrecht..... 15 aa) Rom I-VO und EGBGB .... 15 bb) Das Arbeitsvertragsstatut ................................... 16 c) Reichweite der Sonderanknüpfung................................ 20 Arbeitsvertragsstatut – Einzelfälle .................................................... 22
a) Beendigung des Arbeitsverhältnisses............................... 22 b) Betriebsübergang....................... 24 c) Kollektives Arbeitsrecht, insbesondere Betriebsverfassungsrecht ........................ 25 d) Betriebliche Altersversorgung............................................ 26 5. Insolvenzstatut – Einzelfälle ........... 27 a) Insolvenzgeld............................. 27 b) Lohnforderungen/Sozialplanansprüche/Rangfragen ....... 28 aa) Grundsatz ........................... 28 bb) Änderungen bzgl. des Rangs der Arbeitnehmerforderungen durch die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens ..... 30 c) Pfändungsschutz ....................... 32 IV. § 337 InsO ....................................... 33
Literatur: Beck, Verteilungsverfahren im Verhältnis zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren nach der EuInsVO, NZI 2007, 1; Braun/Wierzioch, Neue Entwicklungen beim Insolvenzgeld, ZIP 2003, 2001; Falder, Geschäftsführer bei Auslandsgesellschaften – Geschäftsführer ausländischer Tochtergesellschaften – leitende Angestellte nach deutschem Arbeitsrecht?, NZA 2000, 868; Göpfert/Müller, Englisches Administrationsverfahren und deutsches Insolvenzarbeitsrecht, NZA 2009, 1057; Liebmann, Der Schutz des Arbeitnehmers bei grenzüberschreitenden Insolvenzen, 2005; Mankowski, Bestimmung der Insolvenzmasse und Pfändungsschutz unter der EuInsVO, NZI, 2009, 785; Pannen/Dammann, Europäische Insolvenzverordnung, 2011; Paulick, EU-Grenzgänger und die Anwendbarkeit der deutschen Pfändungsschutzvorschriften, ZInsO 2009, 1933; Paulus, EuInsVO: Änderungen am Horizont und ihre Auswirkungen, NZI 2012, 297; Preis, Arbeitsrecht/Individualarbeitsrecht, 2012 (zit. AR); Richardi (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz, 13. Aufl., 2013; Riesenhuber, Die konkludente Rechtswahl im Arbeitsvertrag, DB 2005, 1571; Schlachter, Grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse, NZA 2000, 57; Schmidt, Eurofood – Eine Leitentscheidung und ihre Rezeption in Europa und den USA, ZIP 2007, 405; Schneider, Einfluss der Rom I-VO auf die Arbeitsvertragsgestaltung mit Auslandsbezug; NZA 2010, 1380; Simon, „EU-Grenzgänger“ und die Anwendbarkeit der deutschen Pfändungsvorschriften, ZInsO 2009, 1933; Vallander, Die Insolvenz von Scheinauslandsgesellschaften, ZGR 2006, 425.
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§ 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht
I.
Einführung
1 In der wirtschaftsrechtlichen Praxis gewinnen das internationale Insolvenzrecht und das internationale Arbeitsrecht durch die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft stetig an Bedeutung.1) 2 Aus arbeitsrechtlicher Sicht stellen sich bei Insolvenzverfahren mit Auslandsbezug eine Reihe von Fragen, entscheidet sich doch mit der geltenden Rechtsordnung, ob und wieweit etwa die deutschen Arbeitnehmerschutzvorschriften oder die Erleichterungen insbesondere nach §§ 113, 125 InsO Anwendung finden können.2) 3 Wird die Entscheidung, welche Rechtsordnung für die Regelung von Arbeitsverhältnissen mit Auslandsberührung zuständig sein soll, grundsätzlich nach den Bestimmungen des internationalen Arbeitsrechts getroffen,3) so beantwortet das internationale Insolvenzrecht alle Rechtsfragen, die sich aus grenzüberschreitenden Sachverhalten in Insolvenzfragen ergeben.4) 4 Allgemeiner kollisionsrechtlicher Grundsatz des internationalen Insolvenzrechts ist die Universalität, wonach grundsätzlich das Recht des Eröffnungsstaates maßgeblich ist, lex fori concursus (vgl. Art. 4 Abs. 1 EuInsVO, § 335 InsO).5) Wegen der oftmals existentiellen Bedeutung für den Arbeitnehmer werden jedoch Arbeitsverhältnisse über Sonderkollisionsnormen als Schutznormen für Arbeitnehmer (Art. 10 EuInsVO, § 337 InsO) dem Recht des Arbeitsortes (lex causae), also dem Arbeitsvertragsstatut unterstellt.6) II.
Rechtsquellen Zum deutschen autonomen Internationalen Insolvenzrecht: BAG Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, DB 2013, 1421
___________ 1) Wenner/Schuster in: FK-InsO, Vor §§ 335 ff. Rz. 3; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Vor §§ 335 ff. Rz. 1; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/Karahan, InsO, § 335 Rz. 13; Undritz in: HambKomm-InsR, Vor § 335 Rz. 1; bereits Schlachter, NZA 2000, 57. 2) Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057. 3) Schlachter in: ErfK, Art. 3 ff. ROM I-VO Rz. 1 ff.; Henssler/Willemsen/Kalb-Tilmanns, ArbR, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 1; Schlachter, NZA 2000, 57. 4) Wenner/Schuster in: FK-InsO, Vor §§ 335 ff. Rz. 3; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Vor §§ 335 ff. Rz. 1; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/Karahan, InsO, § 335 Rz. 13. 5) Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 4 EuInsVO Rz. 1; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/ Karahan, InsO, § 335 Rz. 31 f.; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Vor §§ 335 – 358 Rz. 3. 6) BT-Drucks. 15/16; BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZA 2013, 94 = FZI 2013, 52 m. Anm. Janz; BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, BeckRS 2013, 67590 = DB 2013, 1421; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Vor §§ 335 ff. Rz 9 ff., Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 1; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/Karahan, InsO, § 337 Rz. 8; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 1; Uhlenbruck-Lüer, InsO, § 337 Rz. 3, Art. 10 EuInsVO Rz. 1; allgemein zum Arbeitsrecht als Schutzrecht des Arbeitnehmers Preis, AR, § 1 I.
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III. Art. 10 EuInsVO
Wesentliche Rechtsquellen sind somit einerseits EuInsVO, die als Verordnung 5 der EU in Deutschland unmittelbar gilt und zu der regelungstechnisch die Art. 102 §§ 1 – 11 EGInsO gehören. Anderseits das deutsche autonome Insolvenzrecht der §§ 335 ff. InsO.7) Die EuInsVO beansprucht Geltung in allen Mitgliedstaaten der EU mit Ausnah- 6 me Dänemarks und verdrängt – soweit der Anwendungsbereich eröffnet wird – das deutsche autonome Insolvenzrecht. Dessen Anwendungsbereich wird daher zumindest für arbeitsrechtliche Sachverhalte entsprechend stark beschränkt auf Insolvenzverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO.8) III.
Art. 10 EuInsVO
1.
Anwendungsbereich Zum Center of Main Interest: EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood), ZIP 2006, 907; EuGH, Urt. v. 15.12.2011 – Rs. C-191/10 (Rastelli), ZIP 2012, 183 = NZI 2012, 147 Zu §§ 113, 125 InsO: BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312
Die EuInsVO normiert das supranationale europäische Insolvenzrecht für grenz- 7 überschreitende Insolvenzverfahren in den EU-Mitgliedstaaten. Gemäß Art. 4 Abs. 1 EuInsVO gilt grundsätzlich für das Insolvenzverfahren und seine Wirkung das Insolvenzrecht des Mitgliedstaates, in dem das Verfahren eröffnet wird. Nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO sind für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat (Center of Main Interest).9) Mit dem BAG10) ist von den Gerichten der übrigen Mitgliedstaaten anzuerkennen, wenn und soweit ein Gericht eines anderen Mitgliedstaates, bei dem der Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens i. S. der EuInsVO anhängig gemacht wird, seine Zuständigkeit bejaht und ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet hat, sofern kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet und die Anwendungsvoraussetzungen der ordre-public-Klausel des Art. 26 EuInsVO nicht erfüllt sind. ___________ 7) Art. 5 des Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts v. 14.3.2003, BGBl. I 2003, 345 – 351. 8) BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, BeckRS 2013, 67590 = DB 2013, 1421; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Vor Art. 1 EuInsVO Rz. 27, Vor §§ 335 ff. Rz. 3 und Rz. 22 ff.; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Vor §§ 335 Rz. 1; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/ Karahan, InsO, Vor §§ 335 ff. Rz. 8 und § 335 Rz. 7a; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Vor §§ 335 – 358 Rz. 5; Vallander, ZGR 2006, 425, 428. 9) EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood), Slg. 2006 I-03813 = NZI 2006, 360 = ZIP 2006, 907; dazu Schmidt, ZIP 2007, 405; EuGH, Urt. v. 15.12.2011 – Rs. C-191/10 (Rastelli), NZI 2012, 147 m. Anm. Mankowski = ZIP 2012, 183; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057; Paulus, NZI 2012, 297, 299. 10) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZA 2013, 94 = NZI 2013, 52 m. Anm. Janz.
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§ 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht
8 Verrichten Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat des Hauptinsolvenzverfahrens ihre Arbeit, liegt häufig eine Niederlassung i. S. des Art. 2 lit. h EuInsVO vor, wodurch gemäß Art. 3 Abs. 2 EuInsVO die Möglichkeit der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens begründet wird. Dies führt wiederum zu einem Gleichlauf zwischen dem Recht des Arbeitsortes und dem auf das Sekundärinsolvenzverfahren anwendbaren Recht, Art. 28 EuInsVO.11) 9 Art. 10 EuInsVO erklärt als „Schutznorm für Arbeitnehmer“ abweichend von Art. 4 EuInsVO (lex fori concursus), dass für die Wirkung des Insolvenzverfahrens auf den Arbeitsvertrag oder auf ein Arbeitsverhältnis nicht das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung, sondern ausschließlich nach der für den Arbeitsvertrag und das Arbeitsverhältnis maßgeblichen Rechtsordnung (lex causae) das sog. Arbeitsvertragsstatut des betreffenden EU-Mitgliedstaates maßgeblich ist.12) 10 Untersteht der Arbeitsvertrag bzw. das Arbeitsverhältnis dem Recht eines Drittstaates, ist nicht Art. 10 EuInsVO, sondern mit der wohl h. M. das jeweilige autonome Kollisionsrecht, daher – sofern der Staat der Verfahrenseröffnung Deutschland ist – § 337 InsO anwendbar.13) 2.
Voraussetzungen
a)
Arbeitsvertrag/Arbeitsverhältnis Zum europarechtlichen Arbeitnehmerbegriff: EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 (Lawrie Blum), Slg. 1986, 2121; EuGH, Urt. v. 23.3.2004 – Rs. C-138/02 (Collins/Secretary of State for Work and Pensions), Slg. 2004, I-2703
11 Die Begriffe „Arbeitsvertrag“ und „Arbeitsverhältnis“ sind inhaltlich identisch. Die Auslegung erfolgt nach h. M. autonom im Lichte der Europäischen Verordnungen und Richtlinien. Dies folgt bereits aus dem Gedanken der Rechtseinheit innerhalb der Union. Entsprechend ist Maßstab die Rechtsprechung des EuGH.14) Hiernach besteht das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnis___________ 11) Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 3. 12) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 1; Wenner/Schuster in: FK InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 1; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 1; Kübler/ Prütting/Bork-Kemper, InsO, Stand: 5/2010, Art. 10 EuInsVO Rz. 1. 13) Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 5; Reinhart in: MünchKommInsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 25 ff. – jeweils m. w. N. zum Meinungsstreit; Kübler/ Prütting/Bork-Kemper, InsO, Stand: 5/2010, Art. 10 EuInsVO Rz. 6 und Einl. EuInsVO Rz. 20, 27; Beck, NZI 2007, 1, 5. 14) Braun-Tashiro, InsO, § 337 Rz. 7; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 7 m. w. N.; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 2; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1059; Liebmann, S. 180; a. A. Kübler/Prüttimg/Bork-Kemper, InsO, Stand: 5/2010, Art 10 EuInsVO Rz. 5.
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III. Art. 10 EuInsVO
ses darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.15) Daher fallen auch Arbeitsverträge/Arbeitsverhältnisse mit Auszubildenden, Teilzeitbeschäftigten und Scheinselbständigen in den Anwendungsbereich des Art. 10 EuInsVO, nicht hingegen Verträge mit Personen, die selbständige, unabhängige und weisungsungebundene Dienstleistungen erbringen. Da die Auslegung autonom erfolgt, kommt es nicht darauf an, ob das Vertragsverhältnis nach dem Insolvenzstatut oder nach dem Arbeitsvertragsstatut als Arbeitsverhältnis eingeordnet wird.16) b)
Relevanter Zeitpunkt
Nach h. M. ist Art. 10 EuInsVO nur auf Arbeitsverträge/Arbeitsverhältnisse 12 anwendbar, die zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bereits abgeschlossen waren, so dass die Anwendbarkeit des Art. 10 EuInsVO im Umkehrschluss ausscheidet, sofern ein Arbeitsvertrag erst i. R. des eröffneten Insolvenzverfahrens mit dem Insolvenzverwalter abgeschlossen wird.17) c)
„Ausschließliche Geltung“
Der Begriff „ausschließlich“ in Art. 10 EuInsVO verdeutlicht lediglich, dass eine 13 kumulative oder alternative Anknüpfung an die lex fori concursus nicht stattfindet.18) 3.
Rechtsfolge
a)
Verweis auf allgemeines Kollisionsrecht
Art. 10 EuInsVO verweist auf das Recht des Mitgliedstaates, das auf den Ar- 14 beitsvertrag anzuwenden ist. Die Vorschrift legt als Sonderkollisionsnorm das anwendbare Recht nicht selbst fest, sondern gibt lediglich den Weg über das allgemeine Kollisionsrecht zur Anwendung des Rechts des Mitgliedstaates frei, das nach dem internationalen Privatrecht anzuwenden ist. Das Recht des Staa___________ 15) EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 (Lawrie Blum), Slg. 1986, 2121 Rz. 17 = NJW 1987, 1138 (LS); EuGH, Urt. v. 23.3.2004 – Rs. C-138/02 (Collins/Secretary of State for Work and Pensions), Slg. 2004, I-2703 Rz. 26 = AP EG Art. 39 Nr. 14. 16) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 7; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 5. 17) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 8 m. w. N.; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 3; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 6; a. A. Pannen/Dammann, Art. 10 EuInsVO Rz. 7. 18) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZA 2013, 94 = FZI 2013, 52 m. Anm. Janz; Braun-Tashiro, InsO, § 337 Rz. 9; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 23; Kübler/Prütting/Bork-Kemper, InsO, Stand: 5/2010, Art. 10 EuInsVO Rz. 10.
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§ 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht
tes, dem das Arbeitsverhältnis unterliegt, soll auch die Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf diese Rechtsbeziehung bestimmen.19) b)
Internationales Arbeitsrecht
aa)
Rom I-VO und EGBGB
15 Das sog. „Internationale Arbeitsrecht“ innerhalb der europäischen Union wird seit dem 17.12.2009 maßgeblich von den Art. 3, 8 und 9 der VO 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, sog. Rom I-VO bestimmt, Art. 29 Abs. 2 i. V. m. Art. 28 Rom I-VO.20) Zu diesem Zeitpunkt sind die Art. 27, 30 und 34 EGBGB außer Kraft getreten;21) sie gelten aber weiterhin für Arbeitsverträge, die vor dem 17.12.2009 geschlossen wurden. Mangels Übergangsvorschriften werden daher für einen längeren Zeitraum zwei kollisionsrechtliche Systeme nebeneinander bestehen bleiben. Die inhaltlichen Änderungen sind freilich marginal.22) Aus diesem Grund werden folgend auch die Parallelvorschriften mitzitiert. bb)
Das Arbeitsvertragsstatut
16 Die Festlegung des auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren materiellen Rechts kann entsprechend der Rechtswahl der Parteien gemäß Art. 27 EGBGB/Art. 3 Rom I-VO (subjektive Anknüpfung) oder durch objektive Anknüpfung gemäß Art. 30 Abs. 2 EGBGB/Art. 8 Rom I-VO erfolgen.23) 17 Die Rechtswahl kann ausdrücklich, aber auch stillschweigend erfolgen, maßgeblich ist der Parteiwille.24) Die Rechtswahlklausel muss jedoch erkennen lassen, welches fremde Recht gewählt wurde; Lässt sich der reale Parteiwille nicht bestimmen, so führen Unklarheiten zur Unwirksamkeit der Rechtswahlvereinbarung und die maßgebliche Rechtsordnung ist „objektiv“ zu bestimmen.25) ___________ 19) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZA 2013, 94; = FZI 2013, 52 m. Anm. Janz; BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, BeckRS 2013, 67590 = DB 2013, 1421. 20) Die Verordnung gilt nicht in Dänemark. Dieser Staat wendet weiter das EVÜ an, wohingegen die Gerichte der Mitgliedstaaten auch in Fällen mit Bezug zu Dänemark wegen Art. 2 Rom I-VO ab 17.12.2009 diese Verordnung anwenden, Schlachter in: ErfK, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 1; Schneider, NZA 2010, 1380, 1381. 21) Gesetz v. 25.6.2009, BGBl. I 2009, 1574. 22) Schlachter in: ErfK, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 1; Henssler/Willemsen/Kalb-Tilmanns, ArbR, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 1; Palandt-Thorn, BGB, (IPR) Rom I, Vorbem. Rz. 1; Schneider, NZA 2010, 1380, 1381. 23) Schlachter, NZA 2000, 57, 58. 24) LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 15.10.2002 – 11 Sa 49/02, LAGE Art. 30 EGBGB Nr. 6 = BB 2003, 901; Riesenhuber, DB 2005, 1571. 25) Schlachter in: ErfK, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 6; Henssler/Willemsen/Kalb-Tilmanns, ArbR, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 15 f.; Oetker in: Münch-Hdb. ArbR, § 11 Rz. 14.
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III. Art. 10 EuInsVO
Die Rechtswahl beim Arbeitsvertrag darf gemäß Art. 30 Abs. 1 EGBG/Art. 8 18 Rom I-VO allerdings nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch zwingende Bestimmungen des Rechts gewährt wurde, das nach Art. 30 Abs. 2 EGBGB/Art. 8 Rom I-VO ohne Rechtswahl anzuwenden wäre. Fehlt eine Rechtswahl oder ist diese unwirksam, so knüpft Art. 30 Abs. 2 EGBGB/Art. 8 Rom I-VO objektiv zunächst an den gewöhnlichen Arbeitsort – lex loci laboris – an.26) An die einstellende Niederlassung (Betriebsteil, Betriebsstätte) wird demgegenüber dann angeknüpft, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in einem bestimmten Staat verrichtet, so dass die Arbeitsleistung keinen territorialen Schwerpunkt in einem bestimmten Staat aufweist.27) Arbeitsort oder einstellende Niederlassung sind aber nur dann verbindlich 19 (Art. 30 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 2 EGBGB, Art. 8 Rom I-VO), wenn feststeht, dass keine engeren Verbindungen zu einem anderen Staat bestehen (Ausweichstatut).28) Als objektive Anknüpfungskriterien kommt nach der Rechtsprechung des BAG und der Instanzgerichte neben dem Erfüllungsort i. R. einer Gesamtbetrachtung etwa x
der Sitz des Arbeitgebers,
x
die Vertragssprache,
x
die Währung, in der Vergütung bezahlt wird und
x
der Ort des Vertragsschlusses
in Betracht.29) c)
Reichweite der Sonderanknüpfung
Die Sonderanknüpfung für das Arbeitsvertragsstatut gilt ausschließlich für die 20 Wirkung des Insolvenzverfahrens auf die Fortsetzung oder Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Rechte und Pflichten aller an dem Arbeitsverhältnis beteiligten Parteien. Demgegenüber unterliegen Insolvenzprobleme, die nicht mit den Wirkungen der Verfahrenseröffnung auf das Arbeitsverhältnis zusammenhängen, allein dem Insolvenzstatut. ___________ 26) BAG, Urt. v. 20.4.2004 – 3 AZR 301/03, NZA 2005, 297 = EZA § 29 ZPO 2002 Nr. 2; Riesenhuber, DB 2005, 1571. 27) Schlachter in: ErfK, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 16; Henssler/Willemsen/Kalb-Tilmanns, ArbR, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 15 f.; Oetker in: Münch-Hdb. ArbR, § 11 Rz. 32 ff. 28) Schlachter in: ErfK, Art. 3 ff. Rom I-VO Rz. 17; Oetker in: Münch-Hdb. ArbR, § 11 Rz. 35 f. 29) BAG, Urt. v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89, NZA 1990, 841 = EZA Art. 30 EGBGB Nr. 1; BAG, Urt. v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, ZIP 1993, 850 = NZA 1993, 743; BAG, Urt. v. 11.12.2003 – 2 AZR 627/02, BB 2004, 1393 = EZA Art. 30 EGBGB Nr. 7; ebenso LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 15.10.2002 – 11 Sa 49/02, LAGE Art. 30 EGBGB Nr. 6; LAG Berlin, Urt. v. 20.7.1978 – 9 Sa 74/97, NZA-RR 1998, 555; Preis, AR, § 14 III; Dörner in: FA-Hdb. ArbR, Kap. 1 Rz. 792 ff., 814; Falder, NZA 2000, 868 zur Geschäftsführung bei Auslandsgesellschaften.
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§ 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht
21
Praxishinweis Ferner ist das Insolvenzstatut auch insoweit maßgeblich, als es um Ansprüche eines Arbeitgebers geht, die infolge seines Tätigwerdens auf Verlangen des Insolvenzverwalters entstanden sind.30)
4.
Arbeitsvertragsstatut – Einzelfälle
a)
Beendigung des Arbeitsverhältnisses Zu §§ 113, 125 InsO: BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312
22 Soll nach alledem ein in Deutschland gelegener Betrieb durch einen ausländischen Insolvenzverwalter veräußert werden, sind grundsätzlich auch die Kündigungsvorschriften deutschen Rechts einschließlich der vereinfachten Möglichkeiten, sich im Insolvenzfall von dem Arbeitsverhältnis zu lösen, anwendbar.31) 23 Das BAG hat nunmehr Folgendes klargestellt.32) x
Klagen gegen Kündigungen, die ein Insolvenzverwalter i. S. der EuInsVO in Deutschland und nach deutschem Recht erklärt hat, sind auch dann keine Annexverfahren i. S. des Art. 3 EuInsVO, wenn sie auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste nach § 125 InsO und mit der kurzen Frist des § 113 InsO erklärt worden sind. Für solche Verfahren bestimmt sich die internationale Zuständigkeit nach der EuGVVO und nicht nach der EuInsVO.
x
Auf die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in Deutschland durch einen englischen Administrator sind die §§ 113, 125 InsO anwendbar. Mit dem BAG gebietet bei grenzüberschreitenden Insolvenzen, bei denen deutsches Arbeitsrecht aufgrund der Regelung in Art. 10 EuInsVO anwendbar ist und bei denen ein Verwalter i. S. von Art. 2 lit. b EuInsVO mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste schließt, die Anerkennungswirkung des Art. 3 i. V. m. Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1 EuInsVO sowie der die Anerkennungswirkung des Hauptinsolvenzverfahrens vervollständigende Art. 18 Abs. 1 EuInsVO die unionskonforme Auslegung des § 125 InsO. Handelt ein solcher Verwalter in der vom Insolvenzrecht des Staates der Verfahrenseröffnung vorgesehenen Weise für den Schuldner, ist er als Insolvenzverwalter i. S. des § 125 InsO anzusehen. Daher kann ein Admini-
___________ 30) Zur Wirkung und Reichweite insbesondere Erwägungsrund Nr. 28. 31) Braun-Tashiro, InsO, § 337 Rz. 8; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 3 m. w. N.; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 4; Zwanziger, ArbR der InsO, Einf. Rz. 51; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1060. 32) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZA 2013, 94 = FZI 2013, 52 m. Anm. Janz.
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III. Art. 10 EuInsVO
strator nach englischem Recht mit dem Betriebsrat ein Interessenausgleich i. S. des § 125 InsO für den von ihm vertretenen Schuldner schließen. b)
Betriebsübergang
Der Übergang eines Arbeitsverhältnisses i. R. eines Betriebsüberganges unter- 24 fällt dem Arbeitsvertragsstatut. Denn insbesondere die Bestimmung über Betriebsänderung oder Betriebsübertragung im Sanierungsverfahren zählen zu den typischen Wirkungen eines Insolvenzverfahrens auf Arbeitsverhältnisse.33) c)
Kollektives Arbeitsrecht, insbesondere Betriebsverfassungsrecht
Fragen des kollektiven Arbeitsrechts, insbesondere betriebsverfassungsrecht- 25 licher Art, richten sich nach dem Arbeitsvertragsstatut.34) Liegt der Betrieb im Inland, so ist das BetrVG bereits nach dem Territorialitätsprinzip anwendbar.35) d)
Betriebliche Altersversorgung
Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung unterliegen gleichfalls dem 26 Arbeitsvertragsstatut.36) 5. a)
Insolvenzstatut – Einzelfälle Insolvenzgeld Zum Insolvenzgeld: EuGH, Urt. v. 16.12.1999 – Rs. C-198/98 (Everson/Bell Lines), ZIP 2000, 89; EuGH, Urt. v. 17.9.1997 – Rs. C-117/96 (Mosbaek), Slg. 1997, I-5017
Für Ansprüche auf Insolvenzgeld ist gemäß § 8a der Richtlinie 2002/74/EG 27 die Einrichtung des Mitgliedstaates zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der betreffende Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich verrichtet (vgl. § 165 SGB III). Art. 10 EuInsVO findet insoweit keine Anwendung.37) ___________ 33) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 3; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 10. 34) Braun-Tashiro, InsO, § 337 Rz. 8; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 12. 35) BAG, Beschl. v. 22.3.2000 – 7 ABR 34/98, NZA 2000, 1119 = AP Nr. 8 zu § 14 AÜG; Fitting, BetrVG, § 1 Rz. 13; Richardi-Richardi, BetrVG, Einl. BetrVG Rz. 66; Wenner/ Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 7; auch LAG Hessen, Urt. v. 14.12.2010 – 13 Sa 969/10, ZIP 2011, 289 = NZI 2011, 203. 36) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 13; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 3; Reinhart in: MünchKomm-InsO, § 337 Rz. 9. 37) EuGH, Urt. v. 16.12.1999 – Rs. C-198/98 (Everson/Bell Lines), ZIP 2000, 89 = EuZW 2000, 669; EuGH, Urt. v. 17.9.1997 – Rs. C-117/96 (Mosbaek), Slg. 1997, I-5017 = NZA 1997, 1155; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 7; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsvO Rz. 5; Braun-Tashiro, InsO, § 338 Rz. 11; Göpfert/ Müller, NZA 2009, 1057, 1062.
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§ 8 Internationales Insolvenz-Arbeitsrecht
b)
Lohnforderungen/Sozialplanansprüche/Rangfragen
aa)
Grundsatz
28 Für die insolvenzrechtliche Qualifizierung von Lohnforderungen und Sozialplanansprüchen, und daher für ihre Anmeldung, rangmäßige Einordnung etc., greift über Art. 4 EuInsVO weiterhin das Insolvenzstatut. Denn die Frage, welchen Befriedigungsrang die Arbeitnehmerforderungen bei einer Verteilung der Insolvenzmasse einnehmen, ist lediglich eine indirekte Wirkung des Insolvenzverfahrens und als solche nicht von Art. 10 EuInsVO erfasst. 29
Praxishinweis Dies lässt Raum für taktische Überlegungen i. R. einer „gesteuerten Insolvenz“.38)
bb)
Änderungen bzgl. des Rangs der Arbeitnehmerforderungen durch die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens
30 Die Frage des Rangs der Arbeitnehmerforderungen richtet sich nach dem Recht des Mitgliedstaates, in dem die Durchführung des Sekundärinsolvenzverfahrens beantragt wird. Bei der Frage nach dem Rang von Arbeitnehmerforderungen könnten also unterschiedliche Rechtsordnungen maßgeblich sein. 31 Um dies zu verhindern und um den Anreiz für Arbeitnehmer an anderen europäischen Standorten zu nehmen, die Durchführung eines Sekundärinsolvenzverfahren zu beantragen, hat etwa der High Court of Justice Birmingham in dem Hauptinsolvenzverfahren über den MG Rover-Konzern administration orders für acht europäische Vertriebsgesellschaften des Konzerns erlassen, hierdurch Hauptinsolvenzverfahren gemäß Art. 3 Abs. 1 EuInsVO eröffnet, um dann auf Antrag der Administratoren supplemental orders zu erlassen, die diese ermächtigten, die Forderungen der Arbeitnehmer der europäischen Vertriebsgesellschaften in demselben Rang zu bedienen, den sie nach dem jeweils anwendbaren nationalen Insolvenzrecht hätten, das gelten würde, wenn in dem jeweiligen Mitgliedstaat ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet würde. Ohne die supplemental orders hätte sich der Rang der Arbeitnehmerforderung gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. g und lit. i EuInsVO nach dem – für die Arbeitnehmer ggf. nachteiligen – englischen Recht gerichtet, während bei Eröffnung von Sekun-
___________ 38) LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 28.3.2012 – 20 Sa 47/11, BeckRS 2012, 69167; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz 4; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 5; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 6; Kübler/Prütting/ Bork-Kemper, InsO, Stand: 5/2010, Art. 10 EuInsVO Rz. 9; Reinhart in: MünchKommInsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 9; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1062.
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IV. § 337 InsO
därinsolvenzverfahren gemäß Art. 28 EuInsVO insoweit das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats zur Anwendung gekommen wäre.39) c)
Pfändungsschutz Zum Pfändungsschutz: LG Traunstein, Beschl. v. 3.2.2009 – 4 T 263/09, BeckRS 2009, 13546
Sehr umstritten ist die Frage nach der Pfändung von Arbeitseinkommen. Da sich 32 die Masse, ihr Umfang und ihre Grenzen gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. b EuInsVO nach der lex fori concursus bestimmen, wird man hieran auch beim Pfändungsschutz anknüpfen müssen. Es gilt daher das Insolvenzstatut.40) IV. § 337 InsO § 337 InsO stellt die Kernnorm des deutschen autonomen internationalen In- 33 solvenzarbeitsrechts dar. Wie oben unter Rz. 6 bereits dargetan, wird dessen Anwendungsbereich zumindest für arbeitsrechtliche Sachverhalte stark beschränkt auf Insolvenzverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO. Umgekehrt hat das BAG klargestellt, dass außerhalb des „closed-list-system“ der EuInsVO eine Anerkennung des Verfahrens nach dem deutschen autonomen internationalen Insolvenzrecht in Betracht kommt.41) § 337 InsO enthält eine zu Art. 10 EuInsVO fast identische Regelung und ist 34 diesem nachgebildet. Es kann insoweit auf die obigen Ausführungen unter Rz. 7 ff. verwiesen werden, wobei für den Begriff des Arbeitsverhältnisses maßgeblich auf das deutsche IPR in Art. 30 EGBGB abzustellen ist.42) ___________ 39) High Court of Justice, Beschl. v. 11.5.2005 – No. 2375 bis 2385/05, NZI 2005, 515 m. Anm. Penzlin/Riedemann; High Court of Justice, Beschl. v. 30.3.2006 – No. 2377/2006, NZI 2006, 416 m. Anm. Mankowski; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 6; Müller/Göpfert, NZA 2009, 1057, 1063; dies soll nunmehr Aufnahme in die EuInsVO finden, vgl. hierzu den entspr. Überarbeitungsentwurf der EU-Kommission v. 12.12.2012, COM(2012) 744 final, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/civil/files/insolvencyregulation_en.pdf (Abrufdatum: 24.7.2013). 40) Str., wie hier LG Traunstein, Beschl. v. 3.2.2009 – 4 T 263/09, BeckRS 2009, 13546; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 11; Undritz in: HambKomm-InsR, Art. 10 EuInsVO Rz. 4; Kübler/Prütting/Bork-Kemper, InsO, Stand: 5/2010, Art. 10 EuInsVO Rz. 9; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 17; wohl auch Wenner/Schuster in: FK-InsO, Anh. I Art. 10 EuInsVO Rz. 7 („gesondert anzuknüpfen“); Mankowski, NZI 2009, 785; a. A.: AG München, Beschl. v. 23.6.20010 – 1504 IK 600/10, NZI 2010, 664; AG Passau, Urt. v. 15.1.2009 – 15 C 1980/08, NZI 2009, 820; vgl. auch zum Meinungsstand Mankowski, NZI 2009, 785, 788; Paulus, 2012, 297, 301; Paulick, ZInsO 2009, 1933 und Braun-Tashiro, InsO, § 337 Rz. 13. 41) BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, BeckRS 2013, 67590 = DB 2013, 1421; Reinhart in: MünchKomm-InsO, Vor Art. 1 EuInsVO Rz. 27, Vor §§ 335 ff. Rz. 3 und Rz. 22 ff.; Wenner/Schuster in: FK-InsO, Vor §§ 335 Rz. 1; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/ Karahan, InsO, Vor §§ 335 ff. Rz. 8 und § 335 Rz. 7a; Uhlenbruck-Lüer, InsO, Vor §§ 335 – 358 Rz. 5; Vallander, ZGR 2006, 425, 428. 42) BT-Drucks. 15/16; Braun-Tashiro, InsO, § 337 Rz. 7; Haarmeyer/Wutzke/Förster-Albrecht/ Karahan, InsO, § 337 Rz. 7; Uhlenbruck-Lüer, InsO, § 337 Rz. 3.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts Übersicht I.
1. 2. 3. 4. 5. II. III.
1. 2. 3. 4.
IV. V.
1.
Art. 10 EuInsVO als „Drehund Angelpunkt“ des europäischen Insolvenzrechts.................. 1 Frage- und Problemstellung .............. 1 Systematik der EuInsVO ................... 3 Art. 10 EuInsVO als Sonderanknüpfung ......................................... 4 Aktuelle Reformdebatte zur EuInsVO............................................. 7 Gang der Darstellung ......................... 9 Normzweck von Art. 10 EuInsVO .......................................... 10 Übersicht über die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 10 EuInsVO ............................. 13 Insolvenzverfahren........................... 14 Arbeitsverhältnis .............................. 17 Zeitpunkt .......................................... 24 Sonderproblem: Vereinbarung von ausländischem Recht im Arbeitsvertrag .................................. 25 Rechtsfolgen .................................... 30 Praxisrelevante Fallgruppen aus Sicht des deutschen Rechts: Zur Reichweite des Verweises in Art. 10 EuInsVO......................... 32 Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses und Kündigungsmöglichkeiten in der Insolvenz (§§ 108, 113 InsO) ........................... 34
2.
Änderungen des Arbeitsverhältnisses i. R. einer Unternehmenssanierung (§§ 121 – 128 InsO) ......... 39 3. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf das Arbeitsverhältnis (§ 613a BGB)........................ 42 a) Betriebsübergang in der Insolvenz nach der Arbeitnehmerschutzrichtlinie 2001/23 EG................................ 42 b) Betriebsübergang in der Insolvenz nach deutschem Recht .......................................... 45 c) Betriebsübergang in der Insolvenz und Art. 10 EuInsVO.... 47 4. Rang der Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis .............................. 51 a) Rangfrage unterliegt lex fori concursus ................................... 51 b) Auslandsforderungen in einem deutschen Insolvenzverfahren .................................... 52 5. Insolvenzgeld.................................... 56 a) Sonderanknüpfung für das Insolvenzgeld............................. 56 b) Insolvenzgeld nach ESUG........ 58 VI. Anwendbares Recht bei Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens ........................................ 61 VII. Zusammenfassung ......................... 66
Literatur: Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, EuInsVO, Kommentar, 2002; Geißler, Die Ermächtigung des Schuldners im Schutzschirmverfahren nach § 270b Abs. 3 InsO – Systematik und Auswirkungen auf die Insolvenzgeldsicherung, ZInsO 2013, 531; Göpfert/Müller, Englisches Administrationsverfahren und deutsches Insolvenzarbeitsrecht, NZA 2009, 1057; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff, EuInsVO, 2005; Pannen (Hrsg.), EuInsVO, 2007; Paulus, EuInsVO, Kommentar, 3. Aufl., 2000; Schwarze/Becker/Hatje/ Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl., 2012; Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, 1997; Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, Doc. 6500/96; Willemer, Vis attractiva concursus und die Europäische Insolvenzverordnung, 2006.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
I.
Art. 10 EuInsVO als „Dreh- und Angelpunkt“ des europäischen Insolvenzrechts
1.
Frage- und Problemstellung
1 Die weltweite Verflechtung der Unternehmen schreitet stetig voran. Sowohl große Konzerne als auch mittelständische Unternehmen sind nicht nur auf ihrem jeweiligen Heimmarkt tätig, sondern sind weiterhin – trotz Wirtschafts- und Finanzkrise – in ausländischen Märkten, und damit auch in ausländischen Rechtsordnungen aktiv. Aus deutscher Sicht sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (bzw. die Länder des Euroraums insgesamt) die zentralen und prozentual bedeutendsten Absatzmärkte.1) 2 Im Falle einer Insolvenz eines grenzüberschreitenden Unternehmens mit mehreren Standorten europa- und ggf. weltweit sind die Gläubiger und sonstigen „Stakeholder“, d. h. auch die Arbeitnehmer, häufig einem schwer durchschaubaren Geflecht von Konzernunternehmen ausgesetzt und damit auch einer ganzen Reihe von komplexen insolvenzrechtlichen Fragen. Die wichtigste Frage ist dabei zunächst, in welchem Staat und nach welcher Rechtsordnung ein (Haupt-)Insolvenzverfahren eröffnet wird und ob es in anderen Staaten anerkannt wird. Aus Sicht der Arbeitnehmer ist bei grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren vor allem entscheidend, ob sie nach den Regeln der ihnen vertrauten Rechtordnung behandelt werden oder ob etwa ein ihnen unbekanntes ausländisches Insolvenzrecht zur Anwendung kommt. 2.
Systematik der EuInsVO
3 Im Gebiet der Europäischen Union werden diese Fragen durch die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO)2) geregelt. Art. 3 Abs. 1 der EuInsVO bestimmt, dass die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig sind, in dem das Unternehmen seinen „Centre of Main Interest“ (COMI)3) hat. Der COMI bestimmt sich bei Gesellschaften und juristischen Personen regelmäßig nach dem eingetragenen Sitz des Unternehmens, es sei denn, der COMI des Schuldners liegt nachweislich in einem anderen Mitgliedstaat. Wird ein Hauptinsolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO in einem Mitgliedstaat eröffnet, dann ist grundsätzlich das Recht dieses Mitgliedstaates auf das Hauptinsolvenzverfahren anzuwenden (Art. 4 Abs. 1 EuInsVO). Liegt etwa der COMI einer Gesellschaft in Deutschland, dann wird das zuständige deutsche Gericht ein Hauptinsolvenzverfahren in Deutsch___________ 1) Vgl. Statistisches Jahrbuch 2012 des Statistischen Bundesamts, S. 411 ff. 2) Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, Abl. EG Nr. L 160 v. 30.6.2000. 3) Näher zum COMI Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 3 Rz. 10 ff.; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 3 Rz. 1 ff.
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I. Art. 10 EuInsVO als „Dreh- und Angelpunkt“ des europäischen Insolvenzrechts
land eröffnen, und zwar auch dann, wenn die Gesellschaft ihren satzungsmäßigen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.4) Umgekehrt kann es sein, was in der Praxis häufiger vorkommt, dass über das Vermögen einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz in Deutschland ein Hauptinsolvenzverfahren nach ausländischem Recht, z. B. nach englischem Recht,5) eröffnet wird.6) Das ausländische (z. B. englische) Hauptinsolvenzverfahren ist in den anderen Mitgliedstaaten, die der EuInsVO unterliegen, unmittelbar und ohne weiteren Rechtsakt anzuerkennen, soweit die Entscheidung des Gerichts nicht gegen den ordre public verstößt (Art. 16, 26 EuInsVO).7) 3.
Art. 10 EuInsVO als Sonderanknüpfung
Aus Sicht der Arbeitnehmer ist in dieser Situation fraglich, ob auch auf die Ar- 4 beitsverhältnisse die (regelmäßig) unbekannte Insolvenzrechtsordnung anzuwenden ist, oder ob Sonderregeln gelten. Im europäischen Insolvenzrecht regeln die Art. 5 ff. EuInsVO verschiedene Ausnahmen, in denen nicht das Recht des Eröffnungsstaates anzuwenden ist, sondern jeweils eine Sonderanknüpfung gilt. Für Arbeitsverhältnisse bestimmt Art. 10 EuInsVO, dass das Recht des Mit- 5 gliedstaates gilt, welches auf den Arbeitsvertrag anzuwenden ist (Arbeitsvertragsstatut). Allerdings nur wenn und soweit es sich um die unmittelbaren „Wirkungen“ (effects) des Insolvenzverfahrens auf den Arbeitsvertrag und das Arbeitsverhältnis handelt. Geht es demgegenüber um allgemeine Fragen des Verfahrens, die auch Arbeitsverhältnisse oder den Arbeitsvertrag betreffen, dann bleibt es bei der Grundregel des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO und der Anwendung der lex fori concursus. Art. 10 EuInsVO verweist demnach nicht unmittelbar auf das materielle Recht 6 eines anderen Mitgliedstaates, sondern erklärt ein bestimmtes materielles Kollisionsrecht – hier das Arbeitsvertragsstatut – für anwendbar. Der Arbeitnehmer ___________ 4) AG München, Beschl. v. 4.5.2004 – 1501 IE 1276/04 (Hettlage), ZIP 2004, 962 = NZG 2004, 782. 5) Typischerweise „administration proceedings“ nach dem Insolvency Act 1986, s. hierzu Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057 ff. 6) So etwa in den internationalen Insolvenzverfahren MG Rover (High Court of Justice Birmingham, Beschl. v. 18.4.2005 – 2375 bis 2382/05, NZI 2005, 467) oder Nortel (LAG Frankfurt/M., Urt. v. 14.12.2010 – 13 Sa 969/10, ZIP 2011, 289). 7) Ein Verstoß gegen den ordre public wird nur in engen Grenzen angenommen, so bei einem Verstoß gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens und der Verletzung rechtlichen Gehörs, vgl. AG Nürnberg, Beschl. v. 15.8.2006 – 8004 IN 1326 – 1331/06 (Brochier), ZIP 2007, 81 = NZI 2007, 185. Einen solchen Verstoß hat das AG Nürnberg zudem angenommen, wenn die in einem englischen Insolvenzverfahren bestellten administrators nicht unabhängig sind sowie auch dann, wenn die Eröffnungsentscheidung auf einer Täuschung beruht, AG Nürnberg, Beschl. v. 15.8.2006 – 8004 IN 1326 – 1331/06 (Brochier), ZIP 2007, 81 = NZI 2007, 185.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
kann daher – auch i. R. eines ausländischen Hauptinsolvenzverfahrens – darauf vertrauen, dass dieses materielle Kollisionsrecht zu seinen Gunsten angewendet wird.8) 4.
Aktuelle Reformdebatte zur EuInsVO
7 Aktuell wird diskutiert, ob sich die EuInsVO seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 2000 in der Praxis bewährt hat oder ob (weiterer) Reformbedarf besteht. Es besteht weitgehend Einigkeit zwischen der Europäischen Kommission, der Wissenschaft und der Insolvenzrechtspraxis (Verwalter, Gerichte und Berater), dass Teile der EuInsVO – trotz der insgesamt positiven Erfahrungen – anzupassen und zu ergänzen sind. Im Fokus der von der EU-Kommission mit raschem Tempo vorangetriebenen Reformdebatte stehen vor allem die Fragen nach der Konzentration auf einen einheitlichen Konzerngerichtsstand und nach der Vereinheitlichung der Insolvenzanfechtungsregeln.9) 8 Die EU-Kommission hat bereits einen Diskussionsentwurf (DiskE) vorgelegt.10) Im DiskE blieben arbeitsrechtliche Fragen weitgehend unberücksichtigt. Art. 10 EuInsVO soll daher nach dem Entwurf nicht angepasst werden. Die Kommission geht davon aus, dass eine Harmonisierung des stark im nationalen Recht verwurzelten Arbeitsrechts mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre.11) Dies mag im Ergebnis richtig sein (siehe dazu auch unter Rz. 10 ff.), dennoch hätte man sich eine intensivere Auseinandersetzung mit den arbeitsrechtlichen Fragen gewünscht. Vor allem aus Sicht der Insolvenzverwaltung muss man zumindest bei großen Konzerninsolvenzen die Frage aufwerfen, ob eine Vereinheitlichung der arbeitsrechtlichen Regeln zielführender ist als eine Rechtszergliederung auf Ebene der einzelnen von der Insolvenz betroffenen Mitgliedstaaten. Denkbar wäre z. B. gewesen, einzelne Themengebiete aus dem Anwendungsbereich des Art. 10 EuInsVO auszunehmen, etwa die Regelungen zum Betriebsübergang (in Deutschland: § 613a BGB), jeweils
___________ 8) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 9; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 25. 9) Zur nationalen Debatte eines einheitlichen Konzerngerichtsstands vgl. jetzt den RegE zum Konzerninsolvenzrecht v. 28.8.2013. 10) Vgl. „Report from the Commission to the European Parliament, the Council and the European Economic and Social Committee on the application of Council Regulation (EC) No 1346/2000 of 29 May 2000 on insolvency proceedings“ v. 12.12.2012, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/civil/files/insolvency-report_en.pdf (Abrufdatum: 29.7.2013). 11) Vgl. „Report from the Commission to the European Parliament, the Council and the European Economic and Social Committee on the application of Council Regulation (EC) No 1346/2000 of 29 May 2000 on insolvency proceedings“ v. 12.12.2012, S. 12, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/civil/files/insolvency-report_en.pdf (Abrufdatum: 29.7.2013).
130
Tresselt
II. Normzweck von Art. 10 EuInsVO
mit der Folge, dass das Arbeitsrecht (oder Insolvenzarbeitsrecht) des Eröffnungsstaates Anwendung findet.12) 5.
Gang der Darstellung
Dieser Beitrag befasst sich ausschließlich mit Art. 10 EuInsVO und untersucht 9 dabei vor allem die Reichweite der Verweisung auf das materielle Kollisionsrecht. Die Gliederung ist wie folgt: Darstellung des Normzwecks und der Voraussetzungen von Art. 10 EuInsVO (siehe unter Rz. 10 ff. und Rz. 13 ff.), Behandlung der Rechtsfolgen, insbesondere Prüfung der Reichweite des Verweises in Art. 10 EuInsVO (siehe Rz. 30 ff. und Rz. 32 ff.). Der Beitrag schließt mit einigen Sonderfragen bei Sekundärinsolvenzverfahren (siehe dazu Rz. 61 ff.) und einer kurzen Zusammenfassung (siehe unter Rz. 66 ff.). II.
Normzweck von Art. 10 EuInsVO
Die Abweichung von dem Grundsatz der lex fori concursus generalis durch 10 Art. 10 EuInsVO dient dem Schutz des Arbeitnehmers. Dies ergibt sich insbesondere auch aus Erwägungsgrund 28 der Verordnung:13) „Zum Schutz der Arbeitnehmer und der Arbeitsverhältnisse müssen die Wirkungen der Insolvenzverfahren auf die Fortsetzung oder Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie auf die Rechte und Pflichten aller an einem solchen Arbeitsverhältnis beteiligten Parteien durch das gemäß den allgemeinen Kollisionsnormen für den Vertrag maßgebliche Recht bestimmt werden. Sonstige insolvenzrechtliche Fragen, wie etwa, ob die Forderungen der Arbeitnehmer durch ein Vorrecht geschützt sind und welchen Rang dieses Vorrecht ggf. erhalten soll, sollten sich nach dem Recht des Eröffnungsstaats bestimmen.“
Der Arbeitnehmer soll vor der Anwendung ausländischer Normen geschützt 11 werden, die ihm in aller Regel unbekannt sind. Das bedeutet umgekehrt, der Arbeitnehmer soll auf die Jurisdiktion vertrauen dürfen, die dem Arbeitsverhältnis zugrunde liegt. Das ist entweder das Recht des Arbeitsvertrages oder das Recht des Arbeitsortes (siehe dazu noch Rz. 30 ff.).14) Eine solche Anknüpfung hat auch den Vorteil, dass es zu einem Gleichlauf zwischen den arbeitsvertrag___________ 12) Eine einheitliche Anknüpfung beim Betriebsübergang hätte z. B. den Vorteil, dass ein Erwerber beim Kauf eines Geschäftsbereichs – angenommen dieser ist, wie häufig, über mehrere Tochtergesellschaften verteilt – nur mit einem (einheitlichen) Recht konfrontiert wird. S. dazu ausführlich Rz. 47 ff. 13) So auch Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, Rz. 125; Duursma-Kepplinger/Duursma/ Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 4; Haß/Huber/Gruber/ Heiderhoff-Huber, EuInsVO, Art. 10 Rz. 1; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 1. 14) Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, Rz. 125; Duursma-Kepplinger/Duursma/ChalupskyDuursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 4; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber, EuInsVO, Art. 10 Rz. 1.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
lichen mit den sozialversicherungs- und betriebsverfassungsrechtlichen Ansprüchen des Arbeitnehmers kommt.15) 12 Weiter ist zu berücksichtigen, dass eine (theoretisch denkbare) Anknüpfung an die lex fori concursus zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer gegenüber anderen Gläubigergruppen führen könnte. Während z. B. ein gesicherter Gläubiger (finanzierende Bank) auf die „Heimat-Jurisdiktion“ vertrauen dürfte (Schutz des dinglichen Gläubigers über Art. 5 EuInsVO), sähe sich die Gruppe der Arbeitnehmer den Regeln einer fremden (und ggf. nachteiligen) Rechtsordnung ausgesetzt. Da eine differenzierende Behandlung schwer vermittelbar wäre, blieb Art. 10 EuInsVO in der aktuellen Reformdiskussion im Ergebnis wohl zu Recht unverändert. Zur Reformdiskussion siehe oben Rz. 7 ff. III.
Übersicht über die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 10 EuInsVO
13 Art. 10 EuInsVO greift ein, wenn x
ein Insolvenzverfahren in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union eröffnet ist (1.) und
x
ein Arbeitsverhältnis (2.)
x
im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens besteht (3.).
1.
Insolvenzverfahren
14 Der Anwendungsbereich der EuInsVO muss in sachlicher und räumlicher Hinsicht eröffnet sein. In sachlicher Hinsicht muss es sich um ein „Insolvenzverfahren“ nach Art. 1 Abs. 1, Art. 2 lit. a i. V. m. Annexen A und B der EuInsVO handeln (closed list System). Zu beachten ist, dass hierunter auch ein vorläufiges Insolvenzverfahren fallen kann. Denn mit Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters wird die Verfügungsbefugnis des Schuldners eingeschränkt.16) 15 In räumlicher Hinsicht müssen die betroffenen Staaten Mitglieder der Europäischen Union sein und die EuInsVO nach innerstaatlichem Recht ratifiziert haben.17) 16 Die EuInsVO gilt nicht für europäische Insolvenzverfahren gegenüber Drittstaaten und regelt auch nicht die Anerkennung von in Drittstaaten eröffneten Insolvenzverfahren. Für die Anerkennung von Drittstaaten-Verfahren ist nationales Kollisionsrecht anzuwenden. Soweit ein Auslandsverfahren nach den ___________ 15) Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 1. 16) Vgl. EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood), ZIP 2006, 907. Umstritten ist, ob dies auch bei einem vorläufig „schwachen“ Insolvenzverwalter gilt, vgl. hierzu DuursmaKepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 1 Rz. 26 ff.; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 1 Rz. 7, Art. 2 Rz. 3. 17) Bis auf Dänemark haben alle EU-Mitgliedstaaten die EuInsVO ratifiziert.
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III. Übersicht über die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 10 EuInsVO
§§ 335 ff. InsO anzuerkennen ist, richtet sich die Behandlung von Arbeitsverhältnissen nach § 337 InsO, der wiederum auf die Rom I-VO verweist. Im Ergebnis gilt also auch hier – wie bei Art. 10 EuInsVO – eine Anknüpfung an das Arbeitsvertragsstatut.18) 2.
Arbeitsverhältnis Begriffe des „Arbeitsverhältnisses“ und des „Arbeitnehmers“: EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. C-66/85 (Lawrie-Blum), Rz. 16 f., Slg. 1986, 2121 = NVwZ 1987, 41 EuGH, Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Rz. 33, Slg. 2008 I-5939 = NZA 2008, 995
Es muss ein „Arbeitsverhältnis“ bestehen. Der Begriff des Arbeitsverhält- 17 nisses, der als Oberbegriff dient,19) ist im Recht der Europäischen Union nicht legal definiert. Wegen des Verweises auf das Arbeitsvertragsstatut in Art. 10 EuInsVO käme daher grundsätzlich auch eine nationale Bestimmung des „Arbeitsverhältnisses“ in Betracht. Jedoch ist nach h. A. der Begriff „Arbeitsverhältnis“ im Lichte der europäischen 18 Rechtssetzungsinstrumente (Verordnungen und Richtlinien) und insbesondere im Lichte der Rechtsprechung der Europäischen Gerichte20) autonom21) auszulegen. Der Begriff des Arbeitsvertrages und des Arbeitsverhältnisses ist folglich gemeinschaftlich einheitlich zu bestimmen.22) Der EuGH hat in mehreren Entscheidungen das „Arbeitsverhältnis“ und den 19 Begriff des „Arbeitnehmers“ konkretisiert. Als Arbeitnehmer gilt eine Person, die „während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält“.23) Ein Arbeitsverhältnis i. S. des Art. 10 EuInsVO ist folglich x
durch die Weisungsabhängigkeit und somit
x
die Abhängigkeit und
___________ 18) Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber, EuInsVO, Art. 10 Rz. 2; Kindler in: MünchKommBGB, § 337 InsO, Art. 10 Rz. 6; Reinhart in: MünchKomm-InsO, § 337 Rz. 10 zur Rechtslage vor Geltung des ESUG. 19) Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 4; a. A. UhlenbruckLüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 7. 20) Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 5. 21) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 5. 22) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 5. 23) EuGH, Urt. v. 3.7.1986 – Rs. C-66/85 (Lawrie-Blum), Rz. 16 f., Slg. 1986, 2121 = NVwZ 1987, 41; EuGH, Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Rz. 33, Slg. 2008 I-5939 = NZA 2008, 995 m. w. N.; näher zu den einzelnen Merkmalen des Arbeitnehmers: SchwarzeSchneider/Wunderlich, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rz. 20 m. w. N.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
x
die daraus folgende Schutzbedürftigkeit24) des Arbeitsnehmers gekennzeichnet,
x
der gegen die Bezahlung einer Vergütung eine Leistung erbringt.
20 Welche Personen oder Personengruppen von dieser allgemeinen Definition erfasst sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Einzelheiten der Auslegung sind daher umstritten. Der EuGH präferiert in anderem Zusammenhang eine weite Auslegung25) und zählt zu den Arbeitnehmern auch Beamte,26) Soldaten,27) Studenten28) und Arbeitssuchende29). Ob diese weite Auslegung auch i. R. der EuInsVO gelten soll, wurde bislang nicht entschieden. Nach der Literatur soll der extensive Arbeitnehmerbegriff des EuGH nicht auf Art. 10 EuInsVO übertragbar sein. Vertreten wird daher eine restriktive Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs.30) 21 Dieser restriktive Ansatz ist auch richtig, um der Norm einen sinnvollen Anwendungsbereich zu eröffnen. Allerdings fehlt bisher noch eine überzeugende nähere Präzisierung dieser restriktiven Auslegung. Denkbar wäre etwa eine Eingrenzung auf Angestellte, Auszubildende und Arbeiter.31) Dann wären folgerichtig die oben genannten Personengruppen (Beamte, Soldaten, Studenten, Arbeitssuchende) nicht als Arbeitnehmer zu qualifizieren. 22 Noch weitergehender wäre zu überdenken, ob die Auslegung tatsächlich autonom einheitlich erfolgen sollte. Vorteilhafter mag es sein, die relevante Gruppe der Arbeitnehmer danach auszuwählen, welche lokale materielle Sachnorm im konkreten Fall Anwendung findet bzw. finden würde. Dazu müsste man zunächst die Anwendbarkeit des Art. 10 EuInsVO gedanklich unterstellen und prüfen, welche materielle Sachnorm – auf Basis des Arbeitsvertragsstatuts, Anwendung finden würde. Geht es z. B. um eine von einem Insolvenzverwalter in einem deutschen Hauptinsolvenzverfahren beabsichtigte Betriebsänderung, kann sich der Arbeitnehmer-Begriff sinnvollerweise nur an § 125 InsO i. V. m. ___________ 24) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 5. 25) EuGH, Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-94/07 (Raccanelli), Rz. 33, Slg. 2008 I-5939 = NZA 2008, 995 m. w. N. 26) EuGH, Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-71/93 (Van Poucke), Rz. 15 ff., Slg. 1994 I-12035 = NVwZ 1994, 991. 27) EuGH, Urt. v. 24.3.1994 – Rs. C-71/93 (Van Poucke), Rz. 6 ff., Slg. 1994 I-1101 = NVwZ 1994, 991. 28) EuGH, Urt. v. 21.6.1988 – Rs. C-39/86 (Lair), Rz. 37 ff., Slg. 1988 3910 = NJW 1988, 2165. 29) EuGH, Urt. v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 (Antonissen), Rz. 10 ff., Slg. 1991 I-773; EuGH, Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-208/07 (Chamier-Glisczinski), Rz. 70 ff., Slg. 2009 I-6095 m. w. N. 30) Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, Rz. 102; Duursma-Kepplinger/Duursma/ChalupskyDuursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 5. 31) So etwa § 23 KSchG.
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III. Übersicht über die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 10 EuInsVO
§ 5 BetrVG orientieren.32) Anderenfalls bestünde die (theoretische) Möglichkeit, dass durch eine autonome (und strikte) Interpretation des Arbeitnehmerbegriffs einzelne Arbeitnehmer aus dem Anwendungsbereich des Art. 10 EuInsVO herausfallen würden, obwohl sie nach materiellem Sachrecht von der einschlägigen Norm umfasst wären. Das aber widerspräche jedenfalls dann dem Grundgedanken des Art. 10 EuInsVO, wenn die materielle Sachnorm für den Arbeitnehmer im konkreten Fall günstiger ist, als die Sachnorm, die bei Anwendung der lex fori concursus heranzuziehen wäre.33) 23
Praxishinweis Um aber einen besonderen „Günstigkeitsvergleich“ und dessen Schwierigkeiten (siehe dazu in anderem Zusammenhang unten Rz. 25 ff.) zu vermeiden, bietet es sich an, von vornherein den Begriff des Arbeitnehmers – und damit die Begriffe „Arbeitsvertrag“ und „Arbeitsverhältnis“, auf Basis der konkret einschlägigen materiellen Sachnorm zu klären.
3.
Zeitpunkt
Wie sich aus dem Schutzzweck der Norm ergibt, muss das Arbeitsverhältnis 24 bereits im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bestehen.34) Ein während des Insolvenzverfahrens geschlossenes Arbeitsverhältnis unterfällt somit nicht Art. 10 EuInsVO. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm, folgt jedoch aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Norm.35) Denn allein ein Arbeitnehmer, der sich bereits in einem bestehenden Arbeitsverhältnis befindet, soll vor der Anwendung eines ihm fremden Rechts auf das Arbeitsverhältnis geschützt werden. 4.
Sonderproblem: Vereinbarung von ausländischem Recht im Arbeitsvertrag
Wie bereits erwähnt, kommt es bei der Bestimmung des anwendbaren materiellen 25 Rechts in einem ersten Schritt darauf an, ob die Parteien des Arbeitsvertrages eine Rechtswahl im Vertrag getroffen haben. Nur wenn eine Rechtswahl fehlt, kommt das Recht des Betriebsortes zum Tragen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und inwieweit im Arbeitsvertrag zulässigerweise ein vom Betriebsort abweichendes Recht vereinbart werden kann, mit der Folge, dass nach Art. 10 EuInsVO jenes (ausländische) Recht zur Anwendung kommt ___________ 32) Mit der Konsequenz, dass etwa leitende Angestellte in diesem konkreten Zusammenhang nicht erfasst sind. 33) S. zum Thema auch oben § 8 (Prager/Gulbins) Rz. 11. 34) Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1059; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber, EuInsVO, Art. 10 Rz. 3. 35) Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 6.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
und wesentliche Schutzvorschriften des Staates der Verrichtung der Arbeit unterlaufen werden. 26 Grundsätzlich ist die Vereinbarung ausländischen Rechts durch die Parteien zulässig.36) Diese Vereinbarung kann jedoch zwingende Vorschriften nicht abbedingen, die im Staat der Verrichtung der Arbeit gelten (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO).37) In Deutschland gehören hierzu gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG auch Tarifverträge, sofern sie für das Arbeitsverhältnis konkret kraft Tarifbindung oder Allgemeinverbindlichkeit gelten. Im Übrigen sind typische Schutzvorschriften zugunsten des Arbeitnehmers, die durch Rechtswahl nicht umgangen werden sollen, die Regeln zum Kündigungsschutz, zur Lohnzahlung und zu Urlaubsansprüchen.38) 27 Um im Einzelfall zu bestimmen, ob dem Arbeitnehmer ein garantierter Schutz durch die Rechtswahl entzogen wird, sind die gewählte und die abbedungene Rechtsordnung miteinander zu vergleichen. Die nach der objektiven Anknüpfung ermittelte Rechtsordnung (typischerweise: Staat der Verrichtung der Arbeit) kommt also nur dann zur Anwendung, wenn sie für den Arbeitnehmer zu günstigeren Ergebnissen führt als das gewählte Recht (sog. „Günstigkeitsvergleich“).39) 28
Praxishinweis Im Einzelnen ist fraglich und umstritten, wie ein solcher Günstigkeitsvergleich durchzuführen ist.40) Fest steht jedoch, dass dieser Vergleich in der Regel sehr komplex ist und eine Rechtswahl, die in eine andere Rechtsordnung führt, als den Staat der Verrichtung der Arbeit, jedenfalls für den Arbeitgeber in aller Regel nicht attraktiv ist.
29 Bisher wenig erörtert ist die Frage, ob die Regeln des Insolvenzarbeitsrechts, z. B. die Sondervorschriften zur Kündigung (in Deutschland: §§ 108, 113 ff. InsO) oder über Betriebsänderungen und Sozialplanansprüche (§§ 120 ff. InsO), zwingende Schutzvorschriften i. S. von Art. 8 Rom I-VO sind. Dasselbe Problem stellt sich für die Frage des Betriebsübergangs nach § 613a BGB. Relevant werden diese Fragen, wenn nach ausländischem Insolvenzarbeitsrecht für die Insolvenzmasse günstigere Regeln eingreifen würden als nach deutschem Recht (z. B. strengere Deckelung von Sozialplanansprüchen oder Erleichterungen beim Betriebsübergang). Jedoch wird man auch hier – gemessen am ___________ 36) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 7; Pannen-Dammann, EuInsVO, Art. 10 Rz. 2. 37) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 4; Pannen-Dammann, EuInsVO, Art. 10 Rz. 2. 38) Pannen-Dammann, EuInsVO, Art. 10 Rz. 2. 39) Fiebig/Gallner/Mestwerdt/Nägele-Mayer, Kündigungsschutzrecht, § 1 KSchG Rz. 96; Martiny in: MünchKomm-BGB, Art. 8 Rom I-VO Rz. 110. 40) Martiny in: MünchKomm-BGB, Art. 8 Rom I-VO Rz. 38 ff.
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IV. Rechtsfolgen
Schutzzweck – davon ausgehen müssen, dass keine für den Arbeitnehmer „ungünstigere“ Regelung eingreifen soll als dies bei einem reinen Inlandssachverhalt nach dem Recht des Betriebsorts der Fall wäre. Ein für die Insolvenzmasse günstigeres Insolvenzarbeitsrecht kann daher erst (und nur dann) zur Anwendung kommen, wenn der ausländische Insolvenzverwalter nach Eröffnung des (Haupt-)Insolvenzverfahrens ein neues Arbeitsverhältnis begründet. Denn dann greift nicht mehr Art. 10 EuInsVO, sondern die lex fori concursus. Praktisch dürfte dieser Fall aber wenig Bedeutung haben, da es aus Sicht der Verwaltung in Restrukturierungssituationen häufig darum gehen wird, bestehende (d. h. vor Insolvenzeröffnung begründete) Arbeitsverhältnisse zu regeln und im Zweifel auch abzubauen. IV.
Rechtsfolgen
Liegen die dargestellten Tatbestandsvoraussetzungen vor, wird der Grundsatz 30 der lex fori concursus generalis des Art. 4 Abs. 1 EuInsVO durchbrochen. Durch Art. 10 EuInsVO erfolgt eine Anknüpfung an das Kollisionsrecht des Staates, welches auf den Arbeitsvertrag anwendbar ist (Arbeitsvertragsstatut). Erfasst werden hiervon sowohl individual- als auch kollektivarbeitsrechtliche Normen, so dass irrelevant ist, in welchem nationalen Gesetz die Normen enthalten sind.41) Art. 10 EuInsVO legt das anwendbare materielle Recht demnach nicht auto- 31 nom fest.42) Dieses wird vielmehr durch das allgemeine Kollisionsrecht nach Art. 8 Rom I-VO43) bestimmt.44) Fehlt im Arbeitsvertrag, wie in der Praxis häufig,45) eine Rechtswahl der Parteien, gilt grundsätzlich das Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Bei einer Eingliederung in einen Betrieb ist dies somit in der Regel der Betriebsort.46) Andernfalls bestimmt sich der Arbeitsort nach dem zeitlichen und inhaltlichen Schwergewicht der Tätigkeit.47) ___________ 41) Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1060; Paulus, EuInsVO, Art. 10 Rz. 3. 42) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 4; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber, EuInsVO, Art. 10 Rz. 1. 43) Vormals: Art. 6 EVÜ v. 19.6.1980, BGBl. II 1986, 809. Allein für Dänemark gilt das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht om 19.6.1980 (80/934/EWG) weiter, vgl. Erwägungsgrund 33 der EuInsVO. 44) Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber, EuInsVO, Art. 10 Rz. 1; Reinhart in: MünchKommInsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 2; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1059 f.; DuursmaKepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 4; so auch Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, Rz. 126, für das vor der Rom I-VO anwendbare Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht. 45) Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1060. 46) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 9. 47) Martiny in: MünchKomm-BGB, Art. 8 Rom I-VO Rz. 47.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
V.
Praxisrelevante Fallgruppen aus Sicht des deutschen Rechts: Zur Reichweite des Verweises in Art. 10 EuInsVO
32 Eine Insolvenz hat typischerweise eine Vielzahl von Auswirkungen auf ein Arbeitsverhältnis wie die Möglichkeit zu dessen Fortsetzung, etwaige besondere Lösungsrechte von Verwalter und Arbeitnehmer im Falle einer Arbeitgeberinsolvenz und die sich hieraus ergebenden besonderen arbeitsrechtlichen Verpflichtungen wie die Bestimmungen über Betriebsänderungen oder Betriebsübertragungen.48) 33 Die Reichweite der Verweisung von Art. 10 EuInsVO – und damit die Abgrenzung zwischen Arbeitsvertragsstatut und Insolvenzstatut – ist daher praktisch relevant und teilweise noch nicht abschließend geklärt. Bei dieser Abgrenzung sind der Wortlaut49) und der Schutzzweck der Norm von besonderer Bedeutung.50) Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass das Recht des Arbeitsvertragsstatuts „ausschließlich“ (solely) für die „Wirkungen“ (effects) des Insolvenzverfahrens auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sein soll,51) es im Übrigen jedoch bei der Anwendung des lex fori concursus generalis bleibt.52) 1.
Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses und Kündigungsmöglichkeiten in der Insolvenz (§§ 108, 113 InsO)
34 Die Frage, ob Arbeitsverhältnisse in einer Insolvenz fortbestehen und wie sie von den Parteien aufgelöst werden können, ist ein zentraler Regelungsgegenstand in jeder Jurisdiktion. Es ist daher unstreitig, dass es sich bei Lösungsrechten, die an die Eröffnung des Insolvenzverfahrens anknüpfen, um eine „Wirkung“ des Verfahrens auf das Arbeitsverhältnis handelt.53) Anzuknüpfen ist daher an das Arbeitsvertragsstatut; verweist dieses auf deutsches Recht, gelten die §§ 108, 103 ff. InsO. 35 Arbeitsverhältnisse bestehen nach § 108 Abs. 1 InsO ungeachtet der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fort.54) Die Forderungen der Arbeitnehmer, die ab Er___________ 48) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 11. 49) Insbesondere mit den Begriffen „ausschließlich“ und „Wirkungen“; vgl. auch BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, NZI 2012, 1011 = NZA 2013, 797; Paulus, EuInsVO, Art. 10 Rz. 6. 50) Dies ergibt sich insbesondere auch aus Erwägungsgrund 28 der EuInsVO. 51) Dies folgt auch aus Erwägungsgrund 28 der Verordnung; Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, Rz. 128; so auch Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber, EUInsVO, Art. 10 Rz. 4; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 8; a. A. Thierhoff/ Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 864, die aufgrund des (Vertrauens-)Schutzes der Arbeitnehmer auf die Anwendung des nationalen Rechts einen weiten Anwendungsbereich der Norm befürworten. 52) Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, Rz. 127; Duursma-Kepplinger/Duursma/ChalupskyDuursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 10; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1060. 53) Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger, EuInsVO, Art. 10 Rz. 11. 54) Näher hierzu Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1060.
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V. Praxisrelevante Fallgruppen aus Sicht des deutschen Rechts
öffnung des Insolvenzverfahrens entstehen, sind Masseverbindlichkeiten. Trotz der Belastung mit Masseverbindlichkeiten kennt das deutsche Insolvenzarbeitsrecht – anders als bei Mietverträgen – kein eigenständiges Kündigungsrecht – weder für Arbeitgeber noch für Arbeitnehmer – und zwar insbesondere nicht wegen der Insolvenz des Arbeitgebers.55) Auch § 113 InsO setzt daher einen Kündigungsgrund voraus und regelt nur die Kündigungsfrist bei Bestehen eines Kündigungsgrundes. Das bedeutet, der Kündigungsschutz bleibt grundsätzlich intakt, Erleichterungen ergeben sich lediglich bei Betriebsänderungen (§ 125 InsO.)56) Nach § 113 Satz 1 und Satz 2 InsO können sowohl der Insolvenzverwalter als 36 auch der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von drei Monaten kündigen, sofern keine kürzere Frist maßgeblich ist.57) Tarifliche und vertragliche Kündigungsausschlüsse wie auch Befristungen mit mehr als drei Monaten Restlaufzeit werden hierdurch überwunden.58) § 113 Satz 3 InsO eröffnet dem Arbeitnehmer – ebenso wie die Parallelnorm 37 bei Mietverträgen (§ 109 Abs. 1 Satz 3 InsO) – die Geltendmachung eines sog. Verfrühungsschadens, eines Schadensersatzes wegen der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, und qualifiziert diesen als Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO.59) 38
Praxishinweis Freilich gilt auch beim Verfrühungsschaden – wie sonst auch außerhalb der Insolvenz – dass sich der Arbeitnehmer ein etwaiges Mitverschulden anrechnen lassen muss, so z. B. wenn er es unterlässt, eine zumutbare andere Tätigkeit anzunehmen.60)
2.
Änderungen des Arbeitsverhältnisses i. R. einer Unternehmenssanierung (§§ 121 – 128 InsO)
Fragen betreffend die Änderung des Arbeitsverhältnisses i. R. eines Sanie- 39 rungsverfahrens unterfallen nach bisher h. L. und jetzt auch nach der klaren ___________ 55) BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387, 388 = ZIP 2007, 595; Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 880. 56) LAG Hessen, Urt. v. 15.2.2011 – 13 Sa 767/10, ZIP 2011, 683 (LS) = BeckRs 2011, 70634 m. w. N.; LAG Hessen, Teil-Urt. v. 5.3.2007 – 17 Sa 122/06. 57) Zur Frage der Zuständigkeit für erhobene Kündigungsschutzklagen, s. BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, BB 2013, 948 = BeckRS 2013, 67590 sowie BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, NZI 2012, 1011 = NZA 2013, 797. 58) BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387, 388 = ZIP 2007, 595; Thierhoff/ Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 879; Bauer/Göpfert/ Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Kap. 4 G Rz. 3. 59) Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Kap. 4 G Rz. 7; Thierhoff/Müller/Illy/ Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 879. 60) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 113 Rz. 163 m. w. N.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
Auffassung des BAG61) dem Arbeitsvertragsstatut, da es sich hierbei um typische Wirkungen eines Insolvenzverfahrens auf die Arbeitsverhältnisse handelt.62) 40 Soweit solche Betriebsänderungen – wie zumeist – einen Stellenabbau mit sich bringen, sind die Vorschriften des §§ 121 bis 124 InsO anzuwenden. Diese regeln die Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG), die Notwendigkeit der Zustimmung des ArbG zur Durchführung einer Betriebsänderung sowie die Details eines Sozialplans und begrenzen insoweit die Wirkungserstreckung des Rechts des Eröffnungsstaats, wenn ein deutsches Arbeitsvertragsstatut vorliegt.63) 41 In einem Urteil vom 20.9.2012 hat das BAG klargestellt, dass ein ausländischer Insolvenzverwalter als Insolvenzverwalter i. S. des § 125 InsO anzusehen ist, wenn er in der vom Insolvenzrecht des Staats der Verfahrenseröffnung vorgesehenen Weise für den Schuldner handelt.64) Demnach hängt es in einem Fall der Anwendbarkeit deutschen Arbeitsrechts nach Art. 10 EuInsVO nicht von der spezifischen Rechtsstellung des Insolvenzverwalters nach ausländischem Recht ab, ob ihm die Erleichterung zugutekommt, Arbeitsverhältnisse in der Insolvenz nach §§ 113, 125 und § 128 Abs. 2 InsO zu kündigen.65) 3.
Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf das Arbeitsverhältnis (§ 613a BGB)
a)
Betriebsübergang in der Insolvenz nach der Arbeitnehmerschutzrichtlinie 2001/23 EG
42 Sofern der Insolvenzverwalter den Geschäftsbetrieb oder einen Betriebsteil im Wege des Asset Deals an einen Erwerber veräußert, stellt sich die Frage, ob die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverträgen ipso iure und ohne individuelle vertragliche Vereinbarung auf den Erwerber mit übergehen. 43 Nach der Richtlinie 2001/23/EG (Arbeitnehmerschutzrichtlinie bei Betriebsübergang) gehen die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über (Art. 3). Nach Art. 4 der Richtlinie stellt der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes ___________ 61) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, NZI 2012, 1011 = NZA 2013, 797. 62) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 9; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 10. A. A. Stephan in: HK-InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 3. 63) Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 876. 64) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, Rz. 39 ff., NZI 2012, 1011 = NZA 2013, 797. 65) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, Rz. 36 ff., NZI 2012, 1011 = NZA 2013, 797.
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V. Praxisrelevante Fallgruppen aus Sicht des deutschen Rechts
vorsehen, gelten diese beiden Vorschriften nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) ein Konkurs- (bzw. Insolvenz-)verfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde. Die Arbeitnehmerschutzrichtlinie überlasst es daher jedem Mitgliedstaat selbst 44 zu bestimmen, ob bei Betriebsveräußerungen eines insolventen Unternehmens die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag auf den Erwerber übergehen sollen und ob ein Kündigungsverbot wegen des Betriebsübergangs gegeben ist. b)
Betriebsübergang in der Insolvenz nach deutschem Recht
Im deutschen Recht ist nicht explizit geregelt, ob die arbeitsrechtlichen Schutz- 45 vorschriften bei einem Betriebsübergang (§ 613a BGB) auch in der Insolvenz eines Veräußerers gelten sollen. Lange Zeit war daher streitig, ob die Betriebsveräußerung in der Insolvenz von § 613a BGB erfasst wird.66) Die Rechtsprechung des BAG, die durch den Gesetzgeber durch Einführung des § 128 InsO grundsätzlich bestätigt wurde, bejaht diese Frage, unterscheidet aber nach den verschiedenen Normzwecken. Soweit es um den Schutz der Arbeitsplätze und die Kontinuität des Betriebsrats geht, ist § 613a BGB uneingeschränkt anwendbar. Nicht anwendbar ist § 613a BGB hingegen insoweit, als er die Haftung des Betriebserwerbers für bereits (vorinsolvenzlich) entstandene Ansprüche vorsieht.67) Eine solche Haftung kann daher nur individual-vertraglich vereinbart werden, was aber in der Praxis kaum vorkommen dürfte, da ein Erwerber kaum bereit ein dürfte, Altverbindlichkeiten eines insolventen Unternehmens zu übernehmen. Nach deutschem Recht gilt auch, dass § 613a BGB grundsätzlich auch bei Be- 46 triebsübergängen in das Ausland anwendbar ist. Zwar kann es dazu kommen, dass nach dem Betriebsübergang das Recht des Staates zur Anwendung kommt, in dem das Arbeitsverhältnis nach dem Betriebsübergang besteht, sofern keine Rechtswahl in dem Arbeitsverhältnis getroffen wurde. Die Fragen, ob ein Betriebsübergang vorliegt und ob ein Kündigungsverbot eingreift, richtet sich aber nach dem Arbeitsvertragsstatut, das vor dem Betriebsübergang anzuwenden ist, d. h. im deutschen Recht nach der Vorschrift des § 613a BGB.68)
___________ 66) Vgl. etwa Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, Kündigungsrecht, § 613a BGB Rz. 235. 67) St. Rspr. seit BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124; s. BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 215/06, ZIP 2007, 386 = NZA 2007, 335 m. w. N. 68) BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 608/11, Rz. 40 ff., BB 2013, 948 = BeckRS 2013, 67590.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
c)
Betriebsübergang in der Insolvenz und Art. 10 EuInsVO
47 Nach h. M. in der Literatur handelt es sich bei Fragen des Betriebsübergangs um „Wirkungen“ des Insolvenzverfahrens i. S. von Art. 10 EuInsVO. Nach der h. L. ist die Frage des Betriebsübergangs demnach nach dem Arbeitsvertragsstatut zu lösen.69) 48 Die Anwendung des Arbeitsvertragsstatus ist keinesfalls zwingend. Art. 5 der Arbeitnehmerschutzrichtlinie überlässt es gerade dem nationalen Gesetzgeber, einen den Art. 3 und Art. 4 der Richtlinie vergleichbaren Arbeitnehmerschutz auch in einem Insolvenzverfahren bereitzustellen. Dieses Wahlrecht der Mitgliedstaaten versteht der europäische Gesetzgeber offenbar als sachgerecht. Einen Verstoß gegen zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht sieht er hierin demnach nicht. Vorgesehen ist lediglich Missbrauchsschutz zugunsten der Arbeitnehmer. Nach Art. 5 Abs. 4 der Arbeitnehmerschutzrichtlinie sollen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit Insolvenzverfahren nicht in missbräuchlicher Weise in Anspruch genommen werden, um den Arbeitnehmern die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte vorzuenthalten. 49 Im Ergebnis wäre es daher ebenso denkbar, bei der Frage des Betriebsübergangs an das Insolvenzstatut, anstatt an das Arbeitsvertragsstatut anzuknüpfen. Der Normzweck des Art. 10 EuInsVO, d. h. der Schutz der Arbeitnehmer, stünde einer solchen Auslegung nicht entgegen. Eine Anknüpfung an das Insolvenzstatut hätte weitergehend den Vorteil, dass bei komplexen grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen ein einheitliches materielles Recht bei einem oder mehreren Betriebsübergängen zur Anwendung käme. Angenommen, ein Erwerber kauft einen bestimmten Geschäftsbereich eines international tätigen Unternehmens von einem Insolvenzverwalter, dann kommt es vor, dass die Vermögensgegenstände, die diesen Bereich betreffen, häufig auf mehrere Gesellschaften im In- und Ausland verteilt sind. Wenn diese Gesellschaften ihren COMI in derselben Jurisdiktion haben und jeweils ein Hauptinsolvenzverfahren nach dieser Jurisdiktion eröffnet worden ist, dann sind häufig auch dieselbe(n) Person(en) als Insolvenzverwalter in den einzelnen Gesellschaften bestellt. Verkauft und überträgt dieser Insolvenzverwalter die Gegenstände des Geschäftsbereichs nach dem jeweiligen Sachrecht der einzelnen Jurisdiktionen in separaten Asset Deals, dann sieht sich der Erwerber – auf Basis der h. M., letztlich einer Vielzahl von unterschiedlichen Rechtsordnungen ausgesetzt, in der die Fragen des Betriebsübergangs unterschiedlich geregelt sein können.70) ___________ 69) Vgl. hierfür z. B. Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 10; Nerlich/Römermann-Nerlich, InsO, VO (EG) 1346/2000 Art. 10 Rz. 6; Thierhoff/ Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 888; Göpfert/ Müller, NZA 2009, 1057, 1061 ff. 70) Zum Thema s. a. § 8 (Prager/Gulbins) Rz. 24.
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V. Praxisrelevante Fallgruppen aus Sicht des deutschen Rechts
Das ist für beide Seiten – Erwerber und Insolvenzverwalter, letztlich unbefriedi- 50 gend, da der Asset Deal an Planbarkeit verliert und aufgrund der erhöhten Komplexität in aller Regel nicht unerhebliche Mehrkosten für die Insolvenzmasse entstehen. Eine einheitliche Anknüpfung des Betriebsübergangs an das Insolvenzstatut könnte diese Nachteile verhindern. 4.
Rang der Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis
a)
Rangfrage unterliegt lex fori concursus
Die Frage, ob es sich bei den Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis um Masse- 51 forderungen oder einfache Insolvenzforderungen handelt, richtet sich ausschließlich nach dem Recht des Verfahrensstaates (Art. 4 Abs. 2 lit. i EuInsVO) und ist daher nicht von Art. 10 EuInsVO erfasst.71) Die Anforderungen an die Anmeldung, Prüfung und Feststellung einer Forderung aus dem jeweiligen Arbeitsverhältnis unterfallen ebenfalls nicht Art. 10 EuInsVO,72) da diese Fragen nicht unmittelbar mit dem Arbeitsverhältnis verbunden sind. Gleiches gilt für die Frage des Pfändungsschutzes für das Gehalt des Arbeitnehmers, da es hierbei um die Frage geht, inwieweit das Gehalt des Arbeitnehmers zur Insolvenzmasse zählt und somit um eine Frage, die nach Art. 4 Abs. 2 lit. b EuInsVO der lex fori concursus unterfällt.73) b)
Auslandsforderungen in einem deutschen Insolvenzverfahren
In einem deutschen Insolvenzverfahren richtet sich der Rang der Forderungen 52 von Arbeitnehmern nach deutschem Insolvenzrecht (§§ 38 ff. InsO). Dieses gilt sowohl für inländische als auch ausländische Forderungen von Arbeitnehmern. Bei inländischen Ansprüchen, die aus arbeitsrechtlichen Kündigungen oder Aufhebungsvereinbarungen herrühren, gibt es zum Teil Abgrenzungsschwierigkeiten, da sich diese Ansprüche aus unterschiedlichen Sachverhalten und unterschiedlichen Rechtsgrundlagen ergeben können. Diese Fragen bei rein inländischen Sachverhalten sind aber durch die Rechtsprechung weitestgehend geklärt.74) Weitaus schwieriger dürfte die Einordnung ausländischer Arbeitnehmerfor- 53 derungen sein. Probleme treten insbesondere dann auf, wenn ausländische Forderungen in einem deutschen Insolvenzverfahren geltend gemacht werden, ___________ 71) Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 9. 72) Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 871. 73) Uhlenbruck-Lüer, InsO, Art. 10 EuInsVO Rz. 11; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 17; so auch Paulus, EuInsVO, Art. 10 Rz. 9. 74) S. hierzu näher BAG, Urt. v. 27.4.2006 – 6 AZR 364/05, ZIP 2006, 1962 = NZA 2006, 1282; BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, ZIP 2003, 2216 = NJW 2004, 875; BAG, Urt. v. 31.7.2002 – 10 AZR 275/01, ZIP 2002, 2051 = NZA 2002, 1332; BAG, Urt. v. 12.6.2002 – 10 AZR 180/01, ZIP 2002, 1495 = NJW 2002, 3045.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
die dem deutschen Recht unbekannt sind oder nur in abgewandelter Form bestehen, wie etwa gesetzliche Abfindungsansprüche (während das deutsche Recht gesetzliche Abfindungsansprüche grundsätzlich nicht vorsieht). Explizite Rechtsprechung zu diesen Fragen existiert, soweit ersichtlich, nicht und auch die Literatur hat sich mit diesem Problemfeld bisher nicht beschäftigt. 54 Die Abgrenzung erfolgt grundsätzlich auch hier nach dem Zeitpunkt der Begründung der Forderung: x
Wenn der anspruchsbegründende Tatbestand vor der Verfahrenseröffnung materiell-rechtlich abgeschlossen war („Schuldrechtsorganismus“), liegt eine Insolvenzforderung vor.
x
Andernfalls, also bei Rechtsgeschäften, die der Insolvenzverwalter nach Eröffnung abschließt, handelt es sich um Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO).
55 Bei (gesetzlichen) Abfindungsansprüchen wird man danach differenzieren müssen, wann und von wem die Kündigung ausgesprochen worden ist. Bei einer Kündigung nach Insolvenzeröffnung, d. h. durch den Insolvenzverwalter, sind aus der Kündigung resultierende Ansprüche auf Abfindung, Schadensersatz oder dergleichen grundsätzlich Masseforderungen. Hat dagegen der Insolvenzschuldner vor Insolvenzeröffnung gekündigt, handelt es sich bei den genannten Ansprüchen dagegen um einfache Insolvenzforderungen.75) 5.
Insolvenzgeld
a)
Sonderanknüpfung für das Insolvenzgeld
56 Die Frage, ob der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Insolvenzgeld hat, unterfällt nicht der EuInsVO, sondern folgt eigenen Regeln.76) Zuständig ist nach einer Entscheidung des EuGH die Garantieeinrichtung des Staates, in dem die Eröffnung des Verfahrens zur gemeinschaftlichen Befriedigung beschlossen oder die Stilllegung des Unternehmens oder des Betriebs des Arbeitgebers festgestellt wurde.77) Andernfalls, sofern der Arbeitgeber eine Zweigniederlassung im Ausland betreibt, nach Art. 9 der Richtlinie 2008/94/EG i. V. m. § 165 Abs. 1 Satz 3 SGB III die Garantieeinrichtung des Staates, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.78) ___________ 75) Im Ergebnis kann daher die in Fn. 74 zitierte Rspr., die für reine Inlandssachverhalte gilt, auch auf Auslandsforderungen übertragen werden. 76) LAG Hessen, Urt. v. 15.2.2011 – 13 Sa 767/10, ZIP 2011, 683 (LS) = BeckRS 2011, 70634; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 10 Rz. 12. 77) EuGH, Urt. v. 17.9.1997 – Rs. C-117/96 (Mosbæk), Slg. 1997, I-5017 = NZA 1997, 1155. 78) EuGH, Urt. v. 16.12.1999 – Rs. C-198/98 (Everson/Bell Lines), ZIP 2000, 89 = NZA 2000, 995 zur durch die Richtlinie 2008/94/EG ersetzten Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers v. 20.10.1980.
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V. Praxisrelevante Fallgruppen aus Sicht des deutschen Rechts
In der Praxis dürfte dies kaum zu Abweichungen von den Ergebnissen führen, 57 die man bei Anwendung von Art. 10 EuInsVO und einer Anknüpfung an das Arbeitsvertragsstatut erzielen würde. Demnach können z. B. deutsche Arbeitnehmer auch dann nach den inländischen Regeln Insolvenzgeld beanspruchen, wenn über das Vermögen des Arbeitgebers ein ausländisches (z. B. englisches) Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. § 165 Abs. 1 SGB III stellt zudem klar, dass im Inland beschäftigte Arbeitnehmer auch bei einem ausländischen Insolvenzereignis einen Anspruch aus Insolvenzgeld haben. b)
Insolvenzgeld nach ESUG
Seit Einführung des ESUG79) stellt sich die Frage, wie die Ansprüche der Bundes- 58 agentur für Arbeit zu behandeln sind, wenn Insolvenzgeld im „Schutzschirmverfahren“ (§ 270b InsO) an die Arbeitnehmer ausbezahlt wird. Nach § 270b Abs. 3 InsO kann sich der Schuldner ermächtigen lassen, im vorläufigen Insolvenzverfahren Masseverbindlichkeiten zu begründen. Von dieser Möglichkeit wird mittlerweile häufig Gebrauch macht, um eine reibungslose Fortführung des Geschäftsbetriebs im „Schutzschirm“ zu ermöglichen. Aufgrund des Wortlauts des § 270b Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 55 Abs. 2 InsO InsO könnte man theoretisch die Auffassung vertreten, die (Regress-)Ansprüche der Bundesagentur für Arbeit seien als Masseverbindlichkeiten zu beurteilen, da auch die zugrunde liegenden Arbeitnehmerforderungen Masseforderungen sind. Denn § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO verweist gerade nicht auf § 55 Abs. 3 InsO (sondern nur auf § 55 Abs. 2 InsO). § 55 Abs. 3 InsO bestimmt, dass die (Regress-)Ansprüche der Bundesagentur für Arbeit nur als Insolvenzforderungen geltend gemacht werden können. Einzig richtiges Ergebnis ist jedoch, dass die Ansprüche der Bundesagentur 59 für Arbeit – auch im „Schutzschirmverfahren“ und trotz des missverständlichen Verweises in § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO – nur einfache Insolvenzforderungen sind und keine Masseverbindlichkeiten.80) Die Neuregelung durch das ESUG ist an dieser Stelle ungenau, es handelt sich um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers. 60
Praxishinweis In der Praxis dürfte dadurch geholfen sein, dass die Bundesagentur für Arbeit in ihren internen Richtlinien ebenfalls davon ausgeht, ihre (Regress-)Ansprüche nur als einfacher Insolvenzgläubiger zu verfolgen. Widerspruch von der Bundesagentur für Arbeit ist in „Schutzschirmverfahren“ daher nicht zu erwarten.
___________ 79) Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – ESUG v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582, mit seinen wesentlichen Teilen am 1.3.2012 in Kraft getreten. 80) S. hierzu ausführlich und zutreffend Geißler, ZInsO 2013, 531 ff.
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
VI.
Anwendbares Recht bei Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens
61 Ein nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO zuständiges Gericht kann ein territorial begrenztes Sekundärinsolvenzverfahren eröffnen, sofern sich in dem betroffenen Mitgliedstaat eine Niederlassung des Schuldners befindet. 62 Art. 28 EuInsVO verweist für ein solches Sekundärinsolvenzverfahren, bei dem ein anzuerkennendes Hauptverfahren vorliegt, auf die Rechtsvorschriften des Staates, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet wurde.81) Somit kommt die lex fori concursus secundariae zur Anwendung.82) 63
Praxishinweis Für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf das Arbeitsverhältnis bleibt es jedoch auch insoweit bei der Regelung des Art. 10 EuInsVO, da Art. 10 EuInsVO nicht durch Art. 28 EuInsVO derogiert wird.83)
64 Da Sekundärverfahren jedoch aufgrund der Gefahr wertvernichtender Fragmentierung des Konzerns, möglichen Blockadesituationen und Betriebsschließungen grundsätzlich eine wesentliche Gefahr für den Erfolg der Sanierung darstellen, wird der Insolvenzverwalter des Hauptinsolvenzverfahrens in der Regel versuchen, Sekundärinsolvenzverfahren zu vermeiden. Dies kann z. B. dadurch gelingen, dass die Jurisdiktion des Hauptinsolvenzverfahrens flexibel reagiert, etwa weil Arbeitnehmer auch im Hauptinsolvenzverfahren so gestellt werden, wie sie stünden, wenn ein Sekundärverfahren eröffnet würde. Bisher war dies z. B. im englischen Insolvenzrecht durch entsprechende „supplemental orders“ des zuständigen Gerichtes möglich. 65
Praxishinweis Die Reformbestrebungen auf europäischer Ebene scheinen dahin zu gehen, diese Flexibilität generell allen Mitgliedstaaten zu erlauben, in der die EuInsVO gilt.84) Dieser Vorstoß ist sehr zu begrüßen, auch aus deutscher Sicht, da der Insolvenzstandort Deutschland dadurch weiter „aufholt“ gegenüber – jedenfalls in der Vergangenheit und vor ESUG85) – favorisierten Jurisdiktionen für grenzüberschreitende Verfahren.86)
___________ 81) Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 922. 82) Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 28 Rz. 1. 83) LAG Hessen, Teil-Urt. v. 5.3.2007 – 17 Sa 122/06; Reinhart in: MünchKomm-InsO, VO (EG) 1346/2000, Art. 28 Rz. 5 ff.; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057, 1062 ff. 84) Vgl. „Report from the Commission to the European Parliament, the Council and the European Economic and Social Committee on the application of Council Regulation (EC) No 1346/2000 of 29 May 2000 on insolvency proceedings“ v. 12.12.2012, S. 13 ff., abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/civil/files/insolvency-report_en.pdf (Abrufdatum: 29.7.2013). 85) S. hierzu RegE zum Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG), BR-Drucks. 127/11. Nach der Gesetzesbegründung ist es ein wesentliches Ziel des ESUG, gegenüber Jurisdiktionen aufzuholen, die als sanierungsfreundlicher wahrgenommen werden und so den Insolvenzstandort in Deutschland zu stärken (s. S. 1 ff.). 86) Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Beck/Voss, Unternehmenssanierung, Kap. 10 Rz. 915.
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VII. Zusammenfassung
VII. Zusammenfassung Nach dem Ausgeführten können die wesentlichen Punkte und Thesen des Bei- 66 trags wie folgt zusammengefasst werden: Ein Insolvenzverfahren eines grenzüberschreitenden Konzerns wirft erhebliche 67 Probleme auf, auch im Hinblick auf die Behandlung der Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse in einer solchen Konzerninsolvenz. Trotz der Bedeutung, die diesem Bereich in der Praxis zukommt, äußert sich der DiskE der EU-Kommission kaum zu Art. 10 EuInsVO und sieht auch keinen Reformbedarf. In der Reformdiskussion anzuregen, wäre die Frage, ob jedenfalls Betriebsüber- 68 gänge (§ 613a BGB) allein vom Insolvenzstatut (Art. 4 Abs. 1 EuInsVO) und nicht vom Arbeitsvertragsstatut (Art. 10 EuInsVO) umfasst sein sollten. Dies würde eine einheitliche Anknüpfung an das Insolvenzrecht des Hauptinsolvenzverfahrens erlauben und damit die Praktikabilität von M&A Transaktionen in grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen erhöhen. Die Auslegung der Begriffe „Arbeitsvertrag“ und „Arbeitsverhältnis“ i. S. von 69 Art. 10 EuInsVO sind aus dem durch die Rechtsprechung geprägten Begriff des „Arbeitnehmers“ herzuleiten. Die h. M. möchte den Arbeitnehmerbegriff europarechtlich autonom auslegen. Es wäre aber zu überdenken, ob die Auslegung tatsächlich autonom einheitlich erfolgen sollte. Vorteilhafter mag es sein, die relevante Gruppe der Arbeitnehmer danach auszuwählen, welche materielle Sachnorm im konkreten Fall Anwendung findet bzw. finden würde. Dazu müsste man zunächst die Anwendbarkeit des Art. 10 EuInsVO gedanklich unterstellen und prüfen, welche materielle Sachnorm – auf Basis des Arbeitsvertragsstatuts, Anwendung finden würde. Geht es z. B. um eine von einem Insolvenzverwalter in einem deutschen Hauptinsolvenzverfahren beabsichtigte Betriebsänderung, kann sich der Arbeitnehmer-Begriff sinnvollerweise nur an § 125 InsO i. V. m. § 5 BetrVG orientieren. Die Frage der Rechtswahl kann bei Arbeitsverträgen eine nicht unwichtige Rolle 70 spielen. Grundsätzlich ist auch die Vereinbarung eines ausländischen Rechts durch die Parteien des Arbeitsvertrages zulässig. Diese Vereinbarung kann jedoch zwingende Vorschriften nicht abbedingen, die im Staat der Verrichtung der Arbeit gelten (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO). Bisher wenig erörtert ist die Frage, ob die Regeln des Insolvenzarbeitsrechts, z. B. die Sondervorschriften zur Kündigung (in Deutschland: §§ 108, 113 ff. InsO) oder über Betriebsänderungen und Sozialplanansprüche (§§ 120 ff. InsO), zwingende Schutzvorschriften i. S. von Art. 8 Rom I-VO sind. Gemessen am Schutzzweck des Art. 10 EuInsVO wird man dies bejahen müssen. Die Reichweite der Verweisung von Art. 10 EuInsVO – und damit die Abgren- 71 zung zwischen Arbeitsvertragsstatut und Insolvenzstatut – ist praktisch relevant und teilweise noch nicht abschließend geklärt. Bei der Abgrenzung sind der Wortlaut und der Schutzzweck der Norm von besonderer Bedeutung. Aus deut-
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§ 9 Arbeitsrechtliche Bezüge des europäischen Insolvenzrechts
scher Sicht werden insbesondere § 108, § 113 und §§ 120 ff. InsO sowie betriebsverfassungsrechtliche Normen vom Arbeitsvertragsstatut erfasst. 72 Demgegenüber unterfällt der Rang von Forderungen sowie die Frage nach Anforderungen an die Anmeldung, Prüfung und Feststellung einer Forderung aus dem jeweiligen Arbeitsverhältnis der lex fori concursus generalis. 73 Die Einordnung ausländischer Arbeitnehmerforderungen kann Schwierigkeiten bereiten, vor allem wenn ausländische Forderungen in einem deutschen Insolvenzverfahren geltend gemacht werden, die dem deutschen Recht unbekannt sind oder nur in abgewandelter Form bestehen. Es lassen sich jedoch unter Anwendung allgemeiner insolvenzrechtlicher Grundsätze sachgerechte Lösungen finden. 74 Das Insolvenzgeld untersteht weder dem Arbeitsvertrags- noch dem Insolvenzstatut, sondern folgt eigenen Regeln. In aller Regel können etwa deutsche Arbeitnehmer nach den inländischen Regeln Insolvenzgeld beanspruchen, selbst wenn über das Vermögen des Arbeitgebers ein ausländisches (z. B. englisches) Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. 75 Besondere Probleme des Insolvenzgeldes stellen sich seit Einführung des ESUG, wenn Insolvenzgeld im „Schutzschirmverfahren“ (§ 270b InsO) ausbezahlt wurde und die Bundesagentur für Arbeit ihre Forderungen im Verfahren anmeldet. Trotz des missverständlichen Verweises in § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO sind die Ansprüche der Bundesagentur für Arbeit nur einfache Insolvenzforderungen und keine Masseverbindlichkeiten. 76 Im Falle eines Sekundärinsolvenzverfahrens, bei dem ein anzuerkennendes Hauptverfahren vorliegt, kommt die lex fori concursus secundariae zur Anwendung (Art. 28 EuInsVO). Für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf das Arbeitsverhältnis bleibt es allerdings bei der Regelung des Art. 10 EuInsVO. Trotz dieses Normengleichlaufs zwischen Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren wird der Insolvenzverwalter des Hauptinsolvenzverfahrens in der Regel (aus anderen Gründen) versuchen, ein Sekundärinsolvenzverfahren zu vermeiden. Dies kann z. B. dadurch gelingen, dass die Jurisdiktion des Hauptinsolvenzverfahrens flexibel reagiert, etwa weil Arbeitnehmer auch im Hauptinsolvenzverfahren so gestellt werden, wie sie stünden, wenn ein Sekundärverfahren eröffnet würde. Da diese Flexibilität bisher nur in einigen Mitgliedstaaten vorhanden ist, sieht der DiskE der EU-Kommission vor, diese rechtliche Anpassungsmöglichkeit allen Mitgliedstaaten zu erlauben, in der die EuInsVO gilt.
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Teil IV Arbeitsrecht in der Restrukturierung und Insolvenz – Einzelthemen –
§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick Einleitung des Herausgebers: Die Besonderheiten des Insolvenzarbeitsrechts wurden in den vorangehenden Kapiteln schon mehrfach beleuchtet. Jetzt kommt ein „deep dive“ in das Insolvenzarbeitsrecht anhand der neueren Rechtsprechung und Literatur. Die Bedeutung des Insolvenzarbeitsrechts beschränkt sich nämlich gerade nicht auf die kündigungsschutzrechtlichen und prozessualen Erleichterungen. Einzelthemen wie die Behandlung offener Ansprüche, gerade auf Urlaub und Zeitausgleich, aber auch die schwierigen Themen der „Störfallabwicklung“ bei Altersteilzeit verdienen die nachfolgende eingehende Behandlung. Übersicht I. Einführung......................................... 1 II. Beendigung von Arbeitsverhältnissen ........................................... 6 III. Besonderheiten im Insolvenzantragsverfahren ............................. 10 IV. Forderungen aus Arbeitsverhältnissen ......................................... 20 1. Grundsatz ......................................... 20 2. Insolvenzforderungen/Masseforderungen ...................................... 23 a) Sonderleistungen und sonstige Einmalzahlungen................ 27 b) Urlaubsentgelt und Urlaubsgeld................................ 31 c) Vergütung bei Altersteilzeit im Blockmodell.......................... 33 d) Teilvergütung und Schadensersatz bei fristloser Kündigung ................................. 35 e) Provisionen ................................ 36 3. Vergütungsansprüche bei Masseunzulänglichkeit ..................... 37 V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall .................................... 47 1. Insolvenzgeld ................................... 50 a) Lohnersatz als Versicherungsleistung ............................. 50 b) Anspruch.................................... 51 c) Antrag und Ausschlussfrist ...... 60 d) Umfang und Höhe .................... 63
2.
3.
Gossak
e) Gesetzlicher Anspruchsübergang .................................... 73 Beendigung von Arbeitsverhältnissen ................................................ 75 a) Freistellungsbefugnis ................ 76 aa) Arten der Freistellung........ 79 bb) Rechtsfolgen einer erklärten Freistellung......... 81 (1) Arbeitspflicht und Vergütung.................... 81 (2) Urlaubsansprüche ....... 88 (3) Anderweitiger Zwischenverdienst ...... 91 (4) Wettbewerbsverbot im Freistellungszeitraum ....................... 93 (5) Gleichwohlgewährung .............................. 95 b) Kündigungsbefugnis ............... 100 aa) Lösungsklausel ................. 102 bb) Vertretung und Vollmacht ......................... 105 c) Kündigungsfristen................... 115 d) Verfrühungsschaden ............... 127 e) Unwirksamkeit abweichender Vereinbarungen................. 133 Interessenausgleich und Sozialplan.................................................. 137
151
§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick a) b) c) d)
Interessenausgleich ................. 137 Betriebsänderung .................... 146 Namensliste............................. 153 Sozialplan................................. 173 aa) Altersgruppen .................. 174 bb) Sozialplanpflicht .............. 177 cc) Scheitern der Sozialplanverhandlungen........... 182 dd) Sozialplan nach Verfahrenseröffnung, § 123 InsO ....................... 184 ee) Sozialplan vor Verfahrenseröffnung, § 124 InsO ..... 193
4.
Gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung (§ 122 InsO) ..................197 5. Beschlussverfahren nach § 126 InsO.......................................209 6. Massebelastende Kollektivvereinbarungen................................218 VI. Insolvenzanfechtung.....................224 1. Kongruente Deckungsanfechtung.......................................225 2. Inkongruente Deckungsanfechtung.......................................229
Literatur: Bader, Neuregelungen im Bereich des Kündigungsschutzgesetzes durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz, NZA 1996, 1125; Bayreuther, Sanierungs- und Insolvenzklausel im Arbeitsrecht, ZIP 2008, 573; Belling/Hartmann, Die Tarifbindung in der Insolvenz, NZA 1998, 57; Fischermeier, Die betriebsbedingte Kündigung nach den Änderungen durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz, NZA 1997, 1089; Kania, Arbeitsrecht in Konkurs und Insolvenz, DStR 1996, 832; Klar, Einvernehmliche Freistellung und Anrechnung anderweitigen Verdienstes, NZA 2004, 576; Lakies, Der Anspruch auf Insolvenzgeld (§ 183 SGB III), NZA 2000, 565; Meyer, der Interessenausgleich mit Namensliste im Kündigungsschutzrecht, BB 1998, 2417; Oetker, Die Kündigung von Tarifverträgen, RdA 1995, 82; Seifert, Die insolvenzrechtliche Einordnung der Entgeltansprüche von Altersteilzeitarbeitnehmern in der Freistellungsphase, DZWIR 2004, 103; Zwanziger, Insolvenzanfechtung und Arbeitsentgelt, BB 2007, 42.
I.
Einführung Die Konkurseröffnung als solche bildet keinen wichtigen Grund für eine fristlose Entlassung: BAG, Urt. v. 25.10.1968 – 2 AZR 23/68 (Hamm), NJW 1969, 525
1 In der Insolvenz sind die Arbeitsplätze in größter Gefahr. Denn in § 1 InsO werden neben der Sanierung des Unternehmens und der Möglichkeit zur übertragenden Sanierung auch die zerschlagende Liquidation des Unternehmens als gleichrangige Ziele genannt. 2 Gleichwohl beendet das Insolvenzverfahren nicht das Arbeitsverhältnis (§ 108 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 InsO). Weder der Insolvenzantrag noch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens an sich, stellen einen Grund zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen dar. 3 Eine erfolgreiche Sanierung von Unternehmen gelingt regelmäßig nur durch eine erhebliche Senkung von Personalkosten, also durch Entlassungen sowie der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Weniger Leute arbeiten für weniger Geld! Falls überhaupt keine Aussicht zum Erhalt des angeschlagenen Unternehmens besteht oder die Sanierung scheitert, bedeutet dies Arbeitsplatzverlust
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II. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
und weitere finanzielle Einbußen für die gesamte Belegschaft. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass erhaltene Leistungen zurückbezahlt werden müssen. Denn die Regeln über die Insolvenzanfechtung nach §§ 129 f. InsO gelten auch gegenüber Arbeitnehmern. Nur ein Teil der Belastungen wird durch die finanzielle Absicherung rückstän- 4 diger Vergütungsansprüche für einen Zeitraum von maximal drei Monaten i. R. des Insolvenzgelds (§§ 165 ff. SGB III) sowie durch die Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersvorsorge durch den Pensionssicherungsverein (§§ 7 ff. BetrAVG) ausgeglichen. Zu den wichtigsten arbeitsrechtlichen Instrumenten zählen
5
x
die Einordnung rückständiger Arbeitnehmerforderungen als Insolvenzforderungen (§ 38 InsO),
x
die Verkürzung von Kündigungsfristen auf maximal drei Monate (§ 113 InsO),
x
die Begrenzung finanzieller Belastungen aus Sozialplänen (§ 123 InsO),
x
die Straffung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsänderungsverfahrens (§§ 111 ff. BetrVG i. V. m. § 125 InsO) sowie
x
die Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen im Insolvenzplanverfahren.
II.
Beendigung von Arbeitsverhältnissen Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung eine auf den gesamten Betrieb bezogene Sozialauswahl durchzuführen. Dies gilt auch dann, wenn ein Betriebsteil stillgelegt und der andere Betriebsteil auf einen Erwerber übertragen werden soll: BAG, Urt. v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, ZIP 2005, 412 = NZA 2005, 285
Die Beendigung von Arbeitsverhältnisses erfolgt auch im Insolvenzfall unter 6 Anwendung der allgemeinen Regeln des Arbeitsrechts, lediglich ergänzt bzw. modifiziert durch die Sondervorschriften des Insolvenzarbeitsrechts (§§ 113, 120 – 122, 125 – 128 InsO). Das KSchG ist auch in der Insolvenz zu beachten. Dies gilt auch dann, wenn ein Betriebsteil stillgelegt und der andere Betriebsteil auf einen Erwerber übertragen werden soll.1) Damit bleiben soziale Gesichtspunkte des Arbeitnehmers wie Lebensalter oder Dauer der Betriebszugehörigkeit für die Wirksamkeit der Kündigung relevant (vgl. § 1 KSchG). Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz sind ferner in bestimmten Fällen 7 Sonderregelungen zu beachten, etwa bei Berufsausbildungsverhältnissen (§ 22 BBiG), bei schwerbehinderten Menschen (§§ 85, 86 SGB IX), in Elternzeit (§§ 18, 19 BEEG), während der Schwangerschaft (§ 9 MuSchG), bei Heimarbeitern ___________ 1) BAG, Urt. v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, ZIP 2005, 412 = NZA 2005, 285.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
(§ 29 Abs. 3, 4 HAG), für Wehrdienstleistende (§ 2 ArbPlSchG) oder für Mitglieder betriebsverfassungsrechtlicher Organe (§ 15 KSchG, § 103 BetrVG, § 96 Abs. 3 SGB IX, § 94 Abs. 6 Satz 2 SGB IX). Auf Leiharbeitsverhältnisse ist § 622 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 BGB gemäß § 11 Abs. 4 AÜG nicht anwendbar. 8 Besteht ein Betriebsrat, so ist dieser nach allgemeinen Regelungen (§§ 102, 103 BetrVG) zu beteiligen. 9
Praxishinweis Die Anhörung des Betriebsrats kann ausnahmsweise vor der Insolvenzeröffnung durch den Schuldner oder den vorläufigen Insolvenzverwalter durchgeführt werden, wenn die beabsichtigte Kündigung zwar nach der Eröffnung erfolgen soll, aber auf einem Sanierungsgutachten des vorläufigen Insolvenzverwalters beruht und dieser zum endgültigen Verwalter bestellt wird.2)
III.
Besonderheiten im Insolvenzantragsverfahren Die Zustimmung des Insolvenzgerichts zur Unternehmensstilllegung ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung der Arbeitsverhältnisse durch den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter wegen der von ihm beabsichtigten Stilllegung: BAG, Urt. v. 27.10.2005 – 6 AZR 5/05, ZIP 2006, 585 = NZA 2006, 727
10 Noch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann die Rechtslage durch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters beeinflusst sein. Die Bestellung eines sog. „starken“ vorläufigen Verwalters (§ 22 Abs. 1 InsO) ist der gesetzlich geregelte Normalfall. Der statistische Normalfall bleibt jedoch der „schwache“ vorläufige Verwalter (§ 22 Abs. 2. InsO). 11 Bestimmt das Insolvenzgericht einen „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter, überträgt es diesem die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO). Gleichzeitig legt das Insolvenzgericht dem Unternehmen ein allgemeines Verfügungsverbot auf. Der vorläufige Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übernimmt bereits im Insolvenzantragsverfahren die Arbeitgeberfunktion, so dass nur er (allein) zum Ausspruch von Kündigungen befugt ist. 12
Praxishinweis Die arbeitsrechtlichen Erleichterungen der §§ 113, 120 – 122 sowie 125 – 128 InsO stehen dem vorläufigen Insolvenzverwalter nicht zur Verfügung.
13 Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter ist nach dem Wortlaut des § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO zur Betriebsstilllegung nur mit Zustimmung des Insolvenzgerichts befugt. Aus dieser Regelung wird zum Teil gefolgert, dass eine Kündigung wegen Stilllegung nur dann wirksam ist, wenn das Insolvenzgericht den (vorläufigen) Insolvenzverwalter zur Stilllegung ermächtigt hat. Die Zustimmung ___________ 2) BAG, Urt. v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, ZIP 2006, 631 = NZA 2006, 658.
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III. Besonderheiten im Insolvenzantragsverfahren
des Insolvenzgerichts ist nach dieser Meinung Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung wegen Stilllegung des (Teil-)Betriebs.3) Erst nach Vorliegen dieser materiellen Berechtigung dürfe der Insolvenzverwalter Arbeitsverträge wegen der beabsichtigten Betriebsstilllegung kündigen. Dieser Auffassung ist das BAG nicht gefolgt und hat entschieden, dass Kündi- 14 gungen des vorläufigen Insolvenzverwalters auch ohne Zustimmung des Insolvenzgerichts im Außenverhältnis arbeitsrechtlich rechtswirksam sind. Die Sanktion für ein zu weit gehendes Handeln nach insolvenzrechtlichen Vorschriften begründet allein eine eventuelle Schadensersatzpflicht gemäß § 60 InsO. Den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter treffen die steuerrechtlichen (z. B. 15 Lohnsteuervoranmeldungen) und sozialversicherungsrechtlichen (Beitragsmeldungen) Verpflichtungen. Bestimmt das Insolvenzgericht einen „schwachen“ vorläufigen Verwalter ohne 16 Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 22 Abs. 2 InsO), hängen seine Befugnisse von den Regelungen im Bestellungsbeschluss ab. Das Insolvenzgericht kann – i. R. der Einzelermächtigung – dem „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter entweder die Arbeitgeberstellung übertragen oder Handlungen des Schuldners im arbeitsrechtlichen Bereich von der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters abhängig machen. Auch der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter benötigt für eine Betriebs- 17 stilllegung die Zustimmung des Insolvenzgerichts, da seine Befugnisse nicht über die Rechtsstellung des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters hinausreichen können. Ein Verstoß gegen die insolvenzrechtliche Vorschrift führt jedoch ebenfalls nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung im Außenverhältnis. Das Insolvenzgericht kann jedoch bereits mit dem Anordnungsbeschluss den 18 vorläufigen Insolvenzverwalter generell zur Betriebsstilllegung des Betriebes ermächtigen4) und auf diese Weise eine mögliche Haftung ausschließen. Liegt die gerichtliche Ermächtigung oder Zustimmung vor, dann kann der vorläufige Insolvenzverwalter mit zugewiesener Arbeitgeberfunktion den Betrieb ohne Haftungsgefahr selbst stilllegen; ohne Arbeitgeberfunktion kann der vorläufige Insolvenzverwalter der Stilllegungsentscheidung des Schuldners nur zustimmen. 19
Praxishinweis Zu Beweiszwecken sollte die Stilllegungsentscheidung, die vor Ausspruch der Kündigungen getroffen sein muss, schriftlich dokumentiert werden.
___________ 3) LAG Düsseldorf, Urt. v. 8.5.2003 – 10 (11) Sa 246/03, ZIP 2003, 1811 = NZA-RR 2003, 466; LAG Hamburg, Urt. v. 16.10.2003 – 8 Sa 63/03, ZIP 2004, 869. 4) BAG, Beschl. v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, ZIP 2000, 1588.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
IV.
Forderungen aus Arbeitsverhältnissen
1.
Grundsatz
20 Zu den finanziellen Arbeitnehmeransprüchen zählen alle Geld- oder Naturalleistungen, die als Gegenwert für die vom Arbeitnehmer zu erbringende Arbeitsleistung einzustufen sind. Hierzu gehören alle Arten der vertragsmäßigen Vergütung, unabhängig von der gewählten Bezeichnung: Lohn, Gehalt, Honorar, Mehrarbeits- und Überstundenvergütung, Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit, erfolgsabhängige Gehaltsbestandteile wie Gewinnbeteiligungen und Tantiemen, Gratifikationen, Vorruhestandsleistungen, Urlaubsentgelt, Urlaubsgeld und Urlaubsabgeltung, Deputate und andere Sachbezüge.5) 21
Praxishinweis Ist das Arbeitsverhältnis vor der Insolvenzeröffnung beendet, werden alle finanziellen Forderungen oder Forderungen, die nach § 45 InsO in Geld umgerechnet werden können, Insolvenzforderungen nach § 108 Abs. 3 InsO. Ansprüche aus unvertretbaren Handlungen (z. B. Zeugnis) richten sich aber weiter gegen den Schuldner, da der Verwalter nicht in die Arbeitgeberstellung eintritt.
22 Für die insolvenzrechtliche Einstufung von finanziellen Arbeitnehmeransprüchen ist maßgeblich auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung abzustellen. Entscheidend ist, ob die Forderung „für“ die Zeit vor der Eröffnung (§ 108 Abs. 3 InsO) entstanden ist oder ob die Erfüllung durch den Arbeitnehmer „für“ die Zeit nach Eröffnung zu erfolgen hat (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO). Nicht entscheidend ist die Fälligkeit. 2.
Insolvenzforderungen/Masseforderungen Vereinbarte Vergütungserhöhung für den Fall der Insolvenz: BAG, Urt. v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, ZIP 2006, 1366 = BB 2007, 52
23 Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung des Entgelts richtet sich im eröffneten Verfahren gegen den Insolvenzverwalter, der nach § 80 Abs. 1 InsO in die Rechte und Pflichten des Schuldners eingetreten ist. Ob der Vergütungsanspruch als Masseverbindlichkeit oder als Insolvenzforderung anzusehen ist, bestimmt sich nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. 24 Maßgebend ist, ob der Anspruch vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist.6) Das Arbeitsentgelt wird dem Zeitraum zugerechnet, zu dem die entsprechende Tätigkeit verrichtet wurde oder, im Falle von An-
___________ 5) BAG, Urt. v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, ZIP 2003, 1802 = NZA 2004, 43; Kania, DStR 1996, 832; Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 55 Rz. 155, 167. 6) BAG, Urt. v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, ZIP 2006, 1366 = BB 2007, 52.
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IV. Forderungen aus Arbeitsverhältnissen
nahmeverzug des Arbeitgebers/Verwalters, hätte verrichtet werden müssen. Das gilt auch für Arbeitszeitkonten.7) Vergütungsansprüche, die vor Insolvenzeröffnung begründet wurden, sind 25 Insolvenzforderungen, § 108 Abs. 2 InsO.8) Hierzu gehören auch sog. „Sanierungsstunden“, die nur vergütet werden sollen, wenn der Arbeitnehmer betriebsbedingt ausscheidet.9) Eine Ausnahme gilt hier aufgrund des Verweises in § 22 Abs. 1 InsO auf § 55 Abs. 2 InsO nur für Ansprüche, die während des Eröffnungsverfahrens entstanden sind, wenn ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt wurde. Solche Vergütungsansprüche sind bereits im Insolvenzantragsverfahren Masseverbindlichkeiten.10) Sämtliche Lohn- und Gehaltsforderungen, die nach Insolvenzeröffnung ent- 26 standen sind, sind gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO Masseverbindlichkeiten.11) a)
Sonderleistungen und sonstige Einmalzahlungen
Bei Sonderzuwendungen kann die Einordnung als Masseforderung oder Insol- 27 venzforderung dann problematisch sein, wenn die Sonderzahlung erst nach Insolvenzeröffnung fällig wird, aber für einen Bezugszeitraum geleistet wird, der teilweise auch vor Insolvenzeröffnung liegt. Sonderzuwendungen sind in vielfältiger Ausgestaltung mit unterschiedlichen Zielrichtungen denkbar. Mit ihnen kann ausschließlich der Zweck verfolgt werden, die Betriebstreue des Arbeitnehmers zu belohnen, andererseits kann der Zweck auch ausschließlich darin liegen, eine zusätzliche Vergütung für die geleistete Arbeit zu gewähren. Liegen beide Zweckelemente vor, wird die Sonderzahlung als Gratifikation mit Mischcharakter bezeichnet. Zusätzliche Vergütungen, also Leistungen, die einzelnen Monaten zugeordnet 28 werden können, stellen nur Masseverbindlichkeiten dar, soweit sie der Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuzuordnen sind. Ein Anspruch auf eine solche Vergütung ist bei Verfahrenseröffnung anteilig aufzuteilen, gleichgül-
___________ 7) BAG, Urt. v. 24.9.2003 – 10 AZR 640/02, ZIP 2004, 124 = NZA 2004, 980; Hinweis: Nach § 7e i. V. m. § 7b SGB IV bestehen Absicherungspflichten für Langzeitarbeitskonten. Werden diese nicht erfüllt, können auch Ansprüche gegen Organmitglieder bestehen. 8) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682 = NZA 2009, 432. 9) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.3.2011 – 5 Sa 2740/10, ZIP 2011, 1833 = BeckRS 2011, 75319. 10) Braun-Kind, InsO, § 61 Rz. 3. 11) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527; BAG, Urt. v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, ZIP 2006, 1366 = BB 2007, 52; BAG, Urt. v. 19.7.2007 – 6 AZR 1087/06, ZIP 2007, 2173 = NZA-RR 2009, 94; BAG, Urt. v. 27.9.2007 – 6 AZR 975/06, ZIP 2008, 374 = NZA 2009, 89.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
tig, wann er fällig wird.12) Die Sonderleistung ist dann teilweise eine Insolvenzforderung, teilweise eine Masseverbindlichkeit. Beispiel Wird das Verfahren z. B. zum 31.3. eröffnet, stellen 3/12 einer kalenderjährlichen zusätzlichen Vergütung eine Insolvenzforderung dar, 9/12 sind Masseverbindlichkeit. 29 Bei sonstigen Einmalzahlungen ist auf das Ziel der Zahlung abzustellen: Dient die Einmalzahlung der zusätzlichen Honorierung der Arbeitsleistung, erfolgt eine zeitratierliche Zuordnung. Die Sonderzuwendung erfolgt dann ausschließlich leistungsbezogen und stellt Arbeitsentgelt im engeren Sinne dar. Der Insolvenzverwalter schuldet die Sonderzuwendung nur zeitanteilig für den nach der Insolvenzeröffnung liegenden Bezugszeitraums; für die Zeiten vor Verfahrenseröffnung ist die Sonderzahlung anteilig als Insolvenzforderung zur Tabelle anzumelden. Denn dann wird durch die Sonderzahlung nur die unmittelbare Arbeitsleistung im Bezugszeitraum abgegolten, die als Vergütungsbestandteil im jewieligen Bezugszeitraum verdient, angespart und erst später zum vereinbarten Fälligkeitstermin ausbezahlt wird. 30
Praxishinweis Bei Kleinstgratifikationen bis 100 € erfolgt keine zeitratierliche Aufteilung, die Zuordnung erfolgt ausnahmsweise zum maßgeblichen Stichtag (Fälligkeit).
Beispiele Ein Leistungsbonus wird für die Zielerreichung bestimmter Ziele innerhalb eines Zeitraums gewährt, auch wenn der Zielerreichungsgrad erst nach Ablauf des Geschäftsjahres ermittelt wird.13) Eine Gewinnbeteiligung wird, soweit eine konkrete zeitlich zuordenbare Leistung belohnt wird, auf den Zeitraum aufgeteilt, für den sie gezahlt wird.14) Ansprüche auf Sonderleistungen dagegen, welche sich keinem bestimmten Zeitabschnitt zuordnen lassen, sondern an einem Stichtag fällig werden, wie etwa Zahlungen anlässlich eines Firmenzugehörigkeitsjubiläums, entstehen erst mit Eintritt der jeweiligen Voraussetzungen.15) Gleiches gilt, wenn der Zweck der Einmalzahlung nur an den Bestand des Arbeitsverhältnisses anknüpft. Treue- oder Halteprämie, Weihnachtsgratifikation: Hier erfolgt eine Zuordnung zum maßgeblichen Stichtag.16) ___________ 12) 13) 14) 15)
BAG, Urt. v. 21.5.1980 – 5 AZR 337/78, ZIP 1980, 666 = NJW 1981, 77. BAG, Urt. v. 14.11.2012 – 10 AZR 793/11, FD-InsR 2013, 342747. BAG, Urt. v. 21.5.1980 – 5 AZR 337/78, ZIP 1980, 666 = NJW 1981, 77. BAG, Urt. v. 27.9.2007 – 6 AZR 982/06, NZA 2009, 89; LAG Düsseldorf, Urt. v. 1.9.2006 – 17 (14) Sa 436/06, FD-InsR 2007, 231816. 16) BAG, Urt. v. 14.11.2012 – 10 AZR 793/11, FD-InsR 2013, 342747.
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IV. Forderungen aus Arbeitsverhältnissen
Die insolvenzrechtliche Einordnung hat im jeweiligen Einzelfall nach der konkreten Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen zu erfolgen. Nur dann, wenn es sich bei der Sonderzuwendung um Arbeitsentgelt im weiteren Sinne handelt und der Anspruch auf die Sonderzahlung erst nach Verfahrenseröffnung entsteht, haftet die Insolvenzmasse für die gesamte Sonderzahlung.17) Ist der Anspruch bereits vor Verfahrenseröffnung entstanden, handelt es sich um eine Insolvenzforderung. Bei einer Gratifikation mit Mischcharakter handelt es sich um keine allein leistungsbezogene Sondergratifikation, so dass die Sonderzuwendung wie Arbeitsentgelt im weiteren Sinne zu behandeln ist. b)
Urlaubsentgelt und Urlaubsgeld Urlaubsabgeltung in der Insolvenz-Einordnung als Masseverbindlichkeit: BAG, Urt. v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, ZIP 2003, 1802 = NZA 2004, 43
Urlaubsentgelt und Urlaubsgeld sind dem Zeitraum zugeordnet, für den sie 31 bestimmt sind. Fallen die Urlaubstage in den Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, ist die dafür zu zahlende Vergütung eine Insolvenzforderung, soweit der Anspruch nicht durch das Insolvenzgeld abgesichert ist.18) Das Urlaubsentgelt ist wie Arbeitsentgelt zu behandeln, weil es sich dabei um 32 den fortbestehenden Anspruch auf Arbeitsvergütung bei Arbeitsbefreiung handelt.19) c)
Vergütung bei Altersteilzeit im Blockmodell Altersteilzeit in der Insolvenz: BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457 = NZA 2005, 408
Auch bei den Vergütungsansprüchen auf Grund einer vertraglichen Regelung 33 über Altersteilzeit ist die insolvenzrechtliche Einordnung als Insolvenzforderung oder Masseverbindlichkeit problematisch. Es geht dabei vor allem um die Einordnung der Entgeltansprüche von Altersteilzeitarbeitnehmern im Blockmodell, die sich bereits in der Freistellungsphase befinden.20) Geht man vom Erarbeitungsprinzip aus, kommt es in Bezug auf die Einordnung darauf an, wann sie „erdient“ worden sind. Das BAG hat entschieden, dass die Altersteilzeitarbeitnehmer in der Arbeits- 34 phase (= Aktivphase) die Hälfte ihres Arbeitsentgelts „stunden“, so dass das Wertguthaben, das sie in der Arbeitsphase vor der Insolvenzeröffnung ansammeln oder aufbauen, in der Insolvenz als rückständige Forderung und da___________ 17) 18) 19) 20)
LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 12.3.2008 – 6 Sa 411/07, NZA-RR 2008, 594. BAG, Urt. v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, ZIP 2003, 1802 = NZA 2004, 43. BAG, Urt. v. 15.2.2005 – 9 AZR 78/04, ZIP 2005, 1653 = NZA 2005, 1124. Dazu Seifert, DZWIR 2004, 103.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
mit als Insolvenzforderung zu behandeln sei. Nur das Wertguthaben, das sie nach der Insolvenzeröffnung aufbauen, wird – am Ende der Freistellungsphase (= Passivphase) – spiegelbildlich21) als Masseverbindlichkeit behandelt.22) Das BAG begründet seine Entscheidung mit § 108 Abs. 2 InsO und § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. d)
Teilvergütung und Schadensersatz bei fristloser Kündigung
35 Vom Arbeitsentgelt zu unterscheiden ist der Anspruch des Arbeitnehmers auf Teilvergütung und Schadensersatz bei einer fristlosen Kündigung. Hierbei handelt es sich nicht um einen Arbeitsentgeltanspruch, sondern um einen Ersatzanspruch wegen entgangenem Arbeitsentgelt. Dieser Ersatzanspruch ist auch dann Insolvenzforderung, wenn er sich auf Entgeltausfall für die Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bezieht.23) e)
Provisionen
36 Bei Provisionen der Firmenvertreter nach § 92a HGB und sonstiger Außendienstmitarbeiter ist auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Geschäfts abzustellen.24) Die Anwartschaft auf Provision ist entstanden, wenn der Auftrag erteilt und damit „hereingebracht“ ist, selbst wenn die Ausführung des Geschäfts erst nach dem Insolvenzereignis erfolgt oder wegen der Insolvenzeröffnung unterbleibt. 3.
Vergütungsansprüche bei Masseunzulänglichkeit Persönliche Haftung des Insolvenzverwalters; Beurteilungsspielraum: BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638 = BeckRS 2013, 66362
37 Masseunzulänglichkeit liegt vor, wenn die Masseverbindlichkeiten bei Fälligkeit nicht aus der Masse beglichen werden können. Es geht um die Fälle der Insolvenz in der Insolvenz. Um dies festzustellen, müssen die vorhandenen flüssigen Mittel den fälligen Verbindlichkeiten in einer Planrechnung gegenüber gestellt werden.25) Ergibt sich aus der Finanzplanung, dass die Masse nicht zur Erfüllung der Verbindlichkeit in der Lage ist, so liegt Masseunzulänglichkeit vor. Ist absehbar, dass mit der aktuellen Insolvenzmasse in Zukunft fällige Forderungen auf Dauer nicht mehr beglichen werden können, so handelt es sich um drohende Masseunzulänglichkeit. In beiden Fällen ist der Insolvenz___________ 21) 22) 23) 24) 25)
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„Spiegelbildlich“ ist i. S. von „zeitversetzt“ zu verstehen. BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457 = NZA 2005, 408. BAG, Urt. v. 22.10.1998 – 8 AZR 73/98, BeckRS 1998, 13940. BGH, Urt. v. 21.12.1989 – IX ZR 66/89, ZIP 1990, 318 = NJW 1990, 1665. Braun-Kießner, InsO, § 208 Rz. 5.
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IV. Forderungen aus Arbeitsverhältnissen
verwalter zur Anzeige gegenüber dem Insolvenzgericht verpflichtet, vgl. § 208 Abs. 1 InsO. Im Falle der Masseunzulänglichkeit bestimmt § 209 InsO die Rangordnung 38 der Masseverbindlichkeiten. Wird der Arbeitnehmer nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit zur Arbeitsleistung herangezogen, so sind seine ab diesem Zeitpunkt entstehenden Entgeltansprüche als Neumasseverbindlichkeiten im Rang § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO zu berücksichtigen. 39
Praxishinweis Im Arbeitsrecht gehören zu den Neumasseverbindlichkeiten z. B.: Nachteilsausgleichsansprüche nach § 113 BetrVG, wenn der Insolvenzverwalter keine ausreichenden Interessenausgleichsverhandlungen geführt hat. Forderungen „für“ die Zeit nach dem ersten Termin, zu dem der Insolvenzverwalter hätte kündigen können (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 InsO). Alle Forderungen, soweit der Verwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen hat (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 3 InsO).
Die vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit entstandenen und noch offenen An- 40 sprüche werden als Altmasseverbindlichkeiten quotal befriedigt (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Wegen einer offenen Altmasseverbindlichkeit kann wegen § 210 InsO nicht gegen die Insolvenzmasse vollstreckt werden. Auch im Falle der Masseunzulänglichkeit hat der Insolvenzverwalter noch offene 41 Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers nach Maßgabe des § 7 Abs. 1 BUrlG durch Freistellung von der Arbeitspflicht ohne jede Einschränkung zu erfüllen. Für den vom Insolvenzverwalter gewährten Urlaub gilt, dass der Anspruch auf Urlaubsentgelt im Falle der Masseunzulänglichkeit nur anteilig als Neumasseverbindlichkeit zu berücksichtigen ist. Zur Berechnung ist der in Geld ausgedrückte Jahresurlaub des Arbeitnehmers ins Verhältnis zu der Dauer der nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit erbrachten Arbeitsleistung zu setzen. Gleiches gilt für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung. 42
Praxishinweis Nach dem BAG gilt folgende Berechnungsformel: (UEG: 260) x Arbeitstage nach Anzeige der MUZ Bei einem in der Fünf-Tage-Woche beschäftigten Arbeitnehmer ist das für den gesamten Jahresurlaub zustehende Urlaubsentgelt durch 260 (= regelmäßig anfallende Arbeitstage) zu dividieren und mit den nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit geleisteten Arbeitstagen einschließlich entschuldigter Fehlzeiten zu multiplizieren.
Bei Masseunzulänglichkeit werden freigestellte Arbeitnehmer nachrangig be- 43 handelt (§ 209 InsO). Dann werden sowohl die Vergütungsansprüche freigestellter Arbeitnehmer wie auch die Erstattungsansprüche der Bundesagentur zu „drittrangigen“ (nachrangigen) Masseforderungen nach § 209 Abs. 1 Nr. 3
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
InsO abgestuft.26) Das Risiko in Bezug auf seine Entgeltansprüche kann der Arbeitnehmer im Falle einer Freistellung dadurch minimieren, dass er sich am Tag der Freistellung bei der Arbeitsagentur arbeitsuchend meldet und Arbeitslosengeld i. R. der Gleichwohlgewährung beantragt. 44
Praxishinweis Solange weder die Masseunzulänglichkeit noch die drohende Masseunzulänglichkeit angezeigt wurde, kann der Arbeitnehmer trotz Freistellung von seiner Arbeitsleistung und des Bezuges von Arbeitslosen- oder Krankengeld gegen den Insolvenzverwalter Zahlungsklage wegen seiner Auslauflöhne erheben.
45 Eine unterbliebene Freistellung oder eine weitere Betriebsfortführung können, wenn sie die Masse schmälern, zu einer Verletzung einer insolvenzrechtlichen Verpflichtung und damit zu einer Haftung des Insolvenzverwalters nach § 60 InsO führen. Ein dadurch verhinderter Erwerb von Arbeitslosengeld kann für den Arbeitnehmer ebenfalls einen Schadensersatzanspruch gemäß § 60 InsO begründen. Die weiter zu zahlenden Arbeitsentgelte bleiben bei der Schadensermittlung außen vor, weil sie ohnehin anfallen. Dem Verwalter ist jedoch in Bezug auf den Zeitpunkt einer Freistellung ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzustehen.27) 46 Unterlässt es der Insolvenzverwalter, die auf die Bundesagentur für Arbeit wegen Gleichwohlgewährung übergegangenen Forderungen ordnungsgemäß zu erfüllen und entstehen dadurch Arbeitnehmern finanzielle Schäden, weil sie kürzer Arbeitslosengeld beziehen können, so tritt keine Haftung nach § 60 InsO gegenüber den Arbeitnehmern ein, weil ihnen gegenüber keine insolvenzrechtliche Pflicht besteht.28) V.
Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
47 Das Insolvenzgeld sowie die Möglichkeit zu dessen sofortigen Vorfinanzierung stehen zur Schonung der Masse bereits im Insolvenzantragsverfahren zur Verfügung. Durch die zeitweise Absicherung ausstehender Löhne und Gehälter durch die Bundesagentur für Arbeit bleiben die Mitarbeiter in aller Regel zur Weiterarbeit motiviert. Sanierungsmöglichkeiten können entwickelt und umgesetzt werden. 48 Im eröffneten Verfahren stehen dem Insolvenzverwalter weitere Entlastungen zur Sanierung eines insolventen Unternehmens zu Verfügung: So erleichtert etwa § 113 InsO die Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, Arbeitnehmern unter „Zurückhaltung der Vergütung“ von der Arbeitsleistung freizustellen. § 120 InsO vereinfacht ferner die Kündi___________ 26) LAG Hamm, Urt. v. 6.9.2001 – 4 Sa 1276/01, BeckRS 2001, 30461582. 27) BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638 = BeckRS 2013, 66362. 28) LAG, Urt. v. 20.3.2008 – 8 Sa 761/07, BeckRS 2008, 54493.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
gung von „teuren“ Betriebsvereinbarungen. § 123 InsO begrenzt die finanziellen Belastungen aus Sozialplänen und der Pensionssicherungsverein (PSV) beteiligt sich an den Leistungen aus betrieblicher Altersvorsorge. Durch die Regelungen zum Interessenausgleich mit Namensliste (§§ 125 – 49 128 InsO) werden ferner Personalanpassungen bei Massenentlassungen und Betriebsänderungen vereinfacht und der Kündigungsschutz der Arbeitnehmer eingeschränkt. Dadurch wird die Sanierungsfähigkeit insolventer Unternehmen arbeitsrechtlich begünstigt und die Chance für eine übertragende Sanierung gesteigert. 1.
Insolvenzgeld
a)
Lohnersatz als Versicherungsleistung
Das Insolvenzgeld ist eine Lohnersatzleistung durch die Bundesagentur für 50 Arbeit.29) Es dient den Arbeitnehmern zur Absicherung ihrer Vergütungsansprüche bis zu drei Monate in der Insolvenz des Arbeitgebers. Insoweit besteht nach wie vor eine Besserstellung der Arbeitnehmerschaft gegenüber den übrigen Insolvenzgläubigern. b)
Anspruch
Nach § 165 Abs. 1 SGB III haben nur Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenz- 51 geld, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei einem Insolvenzereignis30) für die vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Nicht erforderlich ist, dass das Arbeitsverhältnis dem Insolvenzereignis unmittelbar vorausging.31) 52
Praxishinweis Es gelten die Abgrenzungsmerkmale, wie sie in den Vorschriften über die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung (vgl. §§ 25 ff. SGB III) verwendet werden. Versicherungspflichtig sind danach alle Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind. Beschäftigung ist dabei jede nicht selbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.
Zu den Arbeitnehmern i. S. des § 165 SGB III gehören auch Auszubildende 53 (§§ 14, 25 Abs. 1 SGB III), Heimarbeiter (§ 13 SGB III), Handelsvertreter (§ 84 ___________ 29) Die Bundesagentur für Arbeit hat ein Merkblatt zum Insolvenzgeld erstellt (Aktualisierung, Stand: 5/2013), welches unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/ HEGA-Internet/A07-Geldleistung/Publikation/HEGA-06-2013-Aktualisierung-DA-Insgund-DA-AtG-Anlage-1.pdf abrufbar ist (Abrufdatum: 25.7.2013). 30) Als Insolvenzereignis gelten: (1) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens; (2) die Abweisung des Antrags mangels Masse; (3) die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn kein Antrag gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt. 31) BSG, Urt. v. 23.10.1984 – 10 RAr 12/83, ZIP 1985, 109 = NJW 1985, 3040 (LS).
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
Abs. 2 HGB) und Handlungsgehilfen i. S. des § 59 HGB, die als Abhängige Geschäfte mit Anspruch auf Provision abschließen oder vermitteln (§ 65 HGB), nicht jedoch Hausgewerbetreibende, Zwischenmeister und die den Heimarbeitern gleichgestellten Personen (vgl. § 12 Abs. 1, 4 und 4 SGB III). 54
Praxishinweis Gesellschafter-Geschäftsführer oder mitarbeitende Gesellschafter einer GmbH haben nur dann einen Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis zur Gesellschaft stehen. Dies bestimmt sich nach dem Inhalt der jeweiligen Dienstverträge sowie nach den tatsächlichen Verhältnissen. Maßgebliche ist der Einfluss in der Regel bei einer Beteiligungsquote am Stammkapital von über 50 %. Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft haben eine unternehmerähnliche, unabhängige Stellung im Unternehmen und sind deshalb keine Arbeitnehmer i. S. des § 165 Abs. 1 SGB III.
55 In Altersteilzeit beschäftigte Arbeitnehmer haben bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ebenfalls Anspruch auf Insg. Dieser Anspruch ist auf den Aufstockungsbetrag des Arbeitgebers zum Teilzeitarbeitsentgelt begrenzt und erfasst nach § 175 SGB III n. F. die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für den Unterschiedsbetrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1b Altersteilzeitgesetz (AtzG). Im Rahmen sog. Blockmodelle (in der Regel mit verstetigtem Monatsentgelt) kann Insolvenzgeld nur insoweit beansprucht werden, als es sich um rückständige Arbeitsentgelt-/Beitragsansprüche „für“ den Ins-Zeitraum handelt. 56
Praxishinweis Bei Eintritt des Insolvenzereignisses kann sowohl in der Vollarbeits-/als auch in der Freistellungsphase Insolvenzgeld gleichermaßen nur für das Arbeitsentgelt beansprucht werden, das der Arbeitgeber für die Teilzeitarbeit schuldet (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 AtG).
57 Die Insolvenzgeld-Regelung sichert den Arbeitsentgeltanspruch des Arbeitnehmers für die letzten dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses. 58
Praxishinweis Zeiten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Erklärung gemäß § 12 KSchG zählen zum Drei-Monats-Zeitraum nicht mit. Der Tag des Insolvenzereignisses zählt ebenfalls nicht mit.
59 Die Bezahlung von Insolvenzgeld erfolgt durch die Agentur für Arbeit auf Grundlage einer Insolvenzgeldbescheinigung, die der Insolvenzverwalter zu erstellen hat. Dieser kann das Insolvenzgeld mit Zustimmung der Agentur für Arbeit über ein Kreditinstitut vorfinanzieren. Die Initiative zur Vorfinanzierung von Insolvenzgeld geht regelmäßig vom vorläufigen Insolvenzverwalter aus, weil er die Arbeitnehmer nur dann zur Weiterarbeit bewegen kann, wenn er die Ausbezahlung von Insolvenzgeld so schnell als möglich sicherstellt.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
c)
Antrag und Ausschlussfrist
Insolvenzgeld wird nur auf Antrag des Arbeitnehmers gewährt, § 323 SGB III. 60 Der Antrag ist fristgebunden und spätestens innerhalb von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu stellen, § 324 Abs. 3 SGB III. Die Frist ist europarechtlich nicht zu beanstanden.32) 61
Praxishinweis Die Frist ist eine Ausschlussfrist. Bei Versäumung der Frist erlischt der Anspruch auf Insolvenzgeld. Ein verspäteter Antrag kann nur in den sehr engen Grenzen des § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III Berücksichtigung finden.
Bei der Prüfung einer „Nachfrist“ nach § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III darf jedoch 62 die Effektivität des Insolvenzgeldanspruchs nicht gefährdet werden. Deshalb ist dem Arbeitnehmer zwar auch das Verschulden eines Vertreters oder Prozessbevollmächtigten33) zuzurechnen, aber nicht das Verhalten eines Dritten, der, wie ggf. der Insolvenzverwalter, lediglich gefälligkeitshalber die Übermittlung der Anträge übernommen hat.34) d)
Umfang und Höhe
Zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt gehören alle Ansprüche (Geld- und Na- 63 turalleistungen) mit Entgeltcharakter, z. B. Gehalt, Lohn (Zeit- oder Akkordlohn), Vergütung und Zuschläge für Mehrarbeit, Ruf- und Bereitschaftsdienste, Überstunden, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, Zulagen (Gefahren-, Wegeund Schmutzzulagen), Auslösungen, Kleidergelder, Kostgelder, vermögenswirksame Leistungen, Gewinnanteile (Tantiemen), Sachbezüge, Urlaubsentgelte, Urlaubsgelder, Jahressonderleistungen, Jubiläumszuwendungen, Zuschüsse zum Krankengeld, Zuschüsse zum Mutterschaftsgeld, Reisekosten und sonstige Spesen, die dem Arbeitnehmer in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Arbeitsleistung erstattet werden, Fahrgeldentschädigungen für Fahrten von der Wohnung zur Arbeitsstelle und Mankogelder. 64
Praxishinweis Auch Annahmeverzugsansprüche nach § 615 Satz 1 BGB sind Arbeitsentgelt.
Das Insolvenzgeld wird als Nettoleistung nach Abzug der hierauf entfallenden 65 individuellen Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge ausbezahlt. Die Sozialversicherungsbeiträge übernimmt die Agentur für Arbeit,35) ebenso auch Arbeitgeberzuschüsse zum Krankenversicherungsbeitrag nach § 257 SGB V. Das ___________ 32) 33) 34) 35)
BSG, Beschl. v. 17.10.2007 – B 11a AL 75/07, BeckRS 2007, 48606. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.3.2012 – L 18 AL 340/09, BeckRS 2012, 68780. LSG NRW, Urt. v. 12.1.2012 – L 16 AL 264/10, BeckRS 2012, 67340. Erfasst sind auch freiwillige Beiträge zur Sozialversicherung, nicht aber Leistungen in Umlageverfahren, wie die Sozialkasse im Baugewerbe, vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 8.12.2011 – L 2 AL 54/08, NZI 2012, 332.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
monatliche Bruttoarbeitsentgelt, das bei der Insolvenzgeldberechnung berücksichtigt werden kann, wird durch die Beitragsbemessungsgrenze der Arbeitslosenversicherung gedeckelt. Diese beträgt im Jahr 2013 5.800 € (alte Bundesländer) bzw. 4.900 € (neue Bundesländer). Sie gilt auch dann, wenn in einem Monat neben dem laufenden Arbeitsentgelt einmalig zu zahlendes Arbeitsentgelt zu berücksichtigen ist. 66 Entgeltansprüche oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze (sog. „Übergrenzer“) sind vom Insolvenzgeld nicht erfasst; eine Berücksichtigung erfolgt grundsätzlich nur als Insolvenzforderung, soweit mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter keine Regelung im jeweiligen Einzelfall gefunden wird. 67
Praxishinweis Die zeitliche Zuordnung zum Insolvenzgeldzeitraum erfolgt genauso wie nach der InsO, jedoch stellt das BSG im Unterschied zum BAG genauer nach dem Zweck der Leistung darauf ab, ob eine Zuordnung nach bestimmten Monaten erfolgt oder nicht.
68 Tariferhöhungen, die in Form einer Nachzahlung innerhalb des InsolvenzgeldZeitraums für frühere Lohnperioden gezahlt werden, sind nicht zu berücksichtigen.36) Bloße Verschiebungen der Fälligkeit von Arbeitnehmeransprüchen sind ebenfalls unbeachtlich.37) 69
Praxishinweis Bei tariflichen Sonderzahlungen kann der Auszahlungstag regemäßig durch eine Betriebsvereinbarung bestimmt werden. Wird jedoch durch Betriebsvereinbarung der Fälligkeitszeitpunkt einer Jahressonderzahlung in den Insolvenzgeld-Zeitraum vorverlegt, nachdem bereits die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens eingetreten war, so verstößt dies gegen die guten Sitten mit der Folge, dass allein der tarifvertraglich festgelegte Stichtag maßgebend bleibt. Liegt dieser außerhalb des Zeitraums, ist die tarifliche Sonderzahlung bei der Gewährung von Insolvenzgeld nicht zu berücksichtigen.
70 Der Arbeitnehmer hat nach § 166 Abs. 1 SGB III keinen Anspruch auf Insolvenzgeld für Ansprüche auf Arbeitsentgelt, die er wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder für die Zeit nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat (z. B. Abfindungsansprüche, Überbrückungsleistungen). Gleiches gilt für Ansprüche, die durch eine nach der InsO angefochtene Rechtshandlung oder eine Rechtshandlung erworben wurden, die im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens anfechtbar wären oder die der Insolvenzverwalter wegen eines Rechts zur Leistungsverweigerung nicht erfüllt. 71 Umstritten ist, ob der Anspruch auf Urlaubsabgeltung wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschuldet und daher vom Ausschluss des § 166 Abs. 1 Nr. 1 SGB III erfasst wird. Das BSG bejaht einen Ausschluss, weil es zwischen ___________ 36) Lakies, NZA 2000, 565. 37) BSG, Urt. v. 21.7.2005 – B 11a/11 AL 53/04 R, ZIP 2005, 1933 = NZA-RR 2006, 437.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und dem Anspruch einen ursächlichen Zusammenhang annimmt.38) 72
Praxishinweis Einem ausscheidenden Arbeitnehmer ist deshalb zu empfehlen, dass er seine Urlaubsansprüche noch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich realisiert.
e)
Gesetzlicher Anspruchsübergang
Die Ansprüche auf Arbeitsentgelt wegen Insolvenzgeld gehen bereits mit Antrag- 73 stellung auf die Bundesagentur für Arbeit über,39) sofern wenigstens die entfernte Möglichkeit besteht, dass ein Insolvenzgeldanspruch begründet sein kann. Erst mit Ablehnung des Insolvenzgeldantrages wird der Arbeitnehmer wieder Inhaber des Vergütungsanspruchs.40) 74
Praxishinweis Der Anspruchsübergang erfasst die gesamte Bruttovergütung; eventuelle steuerliche Nachteile verbleiben beim Arbeitnehmer.
2.
Beendigung von Arbeitsverhältnissen
Im eröffneten Insolvenzverfahren erlangt der Insolvenzverwalter das Verwal- 75 tungs- und Verfügungsrecht nach § 80 InsO kraft Gesetzes. Der Insolvenzverwalter übt die Arbeitgeberfunktion aus und ist zur Freistellung und zur Kündigung befugt. Erteilte Vollmachten erlöschen mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 117 InsO). a)
Freistellungsbefugnis
Durch die Freistellung wird das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Der Arbeit- 76 nehmer wird bei bestehendem Arbeitsvertrag von der Pflicht zur Arbeitsleistung entbunden und nach Hause geschickt. Im Gegenzug wird der Arbeitgeber von seiner Beschäftigungspflicht freigestellt, grundsätzlich aber nicht auch von seiner Pflicht, das Arbeitsentgelt zu zahlen. Die Vergütungsverpflichtung des Arbeitgebers entfällt nur bei einer besonderen gesetzlichen, vertraglichen oder kollektiv-rechtlichen Regelung. In aller Regel erfolgt eine Freistellung bei einer bevorstehenden oder erfolgten Kündigung. Zur Ausübung der Arbeitgeberfunktion durch den Insolvenzverwalter gehört auch das Direktionsrecht, welches die Befugnis zur Freistellung eines Arbeitnehmers grundsätzlich einschließt. Der allgemeine Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers tritt nur ___________ 38) BSG, v. 20.2.2002 – B 11 AL 71/01 R, NZA 2002, 786. 39) BAG, Urt. v. 10.2.1982 – 5 AZR 936/79, ZIP 1982, 1105 = NJW 1983, 592. 40) LAG Hamm, Urt. v. 17.2.2000 – 4 Sa 1137/99, NZA-RR 2001, 161.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
zurück, wenn ihm überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen.41) 77
Praxishinweis Die Freistellung von der Arbeitsleistung ist gegenüber dem Betriebsrat mitbestimmungsfrei; sie stellt insbesondere keine mitbestimmungspflichtige Versetzung gemäß § 99 Abs. 1 BetrVG dar, weil dem betroffenen Arbeitnehmer kein neuer Arbeitsbereich zugewiesen wird.
78 Ein besonderes im Insolvenzrecht wurzelndes Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters gibt es grundsätzlich nicht. Gesetzlich geregelt sind über §§ 55 Abs. 2, 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO lediglich die Folgen für die Vergütungsansprüche, je nachdem ob der Insolvenzverwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen oder aber den Arbeitnehmer von der Arbeitsleistung freigestellt hat. Daraus ergibt sich zunächst nur, dass der Gesetzgeber die Freistellungsmöglichkeit durch den Insolvenzverwalter voraussetzt. Bejaht werden kann ein insolvenzspezifisches Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters unter Umständen bei reduziertem Beschäftigungsbedarf sowie zur Schonung der Masse.42) Für die Kriterien des Freistellungsrechts muss deshalb mangels anderweitiger Regelungen auf die allgemeinen Voraussetzungen für die Ausübung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts, insbesondere die Grenzen billigen Ermessens gemäß § 315 Abs. 1 und 3 BGB, zurückgegriffen werden. aa)
Arten der Freistellung
79 Das BAG unterscheidet innerhalb der Freistellungen zwischen einer einseitigen Freistellungsanordnung und einer von den Parteien einvernehmlich getroffenen Freistellungsabrede43) sowie danach, ob sie widerruflich oder unwiderruflich erteilt wurde.44) 80
Praxishinweis Eine Freistellung ist nur unwiderruflich, wenn sie als solche unmissverständlich bezeichnet wird oder sich durch Auslegung der Erklärung ergibt, dass sie unwiderruflich gewollt ist. Das ist etwa der Fall, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer unter Anrechnung von Urlaubsansprüchen freistellt.
___________ 41) BAG, Großer Senat, Beschl. v. 27.2.1985 – GS 1/84, ZIP 1985, 1214 = NJW 1985, 2968. 42) LAG Hamm, Urt. v. 26.10.2005 – 2 Sa 1682/05, BeckRS 2009, 66269; LAG Hamm, Urt. v. 27.9.2000 – 2 Sa 1178/00, ZIP 2001, 435 = NZA-RR 2001, 654. 43) BAG, Urt. v. 19.3.2002 – 9 AZR 16/01, ZIP 2002, 2186 = NZA 2002, 1055; BAG, Urt. v. 22.11.2005 – 1 AZR 407/04, ZIP 2006, 1312 = NZA 2006, 736; BAG, Urt. v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, NZA 2007, 36; Bayreuther, ZIP 2008, 573. 44) BAG, Urt. v. 14.3.2006 – 9 AZR 11/05, AP BUrlG § 7 Nr. 32.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
bb)
Rechtsfolgen einer erklärten Freistellung
(1)
Arbeitspflicht und Vergütung
Hinsichtlich der Rechtsfolgen kommt es darauf an, ob es sich um eine einver- 81 nehmliche Freistellungsabrede oder um eine einseitige Freistellungsanordnung handelt: Im Falle einer einseitigen Freistellungsanordnung wird der Arbeitnehmer von 82 der Erbringung seiner Arbeitspflicht einseitig entbunden, weil ihn der Arbeitgeber nicht mehr beschäftigen will.45) Der Arbeitgeber kommt dadurch automatisch in Annahmeverzug gemäß § 615 83 BGB und behält seinen Vergütungsanspruch. Beruht die Freistellung auf einer einvernehmlichen Freistellungsvereinbarung, 84 bleibt der Arbeitgeber grundsätzlich ebenfalls zur Entgeltfortzahlung verpflichtet. Etwas anderes gilt nur dann, wenn durch die Vereinbarung neben der Arbeitspflicht auch die Entgeltzahlungspflicht zum Ruhen kommen sollte. 85
Praxishinweis Das BAG lehnt bei einer einvernehmlichen Freistellung die Anrechnung anderweitigen Verdienstes des Arbeitnehmers ab.46) Denn der Arbeitnehmer schuldet keine Dienste mehr, welche er anbieten könnte, so dass der Anwendungsbereich des § 615 BGB nicht eröffnet ist.
Rechtlich ist die einvernehmliche Freistellungsabrede hinsichtlich der Ansprü- 86 che des Arbeitgebers auf Arbeitsleistung und des Arbeitnehmers auf Beschäftigung entweder als Erlassvertrag i. S. von § 397 BGB oder als einvernehmliche Suspendierung auszulegen.47) Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer bei fehlender ausdrücklicher Regelung nicht auf seinen arbeitsvertraglichen Vergütungsanspruch verzichten will.48) Neben dem Lohnanspruch bestehen daher auch alle sonstigen Nebenleistungs-, Treue- und Sorgfaltspflichten fort. 87
Praxishinweis Die Entgeltansprüche im eröffneten Insolvenzverfahren bleiben auch im Falle der Freistellung Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 InsO).
(2)
Urlaubsansprüche
Der Insolvenzverwalter ist grundsätzlich berechtigt, den Arbeitnehmer unter 88 Anrechnung seines restlichen Erholungsurlaubs von der Arbeitsleistung freizu___________ 45) 46) 47) 48)
Kolvenbach/Glaser in: Münch-AHB ArbR, 2. Aufl., § 22 Rz. 258, 259. BAG, Urt. v. 23.1.2001 – 9 AZR 26/00, ZIP 2001, 897 = BB 2001, 1259. Bayreuther, ZIP 2008, 573. Blomeyer in: Münch-Hdb. ArbR, 2. Aufl., § 49 Rz. 23.
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stellen.49) Eine Anrechnung von Urlaub erfolgt jedoch nur dann, wenn dies im Freistellungsschreiben ausdrücklich erklärt wird und die Freistellung unwiderruflich erfolgt. Behält sich der Insolvenzverwalter den jederzeitigen Widerruf vor, kann der Arbeitnehmer seine Urlaubsansprüche nämlich nicht ohne weiteres planen und umsetzen.50) Die Freistellung unter Anrechnung von vergütungspflichtigen Urlaubsansprüchen setzt nicht voraus, dass der Arbeitgeber den Urlaubszeitraum konkret bezeichnet. 89
Praxishinweis Ist der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Freistellung erkrankt, scheidet für die Dauer der Erkrankung eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen aus.
90 Bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch offene Urlaubsansprüche sind Masseverbindlichkeiten. (3)
Anderweitiger Zwischenverdienst Das BAG hat seine Rechtsprechung zur Anrechnung von Zwischenverdienst erneut bestätigt: BAG, Urt. v. 17.10.12 10 – AZR 809/11, ZIP 2013, 950 = NZA 2013, 207
91 Eine Anrechnung eines anderweitigen Zwischenverdienstes kommt grundsätzlich nur bei einer einseitigen Freistellungsanordnung in Betracht.51) Folge des bei der einseitigen Freistellungsanordnung eintretenden Annahmeverzugs ist nämlich gemäß § 615 Satz 2 BGB die Anrechnung des Verdienstes, den der Arbeitnehmer in Folge des Unterbleibens der Arbeitsleistung erwirbt. 92 Bei einer einvernehmlichen Freistellungsabrede ist mangels Annahmeverzugs keine Anrechnung gemäß § 615 Satz 2 BGB möglich. Eine Anrechnung kann wegen der grundsätzlich fortbestehenden Vergütungspflicht nach § 611 BGB nur dann erfolgen, wenn die Parteien dies ausdrücklich vereinbart haben.52) (4)
Wettbewerbsverbot im Freistellungszeitraum Freistellung von der Arbeit: BAG, Urt. v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, NZA 2007, 36
93 Bei einer einseitigen Freistellung durch den Arbeitgeber kann der Arbeitnehmer regelmäßig davon ausgehen, dass er in der Verwertung seiner Arbeitsleistung frei und nicht an die vertraglichen Wettbewerbsverbote i. S. von § 60 HGB gebunden ist. Nach Ansicht des BAG enthält eine einseitige Freistellung, mit ___________ 49) 50) 51) 52)
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BAG, Vers.-Urt. v. 25.1.1994 – 9 AZR 312/92, NZA 1994, 652. BAG, Urt. v. 19.3.2002 – 9 AZR 16/01, ZIP 2002, 2186 = NZA 2002, 1055. BAG, Urt. v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, NZA 2007, 36. Klar, NZA 2004, 576, 579.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
der der Arbeitgeber Annahmeverzug herbeiführt, regelmäßig einen Verzicht auf das gesetzliche Wettbewerbsverbot, wenn sich der Arbeitgeber die Anrechnung anderweitigen Verdienstes nach § 615 Satz 2 BGB vorbehält.53) Bei einer einvernehmlichen Freistellungsabrede gilt demgegenüber grund- 94 sätzlich das Wettbewerbsverbot des § 60 HGB. Es findet jedoch keine Anwendung, soweit eine Freistellungsabrede unter dem Vorbehalt der Anrechnung eines anderweitigen Verdienstes erfolgt.54) Erzielt der freigestellte Arbeitnehmer anderweitigen Verdienst unter Verstoß gegen dieses Wettbewerbsverbot, bedarf es auch für dessen Anrechnung einer entsprechenden vertraglichen Regelung. Ansonsten findet – wie auch sonst bei vereinbarten Freistellungen – keine Anrechnung statt.55) (5)
Gleichwohlgewährung
Stellt der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer von der Verpflichtung zur Ar- 95 beitsleistung frei und gewährt er während der Freistellungsphase bestehende und noch entstehende Urlaubsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, bleibt der Entgeltanspruch gegen die Insolvenzmasse unberührt. Der Arbeitnehmer erwirbt mit der Freistellung einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG 1) i. R. der sog. Gleichwohlgewährung nach § 157 Abs. 3 Satz 1 SGB III. Nach § 157 Abs. 3 Satz 1 SGB III wird Arbeitslosengeld für die Zeit geleistet, 96 in der der Arbeitslose einen rechtlichen Anspruch auf Arbeitsentgelt oder Urlaubsabgeltung hat, dieser aber tatsächlich nicht erfüllt wird. Vom Anwendungsbereich dieser Regelung sind sowohl Sachverhalte erfasst, in denen Unklarheit über die Fortdauer des Arbeitsverhältnisses (z. B. im Kündigungsschutzprozess) und infolgedessen über den Anspruch auf Arbeitsentgelt besteht, als auch solche, in denen der zur Arbeitsentgeltzahlung verpflichtete Arbeitgeber bzw. Insolvenzverwalter aus Gründen der Zahlungsunfähigkeit für Zeiten nach einem Insolvenzereignis kein Arbeitsentgelt zahlt. Erkrankt der Arbeitnehmer im Freistellungszeitraum, so steht er für die 97 Dauer seiner Erkrankung der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung und erhält kein Arbeitslosengeld. In diesem Falle hat die zuständige Krankenkasse an den Arbeitnehmer Krankengeld zu bezahlen. Während des Entgeltfortzahlungszeitraumes von § 3 Abs. 1 EFZG ruht der Anspruch auf Krankengeldbezug, sofern der Arbeitnehmer vom Insolvenzverwalter das Arbeitsentgelt, also die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, erhält (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Hieraus ergibt sich, dass der Arbeitnehmer für den Zeitraum, in dem der Insolvenzverwalter die Lohnfortzahlungspflicht nicht erfüllt, seinen Krankengeldanspruch behält. ___________ 53) BAG, Urt. v. 6.9.2006 – 5 AZR 703/05, NZA 2007, 36. 54) Küttner-Kreitner, Personalbuch 2013, S. 1311 Rz. 26. 55) BAG, Urt. v. 17.10.2012 – 10 AZR 809/11, ZIP 2013, 950 = NZA 2013, 207.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
98 Die Entgeltansprüche des Arbeitnehmers gehen i. H. der Krankengeldleistungen auf die Krankenkasse über (§ 115 Abs. 1 SGB X). Im Übrigen geht der Anspruch des Arbeitnehmers auf sein Arbeitsentgelt auf die Bundesagentur für Arbeit über (§ 115 SGB X), wobei sich dieser Forderungsübergang nicht nur auf das Arbeitslosengeld erstreckt, sondern auch Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge erfasst. Die auf die Bundesagentur bzw. die Krankenkasse übergeleiteten Ansprüche haben denselben Rang wie die beim Arbeitnehmer verbliebenen Entgeltdifferenzansprüche.56) 99
Praxishinweis Die Bundesagentur bzw. die Krankenkasse rechnet dann im Nachgang ihre Leistungen aus gewährtem Arbeitslosengeld/Krankengeld mit dem Insolvenzverwalter ab und macht gegenüber der Masse (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO) ihren jeweiligen Erstattungsanspruch geltend. Die Differenz zwischen Arbeitslosengeld/Krankengeld und vollem Arbeitsentgelt kann der Arbeitnehmer gegenüber dem Insolvenzverwalter als Masseschuld nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO geltend machen.
b)
Kündigungsbefugnis
100 Die Kündigungsbefugnis des Insolvenzverwalters ergibt sich aus § 80 InsO kraft Gesetzes. Die Verwaltung- und Verfügungsbefugnis des Schuldners wird entzogen. 101
Praxishinweis Bei Kapitalgesellschaften endet auch bei fortbestehendem Dienstvertrag (§ 108 Abs. 1 Satz 1 InsO) die rechtsgeschäftliche Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers, so dass seine Kündigungsbefugnis entfällt.
aa)
Lösungsklausel
102 Eine Lösungsklausel im Arbeitsvertrag, welche im Insolvenzfall für den Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung oder die automatische Vertragsbeendigung bestimmt, ist nach § 119 InsO unwirksam. 103 Der Insolvenzverwalter hat kein Wahlrecht nach § 103 InsO, ob er in bestehende Dienstverträge eintritt. Anstelle des Wahlrechts tritt die Kündigungsbefugnis nach § 113 InsO. 104
Praxishinweis Der Insolvenzverwalter muss die Kündigungserklärungen nicht persönlich abgeben, vielmehr kann er generell oder im Einzelfall einen Dritten bevollmächtigen.
___________ 56) BAG, Urt. v. 16.10.1985 – 5 AZR 203/84, ZIP 1986, 242 = NJW 1986, 1632.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
bb)
Vertretung und Vollmacht
Der Insolvenzverwalter selbst ist „Partei kraft Amtes“ und benötigt keine Voll- 105 macht für eigene Handlungen, die Wirkung für und gegen die Masse entfalten.57) Er ist jedoch nicht verpflichtet, Kündigungen höchstpersönlich zu erklären sondern kann sich nach allgemeinen Regeln vertreten lassen. Nach § 167 BGB kann er einen Dritten mit der Abgabe der Kündigungserklärung generell oder im Einzelfall bevollmächtigen.58) 106
Praxishinweis Nach § 174 BGB kann der gekündigte Arbeitnehmer die Kündigung grundsätzlich zurückweisen, wenn dem Kündigungsschreiben (§ 623 BGB, Schriftform der Kündigung) keine Vollmachtsurkunde im Original vorgelegt wird.59)
Lässt der Arbeitnehmer die Kündigungserklärung mangels Vollmachtvorlage 107 durch einen Bevollmächtigten zurückweisen, so hat der Bevollmächtigte seinerseits eine entsprechende Vollmachtsurkunde im Original mit Abgabe der Zurückweisungserklärung vorzulegen, um zu vermeiden, dass nun seine Erklärung gemäß § 174 Satz 1 BGB zurückgewiesen wird. 108
Praxishinweis Die Zurückweisung der Kündigungserklärung hat unverzüglich i. S. des § 121 BGB zu erfolgen. Auch bei der Einholung von Rechtsrat durch den Arbeitnehmer ist die Zurückweisung nach Ablauf von drei Wochen jedenfalls nicht mehr unverzüglich.60)
Wird die Vollmachtsurkunde erst nach der Zurückweisung der Kündigungser- 109 klärung vorgelegt, wird die Kündigungserklärung nicht geheilt. Eine Genehmigung durch den Vertretenen ist nach § 177 BGB nicht möglich, so dass die Kündigungserklärung erneut vorgenommen werden muss. Die erteilte Prozessvollmacht deckt weitere, in einem Kündigungsstreit ausge- 110 sprochene Kündigungen durch den Prozessbevollmächtigten nicht, da die erneute Kündigung nicht Gegenstand des Kündigungsrechtsstreites ist.61) Auch in diesem Falle ist die Prozesskündigungserklärung unverzüglich zurückzuweisen (§ 174 Satz 1 i. V. m. § 121 Abs. 1 BGB). 111
Praxishinweis Führt der Insolvenzverwalter den Betrieb längere Zeit fort und beschäftigt den bisherigen Personalleiter in gleicher Funktion weiter, so ist bei einer Kündigung
___________ 57) 58) 59) 60) 61)
BAG, Urt. v. 17.1.2002 – 2 AZR 57/01, ZIP 2002, 1412. BAG, Urt. v. 21.7.1988 – 2 AZR 75/88, NZA 1989, 264. BAG, Urt. v. 11.7.1991 – 2 AZR 107/91, ZIP 1992, 497. BAG, Urt. v. 11.3.1999 – 2 AZR 427/98, NZA 1999, 818. Müller-Glöge in: ErfK, § 620 BGB Rz. 179.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick durch den Personalleiter die Vorlage einer Vollmachtsurkunde nicht erforderlich.62)
112 Ansonsten bedarf es in der Regel einer hinreichenden Bekanntmachung der Bevollmächtigung. Der allgemeine Hinweis auf einen – zeitlich befristeten – Aushang am Schwarzen Brett reicht hierfür allein grundsätzlich nicht aus.63) 113 Eine Vollmachtsurkunde muss grundsätzlich auch vorgelegt werden, wenn sich der Insolvenzverwalter von einem Kanzleisozius vertreten lässt.64) 114 Typischerweise handelt es sich bei einer Kündigung im Insolvenzverfahren um eine betriebsbedingte Kündigung wegen Wegfall des Arbeitsplatzes. c)
Kündigungsfristen Verdrängung einer längeren tarifvertraglichen Kündigungsfrist; Art. 9 Abs. 3 GG, abstrakte Abwägung zwischen Belangen der Arbeitnehmer und der sonstigen Insolvenzgläubiger: BAG, Urt. v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, ZIP 1999, 1933 = NZA 1999, 1331 Insolvenzkündigung und Standortsicherungsvereinbarung – Sozialauswahl: BAG, Urt. v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, ZIP 2006, 774 = NZA 2006, 661
115 Nach § 113 Satz 1 InsO kann jedes Dienstverhältnis, bei dem der Insolvenzschuldner der Dienstberechtigte ist, sowohl vom Insolvenzverwalter als auch vom Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden. Die Regelung ist nur auf Kündigungen durch den Insolvenzverwalter, also nach Eröffnung anwendbar. Sie gilt nicht für den – auch „starken“ – vorläufigen Insolvenzverwalter.65) Sie gilt auch für Arbeitsverhältnisse, die nach der Eröffnung durch den Verwalter für die Masse begründet wurden (str.).66) 116
Praxishinweis Die Vorschrift erfasst auch befristete Dienstverhältnisse, wenn eine Kündigungsmöglichkeit nicht vereinbart wurde.
117 Falls das (befristete oder unbefristete) Arbeitsverhältnis noch nicht angetreten und die Kündigungsmöglichkeit vor Arbeitsaufnahme ausgeschlossen ist, so muss der Insolvenzverwalter mit der Kündigung warten, bis der Arbeitnehmer seine Arbeitsstelle zum vereinbarten Termin antritt. ___________ 62) 63) 64) 65) 66)
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BAG, Urt. v. 22.1.1998 – 2 AZR 267/97, ZIP 1998, 748 = NZA 1998, 699. BAG, Urt. v. 3.7.2003 – 2 AZR 235/02, NZA 2004, 427. BAG, Urt. v. 18.4.2002 – 8 AZR 346/01, ZIP 2002, 2003 = NZA 2002, 1207. BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352. LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.7.2007 – 23 Sa 450/07, ZIP 2007, 2002 = BeckRS 2007, 48559.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
Die maximale Kündigungsfrist beträgt im eröffneten Insolvenzverfahren drei 118 Monate zum Monatsende (§ 113 Satz 2 InsO) und gilt für beide Parteien des Arbeitsvertrages. Die Insolvenzsituation macht die Einhaltung der Kündigungsfrist nicht unzumutbar.67) Umgekehrt kommt eine Verlängerung der Mindestfrist aus persönlichen Gründen nicht in Betracht.68) Bei einer Kündigung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den Schuld- 119 ner oder durch den („starken“) vorläufigen Insolvenzverwalter findet die Höchstfrist des § 113 Satz 2 InsO keine Anwendung. 120
Praxishinweis Nach Verfahrenseröffnung hat der Insolvenzverwalter zu prüfen, ob er unter Ausnutzung der Höchstfrist des § 113 Satz 2 InsO die gekündigten Arbeitsverhältnisse eventuell auch zu einem früheren Kündigungstermin beendigen kann. Ist dies der Fall, ist der Insolvenzverwalter im Interesse der Insolvenzmasse zur Nachkündigung verpflichtet.69)
Durch § 113 Satz 2 InsO wird kein besonderer Kündigungsgrund geschaffen. 121 Es werden lediglich die Kündigungsfristen nach §§ 621, 622 Abs. 2 BGB im Interesse eines beschleunigten Personalabbaus im eröffneten Insolvenzverfahren verkürzt.70) Deshalb kann auch während einer vereinbarten Probezeit (§ 622 Abs. 3 BGB) das Arbeitsverhältnis mit der gesetzlichen Frist von zwei Wochen gekündigt werden, nicht nur zum Monatsende. Die Frist des § 113 Satz 2 InsO stellt also keine Regel-, sondern eine Höchstfrist dar.71) 122
Praxishinweis Sofern einzelarbeitsvertraglich, tarifvertraglich oder gesetzlich (§§ 621 Nr. 1 bis 3, 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 BGB) eine kürzere Frist als drei Monate zum Monatsende maßgeblich ist, so verbleibt es bei der kürzeren Frist.72)
Die Verdrängung von tarifvertraglichen Kündigungsfristen durch § 113 Satz 2 123 InsO ist verfassungskonform und stellt keinen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) dar.73) Auch eine Standortsicherungsvereinbarung mit dem Verbot betriebsbedingter Kündigungen steht der Kündigungsmöglichkeit nach § 113 Satz 2 InsO nicht entgegen.74)
___________ 67) 68) 69) 70) 71) 72) 73) 74)
BAG, Urt. v. 30.9.2004 – 8 AZR 462/03, ZIP 2005, 132 = NZA 2005, 43. LAG Nürnberg, Urt. v. 11.1.2012 – 4 Sa 627/11, BeckRS 2012, 70164. BAG, Urt. v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, ZIP 2008, 428 = NZA 2008, 112. BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, ZIP 2003, 1169 = NZA 2003, 789. BAG, Urt. v. 6.7.2000 – 2 AZR 695/99, ZIP 2000, 1941 = NZA 2001, 23. BAG, Urt. v. 3.12.1998 – 2 AZR 425/98, ZIP 1999, 370 = NJW 1999, 1571. BAG, Urt. v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, ZIP 1999, 1933 = NZA 1999, 1331. BAG, Urt. v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, ZIP 2006, 774 = NZA 2006, 661.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
124 Auch die regelmäßig im Geschäftsführeranstellungsvertrag vereinbarten langen Kündigungsfristen werden im eröffneten Insolvenzverfahren auf drei Monate zum Monatsende (§ 113 Satz 2 InsO) abgekürzt. 125
Praxishinweis Der Geschäftsführer einer GmbH ist nur dann nach § 621 BGB zu kündigen, wenn er einen beherrschenden Einfluss auf die Gesellschaft besitzt. Im Übrigen bemisst sich die gesetzliche Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 Satz 1 BGB.75)
126 § 113 InsO eröffnet auch die Möglichkeit zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen, bei denen die ordentliche Kündigung durch Vertrag oder Tarifvertrag ausgeschlossen ist. Gesetzliche Kündigungsbeschränkungen (z. B. § 15 KSchG) bleiben unberührt. Das bei der Abspaltung geltende Verschlechterungsverbot nach § 323 UmwG von zwei Jahren steht § 113 InsO nicht entgegen. d)
Verfrühungsschaden
127 Kündigt der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach § 113 Satz 1 InsO, so steht dem Arbeitnehmer wegen der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 113 Satz 3 InsO ein verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch als Insolvenzgläubiger zu. Der Schaden ist die entgangene Kündigungsfrist. Voraussetzung für die Geltendmachung dieses sog. Verfrühungsschadens ist, dass das Arbeitsverhältnis durch Kündigung des Insolvenzverwalters früher endet als ohne den Insolvenzfall. Kündigt der Arbeitnehmer selbst, steht ihm ein Schadensersatzanspruch nach § 113 Satz 3 InsO nicht zu. Der Abschluss eines Aufhebungsvertrags zwischen Arbeitnehmer und Insolvenzverwalter begründet ebenfalls keinen Anspruch nach § 113 Satz 3 InsO (analog).76) 128
Praxishinweis Scheidet der Arbeitnehmer durch einen „Drei-Parteien-Aufhebungsvertrag“ bei gleichzeitigem Wechsel in eine Transfergesellschaft aus, so entsteht ihm kein Verfrühungsschaden.
129 Der Schadensersatz umfasst die dem Arbeitnehmer entgangene Vergütung, Provisionsverluste wie auch Einbußen im Hinblick auf die betriebliche Altersvorsorge.77) 130 Ist die ordentliche Kündigung vertraglich ausgeschlossen, ist der nach § 113 Satz 3 InsO zu ersetzende Verfrühungsschaden ausschließlich auf die ohne die vereinbarte Unkündbarkeit maßgebliche längste ordentliche Kündigungsfrist
___________ 75) BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 120/83, ZIP 1984, 1088 = NJW 1984, 2528. 76) BAG, Urt. v. 25.4.2007 – 6 AZR 622/06, ZIP 2007, 1875 = NZA 2008, 1135. 77) Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 55 Rz. 183.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
beschränkt;78) die für § 628 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätze gelten in diesem Fall nicht.79) 131
Praxishinweis Nach den für § 628 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätzen wäre neben der entgangenen ordentlichen Kündigungsfrist auch ein „Bestandsschutzwert“, der sich nach § 10 KSchG orientiert, zu ersetzen gewesen.80)
Nach § 87 Abs. 3 AktG ist der Schadensersatzanspruch bei Vorstandsmitglie- 132 dern einer Aktiengesellschaft begrenzt auf zwei Jahre nach Ablauf des Dienstverhältnisses. Der Insolvenzverwalter kann gegenüber einem Schadensersatzanspruch mit Gegenansprüchen der Gesellschaft, z. B. aus Pflichtverletzungen des Vorstands, aufrechnen. e)
Unwirksamkeit abweichender Vereinbarungen 1. Ein tariflicher Kündigungsschutz für ältere, langjährig beschäftigte Arbeitnehmer – Ausschluss der ordentlichen Kündigung – wird bei einer Kündigung durch den Konkurs-/Insolvenzverwalter durch die in § 113 Abs. 1 Satz 2 InsO vorgegebene Höchstfrist von drei Monaten zum Monatsende verdrängt. 2. Diese Regelung verstößt nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG. BAG, Urt. v. 19.1.2000 – 4 AZR 70/99, ZIP 2000, 985 = NZA 2000, 658
§ 113 Abs. 1 Satz 2 InsO unterliegt nicht der Dispositionsbefugnis. Nach 133 § 119 InsO sind alle Vereinbarungen, durch die im Voraus die Anwendung der §§ 103 bis 118 InsO ausgeschlossen oder beschränkt werden, unwirksam. Dies gilt auch dann, wenn eine ebensolche Vereinbarungen zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat in einem Interessenausgleich zur Verlängerung der Höchstfrist des § 113 Satz 2 InsO getroffen wurde.81) Tarifvertragliche Regelungen, wonach bei Vorliegen einer bestimmten Alters- 134 grenze die betriebsbedingte Kündigung ausgeschlossen oder nur gegen Zahlung einer bestimmten Abfindungssumme zulässig ist, stellen in der Insolvenz unzulässige Kündigungserschwerungen dar und sind unanwendbar. Bestimmt der Tarifvertrag hingegen, dass betriebsbedingte Kündigungen der 135 Zustimmung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 6 BetrVG) bedürfen, so ist diese Kündigungserschwernis jedenfalls bei einer vollständigen Betriebsstilllegung im eröffneten Insolvenzverfahren unbeachtlich.82) Bei einer reinen Personalanpassung nach Verfahrenseröffnung dürfte eine solche tarifvertragliche Rege___________ 78) 79) 80) 81) 82)
Vossen in: Münch-AHB ArbR, 2. Aufl., § 40 Rz. 21 (e). BAG, Urt. v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829 = BeckRS 2007, 46523. BAG, Urt. v. 26.7.2001 – 8 AZR 739/00, NJW 2002, 1593. BAG, Urt. v. 19.1.2000 – 4 AZR 910/98, KTS 2001, 186. BAG, Urt. v. 19.1.2000 – 4 AZR 910/98, KTS 2001, 186.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
lung zulässig sein, so dass der Betriebsrat nicht nur nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG anzuhören ist, sondern der Kündigung ausdrücklich zustimmen muss. 136
Praxishinweis Verweigert der Betriebsrat die Zustimmung zur Kündigung gemäß § 102 Abs. 6 BetrVG), ist der Insolvenzverwalter gezwungen, die Einigungsstelle anzurufen.
3.
Interessenausgleich und Sozialplan
a)
Interessenausgleich Keine Durchsetzung des Interessenausgleichs durch einstweilige Verfügung: BAG, Beschl. v. 28.8.1991 – 7 ABR 72/90, ZIP 1992, 950
137 Der Interessenausgleich ist die schriftliche Vereinbarung (§ 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG) zwischen Arbeitgeber/Insolvenzverwalter und Betriebsrat über die Umsetzung der beabsichtigten Betriebsänderung. Gegenstand der Beratung ist das Ob, Wann und Wie der Betriebsänderung.83) Ein nur mündlich geschlossener Interessenausgleich ist unwirksam. Der Inhalt des Interessenausgleichs umschreibt die unternehmerische Maßnahme, den Kreis der betroffenen Arbeitnehmer und die Art, in der sie betroffen sind, ob sie also z. B. entlassen, freigestellt, versetzt, qualifiziert oder umgeschult werden sollen.84) 138
Praxishinweis Im Interessenausgleich können auch Auswahlrichtlinien i. S. des § 95 BetrVG für anstehende Kündigungen oder Versetzungen aufgestellt werden.
139 Besteht der Interessenausgleich aus mehreren Seiten, die z. B. mittels Heftmaschine verbunden sind, genügt die Unterschrift auf nur einem Blatt.85) Nimmt der Interessenausgleich auf eine als Anlage beigefügte Liste Bezug, auf der die zu entlassenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnet sind (sog. Kündigungsnamensliste, § 125 InsO), genügt es, wenn die nicht unterzeichnete Namensliste mittels Heftklammer fest mit dem unterschriebenen Interessenausgleich verbunden ist.86) Dies muss aber schon zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Fall sein.87) Eine spätere Verbindung durch den Arbeitgeber reicht nicht aus.88) Anderenfalls genügt es, wenn die Betriebsparteien im Interessenausgleich auf
___________ 83) 84) 85) 86) 87) 88)
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BAG, Urt. v. 19.1.1999 – 1 AZR 342/98, ZIP 1999, 1411. BAG, Beschl. v. 17.9.1991 – 1 ABR 23/91, ZIP 1992, 261 = NZA 1992, 227. BAG, Urt. v. 20.5.1999 – 2 AZR 278/98, BeckRS 2010, 73037. BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, ZIP 1998, 1885 = NZA 1998, 1110. BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, ZIP 2013, 234 = NZA 2013, 86. BAG, Urt. v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, ZIP 2007, 2136 = NZA 2008, 72.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
eine Liste verwiesen haben, diese Liste selbst zeitnah89) unterschrieben wird und zusätzlich sämtliche Einzelseiten paraphiert sind.90) 140
Praxishinweis Es empfiehlt sich, die Kündigungsnamensliste sowie alle weiteren Anlagen ebenfalls zu unterschreiben und dem Interessenausgleich (mindestens zwei Ausfertigungen) im Wege einer zusammengesetzten Urkunde mittels Heftmaschine beizufügen. Eine weitere (dritte) Ausfertigung des Interessenausgleichs wird mit sämtlichen Anlagen ebenfalls unterschrieben, aber nicht geheftet, so dass hiervon Abschriften hergestellt werden können.
Die gemeinsame Unterschrift auf einer Massenentlassungsanzeige nach § 17 141 Abs. 3 KSchG stellt ebenso wenig einen wirksamen Interessenausgleich dar wie ein gemeinsam von Arbeitgeber und Betriebsrat unterschriebenes Protokoll über den Verhandlungsverlauf oder ein gemeinsam unterschriebenes Rundschreiben. Wird der Interessenausgleich vor der Einigungsstelle geschlossen, bedarf es der Unterschrift dessen Vorsitzenden (§ 112 Abs. 3 Satz 3 BetrVG). Der zustande gekommene Interessenausgleich ist für den Insolvenzverwalter 142 nicht bindend. Der Betriebsrat kann nicht die Einhaltung des Interessenausgleichs erzwingen.91) Weicht jedoch der Insolvenzverwalter ohne zwingenden Grund von einem Interessenausgleich ab oder versucht er erst gar nicht dessen Abschluss, so macht er sich gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern nach § 113 BetrVG i. V. m. § 10 KSchG nachteilsausgleichpflichtig. Zur Vermeidung von Nachteilsausgleichsansprüchen gilt der Abschluss eines Interessenausgleichs dann als versucht, wenn deren Zustandekommen sowohl im Verhandlungswege mit dem Betriebsrat also auch vor der Einigungsstelle scheitert. 143
Praxishinweis Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG ist nur dann eine Masseschuld nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO, wenn die Betriebsänderung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschlossen und durchgeführt wird.92) Der Nachteilsausgleichsanspruch steht neben einem Anspruch aus einem abzuschließenden Sozialplan.93) Es können Anrechnungsklauseln vereinbart werden können.
Dem Insolvenzverwalter steht es frei zu entscheiden, wann er einen Interessen- 144 ausgleich in freien Verhandlungen nicht mehr für erreichbar hält, sofern ernst___________ 89) Sechs Wochen sollen nach dem BAG noch zeitnah sein, vgl. BAG, Urt. v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, NZA 2006, 64 (LS) sowie BAG, Urt. v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151. 90) BAG, Urt. v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, ZIP 2007, 2136 = NZA 2008, 72. 91) BAG, Beschl. v. 28.8.1991 – 7 ABR 72/90, ZIP 1992, 950. 92) BAG, Urt. v. 3.4.1999 – 1 AZR 150/89, ZIP 1990, 873 = NZA 1990, 619. 93) BAG, Urt. v. 13.6.1989 – 1 AZR 819/87, ZIP 1989, 1205.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
hafte Verhandlungen mit dem Betriebsrat stattgefunden haben.94) Bei der Bildung der Einigungsstelle gilt § 76 BetrVG. Die Einigungsstelle hat eine Einigung zwischen den Parteien zu versuchen und hierzu auch Vorschläge zu unterbreiten. Eine verbindliche Entscheidung gegen den Willen von Insolvenzverwalter und Betriebsrat kann die Einigungsstelle nicht treffen, weil der Interessenausgleich nicht der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegt. Kommt eine Einigung vor der Einigungsstelle nicht zustande, wird dort das Scheitern festgestellt und das Verfahren eingestellt. Der Insolvenzverwalter kann sodann die Betriebsänderung durch Ausspruch der erforderlichen Kündigungen umsetzen, ohne die Insolvenzmasse mit Nachteilsausgleichsansprüchen zu belasten. 145
Praxishinweis Anstelle eines Einigungsstellenverfahrens kann der Insolvenzverwalter auch die gerichtliche Zustimmung zur Durchführung der geplanten Betriebsänderung nach § 122 InsO beantragen.
b)
Betriebsänderung
146 Plant der Insolvenzverwalter eine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung in einem Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge hat, muss er den zuständigen Betriebsrat ebenso wie nach § 111 Abs. 1 BetrVG rechtzeitig und umfassend hierüber unterrichten und mit diesem in Beratungen über einen Interessenausgleich eintreten.95) Der Insolvenzverwalter ist selbst dann zum Interessenausgleich verpflichtet, wenn die geplante Betriebsänderung eine zwangsläufige Folge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist.96) 147
Praxishinweis Gemäß § 111 Abs. 2 BetrVG gelten als Betriebsänderung auch die Einschränkung und Stilllegung des gesamten Betriebs oder wesentlicher Betriebsteile.
148 Eine Betriebsänderung in Form der Einschränkung des Betriebs liegt vor, wenn seine Leistungsfähigkeit durch eine Verringerung der Betriebsmittel auf Dauer herabgesetzt wird. Dies kann kann auch im bloßen Personalabbau unter Beibehaltung der sächlichen Mittel liegen.97) 149
Praxishinweis Als Richtgröße dafür, wann erhebliche Teile der Belegschaft betroffen sind, sind die Zahlen und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG über die Anzeigepflicht
___________ 94) 95) 96) 97)
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LAG Frankfurt/M., Beschl. v. 12.11.1991 – 4 TaBV 148/91, NZA 1992, 853. LAG Hamm, Beschl. v. 1.3.1972 – 8 BV Ta 1/72, DB 172, 632. BAG, Urt. v. 17.9.1974 – 1 AZR 16/74, NJW 1975, 182. BAG, Urt. v. 10.12.1996 – 1 AZR 290/96, ZIP 1997, 1471 = NZA 1997, 787.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall bei Massenentlassungen heranzuziehen, wobei aber in größeren Betrieben mindestens 5 % der Belegschaft betroffen sein müssen.98) Maßgeblich ist die Zahl der im Betrieb in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Entlassung. Im Insolvenzverfahren ist rückblickend auf die bisherige, normale Belegschaftsstärke abzustellen.99)
Gemäß § 50 BetrVG kann anstelle des örtlichen Betriebsrats der Gesamtbe- 150 triebsrat zuständig sein.100) Dies ist dann der Fall, wenn nach den Planungen des Arbeitgebers101) der Personalabbau auf Grundlage eines unternehmenseinheitlichen Konzeptes durchgeführt wird, mehrere Betriebe vom Personalabbau betroffen sind und das „Verteilungsproblem“ nur betriebsübergreifend gelöst werden kann.102) Der Gesamtbetriebsrat, nicht der jeweilige örtliche Betriebsrat, bleibt dann auch zuständig für den Abschluss einer betriebsübergreifenden Namensliste nach § 125 InsO. Unschädlich ist es, wenn nach dem Abschluss des Interessenausgleichs durch den Gesamtbetriebsrat sich auch die örtlichen Betriebsräte das Ergebnis zu Eigen machen und den Interessenausgleich mitunterzeichnen.103) Die Unterrichtung des Betriebsrates hat so rechtzeitig zu erfolgen, dass der Inte- 151 ressenausgleich noch vor der Betriebsänderung verhandelt werden kann. Sie hat spätestens bei Einholung der Zustimmung des Gläubigerausschusses zur Betriebsstilllegung (§ 158 Abs. 1 InsO) oder bei Unterrichtung des Schuldners von der Schließungsabsicht (§ 158 Abs. 1 Satz 1 InsO) zu erfolgen. Die Unterrichtung des Betriebsrates und die Beratung mit dem Betriebsrat stehen dann zunächst unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Gläubigerausschusses zur Betriebsschließung. Fasst die Gläubigerversammlung einen Stilllegungsbeschluss (§§ 156, 159 InsO), so hat der Insolvenzverwalter den Betriebsrat auch hierüber zu unterrichten. 152
Praxishinweis Solange der Interessenausgleich nicht abgeschlossen ist oder der Vorsitzende der Einigungsstelle das Scheitern eines Interessenausgleichs nicht festgestellt hat, kann der Insolvenzverwalter den Beschluss der Gläubigerversammlung zur Betriebsstilllegung durch Kündigung der Arbeitsverhältnisse nicht umsetzen, da er sonst Nachteilsausgleichsansprüche nach § 113 BetrVG auslöst.
___________ 98) 99) 100) 101) 102) 103)
BAG, Urt. v. 8.6.1999 – 1 AZR 694/98, BeckRS 1999, 30779040. BAG, Beschl. v. 9.5.1995 – 1 ABR 51/94, ZIP 1995, 1762 = NZA 1996, 166. BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, ZIP 2011, 1786 = NJW 2011, 3180. LAG Hessen, Urt. v. 25.2.2011 – 3 Sa 1095/10, BeckRS 2011, 73347. BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZI 2012, 1011. BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZI 2012, 1011.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
c)
Namensliste Interessenausgleich, Namensliste: BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, ZIP 1998, 1885 = NZA 1998, 1110 Vertrauensschutz bei unterbliebener Massenentlassungsanzeige: BAG, Urt. v. 21.9.2006 – 2 AZR 760/05, ZIP 2007, 1577 = NZA 2007, 435
153 § 125 InsO statuiert eine Einschränkung des Kündigungsschutzes, wenn mit dem Interessenausgleich zugleich eine Namensliste der zu kündigenden Arbeitnehmer vereinbart ist. § 125 InsO setzt voraus, dass eine Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG vorliegt104) und diese für die Kündigung kausal ist.105) Es gilt dann grundsätzlich das Recht der betriebsbedingten Kündigung, jedoch ergeben sich Änderungen bei der Sozialauswahl und Erleichterungen bei der gerichtlichen Überprüfung der Sozialkriterien. § 125 InsO ist Spezialregelung zu § 1 Abs. 5 KSchG und enthält hierzu Abweichungen.106) 154
Praxishinweis Die Vorschrift des § 125 InsO ist nur im eröffneten Insolvenzverfahren anwendbar. Der vorläufige Insolvenzverwalter kann keinen Interessenausgleich nach § 125 InsO (analog) schließen, sondern nur das Verfahren nach den §§ 111, 112 BetrVG durchführen.107) Für einen vor Verfahrenseröffnung abgeschlossenen Interessenausgleich mit Namensliste gilt jedoch § 1 Abs. 5 KSchG als Prüfungsmaßstab.108)
155 Für § 125 InsO ist es ausreichend, wenn die Betriebsänderung erst durch einen Betriebserwerber durchgeführt werden soll, § 128 Abs. 1 Satz 1 InsO. Es ist statthaft, dass eine Betriebsänderung auf Grundlage eines sog. Erwerbermodells erstellt wird. Dies führt aber nicht dazu, dass auch der Erwerber eine eigene Namensliste vereinbaren kann sondern bedeutet nur, dass der Verwalter diese Liste im Hinblick auf eine beim Erwerber vorzunehmende Betriebsänderung vereinbaren kann. 156 Die Namen der zu kündigenden Arbeitnehmer sind entweder in den Interessenausgleich selbst aufzunehmen oder in einer gesonderten, mit dem Interessenausgleich fest verbundenen Liste aufzuführen. Die Kündigungen müssen noch bevorstehen, wobei auch Änderungskündigungen erfasst sind. 157 Teileinigungen sind wohl nur dann möglich, wenn mehrere Kündigungswellen geplant sind und zunächst nur für die erste(n) Welle(n) eine Einigung auf eine Namensliste erfolgt ist.109) Eine „Teilnamensliste“ ist immer dann „prob___________ 104) 105) 106) 107) 108) 109)
182
BAG, Urt. v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. BAG, Urt. v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, NZA 2006, 64 (LS). BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, ZIP 2012, 2080 = NZA-RR 2012, 570. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. BAG; Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, ZIP 2013, 234 = NZA 2013, 86.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
lematisch“, wenn sich die Teilnamensliste nicht auf abgrenzbare Regelungskomplexe bezieht, sondern bewusst unvollständig gehandhabt wird.110) Wird ein Interessenausgleich mit Namensliste nach § 125 InsO abgeschlossen, 158 so wird gesetzlich vermutet (widerleglich, § 292 Satz 1 ZPO), dass die Kündigungen der bezeichneten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt sind, die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb entgegenstehen.111) Diese Vermutungswirkung wird auch durch eine fehlerhafte Sozialauswahl in der Namensliste nicht beseitigt.112) Selbst eine Klausel, die den Einsatz von Leiharbeitnehmern regelt, lässt die Vermutungswirkung nicht entfallen.113) 159
Praxishinweis Der Einsatz von Leiharbeitnehmern schließt dringende betriebliche Erfordernisse nur aus, wenn damit ein Dauerbedarf befriedigt wird.
Der Namensliste kommt somit eine Richtigkeitsgewähr dahingehend zu, dass 160 sich Insolvenzverwalter und Betriebsrat Gedanken darüber gemacht haben, welchen aufgrund ihrer Tätigkeit vergleichbaren Arbeitnehmern unter Abwägung der sozialen Schutzbedürftigkeit gekündigt werden soll.114) Es findet somit eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast statt,115) weshalb entgegen § 1 KSchG nicht der Insolvenzverwalter den Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit des gekündigten Arbeitnehmers darlegen und beweisen muss, sondern der Arbeitnehmer konkret zu behaupten und unter Beweis zu stellen hat, dass im Betrieb ein freier Arbeitsplatz vorhanden ist, auf dem seine Weiterbeschäftigung möglich ist.116) Die Vermutung erstreckt sich auch darauf, dass der Arbeitnehmer nicht in einem 161 anderen Betrieb des Insolvenzschuldners weiterbeschäftigt werden kann, wenn sich die Betriebsparteien damit befasst haben, wovon regelmäßig auszugehen ist.117) Das BAG gewährt dem Arbeitnehmer jedoch gewisse Erleichterungen durch Begründung einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast. Zu Hinweisen des Arbeitnehmers, insbesondere zu Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, muss sich der Insolvenzverwalter konkret auseinandersetzen. Dies gilt verstärkt, wenn sich Anhaltspunkte dazu ergeben, dass der Betriebsrat während
___________ 110) 111) 112) 113) 114) 115) 116)
BAG, Urt. v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151. BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, ZIP 1998, 1885 = NZA 1998, 1110. BAG, Urt. v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, NZA 2009, 1023. BAG, Urt. v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, ZIP 2013, 184 = NZA-RR 2013, 68. Fischermeier, NZA 1997, 1089. Bader, NZA 1996, 1125. LAG Hessen, Urt. v. 18.3.2011 – 10 Sa 1561/10, BeckRS 2011, 73339; Meyer, BB 1998, 2417. 117) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2312 = NZI 2012, 1011.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
der Verhandlungen die Einsatzmöglichkeit in einem anderen Betrieb nicht ausreichend prüfen konnte.118) 162
Praxishinweis Gemäß § 125 Abs. 2 InsO ersetzt im Insolvenzfall die Namensliste des Interessenausgleich die Stellungnahme des Betriebsrats.119)
163 Der Insolvenzverwalter kann sich demnach zunächst auf die Behauptung beschränken, dass eine Betriebsänderung i. S. von § 111 BetrVG vorliegt und der gekündigte Arbeitnehmer in einem mit dem Betriebsrat vereinbarten Interessenausgleich namentlich bezeichnet ist. Nur die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Betriebsänderung und ihrer Kausalität für die Kündigungen trägt insoweit der Arbeitgeber.120) Soweit allerdings der Arbeitnehmer keine Kenntnis über die Einzelheiten der Betriebsänderung hat und sich diese auch nicht aus dem Interessenausgleich selbst ergeben, hat der Arbeitgeber schon auf bloßes Bestreiten zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen vorzutragen.121) 164 Die Überprüfung der Sozialauswahl erfolgt nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und Unterhaltsverpflichtungen. Das in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannte Kriterium „Schwerbehinderung“ bleibt bei der Sozialauswahl unberücksichtigt, ist aber als Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX zu beachten. 165
Praxishinweis Bei einem Interessenausgleich nach § 125 InsO ist die Ermessensentscheidung des Integrationsamtes gemäß § 89 Abs. 3 SGB IX eingeschränkt. Es soll die Zustimmung erteilen, wenn der schwerbehinderte Mensch in einem Interessenausgleich gemäß § 125 InsO namentlich bezeichnet wird, die Schwerbehindertenvertretung beim Zustandekommen des Interessenausgleichs gemäß § 95 Abs. 2 SGB IX beteiligt worden ist, der Anteil der nach dem Interessenausgleich zu entlassenden schwerbehinderten Menschen, gemessen an der Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen, nicht größer ist als der Anteil der zu entlassenden übrigen Arbeitnehmer gemessen an der Zahl der übrigen beschäftigten Arbeitnehmer, die Gesamtzahl der schwerbehinderten Menschen, die nach dem Interessenaus-gleich weiterbeschäftigt werden, zur Erfüllung der Pflichtzahlen gemäß § 71 SGB IX ausreicht.
166 Hinsichtlich der Korrektheit der Sozialauswahlerwägungen bleibt die Darlegungs- und Beweislast beim Insolvenzverwalter, jedoch mit der Erleichterung, dass die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO). Dies ist in Bezug auf je___________ 118) 119) 120) 121)
184
BAG, Urt. v. 6.9.2007 – 2 AZR 715/06, NZA 2008, 633. BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, ZIP 2011, 1786 = NJW 2011, 3180. BAG, Urt. v. 13.2.2008 – 2 AZR 79/06, RDG 2008, 234. LAG Hamm, Urt. v. 1.6.2011 – Sa 1772/10, BeckRS 2011, 73933.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
den Arbeitnehmer gesondert zu überprüfen,122) wobei die Sozialauswahl nur im Ausnahmefall scheitern soll.123) 167
Praxishinweis Bei Vorliegen „berechtigter betrieblicher Interessen“ können Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG ausgenommen werden.
Die beschränkte Prüfungsmöglichkeit im Arbeitsgerichtsprozess bei Vorliegen 168 der übrigen Voraussetzungen des § 125 InsO bezieht sich nicht nur auf die Sozialindikatoren und deren Gewichtung, sondern auch auf die Bildung der auswahlrelevanten Gruppe als Bestandteil der Sozialauswahl.124) Die bloße Verkennung des Betriebsbegriffs und damit des auswahlrelevanten Personenkreises reicht nicht aus, um grobe Fehlerhaftigkeit anzunehmen.125) Grobe Fehlerhaftigkeit liegt vor, wenn die Gewichtung der Sozialkriterien jede 169 Ausgewogenheit vermissen lässt126) wenn sie also mit einem so schweren und ins Auge springenden Fehler behaftet ist, dass sie angesichts der Funktion der Sozialauswahl nicht hingenommen werden kann.127) Dies ist etwa dann der Fall, wenn z. B. ein soziales Grunddatum überhaupt nicht beachtet worden ist, ein weiter Spielraum überschritten wird bzw. in der Sache nichtmehr von einer sozialen Auswahl die Rede sein kann.128) Umgekehrt ist die Grenze zur groben Fehlerhaftigkeit deutlich unterschritten, solange gut nachvollziehbare und ersichtlich nicht auf Missbrauch zielende Überlegungen vorliegen.129) Auch wenn die Betriebsparteien die Sozialauswahl auf einzelne Abteilungen bezogen haben, ist sie nur dann grob fehlerhaft, wenn nicht auf mögliche Einarbeitungszeiten abgestellt wurde.130) Aus Gründen der Rechtssicherheit ist es ausreichend, bei den Unterhaltspflichten lediglich auf der Lohnsteuerkarte vermerkte Kinder zu berücksichtigen. Ehegatten müssen wegen der Verpflichtung zum Familienunterhalt zumindest in irgendeiner Weise berücksichtigt werden.131)
___________ 122) 123) 124) 125) 126) 127) 128) 129) 130) 131)
BAG, Urt. v. 19.7.2012 – 2 AZR 386/11, NZA 2013, 333. BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, ZIP 1998, 1885 = NZA 1998, 1110. BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, ZIP 2013, 284 = NZA 2013, 94. BAG, Beschl. v. 20.1.2000 – 2 ABR 30/99, NZA 2001, 170. BAG, Urt. v. 21.9.2006 – 2 AZR 284/06, BeckRS 2007, 44268; BAG, Urt. v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, NZA 2009, 1023. BAG, Urt. v. 21.7.2005 – 6 AZR 592/04, ZIP 2006, 199 = NZA 2006, 162. BAG, Urt. v. 21.9.2006 – 2 AZR 760/05, ZIP 2007, 1577 = NZA 2007, 435. LAG Düsseldorf, Urt. v. 6.7.2011 – 7 Sa 1859/10, BeckRS 2011, 76738. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, ZIP 2012, 1927 = NJW-Spezial 2012, 628.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
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Praxishinweis Im Falle eines Betriebsübergangs (§ 613a BGB) erstreckt sich die gesetzliche Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO auch darauf, dass die Kündigung nicht wegen des Betriebsübergangs unwirksam ist (§ 128 Abs. 2 InsO).132)
171 Die Sozialauswahl ist nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine angemessene Personalstruktur i. S. eines „funktions- und wettbewerbsfähiges Arbeitnehmerteams“ erhalten oder geschaffen werden soll (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO a. E.), wenn also z. B. in einem Betrieb verschiedene Arbeitsgruppen tätig sind, und in diesen Arbeitsgruppen („Lebensalterskorridoren“) alle Altersgruppen anteilsmäßig mit Kündigungen belastet werden.133) Die Bildung der Altersgruppen muss sachgemäß erfolgt sein, wobei eine Verringerung der Abstände zur nächsten Gruppe bei höherem Alter möglich ist.134) Unter diesen Voraussetzungen entspricht die Altersgruppenbildung auch europarechtlichen Vorgaben.135) 172
Praxishinweis Die Voraussetzungen zur ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG bestehen auch beim Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste. Lediglich die im Interessenausgleichsverfahren bereits mitgeteilten Tatsachen sind nicht erneut mitzuteilen. Beide Verfahren können jedoch verbunden werden, sofern dies im Text des Interessenausgleichs vermerkt oder in sonstiger Weise gegenüber dem Betriebsrat verdeutlicht wird.136)
d)
Sozialplan
173 Der Sozialplan ist nach der Legaldefinition des § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG eine schriftliche Einigung zwischen Arbeitgeber (Insolvenzverwalter) und Betriebsrat über den Ausgleich oder die Milderung von wirtschaftlichen Nachteilen, die den Arbeitnehmern infolge einer Betriebsänderung (§ 111 BetrVG) entstehen. Er soll die möglichen Folgen einer geplanten Betriebsänderung für die Arbeitnehmer pauschal und sozialverträglich gestalten und abgelten.137) aa)
Altersgruppen
174 Die Bildung von Altersgruppen ist bei der Aufstellung eines Sozialplanes auch nach den Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) nach wie vor grundsätzlich zulässig. Gemäß § 75 Abs. 1 BetrVG haben der Insolvenzverwalter und Betriebsrat darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung ___________ 132) 133) 134) 135) 136) 137)
BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, ZIP 2012, 1623 = BeckRS 2012, 69831. LAG Hamm, Urt. v. 28.5.1998 – 8 Sa 76/98, ZInsO 1998, 236. BAG, Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 509/05, BeckRS 2007, 41120. BAG, Urt. v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, ZIP 2009, 1339 = NJW-Spezial 2009, 242. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, ZIP 2012, 1927 = NJW-Spezial 2012, 628. BAG, Beschl. v. 17.9.1991 – 1 ABR 23/91, ZIP 1992, 261 = NZA 1992, 227.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
von Personen aus den in dieser Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwachungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitnehmer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung i. S. des § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG kann dabei unter den in § 10 AGG genannten Voraussetzungen zulässig sein. In diesem Fall ist auch der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt.138) Nach § 10 Satz 1 und 2 AGG ist die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn diese objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen ihrerseits angemessen und erforderlich sein. Gemäß § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG kann eine unterschiedliche Behandlung auch durch eine nach Alter gestaffelte Abfindungsregelung erfolgen, in der die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigt werden.139) 175
Praxishinweis Sozialplanabfindungen sind keine Entschädigungen, sondern haben Ausgleichs-, Vorsorge- und Überbrückungsfunktion.140) In einem Sozialplan können deshalb Arbeitnehmer von Leistungen ausgeschlossen werden, die bereits einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben;141) auch können verminderte Leistungen für Mitarbeiter vorgesehen werden, die kurz vor Erreichen des Rentenalters stehen.142)
Der Sozialplan ist eine Betriebsvereinbarung.143) Nach § 112 Abs. 1 Satz 4 176 BetrVG gilt für den Sozialplan jedoch nicht der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG. Im Sozialplan sind auch Individualregelungen für einzelne Arbeitnehmer zulässig. bb)
Sozialplanpflicht
Eine Sozialplanpflicht besteht nur, wenn eine Betriebsänderung geplant wird 177 (§ 111 Satz 1 BetrVG), im Betrieb ein Betriebsrat eingerichtet ist und dort mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden. Ob es dem Unternehmen wirtschaftlich gut oder schlecht geht, ist unerheblich. Unter diesen Voraussetzungen besteht eine Sozialplanpflicht auch in der Insolvenz (§ 123 InsO). ___________ 138) 139) 140) 141) 142) 143)
BAG, Urt. v. 23.3.2010 – 1 AZR 832/08, EzA BetrVG 2001 § 112 Nr. 35. BAG, Urt. v. 12.4.2011 – 1 AZR 764/09, NZA 2011, 988. BAG, Urt. v. 9.11.1994 – 10 AZR 281/94, ZIP 1995, 767. BAG, Urt. v. 30.11.1994 – 10 AZR 649/93, DB 1995, 1238. BAG, Urt. v. 20.11.1997 – 6 AZR 215/96, NZA 1998, 1021. BAG, Beschl. v. 18.12.1990 – 1 ABR 15/90, ZIP 1991, 535.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
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Praxishinweis Ein Sozialplan ist vom Betriebsrat nur dann erzwingbar, wenn der Personalabbau die Größenordnung des § 112a Abs. 1 BetrVG erreicht oder überschreitet. Erreicht der Personalabbau „nur“ die Größenordnung des § 17 Abs. 1 BetrVG, nicht aber die des § 112a Abs. 1 BetrVG, werden nur die Beteiligungsrechte des Betriebsrates im Zusammenhang mit dem Interessenausgleichsverfahren ausgelöst.
179 Trotz Erreichens der Größenordnung des § 112a Abs. 1 BetrVG ist die Aufstellung eines Sozialplanes dann nicht erzwingbar, wenn das Unternehmen – nicht der Betrieb – nicht älter als vier Jahre ist. Maßgeblich für die Bestimmung des Alters ist der Zeitpunkt der Aufnahme der Erwerbstätigkeit gemäß § 138 Abs. 1 AO. Diese Privilegierung bezieht sich auf die Neugründung von Unternehmen, nicht auf die Errichtung oder Übernahme eines neuen Betriebes.144) 180
Praxishinweis Die Befreiung von der Sozialplanpflicht gilt nicht für Neugründungen im Zusammenhang mit der rechtlichen Umstrukturierung von Unternehmen und Konzernen (§ 112a Abs. 2 Satz 2 BetrVG), sondern nur dann, wenn ein unternehmerischer Neuanfang vorliegt.
181 Keine Befreiung von der Sozialplanpflicht besteht in allen Fällen der Verschmelzung von Unternehmen auf ein neu gegründetes Unternehmen, der Umwandlung auf ein neugegründetes Unternehmen, der Auflösung eines Unternehmens und Übertragung seines Vermögens auf ein neugegründetes Unternehmen, der Aufspaltung eines Unternehmens auf mehrere neugegründete Unternehmen oder der Abspaltung von Unternehmensteilen und Übertragung auf neugegründete Tochtergesellschaften. cc)
Scheitern der Sozialplanverhandlungen
182 In der Praxis werden Interessenausgleich und Sozialplan oftmals parallel verhandelt. Der Sozialplan bedarf wie der Interessenausgleich der Schriftform nach § 125 BGB; beide können in einer (Gesamt-)Urkunde vereinbart werden.145) Vor jeder geplanten Betriebsänderung müssen Insolvenzverwalter und Betriebsrat versuchen, einen Sozialplan im Verhandlungswege abzuschließen. 183 Kommt ein Sozialplan nicht zustande, können Insolvenzverwalter oder Betriebsrat die Aufstellung des Sozialplans durch die Einigungsstelle erzwingen (§ 112 Abs. 4 BetrVG).
___________ 144) BAG, Beschl. v. 13.6.1989 – 1 ABR 14/88, ZIP 1989, 1487. 145) BAG, Urt. v. 20.4.1994 – 10 AZR 186/93, ZIP 1994, 1466 = DB 1994, 2038.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
dd)
Sozialplan nach Verfahrenseröffnung, § 123 InsO
§ 123 InsO gilt nur für die Ausgestaltung eines Sozialplanes nach Eröffnung 184 des Insolvenzverfahrens. In der Insolvenz ist der Ermessensspielraum bei der Aufstellung eines Sozialplans wegen §§ 123, 124 InsO eingeschränkt. Die §§ 123, 124 InsO bestimmen dabei Rang und Volumen von Sozialplänen im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren. Die Regelung des § 123 InsO trägt dem Umstand Rechnung, dass die Anreicherung und Sicherung der Insolvenzmasse eine Beschränkung von Sozialplanforderungen erforderlich macht. Die Insolvenzsituation gebietet es, die Belastungen aus den betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsbefugnissen des Betriebsrats zu beschränken, um Gläubigerinteressen zu schützen, deren Befriedigungschancen durch übermäßige Sozialplanvolumina beeinträchtigt würden. 185
Praxishinweis Nach § 123 Abs. 1 InsO wird die absolute Obergrenze des Sozialplanvolumens auf das 2,5-fache der Bruttomonatsverdienste – ohne Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen – aller aus dem Betrieb ausscheidenden Arbeitnehmer begrenzt. Dazu gehören neben der Grundvergütung auch Zulagen, Sonderzahlungen sowie Akkordzuschläge, die anteilig umzulegen sind.
Der Begriff der Entlassung umfasst neben der betriebsbedingten Arbeitgeber- 186 kündigung auch ein Ausscheiden aufgrund eines vom Arbeitgeber veranlassten Aufhebungsvertrages oder nach Eigenkündigung des Arbeitnehmers. Bei der Ermittlung der von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmerzahl sind neben den Vollzeitkräften auch Teilzeitbeschäftigte zu berücksichtigen, nicht jedoch leitende Angestellte nach § 5 Abs. 3 KSchG. Befristet Beschäftigte sind bei der Bestimmung des Sozialplanvolumens dann zu berücksichtigen, wenn sie ursächlich wegen der Entlassung vor Fristablauf aus ihrem Arbeitsverhältnis ausscheiden. 187
Praxishinweis Überschreitet der Sozialplan die absolute Obergrenze des § 123 Abs. 1 InsO, ist er unwirksam und muss neu aufgestellt werden.
§ 123 Abs. 2 InsO bestimmt des Weiteren die sog. relative Obergrenze des So- 188 zialplanvolumens, wonach zur Begleichung von Sozialplanforderungen nicht mehr als 1/3 der Masse verwendet werden darf, die ohne Berücksichtigung des Sozialplans für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung gestanden wäre. Ist die Gesamtsumme aller Sozialplanforderungen höher als diese relative Grenze, 189 so sind die einzelnen Sozialplanansprüche anteilig zu kürzen. Sozialplanforderungen werden nach § 123 InsO als sonstige („nachrangige“) 190 Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 InsO definiert, wodurch gegenüber der KO die Anmeldung und Feststellung zur Tabelle entfallen ist.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
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Praxishinweis Bei masseunzulänglichen Verfahren gehen die Arbeitnehmer trotz der Masseschuldqualität ihrer Forderungen finanziell nach wie vor leer aus. § 123 Abs. 3 Satz 2 InsO statuiert zudem ein Zwangsvollstreckungsverbot wegen einer Sozialplanforderung.
192 Der Insolvenzverwalter darf nach § 123 Abs. 3 InsO Abschlagszahlungen auf den Sozialplan nur leisten, wenn und soweit genügend Barmittel vorhanden sind und das Insolvenzgericht die Vorabzahlung an die Arbeitnehmer genehmigt hat. Durch diese Regelung soll eine beschleunigte Auszahlung von Sozialplanansprüchen an die Arbeitnehmerschaft – jedoch nur unter Beachtung der Leistungsfähigkeit des insolventen Unternehmens – erreicht werden. ee)
Sozialplan vor Verfahrenseröffnung, § 124 InsO
193 Ein Sozialplan, der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 27 InsO), aber nicht früher als drei Monate vor dem Eröffnungsantrag (§ 13 Abs. 1 InsO) aufgestellt wurde, kann (nicht: muss) vom Betriebsrat und dem Insolvenzverwalter nach § 124 Abs. 1 InsO widerrufen werden. Der Widerruf führt zur Unwirksamkeit des Sozialplans. Bereits empfangene Leistungen sind wegen des Widerrufs nicht rückforderbar, können jedoch in einem nach Verfahrenseröffnung aufgestellten Sozialplan berücksichtigt werden (§ 124 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 InsO). 194 Der Sozialplan ist an dem Tag aufgestellt, an dem er von beiden Parteien unterschrieben ist (§ 126 BGB). Bei einem von der Einigungsstelle aufgestellten Sozialplan ist auf den Zeitpunkt der Zustellung an beide Betriebspartner abzustellen (§ 76 Abs. 3 Satz 3 BetrVG). 195
Praxishinweis Der vor Verfahrenseröffnung aufgestellte Sozialplan begründet für die Arbeitnehmer nur Insolvenzforderungen nach § 38 InsO,146) weshalb der Betriebsrat einen solchen Sozialplan widerrufen wird, wenn die Sozialplanforderungen noch nicht zur Auszahlung gekommen sind. Der Insolvenzverwalter wird hingegen widerrufen, wenn der vor Verfahrenseröffnung abgeschlossene Sozialplan in seinem Volumen über der absoluten Obergrenze des § 123 Abs. 1 InsO liegt und keine Anpassungsklausel für den Fall der Insolvenz vereinbart ist.
196 Ältere, d. h. mehr als drei Monate vor dem Eröffnungsantrag aufgestellte Sozialpläne können nicht widerrufen werden, begründen deshalb für die Arbeitnehmerschaft nur Insolvenzforderungen nach § 38 InsO und sind daher praktisch wertlos.
___________ 146) BAG, Urt. v. 27.10.1998 – 1 AZR 94/98, ZIP 1999, 540 = NZA 1999, 719.
190
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
4.
Gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung (§ 122 InsO)
Der Gesetzgeber hat erkannt, dass die Durchführung der gesetzlichen Rege- 197 lungen nach §§ 111 ff. BetrVG einen erheblichen Zeitaufwand erfordert, wodurch im Insolvenzverfahren Sanierungen insbesondere durch die Übertragung von Betriebsteilen unter gleichzeitiger Entlassung von Arbeitnehmern oftmals scheitern. Dem Insolvenzverwalter steht deshalb in wirtschaftlich dringenden Fällen eine 198 echte Wahlmöglichkeit zur Verfügung. Er kann anstelle des Einigungsstellenverfahrens das Verfahren auf gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung nach § 122 InsO einleiten. Diese Vorschrift gibt dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit, die gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung ohne Einigungsstellenverfahren, ohne drohende Unterlassungsverfügungen sowie ohne die Gefahr von Nachteilsausgleichsansprüchen zu beantragen.147) 199
Praxishinweis § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO hat die gleichen Voraussetzungen wie § 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG.
Die Entscheidung des ArbG nach § 122 Abs. 2 Satz 1 InsO ergeht dabei nicht 200 über die Frage des „Ob“ der Betriebsänderung, sondern über die Frage des „Wann“ (vor Durchführung des Einigungsstellenverfahrens oder danach). Der Gerichtsbeschluss enthält also keine Zustimmung zur geplanten Betriebsänderung. Es geht lediglich um die Eilbedürftigkeit der Umsetzung der Entscheidung des Insolvenzverwalters, also um den Zeitpunkt der Betriebsänderung. Ob die geplante Betriebsänderung sinnvoll oder wirtschaftlich zweckmäßig ist, hat das Gericht nicht zu entscheiden.148) Im Antrag nach § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO hat der Insolvenzverwalter die ge- 201 plante Betriebsänderung so genau wie möglich zu bezeichnen. Er muss vortragen, dass zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich nach § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nicht innerhalb von drei Wochen nach Verhandlungsbeginn oder schriftlicher Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen zustande gekommen ist, obwohl der Insolvenzverwalter den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet hat. Er hat zu beantragen, dass der Insolvenzverwalter zur Durchführung der Betriebsänderung berechtigt ist, ohne das zeitaufwändige Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG durchlaufen zu haben.
___________ 147) LAG Niedersachsen, Beschl. v. 27.3.1997 – 16a TaBV 18/97, ZIP 1997, 1201. 148) ArbG Lingen, Beschl. v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
Beispiel für einen Antrag Es wird dem Antragsteller durch Beschluss gestattet, den gesamten Geschäftsbetrieb der Firma XYZ GmbH, (Adresse) stillzulegen, ohne dass das Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG vorangegangen ist. 202 Das Gericht erteilt die Zustimmung zur Durchführung der beabsichtigten Betriebsänderung ohne Interessenausgleich, wenn es die wirtschaftliche Lage des Unternehmens auch unter Berücksichtigung der sozialen Belange der Arbeitnehmer erfordert, dass die Betriebsänderung ohne vorheriges Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG durchgeführt wird (§ 122 Abs. 2 InsO). Die Abwägung der sozialen Belange kann schwierig sein, weil die sofortige Durchführung der Betriebsänderung für den einen Teil der Belegschaft den Erhalt der Arbeitsplätze bedeutet, für einen anderen Teil hingegen den schnellen Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes. 203
Praxishinweis Im Rahmen des § 122 InsO ist es kein relevanter Belang der Arbeitnehmer, dass die Durchführung des Einigungsstellenverfahrens die Realisierung der Betriebsänderung verzögert und infolgedessen auch die Kündigungstermine hinausgeschoben werden.149)
204 Gegen den Beschluss des ArbG findet die Beschwerde an das LAG nicht statt. Die Rechtsbeschwerde an das BAG findet nur statt, wenn sie in dem Beschluss des ArbG zugelassen wird (§ 122 Abs. 3 InsO). 205 Das Zustimmungsverfahren nach § 122 InsO setzt voraus, dass der Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet wurde. Dies ist dann der Fall, wenn die geplante Betriebsänderung bisher weder ganz noch teilweise verwirklicht ist und dem Betriebsrat die wirtschaftlichen und sozialen Gründe, die für die Durchführung der Betriebsänderung sprechen, so mitgeteilt wurden, dass sich dieser ein vollständiges Bild hierüber machen kann.150) Das Eröffnungsgutachten des Insolvenzverwalters kann dabei eine wichtige Informationsquelle hinsichtlich der wirtschaftlichen Gesamtsituation darstellen. Der allgemeine Hinweis auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens genügt den Voraussetzungen einer umfassenden Unterrichtung nicht. Die Darlegungs- und Beweislast obliegt dem Insolvenzverwalter. 206 Eine unzureichende Unterrichtung bewirkt, dass die Informationsphase nicht abgeschlossen ist, so dass die sich hieran anschließende Drei-Wochen-Frist nicht in Lauf gesetzt wird. 207 Die praktische Relevanz des § 122 InsO ist gering, obwohl der Beschluss nach § 122 InsO – im Unterschied zu einem erstinstanzlichen Beschluss nach § 98 ___________ 149) ArbG Lingen, Beschl. v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892. 150) ArbG Berlin, Beschl. v. 26.3.1998 – 5 BV 5735/98, ZInsO 1999, 51.
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V. Sanierungserleichterungen im Insolvenzfall
ArbGG – grundsätzlich nicht mit dem Rechtsmittel der Beschwerde angegriffen werden kann,151) was zur Verfahrensbeschleunigung beiträgt. Die Bedeutung des § 122 InsO wird auch zukünftig vor allem davon abhängen, 208 welche Anforderungen die Gerichte an eine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats stellen. 5.
Beschlussverfahren nach § 126 InsO
Hat der Betrieb keinen Betriebsrat oder kommt innerhalb von drei Wochen 209 kein Interessenausgleich zustande, obwohl der Betriebsrat rechtzeitig und umfassend vom Insolvenzverwalter unterrichtet worden ist, kann der Insolvenzverwalter nach § 126 InsO ein Beschlussverfahren beim ArbG anhängig machen. Er hat dabei die Feststellung zu beantragen, dass die Kündigung bestimmter, im Antrag bezeichneter Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und darüber hinaus auch sozial gerechtfertigt ist. Die soziale Auswahl kann dann, wie bei § 125 InsO, nur auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und etwaige Unterhaltsverpflichtungen überprüft werden. 210
Praxishinweis Dies gilt auch, wenn die Betriebspartner zuvor einen Interessenausgleich nach § 125 InsO abgeschlossen haben, aber wegen einer weiteren Betriebsänderung ein zweiter Interessenausgleich nicht zustande kommt.152)
§ 126 InsO ermöglicht dem Insolvenzverwalter somit die Durchführung eines 211 kollektiven Kündigungsschutzverfahrens mit dem Ziel, die Rechtmäßigkeit einer Mehrzahl von Kündigungen feststellen zu lassen, wobei unerheblich ist, ob es sich um Änderungs- oder Beendigungskündigungen handelt, die geplant oder bereits erfolgt sind.153) Im Beschlussverfahren nach § 126 InsO zum Kündigungsschutz ist eine betriebs- 212 bedingte Kündigung dann gerechtfertigt, wenn eine unternehmerische Entscheidung vorliegt, der zu Folge ein veränderter Arbeitsbedarf im Betrieb gegeben ist, die Kündigung dringlich ist, also durch andere Maßnahmen nicht ersetzt werden kann und die notwendige Folge betrieblicher Erfordernisse darstellt.154) 213
Praxishinweis Auch die Entscheidung des Insolvenzverwalters, den Personalbestand auf Dauer zu reduzieren, gehört zu den unternehmerischen Maßnahmen, die zum Weg-
___________ 151) 152) 153) 154)
BAG, Beschl. v. 14.8.2001 – 2 ABN 20/01, BeckRS 2001, 41591. BAG, Beschl. v. 20.1.2000 – 2 ABR 30/99, NZA 2001, 170. BAG, Beschl. v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, ZIP 2000, 1588. ArbG Offenbach v. 17.2.2000 – 5 BV 023/99, ZInsO 2001, 684.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick fall von Arbeitsplätzen führen und damit den entsprechenden Beschäftigungsbedarf entfallen lassen können.155)
214 Bei der Entscheidung des ArbG darüber, ob die im Antrag bezeichneten Kündigungen sozial gerechtfertigt sind, hat das Gericht jeden einzelnen Fall individuell zu überprüfen und auch die Sozialauswahlkriterien nachzuvollziehen. Das ArbG hat jeden individuellen Fall einzeln zu entscheiden und dabei denselben Prüfungsmaßstab wie in den Fällen des § 125 InsO anzusetzen. 215 Es herrscht – wie in jedem arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren – der Amtsermittlungsgrundsatz. Die rechtskräftige Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 126 InsO entfaltet Bindungswirkung für das individuelle Kündigungsschutzverfahren (§ 127 Abs. 1 InsO). 216
Praxishinweis Die Bindungswirkung erstreckt sich nur auf betriebsbedingte Kündigungen und bezieht sich ausschließlich auf die Frage der sozialen Rechtfertigung nach § 1 KSchG.
217 Beruft sich der Arbeitnehmer bei seiner individuellen Kündigungsschutzklage auf andere Unwirksamkeitsgründe, wie z. B. die Nichtbeachtung von gesetzlichem Sonderkündigungsschutz oder sonstiger Zustimmungserfordernisse, hat das ArbG diese insoweit in einem Kündigungsschutzverfahren zu überprüfen. 6.
Massebelastende Kollektivvereinbarungen
218 Bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bleiben neben den individual-arbeitsrechtlichen Ansprüchen auch sämtliche kollektivrechtlichen Regelungen (Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen, Gesamtzusagen) bestehen, an die Arbeitnehmer, Betriebsräte und Insolvenzverwalter gebunden sind. § 103 InsO gibt dem Insolvenzverwalter kein Recht zum Nichteintritt in kollektivrechtliche Regelungen. Gemäß § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Nach dem Ablauf des Tarifvertrages gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Vereinbarung ersetzt werden (§ 4 Abs. 5 TVG). 219
Praxishinweis Ist ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich (§ 5 TVG), so sind dessen Rechtsnormen auch für den Insolvenzverwalter zwingend.
220 Betriebsvereinbarungen kann der Insolvenzverwalter nach allgemeinen Grundsätzen mit einer Frist von drei Monaten kündigen (§ 77 Abs. 5 BetrVG), es sei denn, es ist eine längere Frist vereinbart. Betriebsvereinbarungen, deren Regelungen die Insolvenzmasse belasten, kann der Insolvenzverwalter in jedem ___________ 155) BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, ZIP 1998, 1885 = NZA 1998, 1110.
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VI. Insolvenzanfechtung
Fall mit einer Frist von drei Monaten kündigen, selbst wenn eine längere Kündigungsfrist vereinbart ist (§ 120 Abs. 1 Satz 2 InsO). 221
Praxishinweis Soweit erzwingbare Betriebsvereinbarungen gekündigt werden, wirken diese im Unterschied zu freiwilligen Betriebsvereinbarungen bis zum Abschluss einer neuen Betriebsvereinbarung nach.
Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO sollen sich Insolvenzverwalter und Betriebsrat 222 über eine einvernehmliche Herabsetzung einer die Insolvenzmasse belastenden Leistung aus einer Betriebsvereinbarung verständigen. Aus wichtigem Grund können Betriebsvereinbarungen ohne Einhaltung einer 223 Kündigungsfrist gekündigt werden (§ 120 Abs. 2 InsO), wobei selbst dann die Nachwirkung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG zu beachten ist.156) Die Insolvenz und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen allerdings für sich gesehen keine wichtigen Gründe zur fristlosen Kündigung einer Betriebsvereinbarung dar.157) VI.
Insolvenzanfechtung Auf die für die Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen bedeutsame Kenntnis eines Arbeitnehmers über die Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers kann nicht allein deswegen geschlossen werden, weil der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer mit Gehaltszahlungen im Rückstand ist und der Arbeitnehmer weiß, dass dies auch in Bezug auf andere Beschäftigte der Fall ist. Das gilt laut BAG umso mehr, wenn der betreffende Arbeitnehmer keinen Einblick in die Finanzbuchhaltung seines Arbeitgebers und keine Leitungsaufgaben im kaufmännischen Bereich wahrgenommen hatte. BAG, Urt. v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2012, 2366 = NZA 2012, 330
Die Insolvenzordnung sieht in den §§ 129 ff. InsO die Anfechtung von Rechts- 224 handlungen durch den Insolvenzverwalter vor, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und die Gläubiger benachteiligen, soweit nicht das redliche Vertrauen darauf, dass vor der Insolvenzeröffnung erfolgte Verfügungen des Schuldners Bestand haben, für schutzwürdig angesehen wird. Die Vorschriften der Insolvenzanfechtung nach §§ 129 InsO gelten auch gegenüber Arbeitnehmern.158) Der Arbeitnehmer trägt deshalb insbesondere das Risiko, dass er eine deutlich verspätete Zahlung des Arbeitsentgelts wieder zurückzahlen muss. Gegen den Rückforderungsanspruch nach § 143 Abs. 1 InsO kann dann nicht der Einwand der Entreicherung erhoben werden.159) Der durch §§ 130 bis 132 InsO besonders geschützte Zeitraum zur Wiederer___________ 156) BAG, Beschl. v. 10.8.1994 – 10 ABR 61/93, ZIP 1995, 1037 = NZA 1995, 314, a. A. Fitting, BetrVG, § 77 Rz. 153; Oetker, RdA 1995, 82, 95. 157) Belling/Hartmann, NZA 1998, 57, 63; Kübler/Prütting/Bork-Moll, InsO, Stand: 9/2009, § 120 Rz. 46. 158) Zwanziger, BB 2007, 42. 159) BAG, Urt. v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628 = NZA-RR 2011, 656.
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§ 10 Der „worst case“: Insolvenzarbeitsrecht im Überblick
langung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung umfasst den Zeitraum der letzten drei Monate vor dem Antrag auf Insolvenzeröffnung. Der Anfechtungszeitraum wegen einer unentgeltlichen Leistung beträgt bis vier Jahre ab Eröffnung (§ 134 InsO) und im Falle einer vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung sogar zehn Jahre (§ 133 InsO). 1.
Kongruente Deckungsanfechtung
225 § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO regelt unter anderem, dass eine Rechtshandlung, die einem Insolvenzgläubiger eine Befriedigung gewährt hat, anfechtbar ist, wenn sie in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war und der Gläubiger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte. Gemäß § 130 Abs. 2 InsO steht der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit schließen lassen. 226 Eine Anfechtbarkeit wegen kongruenter Deckung nach § 130 InsO scheidet dann aus, wenn es sich um ein Bargeschäft nach § 142 InsO handelt. Ein Bargeschäft, und damit der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang mit der Gegenleistung, liegt nach dem BAG noch bei Zahlungen für Tätigkeiten in den vorausgegangenen drei Monaten, tag genau gerechnet ab Zahlung, vor.160) 227 Die Kenntnis des Arbeitnehmers von der zeitlichen Dauer und Höhe der eigenen Gehaltsrückstände sowie von dem Umstand, dass der insolvente Arbeitgeber gegenüber einem Großteil der anderen Arbeitnehmer seit mehreren Monaten mit Vergütungszahlungen in Rückstand geraten war, hält das BAG grundsätzlich nicht für ausreichend. Denn diese Kenntnis lasse bei einem Arbeitnehmer, der keine Führungskraft einer höheren Hierarchieebene ist und insbesondere keine Leitungsaufgaben im kaufmännischen Bereich ausübt, noch kein eindeutiges Urteil über die Liquiditäts- und Zahlungslage des Arbeitgebers zu. 228 Anders kann sich die Lage deshalb nur bei längeren Lohnrückständen und Kenntnis solcher bei anderen Arbeitnehmern einer höheren Hierarcheebene darstellen, die Einblick in die Finanzbuchhaltung des Unternehmens haben. 2.
Inkongruente Deckungsanfechtung 1. Eine nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Wege der Zwangsvollstreckung beigetriebene Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes hat der Arbeitnehmer durch anfechtbare Rechtshandlung i. S. des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO erlangt.
___________ 160) BAG, Urt. v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2012, 2366 = NZA 2012, 330.
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VI. Insolvenzanfechtung 2. Sind die Voraussetzungen einer inkongruenten Deckung gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO erfüllt und hat der Arbeitnehmer deshalb das durch die anfechtbare Handlung Erlangte nach § 143 Abs. 1 InsO zur Insolvenzmasse zurückzugewähren, kann er nicht mit Erfolg einwenden, er sei nicht mehr i. S. von § 818 BGB bereichert. BAG, Urt. v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628 = NZA-RR 2011, 656
Unter den Voraussetzungen des § 131 InsO besteht eine erleichterte Anfech- 229 tungsmöglichkeit bei inkongruenter Deckung. Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer durch eine Rechtshandlung eine Sicherung oder Befriedigung erhalten hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte. Inkongruenz ist bspw. eine Leistung nach Drohung mit einem Insolvenzantrag oder eine durch Zwangsvollstreckung oder dem Druck der Zwangsvollstreckung erbrachte Leistung. Im Falle der Inkongruenz scheidet die Privilegierung eines Bargeschäfts nach § 142 InsO aus.161) Der das Insolvenzverfahren beherrschende Gleichbehandlungsgrundsatz ver- 230 drängt das Prioritätsprinzip der Einzelzwangsvollstreckung bereits in dem durch die §§ 130 bis 132 InsO besonders geschützten Drei-Monats-Zeitraum. Dieses Prinzip, das einen „Wettlauf der Gläubiger“ bedingt, führt nur so lange zu mit dem Zweck des Insolvenzverfahrens im Einklang stehenden Ergebnissen, wie für die zurückgesetzten Gläubiger noch die Aussicht besteht, sich aus anderen Vermögensgegenständen des Schuldners zu befriedigen.162) Die gegenüber § 130 InsO verschärfte Haftung nach § 131 InsO rechtfertigt 231 sich daraus, dass der Gläubiger, der staatliche Zwangsmaßnahmen in Anspruch nimmt oder androht, anders als der Gläubiger, der eine freiwillige Zahlung entgegennimmt, aktiv auf das zur Befriedigung aller Gläubiger unzureichende Vermögen des Schuldners zugreift und zugleich andere Gläubiger von einem solchen Zugriff ausschließt. In der Unternehmenskrise soll eine Ungleichbehandlung der Gläubiger nicht mehr durch den Einsatz von oder der Drohung mit staatlichen Machtmitteln erzwungen werden. Der Einsatz dieser Mittel nimmt der Leistung des Schuldners aus objektiver Sicht den Charakter der Freiwilligkeit. Muss der Gläubiger den Schuldner durch die Drohung mit der Zwangsvollstreckung zur Leistung zwingen, liegt der Verdacht nahe, dass der Schuldner nicht zahlungsfähig ist. Eine solche Leistung ist nicht insolvenzfest.163)
___________ 161) BGH, Urt. v. 10.5.2007 – IX ZR 146/05, ZIP 2007, 1162 = NJW-RR 2008, 1154. 162) BAG, Urt. v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628 = NZA-RR 2011, 656. 163) BAG, Urt. v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628 = NZA-RR 2011, 656.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren Einleitung des Herausgebers: Das mit dem ESUG eingeführte Schutzschirmverfahren bietet an sich keine arbeitsrechtlichen Besonderheiten. Der Gesetzgeber hat – bewusst – davon abgesehen, die im vorangegangenen Kapitel genannten Sonderregeln des Insolvenzarbeitsrechts auf das Schutzschirmverfahren zu erstrecken. Wie aber steht es um die „Vorwirkungen“ einer drohenden Insolvenz und inwieweit spielen in der Praxis nicht gerade bestehende Standort- und Beschäftigungsgarantien hier eine entscheidende Rolle? Halten sie der Sanierung stand? Werden sie gekündigt oder nachverhandelt? Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Einbettung eines arbeitsrechtlichen Sanierungsplans in die Gesamtsanierung unter dem „Schutzschirm“. Übersicht I.
Kollektivrechtliche Bindung des Krisenunternehmens.................. 1 II. Beendigung bestehender Tarifgebundenheit .......................... 10 1. Grundsatz der Tarifbindung ............ 10 2. Lösungsmöglichkeiten ..................... 12 3. Verhandlung eines neuen (Sanierungs-)Tarifvertrages ............. 21 4. Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang ..................... 29
III. Besonderheiten im Insolvenzantrags-, insb. Schutzschirmverfahren .......................................... 32 1. Grundzüge des Schutzschirmverfahrens................... 33 2. Ablauf des Schutzschirmverfahrens ......................................... 44 3. Arbeitsrechtliche Situation.............. 47
Literatur: Ahrendt, Firmentarifvertrag und firmenbezogener Verbandstarifvertrag – Ein aktueller Rechtsprechungsüberblick, RdA 2012, 129; Belling, Die außerordentliche Anpassung von Tarifverträgen an veränderte Umstände, NZA 1996, 906; Commandeur/ Schaumann, Neuere Entwicklungen im Insolvenzrecht, NZG 2012, 620; Ganter, Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungs- und Schutzschirmverfahren, NZI: 2012, 433; Ganter, Zur drohenden Zahlungsunfähigkeit in § 270b InsO, NZI 2012, 985; Hölzle, Eigenverwaltung im Insolvenzverfahren nach ESUG – Herausforderungen für die Praxis, ZIP 2012, 158; Meyer, Chancen und Grenzen der Anpassung von Tarifverträgen, RdA 1998, 142; Mückl/Krings, Effektive Beendigung der Tarifbindung in der Insolvenz, BB 2012, 769.
I.
Kollektivrechtliche Bindung des Krisenunternehmens
In Krisensituationen finden Berater nicht selten eine Situation vor, in der auf 1 Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite bereits umfangreiche Maßnahmen ergriffen worden sind, die das Unternehmen aus der unternehmerischen Krise führen sollten. Insbesondere im kollektiven Bereich besteht oftmals bereits eine von den Flächentarifverträgen abweichende Regelung, die es ermöglichen sollte, das Unternehmen aus der Krise zu führen. In der Praxis des mit der Sanierung
Frommhold
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
beauftragten Beraters stellen diese Vereinbarungen oftmals eine die Sanierung erschwerende, wenn nicht im Einzelfall unmöglich machende Hürde dar. 2 Die Tarifbindung des Unternehmens kann hierbei auf der Bindung an einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag, § 5 TVG, an einen Verbandstarifvertrag oder einen Firmentarifvertrag beruhen. x
Der Verbandstarifvertrag (auch „Flächentarifvertrag“) kommt zwischen einem Arbeitgeberverband und der zuständigen Gewerkschaft oder den jeweiligen Spitzenorganisationen zustande. § 2 Abs. 1 TVG verleiht dem Arbeitgeber die Tariffähigkeit unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Arbeitgebervereinigung.
x
Der Arbeitgeber kann trotz Verbandszugehörigkeit und trotz eines für ihn gültigen Verbandstarifvertrages einen konkurrierenden oder ergänzenden Firmentarifvertrag abschließen.1) Dieser kommt zwischen einem einzelnen Arbeitgeber und der für dessen Unternehmen zuständigen Gewerkschaft zustande. Die Wirkungen von Firmentarifvertrag und Verbandstarifvertrag sind hierbei identisch. Auch der Firmentarifvertrag gilt unmittelbar nur für die organisierten Arbeitnehmer und nicht für die gesamte Belegschaft. Allerdings wird für die nicht organisierten Arbeitnehmer die Geltung der jeweiligen Tarifverträge über eine Bezugnahme im Arbeitsvertrag vereinbart sein.
x
Unabhängig von der Tarifgebundenheit kraft Organisationszugehörigkeit oder einer einzelvertraglichen Bezugnahme auf die tariflichen Normen findet der Tarifvertrag schließlich unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis Anwendung, wenn es unter den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages fällt, § 5 TVG.
3 Das Verhältnis zweier nebeneinanderstehender Tarifverträge ist nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen: Danach ist im Verhältnis zum Flächentarifvertrag stets der Firmentarifvertrag bzw. der firmenbezogene Verbandstarifvertrag vorrangig anzuwenden.2) 4 Firmentarifverträge und firmenbezogene Verbandstarifverträge kommen häufig in Gestalt sog. Sanierungstarifverträge vor. Diese dienen ihrem Sinn nach dazu, von dem für Arbeitnehmer normativ geltenden Verbandstarifvertrag mit derselben Gewerkschaft abzuweichen und so Kosten zu senken oder Flexibilität zu erreichen.3) Ein solcher ablösender Sanierungstarifvertrag kommt in der Regel in Form eines Haustarifvertrages, gelegentlich eines unternehmensbezogenen Verbandstarifvertrages in Betracht.4) ___________ 1) 2) 3) 4)
200
BAG, Urt. v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, ZIP 2001, 980 = NZA 2001, 788. BAG, Urt. v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 2059. Löwisch/Caspers in: MünchKomm-InsO, § 120 Rz. 42.
Frommhold
I. Kollektivrechtliche Bindung des Krisenunternehmens
Der Sanierungstarifvertrag sieht hierbei regelmäßig in Abhängigkeit von der 5 konkreten Situation des Unternehmens von den Flächentarifverträgen abweichende Vereinbarungen hinsichtlich folgender Punkte vor: x
Verzicht auf Lohn- und Gehaltsbestandteile (regelmäßig in Form des Verzichts auf Urlaubsgeld/Weihnachtsgeld/tarifliche Sonderzahlung; Zuschlagszahlungen oder auf Zeitguthaben);
x
verlängerte Arbeitszeiten mit oder ohne Lohnausgleich (auch in Form zusätzlicher sog. „Qualifizierungszeiten“);
x
Erfolgsbeteiligung für Arbeitnehmer bei entsprechend positivem Geschäftsergebnis;
x
Sicherung der Arbeitsplätze (regelmäßig durch Ausschluss/Beschränkung der Möglichkeiten betriebsbedingter Kündigungen);
x
Standortzusagen;
x
Investitionszusagen.
Grundlagen eines Sanierungstarifvertrages können beispielhaft aus den Rege- 6 lungen des 2004 von der Südmetall und der Gewerkschaft IG Metall entwickelten „Pforzheimer Abkommens“ (auch: „Pforzheimer Vereinbarung“) abgelesen werden, dessen Grundgedanken der flexiblen Abweichung von (Flächen-)Tarifverträgen durch Sanierungstarifverträge mittlerweile Einzug in eine Vielzahl von Tarifregelungen5) gefunden hat. Werden die Bestimmungen eines Sanierungstarifvertrages um konkrete Zuge- 7 ständnisse zu der Erhaltung von Arbeitsplätzen an einem bestimmten Standort erweitert, handelt es sich um einen sog. Standortsicherungstarifvertrag. Durch diesen soll eine konkret angedrohte Standortverlagerung abgewendet werden. Im Gegensatz zu einem ebenfalls zwischen Gewerkschaft und dem einzelnen Unternehmen abgeschlossenen Tarifsozialplan geht es bei einem Standortsicherungstarifvertrag nicht um Regelungen zur Abmilderung der Folgen einer Betriebsschließung aufgrund Verlagerung des Standortes, sondern bereits um die Verhinderung der geplanten Standortverlagerung selbst.6) Daneben besteht in vielen Unternehmen ein dringendes Erfordernis, durch eine 8 Senkung der Lohn- und Gehaltskosten die Sanierung des Unternehmens erst zu ermöglichen. Eine Möglichkeit, Einsparungen im Lohn- und Gehaltsbereich für alle Arbeitnehmer gleichermaßen umzusetzen, ist regelmäßig sinnvollerweise nur durch tarifvertragliche Maßnahmen möglich. Individualrechtliche Maßnahmen, insbesondere der konsensuale Lohnverzicht durch Treffen einer Individualabrede oder die einseitige Möglichkeit der Änderungskündigung, ___________ 5) Z. B. Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für die Metall- und Elektroindustrie (TV Besch). 6) Däubler-Hensche/Heuschmid, TVG, § 1 Rz. 838.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
sind meist nicht praktikabel und bergen ein hohes rechtliches Risiko. Einvernehmliche Maßnahmen scheitern insbesondere in größeren Unternehmen an dem Erfordernis, mit jedem Arbeitnehmer eine individuelle Absenkung zu vereinbaren. Die Änderungskündigung zur Entgeltsenkung wird zwar ausnahmsweise als rechtlich zulässig angesehen. Hierzu müssen regelmäßig besondere Umstände vorliegen, nach denen bei Aufrechterhaltung der bisherigen Personalkostenstruktur weitere, betrieblich nicht mehr auffangbare Verluste entstünden, die absehbar zu einer Reduzierung der Belegschaft oder sogar zu einer Schließung des Betriebs führen würden, sowie durch einen Sanierungsplan alle milderen Mittel ausgeschöpft werden und so die von den Arbeitnehmern zu tragenden Lasten gleichmäßig verteilt werden.7) Selbst wenn diese Umstände im Einzelfall vorliegen, ist die Änderungskündigung aufgrund des Risikos, dass eine Vielzahl betrieblich erforderlicher Arbeitnehmer die Änderungskündigung gerichtlich überprüfen lassen und ggf. sogar – vom Unternehmen nicht gewünscht – aus dem Betrieb ausscheiden, regelmäßig nicht zu empfehlen. 9 Als praktikables Sanierungsinstrument kommt daher regelmäßig nur der Abschluss eines die Sanierung fördernden Tarifvertrages in Betracht. II.
Beendigung bestehender Tarifgebundenheit
1.
Grundsatz der Tarifbindung
10 Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses und die konkretisierenden Regelungen unmittelbar keine Auswirkungen. Ist das Unternehmen bereits an einen Tarifvertrag gebunden, haben weder die Stellung des Insolvenzantrages noch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unmittelbare Auswirkung auf die Tarifbindung des Unternehmens. Tarifnormen gelten gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unmittelbar und zwingend nur zwischen beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen. 11 Gemäß § 80 Abs. 1 InsO tritt der Insolvenzverwalter in die Rechtsstellung und den gesamten Pflichtenkreis des Gemeinschuldners ein und nimmt auch die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband wahr, weshalb sich im Grundsatz nichts an der Gebundenheit an einen Haus- oder Verbandstarifvertrag ändert. Häufig sehen die Satzungen der Arbeitgeberverbände eine Beendigung der Mitgliedschaft vor. In diesen Fällen endet zwar die Stellung als Mitglied einer Tarifvertragspartei; diese führt aber nicht dazu, dass die Tarifverträge, die aufgrund der beiderseitigen Tarifbindung gegolten haben, unanwendbar würden. Gemäß § 3 Abs. 3 TVG wirken die bei Insolvenzeröffnung geltenden Tarifverträge vielmehr nach Beendigung der Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband nach. Erst recht gilt der Grundsatz der Tarifbindung, wenn der Tarifvertrag für all___________ 7) BAG, Urt. v. 26.6.2008 – 2 AZR 139/07, NZA 2008, 1182.
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II. Beendigung bestehender Tarifgebundenheit
gemeinverbindlich erklärt worden ist. Da auch die gegenseitigen Rechte und Pflichten fortbestehen, ist der Insolvenzverwalter an die Tarifverträge in dem Umfang gebunden, in dem die Bindung auch für den Gemeinschuldner galt. Der Insolvenzverwalter bleibt daher auch an einen Haustarifvertrag gebunden. 2.
Lösungsmöglichkeiten Kündigungsfrist: BAG, Urt. v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, AP TVG § 1 Form Nr. 8; BAG, Urt. v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, AP TVG § 1 Kündigung Nr. 2.
Wirtschaftliche Änderungen der Verhältnisse können jedoch das Festhalten am 12 Tarifvertrag unzumutbar machen. Soweit die Tarifbindung auf der Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Arbeitgeberverband beruht, kann der Arbeitgeber die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag beenden oder den Wechsel in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) erklären. 13
Praxishinweis Der Austritt aus dem Arbeitgeberverband ist unter diversen Gesichtspunkten sorgfältig zu bedenken. Nicht zuletzt bei der Verhandlung etwaig erforderlicher neuer Tarifvereinbarungen können die in langjähriger Praxis erworbenen Kenntnisse der Arbeitgebervereinigungen jedenfalls für den nicht tarifverhandlungserprobten Berater wertvoll sein.
Weiteres einseitiges Beendigungsinstrument ist die Kündigung des anzuwen- 14 denden Tarifvertrages. Die ordentliche Kündigung eines Tarifvertrages ist jedenfalls dann, wenn keine Laufzeit ohne Kündigungsmöglichkeit vereinbart ist, möglich. Haben die Tarifparteien im Tarifvertrag selbst keine Regelungen getroffen, so gilt in einer Analogie zu § 77 Abs. 5 BetrVG, § 28 Abs. 2 Satz 4 SprAuG eine Kündigungsfrist von drei Monaten.8) Sind der Firmen- oder der Firmenverbandstarifvertrag aufgrund Kündigung abgelaufen, gelten ihre Rechtsnormen nach § 4 Abs. 5 TVG solange weiter, bis sie durch eine „andere Abmachung“ ersetzt werden. Dies kann sowohl ein neuer Firmentarifvertrag, ein firmenbezogener Verbandstarifvertrag oder ein nach Eintritt der Nachwirkung des Sanierungstarifvertrages abgeschlossener Flächentarifvertrag sein. Tarifverträge sind wie jedes andere Dauerschuldverhältnis aus wichtigem Grund 15 außerordentlich kündbar.9) Da selbst die Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbst nach wohl h. M.10) keinen Grund darstellt, einen Haustarifvertrag außer___________ 8) BAG, Urt. v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, AP TVG § 1 Form Nr. 8; BAG, Urt. v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, AP TVG § 1 Kündigung Nr. 2. 9) Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, Vorb. § 113 Rz. 42. 10) Kittner/Zwanziger-Lakies, ArbR, § 103 InsO Rz. 1; Mückl/Krings, BB 2012, 769; offengelassen BAG, Urt. v. 27.6.2000 – 1 ABR 31/99, ZIP 2001, 129 = NZA 2001, 334.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
ordentlich zu kündigen, gilt dies erst Recht für die Stellung eines Insolvenzantrages. Es bedarf daher grundsätzlich eines weiteren, selbstständigen Grundes für eine außerordentliche fristlose Kündigung. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn die Fortsetzung des Tarifvertrages bis zum vereinbarten Ende oder bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist dem Kündigenden nicht zugemutet werden kann.11) Die Rechtsprechung stellt an die Unzumutbarkeit hohe Anforderungen. Ein wichtiger Grund soll daher auch nicht bereits alleine in einer nicht vorgesehen Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu sehen sein. Die außerordentliche Kündigung eines ordentlich nicht kündbaren Tarifvertrages kommt nur in Betracht, wenn einer Tarifvertragspartei das Festhalten am Tarifvertrag nicht länger zugemutet werden kann. Steigen die Lebenshaltungskosten unerwartet und unvorhersehbar stark an, erhöht sich die Steuerlast erheblich, steigen die Unternehmensgewinne exorbitant oder treten gravierende Unternehmens- und Arbeitsplatzgefährdungen bei Festhalten an den tariflich festgelegten Arbeitsbedingungen ein, kommt eine außerordentliche Kündigung in Betracht.12) 16 Die Kündigung eines Sanierungstarifvertrages kann nur von der einen gegenüber der anderen Tarifpartei ausgesprochen werden. Die Kündigung durch die Gewerkschaft gegenüber einem Betriebserwerber geht ins Leere, ebenso die Kündigung des vermeintlichen Haustarifs durch oder gegenüber dem Arbeitgeber, wenn der Sanierungstarif rechtlich als unternehmensbezogener Verbandstarif einzustufen ist. Ein Firmentarifvertrag wäre daher allenfalls dann kündbar, wenn ausdrücklich das Festhalten an den tariflichen Regelungen statt zur Sanierung zur Stilllegung des Unternehmens führen würde.13) Dies ergibt sich aus der Regelung in § 314 BGB, wonach Dauerschuldverhältnisse – und damit auch der Tarifvertrag – von jedem Teil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden können. Da dem Recht zur außerordentlichen Kündigung der ultima-ratio-Grundsatz immanent ist, muss der Kündigung aus wichtigem Grund der Versuch vorangehen, mit der anderen Tarifvertragspartei Einvernehmen über eine Änderung des Tarifvertrages zu erreichen, welche die Unzumutbarkeit beseitigt.14) 17 Der Tarifvertrag besitzt wie jeder andere Vertrag eine Geschäftsgrundlage, die Störungen unterworfen sein kann. Umstritten ist die Frage, ob diese Störungen oder der Wegfall der Geschäftsgrundlage über § 313 BGB zu einer Lösungsmöglichkeit von dem Tarifvertrag führen.15) Allerdings ist der in § 313 Abs. 1 BGB vorrangig vorgesehene Weg der Vertragsanpassung in Bezug auf Tarifverträge ___________ 11) 12) 13) 14) 15)
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BAG, Urt. v. 18.12.1996 – 4 AZR 129/96, AP TVG § 1 Kündigung Nr. 1. Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 1411. Däubler-Lorenz, TVG, § 3 Rz. 92. Löwisch/Caspers in: MünchKomm-InsO, § 120 Rz. 54. Zum Meinungsstand ausführlich Franzen in: ErfK, § 1 TVG Rz. 36.
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II. Beendigung bestehender Tarifgebundenheit
versperrt, da es einen schwer wiegenden Eingriff in die Tarifautonomie bedeuten würde, wenn Gerichte auf diesem Wege Tarifinhalte festlegen könnten.16) Die Rechtsfolge eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage wäre daher auch nicht die Vertragsanpassung, sondern die Kündigung nach vorherigem Angebot zur Vertragsanpassung, so dass es des Umwegs über das Institut des WGG nicht bedarf. Nicht möglich ist die Beseitigung der Rechtsnormen eines Tarifvertrages durch 18 die Erklärung des Nichteintritts. Zwar hat gemäß § 103 InsO der Insolvenzverwalter ein Wahlrecht, ob ein gegenseitig noch nicht vollständig erfüllter Vertrag erfüllt wird oder ob das Vertragsverhältnis nicht fortgesetzt wird und der Vertragspartner infolgedessen eventuelle Ansprüche nur als Insolvenzgläubiger geltend machen kann. Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechtes ist demgemäß das Vorliegen eines von beiden Seiten noch nicht vollständig erfüllten gegenseitigen Vertrages. Tarifverträge unterfallen nicht dem Wahlrecht des Insolvenzverwalters nach § 103 InsO, weil der normative Teil des Tarifvertrages keinen gegenseitigen Vertrag darstellt.17) Der schuldrechtliche Teil stellt zwar einen gegenseitigen Vertrag dar, enthält jedoch keine vermögensrechtlichen Ansprüche der einzelnen Arbeitnehmer.18) Vereinzelt wird vertreten, dass der Insolvenzverwalter ein Lösungsrecht von 19 geltenden Tarifverträgen gemäß § 120 InsO analog haben müsse.19) Diese Norm räumt dem Insolvenzverwalter das Recht ein, die Insolvenzmasse belastende Betriebsvereinbarungen mit einer Maximalfrist von drei Monaten zu kündigen, selbst wenn keine oder eine längere Kündigungsfrist vereinbart ist. Dem Insolvenzverwalter soll die Möglichkeit eingeräumt werden, sich von Vereinbarungen mit erheblicher Belastung für die Insolvenzmasse zu lösen und damit eine Betriebsfortführung oder eine sanierende Übertragung auf einen Erwerber zu ermöglichen. Aufgrund der zweifelsohne vergleichbaren Interessenlage mit Tarifvereinbarungen mit einer finanziellen Belastung wird teilweise daher befürwortet, dem Insolvenzverwalter das gleiche Recht auch in analoger Anwendung des § 120 InsO auch in Bezug auf Tarifverträge einzuräumen.20) Bedenken begegnet diese Lösung in Bezug auf die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG. 20
Praxishinweis Jedenfalls im Hinblick auf eine höchstrichterliche oder ggf. verfassungsgerichtliche Klärung der Frage der analogen Anwendung des § 120 InsO sollte jedenfalls nur als ultima ratio von diesem Instrument Gebrauch gemacht werden, da damit konsen-
___________ 16) 17) 18) 19) 20)
Meyer, RdA 1998, 142; Belling, NZA 1996, 906. Plössner in: BeckOK-ArbR, § 113 InsO Rz. 4. Uhlenbruck-Wegener, InsO, § 103 Rz. 54; Wegener in: FK-InsO, 6. Aufl., § 103 Rz. 33. Mückl/Krings, BB 2012, 769. Mückl/Krings, BB 2012, 769; a. A.: Löwisch/Caspers in: MünchKomm-InsO, § 120 Rz. 13.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren suale Anpassungs- oder Lösungsmöglichkeit erschwert, wenn nicht ausgeschlossen werden.
3.
Verhandlung eines neuen (Sanierungs-)Tarifvertrages
21 Aufgrund der Probleme bei der Beseitigung der Rechtsfolgen einer Tarifvereinbarung wird grundsätzlich nur die (Neu-)Verhandlung eines Sanierungstarifvertrages zu für die Sanierung erforderlichen Ergebnissen führen. 22 Bereits die Aufnahme von Tarifverhandlungen setzt regelmäßig eine umfangreiche Aufklärung der zuständigen Gewerkschaft über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens voraus. 23
Praxishinweis Aus diesem Grund ist in finanzieller wie zeitlicher Hinsicht zu beachten, dass der Eintritt in (Sanierungs-)Tarifverhandlungen von, in Abhängigkeit von dem Ausmaß der erforderlichen Abweichungen unterschiedlich umfangreichen Vorprüfungen und Plausibilisierung durch von der Gewerkschaft beauftragte – regelmäßig vom Unternehmen zu finanzierende – Sachverständige voraussetzt.
24 Da die Tarifvereinbarungen regelmäßig Besserungsvereinbarungen enthalten, muss sich das Unternehmen bereits bei der Aufforderung zur Aufnahme entsprechender (Sanierungs-)Tarifverhandlungen über die damit einhergehende Transparenzpflicht gegenüber den Arbeitnehmervertretern und der Gewerkschaft im Klaren sein. 25 In Sanierungstarifverträgen wird häufig die Wirksamkeit künftiger betriebsbedingter Kündigungen eingeschränkt und von der vorherigen Zustimmung der Gewerkschaft abhängig gemacht.21) Regelmäßig finden sich in Tarifverträgen zur Standortsicherung sogar Regelungen, die nicht nur einzelne Arbeitnehmer, sondern sogar Gruppen von Arbeitnehmern oder Belegschaften ganzer Standorte vor betriebsbedingten Kündigungen schützen sollen. Solche Regelungen sind problematisch, da hier durch die Herausnahme einzelner aus dem Kreis der zu kündigenden Mitarbeiter eine Regelung zu Lasten der nicht unter den Schutzbereich des Tarifvertrages fallenden Mitarbeiter getroffen wird. Tarifvereinbarungen, welche das Recht des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung einschränken, sind grundsätzlich wirksam. Die Entschließung zu einer Stilllegung von Produktionsstätten, von Betrieben oder Betriebsteilen stellen als Ausprägung der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers ein hohes Gut dar. Soziales Schutzbedürfnis der betroffenen Arbeitnehmer einerseits und Berufsfreiheit des Arbeitgebers andererseits treffen hier direkt aufeinander.22) Der tarifliche Sonderkündigungsschutz für nur einzelne Belegschaften an besonders geschützten Standorten oder nur in der Obergesellschaft ___________ 21) BAG, Urt. v. 24.2.2011 – 2 AZR 830/09, NZA 2011, 708. 22) Wiedemann, TVG, § 1 Rz. 705.
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II. Beendigung bestehender Tarifgebundenheit
vereitelt die Befugnis eines Konzern oder Gesamtbetriebsrats, im Interessenausgleichsverfahren nach §§ 111 ff. BetrVG einen gerechten Lastenausgleich für unterschiedliche Belegschaften herzustellen, die von einer unternehmensoder konzernweiten Personalabbaumaßnahme betroffen sind.23) Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind gemäß § 113 Satz 1 InsO sowohl 26 der Insolvenzverwalter als auch der Arbeitnehmer berechtigt, das Dienstverhältnis ohne Rücksicht auf einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung durch Kündigung zu beenden. Diese Möglichkeit besteht auch, wenn ein Tarifvertrag die Kündigung ausschließen soll. § 113 InsO setzt aufgrund seiner Stellung im 3. Teil der InsO ausdrücklich die Eröffnung des Insolvenzverfahrens voraus und ist damit nach h. M.24) weder direkt noch analog auf den Zeitpunkt nach Insolvenzantragsstellung, aber vor Insolvenzeröffnung anzuwenden. Hiervon losgelöst ist jedoch die Kündigung durch Arbeitgeber auch unter Geltung der InsO an allen anderen Wirksamkeitserfordernissen, insbesondere §§ 1, 17 KSchG, § 102 BetrVG, zu messen. In der Praxis kommt es, insbesondere in Krisenzeiten, dazu, dass sich nicht nur 27 Arbeitgeber und Tarifgewerkschaft, sondern ggf. ergänzend auch der Konzern-, Gesamt- oder Einzelbetriebsrat in einer gemeinsamen, dann dreiseitigen Vereinbarung verpflichten. Diese Vereinbarungen werden regelmäßig dann geschlossen, wenn eine Gemengelage zwischen den auf der Tarifvertragsebene und den im Regelungsbereich des BetrVG zu regelnden Sachverhalten besteht. Wird bspw. ein erheblicher Personalabbau mit tariflichen Lohnverzichten bei gleichzeitiger Standortsicherung in einer Vereinbarung verknüpft, sind sowohl die Anwendungsbereiche des TVG (Absenkung der Tariflohnstruktur) wie auch die des BetrVG (Betriebsänderungen bei Kündigungen oberhalb der Schwellenwerte der §§ 111 f. BetrVG, § 17 KSchG) tangiert. Daneben werden insbesondere Vereinbarungen in Krisenzeiten, die mit empfindlichen Einbußen für die Arbeitnehmer einhergehen, oftmals aufgrund der erhofft größeren Akzeptanz nicht nur von dem für Teilbereiche, z. B. §§ 11 ff. BetrVG, zuständigen Betriebsrat, sondern auch von der für andere Teilbereiche mit Bezug zum TVG zuständigen Gewerkschaft geschlossen, um so ein zwischen allen Arbeitnehmervertretern gegebenes konsensuales Vorgehen zu demonstrieren.25) Da die Wirksamkeit solcher dreiseitigen Standortsicherungsvereinbarungen, an denen neben Arbeitgeber und Gewerkschaft der nicht tariffähige Betriebsrat mitwirkt, umstritten
___________ 23) Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 1978. 24) BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = BB 2005, 1685. 25) Ahrendt, RdA 2012, 129.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
ist und teilweise als schlechthin unwirksam26) angesehen wird, ist im Zweifel vom Abschluss dieser Vereinbarungen abzuraten. 28
Praxishinweis Üblicherweise werden, jedenfalls bei einem entsprechenden Organisationsgrad der Mitarbeiter im Unternehmen, die Abschlüsse der Betriebsvereinbarungen, des Interessenausgleichs und des Sozialplans mit den Tarifabschlüssen verknüpft. Es empfiehlt sich hier jedoch, die mit den jeweils unterschiedlichen Vertragspartnern abzuschließenden Regelungen auch in getrennten Vereinbarungen niederzulegen.
4.
Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang Kündigung eines Sanierungstarifvertrags nach Betriebsübergang: BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, ZIP 2010, 344 = BeckRS 2009, 72823
29 Tarifverträge gelten gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB individualrechtlich beim Betriebserwerber fort, sofern keine unmittelbare Tarifbindung des Betriebserwerbers besteht. 30 Nach einem Betriebsübergang gilt auch ein Firmentarifvertrag beim Erwerber lediglich nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, nicht aber tarifrechtlich weiter.27) Anderes gilt nur dann, wenn der Erwerber die tarifrechtliche Geltung mit der am Tarifvertragsabschluss beteiligten Gewerkschaft in der Form des § 1 Abs. 2 TVG vereinbart. Der Erwerber eines durch einen Firmentarifvertrag erfassten Betriebs ist damit vor einem automatischen Rückfall auf die alten Arbeitsbedingungen geschützt. 31 Der Übergang eines Betriebes, für den ein Firmentarifvertrag abgeschlossen wurde, führt nicht dazu, dass dieser Tarifvertrag zwischen den vormaligen vertragsschließenden Parteien nicht mehr gilt. Allein der Umstand, dass es aufgrund der Betriebsveräußerung an einem (räumlichen) Anwendungsbereich für den Firmentarifvertrag fehlt, weil der Insolvenzverwalter bezogen auf den veräußerten Betrieb seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, folgt nicht, dass der Tarifvertrag rechtlich keinen Bestand mehr hat.28) Eine Kündigung der bestehenden tariflichen Regelungen durch die Gewerkschaft gegenüber dem Insolvenzverwalter ist zwar zulässig, beseitigt aber nicht die Transformation des Standortsicherungstarifvertrages in das Arbeitsverhältnis gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und führt damit nicht zu einem Wiederaufleben der abgelösten Verbandstarifverträge. Schließen ein Insolvenzverwalter und die Gewerkschaft einen Sanierungstarifvertrag, kann dieser nach einem Betriebsübergang auf eine nicht ___________ 26) Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz. 58; nach BAG, Urt. v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, ZIP 2008, 1544 = NZA 2008, 1074, muss jedenfalls klar aus der Vereinbarung hervorgehen, dass es sich um einen Tarifvertrag handelt. 27) BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, ZIP 2010, 344 = BeckRS 2009, 72823. 28) Däubler-Deinert, TVG, § 4 Rz. 77.
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III. Besonderheiten im Insolvenzantrags-, insb. Schutzschirmverfahren
tarifgebundene Erwerberin nicht durch Kündigungserklärung ihr gegenüber beendet werden. Auch dem Arbeitnehmer steht hinsichtlich für ihn nachteiliger Rechte und Pflichten kein Teilkündigungsrecht zu.29) III.
Besonderheiten im Insolvenzantrags-, insb. Schutzschirmverfahren
Neben dem Schutz der Gläubiger besteht die grundsätzliche Intention der InsO 32 vorrangig in der Sanierung der von der Insolvenz betroffenen Unternehmen. Aus diesem Grund enthalten die §§ 103 und 120 – 128 InsO Sonderregeln, die das allgemeine Arbeitsrecht modifizieren und die Restrukturierung insolventer Unternehmen erleichtern sollen. Die Geltung der erleichternden Bestimmungen des Insolvenzarbeitsrechts ist jedoch geknüpft an die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Arbeitgeberstellung auf den Insolvenzverwalter über, § 80 Abs. 1 InsO; er rückt mit der Eröffnung in die Arbeitgeberstellung ein und nimmt sämtliche hiermit verbundenen Rechte ein. 1.
Grundzüge des Schutzschirmverfahrens
Der Gesetzgeber hat in § 270b InsO durch Implementierung des sog. Schutz- 33 schirmverfahrens eine sanierungsorientierte Modifizierung des vorläufigen Insolvenzverfahrens vorgesehen. Mit dem Schutzschirm soll dem Schuldner zwischen Eröffnungsantrag und Verfahrenseröffnung ein eigenständiges Sanierungsverfahren zur Verfügung gestellt werden.30) Dem schuldnerischen Unternehmen soll es möglich sein, unter Beibehaltung der handelnden Organe eine finanz- und ggf. auch leistungswirtschaftliche Restrukturierung i. R. eines Insolvenzplanverfahrens vorzubereiten.31) Des Weiteren sieht der Schutzschirm einen für den Schuldner disponiblen 34 Vollstreckungsschutz und die Vermeidung weitergehender Sicherungsmaßnahmen des Eröffnungsverfahrens vor. Im Schutzschirmverfahren hat der Schuldner das Recht, den nur überwachend 35 tätigen vorläufigen Sachwalter vorzuschlagen; das Gericht darf von diesem Vorschlag nur abweichen, wenn die vorgeschlagene Person offensichtlich nicht geeignet ist. Insbesondere ist die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters ausgeschlossen. In diesem bis zu drei Monaten dauernden Zeitraum soll der Schuldner Gelegenheit haben, einen Insolvenzplan auszuarbeiten. Die Regelung soll das Vertrauen der Schuldner in das Insolvenzverfahren stärken 36 und gleichzeitig einen Anreiz schaffen, frühzeitig einen Eröffnungsantrag zu ___________ 29) BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, ZIP 2010, 344 = BeckRS 2009, 72823. 30) Begr. RegE, BT-Drucks. 17/5712, S. 60. 31) Koch in: Kübler, HRI, § 7 Rz. 4.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
stellen. Das Schutzschirmverfahren stellt damit eine besondere Ausgestaltung des Insolvenzeröffnungsverfahrens dar. 37 Da die Einführung des Schutzschirmverfahrens das Instrument der Vorfinanzierung der Arbeitsentgeltansprüche nach § 170 Abs. 4 SGB III unberührt gelassen hat, besteht grundsätzlich wie bei der Eigenverwaltung im Eröffnungsverfahren gemäß § 270a InsO auch während der Eigenverwaltung unter einem Schutzschirm gemäß § 270b InsO die Möglichkeit der kollektiven Vorfinanzierung von Arbeitsentgeltansprüchen, nachdem der Schuldner den Eröffnungsantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung gestellt und das Gericht das Schutzschirmverfahren angeordnet sowie einen vorläufigen Sachwalter bestellt hat.32) Die Gewährung von Insolvenzgeld hängt auch im Fall einer vorläufigen Eigenverwaltung unter einem Schutzschirm vom Eintritt eines (späteren) Insolvenzereignisses ab. Kommt es z. B. zu einer Sanierung des Unternehmens, ohne dass das Gericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens anordnet oder den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse ablehnt, scheidet die Gewährung von Insolvenzgeld ggf. auch trotz vorheriger Genehmigung der Vorfinanzierung aus.33) 38 Voraussetzung für den Antrag auf Anordnung eines Schutzschirms ist die noch vorhandene Zahlungsfähigkeit des Schuldners; entsprechend dürfen lediglich die Insolvenzgründe Überschuldung, § 19 InsO, oder drohende Zahlungsunfähigkeit, § 18 InsO, vorliegen. Indes hindert der spätere Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nach allgemeiner Ansicht34) nicht; vielmehr soll hier die – allerdings unverzügliche – Mitteilung an das Insolvenzgericht genügen, § 270b Abs. 4 Satz 3 InsO. 39 Der Antrag auf Einleitung des Schutzschirmverfahrens gemäß § 270b InsO muss des Weiteren die Anordnung der Eigenverwaltung der Schuldnerin beinhalten, da Ziel des Schutzschirms die Sanierung des schuldnerischen Unternehmens in Eigenverwaltung ist. 40 Das Insolvenzgericht wird auf Antrag des Schuldners die folgenden Anordnungen treffen:35) x
Bestellung eines vorläufigen Sachwalters, § 270a Abs. 1 InsO;
___________ 32) Weisungen der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 5/2013 – Insolvenzgeld, abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/HEGA-Internet/A07Geldleistung/Publikation/HEGA-06-2013-Aktualisierung-DA-Insg-und-DA-AtGAnlage-1.pdf (Abrufdatum: 26.7.2013). 33) Weisungen der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 5/2013 – Insolvenzgeld, abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/HEGA-Internet/A07Geldleistung/Publikation/HEGA-06-2013-Aktualisierung-DA-Insg-und-DA-AtGAnlage-1.pdf (Abrufdatum: 26.7.2013). 34) Nerlich/Römermann-Riggert, InsO, § 270b Rz. 38; Ganter, NZI 2012, 985. 35) Braun-Riggert, InsO, Vor §§ 270 – 285 Rz. 6.
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III. Besonderheiten im Insolvenzantrags-, insb. Schutzschirmverfahren
x
Anordnung eines Vollstreckungsverbots gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO auf Antrag des Schuldners;
x
Fristsetzung von bis zu maximal drei Monaten, binnen derer ein Insolvenzplan vorzulegen ist (Schutzschirmzeitraum);
x
Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach § 21 Abs. 1 und 2 Satz 1 Nr. 1a, 3 – 5 (insbesondere Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses und Gewährung von Nutzungsrechten hinsichtlich der Gegenstände, die mit Aus- und Absonderungsrechten belastet sind) nach richterlichem Ermessen.
Wenn das Konzept, das dem Schutzschirm zugrunde lag, sich offensichtlich 41 nicht plangemäß entwickelt, hat das Insolvenzgericht gemäß § 270b Abs. 4 Satz 3 InsO nach Aufhebung der Anordnung oder nach Ablauf der zunächst für den Schutzschirm gesetzten Frist über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu entscheiden. Ob die Insolvenzgerichte zukünftig neben dem vom Schuldner vorgeschlagenen Sachwalter einen weiteren, vom Sachwalter personenverschiedenen Sachverständigen bestellen, der als neutrale, schuldnerfremde Person den Prozess überwacht und parallel prüft, ob das Vermögen des Schuldners die Verfahrenskosten deckt, bleibt abzuwarten, ist aber überwiegend wahrscheinlich und in der Vergangenheit bereits erfolgt.36) Hinsichtlich der Begründung von Masseverbindlichkeiten findet im Schutz- 42 schirmverfahren § 270b Abs. 3 InsO Anwendung: Die Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten, mithin auch die Möglichkeit zur Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes, wird nur dem Schuldner selbst erteilt. Das gleiche soll nach teilweise vertretener Ansicht im Verfahren gemäß § 270a InsO gelten.37) Nach a. A. soll die Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten nur dem vorläufigen Sachwalter eingeräumt werden.38) Eine analoge Ausweitung auf die vorläufige Eigenverwaltung ist aufgrund der Besonderheiten des Schutzschirmverfahrens (insbesondere: keine Zahlungsunfähigkeit des Schuldners bei Antragstellung) nicht möglich. 43
Praxishinweis Insbesondere bei der Begründung von Masseverbindlichkeiten zum Zwecke der Insolvenzgeldfinanzierung sollte frühzeitig in Abstimmung mit dem Insolvenzgericht, der Bundesagentur für Arbeit, den Organen der Schuldnerin und dem vorläufigen Sachwalter das Procedere festgelegt werden, um in der zeitkritischen Phase unmittelbar nach Insolvenzantragstellung Verzögerungen zu vermeiden.
___________ 36) Commandeur/Schaumann, NZG 2012, 620. 37) LG Duisburg, Beschl. v. 29.11.2012 – 7 T 185/12, ZIP 2012, 2453 = NZI 2013, 91. 38) AG Hamburg, Beschl. v. 4.4.2012 – 67g IN 74/12, ZIP 2012, 787 = NZI 2012, 566.
Frommhold
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
2.
Ablauf des Schutzschirmverfahrens
44 Abb. 1: Übersicht Voraussetzung
• drohende Zahlungsunfähigkeit, § 18 InsO oder • Überschuldung, § 19 InsO • nicht: Zahlungsunfähigkeit, § 17 InsO
Maßnahmen der Schuldnerin (zwingender Inhalt)
• • • •
Maßnahmen der Schuldnerin (fakultativer Inhalt)
• Vorschlag der Person des Sachwalters • Anregung der Anordnung von Verfügungsbeschränkunen, §§ 270b Abs. 2, 21 Abs. 2 InsO
Maßnahmen des Gerichts
Maßnahmen unter dem Schutzschirm
Maßnahmen des Sachwalters/Sachverständigen
Beendigung des Schutzschirmverfahrens
Stellung eines Eröffnungsantrags Antrag auf Eigenverwaltung Antrag auf Durchführung der Sanierungsvorbereitung Vorlage einer Bescheinigung einer qualifizierten Person, dass drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, aber keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt und die angestrebte Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist.
• Fristsetzung zur Vorlage eines Insolvenzplans (max. 3 Monate) • Anordnung von Sicherungsmaßnahmen; insb. • Bestellung eines vorläufigen Sachwalters nach § 270b Abs. 2 S. 1 iVm. § 270 a Abs. 1 S. 2 InsO • nur ausnahmsweise: Verfügunsbeschränkungen gem. § 21 InsO • Auf Antrag des Schuldners: Anordnung des Insolvenzgericht, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründen kann, § 270b Abs. 3 InsO • ggf. Einsetzung eines Sachverständigen (idR. personenidentisch mit Sachwalter) • • • •
Betriebsfortführung Begründung von Masseverbindlichkeiten ggf. Vorfinanzierung Insolvenzgeld ggf. Umsetzung operativer Restrukturierungsmaßnahmen
• • • •
Überwachung des Schuldners Übernahme der Kassenführung, § 275 Abs. 2 InsO Erstattung von Zwischenberichten Erstattung des SV-Gutachten, insbesondere zum Vorliegen der Voraussetzungen zu • Insolvenzeröffnung • Eigenverwaltung
• Vorlage Insolvenzplan durch Schuldner • Entscheidung über Verfahrenseröffnung durch Insolvenzgericht: • Regelinsolvenzverfahren • Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung • Bestellung des Insolvenzverwalters / Sachwalters
Quelle: Eigene Darstellung
45 Voraussetzungen: x
Drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) oder Überschuldung (§ 19 InsO);
x
Eröffnungsantrag des Schuldners;
x
Antrag auf Eigenverwaltung;
x
Antrag auf Durchführung der Sanierungsvorbereitung; insb. Vorlage einer Bescheinigung einer qualifizierten Person, dass drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, aber keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt und die angestrebte Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist.
46 Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, so entscheidet das Insolvenzgericht über die Rechtsfolgen: x
Fristsetzung zur Vorlage eines Insolvenzplans; maximal drei Monate;
x
Bestellung eines vorläufigen Sachwalters nach § 270a Abs. 1 InsO;
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III. Besonderheiten im Insolvenzantrags-, insb. Schutzschirmverfahren
x
Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach § 21 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3 – 5 InsO;
x
auf Antrag des Schuldners: Anordnung des Insolvenzgericht, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründen kann, § 270b Abs. 3 InsO.
3.
Arbeitsrechtliche Situation
Das Schutzschirmverfahren, als besondere Ausgestaltung des Insolvenzantrags- 47 verfahrens, hat zunächst grundsätzlich keine Auswirkungen auf die arbeitsrechtlichen Beziehungen im schuldnerischen Unternehmen. Der bisherige Arbeitgeber bleibt trotz des Antrags auf Schutzschirmverfahren in der Arbeitgeberstellung. Sämtliche arbeitsvertraglichen Grundlagen werden von der Antragstellung nicht berührt. Gestaltungsmöglichkeiten bietet das Schutzschirmverfahren im Hinblick auf 48 die Frist gemäß § 270b Abs. 1 Nr. 2 InsO. Die Dauer des Schutzschirmverfahrens beträgt maximal drei Monate, wobei diese Frist theoretisch verkürzt, keinesfalls jedoch verlängert werden kann. Innerhalb dieses Drei-Monats-Zeitraums ist daher der Insolvenzplan aufzustellen. Bestandteil des Insolvenzplans muss u. a. die Gruppenbildung gemäß § 222 InsO sein, wobei in jedem Verfahren, in dem die Arbeitnehmer mehr als nur unerhebliche Forderungen haben, für diese eine eigene Gruppe zu bilden ist, § 222 Abs. 3 InsO. Im Insolvenzplanverfahren ist die Schlechterstellung einzelner Gläubigergruppen, also die Reduzierung der Befriedigungsabsichten gegenüber der in einem Regelinsolvenzverfahren zu erwartenden Befriedigung, nur bei Zustimmung aller betroffenen Insolvenzgläubiger möglich.39) Ansprüche der Arbeitnehmer können daher im Insolvenzplan geregelt werden. Unproblematisch ist dies für Insolvenzforderungen der Fall, denn ein Verzicht i. S. von § 4 Abs. 3 TVG oder § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG wird in er Regel wegen der wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit dieser Ansprüche nicht vorliegen. Soll die Sanierung daher durch besondere Zugeständnisse einzelner Gläubiger- 49 gruppen – etwa der Arbeitnehmer – ermöglicht werden, wird auch die Bescheinigung gemäß § 270b InsO sich über die in Aussicht genommenen Maßnahmen verhalten müssen. Damit besteht im Schutzschirmverfahren ein besonderes Interesse daran, jedenfalls innerhalb der Dauer des Schutzschirmes den Insolvenzplan im Einzelnen auszuarbeiten, die dort getroffenen Regelungen auf ihre Konsensfähigkeit zu überprüfen und – bestenfalls – i. S. eines „Pre-PackagedPlans“ gemäß § 218 Abs. 1 Satz 2 InsO auszuarbeiten. Die vom Schuldner angestrebte Sanierung muss bereits in der beim Antrag auf das Schutzschirmverfahren vorzulegenden Bescheinigung als „nicht offensichtlich aussichtslos“ bestätigt werden. Daher sind bei einer angestrebten Sanierung unter Einbeziehung ___________ 39) Hölzle, ZIP 2012, 158, 161.
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§ 11 Standortsicherungsvereinbarungen: Arbeitsrecht im Schutzschirm-Verfahren
erheblicher Verzichte der Arbeitnehmer bereits vor Antragstellung jedenfalls die grundsätzliche Bereitschaft der Arbeitnehmer und ggf. zuständigen Gewerkschaft, diese Verzichte zu leisten, zu eruieren. Den Betriebspartnern und Tarifvertragsparteien kommt damit bereits im Vorfeld der Insolvenzeröffnung die Aufgabe zu, wesentliche Sanierungsmaßnahmen jedenfalls vorzuverhandeln, um dem Aussteller der Bescheinigung gemäß § 270b InsO die Möglichkeit zu geben, zu etwaigen Verzichten Aussagen i. R. der Bescheinigung zu treffen. Jedenfalls dürfte eine ernsthafte Verweigerung zu dringend benötigten Arbeitnehmerbeiträgen bei der Beurteilung der Frage nach der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens nicht unerwähnt bleiben. 50 Spätestens nach Ablauf der Drei-Monats-Frist gemäß § 270b Abs. 1 Satz 2 InsO endet der Schutzschirmzeitraum, innerhalb dessen dem Schuldner und seinen Beratern die Möglichkeit gegeben werden sollte, eine Eigensanierung zu konzipieren und diese im eröffneten Insolvenzverfahren umzusetzen. Binnen dieses Zeitraums sollten die von den Arbeitnehmern erwarteten und für die Sanierung gemäß dem vorzulegenden Plan erforderlichen Verzichte (vor-)verhandelt und ggf. im gestaltenden Teil des Insolvenzplans abgebildet werden. Da sowohl Betriebsrat als auch Sprecherausschuss gemäß § 232 Abs. 1 Nr. 1 InsO das Recht zur Stellungnahme zum vorgelegten Insolvenzplan haben, sollte bereits aus diesem Grund der wesentliche Teil der Verhandlungen abgeschlossen und eine mehr als nur vage Aussicht, etwaig im Plan abgebildete Sanierungsmaßnahmen und Verzichte kurzfristig umsetzen zu können, bestehen. Das Schutzschirmverfahren dürfte insoweit zu einer deutlichen Straffung der (Tarif-)Verhandlungen bei der angestrebten Sanierung führen. Das Bedürfnis, innerhalb von drei Monaten Verhandlungsergebnisse zwar nicht unterschrieben, aber jedenfalls ihren wesentlichen Grundzügen nach verhandelt zu haben, dürfte die sonst bei Tarifvertragsverhandlungen gelegentlich anzutreffenden Verzögerungstaktiken bis hin zu Arbeitskampfmaßnahmen weitgehend verhindern. Andererseits dürften insbesondere bei komplexen Sanierungsprozessen in größeren Verfahren die erforderlichen Vorarbeiten im Vorfeld der Tarifverhandlungen, wie etwa die sachverständige Begutachtung der Unternehmenskennzahlen und Finanzplanung kaum zu leisten sein. Hier ist eine sorgfältige Vorbereitung bereits im Vorfeld der Antragstellung unabdingbar. 51 Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens und erfolgter Anordnung der Eigenverwaltung finden über § 279 InsO sodann die §§ 103 bis 128 InsO dem Grunde nach auch in der Eigenverwaltung Anwendung. Damit bestehen zunächst keine Besonderheiten zwischen dem Arbeitsrecht im Regelinsolvenzverfahren und der Eigenverwaltung. An die Stelle des Insolvenzverwalters tritt der Schuldner; gleichzeitig werden jedoch dem Sachwalter Kompetenzen und Befugnisse eingeräumt: x
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Die Kündigungserleichterungen des § 113 Abs. 1 InsO gelten auch im Verfahren über die Eigenverwaltung, wenn der Sachwalter zustimmt. Gleiches Frommhold
III. Besonderheiten im Insolvenzantrags-, insb. Schutzschirmverfahren
gilt für die Regeln über die Aufstellung des Sozialplans, §§ 123 f. InsO, sowie die Vereinbarung über den Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste, § 125 InsO. Fehlt die Zustimmung des Sachwalters, soll dies jedoch weder zur Unwirksamkeit der ohne Zustimmung ausgesprochenen Kündigung noch zur Unwirksamkeit des Sozialplans oder Interessenausgleichs mit Namensliste führen.40) x
Die Regelungen über die erleichtere Kündigungsmöglichkeit für Betriebsvereinbarungen, der Möglichkeit, im Beschlussverfahren eine Betriebsvereinbarung vorzeitig durchzuführen und die Möglichkeit zur Durchführung eines Beschlussverfahrens zum Kündigungsschutz, § 126 InsO, sollen nur dann Anwendung finden, wenn die Zustimmung des Sachwalters vorliegt.
Letztlich bietet das Schutzschirmverfahren gegenüber einem „konventionellen“ 52 Insolvenzantragsverfahren mit gleichzeitiger Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters keine zusätzlichen Sanierungswerkzeuge, aber ermöglicht durch das Erfordernis der Vorlage eines Insolvenzplans bis zur Verfahrenseröffnung besondere Gestaltungsmöglichkeiten. Ob dies für die Einschätzung des Schutzschirmverfahrens als „sanierungsfreundliches“ Insolvenzantragsverfahren ausreicht, bleibt abzuwarten.
___________ 40) Zwanziger, ArbR der InsO, Einf. Rz. 336 f.
Frommhold
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Teil I Rechtsgrundlagen Einführung des Herausgebers: Für Juristen wie Nicht-Juristen gleichermaßen gilt: Ohne einen „Blick ins Gesetzbuch“ – und wenn auch nur im Wege eines „Überblicks“ – keine „Rechtsfindung“. Gerade der Grenzbereich vor und nach Insolvenzeröffnung birgt erhebliche Handlungsspielräume, die vor allem aus einem „Paradigmenwechsel des Insolvenzarbeitsrechts“ folgen, also den arbeitsrechtlichen Erleichterungen in der eröffneten Insolvenz. Das nachfolgende Kapitel gibt hierzu einen guten „Praktiker-Überblick“ als Einführung für alle Leser dieses Sammelbandes.
§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft Übersicht I. Einleitung........................................... 1 II. Arbeitsrecht und seine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit .................................... 2 1. Das Kündigungsschutzgesetz............ 2 2. Interessenausgleich und Sozialplan nach dem BetrVG..................... 19 3. Der Betriebsübergang nach § 613a BGB ....................................... 28 III. Sanierungsarbeitsrecht außerhalb der Insolvenz: Interessenausgleich mit Namensliste ............. 34 IV. Sanierungserleichterungen im Insolvenzverfahren ......................... 37
1.
Verkürzung der Kündigungsfristen und Kündigungserleichterungen in der InsO .......................... 38 2. Interessenausgleich und Sozialplan in der Insolvenz ....................... 42 3. Besonderheiten zum Kündigungsschutz in der Insolvenz .......... 49 4. Betriebsveräußerung in der Insolvenz........................................... 50 5. Das Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung ............................... 57 V. Fazit .................................................. 63
Literatur: Backes (Hrsg.), Transfergesellschaften, Grundlagen, Instrumente, Praxis 2. Aufl., 2009; Reinhard, Die Pflicht zur Unterrichtung über wirtschaftliche Folgen eines Betriebsübergangs – ein weites Feld, NZA 2009, 63; Rupp, Das Problem widersprüchlicher Unterrichtungen bei § 613a V BGB, NZA 2007, 301.
I.
Einleitung
Sanierung und Arbeitsrecht stehen in enger Wechselbeziehung. Einerseits führen 1 wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Schwierigkeiten des Arbeitsrechts unterlassene oder aufgeschobene Personalentscheidungen oft erst in eine Situation, in der Sanierungen erforderlich werden. Auf der anderen Seite bietet das Arbeitsrecht vor allem nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens als Sanierungsarbeitsrecht eine Reihe von Instrumentarien, die wesentlich zum Gelingen einer Sanierung beitragen können. Hier sollen deshalb für den eiligen Leser zunächst die Regelungskomplexe des Arbeitsrechts skizziert werden, welche die unternehmerische Freiheit bei der Umsetzung von Sanierungsentscheidungen einschränken und sich damit auf die Kosten eines Unternehmens erheblich auswirken. Danach werden die Vorschriften erläutert, die Ausnahmen oder Einschränkungen zu den vorgenannten Regelungen zulassen, damit durch Kostenentlastungen Sanierungen möglich werden. In den Folgekapiteln werden diese Themen dann vertieft und detailliert. II.
Arbeitsrecht und seine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit
1.
Das Kündigungsschutzgesetz
Der Abbau von Arbeitsplätzen i. R. einer Sanierung ist nur in Kleinstbetrieben 2 ohne weiteres möglich. Soweit in einem Betrieb regelmäßig mehr als zehn ArKöhler-Ma/Witt
3
§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
beitnehmer beschäftigt werden, findet gemäß § 23 KSchG der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG Anwendung.1) 3 Selbst wenn aber Betriebe wegen geringer Größe nicht in den Anwendungsbereich des KSchG fallen, muss bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen nach der Rechtsprechung des BVerfG ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme beachtet werden.2) Die auf diese Entscheidung hin entstandene Befürchtung, dass dadurch die Maßstäbe des KSchG nunmehr auch für Kleinstbetriebe angewendet würden, erwies sich aber als unbegründet. Weder erweiterte sich die Zahl der Kündigungsschutzprozesse auf Kleinstbetriebe signifikant, noch wurde von den ArbG die Forderungen nach einem Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme über die Wirkung eines Willkürverbotes hinaus erweitert. 4 Darüber hinaus sind Arbeitsverhältnisse in Kleinstbetrieben zwar von der Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes ausgenommen, dies gilt jedoch nicht für den besonderen Kündigungsschutz bestimmter Arbeitsverhältnisse. Dieser besondere Kündigungsschutz gilt unabhängig von der Betriebsgröße. Es gibt eine Vielzahl von Sonderkündigungsschutzbestimmungen, die sich sowohl in der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung als auch in Gesetzen außerhalb des Arbeitsrechts finden.3) Die am häufigsten zur Anwendung kommenden besonderen Kündigungsschutzbestimmungen sind die für schwerbehinderte Personen, Personen in der Elternzeit und für Schwangere. Der Sonderkündigungsschutz ist für die jeweils besonders geschützten Personen unterschiedlich ausgestaltet. Während bei Personen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 % und einer Betriebszugehörigkeit von mindestens sechs Monaten die jeweils zuständigen Versorgungsämter einer Kündigung grundsätzlich zustimmen müssen,4) beschränkt sich der Kündigungsschutz für Eltern in der Elternzeit auf einen bestimmten Zeitraum.5) Schwangere können generell nicht gekündigt werden, wenn der Arbeitgeber von der Schwangerschaft weiß oder erfährt.6) ___________ 1) Bis zum 31.12.2003 lag der Schwellenwert, ab dem die Arbeitsverhältnisse in dem Betrieb dem allgemeinen Kündigungsschutz unterlagen, sogar noch bei fünf Arbeitnehmern. Dieser Altschwellenwert gilt aus Gründen des Bestandsschutzes nach wie vor für solche Arbeitsverhältnisse, die im Zeitpunkt der Gesetzesänderung bereits Kündigungsschutz hatten und nach der alten Regelung jetzt immer noch Kündigungsschutz hätten. Dieser darf aber nicht dadurch verloren gegangen sein, dass – wenn auch nur vorübergehend – die Belegschaftsstärke unter die Grenze von fünf Arbeitnehmer gefallen ist. 2) BVerfG, Beschl. v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, ZIP 1998, 705 = NJW 1998, 1475. 3) Z. B. § 4 f Bundesdatenschutzgesetz (BDSG): Kündigungsschutz des Datenschutzbeauftragten. 4) §§ 85 ff. SGB IX; Schaub-Koch, Arbeitsrechts-Hdb., § 19 ff. 5) § 18 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG); Schaub-Linck, Arbeitsrechts-Hdb., § 172 Rz. 51 ff. 6) § 9 Mutterschutzgesetz (MuSchG); Schaub-Linck, Arbeitsrechts-Hdb., § 169 Rz. 8 f.; Schrader/Straube, Insolvenzarbeitsrecht, Kap. VI. Betriebsbedingte Kündigung in der Insolvenz, Rz. 155 ff.
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II. Arbeitsrecht und seine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit
Sonderkündigungsschutz gibt es auch für Betriebsratsmitglieder und die Wahlvorstände bei den Betriebsratswahlen. Das dies regelnde BetrVG findet bereits Anwendung bei einer Betriebsgröße von fünf Arbeitnehmern. Betriebsräte und der für sie geltende Sonderkündigungsschutz können also auch bereits in Kleinstbetrieben bestehen. Überschreitet die Betriebsgröße den Schwellenwert von zehn Arbeitnehmern, so 5 unterliegen Arbeitsverhältnisse, die länger als sechs Monate bestehen, dem allgemeinen Kündigungsschutz. Gemäß § 1 KSchG ist dann eine Kündigung nur wirksam, wenn ein betriebsbedingter Grund vorliegt, Sozialauswahlkriterien ausreichend berücksichtigt worden sind und der zu kündigende Arbeitnehmer nicht auf einem anderen Arbeitsplatz beschäftigt werden kann.7) Ein betriebsbedingter Grund setzt immer eine unternehmerische Organisati- 6 onsentscheidung voraus, mit welcher der Arbeitgeber auf eine bestimmte wirtschaftliche Situation des Betriebes reagiert. Es ist also nicht die wirtschaftliche Situation selbst, die zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt, sondern erst die Entscheidung des Arbeitgebers, Arbeitsplätze abzubauen. Nicht die Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens ist der betriebsbedingte Grund, sondern die Umsetzung eines Sanierungskonzeptes, welches den Abbau bestimmter Arbeitsplätze beinhaltet. Die Entscheidung zum Abbau bestimmter Arbeitsplätze kann von den ArbG nur eingeschränkt überprüft werden. Die Überprüfung beschränkt sich darauf, ob x
diese Entscheidung im Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung vorlag,
x
der Beschäftigungsbedarf für den konkreten Arbeitnehmer entfallen ist und ob
x
die Umsetzung der Entscheidung nicht gegen sonstige Gesetze oder Tarifverträge verstößt.
x
Sie beschränkt sich des Weiteren darauf, ob die Entscheidung für den konkreten Arbeitsplatzabbau offenbar unvernünftig, willkürlich oder unsachlich ist.8)
Ob dem ArbG die unternehmerische Entscheidung als wirtschaftlich sinnvoll 7 oder notwendig erscheint, darf in einem Arbeitsgerichtsprozess nicht überprüft werden. Es ist nicht Sache der Gerichte, dem Unternehmen ein besseres oder richtigeres Sanierungskonzept vorzuschreiben und damit in seine Kostenkalkulation einzugreifen.9) Hat der Unternehmer eine innerbetriebliche Organisationsentscheidung einmal beschlossen und auch konsequent durchgeführt, so wird grundsätzlich vermutet, dass diese Entscheidung auch aus sachli___________ 7) Die daneben bestehende Möglichkeit, Arbeitnehmer wegen individuellen Fehlverhaltens o. Ä. zu kündigen, wird hier im Kontext des Sanierungsarbeitsrechts nicht weiter erörtert. 8) St. Rechtsprechung, vgl. BAG, Urt. v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139 ff. 9) Vgl. BAG, Urt. v. 26.9.2002 – 2 AZR 636/01, ZIP 2003, 733 = NJW 2003, 2116.
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
chen Gründen und nicht etwa rechtsmissbräuchlich erfolgt ist. Insofern gehört es zu der vom GG garantierten unternehmerischen Freiheit, darüber zu entscheiden, welche Größenordnung ein Unternehmen haben soll und auch festzulegen, ob bestimmte Arbeiten weiter im eigenen Betrieb ausgeführt oder ausgelagert werden sollen. Deshalb muss in einem Kündigungsschutzprozess der Arbeitnehmer darlegen und beweisen, dass eine Sanierungsmaßnahme eben doch unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist. Insgesamt sollte ein durchdachtes und schlüssiges Sanierungskonzept vor dem ArbG dieser eingeschränkten Überprüfung standhalten. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass gerade in der ersten Instanz die Gerichte oft die Grenzen dieser nur eingeschränkten Überprüfung der unternehmerischen Entscheidung überschreiten, indem etwa an ein Sanierungskonzept, mit dem der Wegfall der fraglichen Arbeitsplätze begründet wird, überzogene Anforderungen gestellt werden. 8 Ist der Unternehmer in seiner Entscheidung weitgehend frei, dass eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen abzubauen ist, so endet diese Freiheit an dem Punkt, an dem es um die Frage geht, welche Arbeitnehmer von dem Arbeitsplatzabbau betroffen sind. Hier muss sich der Arbeitgeber nahezu ausschließlich an der sozialen Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer orientieren. Die soziale Schutzbedürftigkeit richtet sich nach den Faktoren Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung. Diese Auswahlkriterien hat der Arbeitgeber angemessen und ausgewogen zu berücksichtigen. Vorgaben, wie diese Kriterien zu berücksichtigen sind, machte der Gesetzgeber nicht. Die damit einhergehende Rechtsunsicherheit wurde inzwischen durch die Rechtsprechung aber eingeschränkt. Anhand dieser Rechtsprechung lässt sich relativ zuverlässig einschätzen, welche Gewichtung der Auswahlkriterien als ausreichend i. S. des KSchG angesehen wird. 9 Bewährt haben sich hier von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannte Punkteschemata, die sich in einem Kündigungsschutzprozess nachvollziehbar darlegen lassen.10) Eine frühere Rechtsprechung, nach der bei Anwendung eines Punktesystems eine fehlerhafte Sozialauswahl bei einem Arbeitnehmer zu einem Dominoeffekt führte, so dass auch die Sozialauswahl aller anderen Arbeitnehmer als fehlerhaft galt, selbst wenn sich der Fehler auf diese gar nicht ausgewirkt hatte, wurde inzwischen aufgegeben.11) Dadurch hat sich das Risiko für den Arbeitgeber an dieser Stelle erheblich reduziert. Nunmehr gilt, dass sich ein konkreter Fehler in der Sozialauswahl bei der Anwendung eines Punktesystems auf die Kündigung des jeweils gekündigten Arbeitnehmers konkret ausgewirkt haben muss. ___________ 10) Nicht beanstandete Punkteschema: vgl. BAG; Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NZA 2007, 549. 11) Vgl. BAG, Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NJW 2007, 2429.
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II. Arbeitsrecht und seine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit
Das Bedürfnis, bestimmte Arbeitnehmer, die bei Durchführung einer Sozial- 10 auswahl den Betrieb verlassen müssten, aus betrieblichen Gründen im Unternehmen zu halten, wird im KSchG fast nicht berücksichtigt. Es gibt zwar die sog. „Leistungsträgerregelung“, die Arbeitnehmer, welche von hoher Bedeutung für den Betrieb sind, nur eingeschränkt unter die eigentliche Sozialauswahl fallen lässt. Die Rechtsprechung setzt aber hohe Anforderungen an das Vorliegen einer Leistungsträgereigenschaft. Hier zeigt sich, wie die allgemeinen Regeln des Arbeitsrechts das Bedürfnis nach einem Sanierungsarbeitsrecht erzeugen können: Die ganz überwiegende Betonung des Arbeitsplatzschutzes für Arbeitnehmer, die man für schwer vermittelbar am Arbeitsmarkt hält, kann dazu führen, dass bei einer ernsten Krise des Unternehmens ganz überwiegend diese im Unternehmen verbleiben müssen. Die oft drohende Folge, dass dadurch alle Arbeitnehmer ihre Beschäftigung verlieren, weil so die Krise nicht zu bewältigen ist, findet zu wenig Berücksichtigung. Da die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nur dann wirksam ist, wenn nicht 11 die Möglichkeit einer Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz besteht, schließen sich Arbeitsplatzabbau und Umstrukturierungen, die mit der Einstellung neuer Arbeitnehmer verbunden sind, in aller Regel aus. Im Zeitpunkt der Kündigung darf kein freier gleichwertiger Arbeitsplatz vorhanden und es darf nicht absehbar sein, dass bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ein anderer Arbeitsplatz frei wird. Sogar Arbeitsplätze, die noch in absehbarer Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist frei werden könnten, können zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen. Würde etwa ein freier Arbeitsplatz i. R. einer Restrukturierung entstehen, so müsste dieser Arbeitsplatz angeboten werden, wenn er zu dem bisherigen Arbeitsplatz gleichwertig ist. Ist der Arbeitnehmer nicht hinreichend qualifiziert, so wäre der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer zumutbare Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten. Die Frage nach der Wirksamkeit der Sozialauswahl und der Möglichkeit der 12 Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien oder frei werdenden Arbeitsplatz sind in aller Regel die größten Unsicherheitsfaktoren für den Unternehmer in einem Kündigungsschutzprozess. Wird in einem Kündigungsschutzprozess festgestellt, dass die Kündigung un- 13 wirksam war, so bedeutet dies nicht nur, dass das Arbeitsverhältnis weiter besteht, sondern auch, dass der Arbeitgeber die seit Ablauf der Kündigungsfrist aufgelaufenen Gehälter nachzahlen muss (§ 615 BGB). Dieses Verzugslohnrisiko wird insoweit eingeschränkt, als dass sich der Arbeitnehmer inzwischen anderweitig erzielten Verdienst anrechnen lassen muss. Diese Anrechnung gilt zwar auch für den Fall, dass der Arbeitnehmer es einfach nur unterlassen hat, anderweitig einen Verdienst zu erzielen, jedoch ist diese Einschränkung in der Praxis ohne Bedeutung. Hier müsste der Arbeitgeber nachweisen, dass der Arbeitnehmer anderweitig zwar hätte arbeiten können, aber dies einfach nicht wollte. Dies ist in der Praxis meist unmöglich. Da sich ein Kündigungsschutzverfahren Köhler-Ma/Witt
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung oft ein oder zwei Jahre – bei einer Revision zum BAG noch länger – hinziehen kann, ist das Verzugslohnrisiko beträchtlich. 14 Solange ein Sanierungskonzept nicht offensichtlich schlüssig und die Sozialauswahl schulbuchmäßig ist sowie sich die Frage nach dem Vorhandensein anderer Arbeitsplätze nicht stellt, wird der Arbeitgeber schnelle Rechtssicherheit nur dadurch erreichen, dass er einen Vergleich mit dem Arbeitnehmer abschließt. Diese Rechtssicherheit durch einen Vergleich gibt es in den allermeisten Fällen nicht ohne eine entsprechende Abfindung. 15
Praxishinweis Im Allgemeinen gilt eine Abfindung, welche die Zahlung eines halben Bruttomonatsgehaltes pro Beschäftigungsjahr vorsieht, als angemessen. Abfindungen sind jedoch stets Verhandlungssache und nach oben hin offen.
16 Einen Anspruch auf Auflösung eines Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung sieht das KSchG nur in absoluten Ausnahmefällen vor, die eine Zerrüttung des Arbeitsverhältnisses zum Gegenstand haben. Tatsächlich werden die allermeisten Kündigungsschutzprozesse durch einen Vergleich beendet, der die Zahlung einer Abfindung an den Arbeitnehmer vorsieht. 17
Praxishinweis Rechtssicherheit über die Wirksamkeit der Kündigung erhält der Arbeitgeber dann schnell, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Zugang einer Kündigung keine Kündigungsschutzklage erhebt (§ 4 KSchG). In diesem Fall gilt die Kündigung als wirksam (§ 7 KSchG). Ist die Drei-Wochen-Frist verstrichen, so gibt es für den gekündigten Arbeitnehmer nur noch in sehr engen Grenzen die Möglichkeit der nachträglichen Zulassung einer Klage (§ 5 KSchG).
18 Im Ergebnis bewirken die Regelungen des KSchG, dass eine Reduktion der Personalkosten unter Beibehaltung einer funktionierenden Personalstruktur für Unternehmen selbst bei einer unstreitigen Unternehmenskrise nur sehr schwer durchsetzbar und mit erheblichen Risiken dahingehend verbunden ist, dass eine Reduktion des Personalbestandes entweder gar nicht gelingt oder mit prohibitiv hohen Vergleichszahlungen verbunden ist. 2.
Interessenausgleich und Sozialplan nach dem BetrVG
19 In Unternehmen mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern, in denen ein Betriebsrat gewählt worden ist, hat dieser gemäß §§ 111 ff. BetrVG bei Betriebsänderungen ein Mitbestimmungsrecht. Da das BetrVG hier auf die Unternehmens- und nicht auf die Betriebsgröße abstellt, kann bereits bei Betriebsänderungen in Betrieben mit weniger als 21 Arbeitnehmern ein betriebsverfassungsrechtliches Mitbestimmungsrecht bestehen. Ob ein geplanter Personalabbau eine
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II. Arbeitsrecht und seine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit
mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung ist, richtet sich nach der Betriebsgröße und dem Umfang des geplanten Personalabbaus:12) x
Bei einer Betriebsgröße von unter 21 Arbeitnehmern, die zu einem größeren Unternehmen gehören, und Betrieben bis 59 Arbeitnehmern liegt eine Betriebseinschränkung i. S. des § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG vor, wenn mehr als fünf Arbeitsplätze von dem Abbau betroffen sind.
x
In Betrieben mit einer Größe von 60 bis 499 Arbeitnehmern muss der geplante Personalabbau 10 % oder mehr als 25 Arbeitnehmer betreffen.
x
In Betrieben, in denen mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt werden, beginnt die Mitbestimmungspflicht bei 30 von Entlassung betroffenen Arbeitnehmern.
Liegen diese Voraussetzung für eine Betriebsänderung im betriebsverfassungs- 20 rechtlichen Sinne vor, so muss der Arbeitgeber den Betriebsrat umfassend über die beabsichtigte Betriebsänderung unterrichten und mit ihm Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs aufnehmen. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen über einen Interessenausgleich müssen dem Betriebsrat alle Gründe, welche die Betriebsänderung nach Auffassung des Unternehmers erfordern, dargelegt werden. Dabei genügt es nicht, den Betriebsrat nur allgemein zu informieren. Der Betriebsrat muss Zugang zu allen Informationen erhalten, die auch der Unternehmer besitzt. Gegenstand eines Interessenausgleichs ist, ob und wie die geplante Betriebsänderung durchgeführt wird. Ob der geplante Arbeitsplatzabbau von vornherein wirtschaftlich alternativlos ist, bleibt hier ohne Bedeutung. Verletzt der Unternehmer die Pflicht zur Verhandlung über einen Interessenausgleich, so macht dies etwaige Kündigungen zwar nicht unwirksam, die von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmer können aber gemäß § 113 BetrVG einen Nachteilsausgleich in Form einer Abfindung verlangen. Des Weiteren kann die Verletzung dieser Pflicht eine Ordnungswidrigkeit darstellen. Zwischen Betriebsrat und Unternehmer soll eine Einigung über einen Interessen- 21 ausgleich zustande kommen, sie muss es aber nicht. Kommt es kurzfristig nicht zu einer Einigung, kann die Bundesagentur für Arbeit um Vermittlung ersucht werden. Sofern auch dann noch keine Einigung erfolgt, können Unternehmer oder Betriebsrat die Einigungsstelle anrufen. Diese Einigungsstellen werden bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Unternehmer und Betriebsrat gebildet und paritätisch unter dem Vorsitz einer neutralen Person besetzt (§ 76 BetrVG). Die Einigungsstelle kann jedoch keine die geplante Betriebsänderung betreffende Regelung durch einen bindenden Spruch herbeiführen. ___________ 12) Maßgebend sind grundsätzlich die Schwellenwerte des § 17 KSchG ohne Untergrenze im Hinblick auf die Betriebsgröße, vgl. BAG, Urt. v. 9.11.2011 – 1 AZR 708/09, ZIP 2011, 730 = NZA 2011, 466 ff.
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
22 Scheitern die Verhandlungen vor der Einigungsstelle, so hat der Unternehmer das Zustandekommen eines Interessenausgleichs versucht. An welchem Punkt aber i. S. der §§ 111, 112 BetrVG das Notwendige versucht worden ist, lässt sich oft nur schwer feststellen. Hier kann der Betriebsrat die Verhandlungen hinziehen, um den Arbeitgeber zeitlich unter Druck zu setzen und so etwa Zugeständnisse in dem Interessenausgleich zu erhalten (z. B. Verzicht auf zukünftige betriebsbedingte Kündigungen, Umschulungen für die von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmer oder Abfindungszahlungen per Sozialplan; siehe dazu gleich Rz. 23). 23 Denn grundsätzlich löst eine Betriebsänderung eine Pflicht zum Abschluss eines Sozialplanes aus. Während der Betriebsrat hinsichtlich des Interessenausgleichs nur einen Anspruch auf Unterrichtung und Beratung mit dem evtl. Ziel einer Einigung hat, kann er den Abschluss eines Sozialplanes erzwingen (sog. erzwingbare Mitbestimmung). Sind spätestens nach einem erfolglosen Vermittlungsversuch der Bundesagentur für Arbeit und der Einigungsstelle die Verhandlungen über einen Interessenausgleich gescheitert, entscheidet bei einem Scheitern der Verhandlungen über die Aufstellung eines Sozialplanes gemäß § 112 Abs. 4 BetrVG die Einigungsstelle. Die Einigungsstelle ersetzt eine nicht zustande gekommene Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat durch einen bindenden Spruch. 24 Besteht die geplante Betriebsänderung allein aus einem Personalabbau, also ohne dass damit eine weitere Betriebsänderung, wie etwa eine Schließung, einhergeht, müssen für die Sozialplanpflicht gemäß § 112a Abs. 1 BetrVG aber besondere Schwellenwerte erreicht sein. So beginnt die Sozialplanpflicht in Betrieben mit weniger als regelmäßig 60 beschäftigten Arbeitnehmern ab sechs Arbeitnehmern, deren Ausscheiden aus dem Betrieb vom Arbeitgeber veranlasst ist.13) Als Entlassungsmaßnahmen gelten nicht nur Kündigungen, sondern jedes Ausscheiden aus dem Betrieb, welches vom Arbeitgeber wegen des Personalabbaus in irgendeiner Weise veranlasst worden ist. Generell von der Sozialplanpflicht ausgenommen werden gemäß § 112a Abs. 2 BetrVG Betriebe von Unternehmen in den ersten vier Jahren ab ihrer Gründung. Diese Privilegierung gilt auch dann, wenn ein junges Unternehmen einen Betrieb übernimmt, der länger als vier Jahre besteht.14)
___________ 13) In Betrieben zwischen 60 und 249 Arbeitnehmern müssen 20 % oder mindestens 37 Arbeitnehmer, in Betrieben zwischen 250 und 499 Arbeitnehmern 15 % oder mindestens 60 Arbeitnehmer und in Betrieben mit 500 und mehr Arbeitnehmern 10 %, mindestens aber 60 Arbeitnehmer von den Entlassungsmaßnahmen betroffen sein. 14) Vgl. BAG, Beschl. v. 27.6.2006 – 1 ABR 18/05, ZIP 2007, 39 = NZA 2007, 106 ff.
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Praxishinweis Personalreduzierungen, die die oben genannten Grenzwerte übersteigen, müssen in mitbestimmten Betrieben zwingend mit Interessenausgleich und Sozialplan verbunden werden.
Inhalt und Umfang des Sozialplanes können frei vereinbart werden, soweit nicht 26 allgemeine Normen und Rechtsgrundsätze verletzt werden. Kern eines jeden Sozialplanes in der Praxis sind meistens Abfindungsregelungen. Es kann jedoch nicht vereinbart werden, dass ein Abfindungsanspruch davon abhängig gemacht wird, dass der Arbeitnehmer keine Kündigungsschutzklage erhebt, da dadurch die Betriebsparteien in individuelle Rechte der Arbeitnehmer eingreifen würden. Ein Sozialplan gibt also nicht die Möglichkeit, durch die Kopplung von Abfindung und Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage Arbeitnehmer vom Beschreiten des Rechtsweges abzuhalten und so schnelle Rechtssicherheit über die Wirksamkeit der Kündigung zu erhalten. In mitbestimmten Betrieben erhöhen sich damit die Kosten, die bei einem Per- 27 sonalabbau durch individuelle Kündigungsschutzklagen einzelner Arbeitnehmer entstehen, um die per Sozialplan kollektiv für alle betroffenen Arbeitnehmer erzwingbaren Abfindungen. 3.
Der Betriebsübergang nach § 613a BGB
Wird ein Betrieb oder ein Betriebsteil durch Rechtsgeschäft von dem bisheri- 28 gen Inhaber auf einen neuen Inhaber übertragen, so knüpft § 613a BGB an diesen Vorgang zwingende Folgen. Es gehen in diesem Fall gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB sämtliche Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber über. Er tritt von Gesetzes wegen in die bisherige Rechtsstellung des alten Arbeitgebers ein und übernimmt dessen Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverträgen. Ohne diesen gesetzlichen Übergang ihres Arbeitsverhältnisses würden die Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang ihren Arbeitsplatz verlieren. Denn der bisherige Arbeitgeber hätte nach einer Übertragung eines Betriebes keine Möglichkeit mehr, die bisherigen Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, sodass ein betriebsbedingter Kündigungsgrund bestünde. Der Erwerber dagegen hätte mit den Arbeitnehmern keine Verträge und müsste sie daher nicht beschäftigen. Mit dem Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse wird dieser nach 29 § 613a BGB von Gesetzes wegen Schuldner für alle Verbindlichkeiten aus den Arbeitsverhältnissen, und zwar auch für solche Ansprüche, die bereits vor dem Betriebsübergang entstanden sind: x
Erwerber und Veräußerer haften gegenüber den Arbeitnehmern für alle im Zeitpunkt des Betriebsübergangs fälligen Ansprüche.
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Sind Ansprüche vor dem Betriebsübergang entstanden, die erst innerhalb eines Jahres danach fällig werden, so trifft den Veräußerer noch eine anteilige Haftung. Köhler-Ma/Witt
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
30 Normen von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs für das Arbeitsverhältnis gegolten haben, gelten nun bei dem Erwerber fort. Der rechtliche Status quo für kollektivrechtliche Normen im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bleibt für die Dauer eines Jahres erhalten. Innerhalb dieses Zeitraumes dürfen die arbeitsvertraglichen Regelungen, die ihren Ursprung in einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung haben, nicht einseitig zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Der Grundsatz der Fortgeltung der Tarifnormen und Betriebsvereinbarungen gilt dann nicht, wenn die Rechte und Pflichten, die bei dem Betriebsveräußerer in einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung geregelt sind, auch bei dem Erwerber entsprechend kollektivrechtlich geregelt werden. Ein bei dem Erwerber geltender Tarifvertrag wird aber nur dann auf das übergegangene Arbeitsverhältnis angewendet, wenn der Arbeitnehmer kraft Mitgliedschaft oder durch Allgemeinverbindlichkeit an diesen Tarifvertrag gebunden ist. 31 Der von dem Betriebsübergang betroffene Arbeitnehmer muss gemäß § 613a Abs. 5 BGB von dem bisherigen oder dem neuen Betriebsinhaber über den Betriebsübergang vollständig und umfassend informiert werden.15) Der Arbeitnehmer muss anhand dieser Informationen in der Lage sein, zu entscheiden, ob er mit der gesetzlichen Folge des Betriebsübergangs einverstanden ist oder dieser widersprechen möchte. Der Arbeitnehmer kann gemäß § 613a Abs. 6 BGB innerhalb eines Monats nach der ordnungsgemäßen Unterrichtung über den Betriebsübergang diesem schriftlich widersprechen. Erfolgte keine oder keine ordnungsgemäße Unterrichtung, so wird diese Monatsfrist nicht in Gang gesetzt16) mit der Folge, dass der Arbeitnehmer bis zur Verwirkung des Rechts dem Betriebsübergang widersprechen kann. Eine solche Verwirkung hat die Rechtsprechung nach Zeiträumen von 6 bis 24 Monaten nach Betriebsübergang angenommen. 32 Alle individualrechtlichen oder kollektivrechtlichen Vereinbarungen, sei es zwischen Erwerber und Veräußerer oder mit den jeweiligen Arbeitnehmern, mit dem Ziel, die gesetzlichen Folgen eines Betriebsübergangs zu umgehen, sind gemäß § 134 BGB nichtig. 33
Praxishinweis § 613a BGB ist von der Rechtsprechung sehr weit ausgelegt und angewandt worden. Bei jeder Übernahme eines Betriebes oder Teilbetriebes, auch wenn er eventuell schon geschlossen ist, sollte hierzu unbedingt vorher anwaltlicher Rat eingeholt werden. Ansonsten können den Übernehmer ganz erhebliche ungeplante Verpflichtungen aus alten Arbeitsverhältnissen belasten, die existenzbedrohend sein können.
___________ 15) Vgl. hierzu: Rupp, NZA 2007, 301; krit. etwa: Reinhard, NZA 2009, 63. 16) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, DB 2012, 581.
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III. Sanierungsarbeitsrecht außerhalb der Insolvenz: Interessenausgleich mit Namensliste
III.
Sanierungsarbeitsrecht außerhalb der Insolvenz: Interessenausgleich mit Namensliste
Ist der Arbeitgeber in einem mitbestimmten Betrieb (siehe Rz. 19 ff.) verpflich- 34 tet, wegen des geplanten Personalabbaus mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich zu verhandeln, so besteht die Möglichkeit, in dem Interessenausgleich die zu kündigenden Arbeitnehmer namentlich zu benennen. Gelingt es dem Arbeitgeber, mit dem Betriebsrat solch einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen, so erlangt der Arbeitgeber in einem späteren Kündigungsschutzverfahren erhebliche Vorteile. Gemäß § 1 Abs. 5 KSchG wird in diesem Fall vermutet, dass für die Kündigung der in der Namensliste aufgeführten Arbeitnehmer dringende betriebliche Gründe i. S. des § 1 Abs. 1 KSchG vorliegen. Diese Vermutung bezieht sich auch darauf, dass in dem Unternehmen keine andere Beschäftigungsmöglichkeiten für den betroffenen Arbeitnehmer bestehen.17) In einem Kündigungsschutzprozess muss nunmehr der Arbeitnehmer darlegen 35 und beweisen, dass dringende betriebliche Gründe, die seiner Weiterbeschäftigung entgegenstehen, eben gerade nicht existieren.18) Hier muss der Arbeitnehmer den vollen Gegenbeweis erbringen, wobei verbleibende Zweifel zu seinen Lasten gehen.19) Dieser Gegenbeweis wird dem Arbeitnehmer in aller Regel nicht gelingen. Neben der gesetzlichen Vermutung des betriebsbedingten Grundes gilt nunmehr auch, dass die Sozialauswahl nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann, und zwar hinsichtlich des gesamten Sozialauswahlprozesses. Daher kann auch die Bildung von Altersgruppen, innerhalb derer die Sozialauswahl durchgeführt wird, hier nur noch auf grobe Fehler hin überprüft werden. Als grob fehlerhaft gilt eine Sozialauswahl erst dann, wenn ein ins Auge springender schwerwiegender Fehler vorliegt und jede Ausgewogenheit fehlt.20) Eine auf einem Interessenausgleich mit Namensliste basierende Kündigung soll 36 dem Arbeitgeber von vornherein Rechtssicherheit geben und die Überprüfung der Kündigung nur noch auf Ausnahmefälle beschränken.21) Die Kündigung auf Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste ist dann auch der einzige Weg, außerhalb der Insolvenz i. R. einer Sanierung einen Personalabbau mit hinreichender Rechtssicherheit umzusetzen. Ob ein Betriebsrat aber bereit ist, solch einen Weg mitzugehen, ist eine andere Frage. Direkt oder indirekt erzwingbar ist ein Interessenausgleich mit Namensliste nicht. Außerhalb eines Insolvenzverfahrens gibt es damit keine weiteren vom Gesetz vorgesehenen ___________ 17) 18) 19) 20) 21)
BAG, Urt. v. 6.9.2007 – 2 AZR 715/06, NZA 2008, 633. BAG, Urt. v. 7.5.1998 – 2 AZR 536/97, ZIP 1998, 1809 = NJW 1998, 3586. BAG; Urt. v. 26.4.2007 – 8 AZR 695/05, ZIP 2007, 2136 = NJOZ 2008, 108. Ascheid/Preis/Schmidt-Dörner/Künzl, Kündigungsrecht, § 125 Rz. 25. Vgl. BAG, Urt. v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, DB 2013, 880 ff.
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
Möglichkeiten, auf andere Weise von vornherein relative Rechtssicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit von Kündigungen zu erlangen. IV.
Sanierungserleichterungen im Insolvenzverfahren
37 Erst mit der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gelten mit den §§ 113 und 120 – 128 InsO Bestimmungen, die man als „Sanierungsarbeitsrecht“ bezeichnen kann. 1.
Verkürzung der Kündigungsfristen und Kündigungserleichterungen in der InsO
38 Grundsätzlich gelten auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Bestimmungen über die Kündigung von Arbeitsverhältnissen unverändert fort. Jedoch ändert § 113 InsO mit Verfahrenseröffnung die geltenden Kündigungsfristen grundlegend ab. Nach Verfahrenseröffnung kann der Insolvenzverwalter jedes Arbeitsverhältnis mit einer Frist von maximal drei Monaten kündigen. Längere Kündigungsfristen, gleich ob gesetzliche, einzel- oder tarifvertragliche, gelten nicht mehr. Läge die Kündigungsfrist aber ohnehin unter drei Monaten, so bleibt es bei der kürzeren Frist. 39 In der Insolvenz wird jedoch nicht nur die Kündigungsfrist verkürzt, sondern auch ein etwaiger Ausschluss der Kündigung aufgehoben. Nunmehr ist jedes Arbeitsverhältnis ordentlich kündbar, auch wenn der Arbeitsvertrag selbst eine Kündigungsmöglichkeit nicht vorsieht, etwa bei einem auf bestimmte Dauer geschlossenen Arbeitsverhältnis. Auch eine durch Tarifvertrag geregelte Unkündbarkeit eines Arbeitsverhältnisses wird durch § 113 InsO aufgehoben.22) Eine Verpflichtung des Arbeitgebers in einer Betriebsvereinbarung, keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen, bindet den Insolvenzverwalter aufgrund der Vorschrift des § 113 InsO ebenfalls nicht mehr.23) 40 Da § 113 InsO alle Dienstverhältnisse betrifft, gilt die Regelung auch für die Anstellungsverhältnisse von Vorständen und Geschäftsführern. Die Abkürzung der Kündigungsfrist auf maximal drei Monate gilt für die gesamte Dauer des Insolvenzverfahrens, soweit das Dienstverhältnis nicht erst nach Eröffnung des Verfahrens begründet worden ist. 41 Die Vergütung, die durch die Abkürzung der Frist weggefallen ist, kann der Betroffene gemäß § 113 InsO nur als Insolvenzforderung auf Schadensersatz geltend machen.
___________ 22) Vgl. BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. 23) Vgl. BAG, Urt. v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, ZIP 2006, 631 = NZA 2006, 658.
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IV. Sanierungserleichterungen im Insolvenzverfahren
2.
Interessenausgleich und Sozialplan in der Insolvenz
Auch der Insolvenzverwalter muss alle Beteiligungsrechte des Betriebsrates 42 beachten. So trifft auch den Insolvenzverwalter von Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmern bei beabsichtigten Betriebsänderungen die Pflicht zum Abschluss eines Interessenausgleiches. Der Verwalter kann sich nicht darauf berufen, dass eine Beteiligung des Betriebsrates wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation nicht erforderlich oder möglich sei und es zu der beabsichtigten Betriebsänderung ohnehin keine Alternative gäbe. Unterlässt der Insolvenzverwalter den Versuch eines Interessenausgleichs, so haben auch hier Arbeitnehmer gemäß § 113 BetrVG grundsätzlich einen Anspruch auf Nachteilsausgleich, der dann eine Masseverbindlichkeit wäre.24) Die Insolvenzsituation selbst ist bei der Höhe des Nachteilsausgleiches ohne Belang, da die Funktion dieses Anspruches auch darin liegt, ein betriebsverfassungswidriges Verhalten des Arbeitgebers zu sanktionieren, auch wenn es der Insolvenzverwalter ist. In der Insolvenz wird das Interessenausgleichsverfahren gestrafft. Kommt es 43 zu keiner Einigung zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat, so kann gemäß § 121 InsO direkt die Einigungsstelle angerufen werden. Die Zwischenstufe im Verhandlungsablauf außerhalb eines Insolvenzverfahrens, der Vermittlungsversuch der Bundesagentur für Arbeit, entfällt. Des Weiteren ist der Insolvenzverwalter auch nicht mehr gezwungen, die Eini- 44 gungsstelle anzurufen. Stattdessen kann der Insolvenzverwalter gemäß § 122 Abs. 1 InsO beim ArbG beantragen, dass die Betriebsänderung ohne Einigungsstellenverfahren durchgeführt wird. Voraussetzung für den Antrag ist, dass innerhalb von drei Wochen nach Aufnahme der Verhandlungen und nach vollständiger Unterrichtung des Betriebsrates über alle Aspekte der Betriebsänderung kein Interessenausgleich zustande gekommen ist. Erteilt das ArbG die Zustimmung zur Betriebsänderung, so kann der Insolvenzverwalter die geplante Betriebsänderung umsetzen, ohne Nachteilsausgleichsansprüchen gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG ausgesetzt zu sein. 45
Praxishinweis Zumeist wird die Ersetzung durch das ArbG so lange dauern, dass der Verwalter das Einigungsstellenverfahren bevorzugen wird.
Die kündigungsrechtlichen Folgen eines Interessenausgleichs mit Namensliste 46 werden in § 125 InsO geregelt, der sich im Wesentlichen mit der Bestimmung des § 1 Abs. 5 KSchG deckt. § 125 InsO geht nur insoweit über die außerhalb des Insolvenzverfahrens geltenden Bestimmungen über den Interessenausgleich mit Namensliste hinaus, als dass nunmehr über die Sozialauswahl auch eine ausgewogene Personalstruktur geschaffen werden kann und nicht nur die Erhaltung der Personalstruktur möglich ist. Dies ermöglicht weitestgehend, auch Leis___________ 24) Vgl. BAG, Urt. v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, ZIP 2003, 2216 = NJW 2004, 875.
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
tungsträger im Unternehmen zu halten und ein niedrigeres Durchschnittsalter der Belegschaft nach Sanierung zu erreichen. Des Weiteren gilt in der Insolvenz bei einem Interessenausgleich mit Namensliste nicht nur die Vermutung, dass die Kündigung aus dringenden betriebsbedingten Gründen erklärt wurde, sondern gemäß § 128 InsO auch, dass die Kündigung nicht wegen eines Betriebsüberganges erfolgt, was nach § 613a Abs. 4 BGB ansonsten zu ihrer Unwirksamkeit führen würde. 47 Auch im Insolvenzverfahren besteht Sozialplanpflicht.25) Der Sozialplan wäre auch durch einen Spruch der Einigungsstelle erzwingbar, sofern es zu keiner Einigung zwischen den Betriebsparteien kommt. Allerdings finden Verwalter und Betriebsrat in den allermeisten Fällen eine Einigung, da der Umfang eines Sozialplanes in der Insolvenz gesetzlich stark eingeschränkt ist. Das Sozialplanvolumen wird gemäß § 123 Abs. 1 InsO auf maximal 2,5 Monatsgehälter aller von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer begrenzt, sodass der Verwalter von vornherein nur bis zu dieser Grenze des Erlaubten gehen kann. Damit die Insolvenzmasse nicht von den Sozialplanansprüchen aufgezehrt wird, begrenzt § 123 Abs. 2 Satz 2 InsO zudem den auf die Sozialplanansprüche zu verwendenden Anteil der Masse. Maximal 1/3 der Insolvenzmasse, die an die Gläubiger zu verteilen wäre, wenn es keinen Sozialplan gäbe, darf für die Erfüllung der Sozialplanansprüche ausgegeben werden. Sozialpläne, die bis zu drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag aufgestellt worden sind, können vom Insolvenzverwalter über § 124 Abs. 1 InsO widerrufen werden. Über § 120 Abs. 1 InsO kann ein Sozialplan, wie jede andere vor der Insolvenzeröffnung abgeschlossene Betriebsvereinbarung auch, gekündigt werden, sofern ansonsten die Masse belastet würde. In diesen beiden Fällen wird dann typischerweise vom Verwalter ein neuer und nach § 123 InsO betragsmäßig beschränkter Sozialplan abgeschlossen. 48
Praxishinweis Es bietet sich an, die von § 123 InsO vorgegebenen Obergrenzen zum Bestandteil des Sozialplans zu machen und dem Betriebsrat weitgehend freie Hand dabei zu lassen, wie diese Beträge verteilt werden sollen (Punktesystem). Auch die Einrichtung von Härtefallfonds, in den ein Teil des Sozialplanvolumens eingezahlt wird und der vom Betriebsrat nach Ermessen zur Linderung von Härtefällen verwendet werden kann, hat sich bewährt.
3.
Besonderheiten zum Kündigungsschutz in der Insolvenz
49 In § 126 InsO erhält der Insolvenzverwalter die Möglichkeit, durch das ArbG vorab bindend feststellen zu lassen, ob Kündigungen betriebsbedingt und sozial gerechtfertigt i. S. des § 1 KSchG sind. Diese Möglichkeit, die außerhalb eines Insolvenzverfahrens nicht existiert, ergibt sich für den Fall, dass der Betriebsrat ___________ 25) Vgl. Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, § 123 Rz. 5 ff.
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IV. Sanierungserleichterungen im Insolvenzverfahren
nicht bereit ist, mit dem Insolvenzverwalter einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen oder dies schon deshalb nicht möglich ist, weil ein Betriebsrat in dem Betrieb nicht gewählt worden ist. In diesem besonderen insolvenzrechtlichen Beschlussverfahren vor dem ArbG gibt es für den Insolvenzverwalter jedoch keinerlei Beweiserleichterungen. Außer einer schnellen bindenden Feststellung zur Betriebsbedingtheit und sozialen Rechtfertigung von Kündigungen ergeben sich letztlich keine Vorteile. Dieses besondere Beschlussverfahren führt in der Praxis daher auch nur ein sehr bescheidenes Dasein. 4.
Betriebsveräußerung in der Insolvenz
Auch im eröffneten Insolvenzverfahren findet § 613a BGB Anwendung. Aller- 50 dings haftet der Erwerber nicht für solche rückständigen Lohnansprüche, die bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelaufen sind.26) Andernfalls wären die Chancen für eine übertragende Sanierung in der Insolvenz nahezu null. Aber auch mit dieser Beschränkung stellt diese Vorschrift ein ganz erhebliches Hindernis für Sanierungen dar, denn auch in der Insolvenz gehen sämtliche Beschäftigten mit ihrem gesamten sozialen Besitzstand – insbesondere Beschäftigungsdauer – auf einen Betriebserwerber über. Können deren Kosten mit dem realistischerweise zu erwartenden Umsatz nicht gedeckt werden, würde der Erwerb sofort an diesem Umstand scheitern. Dieses Problem kann häufig mit einem weiteren Instrument gelöst werden, das 51 im weiteren Sinne zum Sanierungsarbeitsrecht gehört, der sog. Transfergesellschaft. Transfergesellschaften, auch Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften genannt, sind Instrumente der Arbeitsförderung.27) Sie verfolgen das Ziel, konkret von Entlassung bedrohte Arbeitnehmer aufzunehmen und sie durch Qualifizierungsmaßnahmen in Beschäftigung neu zu vermitteln. Eine Überführung von Arbeitnehmern in eine Transfergesellschaft kann grundsätzlich unabhängig von der Betriebsgröße und dem Bestand eines Betriebsrates erfolgen. Ob ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis beenden und in eine Transfergesellschaft überwechseln möchte, ist seine freie Entscheidung. In einer Transfergesellschaft herrscht Kurzarbeit null. Die in die Gesellschaft 52 transferierten Arbeitnehmer erhalten Transferkurzarbeitergeld für maximal ein Jahr. Der Unternehmer wird in aller Regel, um die Attraktivität eines Wechsels in die Transfergesellschaft zu erhöhen, das Kurzarbeitergeld auf bis zu 80 % des bisherigen Entgeltes aufstocken. Die Sozialversicherungsbeiträge trägt grundsätzlich der bisherige Arbeitgeber, wie bei normaler Kurzarbeit auch. Die Kosten für die Qualifizierungsmaßnahmen, welche den Arbeitnehmern in der
___________ 26) Vgl. BAG, Urt. v. 19.12.2006 – 9 AZR 230/06, BB 2007, 1281. 27) Beck/Depré-Zobel, Praxis der Insolvenz, § 28 Rz. 301 ff.
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
Transfergesellschaft angeboten werden, übernehmen in aller Regel der bisherige Arbeitgeber und die Bundesagentur für Arbeit gemeinsam. 53 Scheiden die Arbeitnehmer oder zumindest ein Teil der Belegschaft aus dem Betrieb aus und treten in eine Transfergesellschaft ein (siehe hierzu auch § 21), so werden diese Arbeitsverhältnisse von einem späteren Betriebsübergang nicht mehr erfasst. Dem Erwerber steht es aber frei, Mitarbeiter aus der Transfergesellschaft für den übernommenen Betrieb zu rekrutieren. Damit kann über eine Verkettung von Verträgen eine schnelle und rechtssichere Personalreduktion erreicht werden: x
Dies geschieht, indem einerseits ein Kaufvertrag über den zu kaufenden Betrieb geschlossen wird, der durch den Übergang aller oder fast aller Arbeitnehmer in eine Transfergesellschaft bedingt ist.
x
In aller Regel werden Erwerber und Veräußerer dabei auch eine Mindestzahl an zu übernehmenden Arbeitnehmern vereinbaren.
x
Um die Bedingung „Übergang der Arbeitnehmer in die Transfergesellschaft“ erfüllen zu können, verpflichtet sich der Veräußerer seinerseits gegenüber der Transfergesellschaft, diese mit den nötigen finanziellen Mitteln für Sozialleistungen, Aufstockung der Gehälter und Qualifizierung für die in der Transfergesellschaft verbleibenden Arbeitnehmer auszustatten.
x
Gemeinsam müssen dann Veräußerer und Transfergesellschaft die Arbeitnehmer davon überzeugen, dass ein Übergang in eine Transfergesellschaft für sie attraktiver ist als die sofortige Arbeitslosigkeit, was häufig aber auf der Hand liegt.
x
Gelingt dies, heben Veräußerer und Arbeitnehmer den zwischen ihnen bestehenden Arbeitsvertrag auf und gleichzeitig begründen Arbeitnehmer und Transfergesellschaft dort ein neues Beschäftigungsverhältnis.
x
Als letzter Akt bietet der Erwerber dann gezielt den wirtschaftlich erfolgreich zu beschäftigenden Arbeitnehmern einen neuen Vertrag an, so dass diese nach wenigen Tagen wieder aus der Transfergesellschaft ausscheiden. Ein Arbeitsvertrag mit dem Erwerber ist dann ein neuer Arbeitsvertrag, der keine rechtlichen Bindungen mehr zu dem bisherigen Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer hat. Hier können also auch Probezeiten, sachgrundlose Befristungen und ein geringeres Gehalt vereinbart werden.
54 Die Überführung von Arbeitnehmern in eine Transfergesellschaft stellt keine Umgehung der in § 613a BGB zwingend vorgeschriebenen Rechtsfolgen eines Betriebsüberganges dar. Entscheidend ist aber, dass der Arbeitnehmer endgültig aus dem bisherigen Betrieb ausgeschieden ist. Ihm dürfen keine konkreten Zusagen dahingehend gemacht werden, dass er nach einem Übertritt in die Transfergesellschaft wieder in den dann auf einen Erwerber übergegangenen Betrieb zurückkehren kann. Macht sich der Arbeitnehmer allgemein Hoffnungen auf
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IV. Sanierungserleichterungen im Insolvenzverfahren
eine Rückkehr in den Betrieb, ohne dass ihm irgendwelche konkreten Zusagen gemacht worden sind, so ändert dies nichts daran, dass der Arbeitnehmer mit Abschluss des dreiseitigen Vertrages endgültig aus dem Betrieb ausscheidet.28) Zwischen der Beendigung des alten Arbeitsverhältnisses und dem damit verbundenen Eintritt in die Transfergesellschaft sowie dem Abschluss eines neuen Arbeitsverhältnisses mit dem Erwerber darf des Weiteren nicht nur eine logische Sekunde treten. Eine Zeitspanne von wenigen Tagen genügt – wie gesagt – jedoch. 55
Praxishinweis Vor Wirksamwerden aller diesbezüglichen Verträge darf Mitarbeitern zum einen nicht zugesagt oder angekündigt worden sein, dass sie später weiterbeschäftigt werden. Auch die Betriebsleitung oder -organisation darf nicht zuvor vom Erwerber übernommen worden sein, diese muss vielmehr bis zum Abschluss neuer Arbeitsverträge eindeutig beim verkaufenden Insolvenzverwalter verbleiben.
Die Zwischenschaltung einer Transfergesellschaft zur Vermeidung der Folgen 56 des § 613a BGB ist rechtlich nicht nur bei einer sanierenden Übertragung in der Insolvenz möglich. Außerhalb eines Insolvenzverfahrens werden jedoch gegenüber den Arbeitnehmern das Ausscheiden aus dem Unternehmen und der Übertritt in eine Transfergesellschaft schwer vermittelbar sein, da in dieser Situation die Alternative „Schließung des Betriebes“ weit weniger akut erscheint. Um einen schnellen und rechtssicheren Arbeitsplatzabbau zu erreichen, der nicht im Zusammenhang mit einer Veräußerung des Betriebes steht, kann eine Transfergesellschaft aber auch außerhalb eines Insolvenzverfahrens sehr hilfreich sein und eine Alternative zu Sozialplanabfindungen darstellen.29) 5.
Das Insolvenzgeld und dessen Vorfinanzierung
Das in den §§ 165 ff. SGB III30) geregelte Insolvenzausfallgeld soll vor allem 57 die Folgen einer Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers für die Arbeitnehmer abmildern. Als Arbeitnehmer i. S. des Sozialrechts gelten alle „klassischen“ Arbeitnehmer, aber auch GmbH-Geschäftsführer, soweit diese nicht auch auf Gesellschafterebene die Geschicke der Gesellschaft maßgeblich bestimmen. Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft gelten jedoch nie als Arbeitnehmer.31) Ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Insolvenzgeld entsteht, wenn eines der in 58 § 165 Abs. 1 SGB III genannten Insolvenzereignisse eintritt. Als Insolvenzereignis gelten die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, die Abweisung des Er___________ 28) Vgl. BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643. 29) Vgl. insgesamt: Backes, Transfergesellschaften, Grundlagen, Instrumente, Praxis. 30) Neue Fassung, gültig ab 1.4.2012, BGBl. I, 2854 v. 20.12.2011; bis dahin weitestgehend identisch geregelt in §§ 183 ff. SGB III. 31) Ausführlicher hierzu: Rattunde-Witt, Fachberater für Sanierung und Insolvenzverwaltung, Rz. 2092 ff.
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§ 1 Überblick: Die wichtigsten Regelungen bzgl. der Arbeitnehmerschaft
öffnungsantrages mangels Masse sowie die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit, ohne dass ein Insolvenzantrag gestellt worden ist, der mangels Masse abgelehnt worden wäre. 59 Anspruch auf Insolvenzgeld besteht gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB III für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor dem Insolvenzereignis. Das Insolvenzgeld deckt also entweder die unmittelbar vor dem Insolvenzereignis liegenden drei Monate ab oder bei einer vorherigen Beendigung die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses. 60 Zum insolvenzgesicherten Arbeitsentgelt gehören alle Gegenleistungen, die der Arbeitgeber für die im Insolvenzgeldzeitraum erbrachte Arbeit schuldet. Damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Krise nicht zu Lasten der Bundesagentur schnell noch Vereinbarungen eingehen, die das Insolvenzgeld erhöhen, wird gemäß § 166 Abs. 1 Nr. 1 – 3 SGB III32) für entsprechende Tatbestände der Insolvenzgeldanspruch von vornherein ausgeschlossen. 61 Auch wenn die Arbeitsentgeltansprüche durch das Insolvenzgeld gesichert sind, so kann dieses erst nach dem Insolvenzereignis ausbezahlt werden, also häufig erst Monate später. Arbeitnehmer können aber wegen rückständiger Arbeitsentgelte ihre Arbeitsleistung bis zum Ausgleich der Rückstände verweigern oder auch das Arbeitsverhältnis fristlos kündigen. Im vorläufigen Insolvenzverfahren wäre die Aufrechterhaltung eines Geschäftsbetriebes somit kaum möglich. Für den vorläufigen Insolvenzverwalter besteht daher die Möglichkeit, über den Insolvenzgeldanspruch die Gehälter vorzufinanzieren, um diese dann möglichst schnell an die Arbeitnehmer auszuzahlen und den Geschäftsbetrieb weiterführen zu können. In der Praxis wird dann den Arbeitnehmern angeboten, ihren Arbeitsentgeltanspruch an eine mit dem vorläufigen Verwalter zusammenarbeitende Bank zu verkaufen. Der Arbeitnehmer erhält als Kaufpreis dann den Betrag, der dem verkauften Arbeitsentgeltanspruch entspricht. Die Bank wird durch den Ankauf des Arbeitsentgeltanspruches Inhaber des späteren Insolvenzgeldanspruches, den sie dann gegenüber der Bundesagentur für Arbeit geltend macht. Diese Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes bedarf gemäß § 170 Abs. 4 SGB III aber der Zustimmung der Arbeitsagentur. Die Zustimmung darf nur dann erteilt werden, sofern durch diese Vorfinanzierung voraussichtlich ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze gerettet werden kann. 62
Praxishinweis Erfahrungsgemäß behandeln die zuständigen Arbeitsagenturen das Zustimmungsverfahren schnell, flexibel und sanierungsfreundlich. Die Insolvenzgeldvorfinanzierung ist bei personalkostenintensiven Unternehmen häufig eine erhebliche Kostenentlastung und kann dazu führen, dass eine Insolvenz den effektivsten Sanierungsweg darstellt.
___________ 32) Vorher § 184 Abs. 1 Nr. 1 – 3 SGB III.
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V. Fazit
V.
Fazit
Insgesamt stellen die oben geschilderten Punkte erhebliche Modifikationen der 63 ansonsten geltenden, eher sanierungsfeindlichen Vorschriften des deutschen Arbeitsrechtes dar und ermöglichen Kostenreduktionen, die deutlich zu einer Sanierung eines Unternehmens beitragen können. Ganz überwiegend setzt dies jedoch voraus, dass das Unternehmen sich zur Stellung eines Insolvenzantrages entschließen kann. Dies wird sicher immer eine schwere Entscheidung sein, die aber durch die Reform des deutschen Insolvenzrechts im Jahr 2012 durch das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)33) erheblich erleichtert worden sein dürfte(siehe hierzu unten § 11 Rz. 32 ff.).
___________ 33) BGBl. I 2011, 2582, mit erheblich erweiterten Rechten für Insolvenzschuldner und -gläubiger.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung Einleitung des Herausgebers: In der „vorläufigen“ Insolvenz werden arbeitsrechtlich die Weichen für die spätere – dann übertragende – Sanierung gestellt. Besondere Schwierigkeiten stellen Betriebseinschränkungen, Betriebsunterbrechungen und Teilbetriebsveräußerungen in der vorläufigen Insolvenz dar. Übersicht I. Vorbemerkung................................... 1 II. Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung ........................ 3 1. Allgemeines......................................... 3 2. Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Zustimmungsvorbehalt ............... 5 3. Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis ................................. 6 III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung ........................ 8 1. Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Zustimmungsvorbehalt .............. 8 a) Auswirkungen im Individualarbeitsrecht................................... 9 aa) Arbeitgeberkündigungen ..... 9 bb) Abschluss von Arbeitsund Aufhebungsverträgen .................................. 14 cc) Direktionsrecht .................. 16 dd) Urlaub ................................. 17 ee) Zeugnisse ............................ 22 ff) Rechtsstreite ...................... 24 gg) Betriebliche Altersvorsorge .............................. 25 hh) Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG ............. 28 b) Auswirkungen im Kollektivarbeitsrecht ............................... 31 aa) Keine Anwendung von §§ 122, 123, 125 InsO ........ 31 bb) Beginn von Interessenausgleichs- und Sozialplanver-
handlungen, § 111 BetrVG, § 122 InsO .......................... 32 cc) Interessenausgleich und Kündigungsschutz, § 125 InsO .................................... 35 dd) (Sonstige) Beschlussverfahren, § 126 InsO ............. 37 ee) Erstattung von Sachverständigenkosten des Betriebsrats als Masseverbindlichkeiten..................... 38 2. Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis................................... 39 a) Auswirkungen im Individualarbeitsrecht................................. 40 b) Auswirkungen im Kollektivarbeitsrecht ............................... 47 aa) Beginn von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen, § 111 BetrVG, § 122 InsO .......... 48 bb) Vor Insolvenzeröffnung aufgestellte Sozialpläne, § 123 InsO .......................... 49 IV. Insolvenzgeldvorfinanzierung ..... 50 V. Mitarbeiterkommunikation .......... 55 1. Bedeutung für die Sanierung .......... 56 2. Formen der Kommunikation .......... 57 a) Betriebsversammlungen ........... 58 b) Frage- und Antwortlisten ........ 60
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung c) Direkte Ansprechbarkeit (E-Mailing/telefonisch/Einschaltung von Hilfspersonen, Zusammenarbeit mit der Personalabteilung).......................... 63
3.
d) Betriebsrat ..................................65 Beispiel für einen Frage- und Antwortkatalog.................................66
Literatur: Berscheid, Auswirkungen von Freistellung und Kündigung im Eröffnungsverfahren und bei Masseunzulänglichkeit, in: Festschrift für Günter Greiner, 2005, S. 1; Berscheid, Schriftform für Beendigung und Befristung von Arbeitsverträgen, ZInsO 2000, 208; Blank, Der gesetzestreue (vormals „starke“ vorläufige) Insolvenzverwalter in der Bredouille? – Die Rechtsprechung des BAG zu § 55 Abs. 2 InsO und ihre Folgen in der Praxis, ZInsO 2001, 780; Düwell/Pulz, Urlaubsansprüche in der Insolvenz, NZA 2008, 786; Ennemann, Interessenausgleichsverhandlungen und arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren in der Insolvenz, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl., 2009, S. 1473; Mückl/Krings, Rettung des durch den vorläufigen Insolvenzverwalter abgeschlossenen Interessenausgleichs mit Namensliste, ZIP 2012, 106; Stiller, Der Zeugnisanspruch in der Insolvenz des Arbeitgebers, NZA 2005, 330.
I.
Vorbemerkung
1 Die Zeit der vorläufigen Insolvenzverwaltung ist in den allerhäufigsten Fällen die kritische Phase, in der in Sanierungsfällen die wesentlichen Weichenstellungen für das spätere Insolvenzverfahren erfolgen. Auf den ersten Blick verwunderlich mag es daher anmuten, dass eigene Regelungen für das Arbeitsrecht in dieser Phase kaum existieren und im Grundsatz das allgemeine Arbeitsrecht mit nur sehr wenigen Modifizierungen weitergilt. Der Gesetzgeber hat alle wesentlichen Sonderregelungen der InsO, die das Arbeitsrecht überlagern, für das eröffnete Insolvenzverfahren vorbehalten. Gleichwohl ergeben sich einige Besonderheiten, deren Kenntnis zwingend erforderlich ist, um die Übergangsphase nach der Insolvenzantragstellung bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgreich zu überstehen. 2 Von besonderer Bedeutung ist, da während der vorläufigen Insolvenzverwaltung die Umstellung von einem Betrieb unter Geltung der allgemeinen Regelungen in Vorbereitung auf das eröffnete Insolvenzverfahren erfolgt, die Kommunikation mit allen Verfahrensbeteiligten, also hier insbesondere den Arbeitnehmern, dem Betriebsrat und ggf. den Vertretern der Gewerkschaft. Dies alles hat aus rechtlichen und aus tatsächlichen Gründen in enger Abstimmung mit der Geschäftsführung und der Personalleitung zu erfolgen. Aus den besonderen Umständen folgt zudem, dass im Regelfall in Sanierungs- und Krisenfällen eine angespannte Atmosphäre herrscht, weil situationsbedingt Verlustängste bei den betroffenen Arbeitnehmern bestehen. Die Krise ist nicht nur für den Betrieb, sondern auch für den Bestand der Arbeitsverhältnisse in hohem Maße existenzbedrohend. Es wird von dem vorläufigen Insolvenzverwalter erwartet, dass er diese Situation beruhigt, um i. R. des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Vorbereitungen treffen zu können. Neben der Organisation der Insolvenzgeldvorfinanzierung ist es daher vor allem die Aufgabe des vorläufi-
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II. Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung
gen Insolvenzverwalters, mit den Verfahrensbeteiligten zu kommunizieren und die hierzu nötigen Kommunikationswege zu etablieren. II.
Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung
1.
Allgemeines Keine Anwendbarkeit der §§ 113, 120 – 128 InsO: BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352
Ist ein Insolvenzantrag durch das Insolvenzgericht zugelassen worden, so er- 3 folgt häufig die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung über das Vermögen des Insolvenzschuldners und zugleich die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, § 21 Abs. 2 InsO. Dabei handelt es sich um eine Sicherungsmaßnahme während des Vorverfahrens. Dem Insolvenzgericht stehen hinsichtlich der Ausgestaltung des vorläufigen Insolvenzverfahrens drei verschiedene Grundvarianten zur Verfügung: x
So besteht die Möglichkeit, dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot aufzuerlegen bei gleichzeitigem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter (sog. „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter, § 22 Abs. 1 InsO).
x
Andererseits kann das Insolvenzgericht anordnen, dass der Schuldner lediglich durch einen Zustimmungsvorbehalt belastet wird, mit der Folge, dass der Schuldner nur bei Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam verfügen kann (sog. „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter).
x
Schließlich kann das Gericht nach neuem Recht die vorläufige Eigenverwaltung anordnen und einen vorläufigen Sachwalter bestellen, § 270a Abs. 1 Nr. 2 InsO.
Losgelöst von der Frage, welche Kompetenzen der vorläufige Insolvenzverwal- 4 ter oder der Sachwalter erhält, hat dessen Bestellung ebenso wie die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung keine Auswirkung auf bestehende Arbeitsverhältnisse. Die arbeitsrechtlichen Sondervorschriften in §§ 113, 120 – 128 InsO finden im vorläufigen Insolvenzverfahren keine direkte oder entsprechende Anwendung.1) 2.
Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Zustimmungsvorbehalt
Die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bei gleichzeitiger Anord- 5 nung eines Zustimmungsvorbehalts entspricht der üblichen Praxis der Insolvenzgerichte.2) Aus dem zu Beginn des Antragsverfahrens meist fehlendem Überblick der Gerichte über die Vermögenslage des Schuldners herrührenden ___________ 1) BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352. 2) Etwa 90 %, vgl. Blank, ZInsO 2001, 780.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
Sicherungsbedürfnis kann bei dieser Variante ausreichend Rechnung getragen werden, ohne zugleich Belastungen für die Masse und den vorläufigen Insolvenzverwalter zu begründen. Denn anders als im Fall des „starken“, verfügungsberechtigten vorläufigen Insolvenzverwalters bei Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbot sind die von dem „schwachen“, zustimmungsberechtigten vorläufigen Insolvenzverwalter begründeten Verbindlichkeiten im später eröffneten Verfahren keine Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 2 InsO, für deren Erfüllung der Insolvenzverwalter persönlich einzustehen hätte (§ 61 i. V. m. § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO). Verfügt der Schuldner ohne Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters, so ist die Verfügung (schwebend) absolut unwirksam, § 81 Abs. 1 InsO. Dabei verbleibt der Schuldner grundsätzlich in seiner Stellung als Arbeitgeber.3) Soweit mit einzelnen arbeitsrechtlichen Maßnahmen keine vermögensrelevanten Folgen verbunden sind, bedürfen diese der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters nicht. Die Entgeltansprüche der Arbeitnehmer, die während der vorläufigen Insolvenzverwaltung entstehen, sind einfache Insolvenzforderungen, da § 55 Abs. 2 InsO auf den „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter keine (entsprechende) Anwendung findet.4) Dies gilt auch, soweit aufgrund der Zahlung von Insolvenzgeld die Entgeltansprüche auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen sind, § 55 Abs. 3 InsO. 3.
Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis
6 Die Pflichten des vorläufigen Insolvenzverwalters bei Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots sind in § 22 Abs. 1 InsO geregelt. Danach hat der vorläufige „starke“ Insolvenzverwalter die besondere Pflicht, ein vom Schuldner betriebenes Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen. Verfügungen des Schuldners sind stets absolut unwirksam, § 24 Abs. 1 InsO. Diese Variante stellt jedoch wegen der sich hieraus ergebenden besonderen Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters für die von ihm begründeten Masseforderungen (siehe oben Rz. 5) gemäß § 61 InsO und der damit verbundenen Risiken die Ausnahme in der Praxis dar.5) Mit dem Übergang der Verfügungsbefugnis als Folge der Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots geht auch die Stellung als Arbeitgeber im Ganzen auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über.6) Insofern findet eine weitge___________ 3) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 56; Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 115; BAG, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, ZIP 2003, 1161 = ZInsO 2003, 817. 4) BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625 = NJW 2002, 3326. 5) Hinsichtlich der weitgehenden Pflichten, die aus der Inbesitznahme und Unternehmensfortführung folgen, wird verwiesen auf Uhlenbruck-Vallander, InsO, § 22 Rz. 18. 6) Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 115; BAG, Urt. v. 18.4.2002 – 8 AZR 347/01, ZInsO 2002, 1198; BAG, Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, ZIP 2009, 984.
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III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
hende Gleichstellung des vorläufigen mit dem endgültigen Insolvenzverwalter statt. Dies gilt sowohl außer- wie innerprozessual. Die Entgeltansprüche der Arbeitnehmer für ihre Arbeitsleistung, die der „star- 7 ke“ vorläufige Insolvenzverwalter für das von ihm verwaltete Vermögen in Anspruch genommen hat, sind Masseforderungen gemäß § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO. Nimmt der vorläufige Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung hingegen nicht in Anspruch, stellt die Arbeitnehmer stattdessen frei und verweist sie auf das Arbeitslosengeld, so entstehen keine Masseforderungen. Die dadurch auf die Bundesagentur für Arbeit übergehenden Entgeltansprüche der Arbeitnehmer (§ 115 Abs. 1 SGB X) sind einfache Insolvenzforderungen nach § 108 Abs. 3 InsO. Gleiches gilt für die wegen der Zahlung von Insolvenzgeld auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangenen Arbeitsentgeltansprüche, § 169 SGB III. Auch diese sind gemäß § 55 Abs. 3 InsO nur als einfache Insolvenzforderungen zu berücksichtigen. III.
Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
1.
Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Zustimmungsvorbehalt
Wie bereits dargestellt, verbleibt die Arbeitgeberfunktion im Fall der vorläufigen 8 Insolvenzverwaltung mit (allgemeinem) Zustimmungsvorbehalt grundsätzlich bei dem Schuldner. Gleichwohl kann das Gericht i. R. seines Ermessens den Übergang der Arbeitgeberfunktion bei der Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters anordnen. Formulierungsbeispiel Zum Zweck der Klarstellung bietet sich dann folgende gebräuchliche Formulierung an: „Das Recht zur Ausübung der Arbeitgeberfunktion einschließlich der Ermächtigung, Kündigungen auszusprechen und mit einem vorhandenen Betriebsrat Interessensausgleichs- und Sozialplanverhandlungen zu führen, wird dem vorläufigen Insolvenzverwalter übertragen.“7) a)
Auswirkungen im Individualarbeitsrecht
aa)
Arbeitgeberkündigungen Kündigungsbefugnis: BAG, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, ZIP 2003, 1161 = ZInsO 2003, 817
Obwohl der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter keine Arbeitgeberfunk- 9 tion einnimmt, ist eine Kündigungserklärung durch den Schuldner ohne des___________ 7) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 66; vgl. AG Bielefeld, Beschl. v. 8.11.2000 – 43 IN 610/00; AG Detmold, Beschl. v. 29.6.2001 – 10c IN 20/01; AG Münster, Beschl. v. 4.10.2001 – 79 IN 46/01.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
sen Zustimmung unwirksam gemäß § 24 Abs. 1. i. V. m. § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO. Denn bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen handelt es sich um Verfügungen über das schuldnerische Vermögens i. S. des Zustimmungsvorbehalts gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO.8) Der Arbeitnehmer kann daher die Kündigungserklärung als einseitiges Rechtsgeschäft des Schuldners gemäß §§ 174, 182 Abs. 3 i. V. m. § 111 Satz 2 BGB wirksam zurückweisen, wenn dieser mit der Kündigung nicht zugleich die Einwilligung des vorläufigen Insolvenzverwalters in schriftlicher Form vorgelegt hat.9) Der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter ist jedoch dann allein kündigungsbefugt, wenn ihm das Gericht das Kündigungsrecht durch ausdrückliche Kompetenzzuweisung übertragen hat. Insoweit kommt ihm dann auch die Arbeitgeberfunktion zu. 10 Unabhängig davon, welche Kompetenzen der Insolvenzverwalter im Einzelnen erhalten hat, richtet sich das anzuwendende Kündigungsrecht nach den allgemeinen Vorschriften. Insolvenzrechtliche Sondervorschriften, wie z. B. § 113 InsO, finden im vorläufigen Insolvenzverfahren keine Anwendung.10) Insbesondere stellt ein zulässiger Insolvenzantrag keinen Kündigungsgrund dar.11) Zur Wirksamkeit der Kündigung sind demnach vorrangig die allgemeinen Vorschriften zu beachten. So bedarf die Kündigung der Schriftform gemäß § 623 BGB bzw. der nach dem jeweils einschlägigen Tarifvertrag bzw. Betriebsvereinbarung oder individualvertraglich vereinbarten besonderen Form. 11
Praxishinweis Bei befristeten Arbeitsverhältnissen besteht ein ordentliches Kündigungsrecht nur dann, wenn ein solches gemäß § 15 Abs. 3 TzBfG vereinbart worden ist.
12 Wurde das ordentliche Kündigungsrecht durch eine Unkündbarkeitsregelung ausgeschlossen, so kann eine außerordentliche Kündigung aufgrund einer Betriebsstilllegung gerechtfertigt sein.12) Die Kündigungsfristen richten sich nach § 622 Abs. 2 BGB oder der individualvertraglichen bzw. tarifvertraglichen Vereinbarung. Auch eine analoge Anwendung des § 113 InsO kommt insoweit nicht in Betracht.13) 13 Befindet sich das schuldnerische Unternehmen bzw. Unternehmensteile in einem Betriebsübergang, so gelten die Regelungen des § 613a BGB ohne jede Einschränkung. Der Arbeitnehmer, der sich gegen die Kündigung wehren will, ___________ 8) BAG, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, ZIP 2003, 1161 = ZInsO 2003, 817. 9) BAG, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, ZIP 2003, 1161 = ZInsO 2003, 817; UhlenbruckBerscheid, InsO, § 22 Rz. 70. 10) BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352; Ascheid/ Preis/Schmidt/Dörner-Künzl, Kündigungsrecht, § 113 InsO Rz. 9. 11) Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 116a. 12) Als soziale Auslauffrist ist dann die sonst geltende gesetzliche oder tarifliche Kündigungsfrist einzuhalten, BAG, Urt. v. 18.9.1997 – 2 ABR 15/97, NJW 1998, 2238. 13) Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 116b.
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III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
muss seine Kündigungsschutzklage gegen den Schuldner als Inhaber der Arbeitgeberfunktion richten, es sei denn, dass das Gericht dem Insolvenzverwalter die Arbeitgeberfunktion ausdrücklich zugewiesen hat.14) Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht abschließend. bb)
Abschluss von Arbeits- und Aufhebungsverträgen
Die Abschlüsse von Arbeits- und Aufhebungsverträgen bedürfen zu ihrer Wirk- 14 samkeit eines Zusammenwirkens von Schuldner und vorläufigem Insolvenzverwalter. Die Rechtshandlungen des Schuldners in diesem Zusammenhang sind unwirksam, solange sie nicht von dem Insolvenzverwalter gebilligt worden sind. Um Rechtsunklarheiten und Missverständnisse zu vermeiden, sollte auch hier die Zustimmungserklärung stets ausdrücklich und schriftlich und idealerweise innerhalb desselben Dokuments erfolgen. Dabei behält der Schuldner nach oben genannten Grundsätzen die Arbeitgeberfunktion, sofern nicht eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung zugunsten des vorläufigen Insolvenzverwalters besteht. Für Aufhebungsverträge gilt nach § 623 BGB das Schriftformerfordernis; 15 dies auch dann, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar in eine Beschäftigungsund Weiterbildungsgesellschaft übergeleitet wird.15) Neben der einvernehmlichen Aufhebung des Arbeitsverhältnisses kann der Arbeitnehmer während des vorläufigen Insolvenzverfahrens von der Arbeit freigestellt werden. Der vorläufige Insolvenzverwalter kann den Arbeitnehmer entweder selbst freistellen oder er stimmt einer Freistellung durch den Schuldner zu.16) Jedoch bedarf es eines sachlichen Grundes, der jedenfalls dann gegeben ist, wenn die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers keine Verwendung mehr findet. Eine wirksame Freistellung erfordert gleichwohl nicht, dass der Betriebsrat nach § 102 BetrVG gehört wird oder nach § 99 BetrVG zustimmt.17) Die Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG sind ebenso nicht beachtlich.18) cc)
Direktionsrecht
Solange der Schuldner entsprechend den obigen Ausführungen die Arbeitgeber- 16 position behält, obliegt ihm auch die Direktion der Arbeitnehmer. Das dem Schuldner somit grundsätzlich zustehende Direktionsrecht ist jedoch dann be___________ 14) Zur Rubrumsberichtigung bei irrtümlicher Falschbezeichnung der Partei, BAG, Urt. v. 21.9.2006 – 2 AZR 573/05, ZIP 2007, 1078; Unzulässigkeit einer alternativen Klageerhebung gegen Schuldner und „schwachen“ vorläufigen Verwalter, LAG Hamm, Beschl. v. 2.2.2002 – 4 (14) Ta 24/02, ZIP 2002, 579; Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 119. 15) LAG Köln, Urt. v. 22.5.2003 – 10 Sa 970/02, ZInsO 2005, 333. 16) Vgl. Berscheid in: FS Greiner, S. 1 f. Anders als für den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter ergibt sich die Freistellungskompetenz nicht schon aus § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO. 17) BAG, Urt v. 22.1.1998 – 2 AZR 267/97, ZIP 1998, 748 = ZInsO 1998, 190; vgl. auch Ascheid/ Preis/Schmidt-Koch, Kündigungsrecht, § 102 BetrVG Rz. 232a. 18) BAG, Urt. v. 11.12.2001 – 9 AZR 80/01, ZIP 2002, 1261 = ZInsO 2002, 889.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
grenzt, wenn seine konkrete Ausübung die Qualität einer Verfügung über das Vermögen erreichen würde. dd)
Urlaub
17 Da das vorläufige Insolvenzverfahren keinen Einfluss auf das Arbeitsverhältnis hat, bleibt auch der urlaubsrechtliche Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers unberührt.19) Die Freistellung hat durch den Schuldner kraft seines ihm weiterhin zustehenden Direktionsrechts zu erfolgen. 18 Wird der Arbeitnehmer während des vorläufigen Insolvenzverfahrens von seiner Arbeitsleistung freigestellt, so handelt es sich bei dem Anspruch auf Urlaubsentgelt und dem an die Freistellung geknüpften Anspruch auf Urlaubsgeld um Ansprüche für die Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 108 Abs. 3 InsO.20) Die Ansprüche können daher nur als Insolvenzforderung geltend gemacht werden, sind jedoch über das Insolvenzgeld gemäß §§ 165 f. SGB III gesichert. 19 Wird das Arbeitsverhältnis während des vorläufigen Insolvenzverfahrens beendet, so ist der nach § 7 Abs. 4 BUrlG wegen der Nichterfüllung des Urlaubsanspruchs bestehende Urlaubsabgeltungsanspruch des Arbeitsnehmers ebenso eine Insolvenzforderung.21) 20 Wird der Arbeitnehmer jedoch während des vorläufigen Insolvenzverfahrens nicht von der Arbeitsleistung freigestellt und steht ihm deshalb ein Urlaubsanspruch oder Urlaubsabgeltungsanspruch im eröffneten Verfahren noch zu bzw. entsteht dieser erst während des eröffneten Verfahrens, so handelt es sich um Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO.22) 21
Praxishinweis Stellt der vorläufige Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer frei, so sollte er zur Vermeidung eines Urlaubsabgeltungsanspruchs die Freistellung unter gleichzeitiger Anrechnung auf den Resturlaub erklären. Denn die Freistellung allein führt nicht dazu, dass der Urlaubsanspruch des Arbeitsnehmers erfüllt wird.23)
___________ 19) Dies gilt selbst im eröffneten Verfahren; vgl. BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651. 20) Düwell/Pulz, NZA 2008, 786. 21) Düwell/Pulz, NZA 2008, 786. 22) Denn nach der Rechtsprechung des BAG ist eine Aufteilung in einen vor oder nach Verfahrenseröffnung entstehenden Teil-Urlaubsanspruch mit dem gesetzlichen Urlaubsrecht nicht vereinbar, BAG, Urt. v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, ZIP 2007, 834 = NZA 2007, 696. Auch der Urlaubsabgeltungsanspruch ist dann als Masseforderung zu behandeln, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zur Beendigung gereicht hätte, den Urlaubsanspruch durch Freistellung von der Arbeitspflicht zu erfüllen, BAG, Urt. v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, ZIP 2003, 1802 = BB 2003, 2404; s. a. Gallner in: ErfK, § 1 BUrlG, Rz. 36 f. 23) Nerlich/Kreplin/Henn-Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 92.
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III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung Auch wenn der Arbeitnehmer i. R. eines Aufhebungsvertrags von der Arbeitspflicht bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses freigestellt wird, bedarf es einer entsprechenden Anrechnungserklärung.24)
ee)
Zeugnisse
Der „schwache“ vorläufige Insolvenzverwalter hat grundsätzlich keine Kompe- 22 tenz zur Erteilung des Arbeitszeugnisses. Der Arbeitnehmer hat daher keinen Zeugnisanspruch gegen den vorläufigen Insolvenzverwalter für vor der Insolvenzeröffnung beendete Arbeitsverhältnisse.25) Hierzu ist entsprechend seiner weiterhin bestehenden Arbeitgeberfunktion nur der Schuldner selbst verpflichtet.26) Dies ist auch dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer den Anspruch auf Zeugniserteilung erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens geltend macht.27) Eine erhobene Zeugnisklage gegen den Schuldner wird nicht durch die Verfahrenseröffnung gemäß § 240 ZPO unterbrochen.28) Ist der Anspruch auf Erteilung eines Arbeitszeugnisses jedoch erst nach Ver- 23 fahrenseröffnung entstanden, weil das Arbeitsverhältnis über diesen Zeitpunkt hinaus fortbestanden hat, ist die Zeugniserteilung Aufgabe des endgültigen Insolvenzverwalters, auch wenn er keine Kenntnisse über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers gewinnen konnte.29) Zum Zweck der Zeugniserteilung ist der Schuldner dem Insolvenzverwalter jedoch gemäß § 97 InsO zur Auskunft verpflichtet.30) Besteht gegen den Insolvenzverwalter kein Anspruch auf Zeugniserteilung, so kann diese im Übrigen nicht deshalb von dem Insolvenzverwalter verlangt werden, weil die Inanspruchnahme des eigentlich verpflichteten Schuldners nicht möglich ist.31) ff)
Rechtsstreite
Anhängige Arbeitsrechtsprozesse werden bei der Bestellung eines „schwachen“ 24 vorläufigen Insolvenzverwalters nicht gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 240 ___________ 24) 25) 26) 27) 28) 29)
30) 31)
BAG, Urt. v. 18.12.1986 – 8 AZR 481/84, ZIP 1987, 798 = NZA 1987, 633. BAG, Urt. v. 23.6.2004 – 10 AZR 495/03, ZIP 2004, 1974 = BB 2004, 2526. Vgl. Stiller, NZA 2005, 330, 331; Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 121. Der Anspruch kann auch gegen den Schuldner eingeklagt und vollstreckt werden, vgl. LAG Düsseldorf, Beschl. v. 7.11.2003 – 16 Ta 571/03, ZIP 2004, 631, 632. LAG Nürnberg, Beschl. v. 5.12.2002 – 2 Ta 137/02, NZI 2003, 336; LAG Düsseldorf, Beschl. v. 7.11.2003 – 16 Ta 571/03, ZIP 2004, 631, 632. BAG, Urt. v. 23.6.2004 – 10 AZR 495/03, ZIP 2004, 1974 = BB 2004, 2526; Müller-Glöge in: ErfK, § 109 GewO Rz. 4; eine Übertragung auf einen Bevollmächtigten, der über entsprechende Kenntnisse verfügt und dem ehemaligen Arbeitnehmer übergeordnet war, ist jedoch möglich, da es sich nicht um insolvenzspezifische Geschäfte handelt, BAG, Urt. v. 21.7.1988 – 2 AZR 82/88, ZIP 1989, 57. BAG, Urt. v. 23.6.2004 – 10 AZR 495/03, ZIP 2004, 1974 = BB 2004, 2526. Stiller, NZA 2005, 330, 331.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
Satz 2 ZPO unterbrochen.32) Der Schuldner bleibt Prozesspartei im anhängigen Verfahren, der vorläufige Insolvenzverwalter ist nicht prozessführungsbefugt.33) Es findet kein Wechsel hinsichtlich der Aktiv- und Passivlegitimation statt und auch das Rubrum ist nicht zu berichtigen.34) Dies gilt ebenso bei einer Zahlungsklage des Arbeitnehmers, wenn der Arbeitsgerichtsprozess wegen einer wenig später erfolgenden Verfahrenseröffnung nach Anmeldung der vorinsolvenzlichen Forderung gemäß § 240 Satz 1 ZPO unterbrochen wird.35) Erhebt der Arbeitnehmer eine arbeitsrechtliche Klage, so ist diese weiterhin gegen den Schuldner zu richten. gg)
Betriebliche Altersvorsorge
25 Sondervorschriften, die die betriebliche Altersvorsorge im Eröffnungsverfahren regeln, bestehen nicht. Der Arbeitnehmer erwirbt daher auch im Eröffnungszeitraum Anwartschaften i. R. der betrieblichen Altersvorsorge. Ansprüche aus den wichtigsten Fällen der Direktzusage und der Direktversicherung sind Insolvenzforderungen, wenn sie vor Verfahrenseröffnung erdient worden sind.36) Es kommt dabei nicht darauf an, welche Kompetenz der vorläufige Insolvenzverwalter hat. Gemäß § 3 BetrAVG kann der anwartschaftsberechtigte Arbeitnehmer hinsichtlich des Teils der Anwartschaft, den er ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses erworben worden hat, auch ohne seine Zustimmung abgefunden werden, wenn die Betriebstätigkeit vollständig eingestellt und das Unternehmen liquidiert wird.37) 26 Im Übrigen greift gemäß § 7 BetrAVG die gesetzliche Versicherung der versorgungsberechtigten Arbeitnehmer und ihrer Hinterbliebenen, wenn das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers eröffnet worden ist. Diese haben dann einen Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung i. H. der Leistung, die der Arbeitgeber aufgrund der Versorgungszusage zu erbringen hätte, wenn das Insolvenzverfahren nicht eröffnet worden wäre. 27 Im Umkehrschluss kann aus §§ 3 und 7 BetrAVG abgeleitet werden, dass der Arbeitnehmer einerseits hinsichtlich seiner während des vorläufigen Insolvenzverfahren erworbenen Anwartschaften gegen seinen Willen nicht abgefunden ___________ 32) BGH, Urt. v. 21.6.1999 – II ZR 70/98, ZIP 1999, 1314 = NJW 1999, 2822; BAG, Urt. v. 25.4.2001 – 5 AZR 360/99, ZInsO 2001, 1024. 33) Vgl. LG Essen, Beschl. v. 6.4.2000 – 44 O 68/00, NZI 2000, 552. 34) BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419 = NZI 2011, 602. 35) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 58. 36) Nach Verfahrenseröffnung handelt es sich um Masseforderungen nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO; vgl. die umfangreiche Darstellung bei Nerlich/Kreplin-Henn-Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 121 f. 37) Dieser Vorschrift kommt nur dann eine Bedeutung zu, wenn das Arbeitsverhältnis nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortgesetzt wird. Zweck ist die erleichterte Liquidation eines Unternehmens im Insolvenzverfahren, BT-Drucks. 12/3802, S. 110.
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III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
werden kann, andererseits dass der Arbeitnehmer im Fall des Versorgungsausfalls (noch) keinen Anspruch aus der gesetzlichen Insolvenzsicherung geltend machen kann. hh) Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, der zuständigen 28 Agentur für Arbeit eine Massenentlassung anzuzeigen. Unterlässt der Arbeitgeber dies, so sind sämtliche Kündigungen – nicht nur solche, die die Schwellenwerte des § 17 KSchG überschreiten – unwirksam.38) Dies gilt gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG auch für alle anderen Beendigungsformen von Arbeitsverträgen, insbesondere für Auflösungsverträge, die die tatbestandlichen Schwellenwerte erreichen.39) Da der Schuldner im Fall der Bestellung eines „schwachen“ vorläufigen Insol- 29 venzverwalters die Arbeitgeberstellung beibehält, hat er die Massenentlassungsanzeige anzuzeigen. Umstritten ist jedoch, ob es sich bei der Massenentlassungsanzeige um eine Verfügung i. S. des § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO handelt, zu deren Wirksamkeit die Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters notwendig ist. Nach richtiger Auffassung liegt jedoch keine zustimmungspflichtige Verfügung vor.40) Denn die Massenentlassungsanzeige sowie die von ihr ausgehenden Wirkungen sind keine Verfügungen über das schuldnerische Vermögen und haben darauf auch keinen unmittelbaren Einfluss. Schon aus teleologischen Gesichtspunkten kann somit aus § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO keine Mitteilungspflicht abgeleitet werden. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Massenentlassungsanzeige nach ihrer Rechtsnatur keine Verfügung, sondern vielmehr reine Wissensmitteilung des Arbeitgebers ist. 30
Praxishinweis In der Praxis wird es sich jedoch vorsorglich gleichwohl anbieten, dass der Schuldner als Arbeitgeber die Massenentlassungsanzeige bei gleichzeitiger Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters erklärt. Auch sonst erscheint die Erklärung einer vorsorglichen Massenentlassungsanzeige im Hinblick auf die bei einem Verstoß erheblichen Folgen empfehlenswert.41)
___________ 38) BAG, Urt. v. 10.3.1982 – 4 AZR 158/79, NJW 1982, 2839; LAG Düsseldorf, Urt. v. 1.3.2007 – 13 Sa 1275/06, ZIP 2007, 1025; Ascheid/Preis/Schmidt-Moll, Kündigungsrecht, § 17 KSchG Rz. 133. 39) BAG, v. 11.3.1999 – 2 AZR 461/98, ZIP 1999, 1568 = ZInsO 1999, 420; s. a. Hergenröder in: MünchKomm-BGB, § 17 KSchG Rz. 25. 40) Nerlich/Kreplin-Henn-Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 307. 41) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 86; Berscheid, ZInsO 2000, 208, 209.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
b)
Auswirkungen im Kollektivarbeitsrecht
aa)
Keine Anwendung von §§ 122, 123, 125 InsO
31 Ist im vorläufigen Verfahren ein „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter ohne Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bestellt worden, finden die §§ 122, 123, 125 InsO weder direkt noch analog Anwendung. Es handelt sich insoweit um abschließende Regelungen für die Zeit nach Verfahrenseröffnung. bb)
Beginn von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen, § 111 BetrVG, § 122 InsO
32 Im Rahmen von Betriebsänderungen nach § 111 BetrVG bleibt der Unternehmer Verhandlungspartner des Betriebsrats, auch wenn er für den Abschluss eines Sozialplans wegen der finanziellen Auswirkungen die Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters benötigt.42) Möglich ist jedoch, dass der vorläufige Insolvenzverwalter auch ohne Ausspruch eines allgemeinen Verfügungsverbots nach § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO durch Einzelanordnung im Bestellungsbeschluss ermächtigt wird, mit dem Betriebsrat Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen zu führen. In diesem Fall wird der vorläufige („schwache“) Insolvenzverwalter Ansprech- und Verhandlungspartner des Betriebsrats.43) 33 Die dreiwöchige Frist des § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO beginnt ab der Aufnahme eines Einigungsverfahrens oder ab dem Zugang der Aufforderung des Insolvenzverwalters an den Betriebsrat, Verhandlungen über einen Interessenausgleich zu beginnen. Verhandlungen, die vor Verfahrenseröffnung vom Insolvenzschuldner geführt wurden, sind hier mit einzurechnen.44) 34
Praxishinweis Auch in dem wohl häufigsten Fall der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bei Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts ohne die Erteilung besonderer Ermächtigungen empfiehlt sich daher die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Betriebsrat, wenn sich die Durchführung einer Betriebsänderung als notwendig abzeichnet. Die Verhandlungsführung hat in diesem Fall gemeinsam mit dem Schuldner zu erfolgen, um den formellen Anforderungen zu genügen.
cc)
Interessenausgleich und Kündigungsschutz, § 125 InsO
35 Ist eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG geplant und kommt zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande, modifiziert § 125 InsO die Regelungen des § 1 KSchG. Nach der Rechtsprechung und der in der Literatur h. M. ist § 125 InsO auf den vorläufigen Insolvenzverwalter ___________ 42) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 90. 43) Vgl. Ennemann in: Kölner Schrift, 2. Aufl., S. 1473, 1479 Rz. 14. 44) Andres/Leithaus, InsO, § 12 Rz. 5; Ahrendt in: HambKomm-InsR, § 122 InsO Rz. 6.
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III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
weder direkt noch analog anwendbar.45) Ein vom vorläufigen Verwalter abgeschlossener Interessenausgleich nach § 125 InsO kann vom endgültigen Verwalter jedoch nach § 184 BGB (analog) genehmigt werden. Diese Genehmigung wirkt auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung zurück.46) Der Abschluss einer solchen Vereinbarung mit dem Betriebsrat während des 36 Antragsverfahrens erfolgt aber praktisch nie. Der Regelfall ist, dass während des Antragsverfahrens Verhandlungen mit dem Betriebsrat geführt werden, um für eine zeitnah nach Eröffnung des Verfahrens abzuschließende Vereinbarung vorbereitet zu sein. dd)
(Sonstige) Beschlussverfahren, § 126 InsO
Der vorläufige Insolvenzverwalter ist i. R. eines Beschlussverfahrens nach § 126 37 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht antragsbefugt, es findet keine direkte oder analoge Anwendung der Norm im vorläufigen Verfahren statt.47) ee)
Erstattung von Sachverständigenkosten des Betriebsrats als Masseverbindlichkeiten
Der Betriebsrat kann sich nach § 80 Abs. 3 Satz 1 BetrVG oder im Falle der Be- 38 triebsänderung nach § 111 Satz 2 BetrVG sachverständlich beraten lassen, soweit dies zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich ist. Hat der Betriebsrat vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers nach §§ 80 Abs. 3, 111 Satz 2 BetrVG einen Sachverständigen oder einen Berater konsultiert und dauerte dessen Tätigkeit bis nach der Insolvenzeröffnung an, sind die Honoraransprüche für die bis zur Insolvenzverfahrenseröffnung erbrachten Beratungsleistungen keine Masseverbindlichkeiten, sondern Insolvenzforderungen i. S. des § 38 InsO.48) Liegt keine Einzelermächtigung vor,49) basieren entsprechende Ansprüche nicht auf einem nach Verfahrenseröffnung vom Insolvenzverwalter eingegangen Schuldverhältnis, § 55 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1, Abs. 2 Satz 1 InsO.
___________ 45) Vgl. Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 107 f. m. w. N.; es findet auch keine analoge Anwendung auf den „starken“ Insolvenzverwalter statt. 46) Vgl. Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 109 ff. 47) Plössner in: BeckOK-ArbR, Ed. 26, § 126 InsO Rz. 17. 48) BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, ZIP 2010, 588 (2. Instanz: LAG München); vgl. auch Schaub, Arbeitsrechts-Hdb., § 233 Rz. 21 ff. 49) Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 120 a. E., 95; BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, ZIP 2010, 588 = AP BetrVG 1972, § 40 Nr. 96, Rz. 35.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
2.
Vorläufige Insolvenzverwaltung mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis
39 Bestellt das Insolvenzgericht einen „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, so gelten die vorstehenden Ausführungen weitestgehend nicht.50) Da der vorläufige Insolvenzverwalter in dieser Variante der vorläufigen Insolvenzverwaltung die Stellung eines Arbeitgebers einnimmt, ist vielmehr eine Orientierung an der arbeitsrechtlichen Stellung des endgültigen Insolvenzverwalters geboten. Im Übrigen ist er dem Schuldner gleichgestellt.51) Dabei ist jedoch zu beachten, dass die arbeitsrechtlichen Sondervorschriften für das eröffnete Verfahren nach §§ 113, 120 – 128 InsO auch bei Bestellung eines „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters weder unmittelbar noch entsprechende Anwendung finden.52) a)
Auswirkungen im Individualarbeitsrecht
40 Als wesentliche Folge des Übergangs der Arbeitgeberstellung auf den vorläufigen Insolvenzverwalter ist dieser ausschließlich kündigungsbefugt. Eine Mitwirkung des Schuldners ist nicht erforderlich. Somit hat der vorläufige Insolvenzverwalter auch die Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG zu erklären.53) Wie auch im Fall der Bestellung eines „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters ist das Kündigungsschutzrecht uneingeschränkt zu berücksichtigen. 41 Kündigungsschutzklagen der Arbeitnehmer sind gegen den vorläufigen Insolvenzverwalter zu richten. Geschieht dies nicht, so wird die Frist des § 4 KSchG nicht gewahrt.54) Im Übrigen werden alle anhängigen Prozesse gegen den Schuldner gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 240 Satz 2 ZPO unterbrochen. Die Prozessführungsbefugnis für die laufenden und zukünftigen Arbeitsrechtsprozesse geht auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über.55) Eine Aufnahme der unterbrochenen Rechtsstreite kann nur nach den insolvenzrechtlichen Sonderbestimmungen der §§ 24 Abs. 2, 85, 86 InsO erfolgen. Das Rubrum ist dabei jeweils auf den vorläufigen Insolvenzverwalter umzustellen, da er nun Prozesspartei ist. ___________ 50) Da die Bestellung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters der Ausnahmefall ist (s. Fn. 2), erfolgt hier nur eine Kurzdarstellung. Zur weiteren Vertiefung s. Nerlich/Kreplin/HennHenn/Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 1 f.; UhlenbruckBerscheid, InsO, § 22 Rz. 49 f.; Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 115 f. 51) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 53. 52) BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289 = NZA 2006, 1352; LAG Hamburg, Urt. v. 16.10.2003 – 8 Sa 63/03, ZIP 2004, 869. Zum Meinungsstreit, ob eine analoge Anwendung geboten ist, s. Nerlich/Kreplin-Henn/Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 15, 16. 53) Nerlich/Kreplin-Henn/Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 307. 54) Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 199. 55) AG Göttingen, Beschl. v. 2.1.2002 – 21 C 216/01 (A), ZInsO 2002, 386.
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III. Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
Neben der Kündigung kommt dem vorläufigen Insolvenzverwalter aus § 55 42 Abs. 2 InsO unmittelbar das Recht zu, Arbeitnehmer, für deren Arbeitsleistung es keine Verwendung gibt, freizustellen. Des Weiteren kommt dem „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter aufgrund 43 der ihm zugewiesenen Arbeitgeberstellung nicht nur das Direktionsrecht zu, so dass er gegenüber jedem Arbeitnehmer weisungsbefugt ist. Er ist auch ausschließlich für den Abschluss von Arbeits- und Aufhebungsverträgen zuständig. Der urlaubsrechtliche Freistellungsanspruch des Arbeitnehmers bzw. die dar- 44 aus resultierenden Ansprüche auf Urlaubsabgeltung (§ 7 Abs. 4 BUrlG), Urlaubsentgelt und Urlaubsgeld, die nach Bestellung des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters entstehen, sind Masseforderungen.56) Wird der vorläufige Insolvenzverwalters während des Urlaubs des Arbeitnehmers bestellt, so sind die Urlaubstage bzw. urlaubsrechtlichen Ansprüche nach Insolvenzforderungen (vor Bestellung) und Masseforderungen (nach Bestellung) aufzuteilen.57) Der vorläufige Insolvenzverwalter hat zudem den Anspruch des Arbeitnehmers 45 auf Erteilung eines Arbeitszeugnisses gemäß § 630 BGB bzw. § 109 GewO zu erfüllen. Eine entsprechende Klage ist gegen den vorläufigen Verwalter zu richten. Bei mangelnder Kenntnis über die Arbeitsleistung hat der Schuldner den vorläufigen Verwalter bei der Zeugniserstellung gemäß § 97 InsO zu unterstützen. 46
Praxishinweis Die nichtabschließende Aufzählung der Arbeitgeberpflichten, die den vorläufig „starken“ Insolvenzverwalter treffen, zeigt die geringe Praktikabilität dieser Anordnung. Der vorläufige Insolvenzverwalter wird in diesem Fall mit Pflichten konfrontiert, die er regelmäßig gar nicht oder nur sehr schwer erfüllen kann. Auch aus diesem Grund bleibt die Anordnung dieser Maßnahme in der Rechtspraxis die Ausnahme.
b)
Auswirkungen im Kollektivarbeitsrecht
Für den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter ergeben sich gegenüber dem 47 „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter Besonderheiten hinsichtlich der Anwendung der §§ 122, 123 InsO. aa)
Beginn von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen, § 111 BetrVG, § 122 InsO
Soweit im vorläufigen Verfahren ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit Ver- 48 waltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO bestellt wurde, ist dieser auch im Eröffnungsverfahren schon befugt, Betriebsänderungen ein___________ 56) BAG, Urt. v. 21.6.2005 – 9 AZR 295/04, NZI 2006, 309. 57) Nerlich/Kreplin-Henn/Anschütz, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 34 Rz. 91.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
zuleiten und umzusetzen. Da die Arbeitgeberfunktion mit Ausspruch des allgemeinen Verfügungsverbots gegenüber dem Insolvenzschuldner auf den vorläufigen Verwalter übergegangen ist (siehe oben Rz. 39), obliegt es auch dem Verwalter, bei Betriebsänderungen i. S. des § 111 Satz 3 BetrVG die Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen mit dem Betriebsrat zu führen.58) Die – praktisch ohnehin wenig bedeutungsvolle – Möglichkeit der Verfahrensbeschleunigung nach § 122 InsO bleibt jedoch auch ihm verwehrt, § 122 InsO ist unanwendbar.59) Entsprechend der Situation beim „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter beginnt die dreiwöchige Frist des § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO hier mit Verhandlungsaufforderung des vorläufigen Verwalters gegenüber dem Betriebsrat. Scheitern die Verhandlungen, ist der vorläufige Verwalter gehalten, das für den Versuch einer Einigung über den Interessenausgleich vorgesehene Verfahren des § 112 Abs. 1 – 3 BetrVG voll auszuschöpfen und von sich aus die Einigungsstelle anzurufen, um Ansprüche auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs nach § 113 Abs. 3 BetrVG zu vermeiden.60) bb)
Vor Insolvenzeröffnung aufgestellte Sozialpläne, § 123 InsO
49 Grundsätzlich enthält § 123 InsO nur Sonderregelungen für Sozialpläne, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgestellt wurden. Für Verbindlichkeiten aus solchen Sozialplänen schreibt § 123 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, dass sie Masseverbindlichkeiten sind. Verbindlichkeiten aus Sozialplänen vor Insolvenzverfahrenseröffnung sind mithin grundsätzlich Insolvenzforderungen nach § 38 InsO. Dies entspricht der Systematik der InsO, die Masseverbindlichkeiten nur nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen lässt.61) Von dieser Grundregel macht die InsO eine Ausnahme, wenn ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter Verbindlichkeiten mit Verfügungsbefugnis nach §§ 21 Abs. 2, 22 InsO vor Eröffnung des Verfahrens begründet.62) Sozialpläne, die ein solcher vorläufiger Verwalter vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens abschließt, sind kraft gesetzlicher Fiktion Masseverbindlichkeiten, § 55 Abs. 2 InsO.
___________ 58) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 90; Ennemann in: Kölner Schrift, 2. Aufl., S. 1473, 1479 Rz. 14 f. 59) Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, § 122 Rz. 39; a. A. Andres/Leithaus, InsO, § 122 Rz. 1. 60) Uhlenbruck-Berscheid, InsO, § 22 Rz. 91; vgl. auch Ennemann in: Kölner Schrift, 2. Aufl., S. 1473, 1479 Rz. 15; vgl. LAG München, Beschl. v. 4.7.2002 – 4 Sa 565/01. 61) Vgl. BAG, Urt. v. 31.7.2002 – 10 AZR 275/01, ZIP 2002, 2051 = BB 2002, 2451. 62) Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, § 124 Rz. 23; für den vorläufigen Verwalter mit Befugnis nach §§ 21 Abs. 2, Nr. 2, 22 InsO vgl. BAG, Urt. v. 31.7.2002 – 10 AZR 275/01, ZIP 2002, 2051 = BB 2002, 2451.
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IV. Insolvenzgeldvorfinanzierung
IV.
Insolvenzgeldvorfinanzierung
Ein wichtiges Instrument zur Finanzierung von Betriebsfortführungen im In- 50 solvenzeröffnungsverfahren ist die sog. Insolvenzgeldvorfinanzierung.63) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben gemäß § 165 SGB III Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei einem Insolvenzereignis für die vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben.64) Die Vorbereitung und Durchführung der Insolvenzgeldvorfinanzierung steht regelmäßig an erster Stelle des Maßnahmenkatalogs in der vorläufigen Insolvenzverwaltung. Hierbei werden die durch das Gesetz geschützten Arbeitsentgeltansprüche mit Zustimmung der Agentur für Arbeit an eine das Insolvenzgeld vorfinanzierende Bank abgetreten. Die Arbeitnehmer erhalten als Kaufpreiszahlung für die abgetretenen Ansprüche aus einem gesonderten Darlehen, das nicht der schuldnerischen Gesellschaft gewährt wird, eine Zahlung von bis zu 100 % netto, beschränkt auf die Beitragsbemessungsgrenze. 51
Praxishinweis Durch das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) und die Einfügung der §§ 270a, 270b InsO wurde das Institut des vorläufigen Sachwalters geschaffen. Nachdem die Durchführung der Insolvenzgeldvorfinanzierung in der Vergangenheit die Domäne der vorläufigen Insolvenzverwalter war, scheint es sich abzuzeichnen, dass im Falle der vorläufigen Eigenverwaltung der vorläufige Sachwalter die Aufgabe der Durchführung der Insolvenzgeldvorfinanzierung übernimmt.
Gemäß § 170 Abs. 1 SGB III folgt der Anspruch auf Insolvenzgeld dem An- 52 spruch auf Arbeitsentgelt, soweit der Arbeitnehmer diesen vor Antragstellung auf Insolvenzgeld auf einen Dritten übertragen hat. Beachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass nach § 170 Abs. 4 SGB III der neue Gläubiger keinen Anspruch auf Insolvenzgeld für Ansprüche auf Arbeitsentgelt hat, die ihm vor dem Insolvenzereignis ohne Zustimmung der Agentur für Arbeit zur Vorfinanzierung der Arbeitsentgelte übertragen wurden. Daher liegt die erste Amtshandlung des vorläufigen Insolvenzverwalters darin, nach Erfassung des Sachverhalts die Zustimmung zur Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes bei der hierfür örtlich zuständigen Agentur für Arbeit zu beantragen, die hierüber per Bescheid entscheidet. Hierbei agiert der vorläufige Insolvenzverwalter in Vertretung für die vorfinanzierende Bank. Wenn die Agentur für Arbeit die Zustimmung durch Bescheid erteilt hat, führt 53 der vorläufige Insolvenzverwalter die Insolvenzgeldvorfinanzierung im Zusam___________ 63) Schröder in: HambKomm-InsR, § 22 InsO Rz. 122. 64) Durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt v. 20.12.2011 wurden die Regelungen in das SGB III unter §§ 165 – 172 eingefügt. Bis dahin galten praktisch inhaltsgleich die §§ 183 – 189 SGB III.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
menspiel mit der vorfinanzierenden Bank aus. Die Zahlung der Zinsen und Kosten hat dabei aus der Insolvenzmasse zu erfolgen. 54 Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird der Insolvenzverwalter die Bank bei der Erstellung des Antrags „Insolvenzgeld Dritte“ unterstützen, um so die Rückführung des Darlehens durch Auszahlung des Insolvenzgeldes an die Bank sicherzustellen. Der Antrag ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach Vorliegen des Insolvenzereignisses, im Falle der Vorfinanzierung also der Insolvenzeröffnung, zu stellen (§ 324 Abs. 3 SGB III). V.
Mitarbeiterkommunikation
55 Wie bereits in der Vormerkung geschildert, liegt eine der wesentlichen Aufgaben des vorläufigen Insolvenzverwalters im Bereich des Arbeitsrechts in der Mitarbeiterkommunikation. Hierunter fallen in diesem Zusammenhang die Kommunikation mit den Arbeitnehmern als auch die Kommunikation mit dem Betriebsrat und den Vertretern der Gewerkschaften. Die unterschiedlichen Verfahrensbeteiligten haben dabei unterschiedliche Interessen und Blickwinkel, die der vorläufige Insolvenzverwalter kennen muss. 1.
Bedeutung für die Sanierung
56 Eine kompetente und beteiligtenspezifische Kommunikation ist unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen einer möglichen Sanierung. Die Kommunikation schafft die erforderliche Transparenz für die Verfahrensbeteiligten, die graduell unterschiedlich insolvenzerfahren sind. Arbeitnehmer verfügen regelmäßig über gar keine Insolvenzerfahrung, so dass keine Vorkenntnisse und keine Erfahrungswerte vorhanden sind. Betriebsräte können aufgrund von Schulungen schon über Vorkenntnisse verfügen, haben jedoch nur in seltenen Fällen eigene praktische Erfahrungen in diesem Bereich sammeln können. Vertreter von Gewerkschaften oder den Rechtsberatungsgesellschaften der Gewerkschaften verfügen hingegen regelmäßig über einschlägige Vorkenntnisse und Insolvenzerfahrungen. Die Art der Ansprache und die Inhalte der Kommunikation können sich daher gerade zu Beginn des Insolvenzantragsverfahrens, wenn völlig unterschiedliche Voraussetzungen gegeben sind, sehr stark unterscheiden. Eine Sanierung wird nur dann zum erfolgreichen Erhalt des Unternehmens führen können, wenn es dem vorläufigen Insolvenzverwalter gelingt, das Vertrauen dieser Verfahrensbeteiligten zu gewinnen, wozu neben den rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen auch fundierte Kenntnisse der Kommunikationsregeln erforderlich sind. 2.
Formen der Kommunikation
57 In Abhängigkeit der unterschiedlichen Verfahrensbeteiligten ergibt sich die Notwendigkeit, die Form der Kommunikation der Situation und den Verfahrens-
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V. Mitarbeiterkommunikation
beteiligten anzupassen. Häufig ist es auch erforderlich, die im Unternehmen ursprünglich bestehenden Kommunikationswege, die sich bereits vor Insolvenzantrag etabliert hatten, wiederherzustellen. Die durch die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung eingetretene neue Situation führt fast regelmäßig zur Verunsicherung auf Mitarbeiterseite, da, wie zuvor erwähnt, keine genauen Kenntnisse über die dadurch eingetretenen rechtlichen Änderungen auf Mitarbeiterseite vorliegen. Dies gepaart mit der gleichzeitigen Fehlannahme, dass der vorläufige Insolvenzverwalter generell für alle Themen zuständig ist, kann dazu führen, dass in den ersten Stunden und Tagen nach Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung jeder Verfahrensbeteiligte, darunter auch die Arbeitnehmer, sich mit den unterschiedlichsten Anliegen unmittelbar an den vorläufigen Insolvenzverwalter wenden. Einen dadurch eintretenden Kommunikationsstau gilt es dann durch eine zügige geeignete Information der Verfahrensbeteiligten wieder aufzulösen. Dabei muss als erste Kernbotschaft vermittelt werden, dass trotz der Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung die im Unternehmen vorhandenen Strukturen, die auch den Hierarchien entsprechen sollten, weiter zu nutzen. Die Frage nach der Lösung eines operativen Problems wird nicht der vorläufige Insolvenzverwalter beantworten können, sondern nur der Fachvorgesetzte. a)
Betriebsversammlungen
Der Betriebsrat ist berechtigt, über die in § 43 Abs. 1 Satz 1 und 4 BetrVG ge- 58 nannten regelmäßigen und zusätzlichen Betriebsversammlungen hinaus noch außerordentliche Betriebsversammlungen durchzuführen, wenn er dies für notwendig erachtet (Abs. 3).65) Die Notwendigkeit einer außerordentlichen Betriebsversammlung ist insbesondere dann zu bejahen, wenn in einer Frage von besonderer Bedeutung die unverzügliche Abhaltung einer Betriebsversammlung sachlich und dringend geboten ist.66) Die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung und die dadurch eingetretene Situation begründet die Notwendigkeit der Einberufung einer außerordentlichen Betriebsversammlung durch den Betriebsrat. Die Betriebsversammlung besteht aus den Arbeitnehmern des Betriebes.67) Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 ist der Arbeitgeber zu den Betriebs- und Abteilungsversammlungen unter Mitteilung der Tagesordnung einzuladen. Hierunter wird auch die Teilnahme des vorläufigen Insolvenzverwalters zu subsumieren sein, auch wenn im Falle der Anordnung des Zustimmungsvorbehalts noch nicht von einem Übergang der Arbeitgeberbefugnis auszugehen ist. Da die Teilnahme des vorläufigen Insolvenzverwalters regelmäßig im Interesse der Arbeitnehmer und des Betriebsrats steht, bedarf dies keiner weiteren Erörterung. ___________ 65) Fitting, BetrVG, § 43 Rz. 38. 66) Weber in: GK-BetrVG, § 43 Rz. 44. 67) Fitting, BetrVG, § 42 Rz. 14.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
59 Innerhalb der in den häufigsten Fällen zeitnah vom Betriebsrat einberufenen außerordentlichen Betriebsversammlung erteilt der Betriebsrat dem vorläufigen Insolvenzverwalter das Wort und ermöglicht so eine Information der Arbeitnehmer über die neue Situation, die sich nach der Insolvenzantragstellung ergibt und ihren unmittelbaren Konsequenzen für die Arbeitnehmer. Häufig wird diese Veranstaltung schon genutzt, um Erstinformationen über den Insolvenzschutz der Arbeitnehmer durch das Insolvenzgeld und eine angestrebte Insolvenzgeldvorfinanzierung zu erteilen. b)
Frage- und Antwortlisten
60 Die Mitarbeiter im Betrieb konfrontieren den vorläufigen Insolvenzverwalter häufig mit einer Vielzahl unterschiedlicher Fragen, die in Abhängigkeit der Arbeitnehmerzahlen im Betrieb mitunter schon aus faktischen Kapazitätsgründen nicht beantwortet werden können. Auch zeigt sich, dass viele Mitarbeiter die praktisch gleichen Fragen stellen, so dass es sich empfiehlt, diese Fragen zu bündeln und einheitlich zu beantworten. Die Erstellung von Frage- und Antwortlisten ist daher nicht nur eine prozessökonomische Lösung, sondern folgt auch der Regel der einheitlichen Kommunikation, um Missverständnisse und Widersprüche zu vermeiden. Im Anhang wird als Beispiel ein möglicher Frageund Antwortkatalog ausschnittsweise zu den Themen Insolvenzgeld und betriebliche Altersvorsorge angefügt. 61
Praxishinweis Die Erstellung eines entsprechenden Frage- und Antwortkatalogs kann sich als sehr arbeitsintensiv erweisen. Noch arbeitsintensiver ist es jedoch, zu versuchen, entsprechende Fragen einzeln zu beantworten. Keine Lösung ist indes, die entsprechenden Fragen der Mitarbeiter unbeantwortet zu lassen.
62 In Abhängigkeit von den technischen Möglichkeiten und der Kommunikationskultur im Unternehmen wird der Frage- und Antwortkatalog im Intranet oder als Aushang, in Einzelfällen auch als Rundschreiben, zugänglich gemacht. Da das Insolvenzverfahren ein nicht öffentliches Verfahren ist, verbietet sich eine unbeschränkte Veröffentlichung bspw. durch unbeschränkten Zugang im Internet. c)
Direkte Ansprechbarkeit (E-Mailing/telefonisch/Einschaltung von Hilfspersonen, Zusammenarbeit mit der Personalabteilung)
63 Trotz der allgemeinen Informationen im Wege von Betriebsversammlungen und Frage- und Antwortkatalogen wird es Einzelfälle und Detailprobleme geben, die auch eine individuelle Beantwortung und Bearbeitung erfordern. So wie es die Prozessökonomie gebietet, die Betriebsversammlung nicht mit der Lösung von Einzelfallproblemen zu belasten, so ist die individuelle Beantwortung im Nachgang entsprechend berechtigter und relevanter Fragen unumgänglich.
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V. Mitarbeiterkommunikation
Auch insoweit gilt jedoch, vorhandene Strukturen zu nutzen und ggf. Fragen 64 und Fälle über die Personalabteilung zu bündeln und hierüber Kommunikationswege für das weitere Antragsverfahren zu etablieren. Der von Mitarbeitern häufig gewünschte direkte Zugang zum vorläufigen Insolvenzverwalter oder seinen Mitarbeitern ist in den meisten Fällen nicht zielführend, da in Unkenntnis des vollständigen Sachverhalts keine kompetenten Antworten gegeben werden können. Eine Strukturierung und Sachverhaltsaufbereitung im Vorfeld ist daher für alle Verfahrensbeteiligten von Vorteil. d)
Betriebsrat
Wenn in dem Betrieb ein Betriebsrat bestellt ist, so empfiehlt sich die unver- 65 zügliche Kontaktaufnahme. Schon zur Abstimmung bzw. Anregung der Einberufung einer außerordentlichen Betriebsversammlung, die nach Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung zeitnah erfolgen sollte, ist dies erforderlich. Aufgrund der Vielzahl der Fragestellungen, die schon im Verlauf des Antragsverfahrens betriebsverfassungsrechtlich relevant sein können, ist die umfassende Information und Einbindung des Betriebsrates geboten. Dafür, dass aufgrund der zu Beginn des Antragsverfahrens bestehenden Hektik die zeitlichen Ressourcen des vorläufigen Insolvenzverwalters knapp sind, wird jeder Betriebsrat Verständnis aufbringen können. Allerdings kann es sein, dass im Laufe des weiteren Antragsverfahrens oder auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens i. R. eines möglichen Sanierungs- und Veräußerungsprozesses unter Hochdruck Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich, Sozialplan oder sonstige Betriebsvereinbarungen zu führen sein werden. Es liegt auf der Hand, dass ein Betriebsrat, der sich bis dahin von dem Informationsfluss ausgeschlossen gefühlt hat, ein ganz anderer Verhandlungspartner sein wird, als der Betriebsrat, der bis dahin vollumfänglich informiert wurde und seine Informations- und Mitwirkungsrechte gewahrt sieht. 3.
Beispiel für einen Frage- und Antwortkatalog
Fragen zum Insolvenzverfahren allgemein x
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Wie und wann kann ich meine Forderungen für die Insolvenztabelle einreichen? Nach Eröffnung der Insolvenz erhalten Sie ein Schreiben des Insolvenzverwalters mit einer Auflistung Ihrer Ansprüche, welche Sie dann prüfen und gegenzeichnen bzw. ggf. korrigiert zurücksenden müssen. Mitarbeiter, die das Unternehmen bereits verlassen haben, erhalten diese Mitteilung per Post zugesandt.
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Kann ein potenzieller Investor nur Teile des Unternehmens (z. B. einen Standort) erwerben? Ja, dies wäre möglich. Grosser
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
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Sind die zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderungen der Mitarbeiter öffentlich einsehbar? Sämtliche zur Insolvenztabelle angemeldete Forderungen können von den übrigen Gläubigern, nicht aber von der Öffentlichkeit, eingesehen werden.
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Gibt es im vorläufigen Insolvenzverfahren einen Vorrang bzgl. Gehalts-/ Lohnforderungen gegenüber Forderungen anderer Gläubiger (z. B. Banken, Lieferanten)? Nein, in diesem Zusammenhang besteht kein besonderer Schutz der Mitarbeiterinteressen. Die Mitarbeiterforderungen werden genauso behandelt wie die Forderungen aller anderen Gläubiger.
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Wenn es am Tag der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit der X-AG weitergeht, aber meine Stelle in der neuen Firma eventuell wegfällt, gelten dann die üblichen vertraglichen Kündigungsfristen? Nach Insolvenzeröffnung gelten die vertraglichen Kündigungsfristen. Der Insolvenzverwalter ist dabei jedoch an eine maximale Kündigungsfrist von drei Monaten gebunden.
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Was ist eine Insolvenz? Insolvenz bezeichnet die Eigenschaft eines Schuldners, seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Gläubiger nicht erfüllen zu können. Das Insolvenzverfahren ist ein gerichtliches Verfahren, das der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger dient.
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Wie ist die Situation seit Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens? An allen deutschen Standorten geht der Geschäftsbetrieb zunächst weiter. Die Geschäftsführung der X-AG bleibt im Amt und leitet die Geschäfte in Abstimmung mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter. Bis spätestens … wird dann voraussichtlich das Insolvenzverfahren vom AG … eröffnet.
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Was geschieht jetzt mit unserem Standort? An allen Standorten geht der Geschäftsbetrieb zunächst weiter. Unser Ziel ist es, mit einem neuen Investor alle Standorte und so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten.
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Welche Funktion hat eigentlich der Insolvenzverwalter im Unternehmen? Zunächst einmal befindet sich X-AG im vorläufigen Insolvenzverfahren und hat deshalb einen vorläufigen Insolvenzverwalter. Die Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters ergeben sich aus den Beschlüssen des AG X sowie aus dem Gesetz. Ohne die Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters können bspw. keine wirksamen Verträge mehr abgeschlossen werden.
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V. Mitarbeiterkommunikation
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Was passiert mit meinem Arbeitsverhältnis? Das Arbeitsverhältnis und somit auch die arbeitsvertraglichen Verpflichtungen bestehen unverändert fort.
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Gelten während des Insolvenzverfahrens alle arbeitsvertraglichen Regelungen, insbesondere auch in Bezug auf Kündigungsfristen? Grundsätzlich gelten alle arbeitsrechtlichen Regelungen auch i. R. der Insolvenz fort. Hinsichtlich der Kündigungsfristen gilt jedoch, dass ein Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis mit einer maximalen Kündigungsfrist von drei Monaten beenden kann.
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Welche Rechte hat der Betriebsrat während der Insolvenz? Die betriebliche Mitbestimmung bleibt sowohl vor als auch nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens grundsätzlich unverändert.
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Was ist eine Insolvenztabelle? Dabei handelt es sich um das Verzeichnis der beim Insolvenzgericht angemeldeten Insolvenzforderungen (§§ 174 ff. InsO).
Einzelthemen x
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Werde ich für Bewerbungsgespräche freigestellt? Die Freistellung für ein Bewerbungsgespräch muss mit der Führungskraft abgesprochen werden. Für die ausfallende Arbeitszeit sollen Gleitzeitguthaben verwendet oder Urlaubstage in Anspruch genommen werden. Wenn das Arbeitsverhältnis bereits gekündigt ist, müssen hierfür keine Urlaubs- und Zeitguthaben eingebracht werden. Die Abstimmung mit der Führungskraft muss dennoch erfolgen.
x
Benötige ich zukünftig eine spezielle Reisegenehmigung? Für die Mitarbeiter der X-AG wurde der neue Prozess am … kommuniziert. Bitte entnehmen Sie die weiteren Details der entsprechenden E-Mail.
x
Sollen Reisekosten, die vor dem Tag der Antragstellung angefallen sind, noch eingereicht werden? Werden diese Reisekosten noch erstattet werden? Wenn ja: Wann? Für die Mitarbeiter der X-AG wurde der neue Prozess am … kommuniziert. Bitte entnehmen Sie die weiteren Details der entsprechenden E-Mail.
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Was passiert mit den Reisekostenabrechnungen, die vor dem Tag der Antragstellung noch eingereicht wurden, jedoch noch nicht ausbezahlt sind? Für die Mitarbeiter der X-AG wurde der neue Prozess am … kommuniziert. Bitte entnehmen Sie die weiteren Details der entsprechenden E-Mail.
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§ 12 Arbeitsrecht der vorläufigen Insolvenzverwaltung
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Sollen Reisekosten, die nach dem Tag der Antragstellung angefallen sind, auf dem bekannten Weg eingereicht werden? Wann erfolgt die Erstattung? Für die Mitarbeiter der X-AG wurde der neue Prozess am … kommuniziert. Bitte entnehmen Sie die weiteren Details der entsprechenden E-Mail.
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Kann ich meine American Express Firmenkreditkarte weiterhin für Reisen verwenden? Alle AMEX-Kreditkarteninhaber wurden mit einer E-Mail am … darüber informiert, dass die Firmenkreditkarten wieder freigeschaltet sind.
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Wie kann ich meinen Urlaub beantragen? Urlaub muss wie bisher beim Vorgesetzten beantragt werden.
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Wird mein Urlaubsgeld wie gehabt ausbezahlt? Urlaubsgeld ist ein normaler Bestandteil der Löhne und Gehälter.
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Teil II Operative personalwirtschaftliche Sanierung – Case Studies 1 bis 5 – Einführung des Herausgebers: Bevor die im Übersichts-Kapitel genannten arbeitsrechtlichen Themen einzeln vertieft werden, danken Herausgeber und Autoren den nachfolgenden Sanierungsberatern für ihre aktuellen Fall-Studien. Eine arbeitsrechtliche Sanierung ist kein „Abarbeiten eines Musters“, sondern die intelligente Kombination von operativen, personalwirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Komponenten, eingebettet in einen oft sehr ambitionierten Zeitplan und eine Betriebs- und Unternehmensöffentlichkeit, die dem oft notwendigen Personalabbau kritisch, wenn nicht feindlich gegenüber steht. Daher schildern die Autoren nachfolgend – bewusst ganz subjektiv – die Rahmenbedingungen, die letztlich einen nachhaltigen Sanierungserfolg möglich machen können. Auch hier sind Überschneidungen wieder ganz bewusst – vieles wiederholt sich in der Praxis von Fall zu Fall, aber jeder Fall ist für sich wieder eine Fortentwicklung dessen, was Praktiker unter „Sanierungsarbeitsrecht“ verstehen.
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen Übersicht I.
Ausgangs- und Rahmenbedingungen ................................................ 1 1. Strategische Krise, Ertrags- und Liquiditätskrise ................................... 3 2. Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen......................................... 8 II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept ................................... 16 1. Strukturelle Maßnahmen ................. 19 a) Liquidation................................. 22
b) Standortschließung ................... 31 c) Reorganisation und Kapazitätsanpassung............................. 40 2. Operative Maßnahmen .................... 47 3. Personalpolitische Maßnahmen ...... 50 4. Vorrausetzungen für die Implementierung........................................ 61 III. Stakeholder Management .............. 79 IV. Fazit .................................................. 90
Literatur: Baur/Kantowsky/Schulte, Stakeholder-Management in der Restrukturierung, 2012; Bickhoff/Blatz/Eilenberger/Haghani/Kraus, Die Unternehmenskrise als Chance, 2004; Niering/Hillebrand, Wege durch die Unternehmenskrise, 2. Aufl., 2008.
I.
Ausgangs- und Rahmenbedingungen
Im Rahmen der operativen Sanierung und den damit einhergehenden Personal- 1 themen sind eine Vielzahl von Ausgangs- und Rahmenbedingungen zu beachten. In diesem Zusammenhang kommt es ganz entscheidend auf das Krisenstadium des jeweiligen Unternehmens an, da je nach Ausprägung der Krise die notwendige Restrukturierung und die damit einhergehenden finanziellen und operativen Einschnitte sowohl in der Intensität als auch bei der notwendigen Implementierungsgeschwindigkeit sehr unterschiedlich sein können und müssen. Die wesentlichen Gesichtspunkte und Kernelemente der operativen Restruk- 2 turierung, die jeweiligen Prozesse sowie deren Bezug zu personalseitigen Themen sollen im Folgenden erörtert werden. Dabei wird teilweise auch Bezug genommen auf entsprechende Praxisfälle und die jeweiligen erfolgskritischen Parameter sowie mögliche Lösungswege bzw. zu beachtende praktische Hürden. Rechtliche Erwägungen sollen dabei nur am Rande erwähnt bzw. erörtert werden. Es wird unterstellt, dass die beschriebenen Maßnahmen einer Interessenausgleichspflicht gemäß § 111 BetrVG i. V. m. § 17 Abs. 1 KSchG unterliegen bzw. Betriebsräte oder ggf. auch Gewerkschaften auf der Basis existierender Mitbestimmungsrechte zu beteiligen sind. 1.
Strategische Krise, Ertrags- und Liquiditätskrise
Ausgangspunkt einer Sanierung ist in der Regel die Krise des Unternehmens. 3 Diese wird sehr oft erst in einem bereits fortgeschrittenen bzw. akuten Zustand von den Beteiligten erkannt, häufig auch erst einmal ignoriert, um nicht sofort unangenehme Maßnahmen implementieren zu müssen.
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25
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
4 Hier gilt es zwischen internen und externen Beteiligten zu differenzieren, da diese in der Regel über qualitativ höchst unterschiedliche Voraussetzungen zur Krisenerkennung verfügen. Häufig sind externe Beteiligte wie z. B. Banken, Kreditversicherer oder Gewerkschaften im Hinblick auf unternehmensspezifische Finanzinformationen gegenüber den internen Beteiligten deutlich im Nachteil, zumindest zu Beginn einer Krise. 5 Im Hinblick auf die Intensität einer Krise wird in der gängigen Literatur ein Drei-Phasen-Modell1) beschrieben, beginnend mit der strategischen Krise, gefolgt von der Ertragskrise und der stärksten Ausprägung, der Liquiditätskrise. 6 Abb. 1: Phasen des Krisenzyklus hoch
Insolvenzgefahr
Liquiditätskrise
Ertragskrise
Strategische Krise
niedrig niedrig
Grad der Krise
hoch
Quelle: AlixPartners
7 Spätestens in der Liquiditätskrise befindet sich das Unternehmen in akuter Insolvenzgefahr und es sind kurzfristige Maßnahmen zur Abwendung der Zahlungsunfähigkeit notwendig. 2.
Notwendigkeit von Sanierungsmaßnahmen
8 Unabhängig von der Intensität einer Krise werden unterschiedliche Maßnahmen zur Abwendung der Krise und zwecks Rückkehr zur nachhaltigen Profitabilität innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens von zwei bis drei Ge___________ 1) Vgl. dazu u. a. Brühl/Göpfert, Unternehmensrestrukturierung, S. 18; Bickhoff/Eilenberger, Die Krise als Chance, S. 9.
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I. Ausgangs- und Rahmenbedingungen
schäftsjahren notwendig sein. Hier werden zum einen Finanzthemen adressiert, zum anderen aber auch Maßnahmen in den operativen Bereichen des Unternehmens notwendig sein. Zunächst gilt es, die kurz- und mittelfristige Finanzierung des Unternehmens 9 zu sichern. Für den Fall einer akuten Liquiditätskrise liegt die Priorität auf der Sicherstellung der kurzfristigen Finanzierung. Der Schwerpunkt liegt dabei in vielen Fällen auf einer Brückenfinanzierung, um die notwendige Liquidität für den Zeitraum zur Erstellung eines umfangreichen Sanierungsplans zu sichern. Dieser Zeitraum sollte in der Regel konservativ bemessen sein, da zum einen die Konzepterstellung mit einem entsprechenden Businessplan und zum anderen auch die notwendige Prüfung des Sanierungskonzepts entsprechend IDW S 62) sowie hinreichend Zeit für Verhandlungen mit den entsprechenden Finanzierungspartnern umfasst sein sollten. Dies ist in jedem Fall zwingend, wenn die Umsetzung des Sanierungskonzepts 10 eine Refinanzierung bzw. finanzielle Restrukturierung notwendig macht und das Unternehmen zusätzliche finanzielle Mittel und ggf. sogar zusätzliches Eigenkapital benötigt.3) Parallel zu möglichen Maßnahmen der finanziellen Restrukturierung wird ein 11 Sanierungsplan immer auch operative Sanierungsmaßnahmen umfassen müssen. In diesem Zusammenhang werden auf der Basis einer umfassenden Analyse der wesentlichen Kostenarten entsprechende Maßnahmen zur Kostensenkung definiert. Dies umfasst sowohl den Materialaufwand als auch die sonstigen betrieblichen Aufwendungen. Im Bereich des Materialaufwands können dies u. a. Verhandlungen mit Lieferanten über Preisreduzierungen oder auch produktbezogene technische Änderungen sein, im Bereich der sonstigen betrieblichen Aufwendungen z. B. die Reduzierung der Anzahl von Dienstwagen oder auch die Nutzung günstigerer Fahrzeuge. Ein wesentlicher Schwerpunkt jeder operativen Restrukturierung ist und bleibt 12 aber auch der Personalaufwand, der nach wie vor in den meisten Industrien – je nach entsprechender Wertschöpfungstiefe und Personalintensität – einen signifikanten Kostenblock darstellt. Auch in diesem Bereich wird es in der Regel Verbesserungsbedarf geben. Die typischen Hebel dafür sind x
strukturelle Maßnahmen (etwa Standortschließungen oder -verlagerungen),
x
Produktivitätssteigerungen oder Prozessverbesserungen in existierenden Strukturen oder
___________ 2) Zu den Details vgl. Institut der Wirtschaftsprüfer, IDW S 6 – Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten v. 20.8.2012, WPg Supplement 4/2012, S. 130 ff. 3) Zu den Einzelheiten der finanziellen Restrukturierung vgl. u. a. Baur/Kantowsky/Schulte, Stakeholder-Management in der Restrukturierung, S. 61 ff., Groß in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, S. 257 ff.
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§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
x
personalpolitische Maßnahmen, wie z. B. temporäre Verzichte oder Stundungen seitens der Belegschaft.
13 Entsprechende Ziele für die strukturelle und operative Dimensionierung des Unternehmens werden häufig auf der Basis von entsprechenden Benchmarks vergleichbarer Unternehmen oder interner Zeitreihenvergleiche erarbeitet. 14 Die folgende Abbildung verdeutlicht am Beispiel des Maschinenbaus die Maßgeblichkeit der Personalkosten als einen der wesentlichen Hebel zur Reduzierung struktureller und operativer Kosten i. R. eines Sanierungskonzepts. 15 Abb. 2: Anteil Personalaufwand an der Gesamtleistung im Maschinenbau Bis 2 Mio. EUR Umsatz
38,7 %
2 bis 9 Mio. EUR Umsatz
33,3 %
10 bis 49 Mio. EUR Umsatz
30,4 %
Ab 50 Mio. EUR Umsatz
23,7 %
Durchschnitt
25,4 %
Quelle: Statistisches Handbuch für den Maschinenbau, Ausgabe 2011, S. 75
II.
Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
16 Personalmaßnahmen stellen typischerweise einen wesentlichen Bestandteil der operativen Sanierung dar. Solche Maßnahmen betreffen in den meisten Fällen die gesamte Organisation und Wertschöpfungskette des Unternehmens und zielen auf die Verbesserung der Produktivität und Prozesse. 17 Wesentlich ist der Unterschied zu reinen ergebnisverbessernden Projekten bzw. Maßnahmen, die auch eine Steigerung der Profitabilität zum Ziel haben, aber im Unterschied zu einer Sanierungssituation deutlich anderen Determinanten unterliegen. Im Rahmen einer Sanierung müssen Einschnitte aufgrund der herrschenden Verlustsituation und eines ggf. bereits vorhandenen Liquiditätsengpasses erheblich drastischer ausfallen. Sie betreffen das gesamte Unternehmen und müssen in einem sehr engen zeitlichen Korsett umgesetzt werden, um die Verlustursachen zügig und vor allem nachhaltig zu beseitigen. 18 Ein Sanierungskonzept wird häufig sowohl Maßnahmen struktureller als auch operativer Natur sowie ggf. auch personalpolitische Maßnahmen enthalten.
28
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II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
1.
Strukturelle Maßnahmen
Im Bereich der strukturellen Maßnahmen sind unterschiedliche Konstellationen 19 zu unterscheiden. x
Zum einen die Liquidation von Unternehmen oder Funktionseinheiten,
x
zum anderen die Fälle einer vollständigen oder teilweisen Schließung von einzelnen Standorten.
Beide bedeuten in der Regel den vollständigen Abbau der betroffenen Arbeitsplätze. In anderen Fällen geht es um einschneidende Reorganisationen und Kapazitätsanpassungen. Die Konsequenzen solcher unternehmerischen Entscheidungen, vor allem im 20 Hinblick auf die öffentliche Wirkung und daraus resultierende Konsequenzen für die Unternehmen, verdeutlichen eine Vielzahl von Beispielen. Aus der jüngeren Vergangenheit seien hier die öffentlich umfänglich diskutierten Betriebsschließungen bei der Adam Opel AG und Nokia mit den Schließungen der Werke in Bochum erwähnt. Solche Maßnahmen sind nach einer Entscheidung dann auch konsequent umzusetzen 21
Praxishinweis In Einzelfällen ist der Arbeitgeber gut beraten, den Zeitpunkt für die Bekanntgabe etwaiger Schließungsmaßnahmen vorab genau zu beleuchten. Beispielhaft sind hier Unternehmen mit einem klassischen Saisongeschäft zu nennen. Es wäre nicht ratsam, eine Schließungsmaßnahme in einer Phase hoher Produktionsauslastung zu kommunizieren bzw. zu implementieren. Gleiches gilt auch für die Liquidation von Unternehmen bzw. Unternehmensteilen.
a)
Liquidation
Die Liquidation von Unternehmen bzw. Unternehmensteilen stellt aus Sicht 22 der Arbeitnehmer den wohl signifikantesten Einschnitt dar. Hier steht mit der Bekanntgabe der Entscheidung fest, dass es in jedem Fall nur noch eine zeitlich begrenzte Perspektive gibt und dass letztendlich alle Stellen gestrichen werden. Dies gilt auch für Fälle einer schrittweisen Liquidation unternehmerischer Aktivitäten, die z. B. durch noch abzuschließende Projektarbeiten oder Aufträge gekennzeichnet sind. Praxisbeispiel (schrittweise stille Liquidation) Das betroffene Unternehmen war im Bereich Projektentwicklung und Anlagenbau tätig und beschäftigte ca. 1.000 eigene Mitarbeiter und weitere ca. 200 Leiharbeiter an insgesamt drei Standorten im Inland. Alle wesentlichen Teile der Wertschöpfung, Herstellung der Komponenten, Aufbau der Anlagen sowie Wartung/Service wurden aus einer Hand angeboten. Mit Eintritt der akuten Krise wurde zur Abwendung der Insolvenz die Finanzierung des noch laufenden einzigen Projekts durch die finanzierende Bank sichergestellt, gleichzeitig aber auch ein Konzept zur
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§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
schrittweisen stillen Liquidation des Unternehmens entsprechend dem Projektfortschritt für den Fall verabschiedet, dass der angestrebte Verkauf des Unternehmens nicht realisiert werden konnte. Nach dem Scheitern des Gesamtverkaufs der Unternehmensgruppe wurde das Konzept der schrittweisen stillen Liquidation umgesetzt. Herausforderung der personalseitig notwendigen Maßnahmen nach Scheitern des Gesamtverkaufs war die pünktliche Fertigstellung des Auftrags trotz mangelnder Perspektive für die betroffenen Mitarbeiter. 23 In dieser Fallkonstellation spielte die Kommunikation durch die verantwortliche Geschäftsführung eine entscheidende Rolle. Diese hatte sich zu jedem Zeitpunkt an den entsprechenden Fakten zu orientieren und die Sachlage transparent und neutral darzustellen, um überzogene Erwartungen bei den Mitarbeitern zu vermeiden („Expectation Management“). Dies bedeutete, dass zum einen die Belegschaft in entsprechend kurzen Zeitabständen über die jeweilige Sachlage zu informieren war und zum anderen, dass die Informationen so vollständig sein mussten, dass sich die Mitarbeiter ein klares Bild über die jeweilige Situation und mögliche Konsequenzen machen konnten. 24 Im konkreten Fall war eindeutig, dass das Scheitern des möglichen Gesamtverkaufs der Unternehmensgruppe – dieser hätte ggf. für einen größeren Teil der Mitarbeiter eine Perspektive bedeutet – umgehend, bei gleichzeitiger Bekanntgabe der entsprechenden Konsequenzen, nämlich der schrittweisen Stilllegung, an die Belegschaft zu kommunizieren war. Dies umfasste zumindest eine grobe Skizzierung des weiteren Vorgehens mit den entsprechenden Terminen für die schrittweise Stilllegung der betrieblichen Tätigkeit. Dies war für die Geschäftsführung eine Frage der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit, die auch im weiteren Prozess eine entscheidende Rolle spielten. 25 Entscheidend war hier vor allem die zeitliche Perspektive der betroffenen Mitarbeiter, denn diese benötigten Planungssicherheit im Hinblick auf den Bestand ihrer Arbeitsplätze. Wenn diese Planungssicherheit nicht gegeben ist, steigt das ohnehin bereits gegebene Risiko von Eigenkündigungen weiter an. Dies war vor dem Hintergrund des noch abzuschließenden Projekts unbedingt zu vermeiden. Von wesentlicher Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch der Gleichklang der Nachrichten, unabhängig von Medium und Zielgruppen. 26 Einer der wesentlichen Meilensteine i. R. der Umsetzung war die Implementierung eines Retention-Programms zur Absicherung der Zugehörigkeit der für die Fertigstellung des Projekts wesentlichen Mitarbeiter: x
30
Zunächst wurden die einzelnen Gesellschaften bzw. Bereiche im Hinblick auf die Bedeutung für die Fertigstellung des Projekts bewertet. Im Vordergrund stand dabei der direkte Einfluss auf die noch zu leistende Bautätigkeit und an zweiter Stelle die Bedeutung für die im Anschluss daran durchzuführende Abwicklung.
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II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
x
Im zweiten Schritt wurde zwischen Managementfunktionen und Mitarbeitern differenziert. Im Bereich des Managements wurden dabei individuelle Vereinbarungen geschlossen, die an projektrelevante, messbare Meilensteine geknüpft waren.
x
Die Mitarbeiter der relevanten Bereiche wurden im nächsten Schritt in drei Kategorien unterteilt, u. a. anknüpfend an projektspezifisches Know-how. Hier lag der Schwerpunkt der Gewährung von Bonuszahlungen auf den Mitarbeitern der Kategorie A. Diese Zahlungen wurden anders als beim Management als reine Honorierung der Betriebstreue ausgestaltet, um die Zahlung vom Bestand eines entsprechenden ungekündigten Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Zahlung abhängig machen zu können.4)
x
Für die Mitarbeiter der Kategorien A und B wurden darüber hinaus Leistungen i. R. der Weiterbildung/Umschulung definiert. Dies sollte ebenfalls die Bereitschaft zum Verbleiben bis zum Ende des Projekts fördern und gleichzeitig das mögliche Nachrücken von Mitarbeitern der Kategorie B unterstreichen. Hier galt es ein klares Signal für die Bereitschaft des Unternehmens zu setzen, die Mitarbeiter auch im Hinblick auf eine zukünftige berufliche Tätigkeit in anderen Unternehmen zu unterstützen und zu fördern. 27
Praxishinweis Darüber hinaus wurde ein weiterer „Topf“ mit finanziellen Mitteln zur Verfügung gestellt, um über die definierten und vereinbarten Maßnahmen hinaus, zu späteren Zeitpunkten weitere individuelle Maßnahmen umsetzen zu können. Dies empfiehlt sich in jedem Fall, da die i. R. eines Retention-Konzepts notwendigen finanziellen Mittel finanziert sein müssen und dadurch auch zu späteren Zeitpunkten noch „trockenes Pulver“ zur Verfügung steht, um kurzfristig individuell reagieren zu können.
___________ 4) Vgl. dazu die neuere Rechtsprechung des BAG zu Stichtagsklauseln bei Sonderzahlungen mit Mischcharakter: BAG, Urt. v. 18.1.2012 – 10 AZR 612/10, ZIP 2012, 938; BAG, Urt. v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2013, 1093.
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31
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
28 Abb. 3: Beispiel Eckpunkte Retention-Programm • Fokus auf die für die Fertigstellung des Projekts notwendigen Bereiche der Gruppe Bereiche/ • In begrenztem Umfang auch Holdingstrukturen soweit notwendig für die Liquidationsphase Mitarbeiter • Fokus auf Managment bzw. den Mitarbeitern der Kategorie A, z. B. Projektleiter, Gruppen- oder Teamleiter • Individualvereinbarungen für das Managment gekoppelt an quantifizierte Projektziele • Retention-Boni für Mitarbeiter der Kategorie A – In den operativ zwingend notwendigen Bereichen (50% eines Jahresgrundgehalts) – In den für die Abwicklung notwendigen Bereichen (40% eines Jahresgrundgehalts) Leistungen – Ausgestaltung als Honorierung der Betriebstreue • In der Kategorie B Weiterbildungsmaßnahmen für einzelne Mitarbeiter, mögliche „Nachrücker“ in die Kategorie A • Kategorie C keine Leistungen • Definition nicht zugeordneter „Topf“ für ggf. später notwendige Individualmaßnahmen Quelle: AlixPartners
29 Im Zusammenhang mit den umzusetzenden einzelnen Schließungsschritten wurden zusätzlich weitere Prämien bzw. Bonuszahlungen ausgeschüttet. Diese wurden allerdings in zeitlich sehr engem Zusammenhang mit den Einzelmaßnahmen vereinbart bzw. zugesagt. Entweder in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bekanntgabe der Maßnahme oder i. R. der Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan. Hier empfehlen sich eine Kopplung mit entsprechenden Produktionsplänen sowie eine monatliche oder quartalsweise Auszahlung, um eine entsprechende Bindungswirkung zu realisieren. Solche Prämien sind keine Garantie für die erfolgreiche Umsetzung von Produktionsplänen, da einzelne Mitarbeiter, unabhängig davon, andere Arbeitsstellen mit einer längeren Perspektive suchen und ggf. auch annehmen werden. Dies ist auch abhängig von der jeweiligen Situation auf den entsprechenden regionalen Arbeitsmärkten. Dabei ist es hilfreich, die Höhe möglicher Incentives und die Attraktivität für die Mitarbeiter entsprechend zu validieren. 30 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch die Sicherstellung von Kontinuität, insbesondere wenn punktuelles Know-how einzelner Mitarbeiter auch zu späteren Zeitpunkten i. R. der Fertigstellung eines Projektes noch benötigt wird. Dabei kann man z. B. Mitarbeiter aus zu schließenden Einheiten schrittweise in die verbleibende Restorganisation integrieren. Dies ist vor allem auch dann von großer Bedeutung, wenn ein zunächst erfolgloser Verkaufsprozess parallel weiterbetrieben wird.
32
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II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
b)
Standortschließung
Davon zu unterschieden ist die Schließung oder Verlagerung von Standorten 31 bzw. Teilbereichen einzelner Standorte oder Funktionen. Hier werden die Arbeitsplätze zumindest teilweise an andere Standorte verlagert. Aus Sicht der betroffenen Arbeitnehmer wird dieser Unterschied häufig nur eine untergeordnete Rolle spielen, da für sie die Verlagerung die gleichen Konsequenzen – den Verlust des Arbeitsplatzes – nach sich zieht, es sei denn, sie wären zu einem Umzug bereit. Insoweit gestalten sich solche Konstellationen, in denen keine Komplettschlie- 32 ßung beabsichtigt ist, sondern zumindest Teile eines Standortes verlagert werden sollen, in der Praxis etwas anders. Praxisbeispiel (Standortschließung bei teilweiser Verlagerung von Funktionen an einen anderen Standort) Als Beispiel dient hier die Schließung eines Standortes i. R. der Restrukturierung eines Chemieunternehmens. Es handelte sich um einen über lange Jahre betriebenen Standort mit ca. 60 Mitarbeitern. Der Schwerpunkt der Tätigkeiten am Standort lag in den Bereichen Vertrieb, Anwendungsberatung, Labortätigkeiten und Administration. Kern der konzeptionellen Überlegungen waren im Wesentlichen die Reduzierung der Strukturkosten durch die Schließung des Standortes und der Abbau der administrativen Tätigkeiten. Darüber hinaus sah das Konzept die Verlagerung eines Großteils der Arbeitsplätze im Bereich Vertrieb und technischer Anwendungsberatung an einen anderen Standort im Inland vor. Einer der erfolgskritischen Punkte war die möglichst kontrollierte Abwicklung 33 des Standortes ohne Unterbrechung des laufenden Betriebs. Das Risiko von Verlusten aufgrund von Betriebsunterbrechungen durch Streiks bzw. von Qualitätsmängeln aufgrund nachlassender Motivation der Mitarbeiter tritt in den meisten Fällen von Betriebsschließungen auf. Solche Verluste können in kurzer Zeit einen signifikanten Umfang erreichen, wenn aufgrund von nicht erfüllten Lieferverpflichtungen, sowohl quantitativ als auch qualitativ, seitens der Kunden Nachbesserungs- oder auch Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden. Insbesondere Streiks stellen ein erhebliches Druckmittel in der Hand der beteiligten Betriebsräte dar. Von wesentlicher Bedeutung im oben genannten Beispiel war bereits die Art 34 und Weise der Kommunikation der beabsichtigten Maßnahme. Der Arbeitgeber hat von Beginn an immer wieder nachdrücklich betont, alle i. R. des Möglichen liegenden Unterstützungsmaßnahmen für die betroffenen Mitarbeiter wohlwollend zu prüfen. Unter anderem wurden auch für Mitarbeiter, deren Arbeitsplätze am betroffenen Standort ersatzlos entfielen, Arbeitsplätze an anderen Standorten angeboten. Die angebotenen Arbeitsplätze waren zwar nicht zwingend vergleichbar, boten aber dennoch eine Perspektive.
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33
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
35 In diesem Zusammenhang wurden umfangreiche Gespräche mit den einzelnen betroffenen Mitarbeitern geführt und – soweit gewünscht – auch Besuche der anderen in Frage kommenden Standorte organisiert und finanziert. Darüber hinaus wurden im Sozialplan detaillierte Regelungen getroffen im Hinblick auf die mögliche Annahme eines funktional oder wirtschaftlich unzumutbaren Arbeitsplatzes, u. a. die Teilnahme an erforderlichen Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen oder der Ausgleich von entstehenden Einkommensdifferenzen für einen Zeitraum von zumindest zwölf Monaten. 36 Dadurch wurde von Beginn an der Schwerpunkt der Auseinandersetzung von der bevorstehenden Schließung verlagert hin zu einer mehr perspektivischen Diskussion für die einzelnen Mitarbeiter. Damit konnte auch die typischerweise eintretende und auf eine Lösung negativ einwirkende Emotionalisierung begrenzt werden. 37 Ein weiterer entscheidender Faktor war der frühzeitige Beginn und zügige Abschluss der Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan. Somit wird sichergestellt, dass das berechtigte Interesse der Mitarbeiter an einem Interessenausgleich und an Inhalt und Höhe von Sozialplanleistungen frühzeitig befriedigt wird. Sollten sich diese Prozesse verzögern, steigt das Risiko der Emotionalisierung bis hin zu ggf. irrationalen Reaktionen. Hier ist stets zu bedenken, dass die Betriebsräte ebenfalls einem exponentiell steigenden Druck durch die Belegschaft ausgesetzt sind. 38 Wesentlich war auch die erfolgreiche Umsetzung der konzeptionell geplanten Verlagerung der Arbeitsplätze in den Bereichen Vertrieb und technischer Anwendungsberatung. Hier wurden bereits in der Konzeptionsphase die entsprechenden Stellen in der Organisation identifiziert, die geeigneten Kandidaten identifiziert und umgehend nach Bekanntgabe der Schließung individuelle Angebote unterbreitet. Darüber hinaus wurden im Sozialplan umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen für den notwendigen Umzug definiert, u. a. x
Ersatz von Maklerkosten für Wohnungssuche,
x
Ersatz von Umzugskosten,
x
Umzugskostenpauschale („Gardinenprämie“) für die Einrichtung einer neuen Wohnung,
x
temporärer Ersatz von Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung bzw. Pendeln, wenn der bisherige Wohnsitz zunächst beibehalten wurde.
39 Auch temporäre Wechsel an einen neuen Arbeitsplatz wurden unterstützt, um zumindest für einen Übergangszeitraum die notwendige Kontinuität zu sichern und die Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu ermöglichen. Dieses Angebot fand auch hohe Akzeptanz bei rentennahen Mitarbeitern, die damit ohne zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit und ggf. damit einhergehende Verluste bei den Rentenansprüchen das Rentenalter erreichen konnten.
34
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II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
c)
Reorganisation und Kapazitätsanpassung
Anders gelagert sind die Fälle, in denen es um die Reorganisation bestehender 40 Strukturen oder die notwendige Anpassung von Kapazitäten geht. Hier werden Standorte weder geschlossen noch verlagert, sondern verkleinert oder Strukturen bzw. Prozesse neu definiert. Aus Sicht der Mitarbeiter bedeutet dies, dass zwar ein Teil der Arbeitsplätze verloren geht, die verbleibenden Mitarbeiter perspektivisch aber unter weitgehend unveränderten Bedingungen am gleichen Standort ihre Arbeit fortsetzen können. Praxisbeispiel (Reorganisation und Kapazitätsabbau) Das betroffene Unternehmen war im Bereich der Satelliten- und Kommunikationstechnik tätig. Im Rahmen des Erwerbs durch einen Wettbewerber sollte angesichts der wirtschaftlichen Situation vor Abschluss eines Kaufvertrages ein Restrukturierungskonzept erstellt und wesentliche Voraussetzungen für die Umsetzung erfüllt werden. Die Umsatzerlöse des Unternehmens hatten sich im Zeitraum von zwei Jahren um ca. 17 % reduziert, EBITDA und EBIT waren deutlich negativ. Im gleichen Zeitraum war der Personalbestand aber um ca. 13 % gewachsen. Eine der wesentlichen Ursachen für die Verlustsituation war die für ein mittelständisches Unternehmen erheblich zu komplexe Organisation mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Funktionen und Schnittstellen sowie ineffizienten Prozessen. Darüber hinaus hatte man den Personalbestand nicht der entsprechenden Umsatzgröße angepasst. Wesentlicher Kern des Konzepts zur Restrukturierung war eine umfassende 41 Vereinfachung der Organisation bei gleichzeitiger signifikanter Reduzierung der Personalkapazitäten. x
Im ersten Schritt wurde die Anzahl der Geschäftsführungsbereiche von drei auf zwei reduziert, um der mittelständischen Größe des Unternehmens Rechnung zu tragen und die entsprechenden Leitungsspannen der Geschäftsführer auf marktübliche Bedingungen auszudehnen.
x
Im zweiten Schritt wurde die Anzahl der Abteilungen unterhalb der Geschäftsführung von 18 auf 11 reduziert. Die Abteilungen wurden aufgelöst bzw. in andere Abteilungen integriert. Dadurch wurde zum einen die Anzahl der Leitungspositionen weiter reduziert, zum anderen die Anzahl der Schnittstellen zwischen den einzelnen Abteilungen signifikant verkleinert. Dies trug erheblich zu einer Reduzierung der Komplexität und Vereinfachung der Prozesse bei.
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§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
42 Abb. 4: Beispiel Organisationsstruktur vor und nach Restrukturierung Ausgangssituation CEO
CFO
Nach Reorganisation COO
18 Abteilungen
CEO/COO
CFO
11 Abteilungen
Quelle: AlixPartners
43 Unter Einbeziehung des notwendigen Abbaus der Kapazitäten konnte der Personalbestand während der Restrukturierungsphase schrittweise um ca. 30 % verringert werden. Damit waren wesentliche Kosteneinsparungen verbunden. 44 Die dem Konzept zugrunde liegenden Personalmaßnahmen wurden noch vor Abschluss eines Kaufvertrags über den Erwerb des Unternehmens mit dem zuständigen Betriebsrat diskutiert und verhandelt sowie ein entsprechender Interessenausgleich und Sozialplan vereinbart. 45 Da in den Folgejahren das Risiko eines weiteren Umsatzrückgangs nicht ausgeschlossen werden konnte, wurden in einer Zusatzvereinbarung mit dem Betriebsrat weitere Maßnahmen abgesichert. Einerseits wurden für die Dauer der Sanierung Lohn- und Gehaltserhöhungen ausgeschlossen, andererseits gab es die Möglichkeit weiteres Personal abzubauen, wenn dies aus Sicht der neuen Eigentümer notwendig sein sollte. Darüber hinaus wurde die Möglichkeit einer noch weitergehenden Anpassung des Interessenausgleichs für den Fall vereinbart, dass die Ziele des dem Konzept zugrunde liegenden Businessplans nicht erreicht würden. 46 Aus Sicht des Erwerbers war damit bereits vor Kaufvertragsabschluss eine ganz wesentliche Bedingung für einen Einstieg erfüllt. Die Verhandlungen mit dem zuständigen Betriebsrat wurden dabei auch durch entsprechende Berater der Käuferseite unterstützt und inhaltlich flankiert.
36
Baur/Jacob
II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
2.
Operative Maßnahmen
In der Krise können neben den strukturellen Maßnahmen auch kurzfristige ope- 47 rative Maßnahmen zur Reduzierung der Personalaufwendungen ergriffen werden. Dazu zählen u. a. x
Abbau von Überstunden – wird erreicht durch eine veränderte Verteilung der vorhandenen Arbeit und führt zu einer Reduzierung der in der Regel teureren Mehrarbeit.
x
Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen – vorbehaltlich der Zustimmung der Arbeitnehmer führt eine vertragliche Anpassung der Arbeitszeit zu einer Kostenentlastung.
x
Auslaufen von Befristungen, Beendigung von Arbeitsverhältnissen in Probezeit – können relativ kurzfristig und ohne außerordentlichen Aufwand umgesetzt werden.
x
Reduzierung von Leiharbeit – sehr kurzfristig umsetzbar, wird in der Regel auch von Betriebsräten gefordert vor Maßnahmen bei der Stammbelegschaft.
x
Einstellungsstopp – die Verhängung eines Einstellungsstopps verbunden mit der Versetzung/Umsetzung anderer Mitarbeiter auf freie Stellen bremst die weitere Erhöhung von Kosten.
In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass solche Maß- 48 nahmen nicht geeignet sind, eine bereits weiter fortgeschrittene Krise zu beseitigen, sondern als flankierende Schritte in einem Paket von Maßnahmen zu sehen sind. Im Zusammenhang mit möglichen kurzfristigen operativen Maßnahmen soll auch 49 das Instrument der Kurzarbeit5) zumindest erwähnt werden. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Arbeitsausfall lediglich vorübergehender Natur ist und der Arbeitgeber begründeten Anlass für die Vermutung hat, dass sich die Lage bessern wird. Diese Voraussetzung wird in Restrukturierungssituationen in der Regel nicht erfüllt sein, da notwendige Kapazitätsreduzierungen grundsätzlich dauerhafter Natur sind. Allerdings können in Einzelfällen die Voraussetzungen durchaus für einzelne Betriebsbereiche – auch für diese kann ggf. Kurzarbeit beantragt werden – gegeben sein. Zumindest empfiehlt sich eine grobe Prüfung der Voraussetzungen eines Antrags auf Kurzarbeitergeld. Auch hier sind – sollten die Voraussetzungen erfüllt sein – die Beteiligungsrechte des Betriebsrates zu beachten.
___________ 5) Das Instrument der strukturellen Kurzarbeit und die Nutzung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften wird an anderer Stelle erörtert, s. unten § 7 Rz. 20 sowie §§ 21 und 22.
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§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
3.
Personalpolitische Maßnahmen
50 Häufig werden i. R. von Restrukturierungskonzepten und der Umsetzung auch Beiträge der Mitarbeiter berücksichtigt und mit entsprechenden Vereinbarungen umgesetzt. Diese werden nicht zuletzt auch von den Fremdkapitalgebern gefordert, in der Regel getragen von der Forderung, alle Beteiligten an einer möglichen Sanierung finanziell zu beteiligen. 51 Darunter fallen u. a. Verzichte der Mitarbeiter auf entgeltliche Leistungen des Arbeitgebers, wie z. B. die monatlichen Lohn- und Gehaltszahlungen, Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Dies führt zu dauerhaften Kosten- bzw. Liquiditätsentlastungen beim Arbeitgeber. In diesem Zusammenhang sind allerdings einige wesentliche Gesichtspunkte zu beachten. x
Zum einen die Unterscheidung zwischen monatlichen Zahlungen wie Lohn und Gehalt, bei denen Verzichte der Mitarbeiter grundsätzlich eher schwierig sind, da die Mitarbeiter die monatlichen Lohn- und Gehaltszahlungen zu einem großen Anteil für den eigenen Lebensunterhalt verplant haben und daher ein Verzicht – wenn überhaupt – nur in einem sehr geringen Umfang möglich sein dürfte.6) Sollte hingegen ein monatlicher Verzicht zwingend sein, sollte dieser möglichst für die Mitarbeiter finanziell darstellbar sein. Aufgrund der Probleme gerade im Hinblick auf Mitarbeiter in niedrigeren Gehaltsstufen ist dies nicht empfehlenswert. Wenn überhaupt, dann z. B. durch die temporäre Kürzung von Überstundenzuschlägen. Da diese in der Regel nicht permanent anfallen, dürfte dies auch aus Sicht der Mitarbeiter eher tragbar sein.
x
Anders ist dies für einmalige Leistungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld zu beurteilen. Diese dienen häufig nicht dem Bestreiten des monatlichen Lebensunterhalts und sind daher möglichen Verzichten eher zugänglich. Dabei dürfte ein Totalverzicht der betroffenen Mitarbeiter in der Regel schwierig sein, da regelmäßig davon auszugehen ist, dass diese Gelder zumindest teilweise ebenfalls verplant sind, z. B. für zu leistende Einmalzahlungen für Lebensversicherungen oder vergleichbare Verpflichtungen.
x
Ebenfalls anders ist dies für den Verzicht auf anstehende Tariferhöhungen zu beurteilen. Hier erfolgt kein direkter Eingriff in den bereits vorhandenen Bestand, sondern in zukünftige Ansprüche. Vor dem Hintergrund der finanziellen Möglichkeiten der Mitarbeiter, dürfte dies sicherlich leichter umzusetzen sein.
52 Allerdings kommt es hier sicherlich auch auf den Zeitpunkt der Vereinbarung eines möglichen Verzichts an. Dieser sollte einen möglichst großen Zeitabstand zum Auszahlungszeitpunkt haben, um den Mitarbeitern die Gelegenheit zu ge___________ 6) Vgl. dazu auch Niering/Hillebrand, Wege durch die Unternehmenskrise, Abschn. 6.5.1, S. 99.
38
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II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
ben, dieses bei ihren individuellen finanziellen Planungen zu berücksichtigen und entsprechende Vorsorge zu treffen. Sollte es primär um eine liquiditätsseitige Entlastung des Unternehmens gehen, 53 kommt auch die temporäre Stundung von Forderungen der Arbeitnehmer in Betracht. Hier wären dann spätere Auszahlungstermine zu vereinbaren. Etwaige spätere Zahlungstermine sollten so vereinbart werden, dass diese dann mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit auch eingehalten werden können. Anderenfalls hätte dieses starke negative Auswirkungen auf das Vertrauen der Mitarbeiter in das Unternehmen und sein Management. Häufig anzutreffen ist auch der Vorschlag der Betriebsräte, unentgeltliche Mehr- 54 arbeit zu leisten. Dies schafft zusätzliche Kapazität ohne entsprechende Kosten. In diesem Zusammenhang ist immer die individuelle Situation des Unternehmens zu berücksichtigen. Wenn es sich um eine vor allem marktseitig verursachte Restrukturierung handelt, wird das Unternehmen in der Regel keinen Bedarf an zusätzlichen Kapazitäten haben, sondern eher Bedarf an Kapazitätsabbau. In diesen Fällen ist die Vereinbarung unentgeltlicher Mehrarbeit für beide Seiten nicht sinnvoll. Dieses ließe sich dann nur über einen verstärkten Personalabbau bei gleichzeitiger unentgeltlicher Mehrarbeit der verbleibenden Belegschaft lösen, dürfte aber nur in seltenen Fällen im Interesse der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter liegen. 55
Praxishinweis In diesem Zusammenhang soll auch auf ein weiteres Risiko verwiesen werden. Häufig sehen solche Vereinbarungen vor, dass die geleistete unentgeltliche Mehrarbeit für den Fall einer späteren Kündigung der Arbeitnehmer nachträglich bezahlt werden muss. Sollte dann zu einem späteren Zeitpunkt eine weitere Welle von Personalabbau notwendig sein, dann kann die Vereinbarung und Leistung unentgeltlicher Mehrarbeit zu einem finanziellen Bumerang für das Unternehmen werden.
Bei der Vereinbarung von Beiträgen der Mitarbeiter ist immer die rechtlich kor- 56 rekte Art der Vereinbarung maßgeblich. Hier ist vor allem die ggf. notwendige Einbindung der Gewerkschaften zu beachten, wenn das Unternehmen tarifgebunden ist und tarifliche Leistungen tangiert werden. An dieser Stelle ist die rechtzeitige Einbindung aller Beteiligten – Mitarbeiter, Betriebsrat und ggf. Gewerkschaften notwendig. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch, mögliche Interessenkonflikte der Beteiligten im Auge zu haben. Hier kann es durchaus auch zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften kommen. Die Betriebsräte haben primär betriebliche Belange und die Sicherung der Arbeitsplätze im Auge, die Gewerkschaften verfolgen möglicherweise eher aus ihrer Sicht übergeordnete tarifliche Prioritäten. Darüber hinaus sind bei solchen Sanierungsvereinbarungen bzw. Sanierungsta- 57 rifverträgen weitere wesentliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen wie z. B. die Einbeziehung der außertariflichen Mitarbeiter. Hier wird in der Regel eine
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§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
Beteiligung in gleicher Höhe verlangt, die dann in individuellen Vereinbarungen zu regeln ist. 58 Daneben werden i. R. eines Personalabbaus verbunden mit individuellen Verzichtsleistungen der verbleibenden Mitarbeiter häufig von Gewerkschaften bzw. Betriebsräten Garantien für die verbleibenden Standorte und Mitarbeiter gefordert. Die Garantien beziehen sich oft auf bestimmte Standorte oder auf die Festschreibung einer bestimmten Anzahl von Stellen im gesamten Unternehmen oder auch an einzelnen Standorten. In der Regel ist dies aus Sicht der Arbeitnehmervertreter eine legitime Forderung, vor allem im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Gegenleistung für die Zustimmung zu einschneidenden Maßnahmen des Arbeitgebers. 59 Gängig sind auch sog. Besserungsscheine oder -vereinbarungen, die eine Beteiligung der Mitarbeiter am zukünftigen Sanierungserfolg vorsehen. Diese dienen dann als partieller Ersatz für die durch die Arbeitnehmer geleisteten Verzichte, wenn die Sanierung erfolgreich umgesetzt wird. 60 Aus Sicht des Arbeitgebers sind in solchen Vereinbarungen verschiedene Gesichtspunkte zwingend zu berücksichtigen: x
Garantien sollten durch den Arbeitgeber nicht in jedem Fall strikt abgelehnt werden, sondern im Detail beleuchtet und durchdacht werden. Vielmehr sollten diese – so man sich dafür entscheidet – für einen begrenzten Zeitraum ausgesprochen werden. Üblich ist hier die Anknüpfung an den eigentlichen Sanierungszeitraum, in der Regel zwei bis drei Jahre. Darüber hinaus ist die Anknüpfung an den die Basis für die Restrukturierung bildenden Businessplan unabdingbar. Die gegenseitigen Verpflichtungen der Parteien einer Sanierungsvereinbarung oder eines Sanierungstarifvertrages können nur Geltung beanspruchen, wenn der entsprechende Businessplan erreicht oder ggf. übertroffen wird.
x
Insoweit ist immer auch eine Vereinbarung für den Fall der Nichterreichung der entsprechenden Ziele zu treffen. Aus Sicht des Unternehmens kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Krise erneut verschärft und man zu weiteren personalseitigen Maßnahmen gezwungen wird. Der Businessplan und das zugrunde liegende Konzept bilden insoweit die Geschäftsgrundlage für entsprechende Vereinbarungen. Sollte diese empfindlich gestört sein oder gar entfallen, muss der Arbeitgeber in der Lage sein, sich von seinen Zusagen befreien zu können. Zumindest muss aber die Möglichkeit bestehen, die entsprechenden Vertragspartner auf Arbeitnehmerseite zu Gesprächen und Verhandlungen über weitere notwendige Maßnahmen aufzufordern und ggf. sogar zu zwingen.
40
Baur/Jacob
II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
4.
Vorrausetzungen für die Implementierung
Im Rahmen der Vorbereitung entsprechender Maßnahmen ist eine Vielzahl von 61 Gesichtspunkten zu bedenken. Abb. 5: Übersicht Parameter für die Vorbereitung von Interessenausgleich 62 und Sozialplan Kritische Parameter für die Vorbereitung von Interessenausgleich und Sozialplan
1
Umfassende Information – Vorbereitung aller relevanten Unterlagen (Konzepte sowie Back-up Material mit weiteren Details (z. B. Analysen, Prozessbeschreibungen))
2
Konsistente Information – Ein Verantwortlicher für Zusammenstellung und Weitergabe der Informationen im Rahmen des Konsultationsprozesses
3
Risikoszenarien – mögliche Risiken (z. B. Streik) vorab beleuchten sowie potentielle Aktionen/Reaktionen kritisch bewerten
4
Verhandlungsgremium – vorab zu definieren, ohne Beteiligung des Top-Managements zur Sicherung von Eskalationsstufen im Rahmen der Verhandlungen
5
Zeitrahmen und Verhandlungskorridor – Absicherung entsprechender Meilensteine und Reaktionsfähigkeit sowie Begrenzung zur Verfügung stehender liquider Mittel
6
Externe juristische Beratung – empfehlenswert bereits in der Vorbereitungsphase, ggf. auch Kommunikationsberater bei möglichen Reputationsrisiken
Quelle: AlixPartners
Grundvoraussetzung für die Implementierung personeller Maßnahmen ist ein 63 detailliertes und durchdachtes Konzept. Die erforderlichen Inhalte gehen dabei an einigen Stellen noch deutlich weiter ins Detail. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die personellen Maßnahmen einer noch weitergehenden Begründung bedürfen, u. a. sehr tiefgehender Analysen im Hinblick auf operative Arbeitsprozesse, geplante Veränderungen sowie die erwarteten Einsparungen daraus. Wenn solche Maßnahmen einer kritischen Diskussion i. R. eines Interessenausgleichs standhalten sollen, ist eine detaillierte Analyse des Ist-Zustands sowie der entsprechenden Kosten bzw. der zukünftig geplanten Veränderungen unumgänglich. Es empfiehlt sich in jedem Fall, die entsprechenden Unterlagen bereits vor Be- 64 ginn von Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan vorzuberei-
Baur/Jacob
41
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
ten. Anderenfalls ist mit deutlichen Verzögerungen zu rechnen, da nicht auszuschließen ist, dass sich ein Betriebsrat – aus seiner Sicht sicherlich mit guten Gründen – auf den Standpunkt stellt, Gespräche erst zu beginnen bzw. fortzusetzen, wenn qualifizierte Unterlagen über die geplanten Maßnahmen zur Verfügung stehen, die Begründungen hierfür sowie die entsprechenden, der unternehmerischen Entscheidung zugrunde liegenden Analysen und Auswirkungen enthalten. Hier werden u. a. detaillierte Prozessbeschreibungen oder Funktionsanalysen benötigt. 65 Abb. 6: Beispiel Funktions-/Prozessanalyse
Quelle: AlixPartners
66 Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Konsistenz dieser Informationen. Aus diesem Grund sollte es einen Verantwortlichen, z. B. der Personalleiter, für die Zusammenstellung und Weitergabe der Informationen i. R. des Konsultationsprozesses geben. 67 Im Rahmen der Vorbereitung sollte sich das Unternehmen auch mit möglichen Risikoszenarien auseinandersetzen, wie z. B. einem möglichen Streik der Belegschaft und den wirtschaftlichen Auswirkungen. Solche Szenarien sollten immer vorab geprüft und beleuchtet werden. Dazu gehört in jedem Fall auch die Untersuchung möglicher Reaktionen oder präventiver Maßnahmen, wie z. B. die Erhöhung von Beständen einzelner kritischer Produkte am betroffenen Standort vor Durchführung einer Personalmaßnahme, um die Lieferfähigkeit abzusichern oder die zeitweise Herstellung einzelner Produkte an nicht durch Maßnahmen betroffenen Standorten.
42
Baur/Jacob
II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
In der Regel ist es auch hilfreich, bereits vor Beginn der Verhandlungen auf Ar- 68 beitgeberseite ein entsprechendes Verhandlungsgremium zu benennen. Dazu sollten, neben der anwaltlichen und einer betriebswirtschaftlichen Unterstützung, die Personalleitung des Unternehmens sowie die operativ Verantwortlichen der hauptsächlich betroffenen Bereiche gehören, um sicherzustellen, dass entsprechende Fragen der Arbeitnehmerseite schnell und kompetent beantwortet werden können. Neben den fachlichen Qualifikationen sollte auch darauf geachtet werden, dass Erfahrung im Umgang mit vergleichbaren Verhandlungssituationen hinreichend repräsentiert ist. Das Top-Management, Vorstände oder Geschäftsführer, sollten in der Regel nicht sofort beteiligt werden, jedenfalls nicht das gesamte Gremium, um noch entsprechende Eskalationsstufen i. R. der Verhandlungen zu haben. In diesem Zusammenhang ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass sowohl 69 Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerseite in der Regel gut beraten sind, nicht jede Meinungsverschiedenheit in extenso auszufechten. In diesem Zusammenhang sei z. B. auf den häufig vorgetragenen Wunsch von Betriebsräten nach externer betriebswirtschaftlicher Beratung verwiesen. Dies ist in vielen Fällen der eigentliche Auftakt eines Verhandlungsprozesses. Ab einer bestimmten Unternehmensgröße steht dem Betriebsrat dieses Recht zu (vgl. § 111 Satz 2 BetrVG, § 80 Abs. 3 BetrVG) und sollte seitens des Arbeitgebers auch eher großzügig gesehen und beschieden werden, allerdings unter Vereinbarung klarer Bedingungen zu Inhalt und Dauer einer solchen Beauftragung. Anderenfalls droht bereits zum Auftakt eine Auseinandersetzung mit signifikantem Konfliktpotential. 70
Praxishinweis Das Verhandlungsgremium sollte sich i. R. der gemeinsamen Vorbereitung auch einen Zeitrahmen für die zu führenden Verhandlungen stecken. Dieser sollte sowohl einzelne Termine, mindestens fünf bis sechs, als auch die anlässlich der Termine zu besprechenden Inhalte vorsehen. Der Terminplan sollte in jedem Fall direkt zu Beginn mit der Arbeitnehmerseite besprochen und vereinbart werden. Erfahrungsgemäß erstrecken sich solche Verhandlungen – abhängig von der Komplexität der Maßnahmen – über einen Zeitraum von ca. 6 – 14 Wochen.
Baur/Jacob
43
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
71 Abb. 7: Übersicht Dauer Verhandlungsprozess Meilenstein
Dauer
Anmerkung • Detailliertes Konzept/„Drehbuch“ erforderlich
Kommunikation Maßnahmen Externe Beratung des BR
1– 2 Wochen • Teilweise gesetzlich vorgeschrieben • Starre Haltung des Arbeitgebers nicht hilfreich • Aufgaben und Zeit-/Budgetrahmen definieren
Begründung Maßnahmen
1– 2 Wochen • Detaillierte Begründungen/Analysen notwendig • Alternativszenarien sollten bedacht werden
Alternativvorschläge des BR
1– 2 Wochen • Durch den Arbeitgeber ernsthaft zu erwägen • Fundierte Widerlegung notwendig
Verhandlung Interessenausgleich
2 – 4 Wochen • Klare Definition Zeitplan, Termine fest vereinbaren • „Wording“ spielt häufig entscheidende Rolle für BR
Verhandlung Sozialplan
1– 4 Wochen • Budgetgrenzen setzen ggf. sogar kommmunizieren • Flexibilität bei der Verteilung ist wesentlich
Umsetzung Maßnahmen Summe
6 – 14 Wochen
Quelle: AlixPartners
72 In Einzelfällen können die Konsultationen allerdings auch länger dauern, insbesondere dann, wenn sich die Gespräche sowohl inhaltlich als auch atmosphärisch konfliktär entwickeln. Beide Seiten sollten daher immer darauf vorbereitet sein, Verhandlungen abzubrechen und in einer Einigungsstelle fortzusetzen, wenn deutlich wird, dass ohne Unterstützung und Moderation einer neutralen Instanz keine Einigung erzielt werden kann. 73 Im Hinblick auf mögliche Verhandlungskorridore empfiehlt sich i. R. der Vorbereitung personeller Maßnahmen auch eine, zumindest grobe, Budgetierung der zu erwartenden Kosten für einen zu vereinbarenden Sozialplan. Hier kann man zunächst auf bereits in der Vergangenheit im Unternehmen vereinbarte Sozialpläne zurückgreifen und die dort vereinbarten Kompensationsmaßnahmen als Berechnungsbasis heranziehen. Allerdings sollte man dabei immer bedenken, dass es eher unwahrscheinlich ist, einen weiteren Sozialplan zu den gleichen Bedingungen abschließen zu können. Erfahrungsgemäß steigen die seitens der Be-
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Baur/Jacob
II. Personalmaßnahmen im Sanierungskonzept
triebsräte geforderten Abfindungshöhen und sonstigen Leistungen mit jeder weiteren Restrukturierungswelle an. Man ist also gut beraten, mit entsprechenden Sicherheitszuschlägen zum Budget zu arbeiten. Alternativ kann man auch externe Benchmarks für eine mögliche Validierung 74 der Aufwendungen heranziehen. Dies ist immer dann zu empfehlen, wenn keine internen Vergleichsgrößen verfügbar sind. Praxisbeispiel (Restrukturierungskosten i. R. des Unternehmenserwerbs) Im vorliegenden Fall ging es um den möglichen Erwerb eines Unternehmens im Bereich der Automobilzuliefererindustrie mit Sitz in Nordrhein-Westfalen. Die Eigentümer hatten im Laufe der Due Diligence ein, durch den neuen Eigentümer zu implementierendes Restrukturierungskonzept vorgelegt, das umfangreiche strukturelle und operative Maßnahmen zur Sanierung an inländischen und ausländischen Standorten vorsah. Das durch externe Berater erstellte Konzept sah für die Restrukturierung einmalige, außerordentliche Aufwendungen i. H. von ca. 45 Mio. € vor und beinhaltete sowohl Abfindungen für Maßnahmen im In- und Ausland als auch Zahlungen für ein zu implementierendes Retention-Konzept. Aufgrund der Höhe der prognostizierten außerordentlichen Aufwendungen für 75 den Sozialplan war die Verifizierung des Aufwands einer der Kernpunkte der Due Diligence. Auf Käuferseite wurden mit externer Unterstützung zunächst die entsprechenden Annahmen überprüft. Eine erste Analyse ergab, dass die für den Sozialplan budgetierten Faktoren unterhalb von bereits im Unternehmen vereinbarten Sozialplänen lagen und zusätzliche Kosten, wie z. B. Aufwand i. R. der notwendigen Rechtsberatung nicht berücksichtigt worden war. Auch die geplanten Aufwendungen für das Retention-Konzept waren zu niedrig angesetzt. In einem zweiten Schritt wurden aus unterschiedlichen Quellen verschiedene 76 Benchmarks untersucht. Hierbei wurde auf vergleichbare Maßnahmen in verschiedenen Branchen Bezug genommen sowie vergleichbare Maßnahmen in der betroffenen Industrie und innerhalb der entsprechenden Region untersucht. Auf der Basis der so ermittelten Durchschnittswerte im Hinblick auf die jeweils vereinbarten Sozialplanfaktoren wurden mit jeweils personenbezogenen Ist-Daten die zu erwartenden Kosten extrapoliert. So entstand eine Bandbreite von zu erwartenden Kosten, die mit ca. 50 % signifikant über denen, im ursprünglichen Businessplan budgetierten Kosten lagen. Diese eklatante Differenz führte dann zum endgültigen Abbruch der Verhandlungen über den Erwerb des Unternehmens.
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§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
77 Abb. 8: Beispiel Benchmarking Sozialplankosten Region
Branche
Jahr Maßnahme Mitarbeiter1) Faktor2) Dauer3) [Anz.] [Monate]
Thüringen
Maschinenbau
2010 Schließung 100
0,75
4,0
Bayern
Automobilzulieferer 2011 Schließung 150
0,90
3,5
2011 Schließung 220
1,10
3,0
Automobilzulieferer 2010 Schließung 120
0,85
4,0
Baden-Würtemberg Maschinenbau Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen Maschinenbau
2012 Schließung 180
1,30
2,5
Nordrhein-Westfalen Automobilzulieferer 2011 Schließung 150
1,10
3,0
Nordrhein-Westfalen Automobilzulieferer 2012 Schließung 100
1,15
3,5
Nordrhein-Westfalen Maschinenbau
1,20
2,5
Durchschnitt
1,04
3,3
Durchschnitt Nordrhein-Westfalen
1,19
2,9
Durchschnitt Automobilzulieferer
1,00
3,5
2011 Schließung 200
1) Anzahl der durch die Maßnahme betroffenen Mitarbeiter 2) Sozialplanfaktor 3) Prozess von Kommunikation der Maßnahme bis Abschluß Interessenausgleich und Sozialplan
Quelle: AlixPartners
78 Bei komplexeren Betriebsänderungen empfiehlt sich immer eine entsprechende externe rechtliche und betriebswirtschaftliche Beratung.7) Diese sollte bereits in der Vorbereitungsphase beginnen. Die Implementierung von Betriebsänderungen beinhaltet eine Vielzahl von möglichen Weichenstellungen im Verlauf des Prozesses sowie inhaltliche und rechtliche Fallstricke, die ohne kompetente Beratung häufig nicht gemeistert werden können. Angesichts der drohenden Folgekosten bei Nichtbeachtung der einschlägigen rechtlichen Regelungen sollte darauf in keinem Fall verzichtet werden. Dies gilt im Übrigen gleichermaßen für Betriebsräte, die die Interessen einer Vielzahl von Mitarbeitern vertreten und daher auf fachliche „Waffengleichheit“ bedacht sein sollten. III.
Stakeholder Management
79 Bereits in weniger kritischen wirtschaftlichen Phasen ist das „Orchestrieren“ der mit einem Unternehmen verbundenen Beteiligten schwieriger geworden. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass sich die Anzahl der Akteure, z. B. Hedge oder Distressed Debt Funds, erhöht hat. Darüber hinaus haben sich Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen weiter professionalisiert, bspw. durch ___________ 7) Vgl. auch Groß in: Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 10 Rz. 8, S. 214.
46
Baur/Jacob
III. Stakeholder Management
die Nutzung entsprechender externer rechtlicher und betriebswirtschaftlicher Berater. In der Krise des Unternehmens wird diese Entwicklung weiter verstärkt, da die 80 Positionen der einzelnen Stakeholder und die Einflussmöglichkeiten sich verschieben. So nimmt z. B. der Einfluss der Fremdkapitalgeber im Verhältnis zu den Eigenkapitalgebern deutlich zu. Im Rahmen der Umsetzung von Personalmaßnahmen ist eine Vielzahl von mög- 81 lichen Akteuren bzw. Interessengruppen zu berücksichtigen. Dies hängt entscheidend von der Konstellation im Einzelfall ab. Abb. 9: Stakeholder bei Personalmaßnahmen in der Restrukturierung
82
Umfassendes Kommunikationskonzept Staat (z. B. Agentur für Arbeit)
Mitarbeiter
Unternehmen
EK
FK Gewerkschaft
Betriebsrat
PensionsSicherungsVerein1)
1) Soweit Pensionsverpflichtungen bestehen
Quelle: AlixPartners
Hier empfiehlt sich die Erstellung eines umfassenden Kommunikationskon- 83 zepts, das alle betroffenen Interessengruppen berücksichtigen sollte. In diesem Zusammenhang ist seitens des Unternehmens neben einer umfassenden und gleichlautenden Information für alle Stakeholder auch zu bedenken, das verschiedene Gruppen auch in einem anderen Zusammenhang eine entscheidende Rolle für das Gelingen einer Restrukturierung spielen können. Dies kann sich z. B. auf die verantwortliche Landesregierung beziehen, die ggf. 84 für eine Landesbürgschaft zur Absicherung einer Refinanzierung benötigt wird oder auf den Pensions-Sicherungs-Verein, der einen Beitrag zur Absenkung möglicher Pensionsverpflichtungen des Unternehmens leisten soll.
Baur/Jacob
47
§ 2 Case Studies zur operativen Sanierung – Personalthemen
85 Es ist für diese Beteiligten erheblich einfacher, die Restrukturierung eines Unternehmens zu begleiten und zu unterstützen, wenn sie möglichst frühzeitig und umfassend informiert und eingebunden werden. Dies gilt insbesondere bei signifikanten personellen Einschnitten mit großer Publizitätswirksamkeit. Niemand wird gerne öffentlich zu einer solchen Maßnahme Stellung nehmen wollen, wenn er erst kurz vorher aus indirekten Quellen davon Kenntnis erlangt hat. 86 Natürlich bleibt bei interessenausgleichspflichtigen Betriebsänderungen der zuständige Betriebsrat der wesentliche Stakeholder. Er vertritt die Interessen aller Mitarbeiter, unabhängig davon, ob diese persönlich von geplanten Maßnahmen des Unternehmens betroffen sind oder nicht. Er ist allen Mitarbeitern gegenüber informationspflichtig. Arbeitgeber sind daher grundsätzlich gut beraten, den Betriebsrat frühzeitig und umfassend zu informieren und die notwendige Transparenz herzustellen. Der Mangel an Information kann sowohl Verhandlungsprozesse bremsen als auch zu einer echten Belastung für das Verhältnis zwischen Unternehmensführung und Betriebsrat werden, insbesondere dann, wenn die Belegschaft sich genötigt sieht, Druck auf den Betriebsrat auszuüben, den dieser dann weitergeben muss. Die Rolle des Betriebsrates auch als Mittler zwischen Unternehmen und Mitarbeitern sollte stets bedacht werden. 87 Insoweit sollten auch Alternativvorschläge des Betriebsrates zu geplanten Maßnahmen ernsthaft diskutiert und unvoreingenommen geprüft werden. Solche Vorschläge können ggf. zu vergleichbaren wirtschaftlichen Ergebnissen führen, für den Betriebsrat aber, der betroffenen Belegschaft gegenüber, leichter zu vermitteln sein. 88 Unter dem Strich sollte es für die Beteiligten nicht um Sieg oder Niederlage gehen, sondern um die nachhaltige Sicherung der wirtschaftlichen Existenz des Unternehmens und damit der verbleibenden Mitarbeiter. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die detaillierte und umfangreiche Vorbereitung von Verhandlungen einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren. 89
Praxishinweis Das Erzeugen von zeitlichem Druck ist häufig eher kontraproduktiv, denn Betriebsräte und auch Gewerkschaften sind sehr wohl in der Lage, das „scharfe Schwert“ der Verzögerung zu nutzen und damit ihrerseits Druck aufzubauen. Dies kann dann im Hinblick auf die Kosten von Personalmaßnahmen zu deutlichen Verschlechterungen führen, wenn Fortschritte im eigentlichen Prozess durch finanzielle Zugeständnisse erkauft werden müssen. Die möglichen Konsequenzen wirtschaftlicher Art können von erheblicher Tragweite für alle Beteiligten sein.
IV.
Fazit
90 Personalkosten sind ein bedeutender Kostenfaktor für die Mehrzahl der Unternehmen. Insoweit muss jede operative Restrukturierung entsprechende Maß-
48
Baur/Jacob
IV. Fazit
nahmen zur Reduzierung des Personalaufwands enthalten. Dabei unterscheidet man im Wesentlichen strukturelle Maßnahmen, wie die Schließung von Standorten, operative Maßnahmen, z. B. Kurzarbeit, sowie personalpolitische Maßnahmen, wie z. B. die Vereinbarung eines Verzichts der Mitarbeiter auf entgeltliche Leistungen. In diesem Zusammenhang sind die entsprechenden Betriebsparteien regelmäßig zu informieren und zu beteiligen. Die reibungslose und zügige Umsetzung solcher Maßnahmen beginnt bereits 91 mit einer detaillierten Analyse der Situation sowie einer möglichst umfassenden Begründung der geplanten Maßnahmen. Notwendige Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan oder auch tarifliche Belange können nur gelingen, wenn sie gut vorbereitet sind und durch entsprechende externe Experten – betriebswirtschaftlich und rechtlich – unterstützt werden. Dabei sind alle Beteiligten – interne wie externe – entsprechend zu berücksich- 92 tigen unter Abwägung aller Interessen. Unternehmen sind gut beraten, sich mit den jeweiligen Interessenlagen vorab intensiv zu beschäftigen und diese bei etwaigen Entscheidungen einzubeziehen, insbesondere im Hinblick auf mögliche Risikoszenarien und deren ökonomische Konsequenzen, die eine erfolgreiche Restrukturierung erheblich erschweren oder gar unmöglich machen können.
Baur/Jacob
49
§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung Einleitung des Herausgebers: Die übertragende Sanierung ist der Hauptfall der Sanierung in der Insolvenz. Die Folgekapitel vertiefen x
die Sanierung im Planverfahren (§ 14),
x
die Vorschriften des Betriebsübergangs als „Sanierungshindernis“ (§ 15),
x
die Informationspflichten nach § 613a BGB in der Krise (§ 16),
x
die Einzelfragen der Transfergesellschaft als Alternative zum Betriebsübergang (§§ 17, 18),
x
die Haftung der Geschäftsführung und der Berater (§ 19) sowie
x
das Beihilferecht (§ 20). Übersicht
I.
Übertragende Sanierung als rettender Neustart............................. 1 II. Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen ...................................... 4 1. Übertragung von Einzelvermögenswerten (Asset Deal) .............. 4 2. Sanierungshindernis § 613a BGB ...... 5 3. Betriebsübergang in Abgrenzung zur Betriebsstilllegung ....................... 8 a) Betriebsübergang ......................... 9 b) Betriebsstilllegung ..................... 14 aa) Kriterien für die Stilllegung ........................... 19 bb) Wiedereinstellungs/Fortsetzungsansprüche bei übertragender Sanierung............................. 23 4. Eingeschränkte Rechtsfolge von § 613a BGB in der Insolvenz ........... 28 a) Reduzierte Haftung des Erwerbers ................................... 29 b) Sonderfall Urlaubsansprüche.... 31 c) Sonderfall Altersteilzeit ............ 33 d) Betriebliche Altersversorgung ................................. 34
III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung............... 38 1. Gestaltung von Kaufvertragsklauseln ............................................. 39 2. Umsetzung eines Personalabbaus................................................ 41 a) Erwerberkonzept....................... 46 aa) Vereinbarkeit mit § 613a Abs. 4 BGB ............. 47 bb) Anforderungen an ein Erwerberkonzept ............... 48 cc) Kombination mit anderen arbeitsrechtlichen Instrumenten...................... 52 b) Zwischenschaltung von Transfergesellschaften („BQG-Modell“)....................... 55 3. Beteiligung der Arbeitnehmervertretung ......................................... 58 4. Unterrichtung der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang .............. 66 a) Form der Unterrichtung........... 69 b) Inhalt der Unterrichtung .......... 71 IV. Ausblick ........................................... 72
Undritz/Röger
241
§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung Literatur: Annuß, Der Betriebsübergang nach „Ayse Süzen“, NZA 1998, 70; Bauer/ v. Steinau-Steinrück, Neuregelung des Betriebsübergangs: Erhebliche Risiken und viel mehr Bürokratie!, ZIP 2002, 457; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch, Teil 1, NZA 1999, 1121, Teil 2, NZA 1999, 1177; Bonanni/Niklas, Der Wiedereinstellungsanspruch bei überraschendem Betriebsübergang, DB 2010, 1826; Cohnen/Röger, „Alter Job im neuen Gewand“, Financial Times Deutschland, Online-Ausgabe v. 20.9.2011, abrufbar unter: unter http://www.ftd.de/karriere/recht-steuern/:urteil-der-woche-alter-job-in-neuemgewand/60106295.html (Abrufdatum: 28.7.2013); Düwell/Pulz, Urlaubsansprüche in der Insolvenz, NZA 2008, 786; Fuhlrott/Salamon, Vermeidungsstrategien und Gestaltungsmöglichkeiten bei Betriebsübergängen, BB 2012, 1793; Fuhlrott, Zwischengeschaltete Transfergesellschaften zur Vermeidung von Betriebsübergängen, NZA 2012, 549; Gaul/ Otto, Unterrichtungsanspruch und Widerspruchsrecht bei Betriebsübergang und Umwandlung, DB 2002, 634; Göpfert/Buschbaum, „Vierseitiger Vertrag“ zur Abwehr von Widerspruchsrisiken bei Insolvenz des Betriebserwerbers, ZIP 2011, 64; Grau, Unterrichtung und Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer bei Betriebsübergang gem. Paragraph 613a Abs. 5 und 6 BGB, 2005; Hanau, Aufhebungsvertrag und Betriebsübergang, ZIP 1999, 324; Hanau, Perversion und Prävention bei § 613a BGB, ZIP 1998, 1817; Hausch, Gestaltungsmittel im Asset Deal-Unternehmenskaufvertrag im Hinblick auf § 613a BGB, BB 2008, 1392; Hilgenstock, Ordnungsgemäße Unterrichtung beim Betriebsübergang doch möglich?, ArbRAktuell 2012, 303; Hinrichs/Kleinschmidt, Sanierungsmodell mit neuen Hindernissen?, ZInsO 2012, 949; Krieger/Fischinger, Umstrukturierung mit Hilfe von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, NJW 2007, 2289; Krieger/Willemsen, Der Wiedereinstellungsanspruch nach Betriebsübergang, NZA 2011, 1128; Lakies, Kündigung in der Insolvenz, ArbRAktuell 2012, 366; Lakies, Das Beschlussverfahren zum Kündigungsschutz nach § 126 InsO, NZI 2000, 345; Lembke, Besonderheiten beim Betriebsübergang in der Insolvenz, BB 2007, 1333; Lunk, Schadensersatz wegen Verstoßes gegen die Unterrichtungspflicht bei einem Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 5 BGB, RdA 2009, 48; Menke/Wolf, Alles hat ein Ende …? – Betriebsübergang versus Betriebsstilllegung in der Insolvenz; BB 2011, 1461; Merten, Personalabbau beim Unternehmenskauf aus der Insolvenz, in: Festschrift für Jobst-Hubertus Bauer, 2010, S. 755; Meyer, Aktuelle Gestaltungsfragen beim Betriebsübergang, NZA-RR 2013, 225; Moll, Betriebsübergang und Betriebsänderung, RdA 2003, 129; Pils, Umgehung von § 613a BGB durch Einsatz einer Transfergesellschaft, NZA 2013, 125; Raif/Ginal, Vermeidung eines Betriebsübergangs: Gestaltungsmöglichkeiten nach der aktuellen BAG-Rechtsprechung zur Transfergesellschaft, GWR 2013, 1; Rieble, Das insolvenzarbeitsrechtliche Beschlussverfahren des § 126 InsO, NZA 2007, 1393; Römermann, Neues Insolvenz- und Sanierungsrecht durch das ESUG, NJW 2012, 645; Schiefer, Rechtsfolgen des Betriebsübergangs nach § 613a BGB, NJW 1998, 1817; Schmädicke/Fackler, Die gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung gem. § 122 InsO, NZA 2012, 1199; K. Schmidt, Organverantwortlichkeit und Sanierung im Insolvenzrecht der Unternehmen, ZIP 1980, 328; Tretow, Die Betriebsveräußerung in der Insolvenz, ZInsO 2000, 309; Vallender, Insolvenzkultur gestern, heute und morgen, NZI 2010, 838; Wellensiek, Probleme bei der Betriebsveräußerung aus der Insolvenz, NZI 2005, 603; Willemsen, Aufhebungsverträge bei Betriebsübergang – ein „Erfurter Roulette“?, NZA 2013, 242; Zipperer, Übertragende Sanierung –Sanierung ohne Grenzen oder erlaubtes Risiko?, NZI 2008, 206.
242
Undritz/Röger
I. Übertragende Sanierung als rettender Neustart
I.
Übertragende Sanierung als rettender Neustart Arbeitsrechtliche Anforderungen: BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, ZIP 2011, 2426 = NZA 2012, 152 BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203 = DB 2013, 236
Das für die Praxis wichtigste Instrument zur Rettung eines in die Insolvenz ge- 1 ratenen Unternehmens ist die sog. übertragende Sanierung.1) Mit ihr werden alle oder wesentliche Unternehmensgegenstände auf einen anderen Rechtsträger übertragen und auf diese Weise die Vermögensgegenstände (Aktiva) von den an der Insolvenzschuldnerin haftenden Verbindlichkeiten (Passiva) getrennt. Der Erwerber erhält die Chance eines wirtschaftlichen Neustarts und kann das so von den Verbindlichkeiten befreite Unternehmen fortführen sowie ggf. weiter sanieren. Für die Überlebenschance des angeschlagenen Unternehmens ist demnach von 2 zentraler Bedeutung, dass seine Altverbindlichkeiten rechtlich nicht den Erwerber belasten.2) Nachdem die drohende Haftung nach § 419 BGB durch dessen Abschaffung zum 1.1.1999 ganz entfallen ist und die Haftung des Erwerbers bei einer übertragenden Sanierung auch durch andere Vorschriften3) ausgeschlossen oder begrenzt wird, steht und fällt der Erfolg einer übertragenden Sanierung in der Praxis nicht selten mit seinen arbeitsrechtlichen Rechtsfolgen. Vielfach sind Personalreduzierungen und Änderungen an den Arbeitsbedingungen unverzichtbar, um das Unternehmen veräußern zu können und damit wenigstens einen Teil der Arbeitsplätze zu retten.4) Gerade dies wird aber durch die Vorschrift des § 613a BGB, der auch in der Insolvenz anwendbar ist (siehe unten Rz. 5 ff.), erschwert. Zwar hat auch das BAG jüngst ausdrücklich erkannt, dass die InsO der Mög- 3 lichkeit diene, zur Rettung von Unternehmen oder Unternehmensteilen das Unternehmen von Schulden der Insolvenzschuldnerin zu befreien und dem Erwerber einen Neustart zu ermöglichen.5) Und auch die InsO selbst bietet einige arbeitsrechtliche Erleichterungen für die übertragende Sanierung. Anderer___________ 1) Der Begriff wurde von K. Schmidt, ZIP 1980, 328, 336 geprägt und ist seitdem im Insolvenzrecht fest eingebürgert. Auch im Arbeitsrecht hat sich der Begriff etabliert, vgl. BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 8 AZR 827/11, ZIP 2013, 537 = NZI 2013, 407; zur übertragenden Sanierung im Überblick auch Pannen/Deuchler/Kahlert/Undritz, Sanierungsberatung, Rz. 930 ff. 2) Zutreffend: „Unternehmen in der Insolvenz sind eine schwer verkäufliche Ware.“, so Zipperer, NZI 2008, 206. 3) Vgl. § 75 Abs. 2 AO und zu § 25 HGB BAG, Urt. v. 27.9.2012 – 8 AZR 826/11, ZIP 2013, 1186 und BGH, Urt. v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, BGHZ 104, 151 = ZIP 1988, 727, dazu EWiR 1988, 811 (Joost). 4) So auch Wellensiek, NZI 2005, 603. 5) BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 8 AZR 827/11, ZIP 2013, 537 = NZI 2013, 407.
Undritz/Röger
243
§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
seits zeigt die Praxis der übertragenden Sanierung, dass die arbeitsrechtlichen Hürden für einen Erwerber, sich an die Rettung und Sanierung eines insolventen Unternehmens zu wagen, nach wie vor hoch6) und in der jüngeren Vergangenheit zudem noch gewachsen sind.7) II.
Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen
1.
Übertragung von Einzelvermögenswerten (Asset Deal)
4 Ein Unternehmen kann durch eine Veräußerung der Anteile („Share Deal“) oder durch Veräußerung von Einzelvermögenswerten („Asset Deal“) übertragen werden. Ist das zu verkaufende Unternehmen allerdings in der Insolvenz, ist die Veräußerung nur erfolgreich, wenn der Erwerber mit der übertragenden Sanierung bestehende Risiken und Verbindlichkeiten abschütteln kann. Das gelingt nur durch einen Asset Deal, da bei einer reinen Anteilsveräußerung (Share Deal) der auf diesem Wege erworbene Rechtsträger die Verbindlichkeiten noch mit sich führen würde.8) 2.
Sanierungshindernis § 613a BGB
5 Der faktische Zwang, für die übertragende Sanierung Einzelvermögenswerte zu veräußern (Asset Deal), führt – anders als bei einem „Share Deal“ – unmittelbar in das arbeitsrechtliche Revier des § 613a BGB. Geht demnach ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Nach dieser zwingenden Vorschrift des BGB „erbt“ der Erwerber eines Betriebs alle dem erworbenen Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse mit den zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Bedingungen. 6 Diese den Neustart des Unternehmens durchaus belastende Norm des § 613a BGB findet auch bei einer Betriebsveräußerung durch einen Insolvenzverwal-
___________ 6) Insbesondere krit. zur Geltung des § 613a BGB i. R. von Insolvenzen: Thierhoff/Müller/ Illy/Liebscher-Undritz, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 390 ff. 7) Hinrichs/Kleinschmidt, ZInsO 2012, 949 zum Sanierungsinstrument der Beschäftigungsund Qualifizierungsgesellschaft nach den Entscheidungen des BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, ZIP 2011, 2426 = NZA 2012, 152, dazu EWiR 2012, 41 (Joost) und BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203 = DB 2013, 236; dazu auch Mehrens, BB 2010, 2184. 8) Ein Share Deal kommt in der Insolvenz ausnahmsweise einmal dann in Betracht, wenn ein tragfähiger Insolvenzplan vorliegt und das Unternehmen bereits damit weitgehend entschuldet ist. Eingehend zum Share und Asset Deal: Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Undritz, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 301 ff; insbesondere einzeln zu Vor- und Nachteilen vom Asset und Share Deal: Hölters-Buchta, Hdb. Unternehmenskauf, Teil XIV Rz. 31 ff.
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II. Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen
ter Anwendung.9) Der Erwerber sieht sich danach den Personalkosten, die womöglich ein Grund für die Insolvenz waren, unverändert ausgesetzt. Der von ihm zu schulternde Kostenaufwand führt dann zwangsläufig dazu, dass der Erwerber bei der Bemessung des Kaufpreises für das Unternehmen entsprechende Abzüge macht und so letztlich ein geringerer Erlös zur Befriedigung der Gläubiger erzielt werden kann.10) Nicht selten scheuen Erwerber wegen der Belastung des § 613a BGB gänzlich eine übertragende Sanierung. Die Vorschrift, die Arbeitnehmer und ihren Arbeitsplatz schützen will, lässt dann die Rettung nicht selten scheitern und vernichtet Arbeitsplätze statt sie zu retten.11) Das BAG macht dem eine übertragende Sanierung in den Blick nehmenden Er- 7 werber keine Hoffnung auf Besserung. Nach der jüngsten Rechtsprechung ist § 613a BGB in der Insolvenz uneingeschränkt anwendbar, sofern es um den Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse geht. Es bestehe keine Notwendigkeit einer besonders „sanierungsfreundlichen“ Auslegung der Norm. § 613a BGB solle insbesondere verhindern, dass eine Betriebsveräußerung zum Anlass genommen wird, die erworbenen Besitzstände der Arbeitnehmer abzubauen. Dagegen bezwecke § 613a BGB nicht, Sanierungen im Falle von Betriebsübernahmen zu ermöglichen oder zu erleichtern.12) Der Sanierungspraxis bleibt derzeit nichts anderes übrig, als mit diesen Folgen zu leben. 3.
Betriebsübergang in Abgrenzung zur Betriebsstilllegung
Die Veräußerung von Einzelvermögenswerten i. R. einer übertragenden Sanie- 8 rung aus der Insolvenz wird in den meisten Fällen den Tatbestand des § 613a BGB erfüllen. In der Sanierungspraxis gibt es aber Fälle, in denen § 613a BGB nicht zum Tragen kommt. Die den Sanierungserfolg unter Umständen hin___________ 9) Das wird aus dem Wortlaut des § 128 Abs. 2 InsO gefolgert und ist st. Rspr.: BAG, Urt. v. 19.12.2006 – 9 AZR 230/06, BB 2007, 1281 = DB 2007, 1707; BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027; zum Konkursverwalter bereits: BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, BAGE 43, 13 = ZIP 1983, 1377. Die europäische Richtlinie, der § 613a BGB zugrunde liegt, regelt (wohlweislich) ausdrücklich, dass ihre Vorschriften bei einer Veräußerung aus der Insolvenz nicht anwendbar sind, die Mitgliedstaaten aber davon abweichend die Regelungen zum Betriebsübergang auch für diese Fälle festlegen können (Art. 5 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001, ABl. Nr. L 82, S. 16). Viele europäische Staaten sind diesem Grundsatz der Richtlinie gefolgt und wenden die Vorschriften der Richtlinie damit bei übertragenden Sanierungen nicht an (vgl. z. B. in England Reg. 8 (7) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 2006). 10) Dazu Thierhoff/Müller/Illy/Liebscher-Undritz, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 390 ff. 11) Vgl. etwa Hanau, ZIP 1999, 324 („zu einem Instrument des Arbeitsplatzabbaus pervertiert“); Cohnen/Röger, „Alter Job im neuen Gewand“, Financial Times Deutschland, Online-Ausgabe v. 20.9.2011, abrufbar unter http://www.ftd.de/karriere/recht-steuern/:urteil-der-wochealter-job-in-neuem-gewand/60106295.html (Abrufdatum: 28.7.2013). 12) BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203 = DB 2013, 236, dazu EWiR 2013, 169 (Lindemann); BAG, Urt. v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367 = DB 2008, 989.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
dernden Rechtsfolgen des § 613a BGB treten nämlich nur ein, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind.13) a)
Betriebsübergang
9 Ein Betriebsübergang nach § 613a BGB liegt vor, wenn ein neuer Rechtsträger einen Betrieb oder Betriebsteil unter Wahrung seiner Identität fortführt.14) Die in § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zu findende sprachliche Trennung von Betrieb und Betriebsteil hat nach der für die Anwendung des § 613a BGB prägenden Rechtsprechung des EuGH nur untergeordnete Bedeutung.15) Für die Sanierungspraxis ist demnach maßgeblich, ob mit der übertragenden Sanierung eine wirtschaftliche Einheit identitätswahrend übergeht. Nach Art. 1 Abs. 1 lit. b der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG vom 12.3.2001 gilt als Übergang i. S. der Richtlinie „der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit i. S. einer organisatorischen Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit“.
10 Die Rechtsprechung verwendet zur Prüfung, ob ein Betriebsübergang vorliegt, einen Sieben-Punkte-Katalog mit Einzelkriterien, die jeweils im Einzelfall in eine Gesamtabwägung einzubeziehen sind: x
Art des Unternehmens oder Betriebs,
x
Übergang materieller Betriebsmittel,
x
Wert der immateriellen Aktiva,
x
Übernahme der Hauptbelegschaft,
x
Übergang der Kundschaft,
x
Ähnlichkeitsgrad zwischen den vor und nach Übergang verrichteten Tätigkeiten,
x
Dauer einer Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit.
11 Übernimmt ein Erwerber bei einer übertragenden Sanierung das Unternehmen mit den wesentlichen materiellen und immateriellen Betriebsmitteln sowie dem Großteil des Mitarbeiterstamms, wird fast immer ein Übergang des gesamten ___________ 13) § 613a BGB verbietet keine Gestaltung, mit der die tatsächlichen Voraussetzungen eines Betriebsübergangs vermieden werden, BAG, Urt. v. 27.9.2007 – 8 AZR 941/06, BAGE 124, 159 = ZIP 2008, 801, dazu EWiR 2008, 519 (Lindemann); Menke/Wolf, BB 2011, 1461, 1464. 14) BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 8 AZR 683/11, BB 2012, 3008 = ArbR 2013, 211; BAG Urt. v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, AP BGB § 613a Nr. 423 = DB 2012, 696. 15) Zur Prägung der Rspr. des BAG durch die Rspr. des EuGH auch Willemsen/Hohenstatt/ Schnitker/Schweibert/Seibt-Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, S. 792 ff.
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II. Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen
Betriebs vorliegen. Aber auch der Erwerb bestimmter Unternehmensteile aus der Insolvenz kann zur Anwendung von § 613a BGB führen, wenn und soweit die übertragenen Vermögenswerte einen Betriebsteil i. S. von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ausmachen. Die in der Vergangenheit in der Praxis verwendete Strategie, den übernomme- 12 nen Betrieb mit einer Zerschlagung in seine Einzelteile zu zerlegen, in eine beim Erwerber bereits bestehende Organisation einzugliedern und auf diese Weise das von § 613a BGB geforderte Merkmal der Identitätswahrung auszuschließen, hat nach der „Ferrotron/Klarenberg“-Entscheidung des EuGH an Bedeutung verloren. Wenn der übertragene Unternehmens- oder Betriebsteil seine organisatorische Selbstständigkeit nicht bewahrt, die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren aber beibehalten wird und sie es dem Erwerber erlaubt, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, wird ein Betriebsübergang nämlich nicht verhindert.16) Praktische Schwierigkeiten ergeben sich zudem immer wieder bei Arbeitneh- 13 mern, die entweder als Angehörige einer anderen Betriebsabteilung ausschließlich oder jedenfalls vorwiegend – etwa im Bereich der Personalverwaltung oder in sonstigen Overhead- bzw. Querschnitts-Funktionen – für den übergehenden Betriebsteil tätig sind, ohne diesem Betriebsteil fest zugeordnet zu sein.17) Der Übergang eines Arbeitsverhältnisses nach § 613a BGB setzt voraus, dass der betroffene Arbeitnehmer dem übertragenen Betrieb oder Betriebsteil zugeordnet ist und dort tatsächlich eingegliedert war. Es reicht nicht aus, dass er Tätigkeiten für den übertragenen Teil verrichtete, ohne in dessen Struktur eingebunden gewesen zu sein.18) Das BAG entschied zu dieser Frage in neuerer Zeit, dass es sogar zunächst auf den Willen der Arbeitsvertragsparteien ankäme und wenn dieser nicht in ausdrücklicher oder konkludenter Form vorliege, die Zuordnung ebenfalls ausdrücklich oder konkludent durch den Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts erfolge.19)
___________ 16) Vgl. EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), Slg. 2009, I-803 = ZIP 2009, 433; BAG, Urt. v. 25.6.2009 – 8 AZR 258/08, NZA 2009, 1412 = AP BGB § 613a Nr. 373; BAG, Urt. v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, ZIP 2009, 1976 = NZA 2009, 905; Menke/Wolf, BB 2011, 1461, 1464. 17) Annuß, NZA 1998, 70, 76. 18) Vgl. EuGH, Urt. v. 12.11.1992 – Rs. C-209/91 (Watson Rask und Christensen), Slg. 1992, I-5755 Rz. 16 = NZA 1995, 475; EuGH, Urt. v. 7.2.1985 – Rs. C-186/83 (Botzen u. a.), Rz. 15, Slg. 1985, 519 = BeckRS 2004, 72088; BAG, Urt. v. 24.8.2006 – 8 AZR 556/05, Rz. 28, NZA 2007, 1320 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 59; BAG, Urt. v. 25.9.2003 – 8 AZR 446/02, NZA 2004, 1406 = AP BGB § 613a Nr. 256. 19) BAG, Urt. v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178 = NJW-Spezial 2013, 338.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
b)
Betriebsstilllegung
14 Ein Betriebsübergang liegt nicht vor, wenn der Betrieb stillgelegt wird. Betriebsstilllegung und Betriebsübergang schließen einander aus.20) Legt ein Insolvenzverwalter den Betrieb still und verwertet bloß die Vermögenswerte der Insolvenzschuldnerin, ist ein Betriebsübergang in der Regel ausgeschlossen. 15 Die Grenze zum Betriebsübergang und dem Eingreifen der Rechtsfolge von § 613a BGB ist allerdings in der Praxis bisweilen schwer zu ziehen. Führt die Verwertung von Gegenständen aus der Insolvenzmasse nämlich dazu, dass ein Erwerber eine wirtschaftliche Einheit im oben genannten Sinne fortführt, ist die Anwendung von § 613a BGB selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn der Insolvenzverwalter sich zunächst zur Stilllegung des Betriebs entschlossen hatte. 16
Praxishinweis Der Erwerber, der Vermögenswerte von einem Insolvenzverwalter aus der Verwertung der Insolvenzmasse erwirbt, muss deshalb sorgfältig prüfen, ob er in der Gefahr steht, eine wirtschaftliche Einheit zu erwerben und damit in mit der Insolvenzschuldnerin noch bestehende Arbeitsverhältnisse einzutreten.
17 Die arbeitsrechtlichen Risiken für den Erwerber bei einer übertragenden Sanierung sind umso geringer, je mehr Zeit seit der Stilllegung des Betriebs vergangen ist. Denn eine Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit kann dazu führen, dass ein Betriebsübergang ausgeschlossen ist. Da zudem ein Erwerber eines Betriebs i. R. einer übertragenden Sanierung nur in die zum Zeitpunkt des Übergangs rechtlich noch bestehenden Arbeitsverhältnisse eintritt und die Arbeitsverhältnisse der betroffenen Arbeitnehmer zwischenzeitlich durch die Kündigung des Insolvenzverwalters nach Ablauf der Kündigungsfrist (maximal drei Monate, § 113 InsO) schon beendet sein können, lassen sich die arbeitsrechtlichen Risiken des Erwerbs mit dem Laufe der Zeit kontrollieren. 18 Liegt die im Anschluss an eine Stilllegung vorgenommene übertragende Sanierung aber innerhalb der Kündigungsfristen der betroffenen Arbeitnehmer oder gibt es schwebende Kündigungsschutzverfahren über die wegen Stilllegung ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen, bekommt die kündigungsschutzrechtliche Stellung der Arbeitnehmer für die übertragende Sanierung eine zentrale Bedeutung. Für die Arbeitsverhältnisse der gekündigten Arbeitnehmer gilt in diesen Grenzfällen Folgendes:
___________ 20) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 = DB 2012, 1817; BAG, Urt. v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, ZIP 2010, 246 = AP BGB § 613a Nr. 370; BAG, Urt. v. 26.4.2007 – 8 AZR 612/06, AP InsO § 125 Nr. 5 = NZA 2007, 1319; BAG, Urt. v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, AP BGB § 613a Nr. 237 = NZA 2003, 93; BAG, Urt. v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, ZIP 2010, 246 = AP BGB § 613a Nr. 370.
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II. Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen
aa)
Kriterien für die Stilllegung
Hat der Insolvenzverwalter die Arbeitsverhältnisse der betroffenen Arbeitneh- 19 mer wegen Betriebsstilllegung gekündigt, ist seine Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt.21) Dazu reicht es aus, wenn die Stilllegung zum maßgeblichen Zeitpunkt des Kündigungszugangs greifbare Formen angenommen hat und eine vernünftige, betriebswirtschaftliche Betrachtung die Prognose rechtfertigt, dass bis zum Auslaufen der einzuhaltenden Kündigungsfrist die Stilllegung durchgeführt ist und der Arbeitnehmer entbehrt werden kann.22) Erforderlich ist dazu aber, dass der Insolvenzverwalter im Zeitpunkt des Kündigungszugangs den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen.23) An einem endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehlt es hingegen, wenn 20 der Insolvenzverwalter im Zeitpunkt des Kündigungszugangs, also noch vor Ablauf der Kündigungsfrist, in Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebs steht und gleichwohl wegen Betriebsstilllegung kündigt.24) Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber sich im Zeitpunkt der Kündigung noch um neue Aufträge bemüht.25) Ist andererseits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Betriebsstill- 21 legung endgültig geplant und bereits eingeleitet, behält sich der Arbeitgeber aber eine spätere Betriebsveräußerung vor, falls sich eine Chance biete, und gelingt dann später doch noch eine Betriebsveräußerung, bleibt es bei der sozialen Rechtfertigung der Kündigung.26) ___________ 21) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 = DB 2012, 1817. 22) Seit BAG, Urt. v. 27.2.1958 – 2 AZR 445/55, BAGE 6, 1 = AP KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 1. 23) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 = DB 2012, 1817; vgl. BAG, Urt. v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, ZIP 2007, 2233 = NZA 2007, 1431 = AP BGB § 613a Nr. 325; BAG, Urt. v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, ZIP 2010, 849 = AP SGB X § 115 Nr. 16, dazu EWiR 2010, 319 (Klasen); BAG, Urt. v. 26.4.2007 – 8 AZR 612/06, AP InsO § 125 Nr. 5 = NZA 2007, 1319; BAG, Urt. v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, AP BGB § 613a Nr. 237 = NZA 2003, 93; Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 56; Moll, RdA 2003, 129, 131. 24) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 = DB 2012, 1817; vgl. BAG, Urt. v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, ZIP 1997, 122 = NZA 1997, 251; BAG, Urt. v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720 = AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 139, lehnt auch hier die endgültige Stilllegungsabsicht eines Insolvenzverwalters ab und stützt sich dabei insbesondere auf die im vorausgegangenen Interessenausgleich vereinbarte Neuverhandlung, falls ein Betriebsübergang auf einen dritten Interessenten erfolgt. 25) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 = DB 2012, 1817; vgl. BAG, Urt. v. 13.2.2008 – 2 AZR 75/06, juris. 26) BAG, Urt. v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, ZIP 1991, 1374 = NZA 1991, 891; BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465 = DB 2012, 1817; vgl. BAG, Urt. v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, BAGE 118, 168 = ZIP 2006, 1545; BAG, Urt. v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720 = AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 139.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
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Praxishinweis Um keine ungerechtfertigten Zweifel an einer notwendigen Betriebsstilllegung aufkommen zu lassen und Klagen der betroffenen Arbeitnehmer zu provozieren, ist in der Praxis eine sorgfältig bedachte Außenkommunikation der Insolvenzverwaltung und des Erwerbers von großer Bedeutung.
bb)
Wiedereinstellungs-/Fortsetzungsansprüche bei übertragender Sanierung
23 Insbesondere im Fall einer Insolvenz ist es allerdings nicht unüblich, dass es doch noch nach Ausspruch der Kündigungen aufgrund der Betriebsstilllegung zu einer übertragenden Sanierung des Betriebes oder wenigstens eines Betriebsteils kommt. Dann stellt sich die Frage, ob die Arbeitnehmer vom Insolvenzverwalter und/oder Betriebserwerber ihre Wiedereinstellung bzw. Fortsetzung des zunächst gekündigten Arbeitsverhältnisses verlangen können. 24 Ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Wiedereinstellung bzw. Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Erwerber kommt grundsätzlich in Betracht, wenn es trotz einer ursprünglich vorgesehenen Stilllegung des Betriebes oder eines Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit aus anderen Gründen und einer infolge dessen wirksam ausgesprochenen Kündigung aus betriebsbedingten Gründen i. S. des § 1 KSchG nachträglich zu einem Betriebsübergang und damit zur Fortführung des Betriebes oder der Entstehung einer anderen Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer kommt.27) Entscheidend ist, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sich die Kündigung stützte, noch während des Ablaufs der Kündigungsfrist ändern. 25 Kommt es zu einem Betriebsübergang, nachdem die Kündigung ausgesprochen wurde und der Betrieb faktisch eingestellt ist, die Kündigungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist, tritt der Erwerber gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in die Rechte und Pflichten des ehemaligen Arbeitgebers ein und übernimmt damit auch die Arbeitsverhältnisse, wenn auch im gekündigten Zustand.28) Da sich damit die Prognose, auf deren Grundlage die betriebsbedingte Kündigung ___________ 27) BAG, Urt. v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, ZIP 2004, 1610 = AP BGB § 613a Nr. 264; BAG, Urt. v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, NJW 1997, 2257 = ArbuR 1997, 165, dazu EWiR 1997, 781 (Junker/Schnelle); BAG, Urt. v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, BAGE 87, 221 = NJW 1998, 2379, dazu EWiR 1998, 773 (Krasshöfer); BAG, Urt. v. 6.8.1997 – 7 AZR 557/96, BAGE 86, 194 = AP KSchG 1969 § 1 Wiedereinstellung Nr. 2, dazu EWiR 1998, 323 (Boudon); BAG, Urt. v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, BAGE 95, 171 = ZIP 2000, 1781, dazu EWiR 2000, 1067 (Blomeyer/Vienken); BAG, Urt. v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, BAGE 87, 115 = ZIP 1998, 167; BAG, Urt. v. 12.11.1998 – 8 AZR 265/97, BAGE 90, 153 = ZIP 1999, 670, dazu EWiR 1999, 207 (Junker); BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, BAGE 90, 260 = ZIP 1999, 320, dazu EWiR 1999, 247 (Joost); BAG, Urt. v. 16.5.2002 – 8 AZR 320/01, AP InsO § 113 Nr. 9 = BAGReport 2003, 112. 28) BAG, Urt. v. 22.10.2009 – 8 AZR 766/08, ZIP 2010, 849 = AP SGB X § 115 Nr. 16, dazu EWiR 2010, 319 (Klasen); Moll-Cohnen, Münch-AHB ArbR, § 53 Rz. 59.
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II. Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen
erfolgt war, als falsch erwiesen hat, kann der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gegen den Betriebserwerber geltend machen.29) Der Anspruch ist allerdings wiederum ausgeschlossen, wenn der Erwerber schon Dispositionen getroffen hat, die ein schutzwürdiges, die Belange des Arbeitnehmers überwiegendes Interesse daran begründen, es bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu belassen und ihm die unveränderte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. Ist die vom Erwerber übernommene Anzahl an Arbeitsplätzen geringer als die Anzahl der vom Insolvenzverwalter gekündigten Arbeitnehmer, die ihren Anspruch auf Wiedereinstellung geltend machen können, müssen bei der Auswahl der wiedereinzustellenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte (Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten der Arbeitnehmer) berücksichtigt werden.30) Der Arbeitnehmer hat sein Fortsetzungsverlangen unverzüglich nach Kenntnis- 26 erlangung von den den Betriebsübergang ausmachenden tatsächlichen Umständen gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen. Adressat des Anspruchs ist vor dem Betriebsübergang der Insolvenzverwalter bzw. nach dem Übergang der Erwerber.31) Hierbei ist nach der Rechtsprechung des BAG entsprechend der Frist zur Ausübung des Widerspruchsrechts nach § 613a Abs. 6 BGB eine Frist von einem Monat einzuhalten.32) Wurde allerdings über den erfolgenden oder bereits erfolgten Betriebsübergang überhaupt nicht gemäß § 613a Abs. 5 BGB unterrichtet, so beginnt die Frist für ein Fortsetzungsverlangen des betroffenen Arbeitnehmers nicht zu laufen.33) Offener ist jedoch die Frage, inwieweit auch ein Anspruch auf Neubegründung 27 eines Arbeitsverhältnisses zu unveränderten Bedingungen besteht, wenn der Betriebs(teil)übergang erst nach Ablauf der maßgeblichen Kündigungsfrist ___________ 29) BAG, Urt. v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, BAGE 87, 221 = NJW 1998, 2379, dazu EWiR 1998, 773 (Krasshöfer); BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, BAGE 90, 260 = ZIP 1999, 320, dazu EWiR 1999, 247 (Joost); ist in solchen Fällen ein Aufhebungsvertrag abgeschlossen worden, kann es – ebenso wie hinsichtlich eines wegen der Betriebsstilllegung vereinbarten Sozialplans (BAG, Urt. v. 28.8.1996 – 10 AZR 886/95, ZIP 1997, 83 = BAGE 84, 62, dazu EWiR 1997, 101 (Schaub)) – zur Notwendigkeit der Anpassung nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage kommen, BAG, Urt. v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, NJW 1997, 2257 = ArbuR 1997, 165, dazu EWiR 1997, 781 (Junker/Schnelle). Gänzlich gegen den Wiedereinstellungsanspruch in der Insolvenz Hanau, ZIP 1998, 1817, 1820; unklar Tretow, ZInsO 2000, 309, 314. 30) BAG, Urt. v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, BAGE 87, 221 = NJW 1998, 2379, dazu EWiR 1998, 773 (Krasshöfer); Krieger/Willemsen, NZA 2011, 1128, 1131. 31) BAG, Urt. v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, NJW 1997, 2257 = ArbuR 1997, 165, dazu EWiR 1997, 781 (Junker/Schnelle). 32) BAG, Urt. v. 25.10.2007 – 8 AZR 989/06, AP BGB § 613a Wiedereinstellung Nr. 2 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 80, bestätigt durch BAG, Urt. v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, EzA-SD 2011, Nr. 13, 8 = NZA 2011, 1162; Bonanni/Niklas, DB 2010, 1826, 1828. 33) BAG, Urt. v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, EzA-SD 2011, Nr. 13, 8 = NZA 2011, 1162.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
erfolgt.34) Während die Rechtslage außerhalb der Insolvenz umstritten bleibt, ist die Situation in Insolvenzfällen klar: Die Rechtsprechung des BAG hat sich trotz anfänglicher Differenzen inzwischen dahin entwickelt, dass kein Wiedereinstellungs-/Fortsetzungsanspruch besteht, wenn der Betriebsübergang nach Ablauf der Kündigungsfrist anlässlich einer insolvenzbedingten Kündigung stattfindet.35) Etwas anderes widerspräche dem Konzept der InsO, die auf schnelle Abwicklung und Sanierung abzielt.36) Im entschiedenen Fall hat das Gericht einen Anspruch bei einem nur vier Tage nach Ablauf der Kündigungsfrist erfolgten Betriebsübergang unter Verweis auf die Besonderheiten des auf eine zügige Abwicklung und Sanierung zielenden Insolvenzverfahrens abgelehnt.37) 4.
Eingeschränkte Rechtsfolge von § 613a BGB in der Insolvenz
28 Die Vorschrift des § 613a BGB zielt auf den Schutz von Bestand und Kontinuität des Arbeitsverhältnisses.38) Die InsO basiert auf dem Prinzip der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung (§ 1 InsO). Bei einem Betriebsübergang aus der Insolvenz müssen beide Prinzipien in einen Ausgleich gebracht werden.39) a)
Reduzierte Haftung des Erwerbers
29 Ähnlich wie bei der eingeschränkten Anwendung von § 25 HGB ist nach der Rechtsprechung des BAG die Rechtsfolge von § 613a BGB bei einer übertragenden Sanierung aus der Insolvenz eingeschränkt. Der Erwerber haftet demnach nicht für Verbindlichkeiten gegenüber den Arbeitnehmern, die dem Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuzuordnen sind, sondern nur für Masseverbindlichkeiten.40) Die Rechtsprechung begründet diese Haftungseinschränkung mit dem Vorrang des Grundsatzes der gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger, der die Arbeitnehmer insoweit mit allen anderen Gläubigern gleichstellt. Ohne die geschilderte Einschränkung würden die Arbeitnehmer als ein ___________ 34) Vgl. allgemein zum Wiedereinstellungsanspruch Boewer, NZA 1999, 1121 und 1177; ausführliche Darstellung der Senats-Ansichten bis zum damaligen Zeitpunkt: BAG, Urt. v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, ZIP 2004, 1610 = AP BGB § 613a Nr. 264; Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 209 ff. 35) BAG, Urt. v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, ZIP 2004, 1610 = AP BGB § 613a Nr. 264 m. Anm. Germakowski (2. LS). 36) BAG, Urt. v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, ZIP 2004, 1610 = AP BGB § 613a Nr. 264. 37) BAG, Urt. v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, ZIP 2004, 1610 = AP BGB § 613a Nr. 264. 38) Vgl. BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, ZIP 2011, 2426 = NZA 2012, 152, dazu EWiR 2012, 41 (Joost). 39) Grundlegend hierzu BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, BAGE 32, 326 = ZIP 1980, 117. 40) St. Rspr. seit BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, BAGE 32, 326 = ZIP 1980, 117; vgl. zuletzt etwa BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, ZIP 2010, 588 und BAG, Urt. v. 19.12.2006 – 9 AZR 230/06, BB 2007, 1281 = DB 2007, 1707.
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II. Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen
Teil der Insolvenzgläubiger mit ihrem über § 613a BGB ausgewechselten Arbeitgeber einen neuen solventen Gläubiger erhalten und demnach besser dastehen als die anderen Gläubiger der Insolvenzschuldnerin. Die zeitliche Zäsur für die Haftungseinschränkung ist die Eröffnung des In- 30 solvenzverfahrens. Eine Haftungsbeschränkung kommt demnach nicht zum Tragen, wenn die übertragende Sanierung aus dem vorläufigen Insolvenzverfahren heraus erfolgt oder wenn das Verfahren von vorneherein mangels Masse abgewiesen wurde.41) b)
Sonderfall Urlaubsansprüche
Zwar ist die Haftung eines Erwerbers für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis 31 eingeschränkt, wenn es sich um Insolvenzforderungen, also um Forderungen "für" die Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens handelt. Urlaubsansprüche als auf eine Freistellung von der Arbeitsleistung bei Fortzahlung der Bezüge gerichtete Forderungen werden nach Ansicht der Rechtsprechung nicht monatlich „erdient“ und sind deshalb nicht Insolvenzforderung, sondern als Masseverbindlichkeiten zu behandeln.42) Soweit sie noch nicht zeitlich festgelegt sind, können sie keinem bestimmten Zeitraum zugeordnet werden43) und eine rechnerische Zuordnung bestimmter Urlaubstage auf Zeitpunkte vor und nach Eröffnung der Insolvenz scheidet aus.44) Dies gilt ebenso für Restansprüche aus dem übertragenen Urlaub aus Vorjahren.45) 32
Praxishinweis Damit bleiben offene Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern auch nach der Übertragung des Betriebes auf den Erwerber in vollem Umfang bestehen und können bei ihm als neuen Arbeitgeber geltend gemacht werden. Bei einer übertragenden Sanierung ist der Erwerber deshalb gut beraten sich einen Überblick über die offenen Urlaubsansprüche zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs zu verschaffen und deren wirtschaftlichen Gegenwert unter Umständen kaufpreismindernd zu berücksichtigen.
c)
Sonderfall Altersteilzeit
Für Altersteilzeitverhältnisse, die in der Praxis nahezu ausnahmslos im sog. 33 Blockmodell durchgeführt werden, greifen die vorstehend skizzierten Einschrän___________ 41) Bauer/Göpfert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 4 G Rz. 52. 42) Düwell/Pulz, NZA 2008, 786, 789 auch zur beschränkten Haftung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit. 43) BAG, Urt. v. 15.5.1987 – 8 AZR 506/85, ZIP 1987, 1266 = AP BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 35. 44) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, BAGE 108, 357 = ZIP 2004, 1013; BAG, Urt. v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, BAGE 120, 232 = ZIP 2007, 834, dazu EWiR 2008, 87 (Henkel); BAG, Urt. v. 25.3.2003 – 9 AZR 174/02, BAGE 105, 345 = ZIP 2003, 1802. 45) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, BAGE 108, 357 = ZIP 2004, 1013.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
kungen. Der Erwerber haftet gemäß § 613a BGB lediglich für die nach Insolvenzeröffnung während der Arbeitsphase erarbeiteten Ansprüche „spiegelbildlich“ in der Freistellungsphase. Bei den vor Insolvenzeröffnung erarbeiteten Ansprüchen handelt es sich um Insolvenzforderungen, für die der Erwerber nicht haftet.46) d)
Betriebliche Altersversorgung
34 Die Haftung des Erwerbers nach § 613a BGB und ihre Einschränkung bei einer übertragenden Sanierung aus der Insolvenz spielt eine besonders große praktische Rolle im Bereich der betrieblichen Altersversorgung. Nach § 613a BGB tritt der Erwerber auch in die bestehenden Versorgungsverbindlichkeiten gegenüber übergehenden Arbeitnehmern ein. Der Betriebserwerber muss allerdings nach § 613a BGB nur zum Zeitpunkt der übertragenden Sanierung bestehende Arbeitsverhältnisse und deren Versorgungsversprechen übernehmen, nicht aber solche von bereits ausgeschiedenen Arbeitnehmern. Für Betriebsrentner sowie mit unverfallbaren Versorgungsanwartschaften ausgeschiedene Arbeitnehmer muss der Erwerber demnach keine Versorgungsleistungen erbringen.47) 35 Die Rechtsprechung gewährt dem Erwerber für die zwangsweise übernommenen Versorgungszusagen der übergehenden Arbeitnehmer aber eine Haftungserleichterung. Die entscheidende Zäsur für die insolvenzrechtliche Einschränkung der Haftung nach § 613a BGB ist auch hier der Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens.48) Der Betriebserwerber muss bei Eintritt des Versorgungsfalls die Ansprüche der Arbeitnehmer zwar erfüllen, schuldet aber bei einer übertragenden Sanierung aus der Insolvenz nur die ab Insolvenzeröffnung von den Arbeitnehmern erdienten Versorgungsleistungen. Führt der Insolvenzverwalter den Betrieb zunächst fort und kommt es im Laufe der Betriebsfortführung zu einem Betriebsübergang gemäß § 613a BGB, tritt der Betriebserwerber für den Teil der Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung ein, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdient worden sind.49) Auf die bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdienten verfallbaren und un-
___________ 46) BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682; Beck/Depré-Depré/Heck, Praxis der Insolvenz, § 27 Rz. 31 ff; Schrader/Straube, Insolvenzarbeitsrecht, S. 167 ff. 47) BAG, Urt. v. 23.3.2004 – 3 AZR 151/03, ZIP 2004, 1227 = NZA 2005, 711, dazu EWiR 2004, 853 (Laskawy/Lomb); BAG, Urt. v. 24.3.1987 – 3 AZR 384/85, ZIP 1987, 1474 = NZA 1988, 246, dazu EWiR 1988, 171 (Rühle); Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, Vor § 113 Rz. 138. 48) Unklar und irreführend noch BAG, Urt. v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, ZIP 1992, 1247 = AP BetrAVG § 1 Nr. 13, dazu EWiR 1992, 859 (Schaub). 49) BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BAGE 114, 349 = ZIP 2005, 1706, dazu EWiR 2005, 855 (Richter).
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Undritz/Röger
III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung
verfallbaren Anwartschaften und Ansprüche ist die Rechtsfolge des § 613a BGB insoweit nicht anzuwenden; der Erwerber haftet für sie nicht.50) Die Stellung des Arbeitnehmers für den vor Insolvenzeröffnung erdienten An- 36 teil seiner Altersversorgung richtet sich zunächst danach, ob diese Anwartschaften zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits unverfallbar waren.51) Wenn dies der Fall ist, greift für die bis zur Insolvenzeröffnung erdienten unverfallbaren Anwartschaften die gesetzliche Insolvenzsicherung über den Pensions-Sicherungs-Verein (PSV), soweit die Sicherung des Arbeitnehmers nicht bereits durch die Art des konkreten Durchführungswegs gewährleistet ist.52) Soweit die Anwartschaft hingegen bei Insolvenzeröffnung verfallbar war, kann 37 sie nur als Insolvenzforderung geltend gemacht werden, die wie alle anderen Insolvenzforderungen dem insolvenzrechtlichen Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung unterliegt.53) III.
Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung
Aus den vorgenannten rechtlichen Rahmenbedingungen ergeben sich für den mit 38 einer übertragenden Sanierung befassten Arbeitsrecht-Praktiker einige immer wiederkehrende Aufgabenfelder. 1.
Gestaltung von Kaufvertragsklauseln
Der Kauf- und Übertragungsvertrag, der die rechtliche Grundlage für die über- 39 tragende Sanierung bildet54), enthält in nahezu allen Fällen eine separate, umfassende Klausel über die arbeitsrechtliche Behandlung der Transaktion. In ihr
___________ 50) Blomeyer/Rolfs/Otto-Rolfs, BetrAVG, § 7 Rz. 178. 51) BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BAGE 114, 349 = ZIP 2005, 1706, dazu abl. EWiR 2005, 855 (Richter), zu Betriebsrentenansprüchen aus Betriebsvereinbarungen vgl. Lembke, BB 2007, 1333. 52) Blomeyer/Rolfs/Otto-Rolfs, BetrAVG, § 7 Rz. 48 ff und Rz. 175 ff; BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BAGE 114, 349 = ZIP 2005, 1706, dazu EWiR 2005, 855 (Richter); BAG, Urt. v. 23.7.1991 – 3 AZR 366/90, BAGE 68, 160 = ZIP 1992, 49, dazu EWiR 1992, 153 (Joost). 53) Blomeyer/Rolfs/Otto-Rolfs, BetrAVG, § 7 Rz. 143; Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/ Schweibert/Seibt-Schnitker, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, S. 1087 f; BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, BAGE 114, 349 = ZIP 2005, 1706, dazu EWiR 2005, 855 (Richter). 54) Einzelheiten zur Vertragsgestaltung von Asset Deals aus einer Insolvenz: Thierhoff/Müller/ Illy/Liebscher-Undritz, Unternehmenssanierung, Kap. 9 Rz. 307 ff; Reul/Heckschen/ Wienberg-Heckschen, InsR Gestaltungspraxis, Kap. O Rz. 57 ff.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
finden die Ergebnisse der arbeitsrechtlichen Due Diligence Eingang.55) Ist die übertragende Sanierung mit einem Betriebsübergang verbunden, bedürfen insbesondere folgende arbeitsrechtliche Punkte regelmäßig einer Regelung in einer „Arbeitnehmer-Klausel“: x
Bestimmung der übernommenen Betriebe oder Betriebsteile, ggf. unter Beifügung von Organigrammen etc.;
x
Aufzählung der betroffenen Arbeitnehmer mit wesentlichen Personal- und Sozialdaten;
x
Zuordnung der Arbeitsverhältnisse zu einzelnen Betrieben oder Betriebsteilen;
x
verbindliche Einbindung eines Erwerberkonzepts in die übertragende Sanierung (siehe unten Rz. 46 ff.) oder einer Transfermaßnahme (siehe unten Rz. 53 ff.);
x
interne und stichtagsbezogene Haftungsabgrenzung unter Berücksichtigung der Besonderheiten in der Insolvenz (siehe oben Rz. 29 ff.);
x
Verfahrensweise zur Unterrichtung der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang (siehe unten Rz. 66 ff.); Abgrenzung der Haftungssphären für unvollständige oder fehlerhafte Informationen bei der Unterrichtung;
x
Umgang mit widersprechenden Arbeitnehmern, Verteilung der Kosten;
x
Verteilung der aus Kündigungen resultierenden Risiken und Kosten;
x
Übernahme von Personalakten.
40 Die in Kauf- und Übertragungsverträgen außerhalb der Insolvenz häufig zu findenden Garantieklauseln haben bei einer übertragenden Sanierung meist keinen Platz. Der Insolvenzverwalter, der das Unternehmen selbst erst nur wenige Monate kennt, wird naturgemäß keine Zusagen oder Garantien abgeben, zumal Ansprüche aus einem solchen Kaufvertrag nicht nur Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sind, sondern ebenso auch eine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters nach § 61 InsO in Frage kommen kann.56) 2.
Umsetzung eines Personalabbaus
41 Bei einer übertragenden Sanierung ist ein Abbau des Personals oft unerlässlich, um den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB untersagt allerdings die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses wegen des Über___________ 55) Eine Due-Diligence-Checkliste zu Arbeitnehmern findet sich bei Bauer/Göpfert/Haußmann/ Krieger, Umstrukturierung, S. 348. Bei einer übertragenden Sanierung aus der Insolvenz ist die Due Diligence in der Praxis allerdings in zeitlicher und materieller Hinsicht deutlich eingeschränkter als außerhalb der Insolvenz. 56) Reul/Heckschen/Wienberg-Heckschen, InsR Gestaltungspraxis, Kap. O Rz. 66; zur „Garantiefeindlichkeit“ des Insolvenzverwalters auch Windhöfel/Ziegenhagen/Denkhaus, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, Rz. 308 ff.
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III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung
gangs eines Betriebs. Die Kündigung ist demnach unzulässig, wenn der Betriebsübergang der tragende Grund für die Kündigung und nicht nur der äußere Anlass ist.57) Das ist etwa der Fall, wenn der neue Betriebsinhaber die Übernahme eines bestimmten Arbeitnehmers, dessen Arbeitsplatz erhalten bleibt, ablehnt, weil er „ihm zu teuer sei“.58) Das Recht zur Kündigung aus anderen Gründen als „wegen des Betriebsüber- 42 gangs“ bleibt nach § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB hingegen unberührt. Wenn es neben dem Betriebsübergang einen sachlichen Grund gibt, der aus sich heraus die Kündigung zu rechtfertigen vermag, bleibt eine betriebsbedingte Kündigung möglich.59) 43
Praxishinweis Zulässig sind auch Kündigungen, die der Insolvenzverwalter erklärt, um vor einer übertragenden Sanierung durch eine bessere Betriebsorganisation die Chancen für eine übertragende Sanierung zu erhöhen („verkaufsfähig machen“, sog. Ansanierung) – diese Kündigungen erfolgen dann nicht wegen eines Betriebsübergangs, sondern aus anderen, nämlich betriebsbedingten Gründen.60)
Ebenso ist es einem Erwerber nach einer übertragenden Sanierung nicht ver- 44 wehrt, die Sanierung des Unternehmens durch weitere Restrukturierungsmaßnahmen fortzusetzen und dazu Arbeitsverhältnisse übernommener Arbeitnehmer zu kündigen. Für ihn gelten insoweit die allgemeinen kündigungsrechtlichen Vorschriften wie für jeden anderen Arbeitgeber. Ebenso können Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern, die dem Übergang widersprochen haben, wegen fehlender Beschäftigungsmöglichkeit oder wegen Stilllegung des Betriebes unbeschadet von § 613a Abs. 4 BGB gekündigt werden.61) Aber auch im direkten Zusammenhang mit einer übertragenden Sanierung 45 ist ein Personalabbau unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und mit § 613a BGB vereinbar. In der Praxis sind das sog. Erwerberkonzept und der Einsatz von Transfergesellschaften („BQG-Modell“) von wesentlicher Bedeutung.
___________ 57) BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. 58) BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, BAGE 43, 13 = ZIP 1983, 1377. 59) Vgl. BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387; BAG, Urt. v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720 = AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 139. 60) BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387; LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 9.1.2013 – 2 Sa 166/12, NZA-RR 2013, 238; Schiefer, NJW 1998, 1817, 1823. 61) BAG, Urt. v. 29.3.2007 – 2 AZR 31/06, NJW 2007, 2942 = NZA 2007, 855, 857; BAG, Urt. v. 30.10.1986 – 2 AZR 696/85, NZA 1987, 382, 383 = ZIP 1987, 734; vgl. auch BAG, Urt. v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, NZA 1985, 493, 494 = ZIP 1985, 698.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
a)
Erwerberkonzept
46 Plant der Erwerber nach der übertragenden Sanierung das Unternehmen nur mit einer reduzierten Anzahl von Arbeitnehmer fortzuführen, kann der Insolvenzverwalter im Vorgriff auf ein vom Erwerber entwickeltes Personalkonzept noch vor der übertragenden Sanierung einen Personalabbau umsetzen (sog. Veräußererkündigung aufgrund Erwerberkonzept).62) Der Insolvenzverwalter kann dabei nicht nur auf die Maximal-Kündigungsfrist von drei Monaten (§ 113 InsO), sondern auch auf die in der InsO geregelten besonderen arbeitsrechtlichen Instrumente (§§ 120 ff. InsO) zurückgreifen und für die übertragende Sanierung nutzbar machen. aa)
Vereinbarkeit mit § 613a Abs. 4 BGB
47 Dieses Zusammenwirken von Insolvenzverwalter und Erwerber steht nach der Rechtsprechung des BAG nicht mit dem Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB im Widerspruch. Der Schutzzweck des § 613a BGB liege darin, den Erwerber daran zu hindern, bei der Übernahme der Belegschaft eine Auslese zu treffen.63) Sinn und Zweck der Regelungen in § 613a Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 BGB sei es aber nicht, den Erwerber auch bei einer, auf Grund betriebswirtschaftlicher Gesichtspunkte voraussehbaren, fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit zu verpflichten, das Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer noch einmal künstlich zu verlängern, bis er selbst die Kündigung aussprechen kann.64) Für die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung des Insolvenzverwalters nach einem verbindlichen Erwerberkonzept kommt es nicht darauf an, ob das Konzept auch beim Insolvenzverwalter hätte durchgeführt werden können. Wer das umgesetzte Konzept entwickelt hat und wer gekündigt hat, d. h. der Insolvenzverwalter vor oder der Erwerber nach Betriebsübergang, ist letztlich unerheblich.65) bb)
Anforderungen an ein Erwerberkonzept
48 Um einen Personalabbau auf der Grundlage eines Erwerberkonzepts bei einer übertragenden Sanierung erfolgreich umsetzen zu können, muss das Konzept oder der Sanierungsplan des Erwerbers plausibel und detailliert beschreiben, welche betriebliche Veränderungen zu einem Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten und damit zu einem personellen Überhang im übernommenen Un___________ 62) BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 8 AZR 827/1, ZIP 2013, 537 = NZI 2013, 407; BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = NZA 2007, 387. 63) BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, BAGE 43, 13 = ZIP 1983, 1377 stellt insbesondere auf die „Auslese“ besonders schutzbedürftigen älteren, schwerbehinderten, unkündbaren oder sonst sozial schwächeren Arbeitnehmern ab. 64) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027. 65) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027.
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III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung
ternehmen führen. Üblicherweise werden der Ausgangszustand und die Zielorganisation in einem ausführlichen Text erläutert und mit entsprechenden Organigrammen o. Ä. unterlegt. 49
Praxishinweis In der Sanierungspraxis hat sich bewährt, im Konzept bereits eine Darstellung der betrieblichen Veränderungen vorzusehen, die den Maßstäben einer Kündigungsbegründung in einem Kündigungsschutzprozess genügt.
Das Erwerberkonzept muss verbindlich sein und seine Durchführung im Zeit- 50 punkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen haben.66) Die bloße Forderung eines potenziellen Investors, die Belegschaft vor einer übertragenden Sanierung zu verkleinern, genügt zur Rechtfertigung der Kündigung hingegen nicht.67) In der Praxis wird die von der Rechtsprechung geforderte Verbindlichkeit des Konzepts dadurch hergestellt, dass das Erwerberkonzept entweder Teil eines mit dem zuständigen Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleichs wird oder das Erwerberkonzept in den Kauf- und Übertragungsvertrag (zumeist als separate Anlage) integriert wird. Die zeitliche Planung und Abstimmung der übertragenden Sanierung unter 51 Verwendung eines Erwerberkonzepts stellt die Beteiligten in der Praxis vor große Herausforderungen.68) So müssen nicht nur die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Verhandlungen des Unternehmenskauf- und Übertragungsvertrages zeitlich koordiniert werden, sondern auch die für die Umsetzung des Personalabbaus erforderlichen Maßnahmen – Anhörung des Betriebsrat nach § 102 BetrVG, Anzeige der Entlassungen und Beteiligungsverfahren mit dem Betriebsrats nach § 17 KSchG (dazu unten Rz. 63), Einholung von behördlichen Zustimmungen bei Sonderkündigungsschutzfällen nach dem BEEG, MuSchG, SGB IX – in die Zeitplanung integriert werden. Zeitlich erfolgen die Kündigungen regelmäßig unmittelbar nach Abschluss des Übernahmekaufvertrages, der meist kurz nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam wird, und müssen vor Vollzug des Kaufvertrags (Closing) zugegangen sein.69) cc)
Kombination mit anderen arbeitsrechtlichen Instrumenten
Der Erfolg einer übertragenden Sanierung mit einem Personalabbau über ein 52 Erwerberkonzept kann zusätzlich abgesichert werden, wenn der Insolvenzver___________ 66) 67) 68) 69)
BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027. BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, BAGE 43, 13 = ZIP 1983, 1377. Eingehend zum „Timing“ des Personalabbaus: Merten in: FS Bauer, S. 755, 758. Der Vollzug des Kaufvertrages ist praktisch immer auch der für den Betriebsübergang maßgebliche Zeitpunkt der Übernahme betrieblicher Leitungsmacht. Zur Problematik der erst nach Betriebsübergang erteilten Zulässigkeitserklärung einer Behörde bei Sonderkündigungsschutz nach dem SGB IX vgl. BAG, Urt. v. 15.11.2012 – 8 AZR 827/11, ZIP 2013, 537 = NZI 2013, 407.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
walter als Veräußerer mit dem zuständigen Betriebsrat einen Interessenausgleich vereinbart, in dem die abzubauenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnet sind (Interessenausgleich mit Namensliste, § 125 Abs. 1 InsO, siehe dazu unten Rz. 61). 53 Die vom Personalabbau betroffenen Arbeitnehmer können zudem durch Transfermaßnahmen nach §§ 110, 111 SGB III mit Transferleistungen der Agentur für Arbeit in einer Transfergesellschaft (sog. „betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit (beE)“ nach § 111 Abs. 3 Nr. 2 SGB III) qualifiziert und in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Wechseln die Arbeitnehmer auf dieser Grundlage über einen Aufhebungsvertrag mit dem Insolvenzverwalter und einem Arbeitsvertrag mit dem Träger der Transfergesellschaft70) in die Transfereinrichtung, sieht sich der Erwerber insoweit keinen aus kündigungsschutzrechtlichen Auseinandersetzungen resultierenden arbeitsrechtlichen Risiken mehr ausgesetzt. 54
Praxishinweis Für den Erfolg dieser das Erwerberkonzept flankierenden Maßnahmen ist ausschlaggebend, dass die Beteiligten dem Betriebsrat und den Arbeitnehmern das Konzept und seine Alternativlosigkeit für die Rettung des Unternehmens plausibel und in vertrauensvoller Zusammenarbeit erläutern.
b)
Zwischenschaltung von Transfergesellschaften („BQG-Modell“)
55 Aufbauend auf der Grundsatzentscheidung des BAG zum sog. „Dörries-Scharmann“-Fall71) und einer Reihe von Folgeentscheidungen72) wurde die Zwischenschaltung einer Transfergesellschaft („Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (BQG)“) als alternatives Instrument zur Ermöglichung einer übertragenden Sanierung genutzt. Bei dieser auch als „BQG-Modell“73) bezeichneten Sanierungsmaßnahme wechseln die Arbeitnehmer des in seiner Existenz bedrohten Unternehmens vor dem Betriebsübergang über kombinierte Aufhebungsund Arbeitsverträge in eine Transfergesellschaft, so dass der Betrieb zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs frei von Arbeitsverhältnissen ist und der Erwerber deshalb nicht mit den Rechtsfolgen des § 613a BGB belastet wird. Nach Vollzug der übertragenden Sanierung kann der Erwerber die benötigten Arbeitnehmer – auch zu anderen Arbeitsbedingungen – dann entweder aus der Transfergesellschaft oder aus dem klassischen Arbeitsmarkt heraus einstellen. ___________ 70) Beide Verträge werden in der Praxis häufig in einem sog. dreiseitigen Vertrag zusammengefasst. 71) BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, BAGE 90, 260 = ZIP 1999, 320. 72) BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = AP BGB § 613a Wiedereinstellung Nr. 1; BAG, Urt. v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, BAGE 115, 340 = ZIP 2006, 148, dazu EWiR 2006, 197 (Lindemann). 73) Krieger/Fischinger, NJW 2007, 2289.
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III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung
Um das BQG-Modell von dem als unzulässige Umgehung von § 613a BGB ange- 56 sehenen sog. Lemgoer Modell,74) bei dem die Arbeitnehmer einen Aufhebungsvertrag mit dem Betriebsveräußerer einzig zu dem Zweck abschließen, anschließend ein Arbeitsverhältnis zum Erwerber einzugehen, abzugrenzen, stellt das BAG darauf ab, dass der Erwerber dem Arbeitnehmer bei Abschluss des Aufhebungsvertrages keinen Arbeitsvertrag zugesagt oder zumindest verbindlich in Aussicht gestellt haben darf.75) Der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit einem Betriebsveräußerer und damit zusammenhängend der Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einer BQG trotz eines anschließenden Betriebsübergangs sind demnach grundsätzlich wirksam, wenn die Vereinbarung auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet ist. Wenn der Arbeitnehmer aber keine sichere Aussicht, sondern nur eine mehr oder minder begründete Hoffnung auf eine Einstellung beim Erwerber habe, gehe er ein bloßes Risikogeschäft ein und der Aufhebungsvertrag sei auf sein Ausscheiden aus dem Betrieb gerichtet. Mit zwei neueren Entscheidungen76) ist das BAG von dieser bislang sanierungs- 57 freundlichen Auslegung des § 613a BGB abgerückt und hat die Anforderungen an das BQG-Modell in einem für die Sanierungspraxis bedenklichen Maß verschärft.77) Dass der Arbeitnehmer keine konkrete Zusage oder verbindliche Aussicht für eine Einstellung beim Erwerber hat, spielt für das BAG keine Rolle mehr. Schon bestimmte mathematische Wahrscheinlichkeiten einer Übernahme oder die vom Arbeitnehmer subjektiv so gewerteten Gesamtumstände bringen das BQG-Modell zu Fall. Die sozialpolitisch sinnvolle übertragende Sanierung wird durch diese Rechtsprechung weiter erschwert und Arbeitsplätze werden vernichtet.78) Es bleibt zu hoffen, dass das BAG schnellstmöglich zur ursprünglichen, der Sanierungspraxis gerecht werdenden Linie zurückkehrt, auch um den rechtspolitisch gewünschten und durch das neue „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ (ESUG) umgesetzten, insolvenzrechtlichen Paradigmenwechsel hin zu einer neuen Sanierungskultur79) nicht evident zu gefährden. ___________ 74) BAG, Urt. v. 12.5.1992 – 3 AZR 247/91, BAGE 70, 209 = ZIP 1992, 1408; BAG, Urt. v. 28.4.1987 – 3 AZR 75/86, BAGE 55, 228 = ZIP 1988, 120, dazu EWiR 1988, 247 (Seiter/ Hergenröder). 75) BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203 = DB 2013, 236. 76) BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203 = DB 2013, 236, BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, ZIP 2011, 2426 = NZA 2012, 152, dazu EWiR 2012, 41 (Joost). 77) Zutreffend Willemsen, NZA 2013, 242; krit. auch Moll-Cohnen, Münch-AHB ArbR, § 54 Rz. 179 ff. 78) Willemsen, NZA 2013, 242, 246, der Aufhebungsverträge im Zusammenhang mit einer übertragenden Sanierung zutreffend als Roulettespiel einordnet. 79) Vallender, NZI 2010, 838; insbesondere zur Einführung des ESUG: Römermann, NJW 2012, 645; das Bestreben um Erhalt von Arbeitsplätzen wird auch in der Begründung des RegE ESUG besonders betont (vgl. BT-Drucks. 17/5712, S. 2, 17).
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
3.
Beteiligung der Arbeitnehmervertretung
58 Ist in dem von einer übertragenden Sanierung betroffenen Betrieb ein Betriebsrat gewählt, sind die betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrechte zu beachten. 59 Der reine Betriebsübergang nach § 613a BGB stellt indes keine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung nach § 111 BetrVG dar. Anderes gilt nur dann, wenn mit dem Betriebsübergang Betriebsänderungen verbunden sind, die dem Katalog des § 111 Satz 3 BetrVG unterfallen. Eine Betriebsänderung kann insbesondere dann vorliegen, wenn die übertragende Sanierung mit einem erheblichen Personalabbau einhergeht oder es zu betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsspaltungen kommt. In diesem Fall ist der Insolvenzverwalter dazu verpflichtet, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und einen Sozialplan zu beraten und zu verhandeln. Für den Sozialplan gilt in der Insolvenz indes die absolute (§ 123 Abs. 1 InsO) und relative (§ 123 Abs. 2 Satz 2 InsO) Schranke der InsO, wonach das Sozialplanvolumen gleich in zweifacher Hinsicht „gedeckelt“ wird. 60 Zur Verkürzung des Mitbestimmungsverfahrens nach § 111 BetrVG steht in der Insolvenz mit § 122 InsO ein gerichtliches Verfahren zur Einholung einer Zustimmung für eine Betriebsänderung zur Verfügung, das allerdings in der Praxis kaum Bedeutung hat.80) Auch § 121 InsO, wonach der von § 112 Abs. 2 BetrVG vorgesehene Vermittlungsversuch des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit vor dem Einigungsstellenverfahren nur durchzuführen ist, wenn sowohl der Insolvenzverwalter als auch der Betriebsrat darum ersuchen, dient der Beschleunigung des Verfahrens. 61 Der Insolvenzverwalter als Veräußerer kann bei einer Betriebsänderung mit dem zuständigen Betriebsrat einen Interessenausgleich vereinbaren, in dem zu kündigende Arbeitnehmer namentlich bezeichnet sind (Interessenausgleich mit Namensliste, § 125 Abs. 1 InsO). Mit § 125 Abs. 1 InsO stellt das Gesetz für diesen Fall die vom Arbeitnehmer im Streitfall nur extrem schwer zu widerlegende Vermutung auf, dass der Kündigung betriebsbedingte Gründe zugrunde liegen, und verringert den Prüfungsmaßstab des Gerichts für die in der Praxis häufig kaum rechtssicher vorherzusagende soziale Auswahl auf das Kriterium der „groben Fehlerhaftigkeit“. Darüber hinaus kann das Gericht die soziale Auswahl der Arbeitnehmer auch dann nicht beanstanden, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder sogar erst geschaffen wird.81) Kann der Insolvenzverwalter den Betriebsrat für die übertragende Sanierung und das dazu vom Erwerber vorgelegte Erwerberkonzept über eine Personalreduzierung ge___________ 80) Zu § 122 InsO ausführlich Schmädicke/Fackler, NZA 2012, 1199. 81) Die zusätzliche Möglichkeit, mit der Auswahl eine ausgewogene Personalstruktur zu schaffen und nicht nur diese zu erhalten, ist ein insolvenzarbeitsrechtlicher Vorteil gegenüber der Parallelvorschrift des § 1 Abs. 3, Abs. 5 KSchG, vgl. Gallner in: ErfK, § 125 InsO Rz. 14.
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III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung
winnen und eine Namensliste nach § 125 Abs. 1 InsO vereinbaren, sind die für den Erwerber bei einer übertragenden Sanierung bestehenden arbeitsrechtlichen Risiken deutlich gemindert. Über § 128 InsO ist sichergestellt, dass die Wirkungen des § 125 InsO auch nach der übertragenden Sanierung für den Erwerber eintreten. Mit § 126 InsO steht dem Insolvenzverwalter zudem bei einem unvermeid- 62 baren Personalabbau ein Instrument zur Verfügung, die soziale Rechtfertigung von Kündigungen in einem eigenen arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren nach § 126 Abs. 2 InsO positiv feststellen zu lassen und somit eine annähernde Rechtssicherheit wie bei einem Interessenausgleich mit Namensliste (§ 125 InsO) zu gewinnen. Praktisch hat dieses Verfahren aber keine erkennbare Bedeutung.82) Ist die übertragende Sanierung mit Kündigungen verbunden, ist der Betriebsrat 63 nach § 102 BetrVG rechtzeitig anzuhören. Bei Überschreiten der Schwellenwerte von § 17 KSchG ist zudem vor Ausspruch der Kündigungen das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG bei Massenentlassungen durchzuführen und sind die beabsichtigten Entlassungen nach § 17 Abs. 2, Abs. 3 KSchG der Arbeitsagentur anzuzeigen. Eine Erleichterung für den Insolvenzverwalter bringt insoweit § 125 Abs. 2 InsO, wonach ein Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzt. Bei einer betriebsübergreifenden Betriebsänderung ersetzt der vom Insolvenzverwalter mit dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossene Interessenausgleich mit Namensliste die Stellungnahmen der örtlichen Betriebsräte zu der geplanten Massenentlassung.83) 64
Praxishinweis Die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG und die Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG werden in der Praxis meist im Interessenausgleich geregelt.84)
Eine übertragende Sanierung mit einem Betriebsübergang nach § 613a BGB 65 kann im Übrigen ein Vorgang sein, der die Interessen der Arbeitnehmer des Unternehmens wesentlich berührt und damit gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG zur Pflicht des Insolvenzverwalters führen, den Wirtschaftsausschuss zu unterrichten und mit ihm darüber zu beraten.85) ___________ 82) Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 320 führen die geringe praktische Bedeutung auf die Komplexität und Schwerfälligkeit des Verfahrens zurück; zu Recht krit. auch Lakies, NZI 2000, 345; Rieble, NZA 2007, 1393. 83) BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, BAGE 138, 301 = ZIP 2011, 1786, dazu EWiR 2011, 677 (Mückl). 84) Vgl. dazu BAG, Urt. v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, ZIP 2012, 1259 = NZA 2012, 1058, dazu EWiR 2012, 429 (Fuhlrott) zu § 17 Abs. 2 KSchG mit Formulierungshinweisen. In der Praxis wird die Anhörung nach § 102 BetrVG häufig vorsorglich separat wiederholt, auch wenn sie im Interessenausgleich als abschließend vereinbart wurde. 85) Vgl. BAG, Beschl. v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/89, BAGE 67, 97 = NZA 1991, 649.
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
4.
Unterrichtung der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang
66 Bei einem Betriebsübergang sind die betroffenen Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 5 BGB zu unterrichten. Auch wenn das Gesetz fordert, dass die Unterrichtung vor dem Betriebsübergang zu erfolgen hat, kann die Unterrichtung auch noch nach erfolgtem Betriebsübergang nachgeholt werden und löst dann den Lauf der Monats-Frist des § 613a Abs. 6 BGB aus.86) 67 Bei dieser Unterrichtungspflicht handelt es sich um eine echte Rechtspflicht und nicht lediglich um eine Obliegenheit.87) Daher können aus deren Verletzung Schadensersatzansprüche gegen den bisherigen Arbeitgeber oder auch den neuen Inhaber folgen.88) 68
Praxishinweis Bei einer übertragenden Sanierung ist es empfehlenswert, im Unternehmenskauf- und Übertragungsvertrag zwischen Insolvenzverwalter und Erwerber die Umsetzung der Unterrichtung und die möglichen Haftungsfolgen zu regeln.
a)
Form der Unterrichtung
69 Für die Form der Unterrichtung schreibt das Gesetz die Textform (§ 126b BGB) vor. Eine mündliche Ankündigung auf einer Betriebsversammlung, die pauschale Mitteilung allein an den Betriebsrat oder ein Aushang am schwarzen Brett erfüllen die Anforderung, dass dem Arbeitnehmer die Unterrichtung in Textform zugehen muss, nicht. Möglich ist aber eine Unterrichtung per E-Mail oder Telefax. Die Unterrichtung kann in einem Standardschreiben erfolgen; sie muss jedoch etwaige Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses erfassen.89) 70
Praxishinweis Aus praktischen Gründen bietet es sich bei einer Informationspflicht gegenüber ein Großzahl von Mitarbeitern an, diese nach ihren arbeitsrechtlichen Umständen und beabsichtigten Maßnahmen in Gruppen einzuteilen, zu denen jeweils angepasste Standardschreiben aufgesetzt werden, um so den Aufwand möglichst gering zu halten und dabei doch individuelle Informationen zu erteilen. In der Sanierungspraxis hat es sich schließlich bewährt, dass Insolvenzverwalter und Investor ein gemeinsames Schreiben herausgeben und damit zusammen bei den Arbeitnehmern für die übertragende Sanierung werben.
___________ 86) BAG, Urt. v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, BAGE 114, 374 = ZIP 2005, 1978, dazu EWiR 2006, 165 (Grimm/Brock). 87) BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 382/05, ZIP 2007, 87 = NZA 2006, 1406; BAG, Urt. v. 20.3.2008 – 8 AZR 1022/06, NZA 2008, 1297 = AP BGB § 613a Nr. 341; Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 94; a. A. Bauer/v. Steinau-Steinrück, ZIP 2002, 457, 463. 88) Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 94; ausführlich dazu Gaul/Otto, DB 2002, 634, 639. 89) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP BGB § 613a Nr. 15 = DB 2012, 581, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050.
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III. Arbeitsrechtlich relevante Aufgabengebiete bei der übertragenden Sanierung Für den Beweis des Zugangs wird in der Praxis meist ein förmliches Unterrichtungsschreiben verwendet und zusammen mit einem Durchschlag versehen, auf dem der Arbeitnehmer unmittelbar bei Übergabe den Empfang quittiert.
b)
Inhalt der Unterrichtung
Die inhaltlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unterrichtung hat 71 das BAG zunehmend konkretisiert, aber zugleich auch erheblich verschärft.90) Nach § 613a Abs. 5 BGB und der dazu einschlägigen Rechtsprechung sind die betroffenen Arbeitnehmer über x
die Person des Betriebserwerbers,
x
den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Übergangs (§ 613a Abs. 5 Nr. 1 BGB),
x
den Grund für den Übergang (§ 613a Abs. 5 Nr. 2 BGB),
x
die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer (§ 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB) und
x
die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen (§ 613a Abs. 5 Nr. 4 BGB)
zu unterrichten. Die reine Wiederholung des Gesetzeswortlauts ist allerdings keine ausreichende Unterrichtung, erforderlich ist vielmehr eine konkrete betriebsbezogene Darstellung in einer auch für juristische Laien möglichst verständlichen Sprache.91) Gleichzeitig müssen die Hinweise über die rechtlichen Folgen präzise sein und dürfen keine juristischen Fehler beinhalten.92) Um diese schwierige Gratwanderung93) zwischen juristischer Präzision und verständlicher Lesbarkeit erfolgreich zu bewältigen, orientiert sich die Praxis eng an den als Musterschreiben dienenden Unterrichtungsschreiben, die den Urteilen des BAG vom 14.12.200694) und vom 10.11.201195) zugrunde lagen und jeweils vom BAG für ordnungsgemäß erachtet wurden. Gelingt es jedoch nicht den Anforderungen des BAG im konkreten Fall zu genügen, hat dies zur Folge, dass die ___________ 90) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, DB 2007, 975 = AP BGB § 613a Nr. 318, dazu EWiR 2007, 553 (Schreiner); BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050; ausführlich Moll-Cohnen, Münch-AHB ArbR, § 55 Rz. 19 ff. 91) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, DB 2007, 975 = AP BGB § 613a Nr. 318, dazu EWiR 2007, 553 (Schreiner). 92) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP BGB § 613a Nr. 15 = DB 2012, 581; BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 93) Zwischenzeitlich wurde eine i. S. des BAG ordnungsgemäße Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB praktisch für unmöglich gehalten, vgl. Hilgenstock, ArbRAktuell 2012, 303; Göpfert/Buschbaum, ZIP 2011, 64. 94) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, DB 2007, 975 = AP BGB § 613a Nr. 318, dazu EWiR 2007, 553 (Schreiner). 95) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP BGB § 613a Nr. 15 = DB 2012, 581, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann).
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§ 13 Arbeitsrecht in der übertragenden Sanierung
einmonatige Widerspruchsfrist für den Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 6 BGB nicht zu laufen beginnt.96) Außerdem hat das BAG97) den Arbeitnehmern die Möglichkeit eröffnet, bei ausbleibenden oder fehlerhaften Unterrichtungen Schadensersatzansprüche geltend zu machen, was in der Praxis aber bislang kaum relevant wurde. IV.
Ausblick
72 Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass arbeitsrechtliche Fragestellungen bei fast jeder übertragenden Sanierung von zentraler Bedeutung sind. Häufig sind sie auch im Interesse eines Investors lösbar, wobei alle Beteiligten sehr präzise und professionell vorgehen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass der noch recht frische Schwung im Insolvenzrecht, der durch die Förderung einer neuen Sanierungskultur im „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ (ESUG) gewonnen wurde, auch das BAG in Erfurt erreicht. Der Trend der Restrukturierungsbranche zur Migration (Sitzverlagerung, z. B. nach England) könnte sich sonst unnötig verstärken.
___________ 96) Schrader/Straube, Insolvenzarbeitsrecht, VIII Rz. 17; BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, DB 2007, 975 = AP BGB § 613a Nr. 318, dazu EWiR 2007, 553 (Schreiner). 97) BAG, Urt. v. 11.11.2010 – 8 AZR 169/09, BeckRS 2011, 69270 mit Anm. in NJW-Spezial 2011, 211; BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = NZA 2008, 642; dazu Lunk, RdA 2009, 48.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan Übersicht I. Einleitung........................................... 1 II. Anwendungsfälle der übertragenden Sanierung im Insolvenzplan .................................... 2 III. Arbeitsrecht im Insolvenzplan allgemein ............................................ 6 IV. Übertragung im Insolvenzplanverfahren................................... 14 V. Arbeitsrechtliche Maßnahmen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes ...................... 20 1. Sanierungsmaßnahmen allgemein.... 21 2. Reduktion der Personalaufwendungen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes ............. 24 a) Maßnahmen im Insolvenzplanverfahren zur Reduktion von Personalaufwendungen außer Personalabbau ................. 25 b) Personalabbau auf Grundlage eines Erwerberkonzepts im Insolvenzplanverfahren ....... 28 aa) Erwerberkonzept................ 29 bb) Folgen aus dem Erwerberkonzept ............................... 30 cc) Ausspruch der Kündigungen ...................... 34 dd) Interessenausgleich und Sozialplan ............................ 37 ee) Weitere Besonderheiten beim übertragenden Insolvenzplan...................... 42
VI. Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer im Abstimmungstermin und in Gläubigerorganen ........................... 43 1. Im Abstimmungs- und Erörterungstermin ...................................... 44 2. Stellung der Arbeitnehmer in dem (vorläufigen) Gläubigerausschuss........................................... 47 VII. Besondere Rechte im Insolvenzplanverfahren für den Pensionssicherungsfonds .............. 50 1. Der PSVaG als gesetzlicher Zwangsgläubiger im Insolvenzverfahren ................................... 51 2. Abweichende Gestaltungsmöglichkeiten im Insolvenzplanverfahren ................................................ 54 a) Vertikale Aufteilung ................ 55 b) Horizontale Aufteilung ........... 57 c) Anwendbarkeit des § 7 Abs. 4 Sätze 2, 3 BetrAVG im übertragenden Insolvenzplan? – Einschränkungen durch § 613a BGB? .............................. 59 3. Besserungsklausel............................. 65 4. Gruppe-PSVaG................................. 68 5. Misslingen der Sanierung ................. 70 VIII. Resümee......................................... 72
Literatur: Bank/Wiecek, Die betriebliche Altersvorsorge in Deutschland: Verbreitung, Durchführungswege und Finanzierung, WSI-Diskussionspapier Nr. 181, 2012; Berentz, Gesetzesmaterialien zum BetrAVG, 2003; Bremer, Insolvenzplan: Fortführung betrieblicher Altersversorgung durch den Arbeitgeber, DB 2011, 875; Frind, Die Praxis fragt, „ESUG“ antwortet nicht, ZInsO 2011, 2249; Lohkemper, Die Erwerberhaftung für Ruhegeldanwartschaften bei der übertragenden Sanierung, 1997; Neufeld, Besonderheiten der betrieblichen Altersversorgung bei der übertragenden Sanierung, BB 2008, 2346; Obermüller, Der Gläubigerausschuss nach dem „ESUG“, ZInsO 2012, 18; Oetker/Friese, Der Sozialplan in der Insolvenz, DZWIR 2001, 265; Smid/Rattunde, Der Insolvenzplan: Handbuch für das Sanierungsverfahren nach dem neuen Insolvenzrecht, 1998; Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, 3. Aufl., 2012; K. Schmidt, Organverantwortlichkeit und Sanierung
Hermann
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan im Insolvenzrecht der Unternehmen, ZIP 1980, 328; Steinwachs, Die Wahl des vorläufigen Insolvenzverwalters durch den vorläufigen Gläubigerausschuss, ZInsO 2011, 410; Merten, Personalabbau beim Unternehmenskauf aus der Insolvenz, in: Festschrift für JobstHubertus Bauer, 2010, S. 755; Wellensiek, Die übertragende Sanierung, NZI 2002, 233.
I.
Einleitung1)
1 Das schuldnerische Unternehmen kann in einem Insolvenzverfahren in zwei Wegen übertragen werden. Einmal kann der Insolvenzverwalter selbst das seiner Verwaltung unterliegende Unternehmen zivilrechtlich i. R. eines Unternehmenskaufvertrages an einen anderen Rechtsträger veräußern. Zum anderen kann dieses Ziel aber auch in Zusammenhang mit den Regelungen eines Insolvenzplanverfahrens erreicht werden. Je nachdem, welcher Weg eingeschlagen wird, bestimmen sich die arbeitsrechtlichen Konsequenzen. II.
Anwendungsfälle der übertragenden Sanierung im Insolvenzplan
2 Der Unternehmenskauf aus der Insolvenz wird überwiegend als Asset Deal strukturiert (sog. übertragende Sanierung).2) Der Insolvenzverwalter veräußert nach Möglichkeit sämtliche Aktiva des schuldnerischen Unternehmens. Die Verbindlichkeiten verbleiben als Insolvenzforderungen dagegen bei der Insolvenzmasse. Auch dieses Sanierungsmittel dient dem Hauptzweck des Insolvenzverfahrens einer möglichst hohen Gläubigerbefriedigung. Die InsO lässt zur Erreichung dieses Ziels aber eine größtmögliche Gläubigerautonomie zu. Zwischen dem Insolvenzplanverfahren und dem Sanierungsmittel der übertragenden Sanierung ist die Mischform des übertragenden Insolvenzplanes möglich, auch wenn in der Praxis die Durchführung einer übertragenden Sanierung über einen Insolvenzplan bislang die Ausnahme darstellt. 3 Als Sanierungsinstrument wurde der übertragende Insolvenzplan bislang hauptsächlich in der Form des sog. „prepackaged plan“ genutzt.3) Die Durchführung einer übertragenden Sanierung im Insolvenzplanverfahren bietet sich vor allem immer dann an, wenn erst die besonderen Möglichkeiten des Insolvenzplanverfahrens zum gewünschten Ziel führen. Das kann zunächst der Fall sein, wenn bei der Übertragung (vor allem über den Share Deal) besondere Lizenzen Gegenstand des Kaufvertrages sind, die nicht Gegenstand eines einfachen Kaufvertrages sein können. Weiterhin bietet ein Insolvenzplanverfahren bspw. dann ___________ 1) Der Verfasser dankt Herrn Rechtsanwalt Torsten Steinwachs für die Unterstützung bei diesem Beitrag. 2) Grund dafür ist, dass bei Abschluss eines sog. Share Deals, also beim Erwerb der Anteile der insolventen Gesellschaft, der Erwerber auch deren Verbindlichkeiten übernehmen würde. 3) Als „prepackaged plan“ bezeichnet man ein bereits im Vorfeld der Insolvenz fertig erstelltes, komplettes Sanierungskonzept in Form eines Insolvenzplans, das nach vorheriger Abstimmung mit den wichtigsten Gläubigern bereits regelmäßig mit dem Insolvenzantrag vom Schuldner vorgelegt wird.
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III. Arbeitsrecht im Insolvenzplan allgemein
besondere Möglichkeiten, wenn die notwendige Gläubigermehrheit nach § 162 InsO zunächst nicht erreicht wird und erst über das Obstruktionsverbot gemäß § 245 InsO die Zustimmung eines großen Gläubigers bei entsprechender Gruppenbildung durch das Insolvenzgericht ersetzt werden kann. Schließlich bietet sich ein übertragender Insolvenzplan in Fällen der Insolvenz 4 eines einzelkaufmännisch geführten Unternehmens an.4) In einem Insolvenzplan ist frei gestaltbar, inwieweit die Haftung des Einzelkaufmannes, d. h. des Unternehmensträgers, fortbesteht. Im Besonderen ist regelbar, welche gegenwärtigen Vermögensgegenstände und welche Teile der künftigen Erträge dem Einzelkaufmann verbleiben.5) Bei der übertragenden Sanierung bleibt der Einzelkaufmann als Unternehmensträger in der fortbestehenden Haftung für die Verbindlichkeiten. Die Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO bietet nur eine unbefriedigende Lösung. Dagegen lässt ein Insolvenzplanverfahren großen Gestaltungsspielraum zu. Der Kreativität und Phantasie der Beteiligten, insbesondere des Planerstellers, sind nur geringe Grenzen gesetzt. Da der Insolvenzplan somit eine übertragende Sanierung zum Gegenstand hat, 5 sind die arbeitsrechtlichen Fragestellungen sowohl der übertragenden Sanierung als auch des Insolvenzplanes gleichermaßen zu beachten und in Einklang zu bringen. III.
Arbeitsrecht im Insolvenzplan allgemein 6
Im Wesentlichen werden vier Arten von Insolvenzplänen unterschieden: x
Die Fortführung des reorganisierten Unternehmens durch den bisherigen Rechtsträger (sog. Eigensanierung);
x
die Veräußerung sämtlicher zum operativen Geschäft gehörenden Vermögensgegenstände an eine neue Gesellschaft (sog. übertragende Sanierung);
x
eine vom Regelinsolvenzverfahren abweichende Regulierung der Schulden;
x
eine vom Regelinsolvenzverfahren abweichende Liquidation des schuldnerischen Unternehmens.6)
Gegenüber dem Regelinsolvenzverfahren ergeben sich arbeitsrechtlich im In- 7 solvenzplanverfahren keine wesentlichen Besonderheiten. Zwar sind im Insolvenzplanverfahren große Gestaltungsmöglichkeiten gegeben. Zwingende gesetzliche Vorschriften können jedoch nicht unterlaufen werden. ___________ 4) Bernsau/Höpfner/Rieger/Wahl-Bernsau, Hdb. der übertragenden Sanierung, S. 35, nennt als weitere Beispiele, dass der Kaufpreis für die im Wege der übertragenden Sanierung veräußerten Assets nicht sofort bezahlt werden kann, sondern der Masse aus den Erträgen der neuen Gesellschaft zufließen soll oder die Masse an der neuen Gesellschaft beteiligt bleibt und dieser Anteil später gewinnbringend veräußert werden kann. 5) Wellensiek, NZI 2002, 233, 238 m. w. N. 6) Balthasar in: Kübler, HRI, § 26 Rz. 62.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
8 Unproblematisch kann der Insolvenzplan in die persönlichen Insolvenzforderungen der Arbeitnehmer gemäß §§ 217, 254 Abs. 1 InsO eingreifen. Es gilt dasselbe wie im Regelinsolvenzverfahren.7) 9 Auch ein Insolvenzplan kann aber nicht bestehende Arbeitsverträge für die Zukunft ändern, z. B. mittels Herabsetzung des Gehalts. Dieses Ziel kann nur durch Individualvereinbarungen mit dem jeweils einzelnen Arbeitnehmer erreicht werden. 10 Tarifvertragsrecht ist zu beachten. Danach kann ein Plan die Bindungswirkung des Tarifplans nicht unterlaufen, § 3 Abs. 1 TVG. Dies gilt auch im Falle eines allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages gemäß § 5 TVG.8) 11 Auch Betriebsvereinbarungen können durch den Plan nicht geändert werden. Das lässt sich auch nicht aus § 120 InsO ableiten, wonach belastende Betriebsvereinbarungen durch den Insolvenzverwalter kündbar sind.9) In aller Regel kündigt der Insolvenzverwalter daher belastende Betriebsvereinbarung schon zu Beginn des Insolvenzverfahrens, so dass die Möglichkeit, mittels Plan einzugreifen, in der Praxis keine wesentliche Rolle spielt. Da Betriebsvereinbarungen durch die Kündigung enden, gelten die gesetzlichen Vorschriften. Für den Insolvenzverwalter oder den Rechtsnachfolger besteht damit nur die Möglichkeit, neue Betriebsvereinbarungen auszuhandeln. 12 Vor allem aber kann der Insolvenzplan das gesetzliche Verbot des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB nicht aushebeln.10) Es verbleibt beim gesetzlichen Bestandsschutz für Arbeitsverhältnisse. 13 Allgemein gilt also, dass sich arbeitsrechtlich im Insolvenzplanverfahren keine Besonderheiten gegenüber dem Regelinsolvenzverfahren ergeben. Allerdings besteht die wesentliche Möglichkeit im Insolvenzplanverfahren dessen Zustandekommen an im Vorfeld zu erfüllende Bedingungen zu knüpfen, wozu auch arbeitsrechtliche bilaterale Maßnahmen gehören, wie z. B. ein Sanierungstarifvertrag oder neue Betriebsvereinbarungen. IV.
Übertragung im Insolvenzplanverfahren
14 Das Unternehmen des Insolvenzschuldners kann im Insolvenzplanverfahren mittels Übertragung der wesentlichen Assets übertragen werden (sog. übertragende Sanierung,11) allerdings auch mittels Übertragung der Geschäftsanteile, ___________ 7) Ebenso: Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 8.51. 8) Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 8.52. 9) Als belastende Betriebsvereinbarungen werden auch solche angesehen, die Leistungen ohne Entgeltfunktion aufweisen, wie z. B. der Ersatz von Aufwendungen, vgl. hierzu: Annuß/ Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 3. 10) Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 8.53. 11) Grundlegend zur übertragenden Sanierung: K. Schmidt, ZIP 1980, 328; zur Abwägung Planverfahren vs. Übertragende Sanierung: M. Hofmann in: Kübler, HRI, § 6 Rz. 156 ff.
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IV. Übertragung im Insolvenzplanverfahren
sog. Share Deal). Beim Share Deal fehlt es an einem Betriebsübergang. Vielmehr werden die Anteile nach erfolgreicher Restrukturierung i. R. des Insolvenzverfahrens und Vollzug des Insolvenzplanes möglicherweise nach einem sog. „debt to equity swap“ ganz oder teilweise an neue Anteilseigner übertragen. Daher greift u. a. vor allem § 613a BGB auf diese Übertragung nicht. Auch sonst ergeben sich arbeitsrechtlich keine wesentlichen Besonderheiten zum Regelinsolvenzverfahren. Im eigentlichen Sinne wird daher unter einem übertragenden Insolvenzplan die 15 Veräußerung mittels Asset Deals verstanden. Auch hierfür ergeben sich jedoch mehrere Wege: x
Zunächst ist es denkbar, dass nach erfolgreicher Restrukturierung des Geschäftsbetriebes oder eines Teilbetriebes dieser Betrieb ganz normal durch den Insolvenzverwalter an einen Dritten veräußert wird. Der noch verbleibende Unternehmensbereich wird dann entweder durch einen Insolvenzplan unter der bisherigen Rechtsträgerschaft saniert oder aber die restliche Insolvenzmasse i. R. des Insolvenzplanverfahrens liquidiert. Ein unmittelbarer Bezug zu dem Insolvenzplan besteht bei dieser Art der zweistufigen Übertragung nicht.
x
Es bietet sich aber vor allem an, die Übertragung des Unternehmens unmittelbar i. R. des Insolvenzplanes zu regeln. Der Erwerb wird davon abhängig gemacht, dass der Insolvenzplan zustande kommt. Der Erwerber verpflichtet sich zur Übernahme des Unternehmens gegen Zahlung eines Entgeltes in die Insolvenzmasse. Genauso bietet sich aber die Variante, dass ein Teil der Insolvenzforderungen in festzulegender Weise unmittelbar von ihm gezahlt werden. Auch andere Varianten sind denkbar. Die Variationsmöglichkeiten sind vielfältig. In entsprechender Höhe verzichten und stunden die Insolvenzgläubiger ganz oder teilweise auf ihre Forderungen. 16
Praxishinweis Das Insolvenzplanverfahren bietet neben der schuldrechtlichen Seite auch die Möglichkeit, nach § 228 InsO unmittelbar die Vermögensgegenstände sachenrechtlich wirksam zu übertragen.
Im Rahmen des Insolvenzplanes können als Bedingung für die Übertragung 17 weitere Einzelheiten aufgenommen werden, arbeitsrechtlich z. B.: x
Abschluss eines Sanierungstarifplanes,
x
weitere neue Betriebsvereinbarungen,
x
versorgungsrechtliche Anpassungen,
x
Übergang in eine Transfergesellschaft.
Die Kombination mit einem Erörterungs- und Abstimmungstermin bietet die 18 Chance, alle wesentlichen Maßnahmen in einem Zuge zu regeln. Die wechselseitige Verbindung ist auch geeignet, das Druckpotenzial auf einzelne Gläubiger Hermann
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
zu erhöhen. Das gilt insbesondere für das Obstruktionsverbot, aber auch für den Minderheitenschutz und den Nachteilsausgleich nach §§ 251 ff. InsO. Regelmäßig geht es sowohl beim Obstruktionsverbot als auch bei dem Minderheitenschutz immer um die Frage, ob gegenüber einer Fortführung bei Erhalt des Unternehmensträgers der Verkauf an einen Dritten nicht die Chance für eine bessere Gläubigerbefriedigung bietet. Werden sanierende Übertragung und Insolvenzplan miteinander kombiniert, so wird bei einem ordnungsgemäßen Bieterverfahren sich dieser Wert erheblich leichter darstellen und rechtfertigen lassen, als in einem reinen Insolvenzplanverfahren.12) Denn gerade dieser Vergleich zwischen den Quotenaussichten im Insolvenzplan- und Regelinsolvenzverfahren ist regelmäßig das wesentliche Argument, um mögliche Nachteile für die Gläubigerschaft zu begründen, auch wenn die Neufassungen der §§ 251, 252 und 253 InsO an einen entsprechenden Nachweis erhöhte Anforderungen stellen. Regelmäßig wird insbesondere die Vorlage von Gutachten und Gegengutachten zum Unternehmenswert nicht ausreichen, um einen solchen Nachteil begründen zu können.13) 19 In diesem Umfeld bietet der übertragende Insolvenzplan gegenüber den Regelinsolvenzverfahren also zwei Vorteile: x
Zum einen lassen sich durch die Vorschriften über das Obstruktionsverbot und den Nachteilsausgleich gegenüber der reinen sanierenden Übertragung Widerstände eines Großgläubigers durch sachgerechte Gruppenbildung beseitigen.
x
Zum anderen lässt sich gegenüber dem reinen Insolvenzplanverfahren bei einem ordnungsgemäßen Bieterverfahren die Obstruktion einzelner Gläubiger leichter beseitigen.
V.
Arbeitsrechtliche Maßnahmen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes
20 Vor jeder Übertragung steht die Sanierung. Das gilt erst recht im Insolvenzplanverfahren. Im Vordergrund steht bei der sanierenden Übertragung im Insolvenzplanverfahren das Unternehmen und nicht der Unternehmensträger. Unter Sanierung wird die Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden, die geeignet und erforderlich sind, ein Unternehmen aus einer Situation herauszuführen, in der dessen Fortbestand gefährdet ist, damit so langfristige Ertragsmöglichkeiten für das Unternehmen begründet werden.14) Ziel ist es, das Unternehmen damit für potenzielle Erwerber interessant zu machen. Das Insolvenzplanverfahren bietet hierfür die wesentlichen Instrumentarien. ___________ 12) S. hierzu Wellensiek, NZI 2002, 233, 238. 13) S. hierzu Nerlich/Römermann-Braun, InsO, § 245 Rz. 11 und Rz. 36 m. w. H. 14) Wellensiek, NZI 2002, 233.
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V. Arbeitsrechtliche Maßnahmen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes
1.
Sanierungsmaßnahmen allgemein
Allein mittels arbeitsrechtlicher Maßnahmen ist ein Unternehmen in der Regel 21 nicht zu sanieren. Es sind vielmehr andere Maßnahmen zu ergreifen, welche das Unternehmen nachhaltig aus der Krise führen.15) Hervorzuheben sind folgende Maßnahmen: x
x
x
22
Zur Überwindung der Liquiditätskrise: x
Optimierung der Lagerhaltung,
x
Einzug überfälliger Forderungen (Forderungsmanagement),
x
Reduzierung Debitorenlaufzeiten,
x
Sale-and-Lease-Back-Verfahren von Anlagevermögen,
x
Factoring.
Zur Überwindung der Erfolgskrise: x
Optimierung des Produktionsprogramms,
x
Verbesserung der Kostenstruktur,16)
x
Steigerung der Umsatzerlöse.
Zur Überwindung der Strategiekrise: x
Stärkung des Kerngeschäfts,
x
Ausweitung des Kerngeschäfts.
Wegen dieser besonderen Sanierungspotenziale auch im Insolvenzverfahren 23 wird auf die einschlägige Literatur verwiesen. Im Vordergrund dieses Beitrages stehen die arbeitsrechtlichen Besonderheiten. 2.
Reduktion der Personalaufwendungen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes
Auch bei einer Sanierung i. R. eines übertragenden Insolvenzplanes wird es re- 24 gelmäßig erforderlich sein, die Personalaufwendungen zu vermindern. Häufig waren eine verfehlte Personalpolitik oder ungenügende Rationalisierung die Insolvenz auslösende Gründe, so dass erst die Reduzierung der Personalkosten den Weg für eine erfolgreiche Sanierung ebnet. Ein Interessent will den Geschäftsbetrieb des schuldnerischen Unternehmens nur übernehmen und fortführen, wenn die Personalaufwendungen in einem angemessenen Verhältnis zu den Ertragschancen stehen.
___________ 15) Ausführlich hierzu: Zabel in: Kübler, HRI, § 3 Rz. 130 ff. 16) Reduzierung der Fixkosten, Abbau Overheadkosten, Reduzierung der Fertigstückkosten, Reduzierung der Einkaufskosten etc.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
a)
Maßnahmen im Insolvenzplanverfahren zur Reduktion von Personalaufwendungen außer Personalabbau
25 In einem Insolvenzplan sind Vereinbarungen über Lohnsenkungen nur unter der Voraussetzung zulässig und wirksam, wenn solche Maßnahmen individualarbeitsvertraglich mit den betroffenen Arbeitnehmern ausgehandelt und entsprechende Erklärungen dem Insolvenzplan als Plananlage beigefügt sind.17) Für die Praxis, insbesondere bei größeren Unternehmen, stellt dies keinen probaten Weg dar. Eine Änderungskündigung (§ 2 KSchG) zur Entgeltabsenkung ist zwar grundsätzlich möglich.18) Das BAG stellt aber so hohe Anforderungen an eine Änderung des Arbeitsentgeltes, dass die Änderungskündigung kein probates Mittel zur Reduzierung der Personalkosten darstellt. 26
Praxishinweis Allerdings sollen nach dem BAG19) Änderungskündigungen zur Anpassung vertraglicher Nebenabreden nicht den strengen Anforderungen zur Herabsetzung des Entgelts unterliegen. Nach welchen Kriterien diese Nebenabreden angepasst werden können, sagt das BAG leider nicht.20)
27 Grundsätzlich möglich wäre die Kopplung der Annahme des Insolvenzplanes durch den Abschluss eines Sanierungstarifvertrages (Haustarifvertrag). Ein derartiger Sanierungstarifvertrag könnte eine Reduzierung des Gehaltniveaus und damit eine Reduzierung des Personalaufwandes beinhalten. Erzwingbar wäre eine derartige Kopplung allerdings nicht. Weiterhin ist zu beachten, dass ein etwaig bestehender Flächentarifvertrag nicht durch einen Haustarifvertrag verdrängt werden kann, wenn dieser mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen worden ist. Ein weiterer Hinderungsgrund wäre eine dynamische oder statische Verweisung21) in den Individualarbeitsverträgen der Arbeitnehmer. Sollte hier eine Verweisung auf einen Flächentarifvertrag bestehen, wäre ein Abschluss eines Sanierungstarifvertrages nicht zielführend, da, wie bereits dargestellt, in die Individualarbeitsverträge der Arbeitnehmer mittels Plan nicht eingegriffen werden kann. b)
Personalabbau auf Grundlage eines Erwerberkonzepts im Insolvenzplanverfahren
28 Die Personalaufwendungen lassen sich damit nur dann kürzen, wenn die Anzahl der Arbeitnehmer vermindert wird. Auch im Insolvenzplanverfahren gilt ___________ 17) Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 8.52. 18) Vgl. BAG, Urt. v. 26.6.2008 – 2 AZR 139/07, NZA 2008, 1182; Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 244 ff. 19) BAG, Urt. v. 27.3.2003 – 2 AZR 74/02, NZA 2003, 1029, dazu EWiR 2003, 1099 (Pomberg). 20) Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 249. 21) Zur Unterscheidung, auf die es vorliegend nicht ankommt vgl.: Franzen in: ErfK, § 3 TVG Rz. 36 m. w. N. zur Rspr.
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V. Arbeitsrechtliche Maßnahmen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes
dabei in vollem Umfange Insolvenz-Arbeitsrecht. Kündigungen sind dabei insbesondere dann erleichtert, wenn diese Maßnahmen auf einem sog. Erwerberkonzept beruhen. Da insoweit im Wesentlichen dieselben Regelungen gelten wie bei der sanierenden Übertragung, wird in vollem Umfange auf die Darstellung der sanierenden Übertragung verwiesen. Aus dem Insolvenzplanverfahren ergeben sich nur geringfügige Ergänzungen. aa)
Erwerberkonzept Betriebsbedingte Kündigungen: BAG, Urt. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, NZA 2006, 668 BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 BAG, Urt. v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, ZIP 1996, 2028
Die Regelung des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB22) verbietet eine Beendigungs- 29 kündigung, sofern sie aufgrund des Übergangs eines Betriebes oder eines Betriebsteils durch den bisherigen Arbeitgeber erfolgte. Nach h. M.23) handelt es sich hierbei um ein selbständiges Kündigungsverbot, auf das sich der Arbeitnehmer unabhängig von der Anwendbarkeit des KSchG berufen kann. Das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB greift aber dann nicht ein, wenn ein sachlicher Grund vorhanden ist, welcher aus sich heraus die Kündigung rechtfertigt.24) Eine Kündigung ist somit dann möglich, wenn betriebsorganisatorische Überlegungen angestellt worden sind und die Kündigung auf aus dem Betriebsablauf realisierten Erkenntnissen beruht.25) Ein Insolvenzplan ändert an diesem notwendigen Inhalt nichts. Die Aufstellung eines solchen Planes führt für alle Beteiligten zu keinen Erleichterungen. Beispiel Wird als eine Folge derartiger Überlegungen z. B. zur Kostenersparnis das Wegfallen der Lackiererei in einem gewerblichen Unternehmen beschlossen, da der Betriebserwerber derartige Arbeiten seit Jahren durch Subunternehmer durchführen lässt, verstößt eine Kündigung der Arbeitnehmer nicht gegen § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB.
___________ 22) Ausführlich zu den Problematiken des Betriebsübergangs: Cranshaw/Paulus/MichelCranshaw, Bankenkommentar zum InsR, Vor § 120 InsO Rz. 8 ff. 23) Vgl. nur: Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 172. 24) BAG, Urt. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, NZA 2006, 668, 672; BAG, Urt. v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, ZIP 2005, 412, 413; Cranshaw/Paulus/Michel-Cranshaw, Bankenkommentar zum InsR, Vor § 120 InsO Rz. 63 m. w. N.; Lakies, Das Arbeitsverhältnis in der Insolvenz, Rz. 456 ff. 25) BAG, Urt. v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, ZIP 1996, 2028; Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 176; Lakies, Das Arbeitsverhältnis in der Insolvenz, Rz. 499.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
bb)
Folgen aus dem Erwerberkonzept
30 Damit eine Kündigung nach Erwerberkonzept einer arbeitsgerichtlichen Überprüfung in einem ggf. nachfolgenden Kündigungsschutzprozess Stand hält, sollte das Erwerberkonzept daher eine möglichst detaillierte Darstellung enthalten, x
aufgrund welcher unternehmerischen Entscheidung,
x
welche Arbeitsplätze
x
zu welchem Zeitpunkt
entfallen.26) Allein das Verlangen des Erwerbers, die Belegschaft des insolventen Unternehmens vor dem Erwerb zu reduzieren, ist nicht ausreichend.27) 31 Im Rahmen einer übertragenden Sanierung wird diese Vorgabe des BAG regelmäßig dadurch gewährleistet, indem das Erwerberkonzept (als Anlage) zum Bestandteil des Unternehmenskaufvertrages zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Erwerber gemacht wird. Bei der Übertragung i. R. eines Insolvenzplanes ist zu beachten, dass auch die Gläubiger des schuldnerischen Unternehmens in den Insolvenzplan Einblick bekommen. 32
Praxishinweis Da das Erwerberkonzept regelmäßig personenbezogene Arbeitnehmerdaten enthält, sind die Persönlichkeitsrechte der einzelnen Arbeitnehmer zu wahren. Ohne das Einverständnis der betroffenen Arbeitnehmer kann das Erwerberkonzept daher allenfalls anonymisiert zur Plananlage werden. Da Personalabbaumaßnahmen im Insolvenzplan aber zu benennen sind, ist die zumindest anonymisierte Einbeziehung des Erwerberkonzepts im Insolvenzplan bzw. die Einarbeitung des Inhalts des Erwerberkonzepts in den Insolvenzplan zu empfehlen.28)
33 Darüber hinaus ist das Fehlen von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auch bei der Kündigung nach Erwerberkonzept Wirksamkeitsvoraussetzung. Umstritten ist, ob die Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten sich auf solche im schuldnerischen Unternehmen beschränkt oder ob auch auf mögliche Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Erwerberunternehmen abzustellen ist:29) x
Bei der sanierenden Übertragung stellt sich diese Frage nicht, da im schuldnerischen Unternehmen regelmäßig keine Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen und es sich beim Erwerberunternehmen vielfach um eine zum Zweck des Erwerbs neu gegründete und deshalb arbeitnehmerlose Gesellschaft handelt, in der Arbeitsplätze nur für solche Arbeitnehmer vorhanden sind, die nach dem Erwerberkonzept nicht gekündigt werden sollen.
___________ 26) 27) 28) 29)
Ausführlich dazu Merten in: FS Bauer, S. 755, 756 ff. BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595. Geiwitz/Käfferlein in: Kübler, HRI, § 25 Rz. 29. Vgl. dazu: Staudinger-Annuß, BGB, § 613a Rz. 358; Merten in: FS Bauer, S. 755, 756 ff.
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V. Arbeitsrechtliche Maßnahmen auf Grundlage des (übertragenden) Insolvenzplanes
x
cc)
Bei einem übertragenden Insolvenzplan kann diese Ausgangslage jedoch anders sein. Denn sollen andere Unternehmensteile i. R. des Insolvenzplanes von dem Unternehmensträger selbst fortgeführt werden, bestehen anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten. Im Rahmen des Erwerberkonzeptes wird also hierauf besonders einzugehen sein. Dasselbe gilt für die Sozialauswahl. Ausspruch der Kündigungen
Der Zeitpunkt der Kündigung ist bei der Kündigung nach Erwerberkonzept von 34 besonderer Wichtigkeit. Bevor das Interessenausgleichsverfahren nicht durchgeführt ist, der Betriebsrat nach § 102 BetrVG nicht angehört worden ist und die Entlassungen nach § 17 KSchG gegenüber der Bundesagentur für Arbeit nicht angezeigt worden sind, können keine rechtswirksamen Kündigungen ausgesprochen werden. Die Kündigungen müssen daher nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Fall des übertragenden Insolvenzplanes noch vor Vollzug des Insolvenzplanes ausgesprochen werden und den Arbeitnehmern zugehen. Maßgeblich ist hier allein der vereinbarte Übertragungsstichtag. Hinsichtlich der Kündigungsfristen gelten die allgemeinen, durch die InsO er- 35 gänzten Vorschriften. Da § 113 InsO zwingendes Recht darstellt, kann davon nicht einseitig in einem Insolvenzplan abgewichen werden. Dies folgt unmittelbar aus § 119 InsO, wonach Vereinbarungen unwirksam sind, durch die im Voraus die Anwendung des § 113 InsO ausgeschlossen oder erschwert wird. Auch bei der Umsetzung der Personalabbaumaßnahmen über eine Transfer- 36 gesellschaft müssen die erforderlichen Schritte, insbesondere die Aufhebungsvereinbarungen, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber noch vor Vollzug des Insolvenzplanes durchgeführt werden. Im Besonderen ist darauf zu achten, dass die Arbeitsverhältnisse mit dem schuldnerischen Unternehmen beendet sind, bevor der Insolvenzplan vollzogen ist. dd)
Interessenausgleich und Sozialplan
Sowohl bei der Umsetzung der Personalabbaumaßnahmen über ein Erwerber- 37 konzept als auch über eine Transfergesellschaft muss das Interessenausgleichsverfahren durchgeführt und ein Sozialplan erstellt werden, soweit beim schuldnerischen Unternehmen ein Betriebsrat besteht und der Personalabbau eine Betriebsänderung i. S. von § 111 BetrVG darstellt. Für den Interessensausgleich i. R. eines übertragenden Insolvenzplanes gilt das- 38 selbe wie bei der übertragenden Sanierung. Soweit der übertragende Insolvenzplan eine Betriebsänderung i. S. von § 111 39 BetrVG zum Gegenstand hat, besteht trotz des Insolvenzverfahrens Sozialplanpflicht. Das Sozialplanvolumen ist gemäß § 123 Abs. 1 InsO auf den 2,5 fachen Betrag der Summe der Monatsgehälter der von dem Personalabbau betroffenen Hermann
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
Arbeitnehmern begrenzt. Zudem sieht § 123 Abs. 2 Satz 2 InsO eine Begrenzung des Sozialplanvolumens auf einen Betrag von einem Drittel der freien Masse vor. Aufgrund dieser gesetzlichen Beschränkungen im Insolvenzverfahren gelingen in der Praxis erfahrungsgemäß regelmäßig eine zügige Einigung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat und der Abschluss eines Sozialplanes.30) Im Insolvenzplanverfahren ergibt sich die Besonderheit, dass nur die absolute Grenze des § 123 Abs. 1 InsO gilt, also das 2,5 fache der Monatsverdienste. Die relative Grenze des § 123 Abs. 2 InsO, also maximal eines Drittels der freien Masse, greift dagegen aufgrund der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung nicht. Darüber hinaus wird zwar erwogen, wegen der in einem Insolvenzplanverfahren geltenden Gläubigerautonomie könne auch von der absoluten Obergrenze des § 123 Abs. 1 InsO in dem Insolvenzplanverfahren abgesehen werden.31) Aufgrund des eindeutigen Wortlautes und des Sinnzusammenhangs ist diese Auffassung jedoch abzulehnen.32) Auf jeden Fall gibt aber die Streichung der relativen Grenze im Insolvenzplanverfahren weiteren Spielraum, um erforderliche Einigungen zu erreichen. 40 Soweit ein Sozialplan und Interessenausgleich mit dem Betriebsrat des schuldnerischen Unternehmens vereinbart wurde, sind das wirtschaftliches Ergebnis, deren Auswirkungen sowie das Zustandekommen unter Offenlegung der Auswahlkriterien im Insolvenzplan darzustellen. 41
Praxishinweis Da Interessenausgleiche und Sozialpläne regelmäßig personenbezogene Daten enthalten, sind auch diese Angaben ohne Zustimmung der Betroffenen dem Insolvenzplan als Plananlage nur dann anzufügen, soweit sie anonymisiert wurden.
ee)
Weitere Besonderheiten beim übertragenden Insolvenzplan Kündigung des Betriebsveräußerers nach einem Erwerberkonzept: BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027
42 Weitere arbeitsrechtliche Besonderheiten sind im (übertragenden) Insolvenzplan nicht zu beachten. Anerkannt ist, dass in Sanierungsfällen der Alt-Betrieb aus sich heraus nicht mehr sanierungsfähig ist, so dass die Anwendbarkeit des Erwerberkonzepts nicht davon abhängig ist, ob auch der alte Arbeitgeber (Insolvenzverwalter) das Sanierungskonzept hätte durchführen können.33) Dieses Ergebnis entspricht auch der neueren Rechtsprechung des BAG zum Erwerber
___________ 30) 31) 32) 33)
Merten in: FS Bauer, S. 755, 758. S. hierzu Oetker/Friese, DZWIR 2001, 265, 271 m. w. H. Uhlenbruck-Berscheid/Ries, InsO, § 123 Rz. 41; Oetker/Friese, DZWIR 2001, 265, 271. Th. B. Schmidt, Arbeits- und Sozialrecht in der Insolvenz; S. 93 f.
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VI. Mitwirkungsrechte im Abstimmungstermin und in Gläubigerorganen
konzept, wonach es nicht darauf ankommt, ob der Sanierungsplan auch beim Veräußerer hätte umgesetzt werden können.34) VI.
Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer im Abstimmungstermin und in Gläubigerorganen
Gerade bei dem übertragenden Insolvenzplan sind die Rechte der Arbeitneh- 43 mer in besonderer Weise betroffen, da in diese Rechte sowohl durch die Übertragung als auch die Regelungen des Insolvenzplanes eingegriffen wird. Für sie ist es daher von besonderer Bedeutung, in welchem Umfange sie zur Mitentscheidung i. R. des Insolvenzplanverfahrens berufen sind. 1.
Im Abstimmungs- und Erörterungstermin
Wichtig für die Annahme des übertragenden Insolvenzplans ist die Bildung 44 der Abstimmungsgruppen für den Plan. Sofern den Arbeitnehmern nicht nur unerhebliche Insolvenzforderungen zustehen, ist im Plan regelmäßig eine besondere Gruppe der Arbeitnehmer zu bilden, § 222 Abs. 3 Satz 1 InsO. Der Gesetzgeber wollte damit der besonderen Interessenlage der Arbeitnehmer Rechnung tragen.35) Die Bildung einer Arbeitnehmergruppe wird sogar als verpflichtend angesehen, wenn deren Forderungen „nicht unerheblich“ sind.36) Erheblich sind Forderungen, welche 10 % des Jahreseinkommens von zumindest 25 % der Arbeitnehmer betragen.37) Noch weitergehend ist eine Ansicht, wonach bereits eine Forderung erheblich ist, wenn diese ein Monatsgehalt überschreitet.38) Nach der Rechtsprechung soll auch eine Untergruppenbildung möglich sein, z. B. Arbeitnehmer, welche einen Sanierungsbeitrag leisten und Arbeitnehmer, welche diesen Beitrag nicht leisten wollen.39) Auch wenn die Arbeitnehmer in besonderer Weise durch den übertragenden 45 Sanierungsplan betroffen sind, können sie i. R. des Insolvenzplanverfahrens mit abstimmen und entscheiden. Zunächst sind sie nicht Partei des Übertragungsvertrages, sodass insoweit keine Interessenkollisionen bestehen. Auch soweit über den Interessenausgleich und ein Sozialplan zu entscheiden ist, wird keine unmittelbare Betroffenheit angenommen. Dies ergibt sich unproblematisch aus
___________ 34) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027, dazu EWiR 2003, 909 (Schnitker/Grau); Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung in der Insolvenz, Rz. 178 ff.; Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 169 f. 35) Amtl. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 200. 36) LG Mühlhausen, Beschl. v. 17.9.2007 – II T/06, NZI 2007, 724, 725. 37) Thies in: HambKomm-InsR, § 222 InsO Rz. 25. 38) Bierbach in: Kübler, HRI, § 29 Rz. 9. 39) LAG Hannover, Urt. v. 1.6.2010 – 11 Sa 1658/09, NZI 2011, 156.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
den auch hier anzuwendenden Grundsätzen zur Gültigkeit von abgegebenen Stimmen bei staatsrechtlichen Wahlen.40) 46
Praxishinweis Eine Gruppe „Betriebsrat“ scheidet begrifflich schon aus, da der Betriebsrat als solcher kein Gläubiger im Verfahren ist. Eine Zuordnung der Ansprüche der Bundesagentur für Arbeit in einer eigenen Gruppe wird für zulässig erachtet.41) Abgestellt wird dabei zu Recht auf den Umstand, dass die Bundesagentur für Arbeit als Körperschaft des öffentlichen Rechts als Ziel deren Tätigkeit den Erhalt der Arbeitsplätze verfolgt.42)
2.
Stellung der Arbeitnehmer in dem (vorläufigen) Gläubigerausschuss43)
47 Bei der Erstellung des Plans wirken per Gesetz der Gläubigerausschuss, der Betriebsrat sowie der Sprecherausschuss beratend mit. Die Arbeitnehmerschaft hat somit über die Mitgliedschaft im Gläubigerausschuss oder über den Betriebsrat eine Gestaltungsmöglichkeit hinsichtlich des übertragenden Insolvenzplanes, § 218 InsO. Gemäß § 232 InsO haben die vorgenannten Gremien ein Recht zur Stellungnahme zum Plan. Bei der Planüberwachung wirkt der Gläubigerausschuss weiter mit, §§ 261, 262 InsO. Gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2 InsO soll ein Vertreter der Arbeitnehmer dem Gläubigerausschuss angehören.44) Die Arbeitnehmer sind Regelmitglied im Gläubigerausschuss.45) In der Regel wird der Vorsitzende des Betriebsrats zum Mitglied im Gläubigerausschuss bestellt. 48 Umstritten ist die Mitwirkungsmöglichkeit der Gewerkschaft. Vertretbar ist die Ansicht, wonach eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft46) als Mitglied bestellt werden kann.47) Eine Klarstellung durch den Gesetzgeber ist jedoch wünschenswert. Der in den Gläubigerausschuss gewählte Arbeitnehmer kann
___________ 40) Vgl. AG Duisburg, Beschl. v. 1.4.2003 – 62 IN 187/02, NZI 2003, 447; Smid/Rattunde/ Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 13.63. 41) Uhlenbruck-Lüer, InsO, § 222 Rz. 35. 42) Bierbach in: Kübler, HRI, § 29 Rz. 29. 43) Zu den Rechten und Pflichten, Haftung und Vergütung des Mitglieds im Gläubigerausschuss: Steinwachs/Vallender, Der Gläubigerausschuss. 44) Vgl. hierzu: Steinwachs, ZInsO 2011, 410. 45) Ampferl in: Kübler, HRI, § 8 Rz. 120; Frind, ZInsO 2011, 2249, 2250. 46) § 2 Abs. 1 und 2 BetrVG. 47) Obermüller, ZInsO 2012, 18, 22.
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VII. Besondere Rechte im Insolvenzplanverfahren für den Pensionssicherungsfonds
sich von der Gewerkschaft vertreten lassen.48) Dies deckt sich mit der für zulässig erachteten Vertretungsmöglichkeit des Gläubigerausschussmitgliedes.49) Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt für den Gläubigerausschuss nach Er- 49 öffnung des Insolvenzverfahrens. Es fragt sich aber, ob diese Regelungen schon für die Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses nach §§ 21 Abs. 1 Nr. 1a, 22a InsO gelten. Denn danach können zu Mitgliedern des vorläufigen Gläubigerausschusses (vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens) nur solche Personen bestellt werden, die nach Eröffnung des Verfahrens Gläubiger werden. Nach § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO gilt jedoch ausdrücklich auch für den vorläufigen Gläubigerausschuss § 67 Abs. 2 InsO. Danach soll dem Gläubigerausschuss auch ein Vertreter der Arbeitnehmer angehören, so dass die Bestellung eines Betriebsratsmitgliedes zulässig ist. Denn der Betriebsrat ist zur Vertretung der Arbeiternehmer berufen. Da die Gewerkschaften jedoch nur über § 67 Abs. 3 InsO als Gläubigerausschussmitglied in Betracht kommen,50) dürfte die Bestellung einer Gewerkschaft ausgeschlossen sein, es sei denn die Gewerkschaft hätte Forderungen gegen die spätere Insolvenzschuldnerin. VII. Besondere Rechte im Insolvenzplanverfahren für den Pensionssicherungsfonds Durch die zunehmende Reduzierung der gesetzlichen Rentensätze in den ver- 50 gangenen Jahren, erfuhr die betriebliche Altersversorgung eine erhebliche Aufwertung. Im Jahr 2010 boten bereits über 70 % der Betriebe mit mehr als 500 Arbeitnehmern eine betriebliche Altersversorgung an.51) Konkret zählt der PSVaG derzeit 90 700 beitragspflichtige Mitglieder.52) Im Fall der Insolvenz des Arbeitgebers oder Sanierung bzw. Liquidation des Unternehmens i. R. eines außergerichtlichen Vergleichs, tritt für bestimmte Betriebsrenten-Anwartschaften der Pensions-Sicherungs-Verein VVaG (PSVaG) ein. Als Folge dieser Entwicklung ist der PSVaG bei Insolvenzplanvorhaben verstärkt involviert. Im Jahr 2010 lag der Anteil der mit einem Erörterungs- und Abstimmungstermin belegten Insolvenzverfahren am Gesamtaufkommen aller für den PSVaG relevanten Sicherungsfälle bei ca. 5 %, was eine Verdoppelung zum Vorjahr dar___________ 48) Ampferl in: Kübler, HRI, § 8 Rz. 121. 49) Zumindest für eine zeitweise Zulässigkeit der Vertretung: Steinwachs/Vallender-Voss, Der Gläubigerausschuss, Rz. 26; Cranshaw/Paulus/Michel-Bruhn, Bankenkommentar zum InsR, § 67 InsO Rz. 33, der darauf abstellt, ob es sich um einen dauernden „Verhinderungsvertreter“ handelt. Dies lässt sich für die Gewerkschaft gerade nicht bejahen, da diese nicht als „Verhinderungsvertreter“ im GA tätig sein soll, sondern als aktives Mitglied den Arbeitnehmer vertritt. 50) So Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 67 Rz. 9. 51) Quelle: Bank/Wiecek, Die betriebliche Altersvorsorge in Deutschland. 52) Vgl. Homepage des PSVaG: www.psvag.de.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
stellt.53) Soweit der insolvente Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern eine betriebliche Altersversorgung vereinbart hat, sind vom Planverfasser daher neben den Vorschriften zum Insolvenzplan (§§ 217 – 269 InsO) auch die Regelungen des BetrAVG zu beachten. 1.
Der PSVaG als gesetzlicher Zwangsgläubiger im Insolvenzverfahren
51 Der Eintritt des Sicherungsfalles bewirkt, dass der aus der betrieblichen Altersversorgung Berechtigte einen gesetzlichen Anspruch gegen den PSVaG erhält (§ 7 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG). 52 Da der Versorgungsberechtigte aufgrund des Sicherungsfalles seine Leistungen vom PSVaG erhält, regelt § 9 Abs. 2 BetrAVG, dass mit Eintritt des Sicherungsfalles der Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung auf den PSVaG mittels eines gesetzlichen Forderungsübergang (cessio legis) übergeht. Weil der PSVaG für die Erfüllung der Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung einsteht, soll er eventuell vorhandene werthaltige Ansprüche zur Schadensminderung nutzen können. Die Ansprüche oder Anwartschaften aus der betrieblichen Altersversorgung haben regelmäßig nur deshalb einen Wert, weil der insolvente Arbeitgeber die zur Sicherung der Versorgungszusage abgeschlossene Rückdeckungsversicherung verpfändet hat oder über ein CTA54) den Versorgungsanwärtern/Versorgungsempfängern mittels eines Vertrages zugunsten Dritter Sicherungsrechte eingeräumt wurden.55) Die mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf den PSVaG übergegangenen Anwartschaften werden im Insolvenzverfahren gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 BetrAVG kapitalisiert als unbedingte Forderung nach § 46 Satz 2 i. V. m. § 45 Satz 1 InsO geltend gemacht, d. h. neben den Ansprüchen aus Rentenzahlungen zur Insolvenztabelle angemeldet. Aufgrund dieses gesetzlichen Forderungsübergangs ist der PSVaG im Regelfall Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) und erhält ggf. eine entsprechende Quotenzahlung aus der Insolvenzmasse. 53 Der PSVaG nimmt also für den Fall der Liquidation eines Unternehmens in einem Insolvenzverfahren als nicht nachrangiger Insolvenzgläubiger quotal an der Verwertung des Vermögens durch den Insolvenzverwalter teil. Für die Berechnung der Forderung des PSVaG ist der Wert zugrunde zu legen, der für den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ermittelt werden kann, § 45 InsO.
___________ 53) Bremer, DB 2011, 875. 54) Contractual Trust Arrangement ist ein Modell i. R. der betrieblichen Altersvorsorge, um über eine Direktzusage Pensionsverpflichtungen aus der Bilanz auszugliedern. 55) Dornbusch/Fischmeier/Löwisch-Kisters-Kölkes, FA-Komm. ArbR, § 9 BetrAVG Rz. 5.
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VII. Besondere Rechte im Insolvenzplanverfahren für den Pensionssicherungsfonds
2.
Abweichende Gestaltungsmöglichkeiten im Insolvenzplanverfahren
Die InsO sieht gemäß § 217 InsO die Möglichkeit vor, im Insolvenzplan eine 54 von den Vorschriften der InsO abweichenden Regelung zu treffen, d. h. dass die Rechtsstellung des PSVaG im Insolvenzplan gesondert geregelt werden kann. Denkbar ist bspw., dass der gesetzliche Forderungsübergang nicht in Form einer Quotenzahlung, sondern ganz oder teilweise durch Rückübertragung von Versorgungsverpflichtungen auf den Insolvenzschuldner ausgeglichen wird. In § 7 Abs. 4 Sätze 2, 3 BetrAVG ist dazu geregelt, dass aufgrund eines rechtskräftig bestätigten Insolvenzplans im Fortführungsfall die Verpflichtungen zwischen dem Arbeitgeber und dem PSV aufgeteilt werden können. a)
Vertikale Aufteilung
§ 7 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG ist die Möglichkeit einer quotalen Aufteilung ge- 55 regelt. Wörtlich heißt es in § 7 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG: „Wird im Insolvenzverfahren ein Insolvenzplan bestätigt, vermindert sich der Anspruch auf Leistungen gegen den Träger der Insolvenzsicherung insoweit, als nach dem Insolvenzplan der Arbeitgeber oder sonstige Träger der Versorgung einen Teil der Leistungen selbst zu erbringen hat.“
Danach ergeben sich unterschiedliche Formen einer quotalen Aufteilung der 56 Versorgungsverpflichtungen im Insolvenzplan:56) x
Im Besonderen kann im Insolvenzplan eine zeitlich unbeschränkte prozentuale Aufteilung der Versorgungsverpflichtungen zwischen Arbeitgeber und PSVaG festgelegt werden. Dieses einfache Auswahlkriterium birgt den Nachteil eines erhöhten Bearbeitungs- und Verwaltungsaufwands.
x
Weiter ist eine Aufteilung nach Personenkreisen denkbar. Der Insolvenzplan kann bspw. die Fortführung der Anwartschaften durch den Arbeitgeber vorsehen, während der PSVaG die Rentenansprüche der bereits ausgeschiedenen Rentner erfüllt. Bremer57) nennt als Argument für diese Aufteilungsform, die Liquiditätsschonung in den ersten Jahren nach Durchlaufen des Insolvenzplans oder den steuermindernden Aufbau von Pensionsrückständen für einen überschaubaren Personenkreis.
b)
Horizontale Aufteilung
Die horizontale Aufteilung ist in § 7 Abs. 4 Satz 3 BetrAVG geregelt. Danach 57 entfällt der Anspruch auf Leistungen gegen den Träger der Insolvenzsicherung (PSVaG), wenn in dem Insolvenzplan vorgesehen ist, dass der Arbeitgeber oder sonstige Träger der Versorgung die Leistungen der betrieblichen Al___________ 56) Ausführlich dazu: Bremer, DB 2011, 875, 876. 57) Bremer, DB 2011, 875.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
tersversorgung von einem bestimmten Zeitpunkt an selbst zu erbringen hat. Die Übernahme der Versorgungsleistungen durch den PSVaG kann somit durch den Insolvenzplan zeitlich beschränkt werden. Der PSVaG übernimmt die Leistungen nur für einen bestimmten Zeitraum in voller Höhe und ist nach Ablauf des vereinbarten Zeitraumes von seiner Leistungspflicht (sowohl von den laufenden Rentenverpflichtungen als auch von der Sicherung der unverfallbaren Anwartschaften) befreit. Auf diese Weise erhält der Unternehmer eine vorübergehende und wichtige Liquiditätshilfe, die als Anschubfinanzierung einen wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Sanierung dienen kann. Misslingt die Sanierung und wird das Unternehmen in einem weiteren Insolvenzverfahren liquidiert, haftet der PSVaG aber nicht nur für die während des Sanierungszeitraumes ausgefallenen, sondern auch für die später anfallenden Versorgungsleistungen.58) 58
Praxishinweis Neben der rein quotalen oder zeitlichen Aufteilung der betrieblichen Alterversorgung ist auch deren Kombination möglich.59)
c)
Anwendbarkeit des § 7 Abs. 4 Sätze 2, 3 BetrAVG im übertragenden Insolvenzplan? – Einschränkungen durch § 613a BGB? Haftung des Betriebserwerbers für erdiente Versorgungsanwartschaften: BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, ZIP 2005, 1706 = BB 2006, 943
59 Im Rahmen eines übertragenden Insolvenzplans wird der schuldnerische Geschäftsbetrieb regelmäßig nicht unter Beibehaltung des Rechtsträgers, sondern gerade durch Übertragung auf einen neuen Rechtsträger sichergestellt. Bei der übertragenden Sanierung verbinden sich folglich Sanierung und Liquidation. Durch die Übertragung des sanierungsfähigen Unternehmens oder eines Teils aus dem Insolvenzverfahren an die Übernahmegesellschaft, wird die Fortführung des schuldnerischen Geschäftsbetriebs außerhalb des Insolvenzverfahrens ermöglicht. Der übrig bleibende Rechtsträger wird innerhalb des Insolvenzverfahrens liquidiert. Eine Aufteilung der Verpflichtungen aus den betrieblichen Altersversorgungen ist beim übertragenden Insolvenzplan daher allenfalls zwischen dem (neuen) Arbeitgeber und dem PSVaG denkbar. 60 Da der übertragende Insolvenzplan lediglich das Mittel und die äußere Form für die Regelung und Gestaltung einer Betriebsveräußerung darstellt, bleiben die Rechtsfragen und Probleme dieselben, die auch eine übertragende Sanierung (Betriebsübergang) mit sich bringt. Es ist somit zu beachten, dass nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB der Übernehmer grundsätzlich in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnis___________ 58) Blomeyer/Rolfs/Otto-Rolfs, BetrAVG, § 7 Rz. 276. 59) Höfer, BetrAVG, Bd. 1, S. 1387.
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sen eintritt. Soweit diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt sind, bleiben diese Regelungen Bestandteil des Arbeitsverhältnisses. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ändert an diesem Ergebnis zunächst 61 nichts. Das BAG hatte bereits 1980 in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Bestandsschutz- und Mitbestimmungsfunktion des § 613a BGB auch in der Insolvenz uneingeschränkt anzuwenden sind.60) Auch die seit dem 1.1.1999 geltende InsO sieht keine den § 613a BGB einschränkenden Regelungen vor. Der Gesetzgeber hat insofern die Arbeitnehmerinteressen als schutzwürdiger bewertet.61) Die Rechtsfolgen des § 613a BGB sind grundsätzlich zwingend. Um eine Besserstellung der übergehenden Arbeitnehmer gegenüber den sonstigen Insolvenzgläubigern und einen damit einhergehenden Verstoß gegen den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung zu vermeiden, findet § 613a BGB im Insolvenzverfahren im Wege der teleologischen Reduktion keine Anwendung, soweit die Vorschrift die Haftung des Betriebserwerbers für die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits entstandenen Ansprüche vorsieht.62) Die Verteilungsgrundsätze sind insoweit vorrangig zu beachten. Der Erwerber des schuldnerischen Betriebes tritt nur in die Versorgungsanwartschaften der begünstigten aktiven Arbeitnehmer ein. Er schuldet aber im Versorgungsfall nur die bei ihm erdienten Versorgungsleistungen sowie den Teil der Anwartschaften, die die Arbeitnehmer nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zum Betriebsübergang erworben haben.63) Für bereits entstandene Rentenansprüche und unverfallbare Anwartschaften 62 haftet der Erwerber dagegen nicht; diese sind vielmehr gemäß § 7 Abs. 2 BetrAVG vom PSVaG zu übernehmen.64) Seit dem Urteil des BAG vom 19.5.200565) ist die lange streitige Frage dahin- 63 gehend entschieden, dass der Betriebserwerber nunmehr für die vom Arbeitnehmer zwischen Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Betriebsübergang erdienten Versorgungsanwartschaften aufgrund von § 613a Abs. 2 BGB haftet. Da das Insolvenzplanverfahren den Gläubigern jedoch größtmögliche Auto- 64 nomie zubilligt und die Wahrung der Interessen des PSVaG insbesondere durch § 9 Abs. 4 BetrAVG (Recht einer eigenen Gruppenbildung) gewahrt ___________ 60) 61) 62) 63)
BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117 = AP Nr. 18 zu § 613a BGB. Krit. dazu: Lohkemper, Erwerberhaftung für Ruhegeldanwartschaften, S. 55. Neufeld, BB 2008, 2346. Beck/Depré-Pluta/Heidrich, Praxis der Insolvenz, § 30 Rz. 126; Neufeld, BB 2008, 2346, 2347. 64) BAG, Urt. v. 23.7.1991 – 3 AZR 366/90, ZIP 1992, 49 = EzA § 613a BGB Nr. 94; BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117; ausführlich dazu: Neufeld, BB 2008, 2346. 65) BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, ZIP 2005, 1706 = BB 2006, 943.
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werden, ist sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Aufteilung der betrieblichen Altersversorgung bei einem Betriebsübergang denkbar; soweit die einzelnen Gläubigergruppen der geplanten Aufteilung zustimmen. 3.
Besserungsklausel
65 Im Insolvenzplan soll eine institutionalisierte Besserungsklausel für den PSVaG vorgesehen werden, d. h. bei nachhaltiger Besserung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens sollen die Pensionslasten wieder durch den Arbeitgeber übernommen werden (vgl. § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG). 66 Der Gesetzgeber hat § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG als „Soll-Vorschrift“ ausgestaltet, sodass der Insolvenzplan nur in begründeten Ausnahmefällen eine solche Klausel nicht enthalten braucht. Enthält der Insolvenzplan keine Besserungsklausel und liegt kein begründeter Ausnahmefall vor, hat das Insolvenzgericht den Insolvenzplan von Amts wegen – nach § 231 InsO – zurückzuweisen. 67 Ein besonderer Ausnahmefall dürfte im Falle eines übertragenden Insolvenzplanes regelmäßig vorliegen. Im Gegensatz zu einem üblichen Insolvenzplan wird im Falle eines übertragenden Insolvenzplanes der schuldnerische Geschäftsbetrieb regelmäßig nicht unter Beibehaltung des Rechtsträgers, sondern gerade durch Übertragung auf einen neuen Rechtsträger sichergestellt. Da der alte Rechtsträger (das schuldnerische Unternehmen) regelmäßig durch das Insolvenzverfahren seine Liquidation erfährt, ist dann für eine Besserungsklausel kein Raum. Der Übernehmer ist entweder ein extra zum Zweck der Übernahme des schuldnerischen Geschäftsbetriebs neu gegründetes Unternehmen oder ein bereits bestehendes Unternehmen. In beiden Fällen passt der Rechtsgedanke der Besserungsklausel nicht in die Sanierungskonstruktion. 4.
Gruppe-PSVaG
68 Um der besonderen Interessenlage des PSVaG als gesetzlicher Zwangsgläubiger Rechnung zu tragen, kann nach § 9 Abs. 4 Satz 1 BetrAVG für den PSVaG im Insolvenzplan eine eigene Gruppe bestimmt werden. Die Vorschrift ist als sog. „Kann-Vorschrift“ konzipiert worden. Nach der Gesetzesbegründung ist für den PSVaG jedoch stets eine besondere Gruppe zu bilden, wenn eine Fortführung eines Unternehmens oder eines Betriebes vorgesehen ist. Nur bei Stilllegung und Liquidation des gesamten Unternehmens kann sich das Interesse des PSVaG auf eine möglichst hohe Liquidationsquote beschränken und insoweit mit dem der übrigen Gläubiger übereinstimmen. Die Regelung gewährleistet damit, dass der PSVaG im Falle einer Sanierung nicht zum Nachteil der von ihm vertretenen Solidargemeinschaft von anderen Gläubigern überstimmt werden kann. Auf der anderen Seite ist durch das Obstruktionsverbot § 245 InsO sichergestellt, dass ein Sanierungsplan, der die vom PSVaG vertretenen Interessen
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VIII. Resümee
angemessen berücksichtigt, trotz des Widerstandes des PSVaG bestätigt werden kann.66) Rattunde67) kritisiert, dass die Regelung nicht als zwingendes Recht gestaltet 69 wurde und sieht darin Konfliktpotential zwischen den beteiligten Gläubigern. Damit sind erhöhte Schwierigkeiten für den Planersteller verbunden, die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten zu vereinen. Folgt der Planersteller den allgemeinen insolvenzrechtlichen Prinzipien, so hat er den PSVaG wie jeden anderen Gläubiger zu behandeln. Soweit er sich jedoch hieran hält und das Einvernehmen mit den übrigen Gläubigern herstellt, vernachlässigt er seine Möglichkeiten aus der Kann-Vorschrift.68) Der Planersteller ist demnach bei der Erstellung des Insolvenzplanes in seinem Bemühen um Ausgewogenheit und Gerechtigkeit in der Diskussion mit den beteiligten Gläubigern in besonderer Weise gefordert. 5.
Misslingen der Sanierung
Schließlich regelt § 9 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG den Fall, dass die Sanierung miss- 70 lingt. Sofern im Insolvenzplan nichts anderes vorgesehen ist, kann der Träger der Insolvenzsicherung, wenn innerhalb von drei Jahren nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens ein Antrag auf Eröffnung eines neuen Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers gestellt wird, in diesem Verfahren als Insolvenzgläubiger Erstattung der von ihm erbrachten Leistungen verlangen. 71
Praxishinweis Es empfiehlt sich, in einem übertragenden Insolvenzplan diese Regelung zur Klarstellung abzubedingen. Sie passt ebenso wenig wie § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG in die Konstruktion des übertragenden Insolvenzplanes, der gerade nicht die Beibehaltung des schuldnerischen Rechtsträgers, sondern die Übertragung des Geschäftsbetriebs auf einen neuen Rechtsträger vorsieht.
VIII. Resümee Insbesondere bei der Erstellung eines übertragenden Insolvenzplanes gibt es 72 eine Vielzahl an Schnittpunkten zum Arbeitsrecht. Auch wenn das Insolvenzplanverfahren aufgrund der gewollten hohen Gläubigerautonomie dem Planersteller einen großen Gestaltungsspielraum gewährt, ist er insbesondere auch durch arbeitsrechtliche Vorschriften und die Rechtsprechung des BAG eingeschränkt. Ohne die genaue Kenntnis dieser Rechtslage, wird die Planerstellung regelmäßig misslingen. Sicherlich kann man eine gewisse Besserstellung der Arbeitnehmer im Planverfahren feststellen, da weder in Arbeitsverträge noch in ___________ 66) Berentz, Gesetzesmaterialien zur BetrAVG, S. 286. 67) Smid/Rattunde, Der Insolvenzplan: Hdb. Sanierungsverfahren, Rz. 8.73. 68) Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 8.64 ff.
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§ 14 Arbeitsrecht im übertragenden Insolvenzplan
Tarifverträge eingegriffen werden darf. Dies geht jedoch einher mit einer Vielzahl von arbeitsrechtlichen Möglichkeiten, welche die Arbeitnehmer belasten und außerhalb eines Insolvenzverfahrens so nicht möglich sind. Hierbei sei beispielhaft nur auf die Verkürzung der Kündigungsfristen im § 113 InsO verwiesen. Ob der übertragende Insolvenzplan tatsächlich die beste Alternative für die Gläubigerschaft darstellt, muss am jeweiligen Einzelfall verprobt werden.
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§ 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis Übersicht I. 1.
Einführung......................................... 1 Anwendbarkeit des § 613a BGB in Krise und Insolvenz ....................... 2 2. Die Regelung des § 613a BGB im Überblick ............................................ 5 II. Gestaltungsmöglichkeiten bei § 613a BGB......................................... 9 1. Zulässigkeit von Kündigungen trotz Betriebsübergang..................... 10
2. 3.
Erwerberkonzept.............................. 14 Interessenausgleich mit Namensliste ...................................... 17 4. Einsatz einer Transfergesellschaft................................................. 19 5. Änderung der Arbeitsbedingungen vor Betriebsübergang ................ 25 III. Insolvenzrechtliches Haftungsprivileg ............................................. 28
Literatur: Lemke, Umstrukturierung in der Insolvenz unter Einschaltung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft, BB 2004, 773; Raif, Personalabbau und Transfergesellschaft, ArbR Aktuell 2009, 225.
I.
Einführung § 613a Abs. 1 BGB bezweckt insbesondere den Erhalt des sozialen Besitzstands der von einem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer sowie die Gewährung eines lückenlosen Bestandsschutzes. Eine dem Normzweck zuwiderlaufende Vertragsgestaltung, die zielgerichtet der „personellen Bereinigung“ des Betriebs zum Zweck des anschließenden Betriebsübergangs dient, stellt eine Umgehung des § 613a Abs. 1 BGB dar und ist gemäß § 134 BGB rechtsunwirksam. LAG Köln, Urt. v. 25.2.2011 – 3 Sa 1470/09, BeckRS 2011, 74337 (ArbG Siegburg)
§ 613a BGB regelt die arbeitsrechtlichen Beziehungen sowie die Haftung zwi- 1 schen dem Arbeitnehmer und dem alten sowie dem neuen Arbeitgeber. Geht ein Betrieb oder Betriebsteil, also eine organisatorisch in sich abgeschlossene Einheit aus sächlichen und personellen Ressourcen, auf einen anderen Inhaber über, so tritt gleichzeitig gemäß § 613a Abs. 1 BGB der neue Betriebsinhaber in alle Rechte und Pflichten aus den zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Der Betriebserwerber übernimmt damit die Arbeitsverhältnisse in ihrem jeweiligen rechtlichen und sozialen Bestand, in dem sie sich zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs befunden haben. 1.
Anwendbarkeit des § 613a BGB in Krise und Insolvenz
Der Wortlaut des § 613a BGB unterscheidet nicht danach, ob ein Betrieb wirt- 2 schaftlich gesund ist oder ob sich der Rechtsträger in der Krise oder Insolvenz befindet. Auch die InsO geht von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 613a BGB aus, vgl. § 128 InsO. Die InsO enthält jedoch mehrere sanierungserleichternde Sondervorschriften für die Kündigung von Arbeitsverhältnissen i. R. eines Insolvenzverfahrens (§§ 113, 125 ff. InsO), die auch für den Fall der Betriebsveräußerung gelten. Auch das BAG hat in ständiger Rechtsprechung Gossak
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§ 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis
vor allem unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsplatzschutzes die Regelung des § 613a BGB in der Insolvenz uneingeschränkt für anwendbar erklärt.1) Lediglich bei einem Betriebserwerb im eröffneten Insolvenzverfahren greifen für den Betriebserwerber Haftungsbeschränkungen ein. 3 Nach der Rechtsprechung des BAG gewährt § 613a BGB Schutz vor einer Veränderung des Arbeitsverhältnisses ohne sachlichen Grund im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang.2) § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB stellt zwingendes Recht dar und unterliegt nicht der Dispositionsbefugnis der Parteien. Eine Vereinbarung, die dagegen verstößt, ist nach § 134 BGB unwirksam.3) Deshalb muss jede Vereinbarung über die Rechtsausübung durch den Arbeitnehmer einer gerichtlichen Umgehungskontrolle standhalten. Zwingendes Recht verbietet aber weder (zulässige) Gestaltungsmöglichkeiten, noch Vermeidungsstrategien im Hinblick auf die Minimierung oder den Ausschluss von Risiken im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang. Ein Sanierungshindernis per se kann daraus nicht abgeleitet werden kann. 4
Praxishinweis § 613a BGB gewährt dem Arbeitnehmer einen Schutz vor Verschlechterung seiner Rechtsposition. Dies ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn die getroffene Vereinbarung sich als nachteilig für den Arbeitnehmer darstellt. Die alleinigen Interessen von Betriebserwerber und Veräußerer sind nicht maßgeblich. Werden durch eine Vereinbarung mit dem Betriebsveräußerer und/oder Betriebserwerber die Rechtsfolgen des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB umgangen, bleibt die getroffene Vereinbarung nach § 134 BGB ohne Folgen.
2.
Die Regelung des § 613a BGB im Überblick Eine Kündigung verstößt auch dann nicht gegen § 613a Abs. 4 BGB, wenn sie jeder Betriebsinhaber – unabhängig von einer Veräußerung – aus notwendigen betriebsbedingten Gründen hätte aussprechen können. BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027
5 § 613a Abs. 1 BGB bestimmt den Eintritt des Betriebserwerbers in die bestehenden Arbeitsverträge, wie sie im Zeitpunkt des Übergangs „stehen und liegen“. Dabei muss der Erwerber auch die Arbeitsbedingungen in einem Kollektivvertrag (Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung) bis zu dessen Kündigung oder Ablauf bzw. bis zum Abschluss eines neuen, inhaltlich entsprechenden Kollektivvertrages beibehalten. Vor Ablauf einer einjährigen Veränderungssperre dür___________ 1) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117 = NJW 1980, 1124; BAG, Urt. v. 11.10.1995 – 10 AZR 984/94, ZIP 1996, 239 = NZA 1996, 432; BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027. 2) BAG, Urt. v. 19.3.2009 – 8 AZR 722/07, ZIP 2009, 1733 = NZA 2009, 1091; BAG, Urt. v. 21.5.2008 – 8 AZR 481/07, NZA 2009, 144; BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = NZA 2007, 866. 3) BAG v. 19.03 2009 – 8 AZR 722/07, ZIP 2009, 1733 = NZA 2009, 1091.
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I. Einführung
fen die Rechtsnormen der Kollektivverträge nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers abgeändert werden, es sei denn, dass bei dem neuen Inhaber inhaltlich entsprechende Rechtsnormen eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung gelten. Gemäß § 613a BGB Abs. 2 BGB haften darüber hinaus der bisherige Arbeitge- 6 ber und der neue Inhaber als Gesamtschuldner für Verpflichtungen aus bestehenden Arbeitsverträgen, soweit diese vor Ablauf von einem Jahr nach dem Zeitpunkt des Übergangs fällig werden. Werden diese Verpflichtungen nach dem Zeitpunkt des Übergangs fällig, so haftet der bisherige Arbeitgeber nur zeitanteilig entsprechend dem abgelaufenen Teil des Bemessungszeitraumes, während der neue Betriebsinhaber als Rechtsnachfolger zeitlich unbeschränkt haftet. Die gesamtschuldnerische Haftung gilt jedoch nicht, wenn eine juristische Person oder Personenhandelsgesellschaft durch Umwandlung erlischt, § 613a Abs. 3 BGB. Absatz 4 Satz 1 des § 613a BGB bestimmt ferner die Unwirksamkeit einer 7 Kündigung des Arbeitsvertrages durch den bisherigen Arbeitgeber oder durch den neuen Arbeitgeber wegen des Übergangs des Betriebes. Das Recht zur Kündigung aus anderen Gründen bleibt hingegen unberührt, § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB. Eine Kündigung verstößt auch dann nicht gegen § 613a Abs. 4 BGB, wenn sie jeder Betriebsinhaber – unabhängig von einer Veräußerung – aus notwendigen betriebsbedingten Gründen hätte aussprechen können. Der Schutzweck des § 613a BGB besteht also vor allem darin, den Erwerber daran zu hindern, bei der Übernahme der Belegschaft eine freie Auslese zu treffen. Sinn und Zweck der Regelung ist es aber nicht, den Erwerber auch bei fehlender Beschäftigungsmöglichkeit zu verpflichten, das Arbeitsverhältnis noch einmal künstlich zu verlängern.4) Die Vorschrift normiert das Recht des Arbeitnehmers, dem Übergang seines 8 Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber zu widersprechen (§ 613a Abs. 5 BGB) und bestimmt hierzu eine Monatsfrist, die nur nach ordnungsgemäßer Unterrichtung in Bezug auf den Betriebsübergang und dessen Folgen in Gang gesetzt wird (§ 613a Abs. 4 BGB). Den Betriebsübergang an sich kann der Arbeitnehmer nicht verhindern. Er kann nur dem Übergang „seines“ Arbeitsverhältnisses auf den neuen Arbeitgeber widersprechen. Denn gegen seinen Willen kann ihm kein neuer Arbeitgeber als Vertragspartner aufgezwungen werden. Der Widerspruch des Arbeitnehmers nach § 613a Abs. 6 BGB bedarf für seine Wirksamkeit weder einer Begründung noch eines sachlichen Grundes.5) Übt der Arbeitnehmer sein Widerspruchsrecht aus, so verbleibt sein Arbeitsverhältnis beim bisherigen Betriebsinhaber (Wirkung „ex tunc“). ___________ 4) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027. 5) BAG, Urt. v. 19.2.2009 – 8 AZR 176/08, ZIP 2009, 1779 = NJW 2009, 3386.
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§ 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis
II.
Gestaltungsmöglichkeiten bei § 613a BGB 1. Die Kündigung des Betriebsveräußerers auf Grund eines Erwerberkonzepts verstößt dann nicht gegen § 613a Abs. 4 BGB, wenn ein verbindliches Konzept oder ein Sanierungsplan des Erwerbers vorliegt, dessen Durchführung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat. 2. Der Zulassung einer solchen Kündigung steht der Schutzgedanke des § 613a Abs. 4 BGB nicht entgegen, denn diese Regelung bezweckt keine „künstliche Verlängerung“ des Arbeitsverhältnisses bei einer vorhersehbar fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers bei dem Erwerber. 3. Für die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung des Veräußerers nach dem Sanierungskonzept des Erwerbers kommt es – jedenfalls in der Insolvenz – nicht darauf an, ob das Konzept auch bei dem Veräußerer hätte durchgeführt werden können. BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027 (LAG Berlin, Urt. v. 30.11.2001 – 8 Sa 1601/01)
9 Wenn bei einem Betriebsübergang kraft Gesetzes alle Arbeitsverhältnisse, „wie sie stehen und liegen“, auf den Erwerber übergehen, so kann der gesetzliche Arbeitsplatzschutz nach § 613a Abs. 1 BGB auf den ersten Blick durchaus als sanierungsfeindliches Hindernis wirken und Investoren, die den Betrieb übernehmen wollen, abschrecken. Denn gerade dieser Betrieb ist mit dieser Belegschaft in die Krise geraten oder sogar insolvent geworden. Gleichwohl gibt es auch unter Anwendung des § 613a BGB praktische Gestaltungsmöglichkeiten, um die Risiken aus einem Betriebsübergang zu minimieren. 1.
Zulässigkeit von Kündigungen trotz Betriebsübergang
10 Zunächst ist festzuhalten, dass § 613a BGB den Ausspruch von sozial gerechtfertigten Kündigungen (§ 1 KSchG) nicht ausschließt. Diese können bereits durch den Insolvenzverwalter erfolgen (vgl. § 113 InsO) oder durch den Erwerber i. R. eines Sanierungskonzepts nachgeholt werden, § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB. Restrukturierungsmaßnahmen zur Erhöhung der Verkäuflichkeit eines Betriebes bleiben somit auch bei Anwendbarkeit des § 613a BGB zulässig.6) Eine Kündigung ist jedoch in keinem Fall sozial gerechtfertigt, wenn sie damit begründet wird, der neue Betriebsinhaber habe die Übernahme eines bestimmten Arbeitnehmers, dessen Arbeitsplatz erhalten bleibt, deswegen abgelehnt, weil er „ihm zu teuer sei“.7) 11 Zur Gewährleistung des Arbeitsplatzschutzes bestimmt § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB lediglich die Unwirksamkeit von Kündigungen wegen eines Betriebsübergangs. Soweit aber Kündigungen ohnehin zulässig sind, werden sie nicht durch den Betriebsübergang an sich erschwert. Vor diesem Hintergrund ist es ___________ 6) Vgl. BAG, Urt. v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, ZIP 1996, 2028 = NJW 1997, 611. 7) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027.
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II. Gestaltungsmöglichkeiten bei § 613a BGB
kündigungsrechtlich wirksam, wenn der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers auf Grund eines Sanierungskonzepts des Betriebserwerbers entfallen ist und die Durchführung des verbindlichen Konzepts oder Sanierungsplans des Erwerbers im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat.8) Damit wird dem Interesse des Veräußerers, einen Personalbestand noch vor 12 dem Betriebsübergang senken zu können und dem Interesse des Erwerbers, einen Betrieb möglichst ohne Personalüberhang zu übernehmen, entsprochen. 13
Praxishinweis Entsprechend den allgemeinen Beweislastregeln trägt der Arbeitnehmer hinsichtlich der notwendigen Kausalität zwischen Betriebsübergang und Kündigung die Beweislast, wenn er die Unwirksamkeit der Kündigung geltend macht.9) Macht er dabei nur den Unwirksamkeitsgrund des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB geltend, muss er darlegen und beweisen, dass ihm wegen eines rechtsgeschäftlichen Betriebsübergangs gekündigt worden ist und der Betriebsübergang der Beweggrund und das Motiv der Kündigung war.10)
2.
Erwerberkonzept
Bei der Abwicklung eines Betriebsübergangs besteht regelmäßig das prakti- 14 sche Bedürfnis, dass der Betriebsveräußerer eine vom Erwerber zeitgleich mit dem Betriebsübergang geplante Personalanpassung umsetzen kann, die Bestandteil dessen Übernahmekonzepts ist. Erfolgt die Personalanpassung noch vor dem Betriebsübergang, bleibt der wirtschaftliche Start des Erwerbers unternehmenspolitisch unbelastet und er kann noch vor dem Betriebsübergang abwarten, wie viele Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage erheben, um ggf. noch ein kaufvertraglich vorbehaltenes Rücktrittsrecht auszuüben.11) Die Kündigung durch den Betriebsveräußerer auf Grund eines Erwerberkon- 15 zepts verstößt dann nicht gegen § 613a Abs. 4 BGB, wenn ein verbindliches Konzept oder ein Sanierungsplan des Erwerbers vorliegen, dessen Durchführung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat.12) Der Rechtmäßigkeit einer solchen Kündigung steht der Schutzgedanke des § 613a Abs. 4 BGB nicht entgegen, denn diese Regelung bezweckt keine „künstliche Verlängerung“ des Arbeitsverhältnisses bei einer vorhersehbar fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers beim Erwerber. Für die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung des Veräußerers ___________ 8) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027. 9) BAG, Urt. v. 5.12.1985 – 2 AZR 3/85, ZIP 1986, 795 = NZA 1986, 522. 10) BAG, Urt. v. 5.12.1985 – 2 AZR 3/85, ZIP 1986, 795 = NZA 1986, 522; Treber in: KR, § 613a BGB Rz. 198. 11) Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt-Willemsen, S. 829. 12) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, ZIP 2003, 1671 = NZA 2003, 1027.
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§ 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis
nach dem Sanierungskonzept des Erwerbers kommt es – jedenfalls in der Insolvenz – nicht darauf an, ob das Konzept auch beim Veräußerer hätte durchgeführt werden können. 16
Praxishinweis In der praktischen Umsetzung haben sich gemeinsame Verhandlungen über einen Interessenausgleich bewährt. Dort können dann auch Fragen der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit beim Veräußerer oder Erwerber sowie Grundsätze der Sozialauswahl geregelt werden. Ferner können die Verhandlungen für Gespräche über Sanierungstarifverträge, flexible Arbeitszeitmodelle und betriebliche Bündnisse genutzt werden.
3.
Interessenausgleich mit Namensliste § 125 InsO dient der Sanierung insolventer Unternehmen. Gerade im Insolvenzfall besteht oft ein Bedürfnis nach einer zügigen Durchführung einer Betriebsänderung und eines größeren Personalabbaus. Die Regelungen des § 125 InsO wollen eine erfolgreiche Sanierung insolventer Unternehmen fördern und im Insolvenzfall zusätzliche Kündigungserleichterungen schaffen. Deshalb gebieten Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung eine weite Anwendung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs bei der Sozialauswahl. BAG, Urt. v. 28.8.2003 – 2 AZR 368/02, NZA 2004, 432 (LAG Niedersachsen, Urt. v. 12.4.2002 – 3 Sa 1638/01)
17 Durch den Abschluss eines, ggf. mit dem Investor abgestimmten, Interessenausgleichs mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG; § 125 InsO) können die Risiken eines Personalabbaus auch im Zusammenhang mit einer geplanten Betriebsveräußerung reduziert werden. Die Namensliste schafft Rechtssicherheit in Bezug auf einen durchzuführenden Personalabbau, wodurch sich die Chancen auf eine (anschließende) übertragende Sanierung trotz Anwendung des § 613a BGB erhöhen. Denn eine Namensliste verkürzt die rechtlichen Möglichkeiten des betroffenen Arbeitnehmers, sich in einem Kündigungsschutzprozess mit Erfolg gegen eine betriebsbedingte Kündigung zur Wehr zu setzen. 18 Wird eine Namensliste vereinbart, besteht die gesetzliche Vermutung, dass die Arbeitsplätze derjenigen Mitarbeiter, die in einer Namensliste zum Interessenausgleich aufgeführt sind, weggefallen sind. Die Sozialauswahl kann dann dabei nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit untersucht werden. Die einem Interessenausgleich nach § 125 InsO oder einem Feststellungsantrag nach § 126 InsO zugrunde liegende Betriebsänderung kann auch zeitlich nach der Betriebsveräußerung vom Erwerber selbst umgesetzt werden. Im Falle eines Betriebsübergangs erstreckt sich die Vermutungswirkung oder gerichtliche Feststellung auch darauf, dass die Kündigung nicht wegen des Betriebsübergangs erfolgt ist.
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II. Gestaltungsmöglichkeiten bei § 613a BGB
4.
Einsatz einer Transfergesellschaft 1. Die Arbeitsvertragsparteien können das Arbeitsverhältnis im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang wirksam durch Aufhebungsvertrag auflösen, wenn die Vereinbarung auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet ist und nicht der Unterbrechung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses dient. Dies gilt auch, wenn zugleich ein Übertritt des Arbeitnehmers in eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft vereinbart wird. 2. § 613a BGB wird nur umgangen, wenn der Aufhebungsvertrag die Beseitigung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses bei gleichzeitigem Erhalt des Arbeitsplatzes bezweckt, weil zugleich ein neues Arbeitsverhältnis vereinbart oder zumindest verbindlich in Aussicht gestellt wird. § 613a BGB gewährt nur einen Schutz vor einer Veränderung des Vertragsinhaltes ohne sachlichen Grund, nicht aber einen Schutz vor einer einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne sachlichen Grund. 3. Eine Umgehung des § 613a BGB kann vorliegen, wenn die Beschäftigungsgesellschaft zum Schein vorgeschoben oder offensichtlich bezweckt wird, die Sozialauswahl zu umgehen. 4. Der Aufhebungsvertrag kann gemäß § 123 Absatz I BGB angefochten werden, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer beim Abschluss des Vertrags vorspiegelt, der Betrieb solle geschlossen werden, in Wahrheit jedoch ein (Teil-)Betriebsübergang geplant ist. 5. Der Arbeitnehmer, der im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang aus dem Arbeitsverhältnis auf Grund eines Aufhebungsvertrags ausgeschieden ist, hat keinen Einstellungsanspruch gegen den Betriebsübernehmer, solange die Wirksamkeit des Aufhebungsvertrages nicht wegen Anfechtung, Wegfalls der Geschäftsgrundlage oder aus einem anderen Grunde beseitigt worden ist. 6. Ein Einstellungsanspruch ergibt sich auch nicht gemäß § 242 BGB aus dem Gesichtspunkt des unredlichen Erwerbs einer eigenen Rechtsstellung, wenn ein Betriebserwerber so lange mit einer Betriebsübernahme wartet, bis der Veräußerer eine Stilllegung plant, zahlreiche Arbeitsverhältnisse mittels Aufhebungsvertrag oder Kündigung beendet und deshalb ein Betrieb mit geringerer Arbeitnehmerzahl übernommen werden kann. BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, NZA 2007, 866 (LAG Brandenburg, Urt. v. 2.2.2006 – 9 Sa 328/05)
Ein Weg zum schnellen Personalabbau ohne Ausspruch betriebsbedingter Kündi- 19 gungen kann die Ausgliederung der Arbeitnehmer in eine Transfergesellschaft sein. Die Zwischenschaltung einer Transfergesellschaft kann in Krisenzeiten eine schnelle Kostenentlastung mit sich bringen und verhindern, dass ein Investor sämtliche Arbeitnehmer zu den alten Konditionen übernehmen muss. Das BAG geht davon aus, dass der mit dem bisherigen Arbeitgeber geschlossene 20 Aufhebungsvertrag wegen Umgehung von § 613a IV BGB gemäß § 134 BGB unwirksam ist, wenn bei seinem Abschluss zugleich ein neues Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber begründet oder dem Arbeitnehmer jedenfalls verbindlich in Aussicht gestellt wird. Der Aufhebungsvertrag bezwecke dann nicht die Beendigung, sondern bloß eine Änderung des bisherigen Arbeitsvertrages. Hingegen werde § 613a Abs. 4 BGB nicht umgangen, wenn dem Arbeitnehmer nur Gossak
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§ 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis
eine unverbindliche Chance eingeräumt werde, vom Erwerber übernommen zu werden und er dann freiwillig den Aufhebungsvertrag abschließt. Es muss sich für den Arbeitnehmer bei Vertragsabschluss noch um ein „Risikogeschäft“ handeln.13) 21
Praxishinweis Nur wenn bei Vertragsabschluss der Übergang für die Arbeitnehmer tatsächlich ungewiss bleibt, kann der Erwerber sich aus dem Pool der Transfergesellschaft seine „Olympiamannschaft“ zur Fortsetzung des Betriebes auswählen. Für die Praxis ist vor allem die Kommunikation mit den Arbeitnehmern des Veräußerers entscheidend.14)
22 Durch die Einschaltung einer Transfergesellschaft können „verkaufsschädigende“ Kündigungsschutzklagen und die damit verbundenen rechtlichen Risiken von betriebsbedingten Kündigungen vermieden werden. Bei der anschließenden Übertragung der Betriebsmittel in eine Auffanggesellschaft oder auf einen Investor findet nach der Rspr. des BAG die Vorschrift des § 613a BGB bezüglich der in die Transfergesellschaft gewechselten Arbeitnehmer keine Anwendung.15) Der Investor wird deshalb seine Investitionsabsicht regelmäßig vom Erreichen einer bestimmten Übertritts-Quote abhängig machen. 23 Der Betrieb kann also in gewisser Weise „mitarbeiterfrei“ gemacht werden, um dem Erwerber die Personalauswahl aus der Transfergesellschaft zu ermöglichen, mit denen er neue Arbeitsverträge schließen will.16) So dient die Transfergesellschaft als Vehikel zur Personalreduzierung ohne komplette Stilllegung der Produktion und gleichzeitig zur Vorbereitung einer übertragenden Sanierung.17) 24
Praxishinweis Praktisch lässt sich allerdings eine Gestaltung unter Einschaltung einer Transfergesellschaft nur dann umsetzen, wenn der Insolvenzverwalter die Arbeitnehmer, den Betriebsrat und die Gewerkschaften hiervon überzeugen kann. Regelmäßig sind Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter oft nur dann zur Mitwirkung bereit, wenn die einzige Alternative zu dem beabsichtigten Unternehmensverkauf die Betriebsstilllegung und damit der Verlust sämtlicher Arbeitsplätze ist.
5.
Änderung der Arbeitsbedingungen vor Betriebsübergang
25 Der Betriebserwerber übernimmt die Arbeitsverhältnisse in dem Zustand, in dem sie sich zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bei dem früheren Betriebsinhaber (zuletzt) befunden haben. Dies eröffnet die Möglichkeit, Arbeitsbe___________ 13) BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = NZA 2006, 866. 14) Vgl. auch Raif, ArbR Aktuell 2009, 225, 227. 15) BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, ZIP 1999, 320 = NZA 1999, 422; BAG, Urt. v. 21.1.1999 – 8 AZR 218/98, ZIP 1999, 1572. 16) BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = NZA 2006, 866. 17) Lembke, BB 2004, 773.
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III. Insolvenzrechtliches Haftungsprivileg
dingungen auch noch kurz vor dem Stichtag des Betriebsübergangs ohne Veränderungssperre so zu verändern, dass sie den Erwerberwünschen entsprechen. 26
Praxishinweis Die praktische Möglichkeit des Investors, auf die individual-rechtlichen Arbeitsverträge, die kollektiven Arbeitszeitregelungen und Tarifverträge noch vor dem Betriebsübergang Einfluss zu nehmen, ist dann am größten, wenn durch den Betriebsübergang eine ansonsten drohende Schließung des Geschäftsbetriebes vermieden werden kann.
In der Praxis werden die betroffenen Arbeitnehmer einer Verschlechterung der 27 Arbeitsbedingungen unmittelbar vor einem Betriebsübergang nur gegen Beschäftigungsgarantien beim Investor zustimmen und dem Betriebsübergang ein tragfähiges Konzept zugrunde liegt. Entsprechendes gilt für Sanierungstarifverträge, die vor dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs für die Zeit nach dem Betriebsübergang abgeschlossen werden. III.
Insolvenzrechtliches Haftungsprivileg Auch unter der InsO gilt, wie schon vorher unter der KO, der Eintritt der Haftung des Betriebserwerbers für rückständige Forderungen nur eingeschränkt. BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527
Im Hinblick auf die Haftung des Erwerbers für vor der Insolvenzeröffnung 28 entstandene Forderungen bestimmt die Rechtsprechung des BAG eine teleologische Reduktion des § 613a BGB und erleichtert so Betriebsübernahmen in der Insolvenz.18) Müsste der Betriebserwerber auch für Altverbindlichkeiten des Veräußerers gegenüber seinen Arbeitnehmern einstehen, hätte dies eine Minderung des Kaufpreises und damit eine geringere Verteilungsmasse sowie schließlich eine unangemessene Benachteiligung der übrigen Insolvenzgläubiger zur Folge. Diese Grundsätze gelten auch für die Haftung nach § 25 HGB, wenn das Unternehmen vom Insolvenzverwalter übernommen wird.19) § 613a Abs. 2 BGB tritt im Insolvenzverfahren hinter die besonderen Ver- 29 teilungsgrundsätze des Insolvenzrechts zurück. Besondere Verteilungsgrundsätze bestehen nur hinsichtlich der Forderungen, die ein Gläubiger als Insolvenzgläubiger geltend zu machen hat (§§ 174 ff. InsO). Dagegen sind Forderungen, die sich als Masseverbindlichkeiten gegen die Insolvenzmasse richten, aus dieser ohne irgendwelche Beschränkungen vorweg zu berichtigen (§ 53 InsO). Die insolvenzrechtliche Beschränkung des Eintritts der Haftung nach § 613a BGB ergreift deshalb lediglich Insolvenz-, nicht jedoch Masseforderungen.20) ___________ 18) Vgl. BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117 = NJW 1980, 1124. 19) BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 215/06, ZIP 2007, 386 = NZA 2007, 335. 20) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651.
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§ 15 Betriebsübergang als Sanierungshindernis
Denn die Arbeitnehmer sind mit ihren Lohnansprüchen für die Zeit nach Insolvenzeröffnung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 53 InsO geschützt. 30 Bei rückständigen Lohnforderungen für die dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate kommt ein Anspruch auf Insolvenzgeld nach Maßgabe der §§ 165 ff. SGB III in Betracht; der Lohnanspruch des Arbeitnehmers gegen den Insolvenzschuldner geht nach § 169 SGB III mit Antrag auf Insolvenzgeld auf die Bundesagentur für Arbeit über. Diese kann den von der Haftung befreiten Betriebserwerber nicht in Anspruch nehmen. 31 Vom Haftungsprivileg des Betriebserwerbers ebenfalls erfasst sind bereits entstandene Abfindungsansprüche aus einem Insolvenzsozialplan,21) aus einem Altersteilzeitvertrag22) oder Ansprüche auf Erstattung von Betriebsratskosten.23) 32 Keine Haftungsbeschränkung des Betriebserwerbers besteht bei Urlaubsansprüchen, soweit sie nicht einem Zeitpunkt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens zugeordnet werden können.24) 33 Der Erwerber tritt auch in die Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer des vom Insolvenzverwalter übernommenen Betriebs ein. Allerdings gilt hier die oben dargestellte Haftungsbegrenzung. Bei Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung haftet der Betriebserwerber nur für den Teil der Betriebsrentenansprüche, der nach Eröffnung des insolvenzrechtlichen Verfahrens erdient worden ist. Waren bei Verfahrenseröffnung Betriebsrentenansprüche oder -anwartschaften entstanden, nehmen diese an der Verteilung als Insolvenzforderung teil. Soweit gesetzliche Unverfallbarkeit vorliegt, haftet der Pensionssicherungsverein als Träger der Insolvenzsicherung nach § 2 Abs. 2 Satz 1, 3 BetrAVG.25)
___________ 21) 22) 23) 24) 25)
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BAG, Urt. v. 15.1.2002 – 1 AZR 58/01, ZIP 2002, 1543 = NZA 2002, 1034. BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682 = NZA 2009, 432. BAG, Beschl. v. 13.7.1994 – 7 ABR 50/93, ZIP 1994, 1789 = AP KO § 61 Nr. 28. Schaub-Koch, Arbeitsrechts-Hdb., § 118 Rechtsfolgen des Betriebsübergangs Rz. 7. BAG, Urt. v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94, ZIP 1996, 1914 = NZA 1997, 94.
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§ 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen Übersicht I. II. 1. 2. 3. 4. 5.
Einführung......................................... 1 Inhalt der Unterrichtung................. 2 Person des Erwerbers......................... 4 Gegenstand des Betriebsübergangs.................................................... 9 (Geplanter) Zeitpunkt des Übergangs ......................................... 10 Grund für den Übergang ................. 13 Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer.................................... 14
6. III. IV. V. VI.
In Aussicht genommene Maßnahmen.............................................. 23 Verpflichteter und Adressat der Unterrichtung ................................. 26 Form und Zeitpunkt der Unterrichtung ................................. 28 Folgen der fehlerhaften Unterrichtung............................................ 31 Prozessuale Lage.............................. 35
Literatur: Gaul/Krause, Sorgfalt wird (endlich) belohnt: Zur ordnungsgemäßen Unterrichtung über den Betriebsübergang nach § 613a Abs. 5 BGB, RdA 2013, 39; Lingemann, Richtig unterrichtet beim Betriebsübergang – neue Hilfestellungen des BAG, NZA 2012, 546; Morshäuser/Falkner, Unternehmenskauf aus der Insolvenz, NZG 2010, 881; Willemsen/ Lembke, Die Neuregelung von Unterrichtung und Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer beim Betriebsübergang, NJW 2002, 1159; Worzalla, Neue Spielregeln bei Betriebsübergang – Die Änderungen des § 613a BGB, NZA 2002, 353.
I.
Einführung Anforderungen an Unterrichtungsschreiben: BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB
Gerade beim Erwerb von Krisenunternehmen kommt es vielfach zu Betriebs- 1 übergängen – werden doch derartige Veräußerungen häufig als Asset Deals konzipiert, um eine Übertragung der Verbindlichkeiten des Veräußerers auf den Erwerber zu vermeiden.1) Ein Risiko birgt dabei die Unterrichtungspflicht nach § 613a Abs. 5 BGB, da die Anforderungen an eine korrekte Unterrichtung sehr hoch sind. Seit Kodifizierung der Unterrichtungspflicht im Jahr 2002 hat das BAG diese Anforderungen stetig verschärft und nur vereinzelt haben Unterrichtungsschreiben der höchstrichterlichen Kontrolle standgehalten.2) Mag der gesetzgeberische Zweck der Unterrichtung auch darin bestanden haben, den Arbeitnehmer zu befähigen, über die Ausübung seines Widerspruchsrechts nach § 613a Abs. 6 BGB zu entscheiden3) – de facto stellt sich die korrekte Unter___________ 1) Vgl. zur Transaktionsstruktur beim Erwerb insolventer Unternehmen Morshäuser/Falkner, NZG 2010, 881 ff. 2) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, BAGE 119, 81 = ZIP 2006, 2143, dazu EWiR 2007, 41 (Laskawy). 3) Vgl. Begr. RegE eines Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks. 14/7760, S. 19.
Wilke
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§ 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen
richtung vor allem als formale Hürde für die Arbeitgeberseite dar. Diese grundsätzlichen Probleme verschärfen sich beim Erwerb eines Krisenunternehmens oftmals noch, da Veräußerer und Erwerber aufgrund des voranschreitenden Verlustes des Unternehmenswertes hier typischerweise unter hohem Zeitdruck stehen. II.
Inhalt der Unterrichtung
2 Nach § 613a Abs. 5 Nr. 1 – 4 BGB ist über x
den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Übergangs,
x
den Grund für den Übergang,
x
die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer und
x
die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen
zu informieren. Von der Rechtsprechung wird darüber hinaus eine Information über die Person des Erwerbers sowie über den Gegenstand des Betriebsübergangs verlangt.4) 3 Der Inhalt der Unterrichtung richtet sich nach dem Kenntnisstand des Veräußerers und Erwerbers zum Zeitpunkt der Unterrichtung; die erteilten Informationen müssen aber auf diesen Zeitpunkt bezogen objektiv zutreffend sein.5) Die Unterrichtung muss außerdem einerseits präzise sein und darf keine juristischen Fehler enthalten, andererseits soll sie sich einer auch für juristische Laien möglichst verständlichen Sprache bedienen.6) 1.
Person des Erwerbers Identität des Betriebserwerbers beim Betriebsübergang: BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46
4 Der Erwerber muss grundsätzlich mit Firmenbezeichnung und Anschrift, d. h. mit Firmensitz und Adresse, genannt werden, so dass er identifizierbar ist.7) Die Angabe einer Handelsregisternummer ist zur Identifizierung nicht erforderlich,8) erleichtert aber die Identifizierung. Bei Gesellschaften gehört, sofern eine vollständige gesetzliche Vertretung nicht angegeben wird oder angegeben werden kann, die Nennung einer identifizierbaren natürlichen Person
___________ 4) BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 5) Vgl. BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 6) S. nur BAG, Urt. v. 26.5.2011 – 8 AZR 18/10, AP Nr. 407 zu § 613a BGB = BB 2011, 2292. 7) BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 8) BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050.
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II. Inhalt der Unterrichtung
mit Personalkompetenz als Ansprechpartner des Betriebserwerbers dazu.9) In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass und in welcher Weise die genannte Person dem Erwerber zuzuordnen ist und für ihn auftreten kann.10) Ist der Erwerber im Zeitpunkt der Unterrichtung noch nicht existent, sondern 5 wird erst gegründet, können die genannten Angaben nicht gemacht werden. Stattdessen muss offengelegt werden, dass der Erwerber noch zu gründen ist.11) Hier genügt jedoch nicht die bloße Bezeichnung als „neue Gesellschaft“ oder „in Gründung“.12) Vielmehr müssen die zukünftigen Details nach Möglichkeit als solche gekennzeichnet angegeben werden. Anderenfalls ist das Unterrichtungsschreiben zu einem späteren Zeitpunkt zu ergänzen, was dann aber zu einem späteren Fristanlauf führt. Ist der Unternehmensverkauf als Share Deal nach Einbringung des Geschäfts- 6 bereichs in eine Zweckgesellschaft strukturiert, findet der Übergang der Arbeitsverhältnisse auf die Zweckgesellschaft statt. Es ist daher über die Zweckgesellschaft als Erwerber zu informieren. Fraglich ist, ob auch bereits über den geplanten Erwerb der Zweckgesellschaft und über den potentiellen Erwerber informiert werden muss. Zweckmäßig wird hier sein, einen sich bereits konkret abzeichnenden Verkauf offenzulegen, da es sich hierbei grundsätzlich um eine mittelbare wirtschaftliche Folge des Betriebsübergangs handeln dürfte, über die nach § 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB zu informieren ist. 7
Praxishinweis Über Einzelheiten zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Erwerbers empfiehlt sich eine Information allerdings nicht; sie ist – wie unter Rz. 22 dargelegt – grundsätzlich auch nicht nach § 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB geschuldet und kann vor allem Fehlerquellen eröffnen.
Bei allen diesen Angaben ist äußerste Sorgfalt geboten, da nicht ausgeschlos- 8 sen ist, dass offensichtliche oder für das Verständnis der Arbeitnehmer unerhebliche Fehler im Unterrichtungsschreiben in den Augen der Gerichte dazu führen können, dass die einmonatige Widerspruchsfrist nicht in Gang gesetzt wird. So hat das BAG bspw. ausdrücklich offengelassen, ob bereits die fehlerhafte Bezeichnung des Vornamens des Geschäftsführers der Erwerberin mit ___________ 9) BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm). 10) BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm). 11) BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm). 12) BAG, Urt. v. 15.3.2012 – 8 AZR 700/10, AP Nr. 19 zu § 613a BGB Widerspruch = NZA 2012, 1097; BAG, Urt. v. 21.8.2008 – 8 AZR 407/07, ZIP 2009, 1295 = NZA-RR 2009, 62.
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§ 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen
„Jochen“ anstatt „Joachim“ einer ordnungsgemäßen Unterrichtung entgegensteht. 13) 2.
Gegenstand des Betriebsübergangs
9 Der übergehende Betrieb oder der Teilbetrieb müssen im Unterrichtungsschreiben bezeichnet werden. Grundsätzlich genügt hier die Verwendung einer schlagwortartigen Bezeichnung wie bspw. „Betrieb X“, „Standort Y“ oder „Bereich Z“, sofern diese Bezeichnungen die übertragenen Assets ausreichend kennzeichnen.14) Werden jedoch wesentliche Wertgegenstände, die bei objektiver Betrachtung unter die Bezeichnung des Betriebs fallen würden, nicht veräußert, so sollte dies offengelegt werden.15) 3.
(Geplanter) Zeitpunkt des Übergangs Zeitpunkt eines Betriebsübergangs: BAG, Urt. v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, ZIP 2008, 2132 = AP Nr. 343 zu § 613a BGB
10 Darüber hinaus ist über den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Übergangs zu unterrichten. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem der Erwerber die Geschäftstätigkeit tatsächlich weiterführt oder wieder aufnimmt.16) Dabei wird es sich häufig um, den Zeitpunkt des dinglichen Vollzugs des Unternehmenskaufvertrages („Closing“) handeln. Zwingend ist dies jedoch nicht, da es für den Betriebsübergang keiner besonderen Übertragung einer irgendwie gearteten Leitungsmacht bedarf.17) Entscheidend ist, wer die Organisations- und Leitungsmacht im eigenen Namen ausübt.18) 11 Der Zeitpunkt des Übergangs muss mit einem konkreten Datum, nicht einem bloßen Zeitraum bezeichnet werden.19) Dies mag praktisch oftmals Schwierigkeiten bereiten, da der Übergangszeitpunkt gerade bei der Veräußerung von Krisenunternehmen wegen des typischerweise bestehenden Zeitdrucks oft knapp ___________ 13) BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 14) Vgl. nur BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050; BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, AP Nr. 318 zu § 613a BGB = BB 2007, 1340. 15) Vgl. BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm); BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung. 16) BAG, Urt. v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, ZIP 2008, 2132 = AP Nr. 343 zu § 613a BGB. 17) BAG, Urt. v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, ZIP 2008, 2132 = AP Nr. 343 zu § 613a BGB; vgl. auch Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, Kündigungsrecht, § 613a BGB Rz. 66; a. A. wohl Fiebig/Gallner/Mestwerdt/Nägele-Mestwerdt, Kündigungsschutzrecht, § 613a BGB Rz. 159. 18) BAG, Urt. v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, ZIP 2008, 2132 = AP Nr. 343 zu § 613a BGB. 19) Vgl. EuGH, Urt. v. 26.5.2005 – Rs. C-478/03 (Celtec), Slg. I 2005, 4389 = ZIP 2005, 1377.
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II. Inhalt der Unterrichtung
kalkuliert ist und sich deswegen verschieben kann. Praktisch sollte deswegen immer über den geplanten Zeitpunkt unterrichtet werden;20) anderes würde nur dann gelten, wenn eine Verschiebung aufgrund der gewählten rechtlichen Gestaltung tatsächlich einmal ausgeschlossen wäre, etwa im Falle einer vereinbarten aufschiebenden Befristung. Ist hingegen gar kein konkreter Zeitpunkt avisiert, sondern dieser etwa von einer Eintragung, z. B. in das Handelsregister abhängig, muss über diesen Umstand und die voraussichtliche Eintragung unterrichtet werden.21) Höchstrichterlich nicht geklärt ist die Frage, ob oder ggf. ab wann eine erneute 12 Unterrichtungspflicht entsteht, wenn sich der Zeitpunkt des Betriebsübergangs verschiebt. Dass § 613a Abs. 5 Nr. 1 BGB lediglich eine Unterrichtung über den „geplanten“ Zeitpunkt des Übergangs verlangt, spricht grundsätzlich gegen das Entstehen einer erneuten Unterrichtungspflicht. Sollte sich die Verschiebung jedoch auf weitere unterrichtungspflichtige Tatbestände des § 613a Abs. 5 BGB auswirken, spricht vieles dafür, dass durch diese Auswirkung eine erneute Verpflichtung zur Unterrichtung entsteht.22) 4.
Grund für den Übergang
Als Grund für den Übergang sind zum einen die rechtsgeschäftliche Grund- 13 lage, zum anderen die zu Grunde liegenden unternehmerischen Erwägungen jedenfalls schlagwortartig anzugeben.23) Wird ein defizitäres Krisenunternehmen zu einem negativen Kaufpreis verkauft, sollte dies offengelegt werden.24) 5.
Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer
Nach § 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB ist über die rechtlichen, wirtschaftlichen und 14 sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer zu unterrichten. Dazu gehört zunächst die Information, dass das Arbeitsverhältnis durch den Betriebsübergang übergeht. Weiter sollte auch über das Widerspruchsrecht einschließlich x
dessen Form,
x
Frist und
15
___________ 20) So auch Worzalla, NZA 2002, 353. 21) S. Hümmerich/Boecken/Düwell-Hauck, Arbeitsrecht, § 613a BGB Rz. 191. 22) So auch Worzalla, NZA 2002, 353; Moll-Cohnen, Münch-AHB ArbR, § 55 Rz. 25; Ascheid/ Preis/Schmidt-Steffan, Kündigungsrecht, § 613a BGB Rz. 207. 23) BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm); BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 24) Vgl. BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm).
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§ 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen
x
Adressaten sowie
x
über die ggf. eintretenden kündigungsrechtlichen Folgen beim Veräußerer
zu unterrichten sein.25) Hierfür spricht nicht zwingend der Wortlaut des § 613a Abs. 5 BGB, der eine Unterrichtung über die Folgen des Übergangs, nicht des Widerspruchs vorsieht. Eine Unterrichtungspflicht ergibt sich aber angesichts des Sinn und Zwecks des § 613a Abs. 5 BGB, der den Arbeitnehmer dazu befähigen soll, ggf. nach Einholung von Rechtsrat, über die Ausübung seines Widerspruchs zu entscheiden. Dies erfordert grundsätzlich auch eine Information über die wesentlichen Nachteile, die mit der Ausübung des Widerspruchsrechts verbunden sind. Zur Unterrichtung über die kündigungsrechtlichen Folgen eines Widerspruchs gehört auch eine Information über das Kündigungsverbot nach § 613a Abs. 4 BGB.26) 16
Praxishinweis Es ist jedoch keine detaillierte Darstellung der Voraussetzungen für eine Kündigung geschuldet; allerdings empfiehlt sich nach der jüngsten Rechtsprechung ein Verweis auf die Kündigungsmöglichkeit „nach individueller Prüfung“.27)
17 Die rechtlichen Folgen des Übergangs beinhalten außerdem die Information darüber, ob Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge beim Erwerber weitergelten und falls dies zutrifft, ob sie kollektiv- oder individual-rechtlich fortwirken.28) Entfällt die dynamische Wirkung eines Tarifvertrages, so ist dies im Unterrichtungsschreiben anzusprechen.29) Die detaillierte Bezeichnung einzelner Tarifverträge oder Rechtsnormen ist nicht notwendig.30) 18 Ob ein Hinweis auf die Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB erforderlich oder überhaupt zweckmäßig ist, ist umstritten.31) Wenn ein solcher Hinweis aufgenommen wird, sollte er von einer präzisen Subsumtion der denk-
___________ 25) S. nur BAG, Urt. v. 20.3.2008 – 8 AZR 1016/06, BB 2008, 2072 = NZA 2008, 1354; a. A. Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen/Müller-Bonnani, ArbR, § 613a BGB Rz. 332. 26) Vgl. Begr. RegE eines Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks. 14/7760, S. 19. 27) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); vgl. auch Lingemann, NZA 2012, 546. 28) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); zur Fortgeltung überblicksweise Gaul/Krause, RdA 2013, 39. 29) BAG, Urt. v. 15.3.2012 – 8 AZR 700/10, AP Nr. 19 zu § 613a BGB Widerspruch = NZA 2012, 1097. 30) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann). 31) Dafür Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, Kündigungsrecht, § 613a BGB Rz. 209; dagegen Moll-Cohnen, Münch-AHB ArbR, § 55 Rz. 37.
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II. Inhalt der Unterrichtung
baren, unterschiedlichen Fallkonstellationen begleitet werden.32) Der bloße, an die Rechtsfolge des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angelehnte Verweis, die Arbeitsbedingungen könnten für die Dauer eines Jahres nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden, ist ungenau und irreführend.33) Zu den darzulegenden rechtlichen Folgen gehört auch eine Darstellung der 19 Haftung des Veräußerers und des Erwerbers. Dabei wird in der Regel die gesamtschuldnerische Haftung nach § 613a Abs. 2 und 3 BGB zu erläutern sein. Da diesem Haftungsregime im Falle einer übertragenden Sanierung, d. h. einer Veräußerung als Asset Deal i. R. eines Insolvenzverfahrens, die Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts vorgehen,34) ist das Unterrichtungsschreiben in diesen Fällen der insolvenzrechtlichen Situation anzupassen. Dies muss ebenfalls gelten, wenn der Unternehmenskauf als Share Deal nach Einbringung des Geschäftsbetriebes in eine Zweckgesellschaft durch den Insolvenzverwalter strukturiert ist.35) Über spezielle Haftungsvorschriften, etwa im Falle einer Spaltung nach §§ 133 f. UmwG ist ebenfalls zu unterrichten.36) Auf sich aus dem Betriebsübergang mittelbar ergebenden wirtschaftlichen oder 20 sozialen Folgen muss ebenfalls hingewiesen werden. Was hierzu rechnet, lässt sich indes abschließend weder der Gesetzesbegründung noch der Rechtsprechung entnehmen. Jedenfalls wird auf den Entfall des Kündigungsschutzes hinzuweisen sein, wenn 21 im neuen Betrieb der Schwellenwert des KSchG unterschritten wird.37) Ob ein Hinweis auch erforderlich ist, wenn das Unterschreiten von Schwellenwerten die betriebliche Vertretungsstruktur nachteilig beeinflusst, ist hingegen umstritten.38) Ein Vergleich mit §§ 5 Abs. 1 Nr. 9, 126 Abs. 1 Nr. 11 UmwG, die im Gegensatz zu § 613 Abs. 5 Nr. 3 BGB eine ausdrückliche Unterrichtungspflicht über die Folgen für die Arbeitnehmerschaft „und ihre Vertretungen“ vorsehen, spricht eher gegen eine Unterrichtungspflicht.39) Aufzunehmen ist ___________ 32) Ein Beispiel für eine zulässige Formulierung findet sich bei BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann). 33) BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 34) Vgl. nur BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, BAGE 128, 229 = ZIP 2009, 682 m. w. N. (st. Rspr.). 35) Hierzu überzeugend unter Verweis auf die vergleichbare Rechtsprechung des BAG zur übertragenden Sanierung in der Insolvenz Morshäuser/Falkner, NZG 2010, 881, 883. 36) S. Gaul/Krause, RdA 2013, 39 mit Formulierungsbeispiel für Spaltungen. 37) Vgl. Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath-Karthaus/Richter, ArbR, 2. Aufl., § 613a BGB Rz. 182; Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen/Müller-Bonnani, ArbR, § 613a BGB Rz. 329. 38) Dafür Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath-Karthaus/Richter, ArbR, 2. Aufl., § 613a BGB Rz. 182; dagegen Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen/Müller-Bonnani, ArbR, § 613a BGB Rz. 331. 39) Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen/Müller-Bonnani, ArbR, § 613a BGB Rz. 331.
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§ 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen
aber wohl ein Hinweis, wenn der neue Bewerber nur eingeschränkt der Sozialplanpflicht nach § 111 Satz 1 oder § 112a Abs. 2 BetrVG unterliegt.40) 22 Nicht unter die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs rechnet allgemein die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Erwerbers im Einzelnen. Der Arbeitnehmer darf jedoch nicht über das wirtschaftliche Potential des Erwerbers getäuscht werden; jedenfalls über eine wirtschaftliche Notlage oder ein bereits eingeleitetes Insolvenzverfahren ist zu unterrichten.41) 6.
In Aussicht genommene Maßnahmen
23 Nach § 613a Abs. 5 Nr. 4 BGB ist über die in Aussicht genommenen Maßnahmen zu unterrichten. 24 Ausweislich der Gesetzesmaterialien sollen zu den in Aussicht genommenen Maßnahmen Weiterbildungsmaßnahmen im Zusammenhang mit geplanten Produktionsumstellungen gehören; außerdem Umstrukturierungen und andere Maßnahmen, die die berufliche Entwicklung der Arbeitnehmer betreffen.42) Dies legt nahe, dass vor allem über Betriebsänderungen sowie über einzelne Kündigungen und Versetzungen zu unterrichten ist; gerade an diesen für seine Informationen wird der Arbeitnehmer ein besonderes Interesse haben. 25
Praxishinweis In Aussicht genommen sind Maßnahmen (frühestens) dann, wenn sie ein Stadium konkreter Planung erreicht haben.43)
III.
Verpflichteter und Adressat der Unterrichtung
26 Zur Unterrichtung sind Veräußerer und Erwerber gesamtschuldnerisch nach § 421 BGB verpflichtet; beide haben einen wechselseitigen Anspruch auf Auskunftserteilung über Tatsachen, die jeweils in der Sphäre des anderen liegen.44) Jedenfalls in den Fällen, in denen der Veräußerer nicht liquidiert wird, sollte die diesbezügliche Haftungsverteilung im Unternehmenskaufvertrag geregelt werden. ___________ 40) Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen/Müller-Bonnani, ArbR, § 613a BGB Rz. 330; vgl. auch Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath-Karthaus/Richter, ArbR, 2. Aufl., § 613a BGB Rz. 182; a. A. Gaul/Krause, RdA 2013, 39. 41) Vgl. BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung. 42) Begr. RegE eines Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze, BTDrucks. 14/7760, S. 19. 43) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, BAGE 119, 81 = ZIP 2006, 2143, dazu EWiR 2007, 41 (Laskawy). 44) BAG, Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 262/07, ZIP 2009, 2310 = NZA 2009, 1149; BAG, Urt. v. 27.11.2008 – 8 AZR 174/07, BAGE 128, 328 = ZIP 2009, 929; Willemsen/Lembke, NJW 2002, 1159.
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V. Folgen der fehlerhaften Unterrichtung
Aus dem Zweck des Unterrichtungsschreibens, den Arbeitnehmer in die Lage 27 zu versetzen,45) über die Ausübung des Widerspruchsrechts zu entscheiden, folgt, dass Adressat allein der widerspruchsberechtigte Arbeitnehmer sein kann – also der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis übergeht. IV.
Form und Zeitpunkt der Unterrichtung
Die Unterrichtung bedarf der Textform des § 126b BGB. Dies bedeutet zwin- 28 gend, dass ihm die Person des Erklärenden entnommen werden kann.46) Die Arbeitnehmer sollen die Unterrichtung ausweislich des Gesetzeswortlauts 29 zeitlich vor dem Betriebsübergang erhalten. Die Unterrichtung vor dem Betriebsübergang durchzuführen, wird in der Regel schon aus organisatorischen und personalpolitischen Gründen angezeigt sein. 30
Praxishinweis Im Falle der Verletzung der Verpflichtung zur rechtzeitigen Unterrichtung können aber auch Ansprüche auf Ersatz von Verzugsschäden entstehen. Es empfiehlt sich daher, die Soll-Regelung des § 613a Abs. 5 BGB auch einzuhalten – allein, um Streitigkeiten hierüber zu vermeiden.
V.
Folgen der fehlerhaften Unterrichtung Schadensersatzpflicht: BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung; ständige Rechtsprechung
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG setzt nur die ordnungsgemäße Un- 31 terrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB die Widerspruchsfrist des § 613a Abs. 6 BGB in Gang.47) Widerspricht der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses 32 nicht, hat er damit im Falle einer nicht ordnungsgemäßen Unterrichtung ein zeitlich nur durch den Verwirkungseinwand begrenztes Recht zum Widerspruch. Damit besteht für ihn de facto weitgehend die Möglichkeit, sich auszusuchen, mit welchem Arbeitgeber sein Arbeitsverhältnis bestanden haben und weiter bestehen soll. Ob er sein Widerspruchsrecht tatsächlich ausübt, wird freilich auch davon abhängen, wie sich die Unternehmen des Veräußerers und des Erwerbers nach dem Betriebsübergang wirtschaftlich entwickeln. Wurde der Veräußerer erfolgreich saniert, während sich die wirtschaftliche Lage des Erwer___________ 45) S. nur BAG, Urt. v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, BAGE 119, 91 = ZIP 2006, 2050. 46) BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08, BAGE 131, 258 = ZIP 2010, 46, dazu EWiR 2010, 143 (Grimm). 47) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann).
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§ 16 Unterrichtungsschreiben nach § 613a BGB bei Krisenunternehmen
bers verschlechtert hat, kann sich ein Arbeitnehmer möglicherweise trotz der gravierenden Nachteile eines Widerspruchs hierzu veranlasst fühlen. 33 Hat der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses zeitnah widersprochen und stellt sich danach heraus, dass das Unterrichtungsschreiben fehlerhaft war, kommt unter den Voraussetzungen auch die Anfechtung des einmal erklärten Widerspruchs in Betracht. Hierzu werden regelmäßig die Voraussetzungen einer arglistigen Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB vorliegen müssen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn das Unterrichtungsschreiben erkennbar in der Absicht formuliert wurde, den Arbeitnehmer zum Widerspruch seines Arbeitsverhältnisses zu bewegen.48) Darüber hinaus sind die Voraussetzungen für arglistiges Handeln aber auch bereits dann erfüllt, wenn der Unterrichtende die Unrichtigkeit seiner Angaben kennt oder für möglich hält und wenn er die Vorstellung hat, die unrichtige Unterrichtung könne möglicherweise für die Entscheidung des Arbeitnehmers über die Ausübung des Widerspruchsrechts von Bedeutung sein.49) 34 Darüber hinaus kann eine unterbliebene oder fehlerhafte Unterrichtung zu Schadensersatzansprüchen der Arbeitnehmer führen, denn die Unterrichtungspflicht des § 613a Abs. 5 BGB ist echte Rechtspflicht.50) Dass und in welcher Höhe ihm infolge der mangelhaft erfüllten Unterrichtungsverpflichtung ein Schaden entstanden ist, hat der Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen.51) Hatte der Arbeitnehmer sein Widerspruchsrecht verwirkt, kann er jedoch nicht verlangen, wirtschaftlich so gestellt zu werden, als ob er sein Widerspruchsrecht wirksam ausgeübt hätte.52) Er kann damit weder die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Veräußerer im Wege der Naturalrestitution53) noch die Entschädigung in Geld für den Verlust des Arbeitsplatzes oder wegen anderer Nachteile54) verlangen. Dem Arbeitnehmer, der sein Widerspruchsrecht verwirkt hat, faktisch eine weitere Widerspruchsmöglichkeit oder ein wirtschaftliches Äquivalent einzuräumen, liegt nicht im Schutzzweck des Schadenersatzrechts.55) ___________ 48) BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 8 AZR 220/11, ZIP 2012, 1144 = AP Nr. 16 zu § 613a BGB, dazu EWiR 2012, 477 (Greiner). 49) S. Palandt-Ellenberger, BGB, § 123 Rz. 11 m. w. N. 50) S. nur BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung. 51) S. nur BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung. 52) BAG, Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, ZIP 2009, 2310 = AP Nr. 6 zu § 613a BGB Widerspruch; BAG Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 262/07, ZIP 2009, 2310 = NZA 2009, 1149. 53) Hierzu BAG, Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, ZIP 2009, 2310 = AP Nr. 6 zu § 613a BGB Widerspruch. 54) BAG, Urt. v. 9.12.2010 – 8 AZR 592/08, Rz. 31, juris; BAG, Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 262/07, ZIP 2009, 2310 = NZA 2009, 1149. 55) BAG, Urt. v. 2.4.2009 – 8 AZR 220/07, ZIP 2009, 2310 = AP Nr. 6 zu § 613a BGB Widerspruch.
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VI. Prozessuale Lage
VI.
Prozessuale Lage
Die Erfüllung der Unterrichtungsverpflichtung ist gerichtlich voll überprüf- 35 bar.56) Dabei sind Veräußerer und Erwerber für die Erfüllung der Unterrichtungspflicht darlegungs- und beweispflichtig. Es greift jedoch folgende abgestufte Verteilung der Darlegungslast nach § 138 Abs. 3 ZPO ein:57) x
Genügt die Unterrichtung zunächst formal den gesetzlichen Anforderungen und ist sie nicht offensichtlich, d. h. aus sich heraus,58) fehlerhaft, so ist es Sache des Arbeitnehmers, der sich auf die Unzulänglichkeit der Unterrichtung beruft, einen behaupteten Mangel näher darzulegen.59)
x
Der Arbeitgeberseite obliegt dann die Entkräftung der Einwände des Arbeitnehmers durch entsprechende Darlegungen und Beweisangebote.60)
___________ 56) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 22.1.2009 – 8 AZR 808/07, AP Nr. 4 zu § 613a BGB Unterrichtung = NZA 2009, 547. 57) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung (st. Rspr.). 58) Hierzu Lingemann, NZA 2012, 546. 59) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung (st. Rspr.). 60) S. nur BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP Nr. 15 zu § 613a BGB Unterrichtung, dazu EWiR 2012, 375 (Hartmann); BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, ZIP 2008, 987 = AP Nr. 2 zu § 613a BGB Unterrichtung (st. Rspr.).
Wilke
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern bei der operativen Abwicklung vor Insolvenz Übersicht I. 1. 2.
Haftung der Geschäftsführung ....... 1 Einführung.......................................... 1 Haftung im Innenverhältnis .............. 5 a) Masseschmälerung nach Insolvenzreife, § 64 Satz 1 GmbHG....................................... 6 aa) Begriff der Zahlung .............. 7 bb) Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung .................. 10 (1) Zahlungsunfähigkeit.... 11 (2) Überschuldung ............ 13 cc) Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes, § 64 Satz 2 GmbHG........... 14 dd) Verschulden ........................ 16 ee) Darlegungs- und Beweislast............................ 17 b) Insolvenzverursachung durch Zahlungen an Gesellschafter, § 64 Satz 3 GmbHG..................................... 19 aa) Zahlungsempfänger............ 22 bb) Kausale Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft .................. 25 c) Insolvenzverschleppung, § 43 Abs. 2 GmbHG ................. 28 aa) Frist zur Insolvenzantragstellung ..................... 29 bb) Verschulden ........................ 31 cc) Gesellschafterweisung........ 32
dd) Weitere Folgen für den Geschäftsführer.................. 33 d) Weitere Haftungstatbestände, § 43 Abs. 2 GmbHG .... 34 3. Haftung im Außenverhältnis........... 37 a) Insolvenzverschleppung, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO ................................. 38 b) Vorsätzliche sittenwidrige Insolvenzverschleppung, § 826 BGB.................................. 41 c) Verschulden bei Vertragsverhandlungen, § 311 Abs. 2 BGB ...................... 43 d) Weitere Haftungstatbestände .... 46 II. Haftung von Beratern .................... 47 1. Haftung gegenüber der Gesellschaft ...................................... 48 a) Vertragliche Haftung ................ 48 b) Vertragliche Haftungsbeschränkungen......................... 51 2. Haftung gegenüber dem Geschäftsführer ................................ 53 a) Vertragliche Haftung ................ 53 b) Haftung aufgrund Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter.................................. 54 3. Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern.............................. 59 a) Vertragliche Haftung ................ 59 b) Deliktische Haftung/ strafrechtliche Relevanz............ 60
Literatur: Bamberger/Roth, Beck‘scher Online-Kommentar BGB, Ed. 27, Stand: 1.5.2013; Baumbach/Hueck (Hrsg.), GmbHG, 20. Aufl., 2013; Bellen/Stehl, Pflichten und Haftung der Geschäftsführung in der Krise der GmbH – Ein Überblick, BB 2010, 2579; Bitter, Haftung von Gesellschaftern und Geschäftsführern in der Insolvenz ihrer GmbH – Teil 2, ZInsO 2010, 1561; Bork, Pflichten der Geschäftsführung in Krise und Sanierung, ZIP 2011, 101; Bunnemann/Zirngibl (Hrsg.), Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung in der Praxis, 2. Aufl., 2011; Commandeur/Kusch, Geschäftsführerhaftung gem. § 64 GmbHG bei Zahlungseingängen auf debitorischen Konten, NZG 2009, 1103; Commandeur/Utsch, Aktuelle Entwicklungen im Insolvenzrecht – Haftung des Steuerberaters für Insolvenzverschleppungsschäden, NZG 2012, 1376; Cymutta, Neue Regeln für Insolvenzanträge –
Günther
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz Haftungsrisiken der antragspflichtigen Organe und deren Berater, BB 2012, 3151; Dahl/ Schmitz, Probleme von Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit nach FMStG und MoMiG, NZG 2009, 567; Dauner-Lieb, Die Berechnung des Quotenschadens, ZGR 1998, 617; Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 7. Aufl., 2013; Ehlers, „Notwendig“ frühzeitige Insolvenzverfahren, BB 2013, 1539; Erne, Praxisleitfaden für GmbH-Geschäftsführer zur Haftvermeidung bei Cash Pooling-Systemen, GWR 2009, 387; Fischer, Aktuelle Rechtsprechung des BGH zur Haftung der rechts- und steuerberatenden Berufe, VersR 2013, 526; Frege, Grundlagen und Grenzen der Sanierungsberatung, NZI 2006, 545; Gogger, Insolvenzgläubiger-Handbuch, 3. Aufl., 2011; Gräfe, Haftungsgefahren des Steuerberaters/Wirtschaftsprüfers in der Unternehmenskrise des Mandanten – Teil I, DStR 2010, 618 und Teil II, DStR 2010, 669; Greulich/Bunnemann, Geschäftsführerhaftung für zur Zahlungsunfähigkeit führende Zahlungen an die Gesellschafter nach § 64 II 3 GmbHG-RefE – Solvenztest im deutschen Recht?, NZG 2006, 681; Heeg, Die Kündigung von Patronatserklärungen in der Krise der Gesellschaft, BB 2011, 1160; Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, 1. Aufl., 2011; Kaiser-Oetjen, Die Pflicht des Beraters zur Mandatskündigung in der Krise des Mandanten, DStR 2011, 2488; Kleindiek, Geschäftsführerhaftung in der Krise, in: Festschrift für Uwe H. Schneider, 2011, S. 617; Knof, Die neue Insolvenzverursachungshaftung nach § 64 Satz 3 RegE-GmbHG, DStR 2007, 1536; Krause, Managerhaftung und Strategien zur Haftungsvermeidung, BB 2009, 1370; Krieger/ Günther, Die arbeitsrechtliche Stellung des Compliance Officers, NZA 2010, 367; Lange, Schadensersatzpflicht des Steuerberaters wegen Beihilfe zur Insolvenzverschleppung eines GmbH-Geschäftsführers, DStR 2007, 954; Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), GmbHG, 18. Aufl., 2012; Moehlmann-Mahlau/Schmitt, Der „vorübergehende“ Begriff der Überschuldung, NZI 2009, 19; Niesert/Hohler, Die Haftung des Geschäftsführers für die Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen und ähnliche Leistungen, NZI 2009, 345; Poertzgen, Insolvenzverschleppungshaftung der Geschäftsführer c.i.c.? – Teil 1, ZInsO 2010, 416; Poertzgen, Geschäftsführerhaftung aus § 64 Satz 1 GmbHG – Anwendungspraxis und rechtspolitische Kritik, ZInsO 2011, 305; Rodewald, Alte und neue Haftungsrisiken für GmbHGeschäftsführer vor und in der Krise oder Insolvenz, GmbHR 2009, 1301; Römermann (Hrsg.), Münchener Anwalts Handbuch GmbH-Recht, 2. Aufl., 2009; Schaaf/Mushardt, Zur Hinweispflicht des Steuerberaters bezüglich einer insolvenzrechtlichen Überschuldung, DB 2013, 1890; Scholz (Hrsg.), GmbHG, 10. Aufl., 2010; Schwarz, Steuerberaterhaftung bei unterlassener Aufklärung über die Insolvenzantragspflicht bei Insolvenzreife einer GmbH/AG, NZI 2012, 869; Spliedt, MoMiG in der Insolvenz – ein Sanierungsversuch, ZIP 2009, 149; Statter/Jacoby, Schuldanerkenntnis mit Vollstreckungsunterwerfung und Verjährung der zugrunde liegenden Forderung, JZ 2010, 464; Strohn, Organhaftung im Vorfeld der Insolvenz, NZG 2011, 1161; Ulmer/Habersack/Winter (Hrsg.), GmbHG, Großkommentar, Bd. III, 2008; Wagner/Bronny, Insolvenzverschleppungshaftung des Geschäftsführers für Insolvenzgeld, ZInsO 2009, 622; Wertenbruch, Gesellschafterbeschluss für Insolvenzantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit?, DB 2013, 1592; Wicke, GmbHG, 2. Aufl., 2011; Zugehör, Uneinheitliche Rechtsprechung des BGH zum (Rechtsberater-) Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter, NJW 2008, 1105; Zugehör, Haftung des Steuerberaters für Insolvenzverschleppungsschäden, NZI 2008, 652; Zugehör/Fischer/Vill/ Fischer/Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 3. Aufl., 2011.
I.
Haftung der Geschäftsführung
1.
Einführung
1 Geschäftsführende Organmitglieder haben laufend die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft zu beobachten. Bei Anzeichen einer kritischen Entwicklung ist schnelles Krisenmanagement gefordert.1) Der Geschäftsführer muss daher – ___________ 1) BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, dazu EWiR 1995, 785 (Wittkowski).
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I. Haftung der Geschäftsführung
ggf. unter fachkundiger Beratung – stets einen Überblick über den Vermögensund Liquiditätsstand der Gesellschaft haben.2) In Abhängigkeit von Größe, Branche und konkreter Risikoexposition sind geeignete Kontrollsysteme einzurichten.3) Bereits das Fehlen geeigneter Corporate Compliance-Strukturen kann eine persönliche Haftung des Geschäftsführers auslösen. Jedenfalls tragen derartige Frühwarnsysteme dazu bei, dass der Geschäftsführer seinen Pflichten i. R. der operativen Abwicklung vor einer Insolvenz – z. B. rechtzeitige Stellung des Insolvenzantrags – nachkommen kann. Grundsätzlich gilt bei mehrköpfigen Geschäftsführungsgremien das Prinzip 2 der Gesamtverantwortung. So trifft z. B. jedes Mitglied der Geschäftsführung gleichermaßen die Pflicht, durch organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass Unternehmenskrisen zeitnah gegengesteuert werden kann. Durch Geschäftsverteilungspläne kann die Haftung innerhalb des Geschäftsführungsgremiums modifiziert werden. Werden die Aufgaben eines Ressorts einem Mitglied der Geschäftsführung wirksam zugewiesen, trifft dieses die primäre Handlungsverantwortung für diesen Bereich. Eine vollständige Pflichtendelegation scheidet aber aus. Vielmehr bleiben die übrigen Geschäftsführer in einer „Restverantwortung“. Sie haben Überwachungs- und Eingriffspflichten. Liegen konkrete Anhaltspunkte für eine sorgfaltswidrige bzw. nicht rechtmäßige Geschäftsführung des ressortverantwortlichen Organmitglieds vor, haben die übrigen Geschäftsführer ein Recht und eine Pflicht zum Einschreiten (Interventionsrecht bzw. -pflicht).4) Sämtliche Mitglieder der Geschäftsführung sind daher ungeachtet einer internen Ressortzuständigkeit verpflichtet, sich fortlaufend untereinander über alle wichtigen Ereignisse in ihrem Ressort zu unterrichten und gegenseitig zu überwachen.5) Zudem können einzelne Mitglieder der Geschäftsführung von wesentlichen Pflichten in der Krise der Gesellschaft – z. B. Pflicht zur rechtzeitigen Insolvenzantragstellung und zur Massesicherung – nicht durch eine interne Ressortverteilung entbunden werden.6) Hier bleibt es stets bei der Gesamtverantwortung. Im Vorfeld einer Insolvenz wird der unternehmerische Ermessensspielraum des 3 Geschäftsführers oftmals stark eingeengt sein. Trifft den Geschäftsführer kraft Gesetzes eine konkrete Pflicht zu bestimmtem Verhalten (z. B. Verbot der
___________ 2) Ehlers, BB 2013, 1539, 1540; BGH, Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557 = DStR 2012, 1713. 3) Ehlers, BB 2013, 1539, 1540, Bork, ZIP 2011, 101 ff. 4) Krause, BB 2009, 1370, 1372; Krieger/Günther, NZA 2010, 367, 369 zur vertikalen Delegation von Verantwortung auf Führungsebenen unterhalb der Geschäftsführung. 5) Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack, GmbHG, § 43 Rz. 26. 6) BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94, ZIP 1994, 891, dazu EWiR 1994, 789 (Schneider).
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
Masseschmälerung), hat er keinen haftungsfreien Handlungsspielraum. Es fehlen insoweit Handlungsalternativen.7) 4 Bei der Haftung des Geschäftsführers wegen Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Krise oder Insolvenz der Gesellschaft ist zwischen der Haftung gegenüber geschädigten Dritten (Außenverhältnis) und gegenüber der Gesellschaft bzw. der Insolvenzmasse (Innenverhältnis) zu unterscheiden. 2.
Haftung im Innenverhältnis
5 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Bestellung eines Insolvenzverwalters steigt das faktische Risiko des Geschäftsführers, wegen eines Fehlverhaltens von der Gesellschaft in persönliche Haftung genommen zu werden.8) Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis der Gesellschaft über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen liegt in einer solchen Situation bei dem Insolvenzverwalter. Der Insolvenzverwalter hat die Aufgabe, die Gläubiger aus der Insolvenzmasse bestmöglich zu befriedigen und hierzu erforderlichenfalls Ansprüche der Gesellschaft geltend zu machen. Zudem richtet sich der Regelsatz seiner Vergütung nach dem Wert der Insolvenzmasse zum Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens, vgl. § 63 Abs. 1 Satz 2 InsO. Im Regelfall nimmt der Insolvenzverwalter daher die Tätigkeit der Geschäftsführung „unter die Lupe“ und zögert nicht lange, bei Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen etwaige Ansprüche der Gesellschaft geltend zu machen.9) a)
Masseschmälerung nach Insolvenzreife, § 64 Satz 1 GmbHG
6 Der Geschäftsführer einer insolvenzreifen GmbH unterliegt der Massesicherungspflicht und darf nach § 64 Satz 1 GmbHG grundsätzlich keine Zahlungen mehr vornehmen.10) Eine Ausnahme gilt nach § 64 Satz 2 GmbHG bei Zahlungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind. Bei einem Verstoß gegen die Massesicherungspflicht hat der Geschäftsführer der Gesellschaft Ersatz zu leisten. Ein Schaden muss der Gesellschaft nicht entstanden sein.11) Die Ersatzpflicht umfasst den gesamten gezahlten Betrag abzüglich der in die Masse geflossenen und dort wertmäßig erhalten gebliebenen Gegenleistung.12) ___________ 7) 8) 9) 10)
Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack, GmbHG, § 43 Rz. 22b. Ebenso Ehlers, BB 2013, 1539. Ebenso Bellen/Stehl, BB 2010, 2579, 2580. Entsprechende Normen sind § 93 Abs. 3 Nr. 6 i. V. m. § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 34 Abs. 3 Nr. 4 GenG und § 190 Abs. 2 HGB. 11) Wicke-Wicke, GmbHG, § 64 Rz. 19. 12) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 84; Haarmeyer/Wutzke/Förster, Hdb. vorläufige Insolvenzverwaltung, § 13 Rz. 106.
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I. Haftung der Geschäftsführung
aa)
Begriff der Zahlung
Zahlungen i. S. von § 64 Satz 1 GmbHG sind zunächst einmal sämtliche geld- 7 lichen Leistungen, die aus dem Konto- oder Barbestand der Gesellschaft stammen.13) Der Begriff ist aber nicht auf Geldleistungen begrenzt, sondern erfasst grundsätzlich jede Leistung, die die verteilungsfähige Vermögensmasse mindert.14) Somit fallen auch Sachleistungen, die Erbringung von Diensten und die Übertragung von Rechten unter den Zahlungsbegriff.15) Kommt der Gesellschaft eine Gegenleistung für die Zahlung zugute, handelt es sich nach einer Auffassung bereits nicht um eine Zahlung i. S. von § 64 Satz 1 GmbHG.16) Nach a. A. entfällt eine Haftung, weil die Zahlung auch unter Berücksichtigung der Sorgfalt des ordentlichen Geschäftsmannes vorgenommen worden wäre (§ 64 Satz 2 GmbHG).17) Jedenfalls wirkt sich die Gegenleistung positiv auf die Haftung aus und ist in Anrechnung zu bringen.18) Gegegebenfalls hat der Geschäftsführer darauf zu achten, Lastschriften im Einziehungsermächtigungsverfahren für kreditorische Konten zu widerrufen.19) Nach h. M. liegt in der unterbliebenen Geltendmachung von Forderungen keine tatbestandsrelevante Zahlung.20) Besondere Vorsicht ist aus Sicht des Geschäftsführers bei der Rückführung 8 eines Kontokorrentkredites durch Einzahlungen Dritter auf ein debitorisches Konto geboten. Bei debitorischen Konten stellt die Entgegennahme von Geldleistungen durch Einziehung von Schecks oder Überweisungen eine Zahlung dar.21) Gutschriften sind demnach Zahlungen i. S. von § 64 Satz 1 GmbHG.22) 9
Praxishinweis Nach Eintritt der Insolvenzreife kann der Geschäftsführer daher verpflichtet sein, ein kreditorisches Konto einzurichten, auf dem Zahlungen entgegen genommen werden können, ohne dass die Masse verkürzt wird.23)
___________ 13) Haarmeyer/Wutzke/Förster, Hdb. vorläufige Insolvenzverwaltung, § 13 Rz. 102; Poertzgen, ZInsO 2011, 305. 14) Strohn, NZG 2011, 1161, 1165, Statter/Jacobi, JZ 2010, 464. 15) Poertzgen, ZInsO 2011, 305, 306. 16) Baumbauch/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 70a. 17) BGH, Urt. v. 18.3.1974 – II ZR 2/72, NJW 1974, 1088. 18) Poertzgen, ZInsO 2011, 305, 308. 19) Haarmeyer/Wutzke/Förster, Hdb. vorläufige Insolvenzverwaltung, § 13 Rz. 103. 20) Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 65 Rz. 135. 21) OLG Hamm, Urt. v. 22.12.2008 – 8 U 65/01, NZG 2009, 1116. 22) Strohn, NZG 2011, 1161, 1165; Commandeur/Kusch, NZG 2009, 1103. 23) BGH, Urt. v. 26.3.2007 – II ZR 310/05, ZIP 2007, 1006.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
bb)
Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung
10 In zeitlicher Hinsicht verbietet § 64 Satz 1 GmbHG Zahlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Feststellung der Überschuldung. Dabei ist nicht erst die förmliche Feststellung der Überschuldung haftungsauslösend. Es genügt deren Eintreten.24) Das Zahlungsverbot greift ab Insolvenzreife, also ab dem objektiven Bestehen einer Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung, nicht erst ab Ablauf der Frist zur Stellung des Insolvenzantrages.25) (1)
Zahlungsunfähigkeit Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit: BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426
11 Der Begriff der Zahlungsunfähigkeit richtet sich nach § 17 Abs. 2 InsO.26) Danach liegt Zahlungsunfähigkeit vor, wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, ihre fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Der BGH hat insofern eine Wesentlichkeitsschwelle aufgestellt. Eine Zahlungsunfähigkeit, die sich voraussichtlich in kurzer Zeit beheben lässt, stellt demnach nur eine Zahlungsstockung dar.27) Dagegen ist von einer relevanten Zahlungsunfähigkeit auszugehen, wenn eine Liquiditätslücke 10 % oder mehr der fälligen Gesamtverbindlichkeiten beträgt und nicht innerhalb von drei Wochen zu beseitigen ist. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt wird, und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist. Beträgt die Liquiditätslücke der Gesellschaft weniger als 10 % ihrer fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist von der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft auszugehen, es sei denn, aufgrund konkreter Umstände ist absehbar, dass die Liquiditätslücke demnächst auf über 10 % steigt.28) Um die Zahlungsunfähigkeit zu prüfen, sind Zahlungsmittel einerseits und Zahlungsverpflichtungen andererseits gegenüber zu stellen. Hierzu hat der Geschäftsführer erforderlichenfalls fachkundige Berater hinzuzuziehen. Zahlungsmittel sind alle im Zeitpunkt der Überprüfung verfügbaren Mittel der Gesellschaft. In Anlehnung an die Höchstfrist von drei Wochen bei der Abgrenzung zur Zahlungsstockung können alle innerhalb dieser Zeit sicher kurzfristig verwertbaren Gegenstände zu den Aktiva gezählt werden.29) Von den Zahlungsverpflichtungen der Gesellschaft ___________ 24) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 32. 25) BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860, dazu EWiR 2009, 493 (Kiem/ Giershausen). 26) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426, dazu EWiR 2005, 767 (Bruns); BGH, Urt. v. 8.10.2009 – IX ZR 173/07, ZIP 2009, 2253. 27) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426, dazu EWiR 2005, 767 (Bruns). 28) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426, dazu EWiR 2005, 767 (Bruns). 29) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 36 m. w. N.
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I. Haftung der Geschäftsführung
sind nach einhelliger Auffassung einrede- und einwendungsbehaftete Forderungen ausgenommen.30) Nach § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO wird Zahlungsunfähigkeit vermutet, wenn der 12 Schuldner die Zahlungen einstellt. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Dies kann z. B. gelingen, wenn nachgewiesen wird, dass die Gesellschaft ausreichend Zahlungsmittel hatte und lediglich zahlungsunwillig war, weil sie die Forderung für unbegründet hielt.31) (2)
Überschuldung
Der Begriff der Überschuldung richtet sich nach § 19 Abs. 2 InsO. Eine Über- 13 schuldung liegt grundsätzlich vor, wenn die bestehenden Verbindlichkeiten einer Gesellschaft von deren Vermögen nicht gedeckt sind. Um eine Überschuldung zu ermitteln, ist eine sog. Überschuldungsbilanz aufzustellen.32) Ergibt sich hieraus eine Unterdeckung, ist eine Fortführungsprognose durchzuführen.33) Die Fortführungsprognose fällt positiv aus, wenn nach sorgfältiger Finanzplanung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die Gesellschaft entgegen der derzeitigen Krise mindestens zum Ende des laufenden Geschäftsjahres die bestehenden Verbindlichkeiten erfüllen kann.34) Welche Zeitspanne eine solche Prognose umfassen muss, wird letztlich nicht einheitlich beurteilt. Nach der wohl h. M. werden Zeiträume befürwortet, die sowohl das laufende als auch das kommende Geschäftsjahr berücksichtigen.35) cc)
Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes, § 64 Satz 2 GmbHG Zahlung von Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung: BGH, Urt. v. 8.6.2009 – II ZR 147/08, ZIP 2009, 1468
Zahlungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar 14 sind, sind auch bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zulässig. Solche Zahlungen lösen keine Haftung aus. Dies ist insbesondere bei für die Gesellschaft günstigen Geschäften der Fall, die keine Masseverkürzung bewirken, da im Gegenzug für die Zahlung unmittelbar ein kompensierender Zufluss ein___________ 30) Uhlenbruck-Uhlenbruck, InsO, § 17 Rz. 12. 31) BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 = NZI 2012, 567, dazu EWiR 2012, 457 (Wackerbarth). 32) Wicke-Wicke, GmbHG, § 64 Rz. 5; vgl. zu Aktiva und Passiva der Überschuldungsbilanz Lutter/Hommelhoff-Kleindiek, GmbHG, Anhang zu § 64 Rz. 31; Moehlmann-Mahlau/ Schmitt, NZI 2009, 19, 22; Heeg, BB 2011, 1160, 1162. 33) Römermann-Wellensiek/Schluck-Amend, Münch-AHB GmbHR, § 23 Rz. 155. 34) Ulmer/Habersack/Winter-Casper, GmbHG, § 64 Rz. 50; s. zu weiteren Einzelheiten der Fortführungsprognose, Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 44 ff. 35) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 46b.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
tritt.36) Erlaubt sind ferner regelmäßig Zahlungen, die zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs notwendig sind.37) Eine Entlastung des Geschäftsführers über § 64 Satz 2 GmbHG ist auch denkbar, wenn die Zahlung i. R. eines schlüssigen und Erfolg versprechenden Sanierungskonzeptes erfolgt, da derartige Zahlungen in der Regel den Gläubigerinteressen entsprechen werden.38) Zulässig sind schließlich Zahlungen, bei deren Verweigerung strafrechtliche Sanktionen drohen.39) Hierunter fällt z. B. die Abführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung.40) 15
Praxishinweis Das Vorenthalten von Arbeitgeberanteilen zur Sozialversicherung ist hingegen nicht strafbedroht nach § 266a Abs. 1 StGB. Zahlt der Geschäftsführer nach Insolvenzreife der Gesellschaft solche Beiträge, kann dies eine Erstattungspflicht nach § 64 Satz 1 GmbHG auslösen.41)
dd)
Verschulden
16 Bereits ein fahrlässiger Verstoß gegen das Zahlungsverbot führt zu der Haftung des Geschäftsführers. Dieser muss insbesondere keine positive Kenntnis der Insolvenzreife haben. Eine Erkennbarkeit genügt insofern.42) Ein schuldhaftes Handeln des Geschäftsführers scheidet grundsätzlich aus, wenn er bei fehlender eigener Sachkunde den Rat eines fachlich qualifizierten Buchprüfers einholt, diesen ausreichend über alle wesentlichen zur Beurteilung erforderlichen Sachverhalte informiert und anschließend dessen Rat nach eigener Plausibilitätskontrolle befolgt.43) ee)
Darlegungs- und Beweislast
17 Die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen trifft die Gesellschaft bzw. deren Insolvenzverwalter.44) Für den Geschäftsfüh___________ 36) Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 239; BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, ZIP 2001, 235, EWiR 2001, 329 (Priester). 37) Bellen/Stehl, BB 2010, 2579, 2584; BGH, Beschl. v. 5.11.2007 – II ZR 262/06, ZIP 2008, 72 = NZI 2008, 1226. 38) Strohn, NZG 2011, 1161, 1166; Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 240. 39) BGH, Urt. v. 14.5.2007- II ZR 48/06, ZIP 2007, 126, dazu EWiR 2007, 495 (Henkel/ Mock). 40) BGH, Urt. v. 8.6.2009 – II ZR 147/08, ZIP 2009, 1468, dazu EWiR 2009, 675 (Vortmann). 41) BGH, Urt. v. 8.6.2009 – II ZR 147/08, ZIP 2009, 1468, dazu EWiR 2009, 675 (Vortmann). 42) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 84. 43) BGH, Urt. v. 14.4.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265, dazu EWiR 2007, 495 (Henkel/ Mock). 44) BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, ZIP 2009, 956, dazu EWiR 2009, 645 (Wilkens/ Breßler).
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rer günstige Tatsachen hat hingegen dieser darzulegen und zu beweisen. Dies gilt insbesondere für eine kompensierende Gegenleistung,45) die Einhaltung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes46) und fehlendes Verschulden.47) 18
Praxishinweis Der Geschäftsführer kann sich in der Regel nicht damit entlasten, dass er lediglich einen Gesellschafterbeschluss zur Zahlung ausführt, da der Ersatzanspruch grundsätzlich zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich sein wird.48)
b)
Insolvenzverursachung durch Zahlungen an Gesellschafter, § 64 Satz 3 GmbHG
Der Geschäftsführer haftet für Zahlungen an Gesellschafter, die erkennbar in 19 die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft münden.49) Mit diesem Erstattungsanspruch aus § 64 Satz 3 GmbHG soll der Gläubigerschutz ausgeweitet werden. In Ergänzung zu § 30 GmbHG sollen Vermögensverschiebungen zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern verhindert werden, die zwar das Stammkapital der Gesellschaft unberührt lassen, jedoch zur Illiquidität der Gesellschaft führen.50) Der Begriff der Zahlung in § 64 Satz 3 GmbHG ist nach h. M. ebenso auszulegen wie bei § 64 Satz 1 GmbHG (siehe hierzu ausführlich oben Rz. 7).51) Zahlungen sind demnach nicht nur Geldleistungen, sondern auch sonstige vergleichbare Leistungen zu Lasten des Gesellschaftsvermögens.52) Ein Schaden ist keine Haftungsvoraussetzung.53) Etwaig geflossene Gegenleistungen sind von dem Erstattungsanspruch in Abzug zu bringen.54) Den Geschäftsführer muss für eine Haftung Verschulden treffen, wobei Fahr- 20 lässigkeit ausreicht (siehe auch bereits oben Rz. 16).55) Eine Haftung scheidet aus, wenn für den Geschäftsführer auch unter Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennbar war, dass eine Zahlung die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft bedeutet.56) Steht § 64 Satz 3 GmbHG einer Zahlung ___________ 45) Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 54. 46) BGH, Urt. v. 18.6.2009 – II ZR 147/08, ZIP 2009, 1468, dazu EWiR 2009, 675 (Vortmann). 47) OLG München, Urt. v. 28.11.2007 – 7 U 5444/05, GmbHR 2008, 320, dazu EWiR 2008, 275 (M. Klein). 48) Bellen/Stehl, DB, 2010, 2579, 2584; vgl. §§ 64 Satz 4, 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG. 49) Vgl. auch § 130a Abs. 1 Satz 3 HGB, § 92 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Nr. 6 AktG. 50) Bellen/Stehl, BB 2010, 2579, 2584; Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 182 ff. 51) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 97; Knof, DStR 2007, 1536, 1537. 52) BT-Drucks. 16/6140, S. 46. 53) Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 76. 54) BT-Drucks. 16/6140, S. 47. 55) Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 64. 56) Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 238.
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entgegen, ändert auch ein Gesellschafterbeschluss über die Zahlung nichts an der Haftung.57) Eine entsprechende Weisung durch die Gesellschafter bindet den Geschäftsführer insofern nicht.58) 21 Die Darlegungs- und Beweislast für eine mögliche Exkulpation trifft den Geschäftsführer. Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind vom Anspruchsinhaber – hier in der Regel dem Insolvenzverwalter – darzutun und zu beweisen.59) aa)
Zahlungsempfänger
22 Nach dem Wortlaut von § 64 Satz 3 GmbHG löst nur die Zahlung an einen Gesellschafter den Ersatzanspruch aus. Eine Haftung kann daher insbesondere bei Konzernbeziehungen relevant werden, da in solchen Konstellationen häufig Zahlungen an Gesellschafter, z. B. i. R. von Cash-Pooling oder konzerninternen Leistungsbeziehungen, vorzunehmen sind.60) 23
Praxishinweis Insbesondere beim Cash-Pooling hat der Geschäftsführer nicht nur die Liquidität der eigenen Gesellschaft im Auge zu behalten. Vielmehr ist er gehalten, die Liquidität der Gesellschafter dahingehend zu beurteilen, ob sie in der Lage sind, die in den Cash-Pool eingebrachten Gelder bei Bedarf zurückzuzahlen.61)
24 Werden Verbindlichkeiten eines Gesellschafters bei Dritten beglichen, die mit diesem in einem wirtschaftlichen Näheverhältnis stehen, kommen die Leistungen ebenfalls dem Gesellschafter zugute, so dass auch solche Auskehrungen als Leistungen an den Gesellschafter zu qualifizieren sein können. Zu denken ist insoweit an Zahlungen i. R. eines Management-Buy-Outs oder nicht an die Mutter-, sondern an eine Schwestergesellschaft.62) Dasselbe wird auch mit Blick auf Zahlungen an Personen, zu denen der Gesellschafter ein besonderes persönliches Näheverhältnis hat, diskutiert, z. B. bei Zahlungen an enge Verwandte.63)
___________ 57) Scholz-K. Schmidt, GmbHG, § 64 Rz. 89, s. a. § 64 Satz 2 GmbHG i. V. m. § 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG. 58) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, ZIP 2012, 2391, dazu EWiR 2013, 75 (Bork). 59) Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 242. 60) Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 185. 61) Erne, GWR 2009, 387, Bellen/Stehl, BB 2010, 2579, 2582. 62) Niesert/Hohler, NZI 2009, 345, 439, Knof, DStR 2007, 1536, 1538; Ulmer/Habersack/ Winter-Caspar, GmbHG, § 64 Rz. 106. 63) Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 164.
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bb)
Kausale Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft Zahlung auf fällige und durchsetzbare Forderungen der Gesellschafter: BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, ZIP 2012, 2391
Die Zahlung muss ursächlich für die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft ge- 25 wesen sein (zum Begriff der Zahlungsunfähigkeit oben Rz. 11). Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers muss die Zahlung ohne Hinzutreten weiterer Kausalbeiträge zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen.64) Die Zahlung an den Gesellschafter braucht zwar weder der alleinige Grund für die Liquidität zu sein, noch muss die Zahlungsunfähigkeit unmittelbar mit der Auszahlung eintreten. Es muss sich aber klar abzeichnen, dass die Gesellschaft unter normalem Verlauf der Dinge ihre Verbindlichkeiten nicht mehr wird erfüllen können.65) Außergewöhnliche Ereignisse und Zwischenschritte sind dem Geschäftsführer nicht zuzurechnen.66) Ist die Gesellschaft bereits vor der Zahlung an die Gesellschafter zahlungsun- 26 fähig, scheidet eine Haftung nach § 64 Satz 3 GmbHG aus.67) Dies ist nach jüngster Rechtsprechung des BGH der Fall bei Zahlungen auf im insolvenzrechtlichen Sinne fällige und durchsetzbare Forderungen eines Gesellschafters, deren Berücksichtigung in der Liquiditätsbilanz bereits zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führt.68) Nach weit verbreiteter Literaturansicht sollten solche Gesellschafterforderungen bei der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit auszublenden sein.69) Dem ist der BGH nicht gefolgt. Eine Schutzlücke entsteht insoweit aus Sicht der Gesellschaft auch nicht. Der Geschäftsführer haftet nach § 64 Satz 1 GmbHG für geleistete Zahlungen, wenn die Gesellschaft unter Berücksichtigung der Gesellschafterforderung bereits zahlungsunfähig ist.70) Um nicht in die persönliche Haftung zu geraten, hat der Geschäftsführer eine 27 Solvenzprognose vorzunehmen, um beurteilen zu können, ob eine Zahlung zur Zahlungsunfähigkeit führen muss. Ist nach einer solchen Prognose die Zahlungsunfähigkeit überwiegend wahrscheinlich, darf die Zahlung nicht erfolgen.71) Das Gesetz schreibt die Art und Weise der Solvenzprüfung nicht vor. Voraussetzung ___________ 64) BT-Drucks. 14/6140, S. 46 f., vgl. auch Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 71. 65) BT-Drucks. 14/6140, S. 47. 66) OLG Celle, Urt. v. 9.5.2012 – 9 U 1/12, ZIP 2012, 2394 = DStR 2013, 55: Stützungszahlungen einer Muttergesellschaft. 67) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, ZIP 2012, 2391, dazu EWiR 2013, 75 (Bork). 68) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, ZIP 2012, 2391, dazu EWiR 2013, 75 (Bork). 69) Vgl. z. B. Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 167; Spliedt, ZIP 2009, 149, 159; Dahl/ Schmitz, NZG 2009, 567, 569. 70) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11; ZIP 2012, 2391, dazu EWiR 2013, 75 (Bork). 71) Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 72; Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 685.
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für eine wirksame Prognose wird aber ein ordnungsgemäß erstellter Finanzund Liquiditätsplan sein müssen.72) c)
Insolvenzverschleppung, § 43 Abs. 2 GmbHG
28 Der Geschäftsführer haftet der Gesellschaft über § 43 Abs. 2 GmbHG für Schäden, die dieser dadurch entstanden sind, dass er der Verpflichtung zur Insolvenzantragstellung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht richtig nachgekommen ist. aa)
Frist zur Insolvenzantragstellung
29 Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Insolvenzantrag ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit (zum Begriff der Zahlungsunfähigkeit siehe bereits oben Rz. 11) oder Überschuldung (zum Begriff siehe oben Rz. 13 f.) zu stellen. Diese Höchstfrist soll nur dann ausgeschöpft werden dürfen, wenn Aussicht auf eine Sanierung besteht und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.73) Die Frist beginnt bereits bei fahrlässiger Unkenntnis oder Erkennbarkeit der insolvenzauslösenden Tatbestände.74) 30
Praxishinweis Der Geschäftsführer sollte daher möglichst frühzeitig die Hilfe eines fachkundigen Beraters einholen, um nicht durch ein Fristversäumnis in die persönliche Haftung zu geraten. Fehlt der Geschäftsführung ausreichende persönliche Kenntnis und Fachkunde, ist sie sogar verpflichtet, sich entsprechend beraten zu lassen.75)
bb)
Verschulden
31 Die Haftung wegen Insolvenzverschleppung setzt Verschulden voraus, wobei einfache Fahrlässigkeit ausreicht.76) Das Verschulden wird vermutet. Der Geschäftsführer kann sich jedoch exkulpieren. Er muss in diesem Fall darlegen und beweisen, dass die Insolvenzreife ausnahmsweise nicht erkennbar war.77) Eine Erleichterung der Darlegungslast nach der sog. Business Judgement Rule78)
___________ 72) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 95. 73) Ulmer/Habersack/Winter-Caspar, GmbHG, § 64 Rz. 119. 74) Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 15a Rz. 14 m. w. N.; ähnlich BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, ZIP 2000, 184 = NJW 2000, 668. 75) BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 = NZI 2012, 567. 76) Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 181. 77) BGH, Urt. v. 14.5.2012 – II ZR 130/10, ZIP 2012, 1455 = NZI 2012, 708; Strohn, NZG 2011, 1161, 1162. 78) S. hierzu Baumbach/Hueck-Zöllner, GmbHG, § 43 Rz. 221.
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I. Haftung der Geschäftsführung
scheidet aus, weil die Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine unternehmerische Entscheidung ist.79) cc)
Gesellschafterweisung
Offen ist, ob der Geschäftsführer auch dann haftet, wenn die verzögerte Antrag- 32 stellung auf einer Weisung der Gesellschafter beruht. Eine solche Weisung kann die Ersatzpflicht des Geschäftsführers jedenfalls wegen § 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG nicht ausschließen, wenn der Ersatz zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich ist.80) dd)
Weitere Folgen für den Geschäftsführer
Die Verletzung der Pflicht zur rechtzeitigen und richtigen Antragstellung auf 33 Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist strafbewehrt mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe, vgl. § 15a Abs. 4 und Abs. 5 InsO. Ein wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung verurteilter Geschäftsführer kann zudem für die Dauer von fünf Jahren ab Rechtskraft des Urteils kein Geschäftsführer einer Gesellschaft sein (sog. Inhabilität), vgl. § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 lit. a GmbHG. Der Geschäftsführer verliert seine Organstellung mit Rechtskraft des Urteils kraft Gesetzes. Eine Abberufung ist nicht nötig.81) d)
Weitere Haftungstatbestände, § 43 Abs. 2 GmbHG
§ 43 Abs. 1 GmbHG verpflichtet den Geschäftsführer generell zur Einhaltung 34 der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns. Aus dieser allgemeinen Sorgfaltspflicht der Geschäftsführung entspringen auch Pflichten, die insbesondere während der wirtschaftlichen Krise des Unternehmens relevant werden. Kommt der Geschäftsführer diesen Pflichten schuldhaft nicht nach, haftet er gegenüber der Gesellschaft persönlich für einen dieser daraus entstandenen Schaden nach § 43 Abs. 2 GmbHG. So folgt aus § 43 Abs. 1 GmbHG mittelbar die Pflicht der Geschäftsführung, sich fortlaufend über alle wesentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft zu informieren. Nur auf ausreichender und aktueller Informationsgrundlage lassen sich Risiken frühzeitig erkennen und ist es der Geschäftsführung möglich, rechtzeitig geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Insofern wird angenommen, die Geschäftsführung habe die Organisation der Gesellschaft so zu strukturieren, dass jederzeit eine taggenaue Liquiditätsdarstellung verfügbar ist. Erforderlichenfalls sollen geeignete Corporate Compliance-Strukturen ___________ 79) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121; Fleischer in: MünchKommGmbHG, § 43 Rz. 82 und Müller in: MünchKomm-GmbHG, § 64 Rz. 25 billigen der Geschäftsführung in Insolvenzsituationen aber gewisse Diskretionsspielräume zu. 80) S. hierzu auch Baumbauch/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 165. 81) Bunnemann/Zirngibl-Bunnemann, Die GmbH in der Praxis, § 3 Rz. 173.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
implementiert werden müssen.82) Bei der konkreten Ausgestaltung der Unternehmensorganisation kann der Geschäftsführer i. R. seines unternehmerischen Ermessens handeln.83) 35 Des Weiteren kommt eine Haftung des Geschäftsführers in Betracht, falls er geeignete Sanierungsmaßnahmen nicht unternommen oder zumindest geprüft hat.84) Schließlich können Verstöße gegen ausdrücklich normierte Kapitalschutzpflichten eine persönliche Inanspruchnahme des Geschäftsführers über § 43 Abs. 2 GmbHG bedeuten. Insoweit ist insbesondere das Auszahlungsverbot des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zu nennen. So ist vor allem in Phasen der Unternehmenskrise zu prüfen, ob das Gesellschaftsvermögen unter Einbeziehung der Verbindlichkeiten ausreicht, um das Stammkapital abzudecken.85) Weisungen der Gesellschafter über Auszahlungen sind in solchen Fällen nicht bindend.86) 36 Im Zusammenhang mit der Insolvenzantragstellung kommt eine Haftung des Geschäftsführers nicht nur in Betracht, wenn er einen solchen Antrag trotz Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht richtig stellt (vgl. hierzu bereits oben Rz. 28 ff.). Vielmehr kann eine schuldhafte Pflichtverletzung gerade auch darin liegen, dass der Geschäftsführer einen Insolvenzantrag stellt, ohne dass eine Antragspflicht oder nur ein Antragsrecht bestand.87) Der zu ersetzende Schaden kann z. B. in der Vergütung des Insolvenzverwalters und den Kosten des Insolvenzverfahrens bestehen.88) Eine solche Ersatzpflicht kann insbesondere bei drohender Zahlungsunfähigkeit relevant werden. Bei drohender Zahlungsunfähigkeit besteht – anders als nach § 15a InsO bei Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit – keine Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags. § 18 Abs. 3 InsO räumt organschaftlichen Vertretern und persönlich haftenden Gesellschaftern in einer solchen Lage lediglich ein Antragsrecht ein. Nach der h. M. in der Literatur89) und einer jüngeren Entscheidung des OLG München90) soll der Geschäftsführer von diesem Antragsrecht nur Gebrauch machen dürfen, wenn er zuvor einen zustimmenden Gesellschafterbeschluss eingeholt hat. Besteht ein Entscheidungsspielraum, ob ein Insolvenzantrag gestellt wird, solle dieser durch die wirtschaftlichen Eigen___________ 82) Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack, GmbHG, § 43 Rz. 17; Bellen/Stehl, BB 2010, 2579, 2580. 83) Baumbach/Hueck-Zöllner/Noack, GmbHG, § 43 Rz. 17. 84) Kleindiek in: FS Schneider, S. 617, 619 ff.; Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 161a. 85) Gogger, Insolvenzgläubiger-Hdb., § 3 Rz. 571. 86) Gogger, Insolvenzgläubiger-Hdb., § 3 Rz. 571. 87) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121. 88) S. OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121. 89) Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593 m. w. N. 90) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121.
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I. Haftung der Geschäftsführung
tümer der Gesellschaft ausgefüllt werden, da aus deren Sicht eine Insolvenzverfahrenseröffnung letztlich einer Auflösung der Gesellschaft gleichkomme.91) 3.
Haftung im Außenverhältnis
Grundsätzlich haftet die Gesellschaft geschädigten Dritten bei Pflichtverlet- 37 zungen von Geschäftsführern, da dieser das Handeln ihrer Organmitglieder zugerechnet wird. Eine persönliche Haftung des Geschäftsführers kommt aber in Betracht, wenn er gegen drittschützende Normen verstößt oder z. B. i. R. von Vertragsverhandlungen besonderes persönliches Vertrauen des Geschäftspartners in Anspruch nimmt. a)
Insolvenzverschleppung, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO Verjährung des Anspruchs auf Ersatz des Neugläubigerschadens: BGH, Urt. v. 15.3.2011 – II ZR 204/09, ZIP 2011, 1007 = NZG 2011, 624
Die Regelung zur Insolvenzantragspflicht ist nach ständiger Rechtsprechung 38 des BGH ein Schutzgesetz zum Wohle der Gesellschaftsgläubiger.92) Die schuldhafte verspätete oder nicht ordnungsgemäße Antragstellung (vgl. hierzu bereits ausführlich oben Rz. 28 ff.) kann daher zu einer Inanspruchnahme des Geschäftsführers durch die Gläubiger der Gesellschaft nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO führen. Mit Blick auf den Haftungsumfang ist zwischen Alt- und Neugläubigern zu 39 unterscheiden. Altgläubiger haben ihre Forderung vor dem Zeitpunkt erworben, zu dem die Gesellschaft Insolvenz hätte anmelden müssen. Neugläubiger sind dementsprechend alle Gläubiger, die ihre Forderung nach diesem Zeitpunkt erworben haben.93) x
Altgläubiger erleiden einen Schaden, weil sich die Quote, die sie auf ihre Forderung erhalten, durch die Insolvenzverschleppung verschlechtert hat. Sie können daher nur die Differenz zwischen der bei rechtzeitiger Antragstellung erreichbaren und der tatsächlich erzielten Insolvenzquote (sog. „Quotenschaden“) vom Geschäftsführer ersetzt verlangen.94)
x
Dagegen können Neugläubiger den Ersatz ihres gesamten Schadens verlangen, den sie durch die verspätete Antragstellung erlitten haben. Ersatz-
___________ 91) OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121; zustimmend Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593. 92) BGH, Urt. v. 15.3.2011 – II ZR 204/09, ZIP 2011, 1007 = NZG 2011, 624; BGH, Urt. v. 16.12.1958 – VI ZR 245/57, NJW 1959, 623. 93) BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 = NJW 1994, 2220; BGH, Urt. v. 15.2.2007 – II ZR 234/05, ZIP 2007, 790. 94) Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 102; Strohn, NZG 2011, 1161, 1162.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
fähig ist das sog. negative Interesse.95) Mit dem BGH ist davon auszugehen, dass ausschließlich vertragliche Ansprüche dem besonderen Neugläubigerschutz unterfallen.96) 40 Neugläubiger können Leistung direkt an sich verlangen.97) Altgläubiger hingegen können ihre Ansprüche nicht selbst geltend machen, sondern diese werden vom Insolvenzverwalter für eine Sondermasse zu Gunsten der Altgläubiger verfolgt.98) Nur bei Verfahrensabweisung mangels Masse können Altgläubiger ihre Ansprüche eigenständig verfolgen.99) b)
Vorsätzliche sittenwidrige Insolvenzverschleppung, § 826 BGB Ersatz gezahlten Insolvenzgeldes: BGH, Urt. v. 18.12.2007 – VI ZR 231/06, ZIP 2008, 361 = NZI 2008, 242
41 Einer vorsätzlichen sittenwidrigen Insolvenzverschleppung kommt insbesondere dann Relevanz zu, wenn der Geschädigte nicht vom Schutzbereich des § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO erfasst ist. Dies gilt z. B. für den Fall, dass die Bundesagentur für Arbeit, die in Folge von Lohnrückständen Insolvenzgeld an die Arbeitnehmer der insolventen Gesellschaft ausgezahlt hat, den Geschäftsführer wegen verspäteter Insolvenzantragstellung in Anspruch nehmen möchte.100) Eine Haftung scheidet dabei aber aus, wenn die Arbeitsverwaltung Insolvenzgeld auch bei rechtzeitiger Antragstellung hätte zahlen müssen.101) 42 Eine Haftung aus § 826 BGB entfällt generell, wenn der Geschäftsführer einen Antrag unterlassen hat, weil er die Unternehmenskrise nach den konkreten Umständen für überwindbar bzw. Sanierungsbemühungen als erfolgversprechend ansehen durfte.102) Hierfür trägt er die Darlegungslast.103) Im Rahmen
___________ 95) BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 = NJW 1994, 2220; BGH, Urt. v. 27.4.2009 – II ZR 253/07, ZIP 2009, 1220 = NZG 2009, 750. 96) BGH, Urt. v. 25.7.2005 – II ZR 390/03, ZIP 2005, 1734 = NJW 2005, 3137; BGH, Urt. v. 14.5.2012 – II ZR 130/10, ZIP 2012, 1455 = NZI 2012, 708; so auch Rodewald, GmbHR 2009, 1301, 1303, a. A. Wagner/Bronny, ZInsO 2009, 622, 623. 97) BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 108/93, NJW 1995, 398, 399 = ZIP 1995, 211. 98) BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, NJW 1998, 2667; Dauner-Lieb, ZGR 1998, 617, 627. 99) Henssler/Strohn-Arnold, Gesellschaftsrecht, § 64 Rz. 103. 100) BGH, Urt. v. 18.12.2007 – VI ZR 231/06, ZIP 2008, 361 = NZI 2008, 242; Wagner/ Bronny, ZInsO 2009, 622, 624. 101) BGH, Urt. v. 18.12.2007 – VI ZR 231/06, ZIP 2008, 361 = NZI 2008, 242. 102) BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 180/90, ZIP 1991, 1140 = NJW-RR 1991, 1312. 103) BGH, Urt. v. 18.12.2007 –VI ZR 231/06, ZIP 2008, 361 = NZI 2008, 242.
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I. Haftung der Geschäftsführung
von § 826 BGB ist nicht nur der Vertrauensschaden, sondern auch das positive Interesse zu ersetzen.104) c)
Verschulden bei Vertragsverhandlungen, § 311 Abs. 2 BGB
Eine Haftung wegen Verschulden bei Vertragsverhandlungen (§§ 280 Abs. 1, 311 43 Abs. 2 und 3, 241 Abs. 2 BGB) kann greifen, wenn der Geschäftsführer Verbindlichkeiten für die Gesellschaft eingeht und dabei die Insolvenzreife verschweigt.105) Grundsätzlich ist Anspruchsgegner in diesem Fall die Gesellschaft, da diese vom Geschäftsführer beim Vertragsschluss vertreten wird. Der Geschäftsführer haftet nach der Rechtsprechung nur dann persönlich, wenn er entweder ein wirtschaftliches Eigeninteresse an dem Rechtsgeschäft hatte oder besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat.106) Eine Eigenhaftung des Geschäftsführers wegen wirtschaftlichen Eigeninteres- 44 ses kommt praktisch nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht. So genügt nach der Rechtsprechung für die Annahme eines wirtschaftlichen Eigeninteresses nicht, dass der Geschäftsführer Allein- oder Mehrheitsgesellschafter ist,107) eine Provision für den Abschluss eines bestimmten Rechtsgeschäfts erhalten soll,108) dingliche Sicherheiten stellt oder Bürgschaften übernimmt.109) In Betracht kommt eine Inanspruchnahme wegen Verschulden bei Vertrags- 45 schluss eher, wenn der Geschäftsführer besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat, welches über das bei Verhandlungen übliche Vertrauen hinausgeht.110) Behauptet der Geschäftsführer etwa nur, dass er bestimmte Zahlungsvorgänge persönlich überwachen wird, nimmt er kein besonderes Vertrauen in Anspruch, da solche Handlungen zu seinem üblichen Arbeitsbereich zählen.111) Gleiches gilt, wenn der Geschäftsführer erklärt, dass finanzielle Mittel für das Unternehmen kein Problem seien oder dass keine finanziellen Schwierigkeiten bestünden.112) Erklärt er aber darüber hinaus explizit, er habe vor Übernahme der persönlichen Haftung als Gesellschafter die Vermögenssituation überprüft und sei sich sicher, dass eine bestimmte Zahlung geleistet werden kann, wird von der Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens aus___________ 104) 105) 106) 107) 108) 109) 110) 111) 112)
Drescher, Haftung des GmbH-Geschäftsführers, Rz. 301. Drescher, Haftung des GmbH-Geschäftsführers, Rz. 852; Poertzgen, ZInsO 2010, 416. BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 180/90, ZIP 1991, 1140 = NJW-RR 1991, 1312. BGH, Urt. v. 15.7.2002 – II ZR 225/00, DStR 2002, 1541; OLG Köln, Urt. v. 10.7.1996 – 27 U 109/95, BB 1997, 12. BGH, Urt. v. 16.3.1992 – II ZR 152/91, ZIP 1992, 694 = DStR 1992, 954. BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 = NJW 1994, 2220. Drescher, Haftung des GmbH-Geschäftsführer, Rz. 859. OLG Köln, Urt. v. 1.9.1999 – 2 U 19/99, DStR 2000, 1662. BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 = NJW 1994, 2220; OLG Köln, Urt. v. 10.7.1996 – 27 U 109/95, BB 1997, 112.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
zugehen sein.113) Dasselbe gilt, wenn der Geschäftsführer ausdrücklich Garantien abgibt. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Gesellschafter-Geschäftsführer verspricht, bei Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in jedem Fall Kapital nachzuschießen.114) Schließlich ist eine persönliche Haftung denkbar, wenn der Geschäftsführer bei Vertragsgesprächen seine außergewöhnliche Sachkunde über Gebühr betont oder explizit darauf hinweist, dass ein maßgebliches Herstellungsverfahren von ihm persönlich entwickelt wurde.115) d)
Weitere Haftungstatbestände
46 Eine Außenhaftung des Geschäftsführer kann sich auch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. strafrechtlichen Schutzgesetzen ergeben. Zu nennen sind hier insbesondere Betrug (§ 263 StGB) und Bankrott (§ 283 StGB).116) Praktische Relevanz hat vor allem die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266a StGB wegen des Nichtabführens von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung (s. hierzu bereits oben Rz. 14). Dabei soll der Geschäftsführer nicht für entstandene Säumniszuschläge nach § 24 Abs. 1 SGB IV haften.117) Zudem haftet der Geschäftsführer nach §§ 34, 69 AO für vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht abgeführte Steuern der GmbH. Diese Haftung soll auch dann nicht ausgeschlossen sein, wenn die Nichtzahlung der fälligen Steuern in die Drei-Wochen-Frist des § 15a Abs. 1 InsO fällt.118) II.
Haftung von Beratern
47 Eine Haftung von Beratern kommt in der Krise insbesondere in Betracht, wenn die Insolvenzreife der Gesellschaft nicht oder nicht rechtzeitig erkannt wird. Eine Pflichtverletzung des Beraters kann aber z. B. auch vorliegen, wenn er gegenüber der Gesellschaft in Krisenzeiten i. R. der Prüfung verschiedener Handlungsmöglichkeiten nur eine Variante als alternativlos darstellt, obwohl verschiedene Wege aus der Krise heraus möglich sind.119) Auch die Haftung des Beraters kennt mehrere Richtungen. Berater können grundsätzlich gegenüber der Gesellschaft, dem Geschäftsführer oder aber auch gegenüber den Gesellschaftsgläubigern ersatzpflichtig sein.
___________ 113) OLG Zweibrücken, Urt. v. 25.10.2001 – 4 U 71/00, NZG 2002, 423. 114) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 248/99, ZIP 2001, 1496 = NZG 2001, 888; Drescher, Haftung des GmbH-Geschäftsführers, Rz. 867 ff. 115) Drescher, Haftung des GmbH-Geschäftsführers, Rz. 864 ff. 116) Vgl. hierzu ausführliche Darstellung bei Bitter, ZInsO 2010, 1561, 1568 ff. 117) BFH, Urt. v. 14.7.2008 – II ZR 238/07, DStR 2008, 2169, 2170 = ZIP 2008, 2075. 118) BGH, Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, ZIP 2009, 122. 119) Ehlers, BB 2013, 1539.
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II. Haftung von Beratern
1.
Haftung gegenüber der Gesellschaft
a)
Vertragliche Haftung Aufklärungspflichten des Rechtsanwalts bei Zahlungsunfähigkeit: BGH, Urt. v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, ZIP 2001, 33 = NJW 2001, 517
Die fehlerhafte Beurteilung der Insolvenzreife durch den Berater kann dessen 48 Haftung aus positiver Vertragsverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) auslösen. Entscheidend kommt es dabei auf die konkret im Geschäftsbesorgungs- oder Werkvertrag vereinbarte Leistungspflicht an. Ist eine Gesellschaft erkennbar zahlungsunfähig und besteht die Aufgabe des Beraters (auch) darin, sich mit dieser Zahlungsunfähigkeit zu befassen, obliegt es ihm, die Geschäftsleitung über die Pflicht zur Insolvenzantragstellung und das Verbot, Zahlungen zu leisten, aufzuklären.120) Eine diesbezügliche Pflichtverletzung wird eindeutig zu bejahen sein, wenn die explizite Frage nach der Insolvenzreife falsch beantwortet wird.121) Aus Sicht des Beraters kommt es daher maßgeblich darauf an, Inhalt und Umfang der geschuldeten Beratungsleistungen exakt abzugrenzen. Die mündliche Unterredung über die Insolvenzantragspflicht kann als Prüfauftrag mit entsprechenden Haftungsfolgen gewertet werden.122) 49
Praxishinweis Es kann daher für den Berater ratsam sein, sich im Anschluss an entsprechende Unterredungen schriftlich abzusichern, dass aus dem Gespräch kein Prüfauftrag hervorgegangen ist.123) Dadurch können Missverständnisse über die Reichweite der geschuldeten Beratungsleistungen vermieden werden.
Liegt kein expliziter Prüfauftrag mit Blick auf die Pflicht zur Insolvenzantrag- 50 stellung vor, ist streitig, ob der Berater, der anlässlich seines Auftrags – z. B. Steuerberater bei der Bilanzerstellung – die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft erkennt, verpflichtet ist, die Geschäftsführung hierauf hinzuweisen. Teilweise wird eine solche vertragliche Nebenpflicht bejaht.124) Der BGH hat eine solche Nebenpflicht kraft überlegenen Wissens jüngst erst ab
___________ 120) BGH, Urt. v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, ZIP 2001, 33 = NJW 2001, 517. 121) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 = NJW 2012, 3165; Commandeur/ Utsch, NZG 2012, 1376. 122) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 = NJW 2012, 3165. 123) So auch Schwarz, NZI 2012, 869, 873. 124) OLG Schleswig, Urt. v. 2.9.2011 – 17 U 14/11, NZG 2012, 307; LG Saarbrücken, Urt. v. 28.11.2011 – 9 O 261/10, Beck RS 2012, 04834; Gräfe, DStR 2010, 618, 621; Zugehör, NZI 2008, 652, 654.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
gelehnt.125) Danach handelt es sich bei der Prüfung der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft um eine originäre Geschäftsführungsaufgabe.126) Schuldet der Berater nach dem Inhalt des Prüfauftrags zwar keinen Hinweis auf die Pflicht zur Insolvenzantragstellung, haftet er der Gesellschaft aber gleichwohl, wenn er dennoch zu dieser Frage Stellung nimmt und fehlerhaft eine insolvenzrechtliche Überschuldung ablehnt.127) Der Berater läuft daher auch dann Gefahr, für die Vollständigkeit und Richtigkeit seiner Angaben einstehen zu müssen, wenn er über seinen eigentlichen Auftrag hinausgehend berät.128) b)
Vertragliche Haftungsbeschränkungen
51 Der Berater muss die Verletzung des Beratungsvertrages zu vertreten haben. Sein Verschulden wird nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB vermutet. Für eine mögliche Exkulpation trägt er die Darlegungs- und Beweislast. Aufgrund des erheblichen Haftungsrisikos bietet es sich an, die Haftung vertraglich zu beschränken. Möglichkeiten und Reichweite solcher Haftungsbeschränkungen sind allerdings begrenzt. Da Inhalt des Beratervertrages eine möglichst gute und richtige Beratung ist, kommt eine vereinbarte Haftungsbeschränkung wegen einer Falschberatung nur in stark eingeschränktem Maße in Betracht. Der Ausschluss einer Haftung für vorsätzliches Verhalten scheitert an § 276 Abs. 3 BGB. Haftungsausschlüsse für grob fahrlässige Verhaltensweisen verstoßen im Regelfall gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.129) Aber auch die Haftung für einfache Fahrlässigkeit soll nur bei Nennung eines besonderen Grundes ausgeschlossen werden können.130) Bei fahrlässigem Fehlverhalten hat der Gesetzgeber jedenfalls Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern die Möglichkeit eröffnet, durch schriftliche Vereinbarung im Einzelfall den Schadenersatz bis zur Höhe der Mindestversicherungssumme zu beschränken.131) 52 In allgemeinen Geschäftsbedingungen ist eine Freizeichnung für grob fahrlässige Pflichtverletzungen von vorneherein unwirksam, vgl. § 309 Nr. 7 lit. b BGB. Bei leichter Fahrlässigkeit lässt das Berufsrecht bei Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern in allgemeinen Geschäftsbedingungen einen Haftungs-
___________ 125) BGH, Urt. v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, ZIP 2013, 829 = DB 2013, 928; vgl. auch OLG Celle, Urt. v. 6.4.2011 – 3 U 190/10, DStR 2012, 539. 126) BGH, Urt. v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, ZIP 2013, 829 = DB 2013, 928; Kaiser-Oetjen, DStR 2011, 2488, 2489. 127) BGH, Urt. v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, ZIP 2013, 1332 = DB 2013, 1542. 128) Schaaf/Mushardt, DB 2013, 1890, 1891. 129) Nerlich/Kreplin/Henn-Riering, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 22 Rz. 60. 130) Nerlich/Kreplin/Henn-Riering, Münch-AHB Sanierung und Insolvenz, § 22 Rz. 61. 131) Vgl. § 51a Abs. 1 BRAO, § 67a Abs. 1 StBerG, § 54a Abs. 1 WPO; vgl. auch Bamberger/ Roth-Fuchs, BeckOK-BGB, § 611 Rz. 100.
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II. Haftung von Beratern
ausschluss bis zur Höhe des vierfachen Betrags der Mindestversicherungssumme zu, wenn insoweit Versicherungsschutz besteht.132) 2.
Haftung gegenüber dem Geschäftsführer
a)
Vertragliche Haftung
Der Beratungsvertrag wird in der Regel zwischen der Gesellschaft und dem Be- 53 rater geschlossen. Vertragliche Ansprüche zwischen Geschäftsführer und Berater bestehen daher grundsätzlich nicht. Der Beratervertrag ist in der Regel auch kein sog. Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB), da der Geschäftsführer nicht Empfänger der geschuldeten Leistung ist und auch nicht berechtigt ist, diese an sich zu fordern.133) b)
Haftung aufgrund Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Drittschutz aus Steuerberatervertrag: BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 = NJW 2012, 3165
In Betracht kommt allerdings eine Haftung gegenüber der Geschäftsführung 54 wegen der mangelnden Aufklärung über die Insolvenzreife nach den Grundsätzen über den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter.134) Die notwendige Leistungsnähe von Geschäftsführern wird in der Regel ebenso anzunehmen sein wie das Einbeziehungsinteresse und die jeweilige Erkennbarkeit, da Haftungsrisiken des Geschäftsführers vorliegen und die Stellung des Insolvenzantrags maßgebliche Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Gesellschaft hat. Diese Umstände – insbesondere die haftungsrechtlichen Risiken – sind dem Berater normalerweise bekannt bzw. sollten es sein.135) Ob auch die erforderliche Schutzbedürftigkeit des Geschäftsführers vorliegt, 55 hängt im Wesentlichen vom Gegenstand des jeweiligen Beratervertrags ab. Nach jüngster Rechtsprechung des BGH kann der Geschäftsführer in den Schutzbereich des Vertrags einbezogen sein, wenn die Prüfung der Insolvenzreife geschuldet ist.136) Eine Schutzbedürftigkeit liegt in diesem Fall nahe, weil im
___________ 132) § 51 Abs. 1 Nr. 2 BRAO, § 67a Abs. 1 Nr. 2 StBerG, § 54a Abs. 1 Nr. 2 WPO. 133) Ebenso Gräfe, DStR 2010, 669, 671. 134) Ausführlich zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter beim Beratervertrag Zugehör, NJW 2008, 1105. 135) Commandeur/Utsch, NZG 2012, 1376, 1378. 136) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 = NJW 2012, 3165.
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§ 17 Haftung von Geschäftsführung und Beratern vor Insolvenz
Regelfall nur der Geschäftsführer zur Insolvenzantragstellung befugt ist. Das Ergebnis der Prüfung ist damit „für dessen Gebrauch“ bestimmt.137) 56
Praxishinweis Im Rahmen eines bestehenden Mandats kann eine mündliche Abrede ausreichen, um die Prüfung der Insolvenzreife zum Vertragsgegenstand zu machen.138)
57 Ist die Prüfung der Insolvenzreife z. B. in einem allgemeinen Dauermandat nicht Gegenstand des Beratervertrages, scheidet die Haftung nach den Grundsätzen über den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter im Regelfall aus. Es fehlt nach Auffassung des BGH bereits an einer Hinweispflicht gegenüber der Gesellschaft, so dass erst recht keine Pflicht gegenüber Dritten bestehen soll.139) 58 Ist der Geschäftsführer in den Schutzbereich eines Vertrages einbezogen, hat er auch die Prozessführungsbefugnis inne, da es sich um einen sog. Individualschaden handelt.140) Der Schadenersatzanspruch ist eventuell um den Teil zu kürzen, den der Geschäftsführer i. S. eines Mitverschuldens nach § 254 BGB selbst zu vertreten hat.141) 3.
Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern
a)
Vertragliche Haftung
59 Eine vertragliche Haftung gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft kann sich nur in seltenen Ausnahmefällen ergeben, wenn diese z. B. als Empfänger eines für einen Vertragsabschluss maßgeblichen Gutachtens in den Schutzbereich eines Vertrags einbezogen sind.142) Im Regelfall besteht jedoch keine Schutzwirkung des Beratervertrages zugunsten der Insolvenzgläubiger.143) b)
Deliktische Haftung/strafrechtliche Relevanz
60 Gegenüber Gesellschaftsgläubigern kann der Berater insbesondere durch eine Beihilfe zur Insolvenzverschleppung (§ 823 Abs. 2 BGB, § 15a Abs. 1 InsO ___________ 137) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 = NJW 2012, 3165; LG Wuppertal, Urt. v. 6.7.2011 – 3 O 359/10, NZI 2011, 877; ähnlich auch bereits BGH, Urt. v. 13.10.2011 – IX ZR 193/10, ZIP 2011, 2475 = DStRE 2012, 844 für die Einbeziehung des Geschäftsführers in ein Umsatzsteuermandat bei steuerlicher Inhaftungsnahme des Geschäftsführers. 138) BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 = NJW 2012, 3165; Schwarz, NZI 2012, 869, 873; Cymutta, BB 2012, 3151, 3156. 139) BGH, Urt. v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, ZIP 2013, 829 = DB 2013, 928, ebenso OLG Köln, Urt. v. 23.2.2012 – 8 U 45/11, NZG 2012, 504. 140) Zugehör/Fischer/Vill/Fischer/Rinkler/Chab-Zugehör, Hdb. Anwaltshaftung, Rz. 1719. 141) Fischer, VersR 2013, 526, 531. 142) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 174b. 143) Zugehör, NZI 2008, 652, 658.
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II. Haftung von Beratern
i. V. m. § 830 Abs. 2 BGB) in die Haftung geraten. Die Voraussetzungen für die Beihilfe richten sich nach strafrechtlichen Grundsätzen.144) Im Falle der Insolvenzverschleppung bedarf es dabei seitens des Beraters sowohl des Vorsatzes hinsichtlich der Insolvenzverschleppung selbst auch hinsichtlich des Hilfeleistens.145) Der Grat zwischen strafloser Beratung und strafrechtlich relevanter Beihilfe soll bereits überschritten sein, wenn der Haupttäter darauf abzielt, strafbare Handlungen vorzunehmen und der potenzielle Gehilfe dies weiß.146) Dabei ist auch die psychische Hilfeleistung zugunsten des Antragspflichtigen erfasst.147) Erkennt der Berater, dass die Gesellschaft überschuldet bzw. zahlungsunfähig ist und der Geschäftsführer den Antrag nicht stellen will, kann es ratsam sein, vorsichtshalber das Mandat niederzulegen, um keine zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 15a Abs. 4 und Abs. 5 Inso) zu riskieren.148) Die Haftung eines Beraters als Teilnehmer einer Insolvenzverschleppung erstreckt sich dabei nicht auf Neugläubigerschäden, die ohne sein Wissen durch den Geschäftsführer während der Dauer der Insolvenzverschleppung verursacht worden sind.149)
___________ 144) 145) 146) 147)
BGH, Urt. v. 25.7.2005 – II ZR 390/03, ZIP 2005, 1734 = NJW 2005, 3137. Lange, DStR 2007, 954, 959. Frege, NZI 2006, 545, 551. Cymutta, BB 2012, 3151, 3156, wonach die Hilfe zur Aufrechterhaltung des laufenden Geschäftsbetriebs bereits als Bestärkung gewertet werden kann, den Insolvenzantrag nicht zu stellen. 148) Baumbach/Hueck-Haas, GmbHG, § 64 Rz. 174. 149) BGH, Urt. v. 25.7.2005 – II ZR 390/03, ZIP 2005, 1734 = NJW 2005, 3137.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht Übersicht I. Einleitung........................................... 1 II. Beihilfen in Sanierungssituationen – Förderungen für „Unternehmen in der Krise“ ........... 3 1. Allgemein: Europarechtliche Rahmenbedingungen.......................... 4 a) Grundsatz .................................... 5 b) Ausnahmen .................................. 6 c) Mögliche Sanktionen................... 8 2. Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen ..................................... 9 3. Fazit................................................... 13 III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen............................ 16 1. GRW-Zuschüsse............................... 19 a) Rechtliche Grundlagen ............. 20 b) Wesentliche arbeitsplatzbezogene Verpflichtungen des Zuwendungsempfängers ........... 23 c) Sanktionsmöglichkeiten............ 28 d) In der Praxis typische Rückforderungsszenarien/ -konstellationen......................... 33
2.
aa) Verfehlung von Arbeitsplatzvorgaben ..................... 36 bb) Veräußerung des Unternehmens bzw. von Unternehmensteilen .......... 41 cc) Sonderproblem: Insolvenz... 48 e) Gestaltungsmöglichkeiten/ praktische Hinweise.................. 51 aa) Frühzeitige und proaktive Abstimmung mit den Förderbehörden .......... 52 bb) Konkrete Lösungsmöglichkeiten ............................ 57 Investitionszulagen (IZ) .................. 58 a) Grundlagen und wesentliche Verpflichtungen des Zuwendungsempfängers, Sanktionsmöglichkeiten............ 61 b) In der Praxis typische Rückforderungsszenarien/ -konstellationen......................... 67 c) Gestaltungsmöglichkeiten/ praktische Hinweise.................. 70
Literatur: Bartosch, Das Risikopotenzial der Beihilferechtswidrigkeit staatlicher Bürgschaften für den Kreditgeber, EuZW 2001, 650; Blümich (Hrsg.), EStG, KStG, GewStG, Kommentar, Stand: 118. EL 2013; Brinkmann, Teilentgeltliche Unternehmensnachfolge im Mittelstand, 2005; Bungenberg/Motzkus, Die Praxis des Subventions- und Beihilferechts in Deutschlans, WiVerw 2013/2, 73; Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., 2011; Ehricke, Die neuen Leitlinien der EG-Kommission über Sofortund Umstrukturierungsbeihilfen, EuZW 2005, 71; Ehricke, Grundprobleme staatlicher Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten, WM 2001, Sonderbeil. Nr. 3, S. 3; Fehr, Die neuen Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten, ZIP 2004, 2123; Fischer, Rechtsfolgen des Beihilfeverbots für öffentliche Bürgschaften, WM 2001, 277; Geiger/ Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 5. Aufl., 2010; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: 50. EL 2013; Haupt, Das Investitionsgesetz 2010 – der Anfang vom Ende der Investitionszulage, DStR 2009, 1070; Heidenhain (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Beihilfenrechts, 2003; Hildebrandt, Inkrafttreten des 28. Rahmenplanes der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur für den Zeitraum 1999 bis 2002 (2003), LKV 1999, 441; Hümmerich/ Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, 2. Aufl., 2011; Johlen (Hrsg.), Münchener Prozessformularbuch, 3. Aufl., 2009; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, Kommentar, 4. Aufl., 2013; Klein (Hrsg.), Kommentar zur AO, 11. Aufl., 2012; Kleinbrink, Arbeitsrechtliche Möglichkeiten zur Verringerung des Volumens der Arbeitszeit, DB 2009,
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht 342; Koenig/Wetzel, Beihilfenrückforderung nach einer Neuvergabe der Betriebsprüfung, EuZW 2006, 653; Krämer/Schmidt, Zuwendungsrecht – Zuwendungspraxis, 109. EL 2013; Lahme/Reiser, Verbindliche Auskünfte und Gebührenpflicht, BB 2007, 408; Lübbig/ Martín-Ehlers, Beihilfenrecht der EU, 2. Aufl., 2009; Montag/Säcker, Münchener Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, Bd. 3, 2011; Peterson/Kroschel, Das Investitionszulagengesetz, BB 2006, 1415; Petrak, Kurzarbeit, NZA-Beil. 2010, 44; Roth, Das (vorläufige) Ende der Investitionszulage – Investitionszulagengesetz 2010, SteuK 2010, 489; Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl., 2011; Soltész/Marquier, Härtere Zeiten für notleidende Unternehmen? – Die neuen Kommissionsleitlinien für Rettungsund Umstrukturierungsbeihilfen, EWS 2005, 241; Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 7. Aufl., 2008; Stuhrmann, Schwerpunkte des BMF-Schreibens vom 28.6.2001 zur Anwendung des Investitionszulagengesetzes 1999, DStR 2001, 1409; Tetsch/Benterbusch/Letixerant, Die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 1996.
I.
Einleitung
1 Beihilfen, also staatliche Förderungen an gewerbliche Unternehmen, können im Zusammenhang mit dem Sanierungs-Arbeitsrecht erhebliche Bedeutung erlangen. In der Praxis spielen in Situationen, in denen ein Unternehmen Sanierungsbedarf hat, typischerweise zwei Konstellationen insoweit eine Rolle: x
Zum einen stellen sich solche Unternehmen zumeist die Frage, ob sie i. R. anstehender Sanierungen staatliche Unterstützung bekommen können. Häufig wird dies verbunden mit dem Hinweis, dass anderenfalls ein Abbau von Arbeitsplätzen drohe.
x
Zum anderen kommt es im Sanierungsfall immer wieder auch zu möglichen Rückforderungsszenarien hinsichtlich bereits gewährter Förderungen: Hat ein Unternehmen in der Vergangenheit staatliche Förderungen erhalten, die etwa an die Schaffung und Besetzung einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätzen geknüpft sind, kann es infolge einer Sanierung zu einer Rückforderung dieser Förderungen kommen.
2 Diese beiden typischen Konstellationen sollen im Folgenden aus beihilfe- und förderrechtlicher Sicht näher dargestellt werden. II.
Beihilfen in Sanierungssituationen – Förderungen für „Unternehmen in der Krise“
3 So naheliegend der Ruf nach staatlicher Unterstützung für Unternehmen in der Krise sein mag, so eng sind die rechtlichen Voraussetzungen hierfür: Staatliche Unterstützungen für Unternehmen unterliegen allgemein einem strengen europarechtlichen Rahmen, da sie zu Wettbewerbsverzerrungen führen können (dazu unter Rz. 4 ff.). Dies gilt insbesondere für Unternehmen in der Krise: Wird ein Unternehmen zum Sanierungsfall, basiert dies entweder auf Managementfehlern oder aber auf strukturellen Marktveränderungen. Erhält ein solches Unternehmen staatliche Unterstützung, kann dies im Ergebnis dazu führen, dass notwendige Anpassungsprozesse unterbleiben oder aber „überkommene“
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Hildebrandt
II. Beihilfen in Sanierungssituationen – Förderungen für „Unternehmen in der Krise“
Marktverhältnisse perpetuiert werden.1) Insofern ist das europäische Beihilfenrecht ausgesprochen restriktiv bei staatlichen Unterstützungen in Sanierungsfällen.2) Generell sind staatliche Unterstützungsmaßnahmen für Sanierungsfälle nur nach den sehr engen Voraussetzungen für Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen zulässig (dazu unter Rz. 9 ff.). 1.
Allgemein: Europarechtliche Rahmenbedingungen
Jedwede staatliche Förderung für Unternehmen muss sich an die europarecht- 4 lichen Rahmenbedingungen des Art. 107, 108 AEUV halten.3) Die Systematik dieser Regelungen lässt sich vereinfacht wie folgt darstellen:4) a)
Grundsatz Abgabenbefreiung als Beihilfe: EuGH, Urt. v. 15.3.1994 – Rs. C-387/92 (Banco Exterior de España), Slg. 1994, I-877 = EWS 1994, 132
Art. 107 Abs. 1 AEUV enthält in der Sache ein grundsätzliches Beihilfever- 5 bot: Staatliche Beihilfen sind mit dem Binnenmarkt in der Regel unvereinbar und daher unzulässig. Der Beihilfebegriff i. S. des Art. 107 Abs. 1 AEUV ist dabei weit: Hierunter unterfällt jede Maßnahme gleich welcher Art, die einen selektiven wirtschaftlichen Vorteil aus staatlichen Mitteln gewährt, der den Wettbewerb und den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen droht.5) Staatliche „Finanzspritzen“ an Unternehmen in Sanierungssituationen fallen unstreitig hierunter, aber auch sonstige staatliche Unterstützungsmaßnahmen, etwa öffentliche Bürgschaften.6) ___________ 1) Lübbig/Martín-Ehlers, Beihilfenrecht, Rz. 746 m. w. N. 2) Eine zeitweise Lockerung hat es etwa i. R. der Finanzkrise ab 2008 gegeben; vgl. den sog. „Temporary Framework“ der Kommission, ABl. (EU) 2009, C 83/1, verlängert durch die Mitteilung der Kommission in ABl. (EU) 2011, C 6/5; auf dieser Grundlage hat die Bundesregierung in 2008/2009 erhebliche Finanzhilfen i. R. der sog. „Konjunkturpakete“ bereitgestellt, auch für Unternehmenssanierungen. Der „Temporary Framework“ ist mittlerweile aber abgelaufen, ebenso wie die „Konjunkturpakete“. 3) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV, BGBl. II 2009, 1223. 4) Vgl. allgemein zu Art. 107, 108 AEUV etwa Calliess/Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 1 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 Abs. 1 AEUV Rz. 1 ff.; Werner in: MünchKomm-WettbR, Bd. 3, Art. 108 AEUV Rz. 1 ff. 5) St. Rspr.; vgl. etwa EuGH, Urt. v. 15.3.1994 – Rs. C-387/92 (Banco Exterior de España), Slg. 1994, I-877, 907 = EWS 1994, 132, 133; weitere Nachweise bei Soltész/Hildebrandt in: Prozessformularbuch, Bd. 7, D. V. 3 Rz. 4. 6) Zum Beihilfecharakter einer öffentlichen Bürgschaft vgl. Mitteilung der Kommission zu Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften, ABl. (EU) 2008, C 155/10. Zu den Rechtsfolgen eines Beihilfeverbots für öffentliche Bürgschaften Fischer, WM 2001, 277; Bartosch, EuZW 2001, 650.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
b)
Ausnahmen
6 Vor diesem Grundsatz des Beihilfeverbotes lässt das Europarecht zwei Ausnahmen zu: x
Zum einen die Legalausnahmen in Art. 107 Abs. 2 AEUV.7) Diese sind in ihrem Anwendungsbereich allerdings sehr eng und spielen in der Praxis, insbesondere in Sanierungsfällen, keine große Rolle.8)
x
Von erheblich größerer praktischer Bedeutung ist die Möglichkeit der Freistellung einer Beihilfe durch die Kommission nach Art. 107 Abs. 3 AEUV: Hiernach kann die Kommission entscheiden, dass unter den dort genannten Voraussetzungen eine Beihilfe ausnahmsweise als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen wird. Grundsätzlich muss daher die Gewährung einer neuen Beihilfe bei der Kommission angemeldet werden (sog. „Notifizierung“, Art. 108 Abs. 3 Satz 1 AEUV). Solange die Kommission die angemeldete Beihilfe aber nicht genehmigt hat, darf diese nicht durchgeführt werden (Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV – sog. „Durchführungsverbot“).9)
7 Diese grundsätzlich bestehende Notifizierungspflicht entfällt wiederum in zwei Konstellationen: x
Zum einen, wenn die konkrete Einzelbeihilfe i. R. eines Beihilfeprogramms gewährt wird, welches seinerseits bereits von der Kommission genehmigt worden ist.10)
x
Und zum anderen, wenn die Beihilfe von einer Gruppenfreistellungsverordnung gedeckt ist. In der Praxis ist hier insbesondere die „Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung“11) von Bedeutung.
c)
Mögliche Sanktionen Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen Europäisches Beihilferecht: BGH, Urt. v. 4.4.2003 – V ZR 314/02, EuZW 2003, 444 = VIZ 2003, 340 BGH, Urt. v. 5.12.2012 – I ZR 92/11
8 Wird eine Beihilfe vor einer Genehmigung durch die Kommission, also unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV gewährt, ist die Beihilfe rechtswidrig. Die Durchsetzung des Durchführungsverbotes erfolgt dabei nach Maßgabe des nationalen Rechts des jeweiligen Mit___________ 7) Hierzu Geiger/Khan/Kotzur-Khan, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rz. 17 ff. Calliess/ Ruffert-Cremer, EUV/AEUV, Art. 107 Rz. 40 ff. 8) Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 Abs. 2 AEUV Rz. 131. 9) Vgl. hierzu Soltész/Hildebrandt in: Prozessformularbuch, Bd. 7, D. V. 3. Rz. 4 m. w. N. 10) EuGH, Urt. v. 30.6.1992 – Rs. C-47/91, Slg. 1994, I-4647, 4654 f. = EuZW 1995, 54, 55. 11) Verordnung (EG) Nr. 800/2008 v. 6.8.2008, ABl. (EU) 2008, L 214/3.
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II. Beihilfen in Sanierungssituationen – Förderungen für „Unternehmen in der Krise“
gliedstaates und obliegt den nationalen Gerichten.12) Der BGH hat bislang hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass ein Vertrag, welcher eine staatliche Beihilfe unter Verletzung des Durchführungsverbotes gewährt, gemäß § 134 BGB i. V. m. Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV insgesamt nichtig sei.13) 2.
Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen14)
Ein spezifisches Beihilfeprogramm, auf dessen Grundlage nach den oben ge- 9 nannten europarechtlichen Vorgaben ein Unternehmen gerade in Sanierungssituationen zulässigerweise gefördert werden kann, gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Kommission hat sehr strenge Vorgaben aufgestellt, die Förderungen von „Unternehmen in Schwierigkeiten“ stark einschränken und auf ein Minimum reduzieren: Nämlich die „Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten“.15) Nach diesen Leitlinien ist ein Unternehmen etwa dann in Schwierigkeiten, 10 wenn die nach dem innerstaatlichen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates vorgesehenen Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens erfüllt sind oder wenn bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung mehr als die Hälfte des gezeichneten Kapitals verschwunden und mehr als ein Viertel dieses Kapitals während der letzten zwölf Monate verloren gegangen ist (Rz. 10 der Leitlinien).16) An „Unternehmen in Schwierigkeiten“ i. S. der Leitlinien dürfen grundsätzlich 11 keine Beihilfen nach anderen Förderprogrammen gewährt werden.17) Staatliche Förderungen dürfen hingegen zunächst nur in Form von Rettungsbeihilfen erfolgen, welche den Zeitraum bis zur Vorlage eines detaillierten Umstruk___________ 12) EuGH, Urt. v. 11.7.1996 – Rs. C-39/94, Slg. 1996, I-3547, 3549 = EuZW 1996, 564, 567 Rz. 39. 13) Grundlegend BGH, Urt. v. 4.4.2003 – V ZR 314/02, EuZW 2003, 444, 445 = VIZ 2003, 340, 341 f.; hier zeichnet sich aber möglicherweise eine „Lockerung“ der Rspr. ab, vgl. BGH, Urt. v. 5.12.2012 – I ZR 92/11 Rz. 44 ff., juris, m. w. N. zur jüngeren Rspr. des EuGH: u. U. „nur“ Teilnichtigkeit. Kritisch zur (bisherigen) Rspr. auch Bungenberg/Motzkus, WiVerw, 2013/2, 73, 110 f. 14) Vgl. hierzu im Einzelnen Lübbig/Martín-Ehlers, Beihilfenrecht, Rz. 744 ff.; Soltèsz/Marquier, EWS 2005, 241 ff.; Fehr, ZIP 2004, 2123, 2125 ff.; Ehricke, WM 2001, Sonderbeil. Nr. 3, S. 3, 7. 15) ABl. (EU) 2004, C 244/2, zuletzt verlängert durch Mitteilung der Kommission ABl. (EU) 2012, C 296/3; im Folgenden: „Leitlinien“. 16) Zum Begriff „Unternehmen in Schwierigkeiten“ Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/ Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 236 ff.; krit. Ehricke, EuZW 2005, 71, 73. 17) Vgl. etwa Art. 1 Abs. 6 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission v. 6.8.2008, ABl. (EU) 2008, L 214/3 („Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung“); Ziff. 3.2 lit. a der Mitteilung der Kommission zu Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften, ABl. (EU) 2008, C 155/10; Ziff. 2.1 Abs. 8 des Gemeinschaftsrahmens der Kommission für Staatliche Beihilfen für Forschung, Entwicklung und Innovation, ABl. (EU) 2006, C 54/13.
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turierungs- oder Liquidationsplans überbrücken sollen (Rz. 15 der Leitlinien). Im Zusammenhang mit einem solchen Plan können dann weitere – auch längerfristige – Umstrukturierungsbeihilfen vergeben werden. Sowohl Rettungs- als auch Umstrukturierungsbeihilfen bedürfen aber immer einer Kommissionsgenehmigung (Rz. 24 der Leitlinien). Die Kommission macht nach Maßgabe der Leitlinien ihre Genehmigungsentscheidung u. a. davon abhängig, ob innerhalb eines angemessenen Zeitraums die langfristige Rentabilität des Unternehmens wieder hergestellt werden kann (Rz. 34 ff. der Leitlinien).18) Dies kann in der Praxis sehr häufig dazu führen, dass das Unternehmen sich in dem Umstrukturierungsplan verpflichten muss, seine Geschäftstätigkeit zu verringern, Personal abzubauen oder sich von Beteiligungen zu trennen. Weiterhin ist nach Maßgabe der Leitlinien (dort Rz. 43) eine Eigenleistung oder eine solche seiner Gesellschafter erforderlich. 12
Praxishinweis Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen kommen in der Praxis zwar recht häufig vor.19) Angesichts der engen Voraussetzungen, unter denen die Kommission nur eine Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfe genehmigt und der damit zumeist verbundenen harten Einschnitte in die „Substanz“ des Unternehmens ist die Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfe im Sanierungsfall für das betroffene Unternehmen aber kein leichter Weg.
3.
Fazit
13 Beihilfen für Unternehmen im Sanierungsfall kommen nur unter engen Voraussetzungen in Betracht. Handelt es sich um ein „Unternehmen in Schwierigkeiten“ i. S. der Leitlinien der Kommission, sind Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen zwar grundsätzlich möglich, bedürfen aber in jedem Einzelfall der Genehmigung der Kommission und sind in der Praxis häufig mit einem Personalabbau verbunden. In der Praxis kommt damit die Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfe zumeist nur als „Ultima Ratio“ in Betracht und kann grundsätzlich nur einmal innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren an ein Unternehmen vergeben werden („one time, last time“, Rz. 72 ff. der Leitlinien). ___________ 18) Für Kleine und Mittlere Unternehmen i. S. des Europarechts – KMU – (vgl. hierzu Empfehlung der Kommission, ABl. (EU) 2003, L 124/36) gelten insoweit bestimmte Erleichterungen, weil Beihilfen an solche Unternehmen in der Regel die Handelsbedingungen in geringerem Maße beeinträchtigen als Beihilfen für große Unternehmen; vgl. Rz. 57 ff. und Rz. 78 ff. der Leitlinien; Fehr, ZIP 2004, 2123, 2130; Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Wallenberg/ Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 236 ff. 19) Vgl. hierzu aus der Rspr. etwa EuG, Urt. v. 14.2.2012 – T-115/09, T-116/09, ABl. (EU) 2012 C 89/21; EuG, Urt. v. 3.3.2010 – T-102/07, T-120/07, ABl. (EU) 2010, C 100/37; dies gilt insbesondere in jüngerer Zeit für den Finanzsektor (Stichwort: „Bankenkrise“), vgl. hierzu aus der Rechtsprechung etwa Entsch. der Kommission v. 21.10.2008 – K(2008) 6022 („IKB“), ABl. (EU) 2009, L 278/32; Entsch. der Kommission v. 12.05.2009 – K(2009) 3900 („WestLB“), ABl. (EU) 2009, L 345/1.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
Ein Unternehmen sollte sich daher gut überlegen, ob es Rettungs- und Um- 14 strukturierungsbeihilfen beantragt. Eine solche Beihilfe hat häufig irreversible Folgen. Insoweit lassen sich die strengen Anforderungen der Kommission für Unternehmen in Schwierigkeiten auch nicht vermeiden. Eine Umgehung, also die Gewährung von staatlichen Förderungen im Sanierungsfall unter Außerachtlassung der beschriebenen Vorgaben der Leitlinien, wäre eine unzulässige „ad-hoc Beihilfe“,20) die mangels Genehmigung durch die Kommission dem Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV unterfällt (hierzu und zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Durchführungsverbot oben unter Rz. 8). 15
Praxishinweis In der Praxis häufiger und für das Unternehmen „schonender“ sind hingegen allgemeine sozialpolitische Maßnahmen.21) Von diesen kann das Unternehmen im Sanierungsfall zumindest mittelbar auch profitieren; und solche Maßnahmen stellen mangels Selektivität bereits tatbestandlich keine Beihilfe im Rechtssinne dar, unterliegen also grundsätzlich auch nicht dem strengen Rechtsregime der Art. 107, 108 AEUV.22)
III.
Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
Hat ein Unternehmen in der Vergangenheit staatliche Beihilfen erhalten und 16 gerät es dann in eine Sanierungssituation, können sich Rückforderungsrisiken ergeben: In aller Regel sind staatliche Förderungen mit „Gegenleistungen“ des Zuwendungsempfängers verbunden. So muss dieser etwa eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen schaffen bzw. sichern oder für einen bestimmten Zeitraum die geförderte Betriebsstätte am Laufen halten. Verstößt er gegen diese Vorgaben, droht eine Rückforderung der empfangenen Fördergelder. 17
Praxishinweis Dies kann in Sanierungssituationen den Entscheidungsspielraum des Unternehmens, welches Sanierungsmaßnahmen plant, erheblich einschränken.
Dieses Szenario soll im Folgenden anhand zweier in der Praxis außerordentlich 18 bedeutsamer Formen staatlicher Unternehmensförderung dargestellt werden. 1.
GRW-Zuschüsse
GRW-Zuschüsse (bis 2009: GA-Zuschüsse) stellen finanziell eine der bedeutend- 19 sten Wirtschaftsförderungen in Deutschland dar. Insbesondere in den neuen Bundesländern wurden und werden eine Vielzahl von Investitionen hiermit un___________ 20) Hierzu allgemein Heidenhain-Jestaedt, Hdb. Europ. Beihilferecht, § 15 Rz. 55 ff. 21) Etwa Kurzarbeitergeld nach §§ 95 ff. SGB III. 22) Vgl. etwa Lübbig/Martín-Ehlers, Beihilfenrecht, Rz. 232. Grabitz/Hilf/Nettesheimv. Wallenberg/Schütte, Recht der EU, Art. 107 AEUV Rz. 42.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
terstützt. Ihr Hauptziel liegt in der Schaffung neuer und Sicherung vorhandener Arbeitsplätze. a)
Rechtliche Grundlagen23)
20 GRW-Zuschüsse sind (Regional-)Beihilfen, die i. R. der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ gewährt werden. Sie basieren auf Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. dem Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“.24) Die Einzelheiten der Förderung ergeben sich aus dem auf dieser gesetzlichen Grundlage erlassenen „Koordinierungsrahmen“25) (früher: GA-Rahmenplan) i. V. m. den jeweils von den einzelnen Bundesländern hierzu erlassenen Ausführungsrichtlinien.26) 21 Der Koordinierungsrahmen sowie die zu seiner Ausführung erlassenen Landesrichtlinien sind ein von der Kommission genehmigtes bzw. unter die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung fallendes Beihilfeprogramm; auf der Grundlage des Koordinierungsrahmens erlassene Einzelförderungen sind daher mit dem Europarecht vereinbar und müssen grundsätzlich nicht mehr im Einzelnen von der Kommission genehmigt werden (dazu oben unter Rz. 6 f.). 22 Die Gewährung des konkreten GRW-Zuschusses erfolgt in aller Regel durch einen Zuwendungsbescheid der jeweils zuständigen Landesbehörde (Verwaltungsakt i. S. des § 35 VwVfG des jeweiligen Landes). b)
Wesentliche arbeitsplatzbezogene Verpflichtungen des Zuwendungsempfängers
23 GRW-Zuschüsse werden in der Regel für die Errichtung, Erweiterung oder Modernisierung einer Betriebsstätte gewährt (sog. „Erstinvestitionen“). Für die mit dem Investitionsvorhaben anfallenden Investitionskosten erhält der Zu-
___________ 23) Vgl. hierzu Soltész/Hildebrandt in: Prozessformularbuch, Bd. 7, D. V. 1, Anm. 1; Hildebrandt, LKV 1999, 441, 442; Tetsch/Benterbusch/Letixerant, Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, S. 9 f. 24) Gesetz v. 6.10.1969, BGBl. I 1969, 1861, zuletzt geändert durch Gesetz v. 7.9.2007, BGBl. I 2007, 2246. 25) Koordinierungsrahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ab 2009, BT-Drucks. 16/1395, zuletzt geändert durch Bekanntmachung v. 10.12.2010, BAnz. Nr. 11 v. 20.1.2011, Amtlicher Teil, Bekanntmachungen, S. 192 ff. Der Koordinierungsrahmen ist von seiner Rechtsnatur kein Gesetz, sondern eine Verwaltungsvorschrift; vgl. hierzu etwa BVerwG, Beschl. v. 12.2.2007 – 3 B 9/07 Rz. 3, juris. 26) Z. B. im Freistaat Sachsen: Richtlinie des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft einschließlich der Tourismuswirtschaft im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) (RIGA) v. 5.4.2011, Sächsisches ABl. 19/2011 v. 12.5.2011, S. 695 ff.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
wendungsempfänger einen nicht rückzahlbaren (verlorenen) Zuschuss,27) der je nach Größe des Unternehmens und Investitionsstandort derzeit bis zu 50 % betragen kann. Im Gegenzug ist der Zuwendungsempfänger u. a. verpflichtet, für einen Bin- 24 dungszeitraum von fünf Jahren nach Abschluss des Investitionsvorhabens eine bestimmte, im Zuwendungsbescheid genau festgelegte Anzahl von Dauerarbeitsplätzen zu schaffen und tatsächlich zu besetzen. Weiterhin muss er für diesen Bindungszeitraum die geförderte Betriebsstätte eigenbetrieblich nutzen und darf die bezuschussten Wirtschaftsgüter nicht veräußern, vermieten oder anderweitig aus der Betriebsstätte entfernen.28) Verwaltungsverfahrensrechtlich handelt es sich bei diesen Bindungen, insbesondere bei der Verpflichtung zur Schaffung und Besetzung von Dauerarbeitsplätzen, entweder um Auflagen i. S. des § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG oder – je nach Formulierung des konkreten Zuwendungsbescheides – um den eigentlichen Verwendungszweck der Förderung. „Dauerarbeitsplätze“ i. S. der GRW-Förderung sind solche Arbeitsplätze, die 25 von vorneherein auf Dauer angelegt sind29). 26
Praxishinweis Die Anzahl der zu schaffenden Dauerarbeitsplätze ist nicht nur eine verbindlich im Zuwendungsbescheid festgelegte „Zielvorgabe“; sie ist auch wichtig für die Berechnung der Bemessungsgrundlage der GRW-Förderung und damit unmittelbar auch für die Höhe des bewilligten Zuschusses: Investitionskosten können nur i. H. von max. 0,5 Mio. € pro neu geschaffenem Dauerarbeitsplatz oder i. H. von 0,25 Mio. € pro gesichertem Dauerarbeitsplatz mit GRW-Zuschüssen gefördert werden.30)
Weiterhin ist der Zuwendungsempfänger verpflichtet, die Zuwendungsbehörde 27 unverzüglich über subventionserhebliche Tatsachen zu informieren, also über alle Umstände, die für die Auszahlung oder den Bestand der GRW-Zuschüsse von Bedeutung sind. Diese Verpflichtung ist regelmäßig als Auflage in dem jeweiligen Zuwendungsbescheid festgeschrieben. ___________ 27) Sog. „sachkapitalbezogener“ Zuschuss; alternativ kann das Unternehmen auch einen „lohnkostenbezogenen“ GRW-Zuschuss beantragen (vgl. Ziff. II. A. 2.6.1. des Koordinierungsrahmens); dies ist in der Praxis aber eher die Ausnahme. 28) Zu den einzelnen Bindungen vgl. Ziff. II. A. des Koordinierungsrahmens; weitergehende Bindungen und Verpflichtungen können sich aus den jeweiligen GRW-Landesrichtlinien ergeben. 29) Ziff. II. A. 2.2 des Koordinierungsrahmens. 30) Ziff. II. A. 2.6.5 des Koordinierungsrahmens; mitunter enthalten die jeweiligen GRWRichtlinien der Länder hier niedrigere Beträge; vgl. z. B. Ziff. 5.2.4 der Richtlinie des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft einschließlich der Tourismuswirtschaft im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) (RIGA) v. 5.4.2011, Sächsisches ABl. 19/2011 v. 12.5.2011, S. 695.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
c)
Sanktionsmöglichkeiten Ausübung von „gelenktem/intendiertem Ermessen“: BVerwG, Urt. v. 6.6.1997 – 3 C 22/96, BVerwGE 105, 55, 57 f. = NJW 1998, 2233, 2234 BVerwG, Urt. v. 10.12.2003 – 3 C 22/02, NVwZ-RR 2004, 413, 415
28 Erfüllt der Zuwendungsempfänger die Vorgaben aus dem Zuwendungsbescheid nicht, schafft er also z. B. nicht die entsprechend festgesetzte Zahl neuer Dauerarbeitsplätze, so kann die Zuwendungsbehörde den GRW-Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwVfG widerrufen31) sowie die bereits ausbezahlten Zuschüsse zurückfordern (§ 49a Abs. 1 VwVfG). Der zurückgeforderte Betrag ist vom Zuwendungsempfänger mit fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz jährlich zu verzinsen (§ 49a Abs. 3 Satz 1 VwVfG); die Verzinsung beginnt grundsätzlich mit Wertstellung des zurückgeforderten GRW-Zuschusses beim Zuwendungsempfänger zu laufen. 29
Praxishinweis Je nach Zeitpunkt von Widerruf und Rückforderung können also zusätzlich zu dem zurückgeforderten Zuschuss erhebliche Zinsen auflaufen.
30 Die Entscheidung, ob und ggf. in welchem Umfang bei einem Verstoß gegen die Förderbedingungen der Bescheid widerrufen wird, steht im Ermessen der Behörde. Hier ist allerdings zu beachten, dass die Rechtsprechung im Bereich der §§ 48, 49 VwVfG zumindest bei Zweckverstößen (§ 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwVfG) von einem „gelenkten“ bzw. „intendierten Ermessen“ ausgeht: Die haushaltsrechtlichen Grundsätze der sparsamen und effizienten Verwendung von Haushaltsmitteln geböten regelmäßig eine Rücknahme bzw. einen Widerruf der Bewilligung nicht zweckentsprechend verwendeter Förderungen.32) Das bedeutet: Bei einem Verstoß gegen die im Zuwendungsbescheid festgelegten Bindungen (i. S. des Zuwendungszwecks) ist im Regelfall der (zumindest anteilige) Widerruf des Zuwendungsbescheides die vom Gesetz vorgezeichnete Rechtsfolge. Es müssen besondere Gründe vorliegen, um eine gegenteilige Entscheidung zu rechtfertigen. Zwar führt diese Rechtsprechung zum „intendierten Ermessen“ nicht dazu, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung über den Widerruf eines Zuwendungsbescheides auf Ermessensausübungen komp-
___________ 31) Soweit die Arbeitsplatzvorgabe als Auflage i. S. des § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG formuliert ist; benennt der Zuwendungsbescheid hingegen die Schaffung und Besetzung der jeweiligen Dauerarbeitsplätze als Zuwendungszweck, wäre Grundlage für einen rückwirkenden Widerruf des GRW-Bescheides § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwVfG. 32) BVerwG, Urt. v. 6.6.1997 – 3 C 22/96, BVerwGE 105, 55, 57 f. = NJW 1998, 2233, 2234; BVerwG, Urt. v. 10.12.2003 – 3 C 22/02, NVwZ-RR 2004, 413, 415; OVG Münster, Urt. v. 13.6.2002 – 12 A 693/99, Rz. 47, NVwZ-RR 2003, 803, 805.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
lett verzichten darf.33) Es ist stets ein Mindestmaß an Sachverhaltsaufklärung geboten: Die Behörde muss zumindest feststellen, ob überhaupt ein Regelfall vorliegt, der nach dem „intendierten Ermessen“ grundsätzlich zum Widerruf führt.34) Soweit solche besonderen Umstände im konkreten Fall aber nicht vorliegen, welche ausnahmsweise ein Absehen von dem Widerruf unter Rückforderung rechtfertigen könnten, ist die Behörde grundsätzlich berechtigt, auch bei „geringfügigen“ Verstößen die Förderung insgesamt zurückzufordern.35) Allerdings enthält der GRW-Koordinierungsrahmen seinerseits aber auch er- 31 messenslenkende Regelungen für einen möglichen Widerrufsfall: So kann die Behörde etwa ihr Ermessen zu Gunsten des Zuwendungsempfängers ausüben und von einem Widerruf zumindest anteilig absehen, etwa wenn der Verstoß gegen die Förderbestimmungen auf einer unvorhersehbaren Änderung der marktstrukturellen Verhältnisse basiert.36) Diese ermessenslenkenden Bestimmungen des GRW-Koordinierungsrahmens sowie die ständige Verwaltungspraxis der jeweiligen Behörde37) können im Einzelfall eine Entscheidung der Behörde rechtfertigen, ja sogar gebieten, trotz eines Verstoßes gegen die Zuwendungsbestimmungen den Zuschuss nicht zu widerrufen. 32
Praxishinweis Eine Missachtung der Informationspflichten, also der Pflicht des Zuwendungsempfängers, die Zuwendungsbehörde unverzüglich über subventionserhebliche Tatsachen zu informieren, stellt in aller Regel einen Auflagenverstoß dar. Dieser kann bereits für sich genommen nach § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwVfG zu einem (vollständigen oder anteiligen) Widerruf führen. Überdies ist hier zu beachten, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein Verstoß gegen die Informationspflichten auch strafbar sein kann.38)
d)
In der Praxis typische Rückforderungsszenarien/-konstellationen
Wie hervorgehoben, besteht das wesentliche wirtschaftspolitische Ziel der 33 GRW-Förderung in der Schaffung neuer und Sicherung bestehender Arbeitsplätze.
___________ 33) VGH Kassel, Urt. v. 31.10.1989 – 11 UE 2363/84, Rz. 96, NVwZ 1990, 879, 881 f.; Krämer/ Schmidt, Zuwendungsrecht, G II 3. S. 4. 34) OVG Greifswald, Urt. v. 20.2.2002 – 2 L 212/00, NVwZ-RR 2002, 805, 806 = GewArch 2002, 464, 465. 35) Vgl. VGH München, Beschl. v. 24.9.1990 – 22 B 90/609, NVwZ-RR 1991, 451, 452. 36) Vgl. Ziff. II. A. 4.2.2 des GRW-Koordinierungsrahmens; dazu näher unten Rz. 37 ff. 37) Zur Selbstbindung der Verwaltung über Art. 3 GG vgl. Stelkens/Bonk/Sachs-Sachs, VwVfG, § 40 Rz. 103 ff; Sachs-Osterloh, GG, Art. 3 Rz. 118. 38) Vgl. § 264 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Subventionsbetrug in Form einer Nichtanzeige subventionserheblicher Tatsachen; vgl. hierzu allgemein Kindhäuser/Neumann/Paeffgen-Hellmann, StGB, § 264 Rz. 99 ff.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
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Praxishinweis „Sanierungssituationen mit Arbeitsplatzrelevanz“ haben daher immer Auswirkungen auf GRW-Förderungen, die das betreffende Unternehmen in der Vergangenheit erhalten hat.
35 Im Folgenden sollen einige typische, in der Praxis besonders relevante Konstelationen skizziert werden, die ein mit GRW-Zuschüssen gefördertes Unternehmen im Sanierungsfall beachten sollte:39) aa)
Verfehlung von Arbeitsplatzvorgaben
36 Verschiedene Konstellationen sind denkbar, in denen das geförderte Unternehmen die in dem Zuwendungsbescheid festgelegten Arbeitsplatzvorgaben nicht erfüllt: x
Zum Projektabschluss wird nicht die erforderliche Anzahl von neuen Dauerarbeitsplätzen geschaffen bzw. die erforderliche Anzahl von bereits vorhandenen Arbeitsplätzen gesichert.
x
Das Unternehmen hat zwar zum Projektabschluss die Vorgaben erfüllt; es gelingt ihm aber nicht, die Arbeitsplatzzahl während des Bindungszeitraums von fünf Jahren nach Projektabschluss dauerhaft zu halten.
37 Wie beschrieben, kann die Zuwendungsbehörde in einer solchen Konstellation i. R. ihres Ermessens entscheiden, den Zuwendungsbescheid ganz oder teilweise aufzuheben und die bereits ausgezahlten GRW-Zuschüsse entsprechend zurückzufordern; dabei ist ihr Ermessen im Regelfall (zumindest bei einer Zweckverfehlung) auf eine Rückforderungsentscheidung „intendiert“ (dazu oben unter Rz. 28 ff.). Gleichwohl bieten der Koordinierungsrahmen – wie ebenfalls bereits hervorgehoben (dazu oben unter Rz. 30 f.) – sowie die zu seiner Ausführung ergangenen Richtlinien der Länder Ermessensspielräume für die zuständige Behörde, trotz Verfehlung der Arbeitsplatzvorgaben den GRW-Zuschuss ganz oder teilweise „stehenzulassen“. Diese Spielräume lassen sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen:40)
___________ 39) Weitere Implikationen für GRW-Zuschüsse können sich in der „Krise“ des Unternehmens etwa dann ergeben, wenn ein mit GRW-Zuschüssen gefördertes Investitionsprojekt (z. B. die Errichtung oder Erweiterung einer Betriebsstätte) noch nicht abgeschlossen ist. So droht hier etwa eine Kürzung bzw. Einstellung noch nicht ausbezahlter, aber schon bewilligter Zuschüsse sowie ggf. sogar eine Rückforderung bereits ausbezahlter Zuschüsse, falls etwa die für die GRW-Förderung erforderliche Gesamtfinanzierung des Vorhabens nicht mehr gewährleistet ist; vgl. hierzu etwa Krämer/Schmidt, Zuwendungsrecht, D II 3. 40) Eine ausführliche Darstellung der Ermessensspielräume der Behörde findet sich bei Tetsch/ Benterbusch/Letixerant, Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur S. 217 ff. (diese Darstellung ist zwar schon etwas älter, in den wesentlichen Grundzügen gilt sie aber heute unverändert fort).
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
Unter bestimmten, im Koordinierungsrahmen genannten Voraussetzungen 38 (dort insbesondere Ziff. II. A. 4.) kann die Behörde im Einzelfall von einer (vollständigen) Rückforderung absehen, die Arbeitsplatzvorgaben aus dem ursprünglichen GRW-Zuwendungsbescheid absenken oder die fünfjährige Bindefrist vorübergehend aussetzen. Hierzu ist sie befugt und – i. R. einer möglicherweise ständigen Verwaltungspraxis – ggf. sogar auch verpflichtet (zur Selbstbindung der Verwaltung über Art. 3 oben unter Rz. 31). Voraussetzung für eine solche – aus Sicht des Zuwendungsempfängers – positive Ermessensentscheidung ist aber immer Folgendes: x
Der Zuwendungsempfänger muss darlegen, dass die Verfehlung der Arbeitsplatzziele auf Umständen beruht, die er nicht zu vertreten hat und die er im Zeitpunkt der Antragstellung auch bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes nicht vorhersehen konnte.41)
x
Auch bei einer eventuellen Reduzierung der Arbeitsplatzvorgaben muss das Projekt des Zuwendungsempfängers grundsätzlich noch die allgemeinen Fördervoraussetzungen einhalten. Insbesondere muss sich der bereits ausbezahlte Zuschuss immer noch durch GRW-förderfähige Investitionskosten „unterdecken“ lassen. Das bedeutet: Auch bei einer Absenkung der Arbeitsplatzziele müssen noch genügend Arbeitsplätze geschaffen bzw. gesichert werden, um 0,5 Mio. € pro neugeschaffenem Dauerarbeitsplatz und 0,25 Mio. € pro gesichertem Arbeitsplatz an GRW-förderfähigen Investitionskosten zu generieren (dazu oben unter Rz. 26).
x
Trotz der Schwierigkeiten des Unternehmens, die Arbeitsplatzvorgaben zu erfüllen, muss für die Zukunft eine positive „Fortführungsprognose“ bestehen. 39
Praxishinweis Bei einer Stilllegung der Betriebsstätte während der noch laufenden Bindefrist und damit verbunden einem vollständigen Abbau sämtlicher Arbeitsplätze wird im Regelfall die Behörde nach den oben dargestellten Grundsätzen des „intendierten Ermessens“ nicht anders entscheiden können, als den GRW-Zuschuss insgesamt zurückzufordern, zzgl. Zinsen (dazu oben unter Rz. 28 ff.).42)
In diesem Zusammenhang noch der Hinweis, dass die Einführung von Kurz- 40 arbeit grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Arbeitsplatzverpflichtungen darstellt: Nach den GRW-Bestimmungen ist die Schaffung und Sicherung von Dauerarbeitsplätzen förderfähig, die mit solchen Mitarbeitern besetzt werden ___________ 41) Vgl. Ziff. II. A. 4.1.2 des Koordinierungsrahmens. Diese Vorschrift ist zwar von ihrem Wortlaut her nicht auf alle Fälle einer Verfehlung der Arbeitsplatzvorgaben anwendbar, sondern nur auf eine bestimmte Konstellation; die dort niedergelegten Erwägungen lassen sich aber insgesamt auf sämtliche Fälle der Unterschreitung der Arbeitsplatzvorgaben übertragen; dies entspricht auch der Förderpraxis der meisten GRW-Behörden. 42) Vgl. auch Ziff. II. A. 4.1.3 des Koordinierungsrahmens.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
müssen, welche mit dem Zuwendungsempfänger in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen.43) Hieran ändert die Einführung von Kurzarbeit nichts: Denn auch Mitarbeiter in Kurzarbeit stehen nach wie vor in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zum Arbeitgeber (Zuwendungsempfänger);44) überdies ist die Kurzarbeit immer nur auf einen vorübergehenden Zeitraum beschränkt.45) bb)
Veräußerung des Unternehmens bzw. von Unternehmensteilen
41 In Sanierungssituationen kommt es immer wieder zur Veräußerung des Unternehmens insgesamt bzw. von Unternehmensteilen. Hat das betroffene Unternehmen GRW-Zuschüsse erhalten, ist hier Folgendes zu beachten: 42 Eine Veräußerung im Wege des Anteilskaufes (Share Deal) ist grundsätzlich förderunschädlich: Mit Erlass des GRW-Bescheides wird ein personengebundenes Verwaltungsrechtsverhältnis begründet.46) Dieses Rechtsverhältnis wird durch einen Share Deal nicht beeinträchtigt. Es bleibt nach wie vor bei der Rechtsbeziehung zwischen dem Zuwendungsempfänger auf der einen Seite und dem Verwaltungsträger der Zuwendungsbehörde auf der anderen Seite. Die einzige Änderung tritt hier bei der Gesellschafterstruktur des Zuwendungsempfängers ein, nicht aber bei diesem selbst. 43
Praxishinweis Demzufolge bestehen in der Praxis bei einem Share Deal aus GRW-rechtlicher Sicht regelmäßig auch keine grundsätzlichen Probleme. Die Transaktion ist allerdings der Zuwendungsbehörde anzuzeigen (allgemein zu den Informationspflichten des Zuwendungsempfängers siehe oben unter Rz. 27 und 32).
44 Anpassungsbedarf hinsichtlich bereits erteilter GRW-Zuwendungsbescheide kann allenfalls dann eintreten, wenn der Zuwendungsempfänger bislang ein Kleines und Mittleres Unternehmen i. S. des Europarechts (KMU) sein sollte47) und der KMU-Status des Zuwendungsempfängers durch die Transaktion verloren gehen sollte: KMU können höhere GRW-Förderungen erhalten als ___________ 43) Vgl. Ziff. II. A. 2.2 des Koordinierungsrahmens. Im Rahmen eines Kurzarbeitsverhältnisses wird zwar die regelmäßige Arbeitszeit der Betroffenen verringert. Die Dauerhaftigkeit des Arbeitsverhältnisses bleibt hiervon aber unberührt. Ein Anspruch der Arbeitnehmer auf Kurzarbeitsgeld unterliegt den Voraussetzungen der §§ 95 – 109 SGB III. 44) Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath-Welkoborsky, Arbeitsrecht, § 95 SGB III Rz. 35. Bei Beziehern von Kurzarbeitergeld bleibt die Versicherungspflicht nach § 192 Abs. 1 Nr. 4 SGB V erhalten. 45) Umfassend Petrak, NZA-Beil. 2010, 44; Kleinbrink, DB 2009, 342, 343; Hümmerich/ReufelsReufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, Rz. 2509; hierzu auch BAG, Urt. v. 23.2.2012 – 2 AZR 548/10, NJW 2012, 2747, 2749 = NZA 2012, 852, 854. 46) So auch Koenig/Wetzel, EuZW 2006, 653, 655; vgl. auch EuGH, Urt. v. 29.04.2004 – Rs. C277/00 (Deutschland/Kommission), EuZW 2004, 370, 372 = ZIP 2004, 1013, 1018. 47) Zum KMU-Begriff vgl. Empfehlung der Kommission, ABl. (EU) 2003, L 124/36.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
Nicht-KMU.48) Weiterhin müssten ggf. Bürgschaften und Haftungserklärungen, die die bisherigen Gesellschafter des Zuwendungsempfängers für den möglichen Rückforderungsfall abgegeben haben, auf die neue Gesellschafterstruktur umgeschrieben werden.49) Anders verhält es sich hingegeben bei einem Unternehmens(teil-)kauf im Wege 45 des Asset Deals: Dieser ist grundsätzlich GRW-schädlich. Hier bleibt der Verkäufer angesichts der Personengebundenheit des Subventionsrechtsverhältnisses zunächst „Inhaber“ der GRW-Zuschüsse, ist also auch nach dem Verkauf aus dem ihm gegenüber erlassenen Zuschussbescheid berechtigt und verpflichtet. Betrifft der Unternehmenskauf auch geförderte Wirtschaftsgüter bzw. Betriebsstätten, so liegt in der Veräußerung – während der Bindefrist – grundsätzlich ein Verstoß gegen die Zuwendungsbestimmungen vor.50) Überdies wird der Zuwendungsempfänger (Verkäufer) nach dem Verkauf auch tatsächlich in der Regel nicht mehr in der Lage sein, die Pflichten aus dem Zuwendungsbescheid zu erfüllen (etwa eigenbetriebliche Nutzung der geförderten Betriebsstätte; Besetzung der geförderten Dauerarbeitsplätze, dazu oben unter Rz. 24 f.). Um hier eine Rückforderung zu vermeiden, muss der GRW-Zuwendungs- 46 bescheid auf den Käufer ganz oder teilweise überschrieben werden.51) Hat dieser die gesamte geförderte Betriebsstätte erworben, ist er nunmehr auch in der Lage, für den restlichen Bindungszeitraum die GRW-Vorgaben zu erfüllen. Rechtstechnisch erfolgt eine solche Umschreibung durch einen Widerruf des GRWBescheides gegenüber dem ursprünglichen Zuwendungsempfänger (Verkäufer) nach § 49 VwVfG und dem (Neu-)Erlass eines identischen GRW-Zuwendungsbescheides gegenüber dem Erwerber. In der Praxis üblich ist es dabei, einen bestimmten Stichtag zwischen den Parteien zu vereinbaren, ab dem die Rechte und Pflichten aus dem GRW-Bescheid auf den Erwerber übergehen; dieser Stichtag wäre dann der Zeitpunkt, zu dem die Behörde den Zuwendungsbescheid gegenüber dem bisherigen Zuwendungsempfänger (Verkäufer) aufhebt (§ 49 Abs. 4 VwVfG). Das bedeutet aber, dass für den Verkauf eines Unternehmens bzw. eines Unternehmensteiles, soweit GRW-Zuschüsse betroffen sind, stets die (vorherige) Zustimmung der Zuwendungsbehörde erforderlich ___________ 48) Vgl. Ziff. II. A. 2.5.1 des Koordinierungsrahmens. 49) Zur Haftung des Gesellschafters eines Zuschussempfängers aus Bürgschaft, öffentlich-rechtlichem Schuldbeitritt etc. vgl. OVG Niedersachsen, Urt. v. 22.2.1996 – 11 L 6450/92, Nds. VBl. 1996, S. 193; OVG Thüringen, Urt. v. 14.1.1997 – 2 KO 182/95, BB 1997, 912; OVG Frankfurt/O., Beschl. v. 12.8.1998 – 4 B 31/98, ZIP 1998, 1636 = NJW 1998, 3513; BVerwG, Urt. v. 26.8.1999 – 3 C 17/98, DVBl. 2000, 907 = NVwZ-RR 2000, 196. 50) Vgl. Ziff. II. A. 2.6.4 des Koordinierungsrahmens: Verbleib der geförderten Wirtschaftsgüter für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren nach Abschluss des Investitionsvorhabens in der geförderten Betriebsstätte. 51) Vgl. VG Minden, Urt. v. 26.8.2011 – 11 K 2689/11 Rz. 33 f., juris.
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ist. Insofern unterscheidet sich in dieser Hinsicht der Asset Deal maßgeblich vom Share Deal. 47
Praxishinweis In der Praxis erteilt die Zuwendungsbehörde in der Regel ihre Zustimmung und schreibt den Zuwendungsbescheid auf den Erwerber um, wenn hierdurch sichergestellt ist, dass in der Sache das geförderte Projekt fortgesetzt und die Arbeitsplatzziele erreicht werden. Ein Rechtsanspruch auf eine solche Zustimmung besteht hingegen grundsätzlich nicht; vielmehr steht auch hier die Erteilung der Zustimmung grundsätzlich im Ermessen der Behörde.
cc)
Sonderproblem: Insolvenz
48 Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass die Beantragung der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens eine Verfehlung des Zuwendungszwecks (§ 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwVfG) darstelle und deshalb automatisch zu einem vollständigen Widerruf und einer entsprechenden Rückforderung der GRWZuschüsse berechtige.52) In der Regel enthalten GRW-Bescheide auch einen Widerrufsvorbehalt (§ 36 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG), wonach der Zuwendungsbescheid widerrufen werden könne bzw. zu widerrufen sei, wenn der Zuwendungsempfänger einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stelle bzw. das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Zuwendungsempfängers eröffnet werde.53) 49 Diese Ansicht überzeugt nicht: Es steht im Zeitpunkt der Beantragung der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens noch überhaupt nicht fest, ob die materiellen Förderbestimmungen (insbesondere die Schaffung und Besetzung von Dauerarbeitsplätzen) in Zukunft nicht doch noch erfüllt werden können. Streng genommen steht dies selbst im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch noch nicht fest: So kann der Insolvenzverwalter sich etwa entscheiden, den Betrieb fortzuführen; oder aber er sucht einen strategischen Investor, der das Unternehmen erwirbt und damit für die Zukunft die Erfüllung der GRW-Förderbestimmungen sicherstellt (zur Veräußerung mit GRW-Zuschüssen geförderter Unternehmen bzw. Unternehmensteile siehe oben unter Rz. 41 ff.). Insofern stellt der Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bzw. die Eröffnung des Verfahrens selbst noch keine zum Widerruf nach § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwVfG berechtigende Zweckverfehlung dar, sondern allenfalls eine „Zweckgefährdung“. Eine solche „Gefährdung“ berechtigt für sich genommen ___________ 52) Vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 8.12.1995 – 11 B 132/95 Rz. 8, juris; VG Würzburg, Urt. v. 25.1.2012 – W 6 K 11/404 Rz. 7, juris; VG Greifswald, Urt. v. 13.7.2000 – 4 A 1665/96 Rz. 25 ff., juris; Krämer/Schmidt, Zuwendungsrecht, G III 4.3.1.3. Rz. 33. 53) Vgl. auch Ziff. II A. 4.1.3 des Koordinierungsrahmens: Hiernach gelten die Regelungen, wonach ausnahmsweise bei einem Verstoß gegen die GRW-Fördervoraussetzungen von einem Widerruf des Zuwendungsbescheides abgesehen werden kann (dazu oben unter d) aa)), nicht „im Falle der Insolvenz des Zuwendungsempfängers“.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
aber noch nicht zum (rückwirkenden) Widerruf eines Zuwendungsbescheides. Vielmehr muss es hierfür gerade in Folge der Insolvenz zu einem Verstoß gegen Förderbestimmungen, insbesondere Arbeitsplatzvorgaben, kommen.54) Insofern wäre es ermessensfehlerhaft, wenn die Zuwendungsbehörde allein 50 mit dem Hinweis auf eine Insolvenz den Zuwendungsbescheid widerriefe, obwohl noch gar nicht feststeht bzw. aufgeklärt worden ist, ob der Betrieb durch den Insolvenzverwalter oder einen Dritten fortgeführt und dadurch ggf. der Zuwendungszweck doch noch erreicht werden kann. Die Interessen der Zuwendungsbehörde (sparsame und effiziente Verwendung von Haushaltsmitteln) werden hierdurch nicht beeinträchtigt: Denn üblicherweise müssen die Gesellschafter des Zuwendungsempfängers für die zweckgerechte Verwendung des Zuschusses (und damit auch für mögliche Rückforderungen) einen öffentlich-rechtlichen Schuldbeitritt oder eine Bürgschaft abgeben.55) e)
Gestaltungsmöglichkeiten/praktische Hinweise
Unternehmenskrisen, die die Erreichung der Arbeitsplatzvorgaben gefährden 51 und damit Auswirkungen auf GRW-Förderungen haben können, sind in der Praxis nicht selten. Häufig gelingt es hier aber, Lösungen zu entwickeln, die zumindest eine vollständige Rückforderung der GRW-Zuschüsse zu vermeiden helfen. Diese sollten aber nach Möglichkeit konsensual, also in Abstimmung mit der Zuwendungsbehörde erfolgen: Wie aufgezeigt, bestehen trotz der strengen Rechtsprechung zum „intendierten Ermessen“ noch durchaus Spielräume der Behörde, auch im Sanierungsfall von einer Rückforderung (zumindest anteilig) abzusehen (dazu oben unter Rz. 38 f. und 31). Im Folgenden sollen einige „Grundregeln“ für die Behandlung von Sanierungsfällen und mögliche Lösungswege aufgezeigt werden, die sich in der Praxis bewährt haben: aa)
Frühzeitige und pro-aktive Abstimmung mit den Förderbehörden
Zeichnet sich ein Sanierungsfall ab, der negative Auswirkungen auf die Erfül- 52 lung der GRW-Arbeitsplatzvorgaben oder sonstige Förderbestimmungen haben könnte, sollte der Zuwendungsempfänger umgehend das Gespräch mit der zuständigen Förderbehörde suchen.
___________ 54) In diesem Sinne etwa OVG Greifswald, Urt. v. 20.2.2002 – 2 L 212/00, Rz. 34 f., NVwZ-RR 2002, 805 = GewArch 2002, 464; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.8.2008 – 10 B 1/07 Rz. 40, juris; BGH, Urt. v. 28.4.2009 – XI ZR 86/08, Rz. 42, ZIP 2009, 1367; zur parallelen Wertung bei der Investitionszulage (IZ) s. u. Rz. 67 f. 55) Vgl. etwa Ziff. 6.5 der Richtlinie des Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft einschließlich der Tourismuswirtschaft im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) (RIGA) v. 5.4.2011, Sächsisches ABl. 19/2011 v. 12.5.2011, S. 695.
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
53
Praxishinweis Aus „atmosphärischen“ Gründen kann es ausgesprochen negativ sein, wenn die Behörde vom Sanierungsfall und evtl. Sanierungsmaßnahmen erst aus der Presse erfährt. Mögliche Entscheidungsspielräume, die evtl. noch bestanden haben, werden dann u. U. eingeengt. Überdies besteht insoweit das konkrete Risiko, dass der Zuwendungsempfänger gegen seine förderrechtlichen Informationspflichten verstößt und hierdurch einen eigenen Rückforderungsgrund schafft, sich möglicherweise sogar strafbar macht (dazu oben unter Rz. 27 und 32).
54 Insgesamt empfiehlt es sich aber, nicht erst in einem Sanierungsfall das Gespräch mit der Förderbehörde zu suchen; vielmehr hat es sich in der Praxis bewährt, laufend die Förderbehörde über den Stand des Vorhabens und die zukünftigen Aussichten der geförderten Betriebsstätte zu informieren. 55
Praxishinweis Überdies sollte der Zuwendungsempfänger bereits im Vorfeld des Erlasses des Zuwendungsbescheides einige Fragen vorsorglich klären, die in einem späteren Sanierungsfall relevant werden könnten: Insbesondere bietet es sich in der Praxis etwa an, ein „gemeinsames Verständnis“ mit der Zuwendungsbehörde über die konkrete Berechnung der Arbeitsplatzvorgaben zu entwickeln (z. B. Abstellen auf jährliche Durchschnittswerte zur Abfederung von Personalschwankungen; Einbeziehung von Werkstudenten, Diplomanden, Leih-Arbeitnehmern56) oder ExPats). Dies kann dem Unternehmen im Sanierungsfall eine größere Flexibilität verschaffen, trotz der Krise die arbeitsplatzbezogenen Förderauflagen doch noch zu erfüllen.
56 Bei diesen möglichst frühzeitigen und pro-aktiven Gesprächen mit der Zuwendungsbehörde sollte man beachten, dass zumindest im Regelfall die Zuwendungsbehörden kein Interesse an einer Rückforderung des GRW-Zuschusses haben. Vielmehr liegt es primär im Interesse der Behörde, die in der geförderten Betriebsstätte vorhandenen Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Insofern dürfte die Behörde – bei entsprechend konstruktivem Verhalten des Zuwendungsempfängers – durchaus geneigt sein, gemeinsam eine rechtlich belastbare Lösung zu finden, die zumindest einen vollständigen Widerruf der Zuschüsse abwenden kann. bb)
Konkrete Lösungsmöglichkeiten
57 Bei den Verhandlungen in einem Sanierungsfall über die (zumindest anteilige) Abwendung einer Rückforderung der Zuschüsse sollte der Zuwendungsempfänger die rechtlichen Ermessensspielräume der Behörde kennen und diese ihr – bei Bedarf – noch einmal aufzeigen. Bei einer Gefährdung der Arbeitsplatzvorgaben können auf dieser Grundlage etwa folgende Lösungsmöglichkeiten verhandelt werden: ___________ 56) Zur grundsätzlichen Förderfähigkeit von Dauerarbeitsplätzen, die mit Leih-Arbeitnehmern besetzt sind, vgl. II. A. 2.8.4, Absatz 2 des Koordinierungsrahmens; insoweit bestehen aber nach den GRW-Richtlinien einzelner Bundesländer auch Einschränkungen.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
x
Vorzeitiger Abschluss des geförderten Projektes, ggf. unter Reduzierung des GRW-Zuschusses; hierdurch lässt sich die fünfjährige Bindefrist für die Besetzung der Dauerarbeitsplätze nach vorne verlegen und im Ergebnis daher „verkürzen“.
x
Zeitweise Aussetzung der arbeitsplatzbezogenen Bindungen mit entsprechender Verlängerung des Bindungszeitraums.57)
x
Umstrukturierung der GRW-Förderung: Insbesondere nach den GRWRichtlinien der Länder werden verschiedene Typen von Investitionsprojekten („Erstinvestitionsvorhaben“) unterschiedlich gefördert. So gibt es bestimmte Typen von Förderprojekten, die zwar nur mit einem geringeren GRWFördersatz gefördert werden können, dafür aber auch niedrigere Arbeitsplatzvorgaben verlangen.58)
x
Zumindest anteiliges Absehen von einer Rückforderung, etwa durch den konkreten Nachweis „marktstruktureller Veränderungen“ (dazu oben unter Rz. 31 und Rz. 38).
x
Zustimmung der Förderbehörde zu einer Veräußerung geförderter Wirtschaftsgüter bzw. Übertragung der geförderten Betriebsstätte insgesamt; Umschreibung des GRW-Zuwendungsbescheides auf den Erwerber (dazu oben unter Rz. 45 ff.).
x
Falls doch eine (Teil-)Rückforderung nicht vermeidbar ist: Abwendung zumindest der Verzinsungspflicht, etwa nach § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG.59)
2.
Investitionszulagen (IZ)
Eine weitere, in der Praxis außerordentlich bedeutsame (Regional-)Förderung 58 stellt die Investitionszulage (IZ) nach dem jeweils geltenden Investitionszulagengesetz dar. Neben GRW-Zuschüssen ist die IZ ein typischer Finanzierungsbaustein bei öffentlich geförderten Investitionsvorhaben in den neuen Ländern (dem Schwerpunkt der Regionalförderung in Deutschland).60) Die Gewährung von IZ ist zwar – anders als GRW-Zuschüsse (dazu oben unter 59 Rz. 24 ff. und Rz. 33 ff.) – nicht unmittelbar an die Schaffung und Besetzung ___________ 57) Vgl. hierzu etwa Ziff. II. A. 4.2.2 des Koordinierungsrahmens. 58) In Betracht kommt hier etwa die nachträgliche Umstellung der Förderung auf das sog. „Abschreibungskriterium“: Die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte kann entweder dann gefördert werden, wenn die Anzahl der vorhandenen Arbeitsplätze um mindestens 15 % erhöht wird; eine Förderung ist aber auch dann möglich, wenn die getätigten Investitionen in einem bestimmten Verhältnis zu den in der Vergangenheit verdienten Abschreibungen des Unternehmens liegen; vgl. hierzu Ziff. II. A. 2.2 Satz 7 des Koordinierungsrahmens. 59) Hierzu allgemein Stelkens/Bonk/Sachs-Sachs, VwVfG, § 49a Rz. 78 ff. 60) Vgl. Soltész/Hildebrandt in: Prozessformularbuch, Bd. 7, D. V. 2, Anm. 5 und 6. Allgemein zur IZ vgl. Peterson/Kroschel, BB 2006, 1415; krit. Roth, SteuK 2010, 489; Haupt, DStR 2009, 1070.
Hildebrandt
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
von Dauerarbeitsplätzen geknüpft. Gleichwohl kann sie im Sanierungsfall, wenn das Unternehmen personalbezogene Maßnahmen ergreifen will, mittelbar relevant werden. 60
Praxishinweis Daher sollte ein Unternehmen, welches in der Vergangenheit IZ erhalten hat, auch hieraus sich ergebende Restriktionen beachten, um eine Rückforderung zu vermeiden.
a)
Grundlagen und wesentliche Verpflichtungen des Zuwendungsempfängers, Sanktionsmöglichkeiten
61 Derzeit gilt für Investitionen, die bis zum 1.1.2014 abgeschlossen werden, das Investitionszulagengesetz 2010 (im Folgenden: InvZulG 2010).61) Maßgeblich für seine Auslegung und Anwendung in der Praxis ist das Rundschreiben des BMF „Gewährung von Investitionszulagen nach dem Investitionszulagengesetz“ (InvZulG 2007).62) 62 Die IZ wird vom örtlich zuständigen Finanzamt auf Antrag festgesetzt. Auf ihre Gewährung besteht – anders als bei den GRW-Zuschüssen – ein Rechtsanspruch des Begünstigten. 63 Begünstigt sind Investitionen im Fördergebiet, welches aus den fünf neuen Bundesländern sowie Teilen von Berlin besteht (§ 1 Abs. 2 InvZulG 2010). Konkret investitionszulagenfähig sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 InvZulG die Anschaffungs- und Herstellungskosten für neue bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, die für einen Zeitraum von fünf Jahren ab Beendigung des (Erst-)Investitionsvorhabens (Bindungszeitraum) x
zum Anlagevermögen eines Betriebs oder einer Betriebsstätte eines begünstigten Betriebs im Fördergebiet gehören (sog. „Zugehörigkeitsvoraussetzung“), und
x
in einer Betriebsstätte eines begünstigten Betriebs des Anspruchsberechtigten im Fördergebiet verbleiben (sog. „Verbleibensvoraussetzung“).63)
___________ 61) Gesetz v. 7.12.2008, BGBl. I, 2350. 62) BMF-Schreiben v. 8.5.2008 – IV C 3 – InvZ 1015/07/07/0001 – 2008/0237881, BStBl. I 2008, 590, geändert durch BMF-Schreiben v. 23.7.2009 – IV C 3 – InvZ 1015/07/001 – 2009/0468708, BStBl. I 2009, 810. Dieses BMF-Rundschreiben gilt formal zwar für das Vorgängergesetz des InvZulG 2010, nämlich für das InvZulG 2007. In der Sache findet es aber weiter in der Praxis Anwendung, da das InvZulG 2010 im Vergleich zum InvZulG 2007 im Wesentlichen unverändert geblieben ist und das BMF für das InvZulG 2010 kein eigenes Schreiben erlassen hat. 63) Allgemein hierzu und zu weiteren Anspruchsvoraussetzungen vgl. Blümich-Selder, EStG, KStG, GewStG, § 2 InvZulG Rz. 1 – 71; Brinkmann, Teilentgeltliche Unternehmensnachfolge im Mittelstand, S. 297.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
Weiterhin sind nach § 2 Abs. 2 Satz 1 InvZulG 2010 Investitionen für die An- 64 schaffung bzw. Herstellung neuer Gebäude förderfähig. Je nach Beginn des (Erst-)Investitionsvorhabens (also z. B. die Errichtung oder 65 Erweiterung einer Betriebsstätte) beläuft sich die Höhe der IZ auf 12,5 % bis 2,5 % der förderfähigen Kosten, und zwar mit abnehmender Tendenz: Je später das Erstinvestitionsvorhaben begonnen wurde, desto niedriger fällt die IZ aus; § 6 Abs. 1 InvZulG 2010. Verstößt der IZ-Begünstigte gegen die IZ-Voraussetzungen, insbesondere gegen 66 die Zugehörigkeits- und/oder Verbleibensvoraussetzung, muss das Finanzamt zwingend die IZ, welche für die jeweiligen Wirtschaftsgüter gewährt wurde, zurückfordern. Ein Ermessen besteht insoweit – anders als bei den GRW-Zuschüssen – nicht. Die zurückzuzahlende IZ ist i. H. von 0,5 % pro Monat zu verzinsen, gerechnet ab dem Verstoß gegen die Zugehörigkeits- und/oder Verbleibensvoraussetzung. b)
In der Praxis typische Rückforderungsszenarien/-konstellationen
Wie bereits hervorgehoben, ist die IZ nicht an die Schaffung bzw. Besetzung 67 von Arbeitsplätzen gebunden, sondern rein wirtschaftsgutsbezogen. Das bedeutet: Entscheidet das Unternehmen sich im Sanierungsfall, Arbeitsplätze abzubauen, hat dies – anders als bei den GRW-Zuschüssen – zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf die IZ. Gleichwohl kommt es in Sanierungsfällen typischerweise immer wieder auch zu 68 IZ-relevanten Konstellationen. Personalbezogene Maßnahmen haben häufig auch Auswirkungen auf Bestand und Nutzung von Betriebsstätten und Wirtschaftsgütern: x
Wenn das Unternehmen IZ-geförderte Wirtschaftsgüter während des fünfjährigen Bindungszeitraumes veräußert, liegt grundsätzlich ein Rückforderungsgrund vor.64)
x
Auch eine (Teil-)Stilllegung der Betriebsstätte des IZ-Begünstigten ist grundsätzlich IZ-schädlich: Begünstigt ist nur der Verbleib in einer Betriebsstätte, die aktiv am Wirtschaftsleben teilnimmt.65) Schädlich ist dabei schon nicht erst die Stilllegung als solche, sondern bereits der Beschluss über die
___________ 64) Eine Veräußerung oder Nutzungsüberlassung während des Bindungszeitraumes ist nur unter engen Voraussetzungen möglich: So müssen u. a. Erwerber und Veräußerer „verbundene Unternehmen“ sein, was eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung von mindestens 25 % voraussetzt (§ 2 Abs. 1 Satz 4 InvZulG 2010); vgl. hierzu Rz. 79 ff. des BMFRundschreibens. 65) BFH, Urt. v. 27.4.1999 – III R 32/98, BFHE 188, 475 = BStBl. II 1999, 615; BFH, Urt. v. 7.9.2000 – III R 44/96, BFHE 193, 182 = BStBl. II 2001, 37; BFH, Urt. v. 7.2.2002 – III R 14/00, BFHE 198, 164 = BStBl. II 2002, 312; vgl. auch Rz. 69 des BMF-Schreibens v. 23.7.2009 – IV C 3 – InvZ 1015/07/001 – 2009/0468708, (BStBl. I 2009, 810).
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§ 18 Beihilferecht und Sanierungs-Arbeitsrecht
Abwicklung des Betriebs und der Beginn der Verwertung, also wenn das Wirtschaftsgut aus der bisherigen Verwendung als Anlagevermögen nach außen erkennbar herausgenommen, zum Verkauf hergerichtet oder allgemein angeboten bzw. einem Dritten zur Veräußerung überlassen wird.66) x
Unschädlich ist hingegen die Stellung eines Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens selbst:67) Solange in Folge eines solchen Antrags bzw. einer Verfahrenseröffnung der Betrieb und die Nutzung der geförderten Wirtschaftsgüter nicht eingestellt wird, gehören die Wirtschaftsgüter noch zu einem aktiv am wirtschaftlichen Verkehr teilnehmenden Betrieb.
x
Unschädlich ist weiterhin eine bloß vorübergehende Nutzungsunterbrechung: Eine ununterbrochene „aktive Nutzung“ des Wirtschaftsgutes ist nicht erforderlich. Das Wirtschaftsgut muss also nicht ständig betrieblich eingesetzt werden; es reicht vielmehr aus, dass es dem Betrieb zur Nutzung zur Verfügung steht, einsetzbar ist und seinem Zweck entsprechend im Betrieb verwendet werden kann.68)
69 Auch insoweit bestehen aber in allen genannten Konstellationen – ähnlich wie bei den GRW-Zuschüssen (dazu oben unter Rz. 27 und 32 f.) – Informationspflichten: So muss der IZ-Begünstigte dem zuständigen Finanzamt unverzüglich alle Umstände anzeigen, die zur Minderung oder zur Rückführung der IZ führen können (§ 14 InvZulG 2010 i. V. m. § 153 Abs. 2 AO). Auch hier ist ein Verstoß gegen die Informationspflicht strafbar (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO).69) c)
Gestaltungsmöglichkeiten/praktische Hinweise
70 Sollte das Unternehmen, welches IZ erhalten hat, im Sanierungsfall geförderte Wirtschaftsgüter während des noch laufenden Bindungszeitraumes stilllegen oder veräußern, etwa um laufende Betriebskosten zu sparen, droht zwar grundsätzlich eine IZ-Rückforderung. Allerdings gibt es auch hier Gestaltungsmöglichkeiten, die sich in der Praxis bewährt haben, z. B.: x
Vorübergehende (Teil-)Stilllegung: Sofern die geförderten Wirtschaftsgüter in der Betriebsstätte verbleiben und jederzeit wieder in Betrieb genommen werden können („stand-by-Modus“), ist eine vorübergehende Nutzungsunterbrechung unschädlich. Wie lange diese Nutzungsunterbrechung maximal dauern darf, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung
___________ 66) BFH, Urt. v. 8.2.1972 – VIII R 9/67, BFHE 105, 227 = BStBl. II 1972, 528; FG Sachsen, Urt. v. 28.1.1999 – 2 K 74/98, EFG 1999, 396. 67) Vgl. Rz. 69 des BMF-Schreibens; Stuhrmann, DStR 2001, 1409, 1410. 68) BFH, Urt. v. 7.3.2002 – III R 41/98, BFHE 198, 173 = BStBl. II 2002, 582; vgl. auch Rz. 69 des BMF-Schreibens. 69) Vgl. Klein-Rätke, AO, § 153 Rz. 21 m. w. N.
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III. Rückforderung bereits gewährter Beihilfen in Krisensituationen
nimmt aber an, dass eine Nutzungsunterbrechung von mehr als einem Jahr schädlich ist.70) x
Ablauf der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer: Ausnahmsweise ist ein Ausscheiden IZ-geförderter Wirtschaftsgüter aus dem Anlagevermögen während der Bindefrist unschädlich, wenn die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer im Zeitpunkt des Ausscheidens bereits abgelaufen ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 InvZulG 2010).71) Insofern kann es durchaus Sinn ergeben, bei der Planung von Sanierungsmaßnahmen für jedes IZ-geförderte Wirtschaftsgut die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer zu prüfen. Ist diese bereits abgelaufen, so ist ein IZ-unschädliches Ausscheiden möglich.
x
Wirtschaftlicher Verbrauch: Hat das IZ-geförderte Wirtschaftsgut für das begünstigte Unternehmen und auch für Dritte keinen Wert mehr, weil es in dem Betrieb wirtschaftlich tatsächlich nicht mehr nutzbar ist und seine Nutzung auch durch andere Unternehmen ausgeschlossen ist, wird eine Aussonderung auch während der Bindefrist als IZ-unschädlich anerkannt. Dies ist etwa der Fall, wenn ein möglicher Veräußerungserlös nicht mehr als 10 % der für die IZ zugrunde gelegten Anschaffungs- oder Herstellungskosten beträgt.72) Gerade bei marktstrukturellen Veränderungen, die eine gesamte Branche erfassen und die betreffenden Unternehmen zu Sanierungsmaßnahmen zwingen, kann dies im Einzelfall eine Möglichkeit eröffnen, kostensparend Betriebsstätten (teil-)stillzulegen, ohne IZ zurückzahlen zu müssen.
Diese Gestaltungsmöglichkeiten werfen im Einzelfall häufig komplexe recht- 71 liche und tatsächliche Fragen auf. Insofern empfiehlt es sich, vor jeglicher Art von Sanierungsmaßnahmen nach Möglichkeit beim zuständigen Finanzamt einen Antrag auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft (§ 89 Abs. 2 AO)73) zu stellen. Bei hinreichendem zeitlichen Vorlauf lässt sich hierdurch Planungs- und Rechtssicherheit erzielen.
___________ 70) BFH, Urt. v. 7.3.2002 – III R 41/09, BFHE 198, 173 = BStBl. II 2002, 582. 71) Vgl. hierzu Rz. 75 des BMF-Schreibens. 72) Vgl. BFH, Urt. v. 9.12.1999 – III R 49/97, BFHE 190, 559 = DStR 2000, 586; BFH, Urt. v. 27.4.1999 – III R 32/98, BFHE 188, 475 = BStBl. II 1999, 615; Rz. 75 des BMFSchreibens. 73) Vgl. hierzu Klein-Rätke, AO, § 89 Rz. 12 ff.; Lahme/Reiser, BB 2007, 408 ff.
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Teil V Formen der Beendigung von Arbeitsverträgen in der Restrukturierung und Insolvenz Einleitung des Herausgebers: Das letzte Kapitel des Sammelbandes befasst sich mit allen denkbaren Formen, Arbeitsverträge in der Krise zu beenden. Im Mittelpunkt stehen naturgemäß der Aufhebungs- und Abwicklungsvertrag, die Transfergesellschaft und die Ruhestandsmodelle sowie alle Instrumente typischer „Freiwilligenprogramme“, gleich ob in oder außerhalb der Insolvenz.
§ 19 Aufhebungsvertrag in der Krise Übersicht I. Einführung......................................... 1 II. Rücktritt vom Aufhebungsvertrag und Prozessvergleich .............. 15 1. Anwendbarkeit des § 323 BGB........ 15 2. Besonderheiten in der Insolvenz ..... 19
3. Fristsetzung ...................................... 26 III. Rechtsfolgen des wirksamen Rücktritts ......................................... 27 IV. Möglichkeiten der Vertragsgestaltung......................................... 34
Literatur: Abele, Kein Rücktritt vom Aufhebungsvertrag nach Antragstellung auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, NZA 2012, 487; Bauer, Neue Spielregeln für Aufhebungsund Abwicklungsverträge durch das geänderte BGB, NZA 2002, 169; Besgen/Velten, Der Rücktritt vom Aufhebungsvertrag in der Insolvenz, NZA-RR 2010, 561; Huber, Gegenseitige Verträge und Teilbarkeit von Leistungen in der Insolvenz, NZI 2002, 467; Reinfelder, Der Rücktritt von Aufhebungsvertrag und Prozessvergleich, NZA 2013, 62.
I.
Einführung
Der Ausspruch von betriebsbedingten Kündigungen erfolgt auch in Krisen- 1 zeiten oftmals nur als letztes Mittel zur Personalreduzierung und zwar dann, wenn mit einem dauerhaften Beschäftigungsrückgang zu rechnen ist. Kündigungen werden zudem ganz allgemein als stigmatisierend empfunden und deshalb nur ausgesprochen, wenn andere Maßnahmen zur substantiellen Kostenanpassung vollständig ausgeschöpft sind. Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen mittels betriebsbedingter Kündigung von Teilen der eigenen Stammbelegschaft wird sich zumeist als die risikoreichste sowie zeit- und kostenintensivste Handlungsalternative zur Umsetzung einer erforderlichen Personalrestrukturierung darstellen. Bei reinen konjunkturellen Schwankungen kommt neben der Möglichkeit zur 2 Anordnung von Betriebsferien im Krisenzeitraum zunächst auch eine intensive Nutzung flexibler Arbeitszeitmodelle in Betracht: In konjunkturellen „Hochzeiten” wird mehr gearbeitet und ein Arbeitszeitguthaben erworben, welches dann in Krisenzeiten wieder abgebaut werden kann. Da das Arbeitsentgelt regelmäßig jeden Monat in unveränderter Höhe anfällt, bringen flexible Arbeitszeitmodelle zwar keine unmittelbare finanzielle Entlastung für den Arbeitgeber. Flexible Arbeitszeitmodelle haben allerdings den großen Vorteil, sehr kurzfristig und anpassungsfähig auf Schwankungen beim Arbeitsanfall reagieren zu können. Bei nur zeitweiligem Beschäftigungsmangel sollte vorrangig geprüft werden, ob 3 im gesamten Betrieb oder in einzelnen Abteilungen zunächst Kurzarbeit zur vorübergehenden Absenkung der Arbeitszeit eingeführt oder mit einzelnen Mitarbeitern ein Ruhen des Arbeitsverhältnisses über einen bestimmten Zeitraum oder die Gewährung von unbezahltem Langzeiturlaub oder einem Sabbatical vereinbart werden kann. In diesen Fällen bleiben die Mitarbeiter über
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§ 19 Aufhebungsvertrag in der Krise
einen längeren Zeitraum dem Unternehmen fern, obgleich damit das Beschäftigungsverhältnis nicht beendet wird. Wird das Ruhen des Arbeitsverhältnisses über einen bestimmten Zeitraum vereinbart, ist der Arbeitnehmer nicht zur Arbeitserbringung verpflichtet und erhält deshalb andererseits grundsätzlich auch keine Vergütung. Sofern sich der Beschäftigungsbedarf im Unternehmen wieder erhöht, stehen diese Mitarbeiter ohne längere Einarbeitungszeiten wieder zur Verfügung. 4 Ist es geboten, den Personalbestand dauerhaft zu reduzieren, müssen Beschäftigungsverhältnisse beendet werden. Bevor die eigene Stammbelegschaft reduziert wird, werden nach der ultimo ratio zunächst Leiharbeiter freizusetzen sein und befristete Arbeitsverträge werden nicht (mehr) verlängert. In Betracht kommen ferner der Abschluss von Altersteilzeitvereinbarungen sowie die Einrichtung einer Transfergesellschaft. 5 Kommt die Arbeitgeberseite zu der Prognose, dass der Beschäftigungsmangel dauerhaft oder zumindest für eine unüberschaubar lange Zeitdauer bestehen wird und entschließt sie sich zur Personalreduzierung mittels betriebsbedingter Kündigungen, ist bei Überschreiten des Schwellenwerts in § 23 Abs. 1 KSchG sowie nach Erreichen der sechsmonatigen Wartezeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG das KSchG anzuwenden. Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung u. a. dann sozial gerechtfertigt, wenn sie durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen. 6
Praxishinweis Die betrieblichen Erfordernisse müssen zu einer Unternehmerentscheidung führen, aufgrund derer der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers wegfällt. Wie bei allen Kündigungen ist weiterhin i. R. der ultima ratio die Möglichkeit einer Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz im Unternehmen zu prüfen.1)
7 Zudem hat der Arbeitgeber eine Sozialauswahl durchzuführen, § 1 Abs. 3 KSchG. Dabei geht es nicht mehr um die Frage, ob gekündigt werden darf, sondern wem gegenüber der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen darf. Hier sind insbesondere die Kriterien Alter bzw. Bildung von Altersgruppen im Moment in Rechtsprechung und Literatur sehr umstritten und stellen für den Arbeitgeber, der eine betriebsbedingte Kündigung aussprechen möchte, erhebliche Risikofaktoren dar. Führt der Arbeitgeber keine oder keine ausreichende Sozialauswahl durch, so ist die Kündigung trotz dringender betrieblicher Erfordernisse sozialwidrig und damit unwirksam.2) 8 Aufhebungsverträge sind deshalb aus Gründen der Rechtssicherheit ein geeignetes Mittel, um die Unwägbarkeiten des § 1 KSchG und die sich hieraus erge___________ 1) Oetker in: ErfK, § 1 KSchG Rz. 245 ff. 2) BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 15/01, DB 2003, 50.
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I. Einführung
benden finanziellen Risiken einer Kündigungsschutzklage zu vermeiden. Beim Aufhebungsvertrag vereinbaren die Parteien die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings wird der Arbeitnehmer seiner Vertragsauflösung nur zustimmen, wenn als Gegenleistung für sein freiwilliges Ausscheiden eine entsprechende Abfindung vereinbart wird. Typischerweise wird das Arbeitsverhältnis nach Abschluss eines Aufhebungsvertrages noch für eine bestimmte Zeitdauer fortgesetzt und die Abfindung erst am Ende der Auslauffrist, d. h. zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig. Beim Aufhebungsvertrag tritt der Arbeitnehmer also regelmäßig zunächst in Vorleistung und trägt deshalb das Insolvenzrisiko des Arbeitgebers. Dieses Insolvenzrisiko trägt der Arbeitnehmer auch beim Abschluss eines Pro- 9 zessvergleichs, wenn der Arbeitnehmer i. R. einer gerichtlichen Einigung die Beendigung des gekündigten Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung akzeptiert und damit seinen Arbeitsvertrag und sein Klagerecht endgültig aufgibt. Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer im Falle der späteren Insolvenz des Arbeitgebers seinem Arbeitsplatz verliert, ohne dass er seine Abfindung realisieren kann. 10
Praxishinweis Nach ganz h. M. ist der Prozessvergleich ein Vertrag mit sog. Doppelnatur. Er ist Prozesshandlung und materiell-rechtliches Rechtsgeschäft in einem. Prozesshandlung ist der Vergleich, weil er den Rechtsstreit unmittelbar beendet. Er ist materielles Rechtsgeschäft, weil er als privatrechtlicher Vertrag, die materiell-rechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien (unabhängig von der tatsächlichen Rechtslage) neu ordnet.
Auf die Abfindung erhält der Arbeitnehmer als Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO), 11 nach ordnungsgemäßer Forderungsanmeldung (§§ 174 ff. InsO), nur die Insolvenzquote, § 108 Abs. 3 InsO. Auf dieses Insolvenzrisiko ist der Arbeitnehmer vom beratenden Anwalt hinzuweisen. Denn ein Rücktritt vom Aufhebungsoder Abwicklungsvertrag sowie vom Prozessvergleich gemäß §§ 323 ff. BGB scheidet ohne besondere Vertragsgestaltung in aller Regel aus. 12
Praxishinweis Schließt der Arbeitnehmer im vorläufigen Insolvenzverfahren mit einem starken vorläufigen Insolvenzverwalter einen Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag oder einen Prozessvergleich, so ist der Abfindungsanspruch Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 2 Satz1 InsO. Entsprechendes gilt, wenn der Vertrag oder die gerichtliche Einigung erst nach Verfahrenseröffnung erfolgt, § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. In diesen Fällen bleibt dem Arbeitnehmer jedoch das Risiko der späteren Masseunzulänglichkeit, §§ 208, 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO, da Altmasseverbindlichkeiten nur anteilig getilgt werden dürfen.
Der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses in der Insolvenz des Arbeitgebers ist 13 selbst bei baldiger Stilllegung des Geschäftsbetriebes durch den Insolvenzverwalter vorteilhaft. Denn es besteht zumindest für drei Monate vor VerfahrensGossak
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§ 19 Aufhebungsvertrag in der Krise
eröffnung Anspruch auf Insolvenzgeld gemäß §§ 165 ff. SGB III sowie die Möglichkeit, an einem etwaigen Sozialplan nach § 123 InsO teilzunehmen. Die Auslauflöhne nach Verfahrenseröffnung sind ferner Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. 14
Praxishinweis In der Praxis sollte deshalb stets geprüft werden, ob sich der Arbeitnehmer von einem vor Insolvenz geschlossenen Aufhebung- oder Abfindungsvertrag oder von einem Prozessvergleich lösen kann.3)
II.
Rücktritt vom Aufhebungsvertrag und Prozessvergleich Zum Aufhebungsvertrag: Der Rücktritt eines Arbeitnehmers von einem mit dem Arbeitgeber geschlossenen Aufhebungsvertrag wegen Nichtzahlung der vereinbarten Abfindung ist ausgeschlossen, wenn das Insolvenzgericht dem Arbeitgeber nach dem Eröffnungsantrag derartige Zahlungen gemäß § 21 InsO untersagt hat. BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205 Zum Abwicklungsvertrag: Der Umstand, dass ein Abfindungsanspruch aus einem Prozessvergleich durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers zur Insolvenzforderung wird, begründet kein Rücktrittsrecht des Arbeitnehmers nach § 323 Absatz I Alt. 1 BGB. Voraussetzung für das gesetzliche Rücktrittsrecht nach § 323 BGB ist die Durchsetzbarkeit der ursprünglichen Forderung. Ein durch einen zuvor mit dem Schuldner geschlossenen Prozessvergleich begründeter Abfindungsanspruch ist nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr durchsetzbar. Der Arbeitnehmer kann nicht mehr auf Leistung der Abfindung klagen, sondern nur noch gemäß §§ 174 ff. InsO die Feststellung der Forderung zur Insolvenztabelle verlangen. BAG, Urt. v. 11.7.2012 – 2 AZR 42/11, NZA 2012, 1316
1.
Anwendbarkeit des § 323 BGB
15 „Pacta sund servanda“ – Verträge sind einzuhalten. Dieser Grundsatz gilt auch für einen Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag sowie für einen Prozessvergleich. Der typische Aufhebungs- und Abwicklungsvertrag begründet ebenso wie der Prozessvergleich mit seiner Doppelnatur Rechtspflichten für beide Vertragsparteien. Wird eine beiderseitige Vereinbarung nicht eingehalten, besteht regelmäßig die Möglichkeit zum Rücktritt, es sei denn, die Parteien haben das Rücktrittsrecht ausgeschlossen. § 323 BGB ist dispositiv.4) 16 Nach § 323 BGB besteht ein gesetzliches Rücktrittsrecht dann, wenn der Schuldner eines gegenseitigen Vertrages eine Haupt- oder Nebenpflicht nach ___________ 3) So auch Besgen/Velten, NZA-RR 2010, 561. 4) Palandt-Grünberg, BGB, § 323 Rz. 2.
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II. Rücktritt vom Aufhebungsvertrag und Prozessvergleich
Fristsetzung, die in bestimmten Fällen entbehrlich sein kann (§ 323 Abs. 2 BGB) nicht oder nicht vertragsgemäß erfüllt. Gleiches gilt im Fall der Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 5 i. V. m. § 275 BGB); einer Fristsetzung bedarf es dann nicht.5) Beim Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag werden im Vergleich zum Ar- 17 beitsvertrag ganz andere Haupt- und Nebenpflichten wie die Beendigung des Arbeitsvertrages gegen Zahlung einer Abfindung sowie Modalitäten zur weiteren Abwicklung geregelt. Das gesetzliche Rücktrittsrecht tritt in diesen Fällen nicht hinter das grundsätzlich vorrangige Kündigungsrecht bei Dauerschuldverhältnissen zurück. Die Parteien eines Aufhebungsvertrages oder eines Prozessvergleichs können 18 das dispositive gesetzliche Rücktrittsrecht jedoch ausdrücklich oder stillschweigend ausschließen. Nach hier vertretener Ansicht kann ohne besondere Anhaltspunkte nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass beim Abschluss eines Aufhebungsvertrages oder beim Prozessvergleich das gesetzliche Rücktrittsrecht regelmäßig abbedungen wird.6) Das BAG hat diese Frage bisher offengelassen.7) 2.
Besonderheiten in der Insolvenz Das BAG hat sowohl für den Aufhebungsvertrag als auch für den Prozessvergleich das gesetzliche Rücktrittsrecht abgelehnt: BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205
Schließt der Arbeitnehmer in der Krise seines Arbeitgebers einen Aufhebungs- 19 vertrag oder Prozessvergleich, tritt er mit seiner Hauptleistungspflicht, der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem bestimmten Austrittstermin, regelmäßig in Vorleistung. Denn die vereinbarte Abfindung wird oftmals erst nach der vereinbarten Auslauffrist, also mit tatsächlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Zahlung fällig. Selbst für den Fall, dass die Abfindung sofort fällig ist, trägt der Arbeitnehmer gleichwohl das Erfüllungs- oder Insolvenzrisiko seines Arbeitgebers. Die Zwangslage des Arbeitnehmers besteht also darin, dass es eigentlich seinem wirtschaftlichen Interesse entspricht, möglichst lange Auslauffristen zu vereinbaren. Damit erhöht sich aber gleichzeitig das Ausfall- und Insolvenzrisiko in Bezug auf die Abfindung.
___________ 5) Reinfelder, NZA 2013, 62. 6) LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.6.2011 – 12 Sa 1/10, BeckRS 2011, 77577; Reinfelder, NZA 2013, 62; Besgen/Velten, NZA RR 2010, 561. 7) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205.
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§ 19 Aufhebungsvertrag in der Krise
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Praxishinweis Ein Ausweg aus dieser Zwangslage kann darin gefunden werden, dass die Arbeitnehmerseite z. B. in Sozialplanverhandlungen oder Sozialtarifverträgen verstärkt auf die Vereinbarung von „Sprinterprämien“ besteht. Dabei wird dem Arbeitnehmer ein kurzfristiges Kündigungsrecht eingeräumt sowie durch eine Zusatzabfindung ein weiterer Anreiz für ein sofortiges oder schnelles Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis geschaffen.8)
21 Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 323 BGB bzw. § 326 Abs. 5 BGB und somit weitere Voraussetzung für einen Rücktritt ist nach einhelliger Auffassung die Durchsetzbarkeit der Forderung. Kommt es nach Abschluss der Vereinbarung oder des Prozessvergleichs zum Insolvenzantrag über das Vermögen des Arbeitgebers, kann der Arbeitnehmer seine Forderung aber rechtlich nicht mehr durchsetzen. Denn das Insolvenzgericht ordnet vorläufige Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO an, so dass der Arbeitgeber als Schuldner die Abfindung nicht mehr ausbezahlen kann. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens steht § 108 Abs. 3 InsO der Bezahlung der Abfindung aus der Masse entgegen. Aus diesem Grunde hat das BAG9) sowohl für den Aufhebungsvertrag als auch für den Prozessvergleich das gesetzliche Rücktrittsrecht abgelehnt. 22 Eine Ausübung des Rücktrittsrechts nach Stellung des Insolvenzantrags dürfte gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO jedenfalls dann regelmäßig anfechtbar sein, wenn der Arbeitnehmer entweder die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag kannte. Der Durchsetzbarkeit seines Zahlungsanspruchs aus dem Auflösungsvertrag oder dem Prozessvergleich steht nämlich im Falle der insolvenzrechtlichen Anfechtbarkeit die „dolo-petit-Einrede des § 242 BGB entgegen.10) Denn der Arbeitnehmer müsste die erhaltene Abfindung nach § 143 Abs. 1 InsO wieder alsbald an die Insolvenzmasse zurückzahlen. 23 Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer hinsichtlich des Abfindungsbetrages in aller Regel wirtschaftlich ausfällt und nur als Insolvenzgläubiger befriedigt werden kann. Das BAG hat dabei die weitere Frage offengelassen, ob es im Falle der unbestrittenen Feststellung der Forderung zur Insolvenztabelle bereits an einer Nichterfüllung i. S. des § 323 Abs. 1 BGB fehlt oder jedenfalls ein einmal begründetes Rücktrittsrecht dadurch untergeht.11) 24 Da es sich auch bei der Aufhebung des Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrages um einen gegenseitigen Vertrag handelt, können im eröffneten Insolvenzverfahren auf das Rückabwicklungsschuldverhältnis die Regelungen der §§ 103 ff. InsO zur Anwendung kommen. Seit der Grundsatzentscheidung ___________ 8) Göpfert, ArbR Aktuell 2012, 94, Anm. zu BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205. 9) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205. 10) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205. 11) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205.
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II. Rücktritt vom Aufhebungsvertrag und Prozessvergleich
des BGH vom 25.4.200212) ist davon auszugehen, dass die offen gebliebenen Ansprüche nicht erlöschen, sondern jedenfalls bis zur Ausübung des Wahlrechts durch den Insolvenzverwalter fortbestehen. Diese offenen Ansprüche verlieren durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens lediglich ihre Durchsetzbarkeit.13) Nur für den Fall der Erfüllungswahl durch den Insolvenzverwalter wird die Abfindung zur Masseverbindlichkeit, §§ 103 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO. Wählt der Insolvenzverwalter die Erfüllungsverweigerung, erhält der Arbeitnehmer hingegen nur einen Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung als Insolvenzforderung gemäß § 38 InsO. Das Wahlrecht des Insolvenzverwalters nach §§ 103 ff. InsO kann nur dann 25 ausgeübt werden, wenn auch der Arbeitnehmer seinen eigenen Verpflichtungen aus dem Aufhebungsvertrag zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung noch nicht oder nicht vollständig nachgekommen ist (…vom Schuldner und vom anderen Teil nicht oder nicht vollständig erfüllt…). Besteht die Erfüllungspflicht des Arbeitnehmers jedoch ausschließlich in der Zustimmung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, so ist der Anwendungsbereich der §§ 103 ff. InsO nur eröffnet, wenn die Aufhebungsvereinbarung neben seiner Zustimmung zur Vertragsbeendigung weitere Pflichten, wie z. B. die Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots bestimmt.14) Da der Insolvenzverwalter sein Wahlrecht nach freiem Ermessen ausüben kann, kann der Arbeitnehmer bei der Rückabwicklung des Aufhebungsvertrages in aller Regel nur auf eine möglichst hohe Insolvenzquote hoffen. Die Fälle, in denen der Insolvenzverwalter Erfüllung wählen und dadurch die Abfindung zum Masseanspruch gestaltet, sind praktisch kaum vorstellbar. 3.
Fristsetzung
Nach § 323 Abs. 1 BGB setzt der Rücktritt regelmäßig die Setzung einer an- 26 gemessenen Frist zur Leistung oder Nacherfüllung voraus. Nach § 323 Abs. 2 BGB ist die Fristsetzung entbehrlich, wenn der Schuldner eindeutig zum Ausdruck bringt, er werde seinen Vertragspflichten nicht nachkommen. Dies ist dann der Fall, wenn der Schuldner sich von einer Fristsetzung unter keinen Umständen umstimmen lassen würde.15) Die Ausübung des Rücktrittsrechts kann gemäß § 323 Abs. 6 BGB und § 242 BGB ausgeschlossen sein, wenn der Gläubiger für den Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigen würde, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist oder sich in Annahmeverzug befindet.
___________ 12) 13) 14) 15)
BGH, Urt. v. 25.4.2002 – IX ZR 313/99, ZIP 2002, 1093 = NJW 2002, 2783. Huber, NZI 2002, 467. Abele, NZA 2012, 487. Palandt-Grünberg, BGB, § 323 Rz. 19 m. w. N.
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§ 19 Aufhebungsvertrag in der Krise
Dies kann etwa dann relevant sein, wenn eine Mitwirkungshandlung des Arbeitnehmers erforderlich ist, wie etwa bei einer Beschäftigung.16) III.
Rechtsfolgen des wirksamen Rücktritts
27 Durch die Ausübung des Rücktritts entsteht ein Rückgewährschuldverhältnis und die primären Leitungspflichten erlöschen. Nach § 346 Abs. 1 BGB sind die empfangenen Leistungen zurückzugewähren und gezogene Nutzungen herauszugeben. Die Vertragsparteien sind dabei so zu stellen, als wenn der Vertrag, von dem eine Partei zurücktritt, nicht abgeschlossen worden wäre. Weitergehende Schadensersatzansprüche bleiben unberührt, § 325 BGB. 28 Dies kann bei einer Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu größeren dogmatischen Schwierigkeiten führen. In Betracht kommt, dass das zunächst beendete Arbeitsverhältnis durch den wirksamen Rücktritt wieder auflebt oder dass es im Wege der Rückabwicklung des Aufhebungsvertrages neu begründet werden muss. Das BAG hat die dogmatische Konstruktion der „Wiederherstellung“ des Arbeitsverhältnisses in seiner Entscheidung vom 10.11.2011 leider ausdrücklich offengelassen.17) 29 Zu unterscheiden ist die Situation, ob das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag ohne vorangegangene Kündigung beendet wurde oder ob nach erfolgter Kündigung ein Abwicklungsvertrag geschlossen worden ist. 30 Wurde das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag ohne vorangegangene Kündigung beendet, so kann der Rücktritt vom Vertrag zwanglos zur Wiederherstellung des Arbeitsvertrages führen. Denn die Beendigungswirkung im Aufhebungsvertrag kann durch den Rücktritt beseitigt werden.18) Nach hier vertretener Ansicht könnte deshalb folgender Antrag gestellt werden: Beispiel Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch den Aufhebungsvertrag vom … (Datum) nicht beendet worden ist. 31 Dogmatisch schwieriger ist die Situation beim Abwicklungsvertrag, da durch den Rücktritt nicht die ausgesprochene Kündigung und dessen Beendigungswirkung in Bezug auf den Arbeitsvertrag beseitigt werden kann und bei Ausübung des Rücktrittsrechts in aller Regel die Klagefrist nach § 4 KSchG sowie die Frist des § 5 KSchG zur nachträglichen Zulassung einer verfristeten Klage bereits abgelaufen sein dürfte. In solchen Fällen gilt die Kündigung gemäß § 7 KSchG als von Anfang an wirksam, so dass meines Erachtens nur die Möglich___________ 16) Vgl. die Fallgestaltung LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.6.2011 – 12 Sa 1/10, BeckRS 2011, 77577. 17) BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91 = NZA 2012, 205. 18) Bauer, NZA 2002, 169; Schaub-Linck, Arbeitsrechts-Hdb., § 122 Rz. 37; Reinfelder, NZA 2013, 62.
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III. Rechtsfolgen des wirksamen Rücktritts
keit besteht, das Arbeitsverhältnis rückwirkend zum Zeitpunkt der Beendigung neu zu begründen. Konsequenterweise müsste dann auch die Klagefrist des § 4 KSchG bzw. die Frist des § 5 KSchG erst mit Erklärung des Rücktritts zu laufen beginnen.19) Dieser „systemwidrige“ Ansatz ist jedenfalls im Ergebnis interessengerecht, weil der Arbeitnehmer die dreiwöchige Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG nur im Hinblick auf den Abwicklungsvertrag verstreichen ließ. Nach hier vertretener Ansicht könnte folgender Antrag gestellt werden: Beispiel Der Beklagte wird verurteilt, das Vertragsangebot des Klägers auf rückwirkende Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses mit Wirkung ab dem … (Datum) zu den Bedingungen des vormaligen Arbeitsvertrages vom … (Datum) anzunehmen. 32
Praxishinweis Solange die Wirkungen des Rücktritts vom Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag sowie vom Prozessvergleich höchstrichterlich nicht geklärt sind, sollten die möglichen Anträge in einem Hilfsverhältnis verbunden werden, wobei der Hauptantrag naturgemäß auf das Fortsetzen des bisherigen Arbeitsverhältnisses gerichtet sein muss.20)
Dogmatisch einfacher wiederum ist die Rückabwicklung des Prozessvergleichs, 33 wenn also der Arbeitnehmer rechtzeitig Kündigungsschutzklage eingereicht hat. Denn in diesem Fall war die Wirksamkeit der Kündigung bereits vor dem Zeitpunkt der Einigung in der Schwebe. Dieser Zustand kann durch den Rücktritt vom Prozessvergleich wieder hergestellt werden.21) Der Rücktritt vom Prozessvergleich beseitigt jedenfalls nach der Rechtsprechung des BAG nicht nur die materiell-rechtlichen Folgen der Einigung, sondern auch die prozessbeendigende Wirkung des Vergleichs.22) Das BAG23) sowie weitere Urteile einzelner Instanzgerichte24) begründen diese Ansicht in Abweichung zur Rechtsprechung des BGH25) und des BVerwG26) mit prozesswirtschaftlichen Aspekten und dem besonderen arbeitsgerichtlichen Beschleunigungsgrundsatz. Mit Hinblick auf das Fristensystem des KSchG führt die Rechtsprechung des BAG zu einer praxistauglichen Lösung. Denn dadurch, dass durch den Rücktritt vom Prozessvergleich nicht nur die materiellen Wirkungen der Einigung, ___________ Vgl. Reinfelder, NZA 2013, 62. So auch Reinfelder, NZA 29013, 62. Bauer, NZA 2002, 169. BAG, Urt. v. 28.3.1985 – 2 AZR 92/84, BeckRS 1985, 30713418; zust. Bauer, NZA 2002, 169. BAG, Urt. v. 28.3.1985 – 2 AZR 92/84, BeckRS 1985, 30713418. LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 26.6.2012 – 5 Sa 253/11, BeckRS 2012, 71602; LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.6.2011 – 12 Sa 1/10, BeckRS 2011, 77577; LAG Köln, Urt. v. 5.1.1996 – 4 Sa 909/94, NZA-RR 1997, 11. 25) BGH, Urt. v. 15.4.1964 – Ib ZR 201/62, NJW 1964, 1524. 26) BVerwG, Urt. v. 27.10.1993 – 4 B 175/93, NJW 1994, 2306 m. w. N.
19) 20) 21) 22) 23) 24)
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§ 19 Aufhebungsvertrag in der Krise
sondern darüber hinaus auch der prozessbeendigende Vergleich selbst „rückabgewickelt“ wird, kann der Prozess in der Lage fortgeführt werden, in der er sich bei Vergleichsabschluss befunden hat.27) IV.
Möglichkeiten der Vertragsgestaltung
34 Den Arbeitsvertragsparteien steht es frei, zu vereinbaren, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer für die einvernehmliche Aufgabe des Arbeitsplatzes eine Abfindung erhalten soll.28) Welche Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sein müssen, um einen vertraglichen Abfindungsanspruch entstehen zu lassen, richtet sich deshalb nach dem Parteiwillen. Damit bleibt es grundsätzlich zulässig, die Wirksamkeit des Aufhebungs- bzw. Abwicklungsvertrags sowie den Prozessvergleich etwa unter eine auflösende Bedingung zu stellen für den Fall, dass der Abfindungsvertrag nicht zu einem bestimmten Termin bezahlt werden sollte.29) Alternativ könnte für den Fall der Nichtzahlung auch ein zeitlich bedingtes Widerrufsrecht oder ein vertragliches Rücktrittrecht vereinbart werden. 35 Eine diesbezügliche Vertragsgestaltung schützt den Arbeitnehmer naturgemäß nicht vor dem Risiko der Insolvenzanfechtung.30) Eine Auszahlung der Abfindung in den letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag ist gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar, wenn der Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt bereits zahlungsunfähig war und der Arbeitnehmer die Zahlungsunfähigkeit kannte oder zumindest Umstände kannte, welche auf die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zwingend schließen ließen. 36 Ein vertragliches Rücktritts- oder Widerrufsrecht ist umso mehr dem Anfechtungsrisiko ausgesetzt, je enger es mit einer drohenden Insolvenz in Verbindung gebracht wird. Eine ebensolche Vertragsgestaltung beseitigt deshalb nicht das Risiko einer Insolvenzanfechtung, sie kann es dem Arbeitnehmer aber erleichtern, seinen Arbeitsvertrag zunächst zu „retten“. Dann bliebe dem Arbeitnehmer zumindest der Anspruch auf das Insolvenzgeld sowie ggf. die spätere Teilnahme an einem Insolvenzsozialplan erhalten. Die Auslauflöhne nach Verfahrenseröffnung sind Masseverbindlichkeiten, § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO.
___________ 27) Reinfelder, NZA 2013, 62. 28) BAG, Urt. v. 16.5.2000 – 9 AZR 277/99, ZIP 2000, 2126 = NZA 2000, 1236. 29) Bauer, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, I., Rz. 92 f.; Wolf, FD-InsR 2012, 327377, Urteilsanm. zu BAG, Urt. v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10; ebenso Siebert, GWR 2012, 69 (Urteilsanm.). 30) M. E. zu weitgehend Abele, NZA 2012, 487, der unterstellt, dass der Arbeitnehmer bei einer derartigen Vertragsgestaltung der Liquidität seines Arbeitgebers latent misstraue.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz Übersicht I. Allgemeines ....................................... 1 II. Kündigungen in der Restrukturierung .............................. 2 1. Generelle Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung ........... 3 a) Dringende betriebliche Erfordernisse ............................... 4 aa) Wegfall von Arbeitsplätzen durch Unternehmerentscheidung......................... 5 bb) Weiterbeschäftigung als milderes Mittel.................... 11 b) Ordnungsgemäße Sozialauswahl ............................. 16 2. Betriebsratsanhörung ....................... 24 3. Besondere Voraussetzungen beim Bestehen von Sonderkündigungsschutz............................. 29 a) Mutterschutz/Elternzeit ........... 29 b) Schwerbehinderte/ gleichgestellte Arbeitnehmer.... 33 c) Ordentlich unkündbare Arbeitnehmer ............................ 36 4. Besonderheiten in der Insolvenz ..... 40
a) Vertragliche Kündigungsbeschränkungen......................... 41 b) Kündigungsfristen..................... 43 c) Gerichtliche Überprüfung der Kündigung........................... 45 III. Besonderheiten bei Massenentlassungen .................................... 51 1. Voraussetzungen einer Massenentlassung ......................................... 53 a) Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG ............................ 53 b) Entlassungsbegriff..................... 55 2. Beteiligungsrechte des Betriebsrates (Konsultationsverfahren) ....... 57 a) Ablauf des Konsultationsverfahrens .................................. 57 b) Rechtliche Wirkung des Konsultationsverfahrens........... 63 3. Massenentlassungsanzeige ............... 65 a) Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige........ 65 b) Rechtliche Wirkung der Massenentlassungsanzeige........ 70
Literatur: Bröhl, Aktuelle Tendenzen der BAG-Rechtsprechung zu ordentlich unkündbaren Arbeitnehmern, RdA 2010, 170; Ehler, Unbeachtlichkeit tarifrechtlicher Kündigungsschutzregelungen bei der personellen Konkretisierung der Sozialauswahl, BB 1994 2068; Giesen, Das neue Kündigungsrecht in der Insolvenz, ZIP 1998, 46; Groeger, Probleme der außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung ordentlich unkündbarer Arbeitnehmer, NZA 1999, 850; Lerch/Weinbrenner, Auswirkungen individualrechtlicher Unkündbarkeitsregelungen auf die Sozialauswahl, NZA 2011, 1388; Leuchten, Freikündigungspflicht zur Weiterbeschäftigung, NZA 2007, 585; Rieble, Das insolvenzrechtliche Beschlussverfahren nach § 126 InsO, NZA 2007, 1393; Schramm/Kuhnke, Das Zusammenspiel von Interessenausgleichs- und Massenentlassungsanzeigeverfahren, NZA 2011, 1071; Weinmann/ Schild, Das Arbeitnehmermandat, 2008.
I. Allgemeines Unabhängig davon, welchen langfristigen Zweck ein krisengeplagtes Unter- 1 nehmen mit seiner Restrukturierung verfolgt, wird diese immer auch der Kostensenkung dienen. Einen wesentlichen Anteil an den Gesamtkosten eines Unternehmens machen in der Regel die Personalkosten aus – auch wenn dieser Anteil von Branche zu Branche variiert. Effektive Restrukturierung setzt daher in den Wilke
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
meisten Fällen auch an einer Reduzierung der Personalkosten an. Dies schlägt sich häufig in der Entlassung von Arbeitnehmern nieder, mag sich der Umfang der Entlassungen – auch im Verhältnis zu anderen, personellen Maßnahmen – im Einzelnen auch von Konzept und Konzept unterscheiden. II.
Kündigungen in der Restrukturierung
2 Die im Zuge einer Restrukturierung ausgesprochenen Kündigungen sind immer betriebsbedingte Kündigungen. Damit diese betriebsbedingten Kündigungen rechtswirksam sind, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Dies gilt auch in der Unternehmensinsolvenz. Besondere Regelungen bestehen gegenüber Arbeitnehmern, die Sonderkündigungsschutz genießen. 1.
Generelle Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung
3 Ist der Anwendungsbereich des KSchG eröffnet, muss die betriebsbedingte Kündigung – neben der nach § 623 BGB erforderlichen Schriftform – zwei Voraussetzungen erfüllen, um rechtswirksam zu sein. Sie muss zunächst nach § 1 Abs. 1, 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse gerechtfertigt sein, die einer Weiterbeschäftigung entgegenstehen. Darüber hinaus muss grundsätzlich eine Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG ordnungsgemäß durchgeführt werden. a)
Dringende betriebliche Erfordernisse
4 Dringende betriebliche Erfordernisse i. S. von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG liegen vor, wenn die Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer im Betrieb durch eine Unternehmerentscheidung entfallen ist und kein milderes Mittel als die Kündigung zur Verfügung steht.1) Das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse wird nach § 1 Abs. 5 KSchG gesetzlich vermutet, wenn zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat in einem Interessenausgleich die zu kündigenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnet sind. In der Praxis lassen sich Betriebsräte jedoch nur sehr selten – d. h. meist nur unter gleichzeitiger Vereinbarung eines großzügigen Sozialplanes – auf die Vereinbarung einer solchen Namensliste ein. aa)
Wegfall von Arbeitsplätzen durch Unternehmerentscheidung Sachliche Rechtfertigung: BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 2 AZR 12/10, BAGE 138, 321 = AP Nr. 25 zu § 1, KSchG 1969 Wartezeit.
5 Dem Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit muss eine Unternehmerentscheidung zu Grunde liegen. Beispiele für eine solche Unternehmerentscheidung ___________ 1) BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 2 AZR 12/10, BAGE 138, 321 = AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit.
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
können etwa die Einstellung bestimmter Geschäftsaktivitäten, die Schließung eines Betriebes oder die Veränderung von organisatorischen Strukturen sein. Die Unternehmerentscheidung ist als solche gerichtlich nicht auf ihre sachliche 6 Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen; es wird allein geprüft, ob die Entscheidung offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist.2) Mittlerweile ist für die Begründungsintensität und damit mittelbar für die Erfolgsaussichten des Arbeitgebers in einem späteren Gerichtsverfahren nicht mehr entscheidend, ob die Unternehmerentscheidung auf inner- oder außerbetrieblichen Gründen beruht. Das BAG geht auch bei einer durch bestimmte wirtschaftliche, d. h. weitgehend externe Entwicklungen veranlassten Organisationsentscheidung davon aus, dass diese grundsätzlich sachlich gerechtfertigt sind.3) Allerdings muss der Arbeitgeber in Fällen, in denen die Organisationsentschei- 7 dung und der Kündigungsentschluss praktisch deckungsgleich sind, konkrete Angaben dazu machen, wie sich seine Organisationsentscheidung auf die Einsatzmöglichkeiten der Arbeitnehmer auswirkt.4) Gerade in Restrukturierungssituationen, in denen Arbeitsaufkommen ggf. umverteilt und in der Folge Stellen gestrichen werden, bringt dies für den Arbeitgeber einen hohen Begründungsaufwand mit sich: x
Der Arbeitgeber muss hier konkret erläutern, in welchem Umfang und aufgrund welcher Maßnahmen die bisher von dem betroffenen Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeiten für diesen zukünftig entfallen.5)
x
Darüber hinaus muss er die Auswirkungen seiner unternehmerischen Vorgaben auf die zukünftige Arbeitsmenge anhand einer schlüssigen Prognose konkret darstellen und angeben, wie die anfallenden Arbeiten vom verbliebenen Personal ohne überobligationsmäßige Leistungen erledigt werden können.6)
Es ist daher gerade in Restrukturierungssituationen im Vorgriff auf kommende 8 Kündigungsschutzverfahren unbedingt empfehlenswert, die Unternehmerentscheidung sorgfältig zu dokumentieren. Wie diese Dokumentation aussehen sollte, hängt dabei von der einzelnen Restrukturierungsmaßnahme ab. Je näher ___________ 2) BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 2 AZR 12/10, BAGE 138, 321 = AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit. 3) BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 2 AZR 12/10, BAGE 138, 321 = AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit. 4) BAG, Urt. v. 16.12.2010 – 2 AZR 770/09, AP Nr. 186 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2011, 879. 5) BAG, Urt. v. 16.12.2010 – 2 AZR 770/09, AP Nr. 186 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2011, 879. 6) BAG, Urt. v. 16.12.2010 – 2 AZR 770/09, AP Nr. 186 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2011, 879.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
die Organisationsentscheidung jedoch an den Kündigungsentschluss heranrückt, desto mehr Begründungsaufwand wird anfallen. In diesen Fällen sollte der genaue wirtschaftliche Hintergrund der Unternehmerentscheidung beschrieben sowie eine Analyse von Ist- und Soll-Organisation angefertigt werden. Zweckmäßigerweise werden solche Ausführungen von einer entsprechenden Darstellung in Organigrammen begleitet. Hieran anknüpfend ist dann für jeden Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz wegfällt sowie für jeden Arbeitnehmer, der neue oder zusätzliche Arbeitsaufgaben zugewiesen bekommt, darzustellen, welche Aufgaben er zum Zeitpunkt der Unternehmerentscheidung erledigt. Außerdem ist zu erläutern, dass und wie die verbleibenden Arbeitnehmer die auf sie übertragenen Aufgaben zukünftig erledigen sollen.7) 9
Praxishinweis Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Dokumentation vor allem für den externen Gebrauch bestimmt ist, d. h. dass ein mit den Begrifflichkeiten und Gepflogenheiten des jeweiligen Unternehmens nicht vertrauter Richter den Vorgang aus sich heraus verstehen können muss. Dasselbe gilt teilweise auch für betriebsund personalwirtschaftliche Zusammenhänge. Verständnisschwierigkeiten seitens des Gerichts stellen unabhängig von der rechtlichen Bewertung der Restrukturierung ein nicht zu unterschätzendes – und oft vermeidbares – Risiko für den Erfolg der zu führenden Prozesse dar.
10 Die Beurteilung, ob Beschäftigungsmöglichkeiten wegfallen werden, findet zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs statt. Daher wird in aller Regel eine Prognose zu treffen sein, ob der Beschäftigungsbedarf mit Ablauf der Kündigungsfrist entfallen wird. Eine solche Prognose kann nach der Rechtsprechung des BAG nur dann getroffen werden, wenn die geplanten Maßnahmen im Kündigungszeitpunkt bereits „greifbare Formen“ angenommen haben; auf diese Art und Weise lasse der tatsächliche Eintritt der prognostizierten Entwicklung Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit und Plausibilität der Prognose zu.8) bb)
Weiterbeschäftigung als milderes Mittel
11 Die betrieblichen Erfordernisse sind nur dann dringend i. S. von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, wenn sie eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen. Obwohl das Gesetz sich seinem Wortlaut nach auf eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit innerhalb des Betriebes, nicht des Unternehmens bezieht, sind freie Arbeitsplätze im gesamten Unternehmen anzubieten. Ein Konzernbezug besteht in der Regel nicht. Der Arbeitnehmer kann sich nur dann auf die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung auf Arbeitsplätzen eines anderen Konzernunternehmens berufen, wenn sein Arbeitsvertrag eine Konzernversetzungs___________ 7) Ein Beispiel für eine missglückte Darlegung findet sich bei BAG, Urt. v. 16.12.2010 – 2 AZR 770/09, AP Nr. 186 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2011, 879. 8) BAG, Urt. v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, AP Nr. 188 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = NZA-RR 2012, 465 (st. Rspr.).
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
klausel oder eine ähnliche vertragliche Absprache enthält und sein Arbeitgeber rechtlich oder tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Unternehmen hat, zu dem er versetzt werden möchte.9) Der Arbeitgeber muss die Weiterbeschäftigung auf vorhandenen freien Ar- 12 beitsplätzen anbieten. Das sind solche, die zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs unbesetzt sind oder bezüglich derer der Arbeitgeber mit hinreichender Sicherheit vorhersehen kann, dass sie bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zur Verfügung stehen werden.10) Die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung besteht nur dann, wenn ein ver- 13 gleichbarer freier Arbeitsplatz im Unternehmen vorhanden ist. Das ist dann der Fall, wenn der Arbeitgeber aufgrund seines Weisungsrechts den Arbeitnehmer ohne Änderung des Arbeitsvertrages hierauf einsetzen kann.11) Wenn der Einsatz durch bloße Versetzung nicht möglich ist, hat aus Verhältnismäßigkeitsgründen der Ausspruch einer Änderungskündigung allerdings Vorrang vor einer Beendigungskündigung.12) Eine Beförderungsstelle muss der Arbeitgeber auch dann nicht anbieten, wenn der Arbeitnehmer mit der Beschäftigung auf dieser Stelle einverstanden ist.13) Konkurrieren mehrere zu kündigende und geeignete Arbeitnehmer um eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, muss der Arbeitgeber eine Sozialauswahl entsprechend § 1 Abs. 3 KSchG vornehmen.14) In der Praxis stellt die Verpflichtung zum Angebot einer Weiterbeschäfti- 14 gungsmöglichkeit bei Restrukturierungen größerer Unternehmen eines der größten Risiken für die Wirksamkeit geplanter Kündigungen dar. Gerade wenn die Restrukturierung nur einzelne Unternehmensteile betrifft, werden in den nicht betroffenen Unternehmensteilen oftmals Stellen ausgeschrieben sein, bezüglich derer die gekündigten Arbeitnehmer die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung einwenden werden. Die Arbeitnehmer beschränken sich dabei erfahrungsgemäß nicht auf die Angabe von Stellen, für die sie tatsächlich geeignet sind oder für die der Arbeitgeber sie als geeignet in Betracht gezogen hat. Die Darlegungslast, dass eine Weiterbeschäftigung auf diesen Stellen nicht möglich ist, trifft nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG im Kündigungsschutzprozess den Arbeitgeber. ___________ 9) BAG, Urt. v. 23.4.2008 – 2 AZR 1110/06, ZIP 2009, 47 = AP Nr. 177 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2008, 1631. 10) BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 11) BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 12) Vgl. BAG, Urt. v. 22.9.2006 – 2 AZR 519/04, BAGE 116, 7 = AP Nr. 10 zu § 81 SGB IX. 13) Vgl. BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 14) BAG, Urt. v. 10.11.1994 – 2 AZR 242/94, AP Nr. 65 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = BB 1995, 1907, zur Sozialauswahl vgl. noch Rz. 16 ff.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
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Praxishinweis Das Unternehmen sollte aus diesem Grund bereits zum Kündigungszeitpunkt dokumentieren, welche Stellen zu diesem Zeitpunkt ausgeschrieben sind, welches Anforderungsprofil sie haben und wer im Unternehmen nähere Informationen hierzu geben kann. Ansonsten besteht die Gefahr, dass im Verlauf längerer Gerichtsverfahren diese Informationen nicht mehr beschafft werden können und der Arbeitgeber im Prozess deswegen unterliegt.
b)
Ordnungsgemäße Sozialauswahl Grenzen der Versetzungspflicht und der sozialen Auswahl: BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung
16 In den Betrieben, in denen Beschäftigungsmöglichkeiten entfallen, hat der Arbeitgeber eine Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG durchzuführen. Diese Sozialauswahl ist betriebsbezogen und sie ist nur dann entbehrlich, wenn in einem Betrieb sämtliche Beschäftigungsmöglichkeiten entfallen.15) 17 In die Sozialauswahl sind alle Arbeitnehmer des Betriebes einzubeziehen, die mit den Arbeitnehmern vergleichbar sind, deren Beschäftigung entfällt. Die Vergleichbarkeit bestimmt sich x
zum einen nach der Qualifikation der jeweiligen Arbeitnehmer,
x
zum anderen nach dem mit ihnen jeweils abgeschlossenen Arbeitsvertrag;
hinsichtlich beider Merkmale müssen die Arbeitnehmer austauschbar sein.16) 18 Es muss dem Arbeitgeber demnach tatsächlich und rechtlich möglich sein, den Arbeitnehmer, dessen Arbeitsplatz wegfällt, einseitig auf den Arbeitsplatz des als vergleichbar identifizierten Arbeitnehmers zu versetzen und umgekehrt. Dies setzt voraus, dass beide Arbeitsplätze auf derselben Ebene der Betriebshierarchie angesiedelt sind (sog. horizontale Vergleichbarkeit). Selbst für den Fall, dass der zu kündigende Arbeitnehmer mit einer Weiterbeschäftigung zu schlechteren Bedingungen einverstanden sein sollte, wird der Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer nicht erweitert.17) Dies würde zu einem vom Gesetzgeber nicht gewollten Verdrängungswettbewerb von Stufe zu Stufe nach unten führen.18) Befinden sich die zu vergleichenden Arbeitsplätze auf derselben Hierar___________ 15) BAG, Urt. v. 15.12.2005 – 6 AZR 199/05, ZIP 2006, 2008 = AP Nr. 76 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = NZA 2006, 590. 16) S. nur BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, AP Nr. 179 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = BB 2009, 447 (st. Rspr.). 17) BAG, Urt. v. 4.2.1993 – 2 AZR 463/92, juris; BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 18) BAG, Urt. v. 4.2.1993 – 2 AZR 463/92, juris; BAG, Urt. v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung.
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
chieebene, ist die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Vergleichbarkeit jedoch relativ großzügig; sie soll erst dann ausgeschlossen sein, wenn der Einsatz der zu kündigenden Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz auch nach einer angemessenen Einarbeitungsfrist nicht möglich ist.19) Arbeitnehmer, die gesetzlichen Sonderkündigungsschutz genießen, sind in die 19 Sozialauswahl nicht einzubeziehen, da die gesetzlichen Kündigungsverbote dem allgemeinen Kündigungsschutz als speziellere Vorschriften vorgehen.20) Umstritten und nicht höchstrichterlich geklärt ist, ob auch Arbeitnehmer mit tarif- oder einzelvertraglichem Sonderkündigungsschutz aus der Sozialauswahl auszunehmen sind.21) Auch wenn das BAG im Einzelfall eine Verpflichtung zum Freimachen eines Arbeitsplatzes für sonderkündigungsgeschützte Arbeitnehmer postuliert, lässt dies keinen Schluss darauf zu, ob dies auch bedeutet, dass dieses Freimachen zu Lasten des Bestands anderer Arbeitsverhältnisse gehen soll.22) Jedenfalls sieht es ordentlich kündbare und ordentlich unkündbare Arbeitnehmer nicht als vergleichbar i. S. des § 1 Abs. 3 KSchG an.23) Gegen eine Herausnahme wird eingewandt, dass sie den Vertrag, auf dem der Sonderkündigungsschutz beruht, zu einem Vertrag zu Lasten Dritter machen würde.24) Vor allem die arbeitsrechtliche Normenhierarchie spricht jedoch gegen die Herausnahme tarif-/einzelvertraglich unkündbarer Arbeitnehmer: Die Regelungen des § 1 Abs. 3 KSchG sind zwingendes Recht und enthalten auch keine Öffnungsklausel zu Gunsten der Tarifparteien.25) In die Sozialauswahl sind nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG solche Arbeitnehmer 20 nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Ein solches Interesse kann nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG durch bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen eines einzelnen Arbeitnehmers oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur bestehen; diese Fallbeispiele sind nicht abschließend. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG stellt eine Ausnahme von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zu Gunsten des Arbeitgebers dar, der von der Möglichkeit zur Ausnahme Gebrauch machen kann, aber nicht muss.26) ___________ 19) BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, AP Nr. 179 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = BB 2009, 447 (st. Rspr.). 20) BAG, Urt. v. 21.4.2005 – 2 AZR 241/04, BAGE 114, 258 = AP Nr. 74 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. 21) Zum Streitstand Ascheid/Preis/Schmidt-Kiel, Kündigungsrecht, § 1 KSchG Rz. 703 ff.; v. Hoyningen-Huene/Krause/Linck/Hueck-Krause, KSchG, § 1 Rz. 950; speziell zu individual-rechtlichen Unkündbarkeitsregelungen Lerch/Weinbrenner, NZA 2011, 1388. 22) Vgl. BAG, Urt. v. 17.9.1998 – 2 AZR 419/97, ZIP 1999, 326 = AP Nr. 148 zu § 626 BGB. 23) BAG, Urt. v. 17.9.1998 – 2 AZR 419/97, ZIP 1999, 326 = AP Nr. 148 zu § 626 BGB. 24) So Rolfs in: BeckOK ArbR, Ed. 27, Stand: 1.3.2013, § 1 KSchG Rz. 464 f. 25) So ArbG Cottbus, Urt. v. 17.5.2000 – 6 Ca 38/00, AP Nr. 48 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; Ehler, BB 1994, 2068. 26) Ascheid/Preis/Schmidt-Kiel, Kündigungsrecht, § 1 KSchG Rz. 748 m. w. N.
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Arbeitgeber sind gut beraten, die Herausnahme von Leistungsträgern auf ein Minimum zu beschränken. 21 Der Arbeitgeber hat bei der Sozialauswahl einen gewissen, in der Praxis allerdings nicht zu überschätzenden Wertungsspielraum.27) Bestehen Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG, kann die Bewertung gemäß § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Bei umfangreicheren Restrukturierungen wird der Arbeitgeber seiner Sozialauswahl regelmäßig ein Punkteschema zu Grunde legen wollen, dessen Aufstellung nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtig ist. Die Aufstellung und Umsetzung eines solchen Punkteschemas durch den Arbeitgeber ohne Beteiligung des Betriebsrates führt nicht zur Unwirksamkeit der auf seiner Basis ausgesprochenen Kündigungen;28) der Betriebsrat kann jedoch einen in die Zukunft gerichteten Unterlassungsanspruch geltend machen.29) 22 In der Praxis stellt die Sozialauswahl gerade bei mittleren oder größeren Restrukturierungen nicht nur ein weiteres Rechtsrisiko, sondern auch einen erheblichen Aufwand dar. Auch in Fällen, in denen noch ein gewisser unternehmerischer Spielraum bestehen mag, ziehen Arbeitgeber oftmals eine vollständige Betriebsschließung der Durchführung einer Sozialauswahl vor. Ist eine Sozialauswahl durchzuführen, muss der Arbeitgeber die vergleichbaren Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen im Einzelfall ermitteln. Diese Vergleichsgruppenbildung korrekt durchzuführen, ist die regelmäßig die größte Herausforderung bei der Sozialauswahl. 23
Praxishinweis Handelt es sich um Arbeitnehmer, auf deren Arbeitsplätze ein Tarifvertrag Anwendung findet, kann die tarifliche Eingruppierung ein Ausgangspunkt für die Vergleichsgruppenbildung sein. Sie ist jedoch nur eines unter mehreren einzelfallbezogenen Kriterien, die für die Bestimmung der Vergleichsgruppe maßgeblich sein können.30)
2.
Betriebsratsanhörung
24 Besteht in dem Betrieb, dem der zu kündigende Arbeitnehmer angehört, ein Betriebsrat, sind diesem nach § 102 Abs. 1 BetrVG die Kündigungsgründe vor der Kündigung mitzuteilen. Anderenfalls ist die Kündigung unwirksam (§ 102 ___________ 27) BAG, Urt. v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, AP Nr. 179 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = BB 2009, 447 (st. Rspr.). 28) BAG, Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, BAGE 120, 137 = AP Nr. 87 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. 29) BAG, Urt. v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, BAGE 120, 137 = AP Nr. 87 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; BAG, Beschl. v. 26.7.2005 – 1 ABR 29/04, BAGE 115, 239 = ZIP 2005, 2080. 30) Angriffspunkte gegen die Vergleichsgruppenbildung aus Arbeitnehmersicht finden sich bei Weinmann/Schild, Das Arbeitnehmermandat, Kap. C Rz. 336 ff.
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
Abs. 1 Satz 3 BetrVG). Der Betriebsrat hat dem Arbeitgeber nach § 102 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 BetrVG Bedenken oder einen Widerspruch gegen eine geplante ordentliche Kündigung innerhalb einer Woche mitzuteilen. Anderenfalls gilt nach § 102 Abs. 2 Satz 2 BetrVG die Zustimmung zur Kündigung als erteilt. Sinn und Zweck dieser Anhörung ist, den Arbeitgeber auf Basis der von dem 25 Betriebsrat geäußerten Bedenken zu einer erneuten Überprüfung seiner eigenen Kündigungsabsichten zu bewegen.31) Aus diesem Grund kann eine Kündigung erst dann wirksam ausgesprochen werden, wenn der Betriebsrat sich abschließend geäußert hat oder die Wochenfrist verstrichen ist.32) Unter dem Ausspruch der Kündigung wird dabei die Abgabe der Kündigungserklärung, nicht deren Zugang verstanden.33) In der Praxis bewirkt die Anhörungsverpflichtung vor allem eine Ausweitung des individuellen Kündigungsschutzes, da sich der gekündigte Arbeitnehmer auf § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG in einem Kündigungsschutzprozess berufen kann, auch wenn die Anhörungspflicht maßgeblich kollektiven Interessen dient. 26
Praxishinweis Da bisweilen der Stellungnahme des Betriebsrats nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob sie abschließend sein soll oder sich der Betriebsrat noch eine weitere Äußerung vorbehält, sollte der Arbeitgeber nach Möglichkeit die Wochenfrist stets einhalten, auch wenn eine Stellungnahme des Betriebsrates vorliegt. Dies bedeutet, dass die Äußerungsfrist bereits vor Ausspruch der Kündigung in die Zeitplanung des Arbeitgebers einkalkuliert werden muss.
Inhaltlich muss der Arbeitgeber die aus seiner Sicht tragenden Umstände der 27 Kündigung unterbreiten.34) Diese Umstände müssen einerseits vollständig sein, d. h. dem Betriebsrat dürfen keine wesentlichen Informationen vorenthalten werden; andererseits hat der Arbeitgeber nur die Umstände mitzuteilen, die ihm auch bekannt sind und auf die er seine Kündigung stützen möchte.35) Der Kündigungssachverhalt ist so zu umschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in die Lage versetzt wird, sich ein eigenes Bild von der Begründetheit der Kündigung machen zu können.36) Zu den mitzuteilenden Umständen einer betriebsbedingten Kündigung gehören 28 regelmäßig: ___________ 31) Ascheid/Preis/Schmidt-Koch, Kündigungsrecht, § 102 BetrVG Rz. 2. 32) BAG, Urt. v. 27.9.2012 – 2 AZR 955/11, DB 2013, 1060 = NZA 2013, 425. 33) BAG, Urt. v. 13.11.1975 – 2 AZR 610/74, BAGE 27, 331 = AP Nr. 7 zu 1972. 34) BAG, Urt. v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, ZIP 1996, 648 = AP Nr. 73 zu 1972. 35) BAG, Urt. v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, ZIP 1996, 648 = AP Nr. 73 zu 1972. 36) BAG, Urt. v. 15.11.1995 – 2 AZR 974/94, ZIP 1996, 648 = AP Nr. 73 zu 1972.
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§ 102 BetrVG § 102 BetrVG § 102 BetrVG § 102 BetrVG
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
x
Personal- und Sozialdaten des Arbeitnehmers, d. h. x
Name und Vorname,
x
ggf. weitere Merkmale zur zweifelsfreien Identifikation (genaues Geburtsdatum, Personalnummer o. Ä.),
x
arbeitsvertragliche Tätigkeit,
x
Lebensalter und Betriebszugehörigkeit,
x
Familienstand und Unterhaltspflichten,
x
Schwerbehinderung/Gleichstellung;
x
Kündigungsfrist;
x
Betriebsbedingtheit der Kündigung und darauf aufbauend Details zu deren Voraussetzungen: x
Unternehmerische Entscheidung und Wegfall des Arbeitsplatzes,
x
Fehlen von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten,
x
Einzelheiten einer Sozialauswahl, einschließlich Daten zu vergleichbaren Arbeitnehmern;
x
Änderungsangebot bei geplanter Änderungskündigung.
3.
Besondere Voraussetzungen beim Bestehen von Sonderkündigungsschutz
a)
Mutterschutz/Elternzeit
29 Der Arbeitgeber darf gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 MuSchG das Arbeitsverhältnis einer Frau während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung nur in besonderen Fällen nach Zulässigerklärung der für den Arbeitsschutz zuständigen obersten Landesbehörde37) kündigen. Anderes gilt, wenn dem Arbeitgeber zum Kündigungszeitpunkt Schwangerschaft/Entbindung nicht bekannt waren und auch nicht innerhalb von regelmäßig zwei Wochen danach mitgeteilt werden. Bei nicht verschuldeter Überschreitung der Zwei-Wochen-Frist durch die Arbeitnehmerin, etwa wegen Unkenntnis der Schwangerschaft, greift der Sonderkündigungsschutz ebenfalls ein. 30 Gegenüber einem Arbeitnehmer, der Elternzeit verlangt hat, darf das Arbeitsverhältnis ebenfalls grundsätzlich nur in besonderen Fällen nach Zulässigerklärung der für den Arbeitsschutz zuständigen obersten Landesbehörde gekündigt werden (§ 18 Abs. 1 Sätzr 1, 2 BEEG). Der Kündigungsschutz beginnt mit dem Zeitpunkt des Elternzeitverlangens, höchstens jedoch acht Wochen vor ___________ 37) Eine Übersicht über die in den einzelnen Ländern zuständigen Behörden findet sich bei Küttner-Reinecke, Personalbuch 2013, Ziff. 317 Mutterschutz Rz. 41.
380
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
Beginn der Elternzeit. Der frühestmögliche Beginn der Elternzeit ist der Tag der Geburt des Kindes; liegt der tatsächliche Entbindungszeitpunkt vor dem prognostizierten, ist dieser maßgebend.38) Der Kündigungsschutz endet mit dem Ende der Elternzeit. Eine betriebsbedingte Kündigung kann nach der verwaltungsgerichtlichen 31 Rechtsprechung nur für zulässig erklärt werden, wenn das Arbeitsverhältnis ansonsten sinnentleert weiterbestehen würde.39) Die Voraussetzungen hierfür sind außerordentlich hoch, liegen aber bspw. im Falle einer Betriebsschließung regelmäßig vor.40) Für die Auslegung des § 18 BEEG wurde diese Konkretisierung in die Durchführungshinweise zum Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 11.12.2006 für die Tarifbeschäftigten des Bundes41) aufgenommen. Beim Vorliegen beider Sonderkündigungstatbestände, muss die zuständige Be- 32 hörde die Kündigung sowohl nach § 9 MuSchG als auch nach § 18 BEEG für zulässig erklären.42) Der Arbeitgeber hat bereits seinen Antrag darauf zu richten. Mit Zulässigerklärung – nicht erst mit deren Bestandskraft – kann die Kündigung ausgesprochen werden.43) Bei Kündigungen während des Bestehens des Sonderkündigungsschutzes nach § 9 MuSchG müssen in der Kündigungserklärung die zulässigen Kündigungsgründe angegeben werden (§ 9 Abs. 3 Satz 2 MuSchG). b)
Schwerbehinderte/gleichgestellte Arbeitnehmer
Ähnlich wie gegenüber Arbeitnehmern in Schwangerschaft, Mutterschutz oder 33 Elternzeit bedarf nach § 85 SGB IX auch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Arbeitnehmers der behördlichen Zustimmung. Dieser Sonderkündigungsschutz gilt nach § 68 SGB IX auch für gleichgestellte Arbeitnehmer. Sonderkündigungsschutz besteht nach § 90 SGB IX nicht in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses und in diversen Fällen, in denen der Arbeitnehmer entweder materiell weitgehend abgesichert ist bzw. bei bestimmten, nicht in erster Linie dem Erwerb dienenden Beschäftigungsarten. Zuständig für die Erteilung der Zustimmung ist das Integrationsamt. Der Sonderkündigungsschutz dient allein dem Zweck, eine Benachteiligung 34 wegen der Behinderung bei der Kündigung zu vermeiden. Dagegen soll er nicht die Kündigung an sich verhindern, wenn diese keinen Zusammenhang zu ___________ 38) 39) 40) 41) 42)
BAG, Urt. v. 12.5.2011 – 2 ZR 384/10, NZA 2012, 208 = DB 2011, 2726. Vgl. BVerwG, Urt. v. 30.9.2009 – 5 C 32/08, BVerwGE 135, 67 = NJW 2010, 2074. Vgl. BVerwG, Urt. v. 30.9.2009 – 5 C 32/08, BVerwGE 135, 67 = NJW 2010, 2074. Rundschreiben d. BMI v. 10.7.2007 – D II 2 – 220 223 – 5/11. BAG, Urt. v. 31.3.1993 – 2 AZR 595/92, AP Nr. 20 zu § 9 MuSchG 1968 = DB 1993, 1783. 43) BAG, Urt. v. 17.6.2003 – 2 AZR 245/02, BAGE 106, 293 = AP Nr. 33 zu § 9 MuSchG 1968.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
der Behinderung feststellen lässt. Es bedarf daher nicht – wie für die Zulässigerklärung in § 9 MuSchG, § 18 BEEG vorgesehen – eines besonderen Falles. Insbesondere für Kündigungen bei Betriebsstilllegungen oder -einschränkungen sieht § 89 Abs. 1 SGB IX außerdem ermessenslenkende Regelungen vor, die auf eine erleichterte Zustimmungserteilung abzielen. Bei Betriebsschließungen ist die Entscheidung über die Zustimmungserteilung eine gebundene Entscheidung und muss innerhalb eines Monats ab Antragseingang getroffen sein, anderenfalls gilt sie als erteilt (§§ 89 Abs. 1 Satz 1, 88 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB IX). Dies setzt jedoch voraus, dass dem betroffenen Arbeitnehmer nach Kündigungserklärung noch drei Monate oder länger Entgelt bezahlt wird. 35 Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung haben nach § 88 Abs. 4 SGB IX keine aufschiebende Wirkung, so dass im Ergebnis die Kündigung bereits mit Erteilung der Zustimmung ausgesprochen werden kann und nicht die Bestandskraft abgewartet werden muss. Der Arbeitgeber muss die Kündigung aber gemäß § 88 Abs. 3 SGB IX innerhalb eines Monats nach Zustellung der Zustimmung aussprechen. c)
Ordentlich unkündbare Arbeitnehmer Betriebsbedingte außerordentliche Änderungskündigung: BAG, Urt. v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, AP Nr. 5 zu § 55 BAT = BB 2007, 668
36 Vor allem einige Tarifverträge sehen vor, dass Arbeitnehmer in höherem Alter bzw. mit längerer Betriebszugehörigkeit nicht mehr bzw. nur noch eingeschränkt ordentlich kündbar sind. Oftmals enthalten diese Tarifnormen spezielle Regelungen, die im Falle betriebsbedingter Kündigungen eingreifen und die Voraussetzungen regeln, unter denen eine ordentliche Kündigung noch möglich sein soll. Greift keine derartige Ausnahme vom Kündigungsverbot ein, kommt allein der Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist in Betracht.44) Die soziale Auslauffrist entspricht dabei der Frist, die gelten würde, wenn das Arbeitsverhältnis ordentlich kündbar wäre.45) 37 Eine Kündigung nach diesen Grundsätzen unterliegt jedoch extrem strengen Voraussetzungen. Nach der Rechtsprechung des BAG kann die außerordentliche Kündigung gegenüber ordentlich unkündbaren Arbeitnehmern nur ausgesprochen werden, wenn der Arbeitgeber anderenfalls gezwungen wäre, ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis über Jahre hinweg allein durch Gehaltszahlungen, denen keine entsprechende Arbeitsleistung gegenübersteht, aufrechtzuerhalten.46) Die Weiterbeschäftigung darf unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ___________ 44) Zur außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist etwa Bröhl, RdA 2010, 170; Groeger, NZA 1999, 850. 45) BAG, Urt. v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, BAGE 88, 10 = ZIP 1998, 1119. 46) BAG, Urt. v. 18.3.2010 – 2 AZR 337/08, AP Nr. 228 zu § 626 BGB = NZA-RR 2011, 18.
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
möglich oder dem Arbeitgeber zumutbar sein. Der Arbeitgeber hat dabei sämtliche Möglichkeiten auszuschöpfen, um eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden – insbesondere muss er Versetzungen oder Änderungen der Arbeitsverteilung prüfen und dabei auch Überbrückungsmöglichkeiten und Umschulungen in Kauf nehmen.47) Im Einzelfall soll die Verpflichtung zur Vermeidung einer Beendigung nach Auffassung des BAG sogar dazu führen können, dass ein Arbeitsplatz eines anderen Arbeitnehmers für den ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer frei zu kündigen sei.48) In den Fällen, in denen eine außerordentliche Kündigung gegenüber einem or- 38 dentlich sonderkündigungsgeschützten Arbeitnehmer ausgesprochen wird, können die ansonsten geltenden Fristen (§ 626 Abs. 2 BGB, § 91 Abs. 2 SGB IX) nicht eingreifen, da der Fristenlauf regelmäßig mit Beendigung des Kündigungsgrundes beginnt, der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit aber ein Dauertatbestand ist.49) Theoretisch sind die dargelegten Grundsätze auch gegenüber befristet Be- 39 schäftigten anwendbar, da das mit diesen Arbeitnehmern bestehende Arbeitsverhältnis nach § 15 Abs. 2 TzBfG nur kündbar ist, wenn Arbeits- oder Tarifvertrag die Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung vorsehen. Praktisch spielen sie jedoch im Verhältnis zu befristet Beschäftigten keine Rolle, da hier oftmals eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit vereinbart wird. Im Übrigen wird eine Zumutbarkeitsprüfung in diesen Fällen regelmäßig zu Lasten des Arbeitgebers ausgehen, da der Ablauf der Befristung ohnehin mittelfristig zu erwarten sein wird. 4.
Besonderheiten in der Insolvenz
Die dargelegten Grundsätze gelten auch in der Unternehmensinsolvenz. Insbe- 40 sondere das KSchG ist auch in der Insolvenz anwendbar;50) die Insolvenz ist kein dringender betrieblicher Grund, der aus sich heraus zur Kündigung berechtigen würde. Das Kündigungsrecht wird jedoch – speziell nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens – punktuell von den Normen der InsO überlagert. a)
Vertragliche Kündigungsbeschränkungen
So stellen sich bei einer Kündigung des Insolvenzverwalters nach § 113 InsO 41 die bereits dargelegten Probleme im Zusammenhang mit einem etwaigen indi___________ 47) BAG, Urt. v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, AP Nr. 5 zu § 55 BAT = BB 2007, 668. 48) BAG, Urt. v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, AP Nr. 5 zu § 55 BAT = BB 2007, 668; hiergegen unter Darlegung des Streitstandes Leuchten, NZA 2007, 585. 49) So zu § 626 Abs. 2 BGB: BAG, Urt. v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, BAGE 88, 10 = ZIP 1998, 1119. 50) BAG, Urt. v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, AP Nr. 139 zu § 1 KSchG 1969 = NZA 2006, 720.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
vidual- oder kollektivvertraglich sonderkündigungsgeschützten Arbeitnehmer nicht. Nach § 113 Satz 1 InsO kann der Insolvenzverwalter die vom Schuldner als Dienstberechtigten eingegangenen Dienstverhältnisse ohne Rücksicht auf einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung kündigen. Dieses Kündigungsrecht kann nicht durch einzelvertragliche, tarifvertragliche oder sonstige kollektivrechtliche Vereinbarung abbedungen werden. Für Ausschlussvereinbarungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergibt sich dies aus § 119 InsO; das BAG scheint generell von einer Unabdingbarkeit des § 113 InsO auszugehen.51) Arbeitsverhältnisse mit Arbeitnehmern, die außerhalb der Insolvenz nicht ordentlich kündbar gewesen wären, können damit in der Insolvenz beim Vorliegen eines dringenden betrieblichen Grundes ohne erhöhte Anforderungen an die Zumutbarkeit beendet werden. Dies wirkt sich auch auf den vergleichbaren Personenkreis i. R. der Sozialauswahl aus. Damit sind jedenfalls in Insolvenzsituationen ordentlich unkündbare Arbeitnehmer mit anderen Arbeitnehmern vergleichbar. 42 § 113 InsO wirkt seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung nach allein nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Selbst ein vorläufiger „starker“ Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis kann sich auf dieses Recht nicht stützen.52) b)
Kündigungsfristen
43 Macht der Insolvenzverwalter von seinem Kündigungsrecht nach § 113 Satz 1 InsO Gebrauch, so beträgt die Kündigungsfrist nach § 113 Satz 2 InsO maximal drei Monate. Sofern auf das Arbeitsverhältnis im Einzelfall eine kürzere Kündigungsfrist Anwendung findet, endet das Arbeitsverhältnis mit Ablauf dieser Frist. 44 Gegenüber Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis außerhalb der Insolvenz nicht ordentlich kündbar gewesen wäre, greift die Höchstkündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO ein. Dies gilt ausdrücklich auch für befristet oder auflösend bedingt beschäftigte Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit nicht vorsieht, sofern das Arbeitsverhältnis noch für mindestens drei weitere Monate besteht.53) Denn für ihr Arbeitsverhältnis war die meist kürzere gesetzliche Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 1 oder 2 BGB zu keinem Zeitpunkt maßgeblich.54)
___________ 51) 52) 53) 54)
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Vgl. BAG, Urt. v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595 = AP Nr. 316 zu § 613a BGB. BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, BAGE 113, 199 = ZIP 2005, 1289. BAG, Urt. v. 6.7.2000 – 2 AZR 695/99, BAGE 95, 216 = ZIP 2000, 1941. BAG, Urt. v. 6.7.2000 – 2 AZR 695/99, BAGE 95, 216 = ZIP 2000, 1941.
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II. Kündigungen in der Restrukturierung
c)
Gerichtliche Überprüfung der Kündigung
Für die gerichtliche Überprüfung der durch den Insolvenzverwalter ausgespro- 45 chenen betriebsbedingten Kündigungen55) stellt § 126 InsO ein spezielles Sammelverfahren bereit, dessen Rechtskraft sich nach § 127 InsO auf Kündigungsschutzklagen einzelner Arbeitnehmer erstreckt.56) Hat ein Betrieb keinen Betriebsrat, mit dem der Insolvenzverwalter einen Interessenausgleich nach § 125 InsO verhandeln könnte, oder kommt ein solcher Interessenausgleich mit dem bestehenden Betriebsrat trotz ordnungsgemäßer Unterrichtung des Betriebsrats nicht zu Stande, kann der Insolvenzverwalter ein Beschlussverfahren einleiten (§ 126 Abs. 1 Satz 1 InsO). Dieses Beschlussverfahren ist auf die Feststellung gerichtet, dass die Kündigung der Arbeitsverhältnisse bestimmter Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und sozial gerechtfertigt ist. Die betroffenen Arbeitnehmer57) müssen im Antrag auf Einleitung des Be- 46 schlussverfahrens namentlich bezeichnet werden. Sie sind nach § 126 Abs. 2 Satz 1 Beteiligte, soweit sie nicht mit der Beendigung oder Änderung ihrer Arbeitsbedingungen einverstanden sind. Nur dann erstreckt sich die Rechtskraft der Entscheidung nach § 126 InsO auf einen von ihnen geführten Kündigungsschutzprozess. Das ArbG ermittelt im Beschlussverfahren nach § 83 Abs. 1 ArbGG von Amts 47 wegen, die Beteiligten trifft eine Mitwirkungspflicht. Hierbei ist es jedoch auf den Streitgegenstand beschränkt, der nach § 126 Abs. 1 Satz 2 InsO die Sozialauswahl nur eingeschränkt umfasst und sich nicht auf eine vorhandene Schwerbehinderung bezieht. Nach § 127 Abs. 1 InsO ist die rechtskräftige Entscheidung im Beschlussver- 48 fahren nach § 126 InsO für beide Parteien bindend, sofern sich nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung die Sachlage nicht wesentlich geändert hat. Das bedeutet, dass im Kündigungsschutzprozess allein die übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung (Schriftform, Betriebsratsanhörung, etc.) überprüft werden können, die nicht Streitgegenstand des Beschlussverfahrens waren. Umstritten ist, ob die Bindungswirkung auch dann eintritt, wenn der Antrag 49 des Insolvenzverwalters abgewiesen wird.58) Das ist jedenfalls nicht der Fall, wenn ein Prozessurteil ergeht, das allein die Unzulässigkeit des Antrages fest___________ 55) Vgl. Braun-Wolf, InsO, 4. Aufl., § 127 Rz. 2. 56) S. zum Verfahren nach § 126 InsO eingehend Rieble, NZA 2007, 1393. 57) Ist nur ein Arbeitnehmer betroffen, greift § 126 InsO nicht ein; vgl. LAG München, Beschl. v. 2.1.2003 – 4 Ta 292/02, ZInsO 2003, 339. 58) Bejahend etwa Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, § 127 Rz. 4; Löwisch/Caspers in: MünchKomm-InsO, § 127 Rz. 10; Giesen, ZIP 1998, 46; a. A. Braun-Wolf, InsO, 4. Aufl., § 127 Rz. 2.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
stellt.59) Weist das ArbG den Antrag ab, weil er unbegründet ist, tritt eine Bindungswirkung richtigerweise ein. Hierfür spricht zunächst der Wortlaut des § 127 Abs. 1 Satz 1 InsO, der nicht nach dem Ergebnis der Entscheidung im Beschlussverfahren unterscheidet. Auch die Ausgestaltung als Beschlussverfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz spricht für die Bindungswirkung der abweisenden Entscheidung. Im Beschlussverfahren kann eine Entscheidung wegen eines non-liquet nur ergehen, wenn das ArbG den Sachverhalt nicht selbst aufklären kann; deswegen sollte in der Regel eine Sachentscheidung, keine Beweislastentscheidung getroffen werden. Wieso eine getroffene Sachentscheidung aber erneut von einem Gericht überprüft werden sollte, wenn sich die Sachlage nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung nicht wesentlich geändert hat, ist nicht ersichtlich. Bei einer wesentlichen Änderung der Sachlage tritt nach § 127 Abs. 1 Satz 2 InsO ohnehin keine Bindungswirkung ein. 50 In der Praxis wird die Möglichkeit des § 126 InsO kaum in Anspruch genommen. Dies ist nachvollziehbar in Fällen, in denen ein Unternehmen nicht sanierungsfähig ist, denn hier bietet § 126 InsO dem Insolvenzverwalter keine wesentlichen Vorteile.60) Er kann sich in Kündigungsschutzverfahren auf die Stilllegung des Betriebes berufen und spart sich die Führung eines zusätzlichen Beschlussverfahrens mit einer Vielzahl Beteiligter. In anderen Einzelfällen können §§ 126, 127 InsO jedoch eine effiziente Möglichkeit zur Bündelung von Kündigungsschutzprozessen darstellen. Dies gilt insbesondere, wenn in einem sanierungsfähigen Unternehmen kein Betriebsrat besteht, dessen wirksame Anhörung in einem nachfolgenden Kündigungsschutzprozess von den Arbeitnehmern noch gerügt werden könnte. III.
Besonderheiten bei Massenentlassungen Kündigungsvoraussetzungen: BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = DB 2013, 1029
51 Möchte der Arbeitgeber innerhalb von 30 Kalendertagen eine größere Anzahl Arbeitnehmer entlassen, so unterliegt er nach § 17 ff. KSchG zusätzlichen Verpflichtungen gegenüber einem Betriebsrat und der Agentur für Arbeit. Kommt er diesen Verpflichtungen nicht nach, kann sich dies nach der jüngsten Rechtsprechung des BAG auf die Wirksamkeit einer im Zuge der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigung auswirken.61) Die Vorschriften über die Massenentlassung haben damit in der letzten Zeit erheblich an praktischer Bedeutung gewonnen. ___________ 59) Vgl. Nerlich/Römermann-Hamacher, InsO, § 127 Rz. 5; Giesen, ZIP 1998, 46. 60) Vgl. auch Rieble, NZA 2007, 1393. 61) BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = DB 2013, 1029.
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III. Besonderheiten bei Massenentlassungen
§§ 17 ff. KSchG dienen der Umsetzung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 52 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie). Im Zweifel sind sie daher anhand der europäischen Vorschriften auszulegen. 1.
Voraussetzungen einer Massenentlassung
a)
Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG
Eine Massenentlassung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG liegt vor, wenn in einem 53 Zeitraum von 30 Kalendertagen folgende Grenzwerte mindestens überschritten sind: x
Entlassung von mehr als fünf oder mehr Arbeitnehmern62) in Betrieben in einer Größe von in der Regel mehr als 20, aber weniger als 60 Arbeitnehmern;
x
Entlassung von 10 % oder mehr als 25 Arbeitnehmern in einem Betrieb von in der Regel 60 bis weniger als 500 Arbeitnehmern;
x
Entlassung von mindestens 30 Arbeitnehmern in einem Betrieb von in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern.
Grundsätzlich liegt eine Massenentlassung nur dann vor, wenn die Entlassun- 54 gen innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen veranlasst werden. Im Falle einheitlich geplanter, jedoch stufenweise umgesetzter Entlassungen werden jedoch parallel zu der Rechtsprechung zu § 111 BetrVG alle auf der einheitlichen Unternehmerentscheidung beruhenden Entlassungen als einheitliche Maßnahme anzusehen sein.63) b)
Entlassungsbegriff
Unter dem Begriff der Entlassung nach § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG ist sachlich 55 jede Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Veranlassung des Arbeitgebers zu verstehen. Dies kann nicht nur durch Beendigungskündigung, sondern auch durch Ausspruch einer Änderungskündigung geschehen, wenn der Arbeitnehmer das Änderungsangebot des Arbeitgebers ablehnt.64) Auch einem Aufhebungsvertrag kann eine Entlassung zu Grunde liegen, wenn sein Abschluss vom Arbeitnehmer veranlasst wurde.65) Dies hat zur Folge, dass auch Freiwilligenprogramme oder ähnliche Maßnahmen eine Massenentlassung darstellen und die Verpflichtungen des § 17 KSchG auslösen können. Eigenkündigungen des Arbeitnehmers stellen nach der des BAG dann Entlassungen dar, wenn der ___________ 62) 63) 64) 65)
S. die negative Begriffsbestimmung des § 17 Abs. 5 KSchG. Vgl. BAG, Beschl. v. 28.3.2006 – 1 ABR 5/05, BAGE 117, 296 = ZIP 2006, 1460. BAG, Urt. v. 10.3.1982 – 4 AZR 158/79, BAGE 38, 106 = AP Nr. 2 zu § 2 KSchG 1969. BAG, Urt. v. 11.3.1999 – 2 AZR 461/98, BAGE 91, 107 = ZIP 1999, 1568.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
Arbeitnehmer mit ihrem Ausspruch einer Kündigung des Arbeitgebers zuvorkommen wollte.66) 56 Zeitlich ist die Entlassung im Falle einer Kündigung abgeschlossen, wenn diese vom Arbeitgeber erklärt worden ist.67) Im Falle eines Aufhebungsvertrages wird dementsprechend die zum Vertragsschluss führende Willenserklärung des Arbeitgebers die Entlassung darstellen. Unklar ist, wann nach jetzigem Rechtsstand im Falle einer Eigenkündigung eine Entlassung vorliegen soll. Die JunkEntscheidung68) des EuGH legt nahe, dass die Entlassung auch in diesem Fall an das Verhalten des Arbeitgebers, das zur rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt, anknüpfen müsste.69) Dies kann allerdings zu erheblicher rechtlicher Unsicherheit führen, da ex ante kaum erkennbar ist, durch welches Verhalten des Arbeitgebers sich der Arbeitnehmer zur Kündigung veranlasst gefühlt hat. 2.
Beteiligungsrechte des Betriebsrates (Konsultationsverfahren)
a)
Ablauf des Konsultationsverfahrens
57 Beabsichtigt der Arbeitgeber eine Massenentlassung durchzuführen, hat er den zuständigen Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unter Mitteilung x
der Gründe für die geplanten Entlassungen,
x
der Anzahl der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und deren Berufsgruppen,
x
den geplanten Zeitraum der Entlassungen sowie
x
der vorgesehenen Kriterien für eine Sozialauswahl und für die Berechnung von Abfindungen
zu unterrichten. Er hat mit ihm nach § 17 Abs. 1 Satz 2 die Möglichkeit zur Vermeidung oder Einschränkung der Massenentlassung sowie der Milderung ihrer Folgen zu beraten. Dies gilt auch, wenn i. R. einer Betriebsstilllegung alle Arbeitnehmer entlassen werden.70)
___________ 66) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029; BAG, Urt. v. 6.12.1973 – 2 AZR 10/73, BAGE 25, 430 = AP Nr. 1 zu § 17 KSchG 1969. 67) EuGH, Urt. v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 (Junk), Slg. 2005, I-885-992 = ZIP 2005, 230; BAG, Urt. v. 23.3.2006 – 2 AZR 343/05, BAGE 117, 281 = ZIP 2006, 1644. 68) EuGH, Urt. v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 (Junk), Slg. 2005, I-885-992 = ZIP 2005, 230. 69) Offengelassen von BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. 70) BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, juris. Der einzige im europäischen Raum entschiedene Ausnahmefall (Beendigung aller Arbeitsverhältnisse durch Tod des Arbeitgebers) dürfte aufgrund der Vermutung des § 672 Satz 1 BGB in Deutschland kaum eine Rolle spielen.
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III. Besonderheiten bei Massenentlassungen
Dieses Konsultationsverfahren entspricht seiner Zwecksetzung, seinen Voraus- 58 setzungen und seinem Ablauf nach weitgehend, aber nicht vollständig den für Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen geltenden Regelungen.71) So wird § 111 BetrVG anhand der Schwellenwerte des § 17 KSchG ausgelegt,72) eine Massenentlassung stellt daher regelmäßig auch eine Betriebsänderung dar. Beide Verfahren enthalten jeweils eine Unterrichtungs- und eine Beratungsphase, auch wenn die Anrufung der Einigungsstelle nach § 17 Abs. 2 KSchG nicht vorgesehen ist und das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG zeitlich auf zwei Wochen begrenzt ist. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, dass der Arbeitgeber das Konsultationsverfahren parallel mit der Einleitung des Interessenausgleichsverfahrens durch Übermittlung der nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG vorgesehenen Informationen beginnt.73) Eine solche Verbindung verletzt keine unionsrechtlichen Vorgaben.74) 59
Praxishinweis Der Arbeitgeber sollte das Konsultationsverfahren jedoch bewusst durchführen und nicht als unselbständigen Annex zu den Verhandlungen über die Betriebsänderung betrachten, da seine Durchführung Wirksamkeitsvoraussetzung für die Massenentlassungsanzeige und die in der Folge umgesetzten Entlassungen ist.75)
Der Agentur für Arbeit ist gleichzeitig eine – von der Massenentlassungsanzeige 60 nach § 17 Abs. 1 KSchG zu unterscheidende – Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten. Die vollständige Unterrichtung des Betriebsrates sollte sorgfältig dokumentiert werden, da sie den Fristenlauf des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG in Gang setzt und ggf. gegenüber der Agentur für Arbeit bei Anzeige der Massenentlassung glaubhaft gemacht werden muss. Ebenfalls dokumentiert werden sollten die Beratungen mit dem Betriebsrat, denn auch sie müssen gegenüber der Agentur für Arbeit ggf. glaubhaft gemacht werden. Das Konsultationsverfahren wird nach der Konzeption des § 17 Abs. 3 Satz 1 61 KSchG nach Abschluss der Beratungsphase durch eine Stellungnahme des Betriebsrates zu den geplanten Entlassungen abgeschlossen. Auch wenn diese Stellungnahme nicht zwingend in einem eigenen Schriftstück niedergelegt sein muss und in einem Interessenausgleich enthalten sein kann,76) so genügt doch nicht jede Äußerung des Betriebsrates gegenüber der Arbeitsverwaltung unabhängig von ihrem Inhalt den Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG.77) ___________ 71) Vgl. zu Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen bei Betriebsänderungen § 10 Rz. 137 ff., 146 ff.; zur Nutzung von Synergieeffekten bei der Durchführung von Konsultations- und Interessenausgleichsverfahren s. Schramm/Kuhnke, NZA 2011, 1071. 72) BAG, Beschl. v. 28.3.2006 – 1 ABR 5/05, BAGE 117, 296 = ZIP 2006, 1460. 73) So auch Schramm/Kuhnke, NZA 2011, 1071. 74) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32. 75) S. hierzu noch Rz. 63. 76) BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = DB 2013, 939. 77) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
Vielmehr muss die Stellungnahme sich auf die geplanten Kündigungen beziehen und eine abschließende Meinungsäußerung hierzu enthalten; ausreichend ist auch die eindeutige Äußerung, nicht Stellung nehmen zu wollen.78) Wurde zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ein Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen, so ersetzt dieser nach § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG die Stellungnahme im Konsultationsverfahren. Auch in der Insolvenz ersetzt nach § 125 Abs. 2 InsO nur ein Interessenausgleich mit Namensliste, nicht aber der Spruch der Einigungsstelle die Stellungnahme.79) 62 Diese Stellungnahme des Betriebsrates ist entbehrlich, wenn die Entlassungen mit dem Betriebsrat beraten wurden und seit der ordnungsgemäßen Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG zwei Wochen vergangen sind. b)
Rechtliche Wirkung des Konsultationsverfahrens
63 Anders als im Falle von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen, deren (Nicht-)Durchführung die Wirksamkeit der individual-rechtlichen Maßnahmen nicht berührt, ist die Durchführung des Konsultationsverfahrens indirekt Wirksamkeitsvoraussetzung für die im Nachgang vorgenommenen Entlassungen. Ohne Durchführung des Konsultationsverfahrens ist die Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit unwirksam;80) die derart unwirksame Massenentlassungsanzeige führt zu einer Unwirksamkeit der vorgenommenen Entlassungen.81) 64 Noch nicht abschließend geklärt ist, wer die Darlegungs- und Beweislast für die Durchführung des Konsultationsverfahrens in einem Kündigungsschutzprozess trägt. Wenn man mit dem BAG davon ausgeht, dass die Unwirksamkeit der Kündigung auf einem Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot beruht (§ 134 BGB),82) dann liegt es nahe, die Darlegungs- und Beweislast beim Arbeitnehmer zu sehen. Gegebenenfalls kann dabei auf die für die Sozialauswahl geltenden Grundsätze des § 1 Abs. 3 KSchG zurückgegriffen werden. 3.
Massenentlassungsanzeige
a)
Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige
65 Zeitlich nach Durchführung des Konsultationsverfahrens und vor Umsetzung der Entlassungen im obigen Sinne ist der Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 Sätze 2 – 5 KSchG zu erstatten. Die Massenentlassungsanzeige muss nach § 17 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 – 5 KSchG die ___________ 78) 79) 80) 81) 82)
390
BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, juris. BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, juris. BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = DB 2013, 939. BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = DB 2013, 939.
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III. Besonderheiten bei Massenentlassungen
an den Betriebsrat übermittelten Angaben83) mit Ausnahme der Angaben zur Abfindungsberechnung enthalten. Zur besseren Unterstützung der Agentur für Arbeit bei der Arbeitsvermittlung soll die Anzeige in Absprache mit dem Betriebsrat Angaben enthalten über Geschlecht, Beruf, Alter und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer (§ 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG). In der Praxis empfiehlt es sich, die von der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestellten Formblätter zu verwenden. Die Massenentlassungsanzeige muss nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG schriftlich 66 erstattet werden. Das BAG hat bisher offengelassen, ob sie damit der Schriftform des § 126 BGB genügen muss.84) Bis zur Klärung dieser Frage sollte der Arbeitgeber vorsichtshalber die Schriftform wahren, d. h. die Massenentlassungsanzeige sollte vom Arbeitgeber oder einem Vertreter unterzeichnet werden. Ihr ist nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG die Stellungnahme des Betriebsrates aus 67 dem Konsultationsverfahren beizufügen. Hat der Betriebsrat keine Stellungnahme abgegeben, so ist gegenüber der Agentur für Arbeit glaubhaft zu machen, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Anzeige unterrichtet hat; außerdem ist der Stand der Beratungen darzulegen (§ 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG). 68
Praxishinweis Diese Vorgehensweise sollte hilfsweise auch gewählt werden, wenn zwar eine Stellungnahme des Betriebsrates vorliegt, aber Zweifel bestehen, ob diese den Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG genügt.
Der Arbeitgeber hat nach § 17 Abs. 3 Satz 6 KSchG dem Betriebsrat wiederum 69 eine Abschrift der Massenentlassungsanzeige zuzuleiten. Dieser kann gegenüber der Agentur für Arbeit – ggf. erstmals – Stellung nehmen; in diesem Fall erhält der Arbeitgeber die Stellungnahme des Betriebsrates ebenfalls in Abschrift (§ 17 Abs. 3 Sätze 7, 8 KSchG). Diese Beteiligung des Betriebsrates im Anzeigeverfahren ist keine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Sie dient allein der Information des – bereits im Konsultationsverfahren eingebundenen – Betriebsrates über den Fortgang des Verfahrens gegenüber der Agentur für Arbeit. b)
Rechtliche Wirkung der Massenentlassungsanzeige
Eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige setzt mit ihrem Eingang bei 70 der Agentur für Arbeit die Fristen des § 18 KSchG in Gang.
___________ 83) S. hierzu Rz. 57. 84) BAG, Urt. v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32.
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§ 20 Kündigungen und Massenentlassung vor und in der Insolvenz
71 Das bedeutet, dass die Arbeitsverhältnisse mit den zu entlassenden Arbeitnehmern im Regelfall85) innerhalb eines Monats beendet werden dürfen (§ 18 Abs. 1 KSchG). Diese Entlassungssperre stellt die Mindestfrist dar, die zwischen der Massenentlassungsanzeige und dem Eintritt der Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt liegen muss und verlängert damit das Arbeitsverhältnis bei Eingreifen einer im Einzelfall kürzeren Kündigungsfrist.86) Sie dient Allgemeininteressen und soll der Agentur ermöglichen, den Sachverhalt aufzuklären und sich auf die Betreuung der Arbeitnehmer organisatorisch vorzubereiten.87) 72 Die nach § 18 Abs. 4 KSchG vom Arbeitgeber zu beachtende Freifrist, wonach Kündigungen nur innerhalb von 90 Tagen nach Ablauf der Sperrfrist ausgesprochen werden dürfen,88) soll verhindern, dass Kündigungen zu unvorhergesehenen Terminen erklärt werden und hierdurch die Arbeit der Agentur für Arbeit beeinträchtigt wird. Die Freifrist ist gewahrt, wenn die Kündigungserklärung dem Arbeitnehmer bis zu ihrem Ablauf zugeht. 73 Die ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige eröffnet dem Arbeitgeber nur einmal die Möglichkeit zur Kündigung.89) Macht der Arbeitgeber hiervon Gebrauch, so wird die Kündigungsmöglichkeit verbraucht.90) Für eine Nachkündigung muss beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG erneut eine Massenentlassungsanzeige erstattet werden.91) 74 Welche Folgen eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige hat, hängt davon ab, aus welchen Gründen sie fehlerhaft ist. Besteht der Unwirksamkeitsgrund in der Unvollständigkeit der ansonsten fehlerfreien Massenentlassungsanzeige, führt dies nicht dazu, dass die Anzeige insgesamt unwirksam wäre. Vielmehr können sich allein die in der Anzeige fehlerhaft nicht aufgeführten Arbeitnehmer auf die Unwirksamkeit berufen.92) Wurde jedoch ein grundlegender Verfahrensfehler begangen, etwa das Konsultationsverfahren nicht durchgeführt oder keine Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt, so ist die Massenentlassungsanzeige insgesamt unwirksam; in diesem Fall ist jede auf ihrer Basis durchgeführte Entlassung nichtig.93) ___________ 85) 86) 87) 88) 89) 90) 91) 92) 93)
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Die Frist kann nach § 18 Abs. 2 KSchG auf bis zu zwei Monate verlängert werden. BAG, Urt. v. 6.11.2008 – 2 AZR 935/07, BAGE 128, 256 = ZIP 2009, 487. Vgl. Ascheid/Preis/Schmidt-Moll, Kündigungsrecht, § 18 KSchG Rz. 3. Vgl. zur Auslegung der missverständlichen Formulierung des § 18 Abs. 4 KSchG Weigand in: KR, § 18 KSchG Rz. 34. BAG, Urt. v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, BAGE 134, 176 = ZIP 2010, 1566. BAG, Urt. v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, BAGE 134, 176 = ZIP 2010, 1566. BAG, Urt. v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, BAGE 134, 176 = ZIP 2010, 1566. BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029. BAG, Urt. v. 13.12.2012 – 6 AZR 752/11, juris; BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11, ZIP 2013, 742 = DB 2013, 939.
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III. Besonderheiten bei Massenentlassungen
Ist die Massenentlassungsanzeige unwirksam, so kommt eine Heilung durch 75 die Entscheidung der Agentur für Arbeit über die Verlängerung der Sperrfrist nach § 18 Abs. 1, 2 KSchG entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG nicht in Betracht. Auch wenn der Arbeitsgerichtsbarkeit die Überprüfung eines bestandskräftigen, nicht offensichtlich unwirksamen Verwaltungsaktes verwehrt sein kann: Die Entscheidung nach § 18 Abs. 1, 2 KSchG wird lediglich dem Arbeitgeber bekannt gegeben und entfaltet deswegen Dritten gegenüber keine materielle Bestandskraft; darüber hinaus enthält sie inhaltlich auch nicht die Feststellung, dass die Massenentlassung wirksam angezeigt worden sei.94) Die Voraussetzung für eine das ArbG bindende Drittwirkung liegt damit nicht vor.
___________ 94) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029.
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§ 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften Übersicht I. Einführung......................................... 1 II. Voraussetzungen ............................... 2 1. Betriebliche Voraussetzungen ........... 2 a) Vorliegen einer Betriebsänderung ...................................... 2 b) Einrichtung einer betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit ................ 4 c) Organisation und Mittelausstattung sowie System zur Qualitätssicherung................ 7 2. Persönliche Voraussetzungen.......... 10 a) Bedrohung von Arbeitslosigkeit...................................... 10 b) Fortsetzen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung ............................ 11
c) Arbeitssuchendmeldung und Teilnahme am Profiling ............ 14 3. Beratung durch die Agentur für Arbeit ................................................ 18 4. Massenentlassungsanzeige ............... 19 III. Ausgestaltung der Beschäftigungsgesellschaft.......................... 20 IV. Kosten............................................... 25 1. Transferkurzarbeitergeld ................. 26 2. Remanenzkosten und Kosten des Dienstleisters ............................. 27 3. Qualifizierungskosten...................... 29 4. Overheadförderung.......................... 31 V. Transfermaßnahmen ...................... 32
Literatur: Grobys/Panzer (Hrsg.), StichwortKommentar Arbeitsrecht, 2012.
I.
Einführung
Der Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften (auch Transfergesellschaften) 1 hat sich in den vergangenen Jahren als festes Instrument bei einem Stellenabbau in den Unternehmen etabliert. Ziel ist es, für die betroffenen Arbeitnehmer die drohende Arbeitslosigkeit zu vermeiden, indem sie in neue Beschäftigung vermittelt werden. Beschäftigungsgesellschaften werden von der Bundesagentur für Arbeit durch das sog. Transferkurzarbeitergeld (bis Ende 2003 Strukturkurzarbeitergeld) gefördert, aber zu einem erheblichen Teil vom abgebenden Unternehmen finanziert. Auch sog. Transfermaßnahmen werden gefördert, die unten bei Rz. 32 ff. näher erläutert werden. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind in den §§ 110, 111 SGB III (bis 31.3.2012: §§ 216a, 216b SGB III) enthalten. II.
Voraussetzungen
1.
Betriebliche Voraussetzungen
a)
Vorliegen einer Betriebsänderung
Für die Erfüllung der betrieblichen Voraussetzungen für den Bezug von Trans- 2 ferkurzarbeitergeld müssen zunächst in einem Betrieb Personalanpassungsmaßnahmen auf Grund einer Betriebsänderung durchgeführt werden (§ 111 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III). Als Betriebsänderung gilt eine Betriebsänderung i. S. des § 111 BetrVG, jedoch unabhängig von der Betriebsgröße und unabhängig da-
Sigle
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§ 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften
von, ob in dem jeweiligen Betrieb das BetrVG anzuwenden ist (§§ 111 Abs. 2 Satz 1, 110 Abs. 1 Satz 3 SGB III). Damit werden auch Arbeitnehmer von solchen öffentlich-rechtlichen Unternehmen gefördert, die in selbständiger Rechtsform erwerbswirtschaftlich betrieben werden, §§ 111 Abs. 8 Satz 2, 110 Abs. 3 Satz 3 SGB III. Ausgeschlossen sind Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, also der Bundesagentur für Arbeit, der Rentenversicherungsträger etc.1) Handelt es sich um einen reinen Stellenabbau, müssen in Abhängigkeit von der Zahl der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer einen Mindestzahl von Arbeitnehmern entlassen werden. Zur Ermittlung dieser Anzahl werden dabei die Zahlen des § 17 KSchG herangezogen. Bei Betrieben, in denen 600 oder mehr Arbeitnehmer beschäftigt werden, müssen mind. 5 % der Belegschaft entlassen werden.2) 3 Das Erfordernis des Vorliegens einer Betriebsänderung bringt es mit sich, dass – sofern ein Betriebsrat vorhanden ist – ein Interessenausgleich und Sozialplan, häufig dann als Transfersozialplan bezeichnet, abgeschlossen werden muss. Ist kein Betriebsrat vorhanden, werden die Leistungen regelmäßig in schriftlichen Erklärungen des Arbeitgebers und den sog. dreiseitigen Verträgen festgelegt. b)
Einrichtung einer betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit
4 Für den Bezug von Transferkurzarbeitergeld werden sog. betriebsorganisatorisch eigenständige Einheiten entweder beim Arbeitgeber selbst („interne beE“) oder bei Dienstleistern („externe beE“) eingerichtet. Der Zeitraum einer betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit kann max. zwölf Monate betragen. Der Wechsel in die Beschäftigungsgesellschaft findet mittels sog. dreiseitiger Verträge statt, in denen die Arbeitnehmer einen Aufhebungsvertrag mit ihrem bisherigen Arbeitgeber und einen befristeten Arbeitsvertrag mit der Beschäftigungsgesellschaft abschließen. 5 Scheiden die Arbeitnehmer sukzessive aus dem Betrieb aus, weil sie z. B. noch für Abwicklungsarbeiten benötigt werden, können mehrere betriebsorganisatorisch eigenständige Einheiten eingerichtet werden. Der Zeitraum der Bewilligung beginnt dabei jeweils am 1. eines Monats. Beispiel Wechsel der Arbeitnehmer zum 15.4., Bewilligung der betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit bereits ab dem 1.4. bis max. 31.3. des Folgejahres. ___________ 1) Geschäftsanweisungen Transfermaßnahmen und Transferkurzarbeitergeld (§§ 110, 111 und 134 SGB III) der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 6/2013, GA § 110, 10.5.1 (4), abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/E-Mail-Infos/Dokument/ E-Mail-Info-2013-06-24-Anlage.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013). 2) Eine detaillierte Übersicht der maßgeblichen Anzahl der zu entlassenden Arbeitnehmer bezogen auf die Betriebsgröße enthält der Beitrag von Grobys/Panzer-Schimmelpfennig/ Sigle, SWK-ArbR, Transfergesellschaft, Rz. 5.
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Sigle
II. Voraussetzungen
Wechseln die Arbeitnehmer also im Laufe eines Monats in die betriebsorgani- 6 satorisch eigenständige Einheit, kann bei Vertragslaufzeiten von zwölf Monaten nicht der volle Bezugszeitraum ausgeschöpft werden. Im Beispielsfall erfolgt keine Erstattung des im Folgejahr im Zeitraum 1.4. bis 14.4. gezahlten Entgelts. c)
Organisation und Mittelausstattung sowie System zur Qualitätssicherung Keine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung eines Transfermitarbeiters wegen Wegfalls der Refinanzierungszahlungen: BAG, Urt. v. 24.1.2013 – 2 AZR 453/11, DB 2013, 1366
Für die betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit muss die Organisation 7 und Mittelausstattung gewährleistet sein (§ 111 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB III). Organisation meint dabei, dass für die Beratung der Transfermitarbeiter eine ausreichende Infrastruktur durch den Dienstleister zur Verfügung gestellt wird. Dies betrifft einerseits die technische Ausstattung und das Vorhandensein von Beratungsbüros vor Ort sowie andererseits die Anzahl und Qualifikation des für die Beratung eingesetzten Personals. Während für die Qualifikation dabei durch die Bundesagentur für Arbeit keine Vorgaben gemacht werden, soll unter Verweis auf die Gesetzesbegründung zum Beschäftigungschancengesetz3) bei der Anzahl der Berater ein Betreuungsschlüssel von 1:50 eingehalten werden, also ein Berater je 50 Transfermitarbeiter. Die Mittelausstattung ist dann ausreichend, wenn die Durchführung der Trans- 8 fergesellschaft in finanzieller Hinsicht gesichert ist, auch für den Fall, dass der bisherige Arbeitgeber die Beschäftigungsgesellschaft nicht (mehr) finanziert. Für diesen Fall haben sich in der Praxis Bankbürgschaften oder die vollständige Vorfinanzierung als Absicherung bewährt. Die Anwendung eines Systems zur Qualitätssicherung muss im Falle der in- 9 ternen betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit nachgewiesen werden. Dieses System soll die Arbeit der Beschäftigungsgesellschaft mess- und vergleichbar machen. Die Beschäftigungsgesellschaft soll dabei die angebotenen Maßnahmen (Stellenanzeigen, Qualifizierungsmaßnahmen etc.) in transparenter Weise festhalten. Für externe betriebsorganisatorisch eigenständige Einheiten sieht § 111 Abs. 3 Satz 2 SGB III vor, dass eine sog. Trägerzulassung nach § 178 SGB III nachgewiesen werden muss, die allerdings auch die Anwendung eines Qualitätssicherungssystems voraussetzt. Für die Trägerzulassung muss gemäß den Inhalten der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV) vom 2.4.20124) die finanzielle und fachliche Leistungsfä___________ 3) Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt – Beschäftigungschancengesetz v. 24.10.2010, BGBl. I 2010, 1417. 4) Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV), BGBl. I 2012, 504.
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§ 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften
higkeit des Trägers vorliegen und es dürfen keine Tatsachen gegeben sein, die seine Unzuverlässigkeit oder die der für die Führung der Geschäfte bestellten Personen darlegen. Die Beurteilung der Kriterien erfolgt durch eine fachkundige Stelle, also die Zertifizierungsstellen nach § 177 SGB III. Der Nachweis der Trägerzulassung ist Voraussetzung für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld; ein nicht zugelassener Dienstleister kann also nicht mit der Durchführung einer Beschäftigungsgesellschaft beauftragt werden. 2. a)
Persönliche Voraussetzungen Bedrohung von Arbeitslosigkeit Betriebsbedingte Kündigungen „unkündbarer“ Mitarbeiter: BAG, Urt. v. 17.9.1998 – 2 AZR 419/97, ZIP 1999, 326 = NZA 1999, 258 Bedrohung von Arbeitslosigkeit „unkündbarer“ Mitarbeiter: BSG, Beschl v. 18.6.2013 – B 11 AL 41/13 B, n. v.
10 Für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld muss der betroffene Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit bedroht sein (§ 111 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB III). Diese Voraussetzung stellt sich grundsätzlich in der Praxis nicht als problematisch dar. Ausnahmen gelten dann, wenn die Arbeitnehmer über einen besonderen Kündigungsschutz verfügen. So sind bspw. Betriebsräte regelmäßig während der Schutzfrist des § 15 Abs. 1 KSchG grundsätzlich nicht von Arbeitslosigkeit bedroht und damit von Transferleistungen ausgeschlossen. Gleiches galt bisher auch für die Arbeitnehmer, die über einen besonderen tarif- oder einzelvertraglichen Kündigungsschutz verfügen und ordentlich nicht (mehr) kündbar sind. Hier hat die Bundesagentur für Arbeit bisher unter Verweis auf die Rechtsprechung des BAG5) zur Kündbarkeit von kündigungsbeschränkten Arbeitnehmern nur ausnahmsweise Transferkurzarbeitergeld gewährt. Unter Hinweis auf eine Entscheidung des BSG vom 18.6.2013,6) wonach auch ein ordentlich unkündbare Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit bedroht sein kann, wenn der Arbeitgeber die ernste Absicht hat, den Arbeitnehmer zu entlassen, wurden die Geschäftsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit geändert. Eine Gewährung von Leistungen nach den §§ 110, 111 und 134 SGB III an diesen Arbeitnehmerkreis ist seither möglich. b)
Fortsetzen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung
11 Die in § 111 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III geregelte Voraussetzung, dass eine versicherungspflichtige Beschäftigung fortgesetzt werden muss, beinhaltet ei___________ 5) BAG, Urt. v. 17.9.1998 – 2 AZR 419/97, ZIP 1999, 326 = NZA 1999, 258. 6) BSG, Beschl. v. 18.6.2013 – B 11 AL 41/13 B, n. v.; E-Mail-Info der Bundesagentur für Arbeit v. 30.8.2013 – 75110/75111/9031/9042/9043, abrufbar unter: http://www.arbeitsagentur.de/ nn_27624/zentraler-Content/E-Mail-Infos/Dokument/E-Mail-Info-2013-08-30.html (Abrufdatum: 9.9.2013).
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Sigle
II. Voraussetzungen
nerseits, dass nur versicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer in eine Beschäftigungsgesellschaft wechseln können. Dies schließt geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer (Grenze seit 1.1.2013: 450 €/Monat, § 8 SGB IV) regelmäßig aus. Andererseits setzt das Fortsetzen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung voraus, dass die Beschäftigung in der Beschäftigungsgesellschaft während Kurzarbeit null versicherungspflichtig ist. Damit sind Arbeitnehmer in Elternzeit während der Fortdauer der mit dem 12 bisherigen Arbeitgeber vereinbarten Elternzeit vom Transferkurzarbeitergeldbezug ausgeschlossen. Ein Abbrechen der Elternzeit für den Wechsel in die Beschäftigungsgesellschaft, um dort Transferkurzarbeitergeld zu beziehen, ist nach Auffassung der Agenturen für Arbeit ausgeschlossen. Arbeitnehmer, die länger arbeitsunfähig erkrankt sind, müssen vor dem Wechsel 13 in die Beschäftigungsgesellschaft, spätestens aber innerhalb eines Monats danach (§ 111 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 lit. b Halbs. 2 SGB III) am Profiling teilgenommen haben. c)
Arbeitssuchendmeldung und Teilnahme am Profiling
Vor dem Wechsel in die Beschäftigungsgesellschaft müssen die Arbeitnehmer 14 sich arbeitssuchend melden und am Profiling teilgenommen haben, § 111 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB III. Die Arbeitssuchendmeldung kann auch als kollektive Arbeitssuchendmeldung unter Nutzung der hierfür vorgesehenen Vordrucke der Bundesagentur für Arbeit erfolgen. Durch die Arbeitssuchendmeldung wird der Arbeitnehmer auch in die Vermittlungsbemühungen der für ihn zuständigen Agentur für Arbeit aufgenommen. Dieses durch das Beschäftigungschancengesetz7) neu eingeführte Erfordernis hat dazu geführt, dass die Arbeitnehmer auch regelmäßig bei der Agentur für Arbeit zu Gesprächen eingeladen und die Vermittlungsbemühungen nachgewiesen und erörtert werden. Hierfür wird die sog. Transfermappe genutzt, in der die Bewerbungsunterlagen und -aktivitäten festgehalten werden und die für alle drei betroffenen Stellen (Arbeitnehmer, Beschäftigungsgesellschaft, Agentur für Arbeit) als Arbeitsgrundlage dienen soll. Die verpflichtende Teilnahme am in der Regel zweitägigen Profiling erfordert 15 insbesondere in kurzfristig umzusetzenden Umstrukturierungsmaßnahmen ein erhebliches Organisationstalent des mit der Umsetzung beauftragten Dienstleisters. Das Profiling wird regelmäßig bereits durch den (externen) Anbieter der Beschäftigungsgesellschaft durchgeführt, da hier bereits für die nachfolgenden Vermittlungsbemühungen wertvolle Informationen erarbeitet werden. ___________ 7) Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt – Beschäftigungschancengesetz v. 24.10.2010, BGBl. I 2010, 1417.
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§ 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften
Das Profiling muss zwingend von einem Dritten durchgeführt werden, § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III, und wird von der Agentur für Arbeit bezuschusst. 16 Ziel des Profilings ist die Feststellung der Eingliederungsaussichten des einzelnen Arbeitnehmers; es beinhaltet in diesem Sinne also die Aufnahme der Ausbildung, des bisherigen Berufsweges, Kenntnisse und Fähigkeiten sowie bereits die Aussicht auf die weitere berufliche Perspektive und ggf. das Erarbeiten eines Qualifizierungsbedarfes. 17 Kann in berechtigten Ausnahmefällen trotz Mithilfe der Agentur für Arbeit das Profiling nicht rechtzeitig durchgeführt werden, kann das Profiling innerhalb eines Monats nach Überleitung in die betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit nachgeholt werden (Rz. 13). Als berechtigter Ausnahmefall gilt insbesondere der Fall, dass die Betriebsparteien den Interessenausgleich/Sozialplan erst kurzfristig vor dem Wechsel der Arbeitnehmer in die Beschäftigungsgesellschaft abschließen oder eine Erkrankung des Arbeitnehmers vorliegt. Die Agentur für Arbeit ist dabei mit den Vorgaben des Gesetzes einzubinden, wobei die dort erwähnte „Mithilfe“ regelmäßig nicht die Durchführung des Profilings durch die Agentur für Arbeit selbst bedeutet. Wird das Profiling innerhalb des ersten Monats nachgeholt, besteht an den betroffenen Tagen kein Anspruch auf Transferkurzarbeitergeld, welches dann vom bisherigen Arbeitgeber zu finanzieren ist. Der Zuschuss der Agentur für Arbeit wird hingegen für das „verspätete“ Profiling gezahlt. 3.
Beratung durch die Agentur für Arbeit
18 Die gesetzlich in § 111 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB III vorgeschrieben Beratung der Betriebsparteien durch die Agentur für Arbeit ist zwingend vor Abschluss des Interessenausgleichs und Sozialplans durchzuführen. Am Beratungsgespräch muss – sofern ein Betriebsrat vorhanden ist – auch ein Vertreter des Betriebsrats teilnehmen. Die Beratung erfolgt durch einen Vertreter der für den Betrieb zuständigen Agentur für Arbeit; sind mehrere Standorte betroffen, ist zuvor zu klären, ob jeweils ein betriebsbezogenes Beratungsgespräch durchgeführt, die „Federführung“ durch eine einzelne Agentur übernommen oder das Gespräch unter Beteiligung aller betroffenen Agenturen geführt wird. In der Regel nehmen auch Vertreter für die Bereiche Arbeitslosigkeit und Massenentlassungsanzeige (s. hierzu nachfolgend Rz. 19) der Agentur für Arbeit teil. Inhalte des Beratungsgespräches sind die Voraussetzungen für die Gewährung von Transferleistungen, Inhalte eines vermittlungsorientierten Transfersozialplanes, vermittlungshemmende Elemente und die Voraussetzungen für die Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen. Regelmäßig werden auch die Entwürfe der abzuschließenden Betriebsvereinbarungen übergeben, wobei in den internen Geschäftsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit ausdrücklich klargestellt wird, dass eine aktive Einbindung in die Ausgestaltung dieser Ver-
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III. Ausgestaltung der Beschäftigungsgesellschaft
einbarung ausgeschlossen ist.8) Über die Inhalte des Beratungsgespräches wird ein Beratungsvermerk erstellt, der den Betriebsparteien zur Verfügung gestellt wird. Die Durchführung des Beratungsgespräches ist Voraussetzung für die Gewährung von Transferleistungen, so dass auf die Vereinbarung dieses Gespräches zu einem ausreichend frühen Zeitpunkt ebenfalls ein besonderes Augenmerk zu richten ist. 4.
Massenentlassungsanzeige Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige: BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029, 1033
Auch bei einem vorgesehenen Wechsel der vom Stellenabbau betroffenen Ar- 19 beitnehmer in die Beschäftigungsgesellschaft ist zu prüfen, ob eine Pflicht zur Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG gegeben ist. Das BAG9) hat hierzu am 28.6.2012 entschieden, dass jedenfalls die Arbeitnehmer, bei denen im Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige noch nicht feststeht, dass sie in eine Beschäftigungsgesellschaft wechseln werden, bei der Berechnung des Schwellenwertes für die Ermittlung der Anzeigepflicht mitzuzählen sind. Dies wurde in den internen Geschäftsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit zum Dritten und Vierten Abschnitt des KSchG10) zwischenzeitlich dahingehend nachvollzogen, dass für die Ermittlung der Überschreitung des Schwellenwertes diejenigen Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind, die zum Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige noch nicht den dreiseitigen Vertrag unterschrieben haben. III.
Ausgestaltung der Beschäftigungsgesellschaft
Hinsichtlich der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse in der Beschäftigungs- 20 gesellschaft sind Mindestvorgaben zu berücksichtigen. Danach soll die Verweildauer des einzelnen Arbeitnehmers dessen individuelle Kündigungsfrist überschreiten,11) wobei regelmäßig eine um einen Monat längere Verweildauer ___________ 8) Geschäftsanweisungen Transfermaßnahmen und Transferkurzarbeitergeld (§§ 110, 111 und 134 SGB III) der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 6/2013, GA § 110, 10.4 (2), abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/E-Mail-Infos/Dokument/E-MailInfo-2013-06-24-Anlage.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013). 9) BAG, Urt. v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029, 1033. 10) Geschäftsanweisung (GA) zum Dritten und Vierten Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 11/2012, GA 1.7, abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/A01-Allgemein-Info/A015-Oeffentlichkeitsarbeit/Publikation/pdf/DA-117-Kuendigungsschutzgesetz.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013). 11) Geschäftsanweisungen Transferleistungen (§§ 110, 111 und 134 SGB III) der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 6/2013, GA § 111, 12.3.2 (2), abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/E-Mail-Infos/Dokument/E-Mail-Info-2012-05-21-Anlage.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013).
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§ 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften
empfohlen wird. Im Falle einer Insolvenz gilt § 113 Satz 2 InsO auch bezogen auf die Mindestverweildauer. Die maximale Befristungsdauer ist durch die Bezugsfrist des Transferkurzarbeitergeldes von zwölf Monaten, § 111 Abs. 1 Satz 2 SGB III, auf diesen Zeitraum begrenzt. 21
Praxishinweis Etabliert haben sich Regelungen, wonach die Verweildauer die doppelte individuelle Kündigungsfrist, mindestens aber eine bestimmte Anzahl von Monaten beträgt. Unter dem Aspekt effektiver Vermittlungsaktivitäten sollte eine möglichst lange Verweildauer vereinbart werden.
22 Regelmäßig werden hinsichtlich der Vergütung Aufstockungsleistungen auf das Transferkurzarbeitergeld gezahlt, die in der Regel eine Absicherung auf ca. 80 % des bisherigen Nettoeinkommens gewährleisten. Vorgaben zu einer maximalen Höhe des Aufstockungsbetrages durch die Agentur für Arbeit gibt es nicht, seit sog. Zumutbarkeitsregelungen insoweit ein „Korrektiv“ geben. Danach ist ein Stellenangebot für einen Transferkurzarbeitergeldbezieher nicht zumutbar, wenn entweder die individuelle restliche Verweildauer in der Beschäftigungsgesellschaft länger ist als die Dauer der angebotenen befristeten Beschäftigung, oder das erzielbare Bruttoentgelt die Höhe des Bruttoentgelts in der Beschäftigungsgesellschaft unterschreitet.12) Bewirbt sich ein Transfermitarbeiter auf eine solche, von der Agentur für Arbeit angebotene Stellenausschreibung nicht, können Sanktionen in Form von Sperrzeiten verhängt werden. 23
Praxishinweis Um die Aufnahme einer neuen Tätigkeit für den Transfermitarbeiter zu erleichtern, sollte die Ruhendstellung des Arbeitsvertrages mit der Beschäftigungsgesellschaft ermöglicht werden. Im Falle der Beendigung des aufgenommenen Arbeitsverhältnisses ist dann die Rückkehr in die Beschäftigungsgesellschaft möglich; die Aufgabe der neuen Beschäftigung bildet dabei keinen Sperrzeittatbestand i. S. des § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III.13)
24 In gleicher Weise fördern sog. Sprinterprämien die Vermittlungsbereitschaft der Transfermitarbeiter. Diese als Abfindung sozialversicherungsfrei zahlbaren Beträge werden dann gezahlt, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis mit der Beschäftigungsgesellschaft wegen einer Arbeitsaufnahme kündigt. Dabei werden entweder feste Beträge oder die (anteilige) Beteiligung an den eingesparten Kosten je Monat der vorzeitigen Beendigung gezahlt und häufig auch Ruhenszeiten erfasst. Für den Arbeitgeber stellen die Sprinterprämien keine ___________ 12) Geschäftsanweisungen Transfermaßnahmen und Transferkurzarbeitergeld (§§ 110, 111 und 134 SGB III) der Bundesagentur für Arbeit, Stand: 6/2013, GA § 98, 4.8.2 (11), abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/E-Mail-Infos/Dokument/ E-Mail-Info-2016-06-24-Anlage.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013). 13) Geschäftsanweisung Arbeitslosengeld I, § 159, Stand: 9/2012, GA 159.98a, abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/A07-Geldleistung/A071-Arbeitslosigkeit/ Publikation/pdf/GA-Alg-159.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013).
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IV. Kosten
zusätzliche finanzielle Belastung dar, da durch die Aufnahme der neuen Tätigkeit die Gehaltszahlung durch die Beschäftigungsgesellschaft entfällt. IV.
Kosten
Werden betriebsbedingte Kündigungen nicht ausgesprochen, sondern findet 25 stattdessen ein Wechsel der Arbeitnehmer zu Beginn der „Kündigungsfrist“ in die Beschäftigungsgesellschaft statt, können Beschäftigungsgesellschaften kostenneutral oder sogar günstiger als die Kosten einer Kündigungsfrist gestaltet werden. Diese Möglichkeit ergibt sich insbesondere aus der Refinanzierung eines erheblichen Gehaltsbestandteiles durch das Transferkurzarbeitergeld. 1.
Transferkurzarbeitergeld
Das Transferkurzarbeitergeld wird von der Agentur für Arbeit erstattet und 26 beträgt 60 bzw. 67 % der Nettoentgeltdifferenz. Die Höhe ist abhängig davon, ob der Transfermitarbeiter oder sein Ehegatte/Lebenspartner mindestens ein Kind i. S. des § 32 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 EStG haben, dann beträgt das Transferkurzarbeitergeld 67 % der Nettoentgeltdifferenz. Da es sich um einen Erstattungsanspruch handelt, wird das Transferkurzarbeitergeld erst nach Auszahlung an den Mitarbeiter und Beantragung bei der Agentur für Arbeit jeweils ausgezahlt. Damit ist mindestens im ersten Monat einer Beschäftigungsgesellschaft auch das Transferkurzarbeitergeld arbeitgeberseitig vorzufinanzieren. 2.
Remanenzkosten und Kosten des Dienstleisters
Der bisherige Arbeitgeber finanziert für die in die Beschäftigungsgesellschaft 27 wechselnden Arbeitnehmer die sog. Remanenzkosten, also x
die Vergütung für Urlaubs- und Feiertage,
x
den Aufstockungsbetrag,
x
die Krankheitsbezahlung sowie
x
die Sozialversicherungsbeiträge inkl. der Beiträge zur Berufsgenossenschaft.
Dabei bilden die Sozialversicherungsbeiträge den verhältnismäßig höchsten Betrag, da die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung für die Tage, an denen Transferkurzarbeitergeld gezahlt wird, i. H. von 80 % des diesen Tagen zugeordneten Bruttoentgelts allein vom Arbeitgeber getragen werden. Bei der Urlaubs- und Feiertagsvergütung werden zu allen vier Sozialversicherungsträgern Beiträge abgeführt. Für die Beauftragung einer externen Beschäftigungsgesellschaft entstehen zusätz- 28 lich Kosten für deren Dienstleistung. Häufig werden sog. Beratungspauschalen in Rechnung gestellt, die je Mitarbeiter und Monat anfallen. Vielfach haben sich aber auch prozentuale Beteiligungen an Kosteneinsparungen aufgrund der Vermittlung der Transfermitarbeiter etabliert. Ein Kostenvergleich zwischen Sigle
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§ 21 Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften
verschiedenen Anbietern gestaltet sich durchaus als schwierig, da häufig verschiedenen Komponenten berechnet werden und eine einheitliche Vorgehensweise nicht gegeben ist. 3.
Qualifizierungskosten
29 Nehmen Transfermitarbeiter während des Bezuges von Transferkurzarbeitergeld an einer arbeitsmarktpolitisch sinnvollen Qualifizierungsmaßnahme teil, können die Kosten für die Qualifizierungsmaßnahmen aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds mitfinanziert werden.14) Eine Förderung erfolgt dabei nur dann, wenn sich der Arbeitgeber angemessen an der Finanzierung der Qualifizierungsmaßnahmen beteiligt. 30
Praxishinweis Die tatsächliche Verteilung der Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds erfolgt über die einzelnen Bundesländer und dann die zuständige Agentur für Arbeit, so dass regional unterschiedliche Fördervoraussetzungen gegeben sind. Es bietet sich daher an, die Voraussetzungen für die Förderung bereits im Beratungsgespräch mit der Agentur für Arbeit zu besprechen.
4.
Overheadförderung
31 Ebenfalls aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds kann i. R. von Insolvenzen eine sog. Overheadförderung erfolgen, die die Kosten des Dienstleisters für die Durchführung der Beschäftigungsgesellschaft (teilweise) übernimmt. Auch hier gibt es erhebliche regionale Unterschiede, so dass die Möglichkeit dieser Förderung ebenfalls mit der Agentur für Arbeit i. R. des Beratungsgespräches zu erörtern ist; ggf. wird an andere Ansprechpartner/Stellen verwiesen. V.
Transfermaßnahmen
32 Werden die Arbeitnehmer noch für die Tätigkeit im Unternehmen während der Kündigungsfrist benötigt, bietet sich die Einrichtung einer sog. Transferagentur an. Dabei wechseln die Arbeitnehmer nicht in Kurzarbeit null in eine Beschäftigungsgesellschaft, sondern arbeiten beim bisherigen Arbeitgeber weiter. Ziel ist, während der Transferagentur eine Vermittlung in eine neue Beschäftigung zu erreichen. Hierfür werden ebenfalls Dienstleister beauftragt, die dann Bewerbungstrainings, Stellensuche etc. vor Ort im Unternehmen durchführen. Die Arbeitnehmer werden für die Teilnahme an den Maßnahmen bezahlt von der Arbeit freigestellt. Die Kosten für die Durchführung der Maß___________ 14) Richtlinie für aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) mitfinanzierte ergänzende Qualifizierungsangebote für Bezieher von Transferkurzarbeitergeld v. 15.10.2008 (QualiKug Transfer), veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 160, S. 3793, abrufbar unter http://www.esf.de/portal/generator/5704/property=data/08__10__23__RL__qualikug__transfer.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013).
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V. Transfermaßnahmen
nahmen werden von der Agentur für Arbeit über einen Zuschuss gefördert, der 50 %, max. 2.500 € beträgt. 33
Praxishinweis Für die Akzeptanz der Maßnahmen ist von wesentlicher Bedeutung, dass diese während der Arbeitszeit und nicht vorher oder nachher veranstaltet werden. Auch sollten die konkreten Zeiten mit den zuständigen Führungskräften besprochen werden, damit von dort eine Freigabe zur Teilnahme erfolgt.
Befristet bis zum 31.12.2014 gelten als Maßnahmekosten i. S. des § 110 Abs. 2 34 SGB III auch eine erfolgsabhängige Pauschale für die Vermittlung aus einer Transferagentur in eine versicherungspflichtige Beschäftigung, die länger als sechs Monate fortbesteht, § 134 SGB III. Wird ein Arbeitnehmer aus einer Transferagentur also in eine neue Tätigkeit vermittelt, die mindestens sechs Monate andauert, kann vom Dienstleister für die Durchführung der Transferagentur gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber die vorgenannte Pauschale in Rechnung gestellt werden. Die Agentur für Arbeit zahlt hierzu dann an den Arbeitgeber einen Zuschuss i. H. von 50 % aus max. 1.000 €, also höchstens 500 €.
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§ 22 Beschäftigungsgesellschaft und Betriebsübergang – ein Umgehungsthema? – Übersicht I. Einführung......................................... 1 II. Entwicklung der Rechtsprechung ........................................... 2 1. Die Dörries ScharmannEntscheidung ...................................... 2 2. Die Jahre 1998 bis 2010.................... 10 3. Rechtsprechung seit 2011 ................ 13 III. Zukünftige Vorgehensweise ............................... 16
1.
Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem Abschluss der dreiseitigen Verträge ........................ 17 2. Dauer der Befristung in der Beschäftigungsgesellschaft .............. 21 3. Umgehung der Sozialauswahl.......... 23 IV. Haltung der Agenturen für Arbeit zur genannten Vorgehensweise...................................... 25
Literatur: Fuhlrott, Zwischengeschaltete Transfergesellschaften zur Vermeidung von Betriebsübergängen, NZA 2012, 549; Pils, Umgehung von § 613a BGB durch Einsatz einer Transfergesellschaft, NZA 2013, 125.
I.
Einführung
Seit Jahren werden Beschäftigungsgesellschaften bei Veräußerungen von Be- 1 trieben oder Betriebsteilen eingesetzt, um die Folgen eines Betriebsübergangs zu umgehen. Die Gestaltung basiert dabei auf der Rechtsprechung des BAG, welches in den vergangenen Jahren mehrfach zu verschiedenen Konstellationen geurteilt hat. Nachfolgend wird dargestellt, wie eine Beschäftigungsgesellschaft bei Betriebsübergängen unter Beachtung dieser Rechtsprechung eingesetzt werden kann. II.
Entwicklung der Rechtsprechung
1.
Die Dörries Scharmann-Entscheidung Keine Unterbrechung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses: BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97 (Dörries Scharmann I), ZIP 1999, 320 = NZA 1999, 422
Selbstverständlich können Verhandlungen des Arbeitgebers mit der Arbeit- 2 nehmervertretung über Umstrukturierungsmaßnahmen nicht immer geheim gehalten werden; oft gehört es auch zur Unternehmenspolitik, offen über diese Verhandlungen zu kommunizieren. Dies erfasst auch solche Verhandlungen, die im Zusammenhang mit der Übernahme von Betrieben oder Betriebsteilen durch einen Erwerber geführt werden. Dann ist es auch nicht auszuschließen, dass die Arbeitnehmer aus Sorge, den Job möglicherweise ohnehin zu verlieren, aus Eigeninitiative einen neuen Job suchen und dabei auch erfolgreich sind. In solchen Fällen bleibt es dem Arbeitnehmer selbstverständlich unbenommen,
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§ 22 Beschäftigungsgesellschaft und Betriebsübergang – ein Umgehungsthema? –
sich mit dem bisherigen Arbeitgeber über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einigen (siehe zum Aufhebungsvertrag oben § 19). 3 Das BAG1) hatte hierzu entschieden, dass solche Vereinbarungen, die zwischen dem Arbeitnehmer und dem alten oder dem neuen Betriebsinhaber geschlossen werden und auf ein endgültiges Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet sind, ohne Rücksicht auf ihre sachliche Berechtigung wirksam sind. Die Rechtsprechung trage damit dem Umstand Rechnung, dass der Arbeitnehmer alternativ dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber widersprechen und damit den Eintritt der Rechtsfolgen des § 613a BGB verhindern könne. 4 Auf dieser Grundlage hatte das BAG2) im Jahr 1998 über folgende Konstellation zu entscheiden: Im Zuge der Insolvenz seines bisherigen Arbeitgebers hatte der Kläger einen dreiseitigen Vertrag abgeschlossen und war in eine Beschäftigungsgesellschaft gewechselt. Eine Erwerbergesellschaft nahm sodann mit den gleichen Betriebsmitteln des bisherigen Arbeitgebers ihre Tätigkeit im gleichen Sektor auf und stellte in der Folge ca. 250 Mitarbeiter vorrangig aus dem Kreis der bisher ca. 500 Arbeitnehmer zu veränderten – verschlechterten – Bedingungen ein. Der Kläger wurde nicht eingestellt, sondern nahm an Maßnahmen der Beschäftigungsgesellschaft teil. Er machte gerichtlich geltend, dass sein Arbeitsverhältnis gemäß § 613a BGB auf die Auffanggesellschaft übergegangen sei. 5 Dies hat das BAG nicht so gesehen. Der für den Wechsel in die Beschäftigungsgesellschaft abgeschlossene dreiseitige Vertrag sei nicht wegen Umgehung von § 613a BGB gemäß § 134 BGB nichtig. In diesem Zusammenhang geschlossene Aufhebungsverträge sind nur dann wegen objektiver Gesetzesumgehung nichtig, wenn sie lediglich die Beseitigung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses bei gleichzeitigem Erhalt des Arbeitsplatzes bezwecken und dabei die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen sachlich ungerechtfertigt sind. 6 Ist hingegen der in dem dreiseitigen Vertrag enthaltene Aufhebungsvertrag darauf ausgerichtet, dass der Arbeitnehmer endgültig aus dem Betrieb ausscheidet, und weiß der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Vereinbarung nicht, ob er vom Betriebserwerber übernommen wird – oder zumindest nicht sicher damit rechnen kann –, kommt die Vertragskonstellation für den Arbeitnehmer einem Risikogeschäft gleich. Nach den Ausführungen des BAG konnten die Arbeitnehmer durch den Abschluss des dreiseitigen Vertrages ihre Stellung rechtlich geringfügig verbessern. Der Vertrag habe ihnen neben der sozialrechtlichen Positionsverbesserung die Chance eröffnet, beim Betriebserwerber ___________ 1) BAG, Urt. v. 11.12.1997 – 8 AZR 654/95, NZA 1999, 262, 263. 2) BAG, Urt. v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97 (Dörries Scharmann I), ZIP 1999, 320 = NZA 1999, 422.
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II. Entwicklung der Rechtsprechung
ein neues Arbeitsverhältnis zu finden. Da die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses beim Erwerber für den Kläger jedoch nicht absehbar war, diente der dreiseitige Vertrag nicht der Unterbrechung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses. Im Nachgang zu dieser sog. Dörries-Scharmann-Entscheidung wurden Beschäfti- 7 gungsgesellschaften häufig bei vergleichbaren Konstellationen eingesetzt, wobei die Vorgehensweise vorrangig im Zusammenhang mit (drohenden) Insolvenzen genutzt wurde. Indem durch den Erwerber dabei häufig vorgegeben wurde, dass nahezu alle Arbeitnehmer in die Beschäftigungsgesellschaft wechseln müssen (die Quoten belaufen sich regelmäßig auf deutlich über 90 %), bevor die materiellen Betriebsmittel übernommen werden, hat sich dabei etabliert, dass die dreiseitigen Verträge zuerst von den Arbeitnehmern unterzeichnet werden. Ist der Rücklauf ausreichend, nimmt der Erwerb der Betriebsmittel seinen Lauf und der Betrieb vom Erwerber fortgeführt. Es versteht sich von selbst, dass Erklärungen zu einer hohen Wahrscheinlich- 8 keit der individuellen Übernahme beim Erwerber oder sogar diesbezügliche Zusagen schädlich sind. Andererseits hat schon das BAG in seiner Entscheidung im Jahr 1998 ausgeführt, dass das Wissen, dass eine Betriebsfortführung durch den Erwerber „angestrebt“ wird, nicht dazu führt, dass ein Umgehungstatbestand gegeben ist. Im Jahr 1999 hat das BAG3) hierzu zusätzlich sogar erläutert, dass selbst mit 9 detaillierten Ausführungen i. R. einer Betriebsversammlung über den Zweck des gesamten Modells – Entlastung der Masse, Übergang der Arbeitsverhältnisse auf die BQG, damit verbundene sozialrechtliche Vorteile und eine Chance zur Rettung von Arbeitsplätzen ohne soziale Gesichtspunkte – die Voraussetzungen für eine Anfechtung der Erklärung zum Abschluss des dreiseitigen Vertrages wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung nicht gegeben seien. 2.
Die Jahre 1998 bis 2010 Zur Wirksamkeit von Aufhebungsverträgen bei Einschaltung einer BQG: BAG, Urt. v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, ZIP 2006, 148 BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = BB 2007, 1054
Das BAG hatte nach der Entscheidung aus dem Jahr 1999 erst wieder in 2005 10 Veranlassung, sich zur Konzeption zu äußern und dabei auch die Gelegenheit ergriffen, sich intensiv mit der zwischenzeitlich in der Literatur geäußerten
___________ 3) BAG, Urt. v. 21.1.1999 – 8 AZR 218/98, ZIP 1999, 1572
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§ 22 Beschäftigungsgesellschaft und Betriebsübergang – ein Umgehungsthema? –
Kritik4) zu befassen. Diese bestand im Wesentlichen darin, dass durch die Vorgehensweise der Kündigungsschutz umgangen werde, da die Auswahl der Arbeitnehmer außerhalb einer Sozialauswahl erfolge; auch würde sich der Arbeitnehmer tatsächlich nicht autonom entscheiden und sich vielmehr zugunsten einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit einer Drucksituation beugen. 11 Das BAG hielt aber an seiner Auffassung fest, dass ein Aufhebungsvertrag auch bei einer objektiv bezweckten Beseitigung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses bei gleichzeitigem Erhalt des Arbeitsplatzes nur dann unwirksam ist, wenn die mit dieser Vertragsgestaltung verbundene Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sachlich unberechtigt ist. Werde hingegen die Übernahme in eine Beschäftigungsgesellschaft nur zum Schein vorgeschoben oder offensichtlich bezweckt, die Sozialauswahl zu umgehen, seien die Aufhebungsverträge unwirksam. 12 Zur Frage einer möglichen Anfechtung des Aufhebungsvertrages gemäß § 123 Abs. 1 BGB hat das BAG mit Urteil vom 23.11.20065) ergänzend entschieden, dass diese Möglichkeit dann gegeben ist, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer beim Abschluss des Vertrages vorspiegelt, der Betrieb solle geschlossen werden, in Wahrheit jedoch ein (Teil-)Betriebsübergang beschlossen ist. 3.
Rechtsprechung seit 2011 Unwirksamkeit einer sog. dreiseitigen Vereinbarung: BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, ZIP 2011, 2426 = NZA 2012, 152 BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 572/11, ArbRB 2013, 69
13 Mit der als „Lotterie-Urteil“ titulierten Entscheidung des BAG vom 18.8.20116) hat sich die Lage dahingehend gewandelt, als erstmals die Unwirksamkeit eines dreiseitigen Vertrages bestätigt wurde. In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit wurde zunächst zwischen dem Kläger i. R. der Insolvenz seines bisherigen Arbeitgebers ein dreiseitiger Vertrag zum Wechsel des Klägers in eine Beschäftigungsgesellschaft geschlossen, nachdem ihm zuvor sechs Versionen dieses Vertrages mit unterschiedlichen Ein- und Austrittsdaten beim Insolvenzverwalter bzw. in der Beschäftigungsgesellschaft angeboten worden waren. Eine von allen Parteien unterzeichnete Version des dreiseitigen Vertrages hat der Kläger jedoch nicht erhalten. Der Insolvenzverwalter legte dem Kläger und den weiteren Beschäftigten in der Folge zusätzlich vor Eintritt in die Beschäfti___________ 4) BAG, Urt. v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, ZIP 2006, 148. Nach Küttner-Kania, Personalbuch 2013, Beschäftigungsgesellschaft, Rz. 6, begegnet die in dem Modell liegende Kombination von Aufhebungsvertrag mit allen und Neubegründung mit einem Teil der Arbeitnehmer „erheblichen Bedenken“. Eine Übersicht über die durchaus kritischen Entscheidungen der Instanzgerichte ist im Aufsatz von Fuhlrott, NZA 2012, 549, 551 enthalten. 5) BAG, Urt. v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, ZIP 2007, 643 = BB 2007, 1054 m. Anm. Müller. 6) BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, ZIP 2011, 2426 = NZA 2012, 152.
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II. Entwicklung der Rechtsprechung
gungsgesellschaft jeweils auf sie ausgefertigte Verträge mit einer Erwerbergesellschaft in einer unbefristeten und einer befristeten Version vor und wies dabei darauf hin, dass keine Sicherheit und kein Anspruch darauf bestehe, dass das „Angebot“ der Arbeitnehmer auf Abschluss der vorbereiteten Verträge angenommen werde. Der Kläger unterschrieb beide Vertragsangebote. Auf einer Betriebsversammlung am ersten Tag der Befristung des Klägers bei der Beschäftigungsgesellschaft wurde mitgeteilt, dass 352 von 452 Mitarbeitern bei der Erwerbergesellschaft eingestellt würden, die zwischenzeitlich das Betriebs- und Anlagevermögen vom Insolvenzverwalter erworben hatte. Die Auswahl der Mitarbeiter fand durch ein Losverfahren statt; der Kläger erhielt einen befristeten Arbeitsvertrag bei der Erwerbergesellschaft. Der Beginn dieses Arbeitsverhältnisses entsprach dem vorgesehenen zweiten Tag des Klägers in der Beschäftigungsgesellschaft; das Arbeitsverhältnis mit der Beschäftigungsgesellschaft wurde rückwirkend aufgehoben, und zwar zum Ablauf des ersten dortigen Befristungstages. Das BAG hatte bereits Bedenken, ob mit dem tatsächlichen Geschehen über- 14 haupt ein dreiseitiger Vertrag zustande gekommen ist. Unterstellt, ein solcher sei zustande gekommen, könne dieser aber die Kontinuität des Arbeitsverhältnisses nicht unterbrechen, da er wegen Umgehung des § 613a BGB unwirksam sei. Es handelt sich damit um die erste Entscheidung des BAG, in der dieses einen sachlichen Grund für die Unterzeichnung der Aufhebungsvereinbarung in einem dreiseitigen Vertrag verneint. Als Begründung wird angeführt, durch die Chance, einer der 352 von 452 zu übernehmenden Mitarbeitern zu sein, sei ein Arbeitsverhältnis „verbindlich in Aussicht gestellt“ worden, da sich der Erwerber zum Zeitpunkt der Losentscheidung an das Ergebnis gebunden hatte. Zusätzlich sei die Übernahme in die Beschäftigungsgesellschaft für 24 Stunden nur zum Schein erfolgt. Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger die Entscheidung über das neue Arbeitsverhältnis an seinem alten Arbeitsplatz getroffen habe. Dies führe dazu, dass zwischen dem bisherigen Arbeitsverhältnis beim Insolvenzverwalter und dem neuen Arbeitsverhältnis beim Erwerber ein enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang bestehe. In ähnlicher Weise hat das BAG7) dann am 25.10.2012 entschieden, dass der 15 Abschluss eines dreiseitigen Vertrages, durch den ein Arbeitsverhältnis mit einer Beschäftigungsgesellschaft nur 30 Minuten besteht, dem Zweck dient, die Rechtsfolgen des § 613a BGB zu umgehen. Hier wurde über 1.500 Arbeitnehmern von bisher ca. 1.600 Arbeitnehmern eine tarifvertragliche Zusage gemacht, vom Erwerber übernommen zu werden. Dies erwecke beim Arbeitnehmer zwangsläufig den Eindruck, dass er zu denjenigen Arbeitnehmern gehört, die übernommen werden sollen. ___________ 7) BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 572/11, ArbRB 2013, 69.
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§ 22 Beschäftigungsgesellschaft und Betriebsübergang – ein Umgehungsthema? –
III.
Zukünftige Vorgehensweise
16 Die beiden aktuellen Entscheidungen (siehe Rz. 10 ff.) haben dazu geführt, den Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften im Zusammenhang mit der Veräußerung von Betrieben/Betriebsteilen auf den Prüfstand zu stellen.8) Im Ergebnis können weiterhin Beschäftigungsgesellschaften bei einem möglichen Betriebsübergang eingesetzt werden, denn auch das BAG hat an seiner bisherigen Rechtsprechung ausdrücklich festgehalten. Unter Beachtung der dargestellten Rechtsprechung ergeben sich jedoch folgende Punkte, die bei Nutzung einer Beschäftigungsgesellschaft im Zusammenhang mit der Veräußerung von Betrieben/ Betriebsteilen beachtet werden müssen. 1.
Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem Abschluss der dreiseitigen Verträge
17 Das BAG hat selbst bestätigt, dass es weiterhin ständige Rechtsprechung ist, dass der Abschluss eines Aufhebungsvertrages mit einem Betriebsveräußerer und damit zusammenhängend der Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einer Beschäftigungsgesellschaft trotz eines anschließenden Betriebsübergangs grundsätzlich wirksam ist und hat erneut betont, dass die Vereinbarung auf das endgültige Ausscheiden aus dem Betrieb gerichtet sein muss.9) Es ist also weiterhin ganz wesentlich, wie die Kommunikation im Zusammenhang mit der Unterzeichnung der dreiseitigen Verträge erfolgt. 18
Praxishinweis Dabei kommt es tatsächlich nicht nur auf die gesprochenen Äußerungen an, sondern auch auf die sonstigen Handlungen wie z. B. Rückgabe der Arbeitsmittel (Mobiltelefone, technische Geräte), Erstellen von Arbeitszeugnissen etc. Auch sollte das Erstellen von Einsatzplänen für den – nicht sicheren – Fall der Veräußerung der Betriebsmittel an den Erwerber nur „zur Sicherheit“ und auf keinen Fall unter Nennung von Namen o. Ä. erfolgen.
19 Bezogen auf das Arbeitsverhältnis beim Erwerber dürfen keine Arbeitsverträge zur Unterzeichnung vorgelegt werden; gleiches gilt für die Übergabe eines entsprechenden Entwurfes. Mit der dargestellten Rechtsprechung ist auch nicht nur die Zusage an einzelne Arbeitnehmer, sie gehörten zum Kreis der zu übernehmenden Mitarbeiter, schädlich. Vielmehr genügt schon die Aussage an die gesamte Belegschaft, einen überwiegenden Teil der Belegschaft zu übernehmen, um von einer verbindlichen Zusage i. S. der Rechtsprechung auszugehen. 20 Andererseits kann es nicht schädlich sein, wenn der Arbeitgeber über Verhandlungen mit dem Erwerber berichtet und hierbei darstellt, dass im Falle einer Veräußerung ein Teil der Belegschaft aus der Beschäftigungsgesellschaft über___________ 8) Pils, NZA 2013, 125; Fuhlrott, NZA 2012, 549. 9) BAG, Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 572/11, ArbRB 2013, 69.
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III. Zukünftige Vorgehensweise
nommen werden soll. Diese doppelte Unsicherheit (tatsächlicher Verkauf und Auswahl durch den Erwerber) führt dann aus Sicht des Arbeitnehmers weiterhin zu einem i. S. der Rechtsprechung zulässigen Risikogeschäft. 2.
Dauer der Befristung in der Beschäftigungsgesellschaft
Die Betrachtung der den dargestellten Entscheidungen zugrunde liegenden 21 Sachverhalte zeigt, dass die tatsächliche Dauer der Befristung immer kürzer wurde, um schließlich bei 30 Minuten anzugelangen. Dabei erscheint natürlich der Beginn eines (neuen) Arbeitsverhältnisses zu einer bestimmten Uhrzeit (hier 0:30 Uhr) sehr unüblich, zeigt aber gleichzeitig das Dilemma, in dem sich insbesondere Unternehmen im produktiven Bereich befinden, die nicht ohne weiteres Maschinen für einen gewissen Zeitraum stilllegen können. Hinzu kommt der nicht mehr mögliche Einsatz der Mitarbeiter i. R. eines Zeitarbeitsverhältnisses beim bisherigen oder neuen Arbeitgeber (siehe unten Rz. 27). In diesem Spannungsfeld führt unter dem Blickwinkel des „engen zeitlichen Zusammenhangs“ jeder Tag, der zwischen der Beendigung des bisherigen und der Aufnahme des neuen Arbeitsverhältnisses beim Erwerber liegt, zu einer Verneinung eines solchen Zusammenhanges. Dabei muss dann beachtet werden, dass die Beschäftigungsgesellschaft selbstverständlich ihrer Tätigkeit auch nachgehen können muss, also insbesondere die Vermittlungsbemühungen durch Teilnahme an Bewerbungstrainings und Beratungsgesprächen aufgenommen werden. In diesem Sinne sind auch die gesetzlich vorgeschriebene Teilnahme am Profiling und die Arbeitssuchendmeldung vor dem Eintritt in die Beschäftigungsgesellschaft (siehe § 21 Rz. 14 ff.) zwingend erforderlich. Entsprechend ist die vorherige Kommunikation zu führen, da ansonsten die Arbeitnehmer, die sicher mit der Übernahme durch den Erwerber rechnen, zur Teilnahme an den angebotenen Maßnahmen nicht zu motivieren sind. 22
Praxishinweis Eine rechtssichere Mindestverweildauer – unabhängig von der Frage der relevanten Verweildauer für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld (siehe § 21 Rz. 20 ff.) – kann hingegen nicht empfohlen werden; mit den in 2011 und 2012 ergangenen Entscheidungen sollte sie einen Tag in jedem Fall überdauern.
3.
Umgehung der Sozialauswahl
Das LAG Niedersachsen10) hat als zweite Instanz der „Lotterie-Entscheidung“ 23 in dem angewandten Losverfahren eine Umgehung der Sozialauswahl gesehen. Die Beklagte habe letztlich erreichen wollen, dass sie den Betrieb mit dem überwiegenden Teil der ehemaligen Mitarbeiter der Insolvenzschuldnerin fortsetzen konnte, ohne eine Sozialauswahl durchzuführen und ohne die Kontinuität der ___________ 10) LAG Niedersachsen, Urt. v. 18.2.2010 – 7 Sa 780/09, n. v.
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§ 22 Beschäftigungsgesellschaft und Betriebsübergang – ein Umgehungsthema? –
Arbeitsverhältnisse zu wahren. Diesen Aspekt hat das BAG in der darauf folgenden Entscheidung nicht aufgenommen, so dass geschlussfolgert wird, dass es hierauf – und einhergehend auf eine Sozialauswahl durch den Erwerber – nicht mehr ankommt. 24
Praxishinweis Zu Recht weist Fuhlrott11) darauf hin, dass die Heranziehung der Grundsätze der Sozialauswahl rechtsdogmatisch verfehlt ist, da § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB vor Kündigungen wegen des Betriebsübergangs schützt, nicht hingegen vor freiwilligen Beendigungen des Arbeitsverhältnisses. Wenn aus einer falschen Unterrichtung Aufhebungsverträge hervorgehen, seien die Arbeitnehmer über die Anfechtungsregeln ausreichend geschützt. Konsequenterweise wird deshalb das Erfordernis einer Sozialauswahl zur Auswahl der Arbeitnehmer aus der Beschäftigungsgesellschaft verneint.
IV.
Haltung der Agenturen für Arbeit zur genannten Vorgehensweise
25 Der Umstand, dass Verhandlungen mit einem Erwerber geführt werden, sollte auf jeden Fall der zuständigen Agentur für Arbeit mitgeteilt werden. Die zuständigen Sachbearbeiter sind mit der Materie in der Regel vertraut. Nur selten wurde die Bewilligung von Transferkurzarbeitergeld unter Berufung auf eine – aus Sicht des Sachbearbeiters – bestehende Umgehung des § 613a BGB verwehrt. In der Regel wird vielmehr nur für solche Arbeitnehmer, die im Nachgang des Wechsels zur Beschäftigungsgesellschaft dann zum Erwerber wechseln, kein Transferkurzarbeitergeld gewährt. Da es sich um einen Erstattungsanspruch handelt und die Arbeitnehmer häufig innerhalb des ersten Monats bereits aus der Beschäftigungsgesellschaft zum Erwerber wechseln, kann dies bei dem Antrag auf Erstattung des Transferkurzarbeitergeldes berücksichtigt werden; diese Arbeitnehmer werden in den Antragsformularen nicht aufgeführt. 26
Praxishinweis Bei dieser Konstellation sollte auch bedacht werden, dass die Möglichkeit der Ruhendstellung des Arbeitsverhältnisses mit der Beschäftigungsgesellschaft ausgeschlossen wird. Häufig sind ohnehin enge finanzielle Spielräume gegeben, so dass das Risiko, dass der Arbeitnehmer vom Erwerber in die Beschäftigungsgesellschaft zurückkehrt, ausgeschlossen werden muss.
27 Bis zu den Änderungen, die das Beschäftigungschancengesetz12) für die Transferleistungen gebracht hat, wurde im Zusammenhang mit dem Einsatz von Beschäftigungsgesellschaften bei Betriebsübergängen häufig eine bei den Gesellschaften vorhandene Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis genutzt, um Arbeitnehmer aus der Beschäftigungsgesellschaft heraus im Betrieb wieder einzusetzen. ___________ 11) Fuhlrott, NZA 2012, 549, 553. 12) Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt – Beschäftigungschancengesetz v. 24.10.2010, BGBl. I 2010, 1417.
414
Sigle
IV. Haltung der Agenturen für Arbeit zur genannten Vorgehensweise
Dieses als „Rückverleih“ bekannte Modell ist jedoch seit dem 1.1.2011 im Ergebnis ausgeschlossen. Zumindest aber wird solchen Arbeitnehmern, die nach der Zeit des Rückverleihs in die betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit zurückkehren, kein Transferkurzarbeitergeld (mehr) gewährt. Dies hat dazu geführt, dass bei Nutzung von Beschäftigungsgesellschaften ein (Rück-)Verleih zum bisherigen oder auch neuen Unternehmen nicht mehr stattfindet.
Sigle
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz Übersicht I. 1. 2.
Vorruhestand..................................... 1 Vorruhestandsgesetz .......................... 1 Keine Überschneidungen mit der InsO .................................................... 2 II. Altersteilzeit ...................................... 3 1. Überblick ............................................ 3 2. Voraussetzungen der Altersteilzeit ....................................................... 6 3. Typische Varianten der Durchführung von Altersteilzeitvereinbarungen ........................................ 9 a) Kontinuitätsmodell ................... 10 b) Blockmodell............................... 11 4. Problemfelder bei Insolvenz des Arbeitgebers .................................... 12 a) Insolvenzantragsverfahren........ 15 b) Insolvenzverfahren.................... 18 aa) Kontinuitätsmodell ............ 20 bb) Blockmodell........................ 21 (1) Freistellungsphase ....... 22 (2) Arbeitsphase ................ 28 c) Kündigungsmöglichkeiten des Insolvenzverwalters und daraus resultierende Folgen ...... 33
5.
aa) Kontinuitätsmodell ............ 34 bb) Blockmodell........................ 39 (1) Arbeitsphase ................ 39 (2) Freistellungsphase....... 40 d) Rechtsposition des Betriebserwerbers in der Insolvenz ................................... 43 aa) Kontinuitätsmodell ............ 44 bb) Blockmodell........................ 46 (1) Arbeitsphase ................ 46 (2) Freistellungsphase....... 48 (3) Kritik............................ 52 e) Insolvenzsicherung ................... 56 aa) § 8a ATG ............................ 56 bb) Nichtbeachtung der Pflicht zur Insolvenzsicherung ............................ 64 cc) Persönliche Haftung von Gesellschaftsorganen?........ 68 Checkliste ......................................... 72
Literatur: Bauer/Gehring, Altersteilzeit; Handbuch zu den gesetzlichen und tariflichen Regelungen, 2011; Bermig, Gesetz zur Altersteilzeit änderungsbedürftig?, AuA 1997, 216; Froehner, Das Altersteilzeitverhältnis in der Insolvenz des Arbeitgebers, NZA 2012, 1405; Hanau, Entgeltverzicht, Entgeltstundung, Arbeitszeitkonten und Altersteilzeit in der Insolvenz, ZIP 2002, 2028; Kallhoff, Umbau des Altersteilzeitgesetzes im Rahmen von „Hartz III“, NZA 2004, 692; Kleinebrink/Commandeur, Altersteilzeit und Betriebsübergang – Rechtsfolgen und Gestaltungsmöglichkeiten, ArbRB 2002, 366; Knospe, Die Verpflichtung zum Insolvenzschutz für Vertragsparteien einer Wertguthabenvereinbarung im Rahmen flexibler Arbeitszeitgestaltung, NZA 2006, 187; Nimscholz, Altersteilzeit in der Insolvenz, ZIP 2002, 1936; Oberhofer/Wroblewski, Die Altersteilzeit und das BAG in der Insolvenz, ZInsO 2005, 695; Podewin, Die Insolvenzsicherung von Wertguthaben in Arbeitszeitkonten – Parallelen und Unterschiede von § 7d SGB IV und § 8a AltTZG, RdA 2005, 295; Rolfs, Insolvenzschutz für Wertguthaben aus Altersteilzeit, NZS 2004, 561; Schelp, Arbeitnehmerforderungen in der Insolvenz, NZA 2010, 1095; Schrader/ Straube, Die Behandlung von Entgeltansprüchen aus einem Altersteilzeitverhältnis nach Insolvenzeröffnung und nach einem Betriebsübergang, ZInsO 2005, 234; Schweig/ Eisenreich, Ist die betriebsbedingte Kündigung eines Arbeitnehmers in Altersteilzeit während der Freistellungsphase möglich?, BB 2003, 1434; Seifert, Die insolvenzrechtliche Einordnung der Entgeltansprüche von Altersteilzeitarbeitnehmern in der Freistellungs-
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz phase, DZWIR 2004, 103; Vogel/Neufeld, Verblockte Altersteilzeit in der Insolvenz, ZIP 2004, 1938.
I.
Vorruhestand
1.
Vorruhestandsgesetz
1 Mit Einführung des Vorruhestandsgesetzes im Jahre 19841) wollte der Gesetzgeber Anreize für ältere Arbeitnehmer – und deren Arbeitgeber – schaffen, um das Ausscheiden von Arbeitnehmern aus dem Erwerbsleben bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze für den Rentenbezug zu ermöglichen. Auf diese Weise sollte für die damals auf den Arbeitsmarkt drängenden geburtenstarken Jahrgänge „Platz geschaffen werden“. Arbeitgeber, die einem ausscheidenden Arbeitnehmer bis zum frühestmöglichen Rentenbezug ein Vorruhestandsgeld i. H. von mindestens 65 % des früheren Bruttoarbeitsentgelts bezahlten, erhielten nach dem Vorruhestandsgesetz einen Zuschuss von 35 % der Kosten des Vorruhestands, wenn auf dem frei gewordenen Arbeitsplatz ein arbeitsloser Arbeitnehmer eingestellt wurde.2) 2.
Keine Überschneidungen mit der InsO
2 Das Vorruhestandsgesetz lief Ende des Jahres 1988 aus und wurde durch den Vorläufer des heutigen Altersteilzeitgesetzes (ATG) abgelöst.3) Die letzten staatlichen Zuschussleistungen für Ende 1988 mit der zulässigen Höchstdauer von sieben Jahren begonnenen Vorruhestandsvereinbarungen endeten im Jahre 1995.4) Deshalb kollidierten Vorruhestandsregelungen, was Insolvenzen von Arbeitgebern anbelangt, allenfalls mit der seinerzeit gültigen Konkursordnung. Zeitliche Berührungspunkte mit der erst zum 1.1.1999 eingeführten InsO existieren somit nicht. Das Gleiche gilt für das bereits erwähnte (erste) zeitlich befristete ATG aus dem Jahre 1988, das bis zum Neuerlass des heutigen ATG in Kraft war. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich deshalb auf die Berührungspunkte des heute gültigen ATG mit der InsO. II.
Altersteilzeit
1.
Überblick
3 Das heute gültige ATG wurde 1996 eingeführt,5) um Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in die Altersrente zu ermöglichen (§ 1 ___________ 1) Gesetz zur Förderung von Vorruhestandsleistungen v. 13.4.1984, BGBl. I 1984, 601. 2) Näher zum Vorruhestandsgesetz und dessen Hintergründen: Andresen, Frühpensionierung und Altersteilzeit, Kap. I. 1. Rz. 1 – 8. 3) Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des AFG und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand v. 20.12.1988, BGBl. I 1988, 2343. 4) Andresen, Frühpensionierung und Altersteilzeit, Kap. I. 1. Rz. 2. 5) Altersteilzeitgesetz v. 23.7.1996, BGBl. I 1996, 1078.
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II. Altersteilzeit
Abs. 1 ATG). Ferner sollten durch die Einführung des ATG die Sozialkassen entlastet werden.6) Eine wesentliche Gesetzesänderung erfolgte zum 1.1.2010, indem die Förderung 4 von Altersteilzeitvereinbarungen durch die Bundesagentur für Arbeit abgeschafft wurde: x
Altersteilzeitvereinbarungen, mit deren Umsetzung spätestens am 31.12.2009 begonnen wurde, werden durch Leistungen der Bundesagentur für Arbeit gefördert, wenn sie zur Einstellung eines arbeitslosen Arbeitnehmers führen (§ 1 Abs. 2 ATG).
x
Bei Altersteilzeitvereinbarungen, die ab 1.1.2010 umgesetzt wurden, besteht diese Förderungsmöglichkeit nicht mehr; konsequenterweise müssen solche Altersteilzeitvereinbarungen dann aber auch nicht mehr zur Einstellung eines arbeitslosen Arbeitnehmers führen.
Aber auch nach Wegfall der Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit 5 sind Altersteilzeitvereinbarungen sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer noch attraktiv: Dem Arbeitgeber bieten sie die Chance, sich sozialverträglich und ohne streitige Auseinandersetzung allmählich von älteren Arbeitnehmern zu trennen.7) Da nach wie vor steuerlich begünstigende Regelungen bestehen (§ 1 Abs. 3 Satz 2 ATG i. V. m. § 3 Nr. 28 EStG), sind nach dem 31.12.2009 begonnene Altersteilzeitvereinbarungen auch für den Arbeitnehmer nach wie vor interessant.8) 2.
Voraussetzungen der Altersteilzeit
Die Rahmenbedingungen für den Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung 6 sind in § 2 ATG („Begünstigter Personenkreis“) und § 3 ATG („Anspruchsvoraussetzungen“) geregelt. Die wesentlichen Voraussetzungen für den Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung sind demnach: x
der Arbeitnehmer hat das 55. Lebensjahr vollendet (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 ATG),
x
die wöchentliche Arbeitszeit wird um die Hälfte reduziert (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 ATG),
x
die aus der hälftigen Reduzierung der Arbeitszeit resultierende Teilzeitvergütung wird um mindestens 20 % aufgestockt (§ 3 Abs. 1 Nr. 1a ATG),
x
der Arbeitgeber führt zusätzliche Rentenversicherungsbeiträge ab (§ 3 Abs. 1 Nr. 1b ATG),
___________ 6) Froehner, NZA 2012, 1405 unter Verweis auf den seinerzeitigen Gesetzesentwurf. 7) Froehner, NZA 2012, 1405; zusammenfassend zu den Vorteilen für den Arbeitgeber Henssler/Willemsen/Kalb-Stindt/Nimscholz, ArbR, ATZG, Vorbem. Rz. 18. 8) Hoß in: FA-Hdb. ArbR, Kap. 7 Rz. 2.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
x
der Arbeitnehmer erfüllt nach Ablauf der Altersteilzeitvereinbarung die Voraussetzungen für den Bezug einer – wenn auch ggf. geminderten – Altersrente (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 ATG).
7 Das ATG sieht in § 2 Abs. 2 Satz 1 ATG eine Laufzeit der Altersteilzeitvereinbarung von bis zu drei Jahren, im Geltungsbereich eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung von bis zu sechs Jahren vor. Maximal zulässig ist aber unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine Laufzeit von bis zu zehn Jahren.9) 8 Die Altersteilzeitvereinbarung ist ein Sonderfall der (nachträglichen) Befristung des Arbeitsverhältnisses und muss deshalb schriftlich abgeschlossen werden (§ 14 Abs. 4 TzBfG).10) 3.
Typische Varianten der Durchführung von Altersteilzeitvereinbarungen
9 Für die Umsetzung von Altersteilzeitvereinbarungen existieren im Wesentlichen zwei Varianten: Es handelt sich hierbei um das sog. Kontinuitätsmodell und das Blockmodell: a)
Kontinuitätsmodell
10 Das in der Praxis seltener gewählte Kontinuitätsmodell sieht die kontinuierliche Reduzierung der Arbeitszeit auf die Hälfte während der gesamten Laufzeit der Altersteilzeitvereinbarung vor. Während der gesamten Laufzeit erhält der Arbeitnehmer demnach das um 50 % reduzierte Arbeitsentgelt zzgl. der Aufstockungsbeträge. b)
Blockmodell
11 Bei dem in der Praxis häufiger gewählten Blockmodell11) hingegen arbeitet der Arbeitnehmer während der ersten Hälfte der Laufzeit der Altersteilzeitvereinbarung weiterhin in Vollzeit, erhält aber nur das um 50 % reduzierte Arbeitsentgelt zzgl. der Aufstockungsbeträge. Während der zweiten Hälfte der Laufzeit arbeitet der Arbeitnehmer dann nicht mehr, erhält aber – weiterhin – das um 50 % reduzierte Arbeitsentgelt zzgl. der Aufstockungsbeträge.
___________ 9) Hoß in: FA-Hdb. ArbR, Kap. 7 Rz. 37 ff. 10) Eine prägnante Zusammenfassung der wesentlichen Voraussetzungen der Altersteilzeit findet sich auch bei Henssler/Willemsen/Kalb-Stindt/Nimscholz, ArbR, ATZG, Vorbem. Rz. 18. 11) Dornbusch/Fischermeier/Löwisch-Böck, FA-Komm. ArbR, § 2 ATG Rz. 7, sprechen von der „fast zum Regelfall gewordenen Variante“.
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II. Altersteilzeit
4.
Problemfelder bei Insolvenz des Arbeitgebers
Das Kontinuitätsmodell birgt im Insolvenzfall im Wesentlichen die gleichen 12 Risiken wie jedes andere Arbeitsverhältnis. Das Blockmodell ist für den Fall eines Insolvenzverfahrens hingegen in beson- 13 derer Weise störanfällig. Es verwirklicht sich hier das insolvenztypische Risiko desjenigen Gläubigers, der Vorleistungen erbracht hat. Ob und inwieweit ein solches insolvenztypisches Risiko dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell aber tatsächlich inne wohnt, ist in den Details umstritten. Das BAG hat sich diesbezüglich durch seine mittlerweile gefestigte Rechtsprechung klar positioniert. Im Folgenden sollen das Schicksal der Altersteilzeitarbeitsverhältnisse – jeweils 14 im Kontinuitätsmodell und im Blockmodell – während des Insolvenzantragsverfahrens und im eröffneten Insolvenzverfahren beleuchtet werden. Außerdem wird die Position des Betriebserwerbers dargestellt, der vom Insolvenzverwalter einen Betrieb übernimmt und dabei mit Altersteilzeitarbeitsverhältnissen konfrontiert wird. Insbesondere werden die wesentlichen Leitentscheidungen des BAG vorgestellt, die die Rechtsfragen zu den Problemkreisen der Altersteilzeitvereinbarungen in der Insolvenz aus Sicht der Rechtsprechung strukturiert beantwortet haben. a)
Insolvenzantragsverfahren
Wird durch Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Insolvenz- 15 antragsverfahren eingeleitet, so stellen Forderungen aus dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis aus der Vergangenheit bis zur bevorstehenden Eröffnung des Insolvenzverfahrens – wie bei allen anderen Arbeitsverhältnissen – im Grundsatz Insolvenzforderungen dar (§ 108 Abs. 3 InsO). Dies gilt sowohl im Kontinuitäts- als auch im Blockmodell der Altersteilzeitvereinbarung. Anders ist dies nur, wenn ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter i. S. 16 des § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO den Arbeitnehmer nicht freistellt, sondern seine Arbeitsleistung (im Kontinuitätsmodell oder in der Arbeitsphase des Blockmodells) tatsächlich in Anspruch nimmt; in diesem Sonderfall werden Masseverbindlichkeiten begründet.12) Allerdings sind die Forderungen aus der Altersteilzeitvereinbarung – auch hier 17 besteht kein Unterschied zu regulären Arbeitsverhältnissen – für den Zeitraum von drei Monaten vor dem späteren Eröffnungsstichtag über Insolvenzgeld abgesichert. Sofern der vorläufige Insolvenzverwalter die Vorfinanzierung von ___________ 12) Jarchow in: HambKomm-InsR, § 55 Rz. 28; Krause in: Münch-Hdb. ArbR, § 68 Rz. 2; Schelp, NZA 2010, 1095, 1098; Froehner, NZA 2012, 1405, 1406; Müller-Glöge in: ErfK, Einf. InsO Rz. 41; BAG, Urt. v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, NZA 2006, 1352, 1354 = ZIP 2005, 1289.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
Insolvenzgeld organisiert, können in Altersteilzeit befindliche Arbeitnehmer auch in diese Vorgehensweise einbezogen werden. Richtigerweise besteht auch dann eine Absicherung über Insolvenzgeld, wenn sich der betreffende Arbeitnehmer in den letzten drei Monaten vor dem Eröffnungsstichtag bereits in der Freistellungsphase des Blockmodells befindet.13) Dies kann nicht zuletzt aus § 7e SGB IV hergeleitet werden.14) b)
Insolvenzverfahren
18 Ab der Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen Entgeltansprüche aus Arbeitsverhältnissen grundsätzlich vorab zu befriedigende Masseverbindlichkeiten dar. Dies gilt auch in den Fällen, in denen der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmer unwiderruflich von seiner Pflicht zur Arbeitsleistung freistellt.15) Selbst bei angezeigter Masseunzulänglichkeit bleibt es bei der Einordnung sämtlicher nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandener Arbeitsentgeltforderungen als Masseforderungen. Es fehlt dann nur an der Durchsetzbarkeit der Arbeitsentgeltforderungen, die der Insolvenzverwalter aber auch bei andauernder Masseunzulänglichkeit am Ende des Insolvenzverfahrens – dann eben anteilig – nach Bezahlung der Kosten des Gerichts und des Insolvenzverwalters sowie der Neumasseverbindlichkeiten gemäß § 209 Abs. 1 Satz 2 InsO vorrangig gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO auszugleichen hat. 19 Für Forderungen aus Altersteilzeitarbeitsverhältnissen gilt – von Besonderheiten in der Freistellungsphase des Blockmodells abgesehen – im Grundsatz nichts anderes: aa)
Kontinuitätsmodell
20 Bei Altersteilzeitarbeitnehmern im Kontinuitätsmodell ist der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens – ebenso wie bei allen anderen, noch in dem schuldnerischen Unternehmen angestellten Arbeitnehmern – zur Befriedigung der Entgeltansprüche als Masseverbindlichkeiten verpflichtet. Dies gilt für sämtliche Entgeltbestandteile, also auch für die Aufstockungsbeträge. ___________ 13) Gagel-Peters-Lange, SGB, § 165 SGB III Rz. 125; Kreikebohm/Spellbrink/WaltermannCoseriu, SGB III, § 183 Rz. 26; Linck in: HK-InsO, § 183 SGB III Rz. 6, anders wohl Krause in: Münch-Hdb. ArbR, § 68 Rz. 19, der im Bereich des Insolvenzgeldes anscheinend die gleichen Grundsätze anwenden will wie bei der Einordnung der Forderungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, auf die noch näher einzugehen sein wird. 14) Hierauf weist zu Recht Jaeger-Henckel, InsO, § 55 Rz. 66 hin, der aus der gesetzlichen Formulierung „soweit ein Anspruch auf Insolvenzgeld nicht besteht“ herleitet, dass der Gesetzgeber von der Einbeziehung von Wertguthaben, das in Freistellungszeiten auszuzahlen ist, in den Schutz durch die Vorschriften über das Insolvenzgeld ausging. 15) Vgl. z. B. Kübler/Prütting/Bork-Pape/Schaltke, InsO, Stand: 2/2011, § 55 Rz. 167; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 55 Rz. 72.
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II. Altersteilzeit
bb)
Blockmodell
Bei Altersteilzeitarbeitsverhältnissen im Blockmodell hängt die Einordnung der 21 Forderungen davon ab, ob sich der betreffende Arbeitnehmer bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch in der Arbeitsphase des Blockmodells oder bereits in der Freistellungsphase befindet. (1)
Freistellungsphase Altersteilzeitarbeit und Betriebsübergang in der Insolvenz: BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527
Sofern sich der Arbeitnehmer bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits in 22 der Freistellungsphase befindet, ist umstritten, ob es sich bei den Entgeltforderungen aus dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis um Masseforderungen oder um Insolvenzforderungen handelt:16) Für die Einordnung der Entgeltforderungen in der Freistellungsphase als Mas- 23 seforderungen wird ins Feld geführt, zwar stelle rückständiges Arbeitsentgelt aus der Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens unzweifelhaft eine Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO dar. Bei dem vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Altersteilzeitarbeitsverhältnis nach dem Blockmodell angesparten Wertguthaben handele es sich aber rechtlich gar nicht um rückständiges Arbeitsentgelt. Dies wird mit dem Verweis auf § 7 Abs. 1a SGB IV begründet, der das Weiterbestehen eines Beschäftigungsverhältnisses bei Freistellung regelt.17) Da das Entgelt in der Freistellungsphase des Blockmodells beitrags-, leistungsund steuerrechtlich so behandelt werde, als sei es in der Freistellungsphase erarbeitet worden, sei auch die Einordnung der Entgeltansprüche als Masseforderungen geboten.18) Ferner wird mit einer Art Erst-Recht-Schluss argumentiert: Wenn schon Arbeitnehmer ohne Erbringung einer Arbeitsleistung (bei Krankheit oder Urlaub nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens) Masseforderungen begründen könnten, müsse das erst recht bei solchen Arbeitnehmern gelten, die sich die Freistellung von der Arbeitspflicht durch entsprechende Leistungen bereits erdient hätten.19) Das gleiche Argument wird im Hinblick auf die vom Insolvenzverwalter freigestellten Arbeitnehmer ins Feld geführt, die eben-
___________ 16) Für die Einordnung als Insolvenzforderungen z. B.: Seifert, DZWIR 2004, 103, 106; Vogel/ Neufeld, ZIP 2004, 1938 m. w. N.; Rolfs, NZS 2004, 561, 562. 17) Nimscholz, ZIP 2002, 1936, 1937. 18) Hanau, ZIP 2002, 2028, 2830, der diese Auffassung in einem späteren Beitrag (Hanau, RdA 2003, 231 ff. [Urteilsanm.]) anlässlich des von ihm kommentierten Urteils des BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, ZIP 2003, 1169 = NZA 2003, 789, aber nicht mehr aufrechterhalten zu können glaubt. 19) Vgl. hierzu Moll/Henke, EWIR 2004, 77, 78.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
falls trotz Nichterbringung von Arbeitsleistungen unzweifelhaft Masseverbindlichkeiten begründen.20) 24 Mit seiner Entscheidung vom 19.10.200421) hat das BAG allen Argumenten eine Absage erteilt, die Entgeltforderungen aus Altersteilzeitverträgen im Blockmodell, die sich bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits in der Freistellungsphase befinden, als Masseforderungen einordnen wollen. Dieser Leitentscheidung des BAG lag nicht etwa ein Sachverhalt zugrunde, in dem ein in der Freistellungsphase des Blockmodells der Altersteilzeitvereinbarung befindlicher Arbeitnehmer den Insolvenzverwalter auf Zahlung verklagte. Stattdessen ging es um Folgendes: Beispiel Der Kläger hatte mit seiner Arbeitgeberin eine Altersteilzeitvereinbarung im Blockmodell abgeschlossen. Die Arbeitsphase dauerte vom 1.1.2001 bis zum 30.4.2002. Die Freistellungsphase begann am 1.5.2002 und sollte bis zum 31.8.2003 dauern. Allerdings wurde über das Vermögen der Arbeitgeberin am 1.9.2002 das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Beklagte hatte am 1.10.2002 vom Insolvenzverwalter denjenigen Betriebsteil erworben, dem der Arbeitsplatz des Klägers zuzuordnen war. Der Kläger vertrat nun die Auffassung, angesichts des unstreitigen Betriebsteilübergangs gemäß § 613a BGB schulde ihm die Beklagte in ihrer Eigenschaft als Betriebsteilerwerberin die während der Freistellungsphase zu erbringenden Leistungen aus der Altersteilzeitvereinbarung in vollem Umfang ab dem 1.9.2002 bis zur Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses am 31.8.2003. 25 Das BAG lehnt eine Haftung des Betriebserwerbers ab, sofern sich das Altersteilzeitarbeitsverhältnis bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits in der Freistellungsphase befindet.22) Das BAG verweist insoweit auf die insolvenzrechtlichen Einschränkungen aufgrund der besonderen Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts. Gemeint ist damit die eingeschränkte Haftung nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB des Betriebserwerbers in der Insolvenz. Diesbezüglich hatte das BAG – ebenfalls der 9. Senat – bereits zuvor entschieden, dass sich die Haftung des Betriebserwerbers in der Insolvenz auf Masseforderungen beschränkt, für Insolvenzforderungen haftet er jedoch grundsätzlich nicht.23) Die Frage, ob es sich bei den Wertguthaben in der Freistellungsphase um Masseforderungen handelt, war somit im vorliegenden Fall entscheidungserhebliche Kernfrage. 26 Hier positioniert das BAG sich eindeutig: Es kommt (aufgrund der Verteilungsgrundsätze der InsO!) nicht darauf an, wann der Arbeitnehmer die Leistung verlangen kann. Es kommt für die Abgrenzung stattdessen darauf an, wann die ___________ 20) Schrader/Straube, ZInsO 2005, 234, 236; für eine Einordnung als Masseforderungen auch Oberhofer/Wroblewski, ZInsO 2005, 695. 21) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527. 22) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527, 528. 23) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651.
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II. Altersteilzeit
Arbeitsleistung, die den Ansprüchen zugrunde liegt, erbracht wurde.24) Der Zeitpunkt der Arbeitsleistung, so das BAG, bestimme nämlich, inwieweit die Leistungen der Masse zugutekommen. Das während der Freistellungsphase geschuldete Entgelt ist Gegenleistung für die bereits während der Arbeitsphase geleistete, über die verringerte Arbeitszeit hinausgehende Arbeit. Der Anspruch ist damit im insolvenzrechtlichen Sinne „für“ diese Zeit geschuldet.25) Diese klarstellende Entscheidung des BAG ist überzeugend, denn sie schafft eine 27 nachvollziehbare Struktur, erhält vielmehr die der InsO innewohnende Struktur und wendet sie konsequent auf die besondere Problematik der Altersteilzeitarbeitsverhältnisse im Blockmodell an. Die Leitentscheidung des BAG zu dieser Thematik hat in der Literatur deshalb auch überwiegend Zustimmung gefunden.26) (2)
Arbeitsphase Altersteilzeitarbeit und Betriebsübergang in der Insolvenz: BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457 = NZA 2005, 408
Die Überzeugungskraft der vom BAG herangezogenen insolvenzrechtlichen 28 Struktur für die Bewertung von Altersteilzeitvereinbarungen wird noch deutlicher, wenn man auch die zweite, vom BAG am selben Tag ergangene Entscheidung27) analysiert, bei welcher es um die Einordnung der Forderungen aus einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis ging, das sich bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch in der Arbeitsphase befand: Beispiel Der Kläger hatte mit seiner Arbeitgeberin eine Altersteilzeitvereinbarung im Blockmodell mit vierjähriger Laufzeit abgeschlossen. Die Arbeitsphase dauerte vom 1.3.2001 bis zum 28.2.2003. Die Freistellungsphase dauerte demzufolge vom 1.3.2003 bis zum 28.2.2005. Am 1.9.2002 wurde über das Vermögen der Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Beklagte hatte am 1.10.2002 vom Insolvenzverwalter denjenigen Betriebsteil erworben, dem der Arbeitsplatz des Klägers zuzuordnen war. Der Kläger vertrat nun die Auffassung, angesichts des unstreitigen Betriebsübergangs i. S. des § 613a BGB schulde ihm die Beklagte in ihrer Eigenschaft als Betriebsteilerwerberin die gesamte (Rest-)Vergütung aus der Altersteilzeitvereinbarung seit 1.9.2002 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 28.2.2005. ___________ 24) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527, 528; schon bezüglich der Konkursordnung hatte das BAG seinerzeit entschieden, dass es für die Beurteilung, ob eine Insolvenz- oder eine Masseforderung vorliegt, auf die Entstehung des Anspruchs, nicht auf seine Fälligkeit ankommt, vgl. BAG, Urt. v. 25.5.1980 – 5 AZR 337/78, ZIP 1980, 666, 667. 25) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527, 528. 26) Z. B. Lüdtke in: HambKomm-InsR, § 38 Rz. 43; Mues in: FK-InsO, 6. Aufl., Anh. zu § 113 Rz. 269; Müller-Glöge in: ErfK, Einf. InsO Rz. 42; Kübler/Prütting/Bork-Pape/ Schaltke, InsO, Stand: 2/2011, § 55 Rz. 177; Uhlenbruck-Sinz, InsO, § 55 Rz. 75; KüttnerKreitner, Personalbuch 2013, 11 Altersteilzeit Rz. 16. 27) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457 = NZA 2005, 408.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
29 Das BAG ist dem nur teilweise gefolgt: Wieder stellt der 9. Senat des BAG konsequent auf die insolvenzrechtlichen Verteilungsgrundsätze und auf den Grundsatz ab, wonach derjenige Betriebserwerber, der vom Insolvenzverwalter erwirbt, nur für Masseforderungen, nicht aber für Insolvenzforderungen haftet.28) „Spiegelbildlich“, so wörtlich und konsequent das BAG, haftet der Betriebserwerber beim Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell auch in der Freistellungsphase entsprechend für einen Zeitraum, der exakt demjenigen Zeitraum entspricht, in welchem der Altersteilzeitarbeitnehmer nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei andauernder Arbeitsphase noch Leistungen „für“ die Masse – bzw. den Betriebserwerber – erbracht hat. Aus Sicht des Altersteilzeitarbeitnehmers, der sich noch in der Arbeitsphase des Blockmodells befindet, beginnt somit ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine komplett neue Ansparphase. 30 Konsequent bleibt das BAG in seiner Entscheidung – im Hinblick auf seine Rechtsprechung zur Haftung des Betriebserwerbers in der Insolvenz29) – auch insofern, als dass die Haftung des Erwerbers gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht erst mit Übernahme (in dem entschiedenen Fall: ab 1.10.2002), sondern bereits mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens (also am 1.9.2002) beginnt. 31 Mit „spiegelbildlich“ ist – so das BAG u. a. unter Verweis auf § 366 BGB – gemeint, dass sich an die Arbeitsphase ab Beginn der Freistellungsphase zunächst eine Phase anschließt, in welcher der Betriebserwerber dem Altersteilzeitarbeitnehmer nichts schuldet, sondern dieser an die Insolvenztabelle des Insolvenzverwalters verwiesen wird (§§ 38, 174 ff. InsO). Es handelt sich bei dieser Phase, die in dem vom BAG entschiedenen Fall dem Zeitraum vom 1.3.2003 bis zum 31.8.2004 entspricht, um diejenige spiegelbildliche Phase, die dem vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erarbeiteten Zeitguthaben entspricht. Erst danach schließt sich dann die letzte Phase des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses – hier vom 1.9.2004 bis zum 28.2.2005 – an, in der der Altersteilzeitarbeitnehmer in den Genuss von Zahlungen durch den Betriebserwerber kommt, wiederum spiegelbildlich zu dem nach Insolvenzeröffnung angesparten Wertguthaben.30) 32 Im Anhang zu diesem Kapitel befindet sich eine Checkliste. In dieser wird in tabellarischer Form ein fiktiver Beispielsfall dargestellt, der in seiner Struktur dem soeben dargestellten, vom BAG entschiedenen Fall entspricht. Die verschiedenen Phasen der Altersteilzeitvereinbarung in dieser recht komplexen Konstellation werden mit den jeweiligen Zahlungsansprüchen gegen die verschiedenen Beteiligten auf Grundlage der Rechtsprechung des BAG dargestellt. ___________ 28) S. wiederum die erwähnte Grundsatzentscheidung des BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651. 29) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651; vgl. auch schon BAG, Urt. v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, ZIP 2003, 222 = NZA 2003, 318; vgl. ferner Preis in: ErfK, § 613a BGB Rz. 146. 30) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, NZA 2005, 408, 411 = ZIP 2005, 457; zust. h. M. z. B. Küttner-Kreitner, Personalbuch 2013, 11 Altersteilzeit Rz. 16.
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II. Altersteilzeit
c)
Kündigungsmöglichkeiten des Insolvenzverwalters und daraus resultierende Folgen
Unabhängig davon, wie die Forderungen aus dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis 33 in den unterschiedlichen Konstellationen insolvenzrechtlich einzuordnen sind, stellt sich die Frage, ob und wann der Insolvenzverwalter das in Altersteilzeit befindliche Arbeitsverhältnis kündigen kann. Was die Möglichkeit und die Folgen einer Kündigung des Insolvenzverwalters anbelangt, so ist zu unterscheiden: aa)
Kontinuitätsmodell
Wie jedes andere Arbeitsverhältnis kann der Insolvenzverwalter auch das in Form 34 einer Altersteilzeitvereinbarung im Kontinuitätsmodell bestehende Arbeitsverhältnis gemäß § 113 InsO kündigen. Gemäß § 113 Satz 1 InsO kann sich der Insolvenzverwalter mit seinem Sonderkündigungsrecht auch über eine fest vereinbarte Vertragslaufzeit oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung hinwegsetzen. Dies ist von Bedeutung, sofern die Altersteilzeitvereinbarung im Einzelfall keine ordentliche Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers vorsieht (das Arbeitsverhältnis ist i. R. der Altersteilzeitvereinbarung dann außerhalb der Insolvenz nämlich als befristetes Arbeitsverhältnis ohne ordentliche Kündigungsmöglichkeit arbeitgeberseitig nicht kündbar, vgl. § 15 Abs. 3 TzBfG). Der Insolvenzverwalter wird in aller Regel ein Interesse daran haben, Alters- 35 teilzeitarbeitsverhältnisse zur Verkürzung seiner Masseverbindlichkeiten zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu kündigen, es sei denn, die von dem betreffenden Arbeitnehmer in Teilzeit erbrachten Arbeitsleistungen sind i. R. einer eigenen Betriebsfortführung des Insolvenzverwalters wichtig oder der Geschäftsbetrieb wird kurzfristig gemäß § 613a BGB auf einen Investor übertragen. 36
Praxishinweis Dass die Kündigung des Insolvenzverwalters gemäß §§ 1 ff. KSchG überprüfbar ist, ist selbstverständlich. Allerdings dürfte zumindest die häufig vorkommende „klassische“ betriebsbedingte Kündigung wegen insolvenzbedingter Einstellung des Geschäftsbetriebes im Hinblick auf § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG (dringende betriebliche Erfordernisse) und § 1 Abs. 3 KSchG (aufgrund der Kündigung aller Arbeitnehmer keine Sozialauswahl erforderlich) unproblematisch rechtswirksam sein.
Als Folge der Kündigung der Altersteilzeitvereinbarung im Kontinuitätsmodell 37 durch den Insolvenzverwalter ergibt sich, wenn die Laufzeit der Altersteilzeitvereinbarung durch die Verwalterkündigung abgekürzt wird, mit Ablauf der Kündigungsfrist die vorzeitige Beendigung und damit der Zusammenbruch der Altersteilzeitvereinbarung. Der betreffende Arbeitnehmer hat gegenüber dem Insolvenzverwalter bis zum Ablauf der Kündigungsfrist noch Vergütungsansprüche als Masseforderungen (bezüglich sämtlicher Entgeltbestandteile, also auch der Aufstockungsbeträge).31) Nach Ablauf der Kündigungsfrist bricht die ___________ 31) Linck in: HK-InsO, Vor § 113 Rz. 7.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
Altersteilzeitvereinbarung allerdings insofern in sich zusammen, als dass sie vor dem Erreichen der an sich geplanten Laufzeit beendet ist, endgültig nicht mehr fortgesetzt und auch nicht rückabgewickelt werden kann. Der betreffende Arbeitnehmer ist ab sofort gezwungen, Arbeitslosengeld I in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich bei der Kündigung durch den Insolvenzverwalter somit um einen typischen sog. „Störfall“ i. R. von Altersteilzeitarbeitsverhältnissen.32) 38 Bezüglich der Höhe der Arbeitslosengeldzahlungen wird allerdings das durchschnittliche Arbeitsentgelt vor Beginn der Altersteilzeitvereinbarung herangezogen.33) Der betreffende Arbeitnehmer hat somit einen Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zum Zeitpunkt der möglichen Inanspruchnahme seiner gesetzlichen Altersrente, und zwar bemessen nicht auf dem Niveau seiner zuletzt bezogenen Altersteilzeitvergütung, sondern ausgehend von seinem vor Beginn der Altersteilzeit bezogenen Arbeitsentgelt.34) Was Restforderungen aus der nicht zu Ende geführten Altersteilzeitvereinbarung anbelangt, so bleibt dem Arbeitnehmer nur die Anmeldung zur Insolvenztabelle (§§ 113 Satz 3, 38, 174 InsO). bb) (1)
Blockmodell Arbeitsphase
39 Sofern sich der Arbeitnehmer i. R. einer Altersteilzeitvereinbarung im Blockmodell bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch in der Arbeitsphase befindet, kann der Insolvenzverwalter von seinem Sonderkündigungsrecht gemäß § 113 InsO Gebrauch machen. Insoweit gelten im Wesentlichen die obigen Ausführungen zum Kontinuitätsmodell entsprechend. (2)
Freistellungsphase Kündigung in der Freistellungsphase wegen Betriebsstilllegung: BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, ZIP 2003, 1169 = NZA 2003, 789
40 Sofern der Arbeitnehmer bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens allerdings bereits die Freistellungsphase erreicht hat, ist die betriebsbedingte Kündigung sowohl außerhalb der Insolvenz als auch durch den Insolvenzverwalter nach der Rechtsprechung des BAG nicht zulässig.35) Dies entspricht auch der h. M. im Schrifttum.36) ___________ 32) Vgl. zu anderen Störfällen – auch außerhalb der Insolvenz – Hoß in: FA-Hdb. ArbR, Kap. 7 Rz. 237 u. a.; Froehner, NZA 2012, 1405, 1408 ff.; Bauer/Gehring, Altersteilzeit, Rz. 410 ff. 33) Bermig, AuA 1997, 216, 217; Hoß in: FA-Hdb. ArbR, Kap. 7 Rz. 234. 34) Berscheid/Kunz/Brand/Nebeling-Hempe, Praxis des Arbeitsrechts, Kap. 28 Rz. 36. 35) BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, ZIP 2003, 1169 = NZA 2003, 789. 36) Z. B. Eisenbeis in: FK-InsO, 6. Aufl., Vor §§ 113 ff. Rz. 9; Müller-Glöge in: ErfK, § 113 InsO Rz. 9; Bauer/Gehring, Altersteilzeit, Rz. 416; sehr weitgehend in den Formulierungen Kittner/Zwanziger/Deinert-Bantle, ArbR, 6. Aufl., § 111 Rz. 111, der davon spricht, der Arbeitnehmer gehöre dem Betrieb gar nicht mehr an bzw. sei in der Freistellungsphase schon gar nicht mehr Arbeitnehmer, a. A. Schweig/Eisenreich, BB 2003, 1434.
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II. Altersteilzeit
Die einleuchtende Begründung für die Unzulässigkeit der betriebsbedingten 41 Kündigung gegenüber dem in der Freistellungsphase befindlichen Arbeitnehmer lautet, dass ein betriebliches Erfordernis, welches zum Wegfall des Arbeitsplatzes führt, in den Fällen denklogisch ausgeschlossen ist, in denen sämtliche Arbeitsleistungen auf dem betroffenen Arbeitsplatz in der Vergangenheit bereits vollständig erbracht wurden.37) So beruhigend dieses richterrechtliche Kündigungsverbot auf den ersten Blick 42 auch wirken mag, wirtschaftlich betrachtet ist die Situation des bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Freistellungsphase befindlichen Altersteilzeitarbeitnehmers im Hinblick auf die oben dargestellte Rechtsprechung zur Einordnung des Restguthabens als Insolvenzforderung38) äußerst unerfreulich (vgl. oben Rz. 22 ff.). d)
Rechtsposition des Betriebserwerbers in der Insolvenz
Was die Rechtsposition des Betriebserwerbers anbelangt, der den Geschäfts- 43 betrieb gemäß § 613a BGB vom Insolvenzverwalter übernimmt, so ist wiederum zu unterscheiden, ob bei der Schuldnerin beschäftigte, in Altersteilzeit befindliche Arbeitnehmer sich im Kontinuitäts- oder im Blockmodell, hinsichtlich letzterem in der Arbeits- oder der Freistellungsphase befinden: aa)
Kontinuitätsmodell
Es ergeben sich – im Vergleich zu „normalen“ Arbeitsverhältnissen – keine we- 44 sentlichen Besonderheiten: Das Arbeitsverhältnis des in Altersteilzeit befindlichen Arbeitnehmers geht mit dem Übernahmestichtag gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Betriebserwerber über. Die (rechtswirksame) Kündigung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses durch den Betriebserwerber dürfte in dieser Konstellation in der Regel nicht in Betracht kommen. Der Betriebserwerber setzt die Altersteilzeitvereinbarung mit dem betreffenden Arbeitnehmer fort. Für Forderungen aus dem Zeitraum vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens haftet er nicht.39) Sofern die Übernahme des Geschäftsbetriebes nicht bereits mit Eröffnung des 45 Insolvenzverfahrens erfolgt, besteht aber eine Mithaftung des Erwerbers für vom Insolvenzverwalter nicht erfüllte Forderungen aus dem Zeitraum ab Eröffnung bis zur Übernahme, also für Masseforderungen.40) Auf diese Weise wird den Verteilungsgrundsätzen des Insolvenzverfahrens Rechnung getragen. ___________ 37) BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, ZIP 2003, 1169 = NZA 2003, 789, 790. 38) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527. 39) BAG, Urt. v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, ZIP 2003, 222 = NZA 2003, 318; BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651. 40) St. Rspr., z. B. BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, ZIP 2005, 1706; Dornbusch/ Fischermeier/Löwisch-Bayreuther, FA-Komm. ArbR, § 613a Rz. 89.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
bb)
Blockmodell
(1)
Arbeitsphase
46 Befindet sich der Arbeitnehmer bei Übernahme des Geschäftsbetriebes noch in der Arbeitsphase, so geht das Arbeitsverhältnis gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber über, der – selbstverständlich – die Vergütung aus der Altersteilzeitvereinbarung zunächst weiter schuldet. 47 Bei Beendigung der Arbeitsphase und Eintritt in die Freistellungsphase schuldet der Betriebserwerber dann zunächst – spiegelbildlich i. S. der Rechtsprechung des BAG – für den vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erarbeiteten Zeitraum kein Entgelt. Für denjenigen Zeitraum, der der Arbeitsphase nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entspricht, bestehen gegenüber dem Betriebserwerber – wiederum spiegelbildlich – Arbeitsentgeltansprüche für den letzten Teil der Freistellungsphase. (2)
Freistellungsphase Übergang von Altersteilzeitarbeitsverhältnissen auf den Betriebserwerber: BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 27/07, ZIP 2008, 1133 = NZA 2008, 705 BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682
48 Dass in denjenigen Fällen, in denen sich das Altersteilzeitarbeitsverhältnis bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits in der Freistellungsphase befindet, der Betriebsübernehmer nicht haftet, hatte das BAG in der oben dargestellten Entscheidung aus dem Jahre 200341) entschieden. 49 Ausdrücklich offengelassen hatte das BAG aber seinerzeit die Frage, ob das in der Freistellungsphase des Blockmodells befindliche Altersteilzeitarbeitsverhältnis überhaupt auf den Erwerber übergeht.42) In der Literatur ist diese Frage umstritten.43) 50 In seinem Urteil vom 31.1.200844) hat das BAG diese in der Rechtsprechung vorübergehend noch bestehende Lücke geschlossen: Das BAG vertritt die Auffassung, dass das Altersteilzeitarbeitsverhältnis des in der Freistellungsphase befindlichen Arbeitnehmers auf den Betriebserwerber übergeht. Das BAG verweist insofern auf den Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB, wonach der ___________ 41) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, ZIP 2004, 1013 = NZA 2004, 651. 42) BAG, Urt. v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527. 43) Dafür (h. M.) z. B.: Kleinebrink/Commandeur, ArbRB 2002, 366; Leisbrock, Altersteilzeitarbeit, S. 379; Küttner-Kreitner, Personalbuch 2013, 124 Betriebsübergang Rz. 3; Rolfs in: ErfK, § 8 ATG Rz. 22; Palandt-Weidenkaff, BGB, § 613a Rz. 5; Wank in: Münch-Hdb. ArbR, § 102 Rz. 123; dagegen: Hanau, RdA 2003, 230 (Urteilsanm.); früher auch Schaub-Koch, Arbeitsrechtshandbuch, der die Rechtsprechung des BAG aber mittlerweile kritiklos zitiert (§ 118 Rz. 4). 44) BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 27/07, NZA 2008, 705 = ZIP 2008, 1133.
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II. Altersteilzeit
Übernehmer „in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen eintrete“. Das Altersteilzeitarbeitsverhältnis sei eben kein ruhendes, sondern ein normales (nachträglich) befristetes Teilzeitarbeitsverhältnis.45) Weder Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12.3.2001 noch die Gesetzessystematik des § 613a BGB verbiete es, den Übergang von bereits in der Freistellungsphase des Blockmodells befindlichen Arbeitsverhältnissen anzunehmen.46) In einer weiteren, ebenfalls im Jahre 2008 ergangenen Entscheidung47) hat das 51 BAG klargestellt, dass auch die Nichthaftung des Betriebsübernehmers in der Insolvenz für Wertguthaben von bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits in der Freistellungsphase befindlichen Arbeitnehmern nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.48) Auch dass der bereits in der Freistellungsphase befindliche Arbeitnehmer aber – dennoch – auf den Betriebserwerber übergeht, hat das BAG in dieser Entscheidung nochmals klargestellt.49) (3)
Kritik
Die Rechtsprechung ist in denjenigen Fällen, in denen sich der betreffende Ar- 52 beitnehmer bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch in der Arbeitsphase des Blockmodells befindet, der Betriebserwerber in der Insolvenz also nach der „Spiegelbild-Rechtsprechung“ des BAG zumindest in der letzten Phase der Altersteilzeitvereinbarung noch Entgelt schuldet, konsequent und gut nachvollziehbar. In denjenigen Fällen aber, in denen die Arbeitsphase bereits vor Eröffnung des 53 Insolvenzverfahrens endete, gegenüber dem Betriebserwerber nach der eigenen Auffassung des BAG also keinerlei Forderungen mehr bestehen, ist der vom BAG angenommene Übergang des Arbeitsverhältnisses sinnentleert. Denn wenn durch den Betriebserwerber ohnehin keine Zahlungen erfolgen müssen und werden, dürfte schon die sozialversicherungsrechtliche Anmeldung des Arbeitnehmers durch den Betriebserwerber weder erforderlich noch sinnvoll sein. Sofern sie erfolgt, dürfte sie eher Verwirrung stiften als irgendwelche Vorteile bringen. Die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis i. S. des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB für und gegen den Betriebserwerber, die das Gesetz vorsieht, stellen im Hinblick auf die tatsächliche Situation bloße Worthülsen dar, denn das vermeintliche rechtliche Band zwischen dem Altersteilzeitarbeitnehmer und dem Betriebs___________ 45) 46) 47) 48)
BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 27/07, NZA 2008, 705, 707 = ZIP 2008, 1133. BAG, Urt. v. 31.1.2008 – 8 AZR 27/07, ZIP 2008, 1133 = NZA 2008, 705. BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682. BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682; ungenau ist das BAG allerdings insoweit, als dass es im Leitsatz und den Entscheidungsgründen davon spricht, dass „der Betriebsübergang in die Freistellungsphase falle“; darauf kommt es aber nach der eigenen Rechtsprechung des BAG bekanntlich nicht an, sondern darauf, ob bei Insolvenzeröffnung die Freistellungsphase bereits begonnen hat. 49) BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, ZIP 2009, 682, 683.
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erwerber, das durch die Vorschrift des § 613a BGB geschaffen wird, hat keine wirtschaftlichen Folgen für und gegen die Beteiligten. 54
Praxishinweis Der bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits in der Freistellungsphase befindliche Arbeitnehmer sollte deshalb sinnvollerweise auch arbeitsrechtlich dort verbleiben, wo er – was seine Forderungen anbelangt – nun nach der Rechtsprechung hingehört: Beim Insolvenzverwalter nämlich, wo er den erlittenen „Schaden“ zur Insolvenztabelle anmelden muss und insofern „Arbeitnehmer als Insolvenzgläubiger“ ist, und bei der Bundesagentur für Arbeit, wo er entsprechend Arbeitslosengeld I (angesichts seines nicht kündbaren Arbeitsverhältnisses) im Wege der Gleichwohlgewährung beziehen kann.50)
55 Aus dem Blickwinkel des betroffenen Arbeitnehmers ähnelt die nun eingetretene Situation nämlich am ehesten derjenigen des vom Insolvenzverwalter gekündigten und unwiderruflich freigestellten Arbeitnehmers, der Arbeitslosengeld im Wege der Gleichwohlgewährung bezieht (§ 157 Abs. 3 SGB III, § 115 Abs. 1 SGB X); freilich besteht der erhebliche Unterschied, dass der Altersteilzeitarbeitnehmer in der vorliegenden Konstellation auf die Position eines Insolvenzgläubigers „zurückgestuft“ ist und im Gegensatz zu dem im regulären Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf seiner Kündigungsfrist freigestellten Arbeitnehmer nicht mehr auf eine spätere – vollständige oder anteilige – Bezahlung seiner verbliebenen Arbeitsentgeltansprüche als Masseforderungen hoffen kann. Der im Schrifttum teilweise vertretenen Auffassung51) ist deshalb zuzustimmen. e) Insolvenzsicherung aa) § 8a ATG 56 Die oben dargestellten Risiken, denen insbesondere Altersteilzeitarbeitnehmer in der Freistellungsphase des Blockmodells ausgesetzt sind, lassen sich dadurch minimieren, dass der Arbeitgeber die erarbeiteten Guthaben des Altersteilzeitarbeitnehmers insolvenzgeschützt anlegt. 57 Diesem Bedürfnis hat der Gesetzgeber durch die zum 1.7.2004 eingeführte Vorschrift des § 8a ATG Rechnung getragen. Diese auf den ersten Blick schwer verständliche, teilweise als „bürokratisches Monster“ bezeichnete gesetzliche Regelung52) verpflichtet den Arbeitgeber zu insolvenzsichernden Maßnahmen, wenn mehr als drei Monate an Wertguthaben aufgebaut werden, also typischerweise bei nahezu allen in der Praxis vorkommenden Altersteilzeitvereinbarungen im Blockmodell.53) Die Insolvenzsicherungspflicht erstreckt sich auf das gesamte, vom Arbeitnehmer erdiente, aber noch nicht an ihn ausgezahlte Ar___________ 50) 51) 52) 53)
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Berscheid/Kunz/Brand/Nebeling-Hempe, Praxis des Arbeitsrechts, Kap. 28 Rz. 36. Hanau, RdA 2003, 230 (Urteilsanm.). Knospe, NZA 2006, 187, 190. Zu Konstellationen, in denen auch außerhalb des „klassischen“ Blockmodells eine Insolvenzsicherung erforderlich sein kann, s. Rolfs, NZS 2004, 561, 563.
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II. Altersteilzeit
beitsentgelt einschließlich der Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung, nicht aber auf die Aufstockungsbeträge.54) Nicht als ausreichend insolvenzsicher eingestufte Sicherungsarten, wie bilanzielle 58 Rückstellungen sowie zwischen Konzernunternehmen gemäß § 18 AktG begründete Einstandspflichten, untersagt das Gesetz in § 8a Abs. 1 Satz 2 ATG.55) Der Arbeitgeber wird somit dazu angehalten, eine – in der Regel mit beträchtli- 59 chen Kosten verbundene – Insolvenzsicherung durch Bankbürgschaften oder Versicherungsmodelle herbeizuführen. Möglich sind ferner z. B. die dingliche Absicherung durch Wertpapiere oder sog. Doppeltreuhandmodelle.56) Geklärt hat der Gesetzgeber in § 8a Abs. 2 ATG ferner die zuvor umstrittene 60 Frage, inwieweit die vom Arbeitgeber geleisteten Aufstockungsbeträge i. R. der vom Arbeitgeber organisierten Insolvenzsicherung angerechnet werden dürfen: Eine Anrechnung ist seit 1.7.2004 von Gesetz wegen untersagt, und zwar sowohl bezüglich der gesetzlich vorgeschriebenen (Mindest-)Aufstockungsbeträge als auch bezüglich der darüber hinausgehenden freiwilligen Aufstockungsbeträge. § 8a Abs. 3 ATG erlegt dem Arbeitgeber eine Nachweispflicht bezüglich der 61 Insolvenzsicherung auf; danach hat der Arbeitgeber die zur Sicherung des Wertguthabens ergriffenen Maßnahmen mit der ersten Gutschrift und danach alle sechs Monate in Textform nachzuweisen (wobei gemäß § 8a Abs. 3 Satz 2 ATG mit dem Betriebsrat eine andere Nachweisform vereinbart werden kann). Hält sich der Arbeitgeber nicht an die Vorgaben des § 8a Abs. 3 ATG, so setzt 62 in § 8a Abs. 4 ATG ein mehrstufiges Verfahren ein, mit dessen Hilfe der betroffene Arbeitnehmer eine wirksame Insolvenzsicherung – notfalls über das ArbG – letztlich erzwingen können soll. 63
Praxishinweis Die etwas umständliche und wenig praktikable, vom Gesetzgeber vorgesehene Vorgehensweise dürfte aber in der Lebenswirklichkeit krisengeschüttelter Unternehmen umso seltener mit Erfolg in die Tat umgesetzt werden, je näher das Altersteilzeitarbeitnehmer beschäftigende Unternehmen einem Insolvenzantrag tatsächlich bereits ist.
bb)
Nichtbeachtung der Pflicht zur Insolvenzsicherung
Zu Recht wird darauf hingewiesen,57) dass allein die beträchtliche Anzahl ge- 64 richtlich entschiedener Sachverhalte, in denen eine wirksame Insolvenzsicherung eben gerade nicht erfolgt war, zeigt, dass in der betrieblichen Praxis das in § 8a ATG vorgesehene Prozedere offenbar häufig ignoriert wird. ___________ 54) 55) 56) 57)
Rolfs, NZS 2004, 561, 564; Rolfs in: ErfK, § 8a ATG Rz. 4; Podewin, RdA 2005, 295, 297 f. Hierzu näher Kallhoff, NZA 2004, 692, 695. So Hoß in: FA-Hdb. ArbR, Kap. 7 Rz. 304, unter Verweis auf die Dienstanweisung der BA. Froehner, NZA 2012, 1405, 1407.
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§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
65 Dies dürfte allerdings nicht nur für die Arbeitgeber, sondern zumindest teilweise auch für die betreffenden Arbeitnehmer und Betriebsräte gelten. Gerade letztere haben in dem von einer wirtschaftlichen Krise betroffenen Unternehmen erfahrungsgemäß auch meist diverse andere (nicht einzelne Altersteilzeitarbeitnehmer, sondern die gesamte Belegschaft betreffende) Themenkomplexe mit dem Arbeitgeber abzuarbeiten bzw. zu verhandeln, als die Frage der effektiven Absicherung von Altersteilzeitguthaben im Blockmodell. 66 Ist die Insolvenzsicherung der Wertguthaben aus der Altersteilzeit also im Einzelfall nicht oder nicht wirksam und in ausreichender Weise erfolgt, so ist es für den betreffenden Arbeitnehmer keine besonders reizvolle Aussicht, aufgrund der Verletzung der gesetzlichen Vorschriften durch den Arbeitgeber entstandene Schäden beim Insolvenzverwalter zur Insolvenztabelle anmelden zu können. 67 Deshalb richtet sich der Blick des Leidtragenden, also des nicht in gesetzmäßiger Weise abgesicherten Altersteilzeitarbeitnehmers, typischerweise auf die Frage einer persönlichen Haftung der handelnden Organe des Arbeitgebers: cc)
Persönliche Haftung von Gesellschaftsorganen?
68 Die Rechtsprechung (und die herrschende Meinung)58) beschränkt die Chancen des betroffenen Arbeitnehmers, wegen unterlassener Insolvenzsicherung gegen Organmitglieder – typischerweise gegen den GmbHG-Geschäftsführer – persönlich vorzugehen, allerdings auf einige wenige Sachverhaltskonstellationen, die getrost als Ausnahmefälle bezeichnet werden dürfen. Dies entspricht der Gesetzeslage, denn gemäß § 13 Abs. 2 GmbHG ist die Haftung des Geschäftsführers auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt. Die Rechtsprechung erkennt eine Eigenhaftung des Geschäftsführers als Organ nur an, wenn ein besonderer Haftungsgrund vorliegt.59) 69 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass § 8a ATG nur gegenüber dem Arbeitgeber, nicht aber gegenüber dem Organvertreter Schutzgesetz i. S. des § 823 Abs. 2 BGB ist.60) Ein Wertguthaben ist auch kein sonstiges Recht i. S. des § 823 Abs. 1 BGB:61) Gefährlich wird es für den GmbH-Geschäftsführer bezüglich einer persönlichen Haftung erst dann, wenn er einem in Altersteilzeit befindlichen Arbeitnehmer wahrheitswidrig vorspiegelt, eine Insolvenzsicherung sei erfolgt,62) ___________ x
58) Z. B. Rolfs in: ErfK, § 8a ATG Rz. 8 f.; Dornbusch/Fischermeier/Löwisch-Böck, FA-Komm. ArbR, § 8a ATG Rz. 1. 59) So z. B. BAG, Urt. v. 23.2.2010 – 9 AZR 44/09, ZIP 2010, 1361 = NZA 2010, 1418. 60) BAG, Urt. v. 13.12.2005 – 9 AZR 436/04, ZIP 2006, 1213; Dornbusch/Fischermeier/ Löwisch-Böck, FA-Komm. ArbR, § 8a ATG Rz. 1. 61) BAG, Urt. v. 13.12.2005 – 9 AZR 436/04, ZIP 2006, 1213; Dornbusch/Fischermeier/ Löwisch-Böck, FA-Komm. ArbR, § 8a ATG Rz. 1. 62) BAG, Urt. v. 12.4.2011 – 9 AZR 229/10, NZA 2011, 1350.
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II. Altersteilzeit
er entsprechende Maßnahmen zur Insolvenzsicherung aber weder ergriffen hat noch dies beabsichtigt.63) In solchen Fällen kommt ein Betrug gemäß § 263 StGB und eine persönliche Haftung über § 14 StGB, § 823 Abs. 2 BGB für den entstandenen Schaden in Betracht. x
Sofern der Geschäftsführer persönliches Vertrauen für die Durchführung des Vertrages in Anspruch genommen und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsabschluss erheblich beeinflusst hat, kommt ferner eine Haftung gemäß § 311 Abs. 3 BGB in Betracht.64)
Sofern tatsächlich ein von der Rechtsprechung anerkannter Ausnahmefall der 70 persönlichen Einstandspflicht des Geschäftsführers vorliegt und es dem betreffenden Arbeitnehmer im Prozess gelingt, die Tatbestandsvoraussetzungen darzulegen und zu beweisen, ist die Werthaltigkeit der Schadensersatzansprüche gegen den Geschäftsführer des insolventen Unternehmens natürlich nicht garantiert. Nicht selten geraten Geschäftsführer insolventer GmbH bekanntlich – bspw. aufgrund persönlicher (Mit-)Haftung für gewährte Bankkredite oder aufgrund vom Insolvenzverwalter geltend gemachter Ansprüche gemäß § 64 GmbHG – infolge der Insolvenz der von ihnen geführten Kapitalgesellschaft selbst in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, bisweilen sogar in ein weiteres Insolvenzverfahren, diesmal über ihr persönliches Vermögen. 71
Praxishinweis Derjenige Arbeitnehmer, der bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens feststellen muss, dass eine angemessene Absicherung der von ihm erarbeiteten Wertguthaben nicht erfolgt ist, sollte deshalb von vornherein nicht allzu große Hoffnungen hegen, eine angemessene Schadenskompensation für die erlittenen Nachteile letztlich auch zu erhalten.
5. Checkliste Beispielfall: 72 Ansprüche eines Altersteilzeitarbeitnehmers im Blockmodell mit dreijähriger Laufzeit, der sich bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch für sechs Monate in der Arbeitsphase befindet, wobei der Geschäftsbetrieb drei Monate nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von einem Betriebsübernehmer erworben und weitergeführt wird
___________ 63) BAG, Urt. v. 13.2.2007 – 9 AZR 106/06, NZA 2008, 121 ff. 64) Vgl. Rolfs in: ErfK, § 9 ATG Rz. 8 f.
Graner
435
436
Ansprüche
Phase
Zeitraum
1.1.2011
Freistellungsphase spiegelbildlich zur Arbeitsphase 1.1.2010 – 31.12.2010 Insolvenzforderungen gegenüber Insolvenzverwalter
Arbeitsphase beim Betriebsübernehmer
Zahlungsansprüche gegenüber Betriebsübernehmer
Arbeitsphase beim Insolvenzverwalter
Masseforderungen gegenüber Insolvenzverwalter (und Zahlungsansprüche gegenüber Betriebsübernehmer)
Arbeitsphase im Insolvenzgeldzeitraum
Insolvenzgeldansprüche gegenüber Bundesagentur für Arbeit
Zahlungsansprüche gegenüber Arbeitgeber oder (bei Zahlungsausfällen) Insolvenzforderungen gegenüber Insolvenzverwalter
30.6.2012
Arbeitsphase vor Insolvenzgeldzeitraum
30.6.2011
31.3.2011
bis
1.7.2011
31.12.2010
bis
1.4.2011
30.9.2010
bis
bis
1.10.2010
bis
1.1.2010
Tabellarische Übersicht über die verschiedenen Phasen einer Altersteilzeitvereinbarung
31.12.2012 Freistellungsphase spiegelbildlich zur Arbeitsphase 1.4.2011 – 30.6.2011 Zahlungsansprüche gegenüber Betriebsübernehmer
Freistellungsphase spiegelbildlich zur Arbeitsphase 1.1.2011 – 31.3.2011 Masseforderungen gegenüber Insolvenzverwalter bzw. Zahlungsansprüche gegenüber Betriebsübernehmer
bis
1.10.2012
30.9.2012
bis
1.7.2012
§ 23 Vorruhestand und Altersteilzeit vor und in der Insolvenz
Graner
§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz Übersicht I. Einleitung........................................... 1 II. Rechtsgrund für Versorgungsansprüche ........................................... 3 1. Individualrechtliche Rechtsgrundlagen ............................... 6 a) Echte Individualzusage ............... 7 b) Betriebliche Einheitsregelung........................................ 8 c) Gesamtzusage .............................. 9 d) Betriebliche Übung ................... 10 2. Kollektivrechtliche Rechtsgrundlagen ............................. 14 a) Zusage durch Betriebsvereinbarung, § 77 BetrVG ............ 14 b) Zusage durch Tarifvertrag......... 16 c) Ansprüche aufgrund Gleichbehandlungsgesichtspunkten.... 18 III. Der Anpassungsanspruch gemäß § 16 BetrAVG...................... 22 IV. Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung..... 26 1. Die Versorgungszusage.................... 27 a) Klassische Versorgungszusage ............................................. 27 b) Treuhandmodelle....................... 28 2. Direktversicherung........................... 30 3. Pensionskasse ................................... 34 4. Pensionsfonds................................... 36 5. Unterstützungskasse........................ 37 V. Die Mitbestimmungsrechte nach dem BetrVG............................ 39 VI. Sanierungsmöglichkeiten in der Krise ........................................... 44 1. Einseitige Änderung von Zusagen der betrieblichen Altersversorgung ............................. 44
a) Widerruf..................................... 44 b) Kündigung von Betriebsvereinbarungen .......................... 48 c) Änderungskündigung ............... 61 d) „Gegenläufige“ betriebliche Übung ........................................ 62 2. Einvernehmliche Anpassung ........... 63 a) Änderungsvertrag...................... 63 b) Abschluss einer ablösenden Betriebsvereinbarung ................ 65 c) Ablösung durch Tarifvertrag .... 77 d) Außergerichtliches Vergleichsverfahren .................. 79 VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren ......................... 84 1. Die Versorgungszusage im Insolvenzantragsverfahren............... 84 2. Einstandspflicht des Pensionssicherungsvereins ............................. 86 3. Schicksal der einzelnen Versorgungszusagen im Insolvenzverfahren ........................................... 91 a) Direktzusage.............................. 93 b) Direktversicherung ................... 95 c) Pensionskasse .......................... 101 d) Pensionsfonds ......................... 102 e) Unterstützungskassen ............ 103 4. Die Abfindung von Versorgungszusagen durch den Insolvenzverwalter............................. 104 5. Die Versorgungszusage bei Betriebsübergang nach Insolvenzeröffnung ........................................ 110 6. Besonderheiten bei der Sanierung im Insolvenzplanverfahren ... 119
Literatur: Bäcker, Betriebsrenten stagnieren trotz Förderung, FD-ArbR 2013, 342783; Bätzel, Die überbetriebliche Treuhand als flexible Lösung für den Mittelstand, DB 2008, 1761; Bremer, Insolvenzplan: Fortführung betrieblicher Altersversorgung durch den Arbeitgeber, DB 2011, 875; Gantenberg/Hinrichs/Janko, Die Betriebsrentenzusage in der Insolvenz, ZInsO 2009, 1000; Hinrichs/Plitt, Die Abfindung von Betriebsrentenansprüchen in der Insolvenz, ZInsO 2011, 2109; Kort, Die Kündigung von Betriebsvereinbarungen
Frommhold
437
§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz über Betriebsrenten, NZA 2004, 889; Neufeld, Besonderheiten der betrieblichen Altersversorgung bei der übertragenden Sanierung, BB 2008, 2346; Reinhard/Hoffmann-Remy, Gestalterische Möglichkeiten im Hinblick auf den kollektiven Bezug einer betrieblichen Altersversorgung, NZA-Beilage 2012, 79; Rolfs, Auswirkungen der „Rente mit 67“ auf betriebliche Versorgungssysteme, NZA 2011, 540; Rolfs, Die betriebliche Altersversorgung beim Betriebsübergang, NZA-Beil. 2008, 164; Schäfer, Anfechtbarkeit der Prämienzahlungen eines Arbeitgebers auf eine zu Gunsten seiner Arbeitnehmer abgeschlossene Direktversicherung, NZI 2008, 151; Schnitker/Grau, Fixkostenblock betriebliche Altersversorgung?, NZA-Beilage 2010, 68; Schnitker/Sittard, Die gesetzliche und privatrechtliche Insolvenzsicherung von Pensionen, NZA 2012, 963; Schnitker/Sittard, Wie frei ist der Arbeitgeber? Betriebliche Altersversorgung und Mitbestimmung, NZA 2011, 331; Schulze/Wimmi, Änderung von Arbeitsbedingungen – Was kann der Arbeitgeber durchsetzen?, ArbRAktuell 2013, 145; Simon/Rein, Betriebsrentenanpassung im Fokus von Praxis und Öffentlichkeit, in: NZA 2013, 169.
I.
Einleitung
1 Die betriebliche Altersversorgung nimmt im Alterssicherungssystem neben der gesetzlichen Rentenversicherung und der privaten Eigenvorsorge den Status einer dritten Säule ein.1) Der Anteil der Arbeitnehmer, die betriebliche Versorgungsleistungen erhalten, soll nach Schätzungen zwischen 70 % und 80 % liegen und in den nächsten Jahren auf 90 % steigen.2) Die hinter der betrieblichen Altersversorgung stehenden Vermögenswerte sind von enormer praktischer und wirtschaftlicher Bedeutung; alleine die Rückstellungen für Betriebsrenten in den Bilanzen der Mitgliedsunternehmen des Pensionssicherungsvereins auf Gegenseitigkeit (PSVaG) mit Sitz in Köln beliefen sich im Jahr 2012 auf rd. 304 Mrd. €, die Beitragszahlen der Mitgliedsunternehmen addierten sich im gleichen Zeitraum auf rd. 912 Mio. €.3) 2 Die vorhandene betriebliche Altersversorgung eines Unternehmens spielt damit sowohl i. R. einer Restrukturierung als auch bei einem Unternehmenskauf eine essentielle Rolle, da es sich hierbei regelmäßig um einen bedeutenden Posten auf der Passivseite der Bilanz handelt und begründete Pensionsverpflichtungen die Entscheidung über Erwerb des Unternehmens oder das Bestehen von Insolvenzantragsgründen beeinflussen können. II.
Rechtsgrund für Versorgungsansprüche
3 Die betriebliche Altersvorsorge beruht auf einer Zusage des Arbeitgebers auf Versorgungsleistungen bei Erreichen der Altersgrenze, bei Tod oder Invalidität, also bei Eintritt bestimmter biologischer Ereignisse. Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung resultieren aus Versorgungszusagen des Arbeitgebers an ___________ 1) Steindorf/Regh, Arbeitsrecht in der Insolvenz, § 5 Rz. 1. 2) Förster/Cisch/Karst-Cisch, BetrAVG, Einführung Rz. 17; Bäcker (FD-ArbR 2013, 342783) geht von einem Anteil von 50 % der Erwerbstätigen aus. 3) Quelle: Pressemitteilung des PSVaG v. 8.11.2012, abrufbar unter http://www.psvag.de/ pdf/Pressemitteilung%20Beitragssatz%202012.pdf (Abrufdatum: 1.8.2013).
438
Frommhold
II. Rechtsgrund für Versorgungsansprüche
den Arbeitnehmer, die auf individualrechtlicher oder kollektivrechtlicher Basis erfolgen können. Wurde in der Vergangenheit die Versorgungszusage regelmäßig auf das Errei- 4 chen des 65. Lebensjahrs erteilt, wird sich dies durch die Anhebung der Regelaltersgrenze für die gesetzliche Rentenversicherung auf das 67. Lebensjahr angleichen, vgl. § 35 SGB VI. Für Zusagen unter Bezugnahme auf die Regelaltersgrenze vor Änderung des § 635 SGB VI hat dies regelmäßig Auswirkungen, wenn und soweit die Versorgungszusage auf das „gesetzliche Rentenalter“ abstellt; in diesem Fall sollte auch der Anspruch auf die betriebliche Altersversorgung erst ab dem individuell gesetzlichen Rentenalter bestehen.4) Alt-Zusagen, die auf das Erreichen des 65. Lebensjahr abstellen, seien ohne Hinzutreten weiterer Umstände dahingehend auszulegen, dass eine Bezugnahme auf das gesetzliche Rentenalter beabsichtigt gewesen sei.5) Nach der Rechtsprechung des BAG ist davon auszugehen, dass ohne anderweitige Anhaltspunkte in Auslegungsfragen eine Versorgungsordnung regelmäßig dahingehend auszulegen sei, dass damit auf die Regelaltersgrenze gemäß §§ 35, 235 Abs. 2 SGB IV Bezug genommen werde.6) Da die betriebliche Altersversorgung eine – mit der Einschränkung durch den 5 seit dem 1.1.2002 gesetzlich normierten Anspruch auf Entgeltumwandlung gemäß § 1a BetrAVG nach wie vor freiwillige Sozialleistung des Arbeitgebers darstellt, entstehen Ansprüche auf eine betriebliche Altersversorgung nur dann, wenn hierfür individualrechtlich oder kollektivrechtlich eine Rechtsgrundlage geschaffen worden ist. 1.
Individualrechtliche Rechtsgrundlagen
Individualrechtliche Zusagen existieren in vier Erscheinungsformen, nämlich als x
„echte“ Individualzusage,
x
betriebliche Einheitsregelung,
x
Gesamtzusage,
x
betriebliche Übung.
a)
6
Echte Individualzusage
Eine Versorgungszusage kann durch einzelvertragliche Vereinbarung im Ar- 7 beits- oder Dienstvertrag begründet werden. Die anspruchsbegründenden Normen sind dann Teil des Dienst- oder Arbeitsvertrages. ___________ 4) Rolfs, NZA 2011, 540. 5) BAG, Urt. v. 15.5.2012 – 3 AZR 11/10, ZIP 2012, 1983 = NZA-RR 2012, 433. 6) BAG, Urt. v. 15.5.2012 – 3 AZR 11/10, ZIP 2012, 1983 = NZA-RR 2012, 433.
Frommhold
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
b)
Betriebliche Einheitsregelung
8 Unter einer betrieblichen Einheitsregelung versteht man die Zusage eines Arbeitgebers an die Arbeitnehmer des Betriebes. Die Einheitsregelung gewährt dem einzelnen begünstigten Arbeitnehmer einen individualrechtlichen Versorgungsanspruch mit einem kollektiven Bezug; der Arbeitgeber handelt also die Altersversorgung inhaltlich nicht individuell mit dem einzelnen Arbeitnehmer aus, sondern nimmt Bezug auf vorformulierte Arbeits- bzw. Versorgungsbedingungen, die oft als „Ruhegeld“-, „Pensions“- oder „Versorgungsordnungen bzw. -richtlinien“ oder auch „Versorgungswerke“ bezeichnet werden und in denen die Anspruchsvoraussetzungen abstrakt-generell geregelt sind.7) Die Einheitsregelung stellt regelmäßig ein Vertragsangebot an die einzelnen Arbeitnehmer, oftmals durch Aushang am Schwarzen Brett, Rundschreiben oder mündliche Bekanntgabe, dar, dass durch konkludentes Verhalten der Arbeitnehmer angenommen wird.8) c)
Gesamtzusage
9 Eine Gesamtzusage ist die an alle oder an eine bestimmte abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern in allgemeiner Form gerichtete ausdrückliche und mit Rechtsbindungswillen ausgestattete Erklärung des Arbeitgebers, zusätzliche Leistungen zu erbringen.9) Auf die konkrete Kenntnis des einzelnen Arbeitnehmers kommt es nicht an. Rechtstechnisch handelt es sich um das Angebot paralleler Einzelzusagen ohne Bezugnahme auf eine einheitliche Versorgungsordnung, bei dem die Annahme durch den Arbeitnehmer aufgrund des begünstigenden Charakters gemäß § 151 BGB als stillschweigend erfolgt unterstellt wird.10) d)
Betriebliche Übung Betriebliche Übung – Begriff und Inhaltskontrolle: BAG, Urt. v. 19.2.2008 – 3 AZR 61/06, NZA-RR 2008, 597
10 Arbeitsverträge können durch das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung inhaltlich verändert werden. Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen seine Arbeitnehmer schließen können, dass ihnen eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer gewährt werden soll. Die Möglichkeit, einen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung aufgrund betrieblicher Übung zu begründen, ist bereits im Gesetz festgehalten, § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG. ___________ 7) Blomeyer/Rolfs/Otto-Rolfs, BetrAVG, Anh. § 1 Rz. 14. 8) Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt-Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Kap. J. Rz. 13; BAG, Urt. v. 13.3.1975 – 3 AZR 446/74, DB 1975, 1563. 9) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 659/02, BeckRS 2010, 72807. 10) Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber-Kemper, BetrAVG, § 1 Rz. 108.
440
Frommhold
II. Rechtsgrund für Versorgungsansprüche
Die betriebliche Übung unterscheidet sich von der Gesamtzusage im Wesent- 11 lichen dadurch, dass es hier keiner ausdrücklichen Erklärung des Arbeitgebers bedarf. Der Anspruch aus einer betrieblichen Übung kann sowohl durch mehrfache Zahlung eines Ruhegehaltes oder auch die mehrfach getätigte Zusage, ein solches zahlen zu wollen, begründet werden, selbst wenn die Leistung wiederholt als freiwillig gekennzeichnet worden ist.11) Zuletzt hat das BAG12) in einem Fall, in dem eine Bank in einem Mitarbeiter- 12 handbuch, einer Personalinformation und einer Intranet-Präsentation den Mitarbeitern mitgeteilt hatte, dass sie zugunsten von Mitarbeitern, die mindestens 20 Jahre im Bankgewerbe beschäftigt waren und davon mindestens zehn Jahre bei ihr, die eine gute Beurteilung durch ihre Vorgesetzten erhalten hatten und in einer gesundheitlichen Verfassung waren, die keine vorzeitige Verrentung erwarten ließ, einen Versorgungsvertrag abschließen werde, einen Grund für eine betriebliche Übung angenommen. Damit ist höchstrichterlich auch den Argumenten der Arbeitgeber eine Absage erteilt worden, die gegen das Entstehen einer betrieblichen Übung regelmäßig u. a. die arbeitsvertraglichen Regelungen in Gestalt der Schriftformklausel oder des enthaltenen Freiwilligkeitsvorbehalts, die wirtschaftliche Bedeutung des Versorgungsversprechens für das Unternehmen und die fehlende Beteiligung der Mitbestimmungsgremien bei der Entstehung der betrieblichen Übung ins Feld führen. Nach der Vertragstheorie der heute ganz h. M. sind die betriebliche Einheits- 13 regelung, die Gesamtzusage und die betriebliche Übung Gegenstand arbeitsvertraglicher Vereinbarung.13) 2.
Kollektivrechtliche Rechtsgrundlagen
a)
Zusage durch Betriebsvereinbarung, § 77 BetrVG
Die Zusage in Gestalt der betrieblichen Einheitsregelung erfolgt in vielen Fällen 14 durch Abschluss einer Betriebsvereinbarung gemäß § 77 BetrVG. Das BetrVG weist dem Betriebsrat die Regelungskompetenz für den Abschuss von Versorgungszusagen über eine Unterstützungskasse, Pensionskasse und oder Pensionsfonds zu, § 88 Nr. 2 BetrVG; hinsichtlich zusätzlicher Gestaltungsmöglichkeiten ergibt sich die Kompetenz aus der umfassenden funktionellen Zuständigkeit in sozialen Angelegenheiten.14) Zugunsten leitender Angestellte räumt § 28 Abs. 1 SprAuG Arbeitgeber und 15 Sprecherausschuss der leitenden Angestellten die Möglichkeit ein, Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung aufzustellen. ___________ 11) 12) 13) 14)
BAG, Urt. v. 19.5.2005 – 3 AZR 660/03, AP BetrAVG § 1 Betriebliche Übung Nr. 8. BAG, Urt. v. 15.5.2012 – 3 AZR 610/11, ZIP 2012, 1983 = NZA 2012, 1279. Däubler-Zwanziger, TVG, § 4 Rz. 1051 f. m. w. N. BAG, Urt. v. 16.3.1956 – GS 1/55, DB 1956, 573.
Frommhold
441
§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
b)
Zusage durch Tarifvertrag
16 Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung können auch durch Tarifverträge begründet werden. Gemäß den allgemeinen tarifrechtlichen Grundsätzen enthalten die in Tarifverträgen enthaltenen Regelungen gegenüber tarifgebundenen Arbeitnehmern zwingende Vorgaben, d. h., abweichende Regelungen sind nichtig; allerdings kann die tarifliche Regelung hinter Versorgungszusagen des Arbeitgebers zurücktreten.15) 17 Die tarifvertraglichen Regelungen können durch individual-rechtliche Bezugnahme auch für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer übernommen werden, § 17 Abs. 3 Satz 2 BetrAVG. Derartige Bezugnahmeklauseln führen regelmäßig dann zu Unsicherheiten, wenn im Falle des Betriebsübergangs gemäß § 613a BGB ein anderer Tarifvertrag kollektivrechtlich gilt. Wird durch eine sog. „große“ dynamische Bezugnahmeklausel auf die jeweils für den Arbeitgeber geltenden Tarifverträge verwiesen, führt die Bindung an den neuen Tarifvertrag auch zu einer Geltung der neuen Versorgungstarife. In der Regel sind Bezugnahmen auf einen Tarifvertrag dahingehend auszulegen, dass ein bestimmter Tarifvertrag in der jeweils geltenden Fassung Anwendung auf das Arbeitsverhältnis finden soll („kleine“ dynamische Bezugnahmeklausel). Auch hier führt der Tarifwechsel auf kollektivrechtlicher Ebene in der Regel nicht zu einem Wechsel des in Bezug genommenen Tarifvertrages. Dies wird nur ausnahmsweise dann gelten, wenn besondere Umstände gelten und diese im Wortlaut der Klausel auch ihren Niederschlag finden. Verweist der Arbeitsvertrag hingegen nur auf einen konkret bezeichneten Tarifvertrag in einer an einem Stichtag geltenden Fassung (statische Bezugnahmeklausel) gilt der in Bezug genommene Tarifvertrag auch nach einem Tarifwechsel grundsätzlich fort. c)
Ansprüche aufgrund Gleichbehandlungsgesichtspunkten Betriebliche Altersversorgung und Gleichbehandlung: BAG, Urt. v. 28.6.2011 – 3 AZR 448/09, AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 64
18 Im Bereich des Betriebsrentenrechts hat der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz aufgrund der Regelung des § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG kraft Gesetzes anspruchsbegründende Wirkung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet sowohl die sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage als auch die sachfremde Gruppenbildung; der Arbeitgeber hat seine Arbeitnehmer oder Gruppen seiner Arbeitnehmer, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gegebenen Regel gleichzubehandeln.16) ___________ 15) BAG, Urt. v. 25.2.1986 – 3 AZR 455/84, AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 15. 16) BAG, Urt. v. 28.6.2011 – 3 AZR 448/09, AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 64.
442
Frommhold
III. Der Anpassungsanspruch gemäß § 16 BetrAVG
Aus diesen Grundsätzen können für einzelne Arbeitnehmer Ansprüche erwach- 19 sen, wenn der Arbeitgeber Leistungen auf betriebliche Altersversorgung nach sachverhaltsbezogenen Kriterien gewährt oder personenbezogen verschiedene Personen ungleich behandelt: x
Während bei einer sachverhaltsbezogenen Ungleichbehandlung ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung erst dann anzunehmen ist, wenn sie willkürlich ist, weil sich ein vernünftiger Grund für die Differenzierung nicht finden lässt,
x
wird bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung dann von einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auszugehen sein, wenn eine Gruppe anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können.17)
Sieht ein Arbeitgeber eine stichtagsbezogene Besserstellung für Arbeitnehmer 20 vor, da die Versorgungsordnung für Neumitarbeiter nach einem Stichtag verbesserte Versorgungsleistungen zusagt, kann dies eine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund und damit einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot darstellen, welcher dazu führt, dass den länger beschäftigten, eigentlich ausgeschlossenen Arbeitnehmern ein Anspruch auf die verbesserten Versorgungsleistungen zusteht. Zulässig ist jedoch die Anknüpfung einer Zusage an eine bestimmte Dauer der Betriebszugehörigkeit. So ist auch die Bestimmung in einer vom Arbeitgeber geschaffenen Versorgungsordnung, wonach ein Anspruch auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nur besteht, wenn der Arbeitnehmer eine mindestens 15-jährige Betriebszugehörigkeit bis zur Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung zurücklegen kann, wirksam und verstößt weder gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters oder des Geschlechts.18) 21
Praxishinweis Bei der erstmaligen Erteilung wie auch der Umstellung einer bestehenden Versorgungszusage ist stets zu prüfen, ob diese zu einer – sachlich nicht gerechtfertigten – Ungleichbehandlung führt.
III.
Der Anpassungsanspruch gemäß § 16 BetrAVG Wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers: BAG, Urt. v. 11.12.2012 – 3 AZR 615/10, DB 2013, 1559 = APNews 2013, 117
Gemäß § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpas- 22 sung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen ___________ 17) BAG, Urt. 21.8.2012 – 3 AZR 81/10, BeckRS 2012, 75178 = AP BetrAVG § 1b Nr. 14. 18) BAG, Urt. v. 12.2.2013 – 3 AZR 100/11, ZIP 2013, 1090 = BeckRS 2013, 68637.
Frommhold
443
§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
und hierüber nach billigem Ermessen, unter Berücksichtigung insbesondere der Belange des Versorgungsempfängers und der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers, zu entscheiden. 23 Damit soll (ausschließlich) den Betriebsrentnern als Versorgungsempfängern ein Ausgleich für die inflationsbedingte Abwertung ihrer Betriebsrenten zugestanden werden, wenn die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers dies zulässt. § 16 Abs. 1 BetrAVG räumt dem Arbeitgeber bei der zu treffenden Anpassungsentscheidung ein Beurteilungs- und Ermessenspielraum zu; hierbei stehen die berechtigten Belangen der Versorgungsempfänger einerseits und die wirtschaftliche Lage des Unternehmens andererseits grundsätzlich gleichrangig nebeneinander.19) Die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers rechtfertigt die Ablehnung einer Betriebsrentenanpassung insoweit, als der Arbeitgeber annehmen darf, dass es ihm mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird, den Teuerungsausgleich aus den Unternehmenserträgen und den verfügbaren Wertzuwächsen des Unternehmensvermögens in der Zeit bis zum nächsten Anpassungsstichtag aufzubringen.20) Beurteilungsmaßstab ist die voraussichtliche Entwicklung der Eigenkapitalverzinsung und der Eigenkapitalausstattung des Unternehmens; ist das Eigenkapital ausgezehrt, muss verlorene Vermögenssubstanz wieder aufgebaut werden. Bis dahin besteht keine Verpflichtung zur Anpassung von Versorgungsleistungen.21) Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er zur Anpassung nicht in der Lage ist, trägt der Arbeitgeber. 24 Der Anpassungsanspruch verdient bereits aufgrund der besonderen wirtschaftlichen Tragweite besondere Beachtung; ist die Anpassung zu Unrecht unterblieben oder zu niedrig ausgefallen, so muss der Arbeitgeber die Anpassung auch mit Wirkung für die Vergangenheit nachholen. 25
Praxishinweis Der Anpassungsanspruch sollte vom Arbeitgeber beachtet und proaktiv behandelt werden; im Zweifel ist eine Anpassung oder die Gründe für das Unterlassen derselben sorgfältig zu prüfen und die Gründe für die Entscheidung ausführlich, ggf. unter Hinzuziehung von Gutachten o. ä., zu dokumentieren.
IV.
Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung
26 Für die betriebliche Altersversorgung stehen fünf verschiedene Durchführungswege zur Verfügung:
___________ 19) Blomeyer/Rolfs/Otto-Rolfs, BetrAVG, § 16 Rz. 158. 20) BAG, Urt. v. 11.12.2012 – 3 AZR 615/10, DB 2013, 1559 = APNews 2013, 117. 21) BAG, Urt. v. 11.12.2012 – 3 AZR 615/10, DB 2013, 1559 = APNews 2013, 117.
444
Frommhold
IV. Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung
1.
Die Versorgungszusage
a)
Klassische Versorgungszusage
Die Versorgungszusage (Direktzusage) ist der in Deutschland am häufigsten 27 anzutreffende Durchführungsweg betrieblicher Altersversorgung.22) Bei der Versorgungszusage verspricht der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer, diesen in Fällen des Alters, der Invalidität oder des Todes zu versorgen. Der Arbeitnehmer erwirbt damit einen vertraglichen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber. Der Arbeitgeber schuldet die Erfüllung aus dem Betriebsvermögen oder – soweit es sich um einen Einzelkaufmann oder persönlich haftenden Gesellschafter handelt – auch mit seinem Privatvermögen.23) b)
Treuhandmodelle
Kein eigenständiger Durchführungsweg, sondern lediglich eine Sonderform der 28 Direktzusage ist die Einschaltung eines Treuhänders i. R. von Treuhandvereinbarungen („Contractual Trust Arrangement“ – CTA). Auch das CTA beruht auf einer Direktzusage des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber beauftragt i. R. eines Treuhandvertrages einen externen Treuhänder mit der fremdnützigen Verwaltung der ihm übertragenen Vermögenswerte, wobei regelmäßig eine Vermögensanlage über eine Kapitalanlagegesellschaft oder ein Kreditinstitut i. R. eines vom Treuhänder abgeschlossenen Vermögensverwaltungsvertrags erfolgt.24) Ergänzend zu dem Verwaltungsvertrag wird zwischen dem Versorgungsträger und dem Treuhänder im Wege eines echten Vertrags zugunsten Dritter eine Sicherungsvereinbarung getroffen DoppeltreuhandModell, wonach bei Eintritt des Sicherungsfalls die versorgungsberechtigten Arbeitnehmer einen unmittelbaren Anspruch gegen den Treuhänder auf Befriedigung ihrer Versorgungsansprüche aus den übertragenen Vermögenswerten erhalten sollen.25) Denkbar ist auch die Verpfändung des Rückübertragungsanspruchs des Unternehmens gegen den Treuhänder an den versorgungsberechtigten Arbeitnehmer (Verpfändungsmodell). Durch dieses Modell wird die eigentliche Versorgungszusage nicht tangiert; der 29 Arbeitgeber bleibt Schuldner des Arbeitnehmers. Dieser erhält lediglich einen zusätzlichen Schuldner in Person des Treuhänders. Aus diesem Grund bedarf die Begründung eines CTA weder der Zustimmung des Arbeitnehmers noch unterliegt sie der Mitbestimmung gemäß § 87 BetrVG. Da zudem eine Bilanzverkürzung durch die Verrechnungsmöglichkeit der Versorgungsverpflichtungen (Pensionsrückstellungen) mit den zur Abdeckung der Versorgungsverpflichtun___________ 22) 23) 24) 25)
Clemens in: BeckOK ArbR, § 1 BetrAVG Rz. 33; Gottwald-Bertram, Hdb. InsR, § 109 Rz. 15. Schrader/Straube, Insolvenzarbeitsrecht, Kap. X Rz. 19. Moll-Rengier, Münch-AHB ArbR, § 36 Rz. 71. Moll-Rengier, Münch-AHB ArbR, § 36 Rz. 71.
Frommhold
445
§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
gen übertragenen Vermögenswerten („plan assets“) gemäß § 246 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 HGB i. d. F. des BilMoG erreicht wird,26) erfreut sich das CTAModell wachsender Beliebtheit. 2.
Direktversicherung
30 Beim Versorgungsmodell der Direktversicherung schließt der Arbeitgeber einen Versicherungsvertrag auf das Leben des Arbeitnehmers mit einem Versicherungsunternehmen ab. Der Arbeitnehmer ist nicht Vertragspartei des Versicherungsvertrages; er ist lediglich Begünstigter, indem ihm eine Bezugsberechtigung eingeräumt wird. Der Versorgungsempfänger erhält ab Eintritt des Versorgungs- und Versicherungsfalles einen unmittelbaren Leistungsanspruch gegen den Lebensversicherer gemäß § 335 BGB. 31 Dieses Bezugsrecht auf die Leistungen aus dem Versicherungsvertrag kann widerruflich oder unwiderruflich eingeräumt werden (siehe hierzu unten Rz. 96 ff.). Ohne ausdrückliche Regelung ist hierbei stets von einem widerruflichen Bezugsrecht auszugehen, § 166 Abs. 1 VVG. Bei einem widerruflichen Bezugsrecht ist der Arbeitgeber als Versicherungsvertragspartei berechtigt, einseitig die Person des Bezugsberechtigten zu bestimmen und zu ändern, die Rechte aus dem Versicherungsvertrag abzutreten, zu beleihen oder zu verpfänden. Eine Kombination aus widerruflichem und unwiderruflichem Bezugsrecht stellt das sog. eingeschränkt unwiderrufliche Bezugsrecht dar, bei dem der Arbeitgeber dem Begünstigten zwar grundsätzlich eine gesicherte Rechtsposition einräumt, sich aber den Widerruf des Bezugsrechts unter bestimmten Umständen vor. 32
Praxishinweis Vom Arbeitgeber in der Krisensituation wie vom späteren Insolvenzverwalter zu prüfen ist in Fällen der Abtretung bzw. Verpfändung auch stets die Frage der insolvenzrechtlichen Anfechtbarkeit. Anfechtbar ist jedenfalls die Übertragung einer Direktversicherung an den Arbeitnehmer im letzten Monat vor Insolvenzantragstellung, wenn der der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt noch keine unverfallbare Anwartschaft erworben hatte.
33 Keine Direktversicherung liegt in den Fällen vor, in denen der Arbeitnehmer selbst Versicherungsnehmer ist und der Arbeitgeber lediglich zur Prämienzahlung verpflichtet ist. 3.
Pensionskasse
34 Beim Durchführungsweg über eine Pensionskasse werden die Verpflichtungen auf Gewährung einer betrieblichen Altersvorsorge auf eine der Versicherungsaufsicht unterliegende rechtsfähige Versorgungseinrichtung (Lebensversicherungsun___________ 26) Ausführlich hierzu: Bätzel, DB 2008, 1761; Moll-Rengier, Münch-AHB ArbR, § 36 Rz. 173.
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IV. Durchführungswege der betrieblichen Altersversorgung
ternehmen in der Rechtsform des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit oder einer Aktiengesellschaft) übertragen, die dem Arbeitnehmer oder seinen Hinterbliebenen auf ihre Leistungen einen eigenen Rechtsanspruch gewähren, § 1b Abs. 3 Satz 1 BetrAVG. Träger der Pensionskasse ist der Arbeitgeber, der die Leistungen alleine oder 35 mit Beteiligung der Arbeitnehmer finanziert. Der Arbeitnehmer ist Versicherungsnehmer der Pensionskasse; ihm steht das Bezugsrecht auf die Versicherungsleitungen unmittelbar zu. Damit besteht auch bei der Pensionskasse ein Dreiecksverhältnis zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und der Pensionskasse. Bleibt der Anspruch gegen die Pensionskasse hinter dem zurück, was der Arbeitgeber schuldet, verbleibt in dieser Höhe der Anspruch gegen den Arbeitgeber. Im Gegensatz zur Direktversicherung können die Ansprüche der Arbeitnehmer nicht beliehen oder abgetreten werden. 4.
Pensionsfonds
Bei der Durchführung über einen Pensionsfonds werden die Verpflichtungen 36 auf eine der Finanzdienstleistungsaufsicht durch die Bundesanstalt für die Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unterliegende rechtsfähige Versorgungseinrichtung in Form der AG oder eines Pensionsfonds aG übertragen, die dem Arbeitnehmer oder seinen Hinterbliebenen auf ihre Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge einen Rechtsanspruch gewährt, § 1b Abs. 3 Satz 1 BetrAVG. Im Unterschied zu den Durchführungswegen über eine Direktversicherung oder die Pensionskasse, darf der Pensionsfonds nicht für alle Leistungsfälle eine Beitrags-Leistungsgarantie geben. Für den Versorgungsfall dürfen lediglich lebenslange Rentenzahlungen oder Auszahlungspläne mit Restverrentung zugesagt werden; die Abwicklung über eine Einmalkapitalzahlung oder die Verpflichtung zur Zahlung lediglich befristeter Renten ist unzulässig, § 112 Abs. 1 Nr. 4 VAG. 5.
Unterstützungskasse
Unterstützungskassen sind nach der Legaldefinition des § 1b Abs. 4 BetrAVG 37 rechtsfähige Versorgungseinrichtungen, die eine betriebliche Altersversorgung durchführen, auf deren Leistungen der Arbeitnehmer keinen Anspruch hat. Eine Unterstützungskasse ist eine juristische Person, deren satzungsmäßiger 38 Zweck es ist, Versorgungsleistungen ausschließlich auf freiwilliger Basis und ohne Rechtsanspruch zu erbringen. Häufig nutzen Unterstützungskassen als Finanzierungsinstrument eine Rückdeckungsversicherung, bei der der Verpflichtungsumfang insgesamt (kongruente Rückdeckungsversicherung) oder teilweise (inkongruente Rückdeckungsversicherung) abgedeckt wird. Sind die Versorgungsleistungen nicht vollständig abgedeckt, verbleibt es bei der subsidiären Ausfallhaftung des Arbeitgebers.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
V.
Die Mitbestimmungsrechte nach dem BetrVG
39 Hinsichtlich der Entscheidung, ob der Arbeitgeber eine betriebliche Altersversorgung zusagen will, sowie des Dotierungsrahmens, der Festlegung des begünstigten Personenkreises und dem Durchführungsweg ist der Arbeitgeber grundsätzlich frei.27) Trifft der Arbeitgeber diese Entscheidungen frei, bedarf auch der Wechsel des Durchführungsweges nicht der Beteiligung des Betriebsrates. Schließen die Betriebsparteien über diese Regelungsinhalte gleichwohl Betriebsvereinbarungen ab, handelt es sich um freiwillige Betriebsvereinbarungen, § 88 BetrVG. 40 Erzwingbar ist hingegen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates hinsichtlich der Ausgestaltung des Leistungsplans sowie der Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen, § 87 Abs. 1 Nr. 8, 10 BetrVG. Pensionskassen, Unterstützungskassen und Pensionsfonds sind klassische Sozialeinrichtungen i. S. des § 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG, so dass dem Betriebsrat bei der Form, Ausgestaltung und Verwaltung ein Mitbestimmungsrecht zusteht. 41 Der Betriebsrat entscheidet daher darüber mit, ob die Sozialeinrichtung als rechtlich unselbständiger Bestandteil des Betriebs, als nicht rechtsfähiger Verein, BGB-Gesellschaft oder als juristische Person organisiert werden soll. Die Ausgestaltung betrifft das Aufstellen einer Satzung, Geschäftsordnung sowie die Wahl der Verwaltungsgremien entsprechend der Satzung. Das wichtigste Mitbestimmungsrecht steht dem Betriebsrat bei der Aufstellung des Leistungsplans zu. Im Leistungsplan erfolgen die Festlegungen, unter welchen Voraussetzungen ein Leistungsanspruch entstehen soll und wie die Verteilung des vom Arbeitgeber (mitbestimmungsfrei) festgelegten Budgets erfolgt. 42 Weitgehend der Mitbestimmung entzogen ist der Bereich der arbeitnehmerfinanzierten betrieblichen Altersversorgung, da das Verfahren gemäß §§ 1 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4, 1a BetrAVG zwingende Vorgaben enthält. 43
Praxishinweis Bei der Einführung von Systemen der betrieblichen Altersversorgung ist stets sorgfältig zu prüfen, ob diese der Mitbestimmung unterliegen: Bestehen keine erzwingbaren Mitbestimmungsrechte und wird dennoch eine Betriebsvereinbarung geschlossen, ist diese nur nach den allgemeinen Regeln (und damit grds. nicht einseitig!) änderbar; werden hingegen bestehende Mitbestimmungsrechte nicht beachtet, sind die getroffenen Regelungen unwirksam und nichtig.
___________ 27) BAG, Urt. v. 12.6.1975 – 3 ABR 13/74, DB 1975, 1559; Schnitker/Sittard, NZA 2011, 331.
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VI. Sanierungsmöglichkeiten in der Krise
VI.
Sanierungsmöglichkeiten in der Krise
1.
Einseitige Änderung von Zusagen der betrieblichen Altersversorgung
a)
Widerruf Widerruf wegen wirtschaftlicher Notlage: BAG, Urt. v. 17.6.2003 – 3 AZR 396/02, AP BetrAVG § 7 Widerruf Nr. 24 Störung der Geschäftsgrundlage: BAG, Urt. v. 28.7.1998 – 3 AZR 100/98, NZA 1999, 444
Während nach der Rechtslage bis zum 1.1.1999 der Widerruf einer Betriebsren- 44 tenzusage wegen wirtschaftlicher Notlage in § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG a. F. gesetzlich geregelt war und bei Zustimmung durch das ArbG oder mit Zustimmung des PSVaG möglich war, hat der Gesetzgeber durch Art. 91 EGInsO diese Möglichkeit aus dem Gesetz ersatzlos gestrichen. Die Rechtsprechung28) hat dem Widerruf von Zusagen der betrieblichen Altersversorgung wegen wirtschaftlicher Notlage seither nicht mehr zugelassen. Selbst wenn die zugrunde liegende Versorgungsordnung einen Widerrufsvorbehalt durch den Arbeitgeber bei Eintreten einer wirtschaftlichen Notlage zulassen sollte, begründet ein solcher Vorbehalt kein eigenständiges Recht zum Widerruf.29) Hat der Arbeitgeber die Zusage unter einen Widerrufsvorbehalt gestellt, ist im Einzelfall die Wirksamkeit einer solchen Klausel zu überprüfen. Die Rechtsprechung hat für Arbeitsverträge unter der Geltung der nach der Schuldrechtsreform abgeschlossenen Verträge die Wirksamkeit davon abhängig gemacht, dass die Gründe für einen möglichen Widerruf in der entsprechenden Klausel angegeben sein müssen und es sich um einen widerruflichen Anteil von nicht mehr als 25 % bis 30 % der Gesamtvergütung handelt.30) Eine Befugnis zur Anpassung eines Versorgungswerks wegen Störung der Ge- 45 schäftsgrundlage, § 313 BGB, kann sich nach der Rspr. dann ergeben, wenn sich die zugrunde gelegte Rechtslage nach Schaffung des Versorgungswerks wesentlich und unerwartet geändert und dies beim Arbeitgeber zu erheblichen Mehrbelastungen geführt hat. Daneben oder im Zusammenhang damit kann es auch dadurch zu einer Störung der Geschäftsgrundlage kommen, dass aufgrund von Gesetzesänderungen der für den Arbeitnehmer bei Erteilung der Versorgungszusage erkennbar verfolgte Versorgungszweck nunmehr verfehlt wird (Zweckverfehlung), weil die unveränderte Anwendung der Versorgungszusage zu einer gegenüber dem ursprünglichen Versorgungsziel planwidrig eintretenden Überversorgung führen würde. Eine solche planwidrige Überversorgung ___________ 28) BAG, Urt. v. 17.6.2003 – 3 AZR 396/02, AP BetrAVG § 7 Widerruf Nr. 24; seit BVerfG, Beschl. v. 29.2.2012 – 1 BvR 2378/10, NZA 2012, 788 auch nicht mehr für Fälle vor Inkrafttreten des BetrAVG 1974. 29) BAG, Urt. v. 8.7.1982 – 3 AZR 481/71, DB 1972, 2069. 30) BAG, Urt. v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, ZIP 2005, 633; Schöne in: Kübler, HRI, § 55 Rz. 4.
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liegt vor, wenn das ursprünglich angestrebte Ziel der Versorgungsregelung so erheblich überschritten wird, das ein Festhalten an dieser Regelung nicht zugemutet werden kann.31) 46 Die Störung der Geschäftsgrundlage wegen planwidriger Überversorgung löst ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Arbeitgebers aus, das dieser nach billigem Ermessen auszuüben hat.32) Durch das Anpassungsrecht darf in die geltende Vereinbarung nicht stärker eingegriffen werden, als es durch die Grundlagen der ursprünglichen Vereinbarung geboten ist. 47
Praxishinweis Da der Abbau einer Überversorgung weder ein Fall der wirtschaftlichen Notlage noch ein Fall der Äquivalenzstörung, sondern ein Fall der Zweckverfehlung ist,33) kann der Anspruch auf Anpassung auch unabhängig von einer wirtschaftlichen Notlage des Arbeitgebers bestehen und sollte entsprechend geprüft werden. Dass unter äußerst restriktiven Voraussetzungen ausnahmsweise ein Widerruf wegen schwerer Treuepflichtverletzung in Betracht kommen kann, soll, da dies unter Restrukturierungsgesichtspunkten keine Rolle spielt, lediglich erwähnt werden. Die Voraussetzungen hierfür sind jedoch nicht nur ein individuelles (Fehl-)Verhalten, welches ggf. zu einer auch außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses berechtigen würde; vielmehr muss der Betriebsrentner oder der Anwartschaftsberechtigte seine Pflichten in grober Weise verletzt und seinem Arbeitgeber einen so schweren Schaden zugefügt hat, dass sich die in der Vergangenheit bewiesene Betriebstreue nachträglich als wertlos oder zumindest erheblich entwertet herausstellt.34)
b)
Kündigung von Betriebsvereinbarungen Wirkung der Kündigung einer Betriebsvereinbarung BAG, Beschl. v. 17.8.1999 – 3 ABR 55/98, ZIP 2000, 850 = NZA 2000, 498 Erfordernis sachlich-proportionaler Gründe: BAG, Urt. v. 18.9.2001 – 3 AZR 728/00, BAGE 99, 75, 89 = ZIP 2002, 907
48 Betriebsvereinbarungen können nach § 77 Abs. 5 BetrVG gekündigt werden. Der Kündigung müssen keine Verhandlungen über den Abschluss einer abändernden Betriebsvereinbarung vorausgehen. Die Rechtsfolgen der Kündigung richten sich nach der Erklärung bzw. der Beschränkung derselben durch den Arbeitgeber. Eine Beschränkung kommt insbesondere in Betracht in Form der x
Schließung für Neueintritte,
x
Beschränkung von dienstzeitabhängigen Anwartschaftssteigerungen,
___________ 31) 32) 33) 34)
450
Steinmeyer in: ErfK, Vorbem. BetrAVG Rz. 32. BAG, Urt. v. 28.7.1998 – 3 AZR 100/98, NZA 1999, 444. BAG, Urt. v. 28.7.1998 – 3 AZR 100/98, NZA 1999, 444. BAG v. 8.5.1990 – 3 AZR 152/88, AP zu § 1 BetrAVG Treubruch Nr. 10 = ZIP 1990, 1612; BGH, Urt. v. 11.3.2002 – II ZR 5/00, DB 2002, 1207.
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VI. Sanierungsmöglichkeiten in der Krise
x
Einfrieren/Einschränkung einer in der Versorgungsordnung vorgesehenen Dynamik,
x
Beseitigung bereits erworbener Besitzstände.
Unterbleibt eine Einschränkung bei der Kündigungserklärung, ist vom Willen 49 des Arbeitgebers auszugehen, sämtliche, auf der Betriebsvereinbarung beruhenden Versorgungsleistungen zu beseitigen.35) Die Kündigung bewirkt die unmittelbare Beendigung der Geltung der in der 50 gekündigten Betriebsvereinbarung enthaltenen Regelungen; eine Nachwirkung kommt nicht in Betracht, weil die Regelungen nicht durch den Spruch einer Einigungsstelle ersetzt werden können, § 77 Abs. 6 BetrAVG. Aus der Tatsache, dass die Betriebsvereinbarung grundlos gekündigt werden 51 kann, lässt sich jedoch nicht schließen, dass der Arbeitgeber berechtigt wäre, ohne weiteres sämtliche begünstigenden Regelungen zu beseitigen. Dem Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer und dem Vertrauen auf die Geltung der begünstigenden Normen ist vielmehr durch eine Begrenzung der Kündigungswirkung Rechnung zu tragen. Die Schließung eines bestehenden Versorgungswerkes für neu eingestellte 52 Arbeitnehmer ist auch ohne sachlichen Grund statthaft. Die neu eintretenden Mitarbeiter haben weder einen Anspruch aus einer gekündigten Betriebsvereinbarung noch unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten oder einer vor Eintritt begründeten betrieblichen Übung.36) Die Kündigung einer Betriebsvereinbarung mit einer bereits erteilten Versor- 53 gungszusage ist aufgrund des Vertrauensschutzes der Arbeitnehmer, die bei Eintritt in das Unternehmen eine bestehende Versorgungsregelung vorgefunden haben, nur sehr eingeschränkt möglich. In Abhängigkeit der Intention des Arbeitgebers und der sich daraus ergebenden Eingriffstiefe ist anhand der von der Rechtsprechung entwickelten Drei-Stufen-Theorie zu ermitteln. Eine Entziehung bereits erdienter Anwartschaften stellt einen Eingriff auf der 54 1. Stufe dar. Dieser ist nur aus zwingenden Gründen zulässig. Als solche anerkannt sind x
Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB,
x
grobe Treuepflichtverletzung, § 242 BGB,
x
planwidrige Überversorgungstatbestände,
x
insolvenzgleiche wirtschaftliche Notlagen des Arbeitgebers.
___________ 35) BAG, Beschl. v. 17.8.1999 – 3 ABR 55/98, ZIP 2000, 850 = NZA 2000, 498. 36) Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt-Schnittker, Umstrukturierung und Übertragung, Kap. J. Rz. 725.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
55 Bei Vorliegen triftiger Gründe sollen auch Eingriffe auf der 2. Stufe in eine zeitanteilig erdiente Dynamik möglich sein. Bei einem solchen Eingriff wird entgegen der ursprünglichen Versorgungszusage der variable Faktor „Endgehalt“ auf dem Stand des Zeitpunkts des Eingriffs eingefroren oder auf einen bestimmten Betrag gekappt.37) Auch Zuwächse, die sich aus dienstzeitunabhängigen variablen Berechnungsfaktoren ergeben, sollen als „erdiente Dynamik“ auf zweiter Stufe geschützt sein, etwa, wenn der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung entgegen der ursprünglichen Versorgungsordnung Leistungen nicht mehr nach dem tatsächlichen Rentenanspruch bei Eintritt des Versorgungsfalls, sondern nach der individuellen Rentenauskunft von 2004, (fiktiv) hochgerechnet bis zum 65. Lebensjahr, zusagt.38) 56 Triftige Gründe für einen solchen Eingriff können z. B. wirtschaftlicher Natur sein, etwa wenn eine langfristige Substanzgefährdung oder Substanzauszehrung des Arbeitgebers droht oder eine angemessene Eigenkapitalverzinsung nicht mehr aus Erträgen und Wertzuwächsen erwirtschaftet werden kann.39) Als Gründe nicht betriebswirtschaftlicher Natur können Änderungen des Leistungskataloges oder der Verteilungsgrundsätze herangezogen werden. 57 Bei allen Eingriffen auf der 2. Stufe soll jedenfalls stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen werden, in der die gegenseitigen Belange – Bedürfnis nach Anpassung auf Seiten des Arbeitgebers gegenüber dem Vertrauensschutz des Arbeitnehmers – abgewogen werden müssen. 58 Denkbar sind schließlich Eingriffe auf der 3. Stufe in künftige und noch nicht erdiente, dienstzeitabhängige Zuwächse, sog. Eingriffe auf der 3. Besitzstandsstufe. Die Rechtsprechung verlangt hierfür als Rechtfertigung lediglich willkürfreie, nachvollziehbare und aus der Situation anzuerkennende Gründe, wie z. B. das Vorliegen einer wirtschaftlichen Notlage, die zwar im Einzelnen dargelegt werden, jedoch nicht den Status eines Sanierungsplans erreicht haben müssen.40) 59
Praxishinweis Beruhen die Eingriffe auf allen drei Stufen auf einer wirtschaftlich schwierigen Situation des Unternehmens, bedarf es in jedem Fall eines geeigneten Nachweises. Der Nachweis kann erbracht werden z. B. durch Prüfberichte eines Wirtschaftsprüfers, Steuerberaters oder anderer sachverständiger Dritter.
60 Ist die Kündigung der Betriebsvereinbarung wirksam, erwerben nach Kündigung in das Unternehmen eintretende Mitarbeiter keinen Anspruch mehr aus der gekündigten Betriebsvereinbarung. Die Betriebsvereinbarung bleibt jedoch in dem ___________ 37) Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt-Schnittker, Umstrukturierung und Übertragung, Kap. J. Rz. 733. 38) BAG, Urt. v. 15.1.2013 – 3 AZR 705/10, NZA-RR 2013, 376 = BeckRS 2013, 68639. 39) BAG, Urt. v. 15.1.2013 – 3 AZR 705/10, NZA-RR 2013, 376 = BeckRS 2013, 68639; BAG, Urt. v. 17.4.1996 – 3 AZR 56/95, ZIP 1996, 2085 = NZA 1997, 155. 40) BAG, Urt. v. 18.9.2001 – 3 AZR 728/00, BAGE 99, 75, 89 = ZIP 2002, 907.
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Umfang in Kraft, der durch die Beschränkung der Kündigung aufrechterhalten bleiben sollte. Von der Kündigung betroffene Eingriffe in Besitzstände werden wiederum anhand der Drei-Stufen-Theorie überprüft und – vorbehaltlich der Wirksamkeit -angepasst. c)
Änderungskündigung
Von eher theoretischer Bedeutung dürfte die Möglichkeit sein, durch gegen- 61 über den einzelnen Arbeitnehmern auszusprechende Änderungskündigungen einseitig Änderungen der Individualzusagen zu erreichen. Zwar wäre unter den restriktiven Vorgaben der Rechtsprechung zu Änderungskündigungen bei Verzicht auf Lohn- und Gehaltsbestandteile (akute Gefahr für die Arbeitsplätze oder eine Existenzbedrohung des Unternehmens)41) eine Aufhebung oder Herabsetzung der Versorgungszusage grundsätzlich möglich. Allerdings dürfte die praktische Umsetzbarkeit aufgrund des Erfordernisses, eine solche Änderungskündigung gegenüber allen versorgungsberechtigten Arbeitnehmern, mithin auch denjenigen, die ordentlich nicht kündbar sind, auszusprechen, und des daraus resultierenden Prozessrisiko in der Praxis nicht durchsetzbar sein. d)
„Gegenläufige“ betriebliche Übung Betriebliche Übung bei Gratifikationszuzahlungen: BAG, Urt. v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, ZIP 2009, 1178 = NZA 2009, 601
Nach der Rechtslage vor Inkrafttreten der Schuldrechtsrechtsreform entsprach 62 es der h. M. in der Literatur und Rechtsprechung, dass Ansprüche, die auf einer betrieblichen Übung beruhen durch eine sog. „negative“ oder „gegenläufige“ betriebliche Übung beseitigt werden konnten. Mit Einführung des § 308 Nr. 5 BGB, welcher das Verbot fingierter Erklärungen normiert, hat das BAG auch seine frühere Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer negativen betrieblichen Übung aufgegeben.42) Ein einmal entstandener Rechtsanspruch auf Grund betrieblicher Übung kann deshalb nur noch durch Änderungsvereinbarung oder Änderungskündigung beseitigt werden.43) Für Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung ist die gegenläufige betriebliche Übung ohnehin ausdrücklich ausgeschlossen worden.44)
___________ 41) BAG, Urt. v. 20.3.1986 – 2 AZR 294/85, NZA 1986, 824; BAG, Urt. v. 11.10.1989 – 2 AZR 61/89, ZIP 1990, 944 = NZA 1990, 607. 42) BAG, Urt. v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, ZIP 2009, 1178 = NZA 2009, 601. 43) Schulze/Wimmi, ArbRAktuell 2013, 145. 44) BAG, Urt. v. 16.2.2010 – 3 AZR 118/08, NZA 2011, 104.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
2.
Einvernehmliche Anpassung
a)
Änderungsvertrag
63 Auch im Bereich der betrieblichen Altersversorgung existiert der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Hat der Arbeitgeber sich einzelvertraglich oder i. R. einer Gesamtzusage zur Gewährung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung verpflichtet, kann diese Verpflichtung ganz oder teilweise im Wege einer individuellen Änderungsvereinbarung beseitigt werden. Insbesondere bei der Gesamtzusage ist jedoch mit jedem einzelnen Arbeitnehmer eine abändernde Vereinbarung zu treffen, was praktisch kaum durchsetzbar sein dürfte. 64 Eine Einschränkung erfährt der Grundsatz der Vertragsfreiheit in zwei Konstellationen: x
Zum einen kommt eine verschlechternde Abänderung oder gar ein Verzicht des Arbeitnehmers durch Individualvertrag auf eine durch Tarifvertrag zugesagte Versorgung wegen § 4 Abs. 3 TVG nicht in Betracht;
x
zum anderen kann sich eine Einschränkung u. U. aus § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ergeben, wenn die Änderung nicht durch besondere sachliche Gründe gerechtfertigt ist.45)
b)
Abschluss einer ablösenden Betriebsvereinbarung Verschlechterung vertraglicher Einheitsregelungen durch Betriebsvereinbarung: BAG, Urt. v. 16.9.1986 – GS 1/82, ZIP 1987, 251 = DB 1987, 383 Eingriff in die erdiente Dynamik: BAG, Urt. v. 15.1.2013 – 3 AZR 705/10, NZA-RR 2013, 376 = BeckRS 2013, 68639
65 Versorgungszusagen können auch durch den Abschluss einer Betriebsvereinbarung inhaltlich geändert werden. Zu unterscheiden ist jedoch, ob die Versorgungszusage selbst bisher auf einer Betriebsvereinbarung oder auf einer Gesamtzusage oder betrieblichen Einheitsregelung beruht. 66 Die auf einer Gesamtzusage oder einer betrieblichen Einheitsregelung beruhende Versorgungszusage kann durch eine ablösende Betriebsvereinbarung abgelöst werden. Durch nachfolgende Betriebsvereinbarungen können Leistungen grundsätzlich auch verschlechtert werden. Im Verhältnis mehrerer Betriebsvereinbarungen untereinander ist dies unproblematisch; hier gilt das Ordnungsprinzip, d. h., jüngere Vereinbarungen lösen ältere ab. Aber auch eine auf einer Individualzusage beruhende Versorgungszusage kann durch eine Betriebsvereinbarung abgelöst werden, wenn sich der abzulösenden Regelung dieses Rege___________ 45) So noch BAG, Urt. v. 18.8.1976 – 5 AZR 95/75, AP BGB § 613a Nr. 4; BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, AP BGB § 613a Nr. 18; offengelassen von BAG, Urt. v. 7.11.2007 – 5 AZR 1007/06, NZA 2008, 530.
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VI. Sanierungsmöglichkeiten in der Krise
lungsziel ausdrücklich oder zumindest durch Auslegung entnehmen lässt, die Neuregelung bei kollektiver Betrachtung nicht ungünstiger ist oder die Geschäftsgrundlage gestört ist.46) Nach den vom BAG in der Grundsatzentscheidung vom 16.9.198647) aufge- 67 stellten Grundsätzen gilt daher Folgendes: Die auf betrieblicher Übung oder einer individualrechtlichen Einheitsregelung 68 beruhende Versorgungszusage kann durch eine ablösende, d. h. auch insgesamt verschlechternde Betriebsvereinbarung abgelöst werden, wenn sie betriebsvereinbarungsoffen ist. Dies ist der Fall, wenn ein ausdrücklicher oder stillschweigender Vorbehalt einer nachträglichen Veränderung durch eine Betriebsvereinbarung enthalten ist.48) Aufgrund des kollektiven Charakters der auf betrieblicher Übung oder dem Gleichbehandlungsgrundsatz beruhenden Versorgungsregelungen richtet sich auch deren Ablösbarkeit nach den für eine Gesamtzusage geltenden Regeln. Es gilt das Günstigkeitsprinzip, wonach eine verschlechternde Regelung durch Betriebsvereinbarung nur getroffen werden kann, wenn die betriebliche Übung ihre Geschäftsgrundlage verloren hat, sich die neue Regelung bei kollektiver Gesamtbetrachtung nicht ungünstiger darstellt als die bisherige Regelung und in der einzelvertraglichen Grundlage selbst für den einzelnen Arbeitnehmer erkennbar die Möglichkeit zur kollektivrechtlichen Veränderung eröffnet war.49) Schwierig gestaltet sich unter Sanierungsgesichtspunkten insbesondere der kol- 69 lektive Günstigkeitsvergleich, nach dem die neue Betriebsvereinbarung dann wirksam ist, wenn der Dotierungsrahmen insgesamt gewahrt bleibt.50) Daraus folgt im Ergebnis, dass zwar in die Verteilungsgrundsätze eingegriffen werden kann, aber die wirtschaftlichen Folgen insgesamt durch eine umstrukturierende Betriebsvereinbarung nicht verringert werden können. Enthält die ursprüngliche Regelung oder Gesamtzusage also keinen Änderungsvorbehalt und liegt kein Fall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage vor, ist aufgrund des kollektiven Günstigkeitsvergleichs nur eine umstrukturierende, nicht jedoch eine die bisherige Regelung verschlechternde Betriebsvereinbarung wirksam.51) Zwar wird vereinzelt vertreten, dass in der Insolvenz der Günstigkeitsvergleich 70 nur eingeschränkt anwendbar sein soll und insbesondere vor dem Hintergrund der Fortführung des Geschäftsbetriebes und dem insolvenzrechtlichen Prinzip der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung auch eine kollektiv ungünstigere Be___________ 46) Förster/Cisch/Karst-Rihn, BetrAVG, § 1 Rz. 287. 47) BAG, Urt. v. 16.9.1986 – GS 1/82, ZIP 1987, 251 = DB 1987, 383. 48) Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt-Schnitker, Umstrukturierung und Übertragung, Kap. J. Rz. 684. 49) BAG, Urt. v. 18.3.2003 – 3 AZR 101/02, DB 2004, 327. 50) BAG, Urt. v. 23.10.2001 – 3 AZR 74/01, AP Nr. 33 Ablösung BetrAVG § 1. 51) Willemsen/Hohenstatt/Schnitker/Schweibert/Seibt-Schnitker, Umstrukturierung und Übertragung, Kap. J. Rz. 687.
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triebsvereinbarung wirksam abgeschlossen werden soll.52) Für eine derartige Auslegung und Einschränkung des Grundsatzes, dass die Insolvenzeröffnung keinen Einfluss auf die Fortgeltung des allgemeinen Arbeitsrechts hat, dürfte jedoch kein Raum sein. Eine Verschlechterung der durch Gesamtzusage begründeten Rechte durch eine Betriebsvereinbarung kommt jedoch ausnahmsweise in Betracht, wenn der Arbeitgeber sich den Widerruf der Gesamtzusage vorbehalten hat.53) 71 Liegen die von der Rechtsprechung statuierten Voraussetzungen kumulativ vor, ist die einvernehmliche Änderung und Beendigung von Zusagen betreffend die betriebliche Altersversorgung immer noch nur in den Grenzen der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes möglich. Nach der Drei-Stufen-Theorie muss es dafür in Abhängigkeit von der Eingriffstiefe zwingende, triftige oder sachliche Gründe geben. 72 Die Verschlechterung einer Versorgungszusage ist insbesondere dann möglich, wenn der Arbeitsvertrag auf eine Versorgungsordnung „in ihrer jeweiligen Fassung“ verweist.54) Hierbei soll das von der Rechtsprechung entwickelte Dreistufenschema für den Schutz von erdienten Versorgungsanwartschaften bei nachträglicher Verschlechterung einer Versorgungszusage durch Betriebsvereinbarung nur eingeschränkt gelten, wenn Gewerkschaften ihren Angestellten diese zusagen. Eingriffe auf der dritten Stufe (künftig erdienbare Anwartschaften) sollen danach schon aus sachlichen Gründen zulässig sein, ohne dass es auf die Proportionalität des Eingriffs ankäme.55) Das BAG begründet dies mit dem durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten besonderen Schutz der Koalitionsfreiheit, der eine Einmischung der Gericht in die wirtschaftlichen Angelegenheiten von Gewerkschaften ausschließt.56) In diesen Sonderfällen sind Eingriffe auf der dritten Stufe schon beim Vorliegen sachlicher Gründe zulässig, ohne dass es auf die Verhältnismäßigkeit ankommt. 73 Beruht die Versorgungszusage auf einer Betriebsvereinbarung, kann die dort enthaltene Regelung ebenfalls durch eine neue Betriebsvereinbarung geändert werden. Im Verhältnis zweier Betriebsvereinbarungen gilt die Zeitkollisionsregel, d. h., die neuere Regelung löst die ältere ab. Da es sich um eine einvernehmliche Aufhebung der bisherigen Regelung handelt, findet grundsätzlich auch das Günstigkeitsprinzip Anwendung; auch die Verschlechterung der Versorgungszusage ist möglich.57) Die neue, ablösende Betriebsvereinbarung unterliegt allerdings einer Billigkeitskontrolle anhand der Drei-Stufen-Theorie (siehe oben Rz. 53 ff.) und zusätzlich einer konkreten Billigkeitskontrolle, durch die in je___________ 52) 53) 54) 55) 56) 57)
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Gantenberg/Hinrichs/Janko, ZInsO 2011, 1000, 1006. BAG, Urt. v. 15.2.2011 – 3 AZR 35/09, NZA-RR 2011, 541. BAG, Urt. v. 12.2.2013 – 3 AZR 636/10, FD-ArbR 2013, 348963 m. Anm. Diller. BAG, Urt. v. 12.2.2013 – 3 AZR 636/10, FD-ArbR 2013, 348963 m. Anm. Diller. BAG, Urt. v. 12.2.2013 – 3 AZR 636/10, FD-ArbR 2013, 348963 m. Anm. Diller. BAG, Urt. v. 18.3.2003 – 3 AZR 101/02, DB 2004, 327; Kort, NZA 2004, 889.
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VI. Sanierungsmöglichkeiten in der Krise
dem Fall für betroffene Arbeitnehmer unzumutbare Härten ausgeschlossen werden müssen.58) Der Versuch, eine zugesagte Gesamtversorgung von der künftigen Entwicklung 74 einer anzurechnenden gesetzlichen Rente abzukoppeln, stellt nach einer aktuellen Entscheidung des BAG59) einen Eingriff in die „erdiente Dynamik“ dar, der nur aus nachweisbarem triftigem Grund zulässig ist. Noch höher sind die Anforderungen der Rechtsprechung, wenn eine durch Be- 75 triebsvereinbarung begründete Betriebsrentenzusage auf laufende Leistungen durch eine Betriebsvereinbarung auf eine Kapitalleistung eingeführt werden soll. Eine solche Änderung braucht nach einer jüngeren Entscheidung des BAG60) aufgrund der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit einer eigenständigen Rechtfertigung. Die Verlagerung des Langlebensrisiko auf den Arbeitnehmer, der Entfall der Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 BetrAVG, die Nachteile bei der Besteuerung der Altersversorgungsleistungen und die mögliche Pfändbarkeit müssen hierbei i. R. einer Interessenabwägung gegenüber den Vorteilen in Verhältnis gesetzt werden. Streitig wird zunehmend die Frage diskutiert, ob die Betriebsparteien auch in 76 bestehende Ansprüche für bereits im Ruhestand befindliche oder ausgeschiedene Arbeitnehmer eingreifen dürfen. Das BAG hat dies in ständiger Rechtsprechung unter Hinweis auf die fehlende Zuständigkeit des Betriebsrates für Betriebsrentner und ausgeschiedene Mitarbeiter verneint.61) c)
Ablösung durch Tarifvertrag
Versorgungszusagen, die sich aus einem Tarifvertrag ergeben, können durch 77 eine abändernde Tarifregelung verändert werden. Im Grundsatz herrscht Einigkeit, dass die neue Tarifregelung auch verschlechternde Bedingungen und einen Eingriff in bereits erdiente Anwartschaften zulässt. Insbesondere gilt die DreiStufen-Theorie nicht, so dass i. R. einer Tarifablösung weitergehende Eingriffe denkbar sind als i. R. einer Ablösung von Betriebsvereinbarungen.62) Allerdings haben auch die Tarifvertragsparteien hier Gesichtspunkte wie Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit und prinzipielles Rückwirkungsverbot zu beachten. Eine Kontrolle verschlechternder Tarifverträge soll lediglich dahingehend erfolgen, ob eine Norm gegen das Grundgesetz, nicht dispositive gesetzliche Vorschriften einschließlich der § § 138, 242 BGB oder zwingende Grundsätze des Arbeitsrechts verstoßen.63) Nicht abschließend geklärt ist, ob weitere Vorausset___________ 58) 59) 60) 61) 62) 63)
BAG, Urt. v. 8.12.1981 – 3 ABR 53/80, ZIP 1982, 89. BAG, Urt. v. 15.1.2013 – 3 AZR 705/10, NZA-RR 2013, 376 = BeckRS 2013, 68639. BAG, Urt. v. 15.5.2012 – 3 AZR 11/10, ZIP 2012, 1983 = NZA-RR 2012, 433. St. Rspr., vgl. BAG, Urt. v. 28.7.1998 – 3 AZR 100/98, NZA 1999, 444. Schnitker/Grau, NZA-Beilage 2010, 68. BAG, Urt. v. 16.8.2005 – 9 AZR 378/04, AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 8.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
zungen hinzutreten müssen. Teilweise wird die Prüfung der ablösenden Tarifregelung anhand des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit gefordert.64) Jedenfalls soll ein Tarifvertrag einer Willkürkontrolle unterzogen werden65), deren praktischer Anwendungsbereich jedoch nicht eröffnet sein dürfte. 78 Im Gegensatz zur Regelungskompetenz des Betriebsrats erstreckt sich die tarifliche Regelungsmacht unstreitig66) auch auf ausgeschiedene Arbeitnehmer und die Versorgungsansprüche von Betriebsrentnern.67) Allerdings werden Tarifverträge, welche in erdiente Anwartschaften bereits ausgeschiedener Arbeitnehmer eingreifen, nach den Prinzipien des Vertrauensschutzes und des darauf beruhenden Rückwirkungsverbotes überprüft.68) d)
Außergerichtliches Vergleichsverfahren
79 Gesetzlich vorgesehenes Sanierungsinstrument ist das Vergleichsverfahren, das in § 7 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 BetrAVG der Insolvenz als Sicherungsfall ausdrücklich gleichgestellt ist. Der Arbeitgeber kann beim PSVaG einen Antrag auf – ggf. teilweise – Übernahme der Versorgungsverpflichtungen gegenüber den Versorgungsempfängern stellen. Durch das Vergleichsverfahren wollte der Gesetzgeber die Möglichkeit des Widerrufs von Versorgungszusagen wegen wirtschaftlicher Notlage gemäß § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG a. F. beseitigen. Die Rechte der versorgungsberechtigten Arbeitnehmer, insbesondere die Höhe der zugesagten Leistungen, wird dadurch nicht berührt; die Versorgungsempfänger erhalten die ihnen zugesagten Leistungen aufgrund des Vergleiches nur entweder vom Arbeitgeber oder vom PSVaG oder von beiden, je nachdem in welchem Umfang der PSVaG in die Versorgungsverpflichtungen eintritt. 80 Der Antrag an den PSVaG ist gesetzlich in § 3a Abs. 1 AIB geregelt; danach setzt der Antrag folgende Angaben voraus: x
Art der geplanten Maßnahmen, insbesondere, ob das Unternehmen liquidiert oder fortgeführt werden soll,
x
Mitteilung der geplanten wirtschaftlichen und gesellschaftsrechtlichen Änderungen,
x
Beteiligung der Inhaber des Unternehmens, der übrigen Gläubiger und der Arbeitnehmer an dem außergerichtlichen Vergleich.
81 Im Rahmen der vorinsolvenzrechtlichen Sanierung spielt insbesondere der Quotenvergleich69) eine Rolle. Der ebenfalls mögliche Stundungsvergleich, bei dem ___________ 64) 65) 66) 67) 68) 69)
BAG, Urt. v. 27.2.2007 – 3 AZR 734/05, AP BetrAVG § 1 Nr. 44 = NZA 2007, 1371. Clemens in: BeckOK ArbR, § 1 BetrAVG Rz. 73. Zum Meinungsstand bei der Änderung durch Betriebsvereinbarung s. o. Rz. 76. BAG, Urt. v. 27.2.2007 – 3 AZR 734/05, AP BetrAVG § 1 Nr. 44 = NZA 2007, 1371. BVerfG, Urt. v. 15.10.1996 – 1 BvL 48/92, BVerfGE 95, 64. Bremer, DB 2011, 875, 876.
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VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren
Leistungen nur gestundet werden, und der Liquidationsvergleich, bei dem das Unternehmen liquidiert und die Gläubiger eine vereinbarte Abfindungsquote für ihre Forderungen erhalten, sind jedenfalls unter Insolvenzvermeidungsund Sanierungsgesichtspunkten nicht zielführend. Der Quotenvergleich ist in vielen Variationen denkbar und bietet daher eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten. Häufigster Fall dürfte in der Praxis die prozentuale Aufteilung aller Versor- 82 gungsansprüche und Anwartschaften auf Arbeitgeber und PSVaG sein. Denkbar ist eine Aufteilung nach abgrenzbaren Personenkreisen, insbesondere in Anlehnung an die Verteilung bei Insolvenzeröffnung, so dass die Erfüllung der laufenden Betriebsrentenansprüche der Betriebsrentner der PSVaG, die Fortführung der Anwartschaften der Arbeitgeber übernimmt, oder nach Durchführungswegen. Stimmt der PSVaG einem solchen Vergleich zu, übernimmt er gegenüber den 83 Versorgungsempfängern anstelle des Arbeitgebers oder ausgefallenen Versorgungsträgers die Verpflichtung, Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu erbringen. Das BAG fordert darüber hinaus die Zustimmung jedes betroffenen Arbeitnehmers zum außergerichtlichen Vergleich gemäß § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 BetrAVG, weil der Vergleich aus einer Vielzahl von Einzelverträgen zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigern bestünde und der PSVaG weder eine gesetzliche Vertretungsmacht noch eine Verfügungsbefugnis für den Abschluss außergerichtlicher Vergleiche über Versorgungsrechte der Arbeitnehmer habe.70) Praktisch wird hierdurch die Sanierung erschwert und weitgehend unmöglich gemacht, da eine Zustimmung aller betroffenen Arbeitnehmer eingeholt werden müsste, zumal für einen erfolgreichen Sanierungsplan gemäß § 3 AIB eine gleichmäßige Belastung aller Gläubiger verlangt wird. VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren 1.
Die Versorgungszusage im Insolvenzantragsverfahren
Mit der Stellung des Insolvenzantrages werden die Zahlungen an Versorgungs- 84 träger eingestellt. In Kenntnis des Insolvenzantrags durch den Arbeitgeber vorgenommene Prämienzahlungen auf eine Direktversicherung des Arbeitnehmers sind vielmehr nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO durch den späteren Insolvenzverwalter anfechtbar.71) Entrichtet der Arbeitgeber nach drohender Zahlungsunfähigkeit die Prämien für eine Direktversicherung eines Geschäftsführers weiter, so benachteiligt dies im Regelfall trotz der als Gegenleistung erhaltenen Dienste die Gläubiger der Gesellschaft und kann bei entsprechendem Vorsatz ___________ 70) BAG, Urt. v. 9.11.1999 – 3 AZR 361/98, NZA 2000, 1290. 71) OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.1.2007 – 12 U 185/06, ZIP 2007, 286 = NZI 2008, 188; krit. hierzu Schäfer, NZI 2008, 151.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
gegenüber dem Geschäftsführer angefochten werden, selbst wenn der Geschäftsführer auf die Leistung nach seinem Anstellungsvertrag Anspruch hat.72) 85 Im Hinblick auf den Anspruch auf Insolvenzausfallgeld gilt gemäß § 165 Abs. 2 Satz 3 SGB III eine Entgeltumwandlung für die Berechnung des Insolvenzgeldes als nicht vereinbart, wenn der Arbeitnehmer einen Teil seines Arbeitsentgelts gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 BetrAVG umgewandelt hat und dieser Entgeltanteil in den Durchführungswegen Pensionsfonds, Pensionskasse oder Direktversicherung verwendet wird. 2.
Einstandspflicht des Pensionssicherungsvereins
86 Für die betriebliche Altersversorgung normieren die § § 7 bis 15 BetrAVG eine gesetzliche Insolvenzsicherungspflicht. Träger der Insolvenzsicherung ist der Pensions-Sicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit (PSVaG) mit Sitz in Köln. Der PSVaG ist eine Selbsthilfeeinrichtung der deutschen Wirtschaft zum Schutz der betrieblichen Altersversorgung bei Insolvenz des Arbeitgebers. Derzeit bemisst sich der Kapitalwert der unter Insolvenzschutz stehenden Versorgungsverpflichtungen auf ca. 304 Mrd. €.73) 87 Der PSVaG wird für die Ansprüche von Versorgungsberechtigten leistungspflichtig, wenn bei dem Arbeitgeber, der die betriebliche Altersversorgung gewährt, einer der in § 7 Abs. 1 BetrAVG abschließend aufgezählten Sicherungsfälle vorliegt, als da sind x
Eröffnung des Insolvenzverfahrens,
x
Abweisung mangels Masse,
x
gerichtliche Vergleiche mit Gläubigern zur Abwendung des Insolvenzverfahrens (mit Zustimmung des PSVaG),
x
Einstellung der unternehmerischen Tätigkeit.
88 Mit Eintritt eines der oben genannten Sicherungsfälle kommt es hinsichtlich der bestehenden Versorgungsansprüche zu einem Schuldnerwechsel vom Arbeitgeber zum PSVaG; gegenüber diesem besteht ein gesetzliches Schuldverhältnis. Bis zu einem der genannten Sicherungsfälle liegt keine Einstandspflicht vor. Im Insolvenzeröffnungsverfahren werden daher die Ansprüche der Betriebsrentner weder vom Arbeitgeber bzw. (mit Zustimmung des) vorläufigen Insolvenzverwalters noch vom PSVaG befriedigt. Der PSVaG erfasst jedoch auch rückständige Versorgungsleistungen, soweit diese bis zu sechs Monaten vor Entstehen der Leistungspflicht fällig geworden sind, § 7 Abs. 1a Satz 3 BetrAVG. ___________ 72) BGH, Urt. v. 12.1.2012 – IX ZR 95/11, ZIP 2012, 285 = NZI 2012, 246. 73) Quelle: PSVaG, Stand: 31.12.2012, abrufbar unter http://www.psvag.de/framesets/ wir2.html (Abrufdatum: 1.8.2013).
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VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren
Ein Anspruch auf laufende Leistungen gegen den PSVaG beträgt im Monat 89 höchstens das Dreifache der im Zeitpunkt der ersten Fälligkeit maßgebenden monatlichen Bezugsgröße gemäß § 18 SGB IV; im Jahr 2013 beträgt die monatliche Bezugsgröße 2.695 € in den alten Ländern und 2.275 € in den neuen Ländern. Spätestens mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat der Insolvenzverwalter 90 dem PSVaG die Grundlagen für dessen Eintrittspflicht mitzuteilen. Dies beinhaltet x
Mitteilung des Eröffnungsdatums,
x
Name und Anschrift des Versorgungsberechtigten,
x
Mitteilung der Höhe der Rechte,
unter Verwendung der vom PSVaG zur Verfügung gestellten Formblätter.74) Für die weiteren Eintrittsfälle der Abweisung mangels Masse oder der unterbliebenen Eröffnung trifft die Informationspflicht den Arbeitgeber bzw. sonstigen Träger der Versorgung, § 11 Abs. 5 BetrAVG. 3.
Schicksal der einzelnen Versorgungszusagen im Insolvenzverfahren
Da der Eintritt der Insolvenz nicht zu einem Erlöschen von Versorgungsan- 91 sprüchen führt, nehmen die nicht insolvenzgeschützten Teile der betrieblichen Altersversorgung im Insolvenzverfahren am Insolvenzverfahren teil. Hinsichtlich aller nach Insolvenzeröffnung erdienten Versorgungsanwartschaften bzw. fällig werdender Beitragszahlungen an externe Versorgungsträger stellen die Forderungen Masseverbindlichkeiten, § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Das Schicksal der Ansprüche aus betrieblicher Altersversorgung richtet sich 92 nach dem gewählten Durchführungsweg. a)
Direktzusage
Bei Direktzusage beurteilt sich die Frage, ob die Ansprüche auf Versicherungs- 93 leistung Masseansprüche oder Insolvenzforderungen sind, nach dem Zeitpunkt, in dem sie erdient worden sind. Entsprechend der insolvenzrechtlichen Einordnung sind Ansprüche für Zeiten, die vor Insolvenzeröffnung liegen, einfache Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO, Ansprüche für Zeiten nach Insolvenzeröffnung Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Die Versorgungszusage bleibt durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unberührt und gilt ununterbrochen fort; entsprechend kann eine Direktzusage sogar erst durch nach der Insolvenzeröffnung geleistete Dienstzeiten unverfallbar werden.75) ___________ 74) Abzurufen unter http://www.psvag.de/framesets/ser3.html (Abrufdatum: 1.8.2013). 75) BAG, Urt. v. 4.4.2000 – 3 AZR 458/98, AP BetrAVG § 2 Nr. 32 = KTS 2002, 152; Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, § 108 InsO Rz. 164.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
94 Soweit die Versorgungsordnung eine Dynamik enthält, ist eine zeitanteilige Aufteilung geboten: Während die bis zur Insolvenzeröffnung erdiente Anwartschaft eine Insolvenzforderung darstellt, handelt es sich bei den nach Eröffnung anteilig entstandenen Versorgungsansprüchen um Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO.76) b)
Direktversicherung Unverfallbarkeit in der Insolvenz: BAG, Urt. v. 15.6.2010 – 3 AZR 31/07, ZIP 2010, 2260 = BeckRS 2010, 72936
95 Da bei dem Durchführungsweg über eine Direktversicherung der Versorgungsempfänger ab Eintritt des Versorgungs- und Versicherungsfalles einen unmittelbaren Leistungsanspruch gegen den Lebensversicherer gemäß § 335 BGB erlangt, bedarf es eines Insolvenzschutzes nur, wenn der Arbeitgeber das Bezugsrecht vor Eintritt des Versicherungsfalles beeinträchtigt hat, indem er Ansprüche aus der Direktversicherung abgetreten oder beliehen hat und seiner Verpflichtung, nach Eintritt der Unverfallbarkeit, diese wieder herzustellen, wegen des Insolvenzverfahrens nicht nachkommt.77) Bei der Behandlung von Ansprüchen aus einer zugunsten des Arbeitnehmers abgeschlossenen Direktversicherung war nach der Rechtsprechung des BAG78) zwischen der versicherungsrechtlichen und der arbeitsrechtlichen Rechtsbeziehung zu unterschieden. Das BAG hat wiederholt79) klargestellt, dass es, hinsichtlich der Frage, wem die Rechte aus der Direktversicherung zustehen, ausschließlich auf die versicherungsrechtliche Rechtsbeziehung ankommt. 96 Ist im Versicherungsvertrag ein unwiderrufliches Bezugsrecht vereinbart, so kann der begünstigte Arbeitnehmer nach § 47 InsO gegenüber der Insolvenzmasse die Aussonderung verlangen, da er den Anspruch auf die Versicherungsleistung sofort erworben hat, oder gegenüber dem Versicherer die Fortsetzung und die Übertragung des Vertrages auf ihn als neuen Versicherungsnehmer verlangen.80) 97 Ist dem Berechtigten nur ein (uneingeschränkt) widerrufliches Bezugsrecht eingeräumt worden, kann die Bezugsberechtigung widerrufen und die Versicherung bzw. der Rückkaufswert zur Masse gezogen und verwertet werden. ___________ 76) Gussen in: BeckOK ArbR, § 613a Rz. 77a. 77) Gottwald-Bertram, Hdb. InsR, § 109 Rz. 17. 78) BAG, Urt. v. 8.6.1993 – 3 AZR 670/92, AP Nr. 3 zu § 1 BetrAVG Unverfallbarkeit = BB 1994, 73. 79) BAG, Beschl. v. 22.5.2007 – 3 AZR 334/06 (A), ZIP 2007, 1869 = NZA 2007, 1169; BAG, Urt. v. 26.6.1990 – 3 AZR 2/89, NZA 1991, 144. 80) OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.1.2001 – 4 U 93/00, NVersZ 2001, 504.
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VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren
Problematisch wird die Beurteilung dann, wenn dem Arbeitnehmer ein sog. 98 eingeschränkt unwiderrufliches Bezugsrecht eingeräumt worden ist, bei dem der Arbeitnehmer zwar von Beginn an als Bezugsberechtigter eingesetzt ist, der Arbeitgeber sich aber unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit vorbehalten hat, bis zum Eintritt der gesetzlichen Unverfallbarkeit die Bezugsberechtigung zu ändern. Sind die Voraussetzungen des Vorbehaltes nicht erfüllt, hat der begünstigte Arbeitnehmer im Insolvenzfall die gleiche Rechtsstellung wie ein uneingeschränkt unwiderruflich Bezugsberechtigter. Ansonsten hat der Insolvenzverwalter das Widerrufsrecht zwingend auszuüben; durch den Widerruf erfüllt der Verwalter seine insolvenzrechtlichen Verwertungspflichten gemäß § § 159, 148 InsO. Da sich die Frage der Widerruflichkeit der Versicherung ausschließlich nach 99 der versicherungsrechtlichen Rechtsbeziehung beurteilt, wird der Insolvenzverwalter das Bezugsrecht stets dann widerrufen müssen, wenn dies nach der versicherungsrechtlichen Betrachtung möglich ist. Ein unterbliebener Widerruf würde daher zu einer Haftung des Insolvenzverwalters gemäß § 60 InsO führen, selbst wenn dem Verwalter arbeitsvertraglich kein Widerrufsrecht zusteht. Nach h. M. stehen dem Arbeitnehmer beim Widerruf trotz Unverfallbarkeit der Ansprüche oder Gehaltsumwandlung Schadensersatzansprüche zu, die als einfache Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO anzumelden wären. Dies ist zwar insbesondere aufgrund der Tatsache, dass letztlich die (arbeits-)vertragswidrige Handlung des Insolvenzverwalters erst den Schadensersatzanspruch auslöst, nicht unumstritten, entspricht aber der Sichtweise der Rechtsprechung und h. M.81) Streitig war die Beurteilung, ob bei einem eingeschränkt unwiderruflichen Be- 100 zugsrecht ein in den Versicherungsvertrag aufgenommener Vorbehalt des Widerrufs für die Zeit bis zum Erreichen der gesetzlichen Unverfallbarkeit auch für den Fall einer insolvenzbedingten Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Versicherungsnehmer wirksam sein sollte. Der Gemeinsame Senat des BGH hat das Verfahren hierüber eingestellt, nachdem sich die beteiligten Senate des BAG und BGH geeinigt haben, dass ein Betriebsübergang in der Insolvenz zwar die Arbeitsverhältnisse zur Insolvenzschuldnerin beende, aber nicht zu einem Ausscheiden der Beschäftigten i. S. des Versicherungsvertragsverhältnisses führe.82) Soweit häufig ein (Widerrufs-)Vorbehalt für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles endet, eingeräumt worden ist, soll hierdurch nur verhindert werden, dass Arbeitnehmer von sich aus unter Mitnahme erworbener Versicherungsansprüche vorzeitig ausscheiden. Allerdings soll der Arbeitgeber bei insolvenzbedingter Betriebseinstellung nach h. M. aber
___________ 81) Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, § 108 InsO Rz. 169. 82) BAG, Urt. v. 15.6.2010 – 3 AZR 31/07, ZIP 2010, 2260 = BeckRS 2010, 72936.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
nicht berechtigt sein, das Bezugsrecht des Arbeitnehmers zu widerrufen, um die Masse zugunsten der Insolvenzgläubiger zu erhöhen.83) c)
Pensionskasse
101 Da Pensionskassen der Versicherungsaufsicht unterliegen, gib es diesbezüglich keine relevanten Insolvenzrisiken.84) Bei Insolvenz des Arbeitgebers (nicht der Unterstützungskasse) erhalten die Betriebsrentner und Arbeitnehmer einen Anspruch gegen den PSVaG i. H. der nach dem Leistungsplan der Pensionskasse vorgesehenen Leistungen, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BetrAVG. Ein eventuell vorhandenes Vermögen der Pensionskasse geht gemäß § 9 Abs. 3 BetrAVG auf den PSVaG über. d)
Pensionsfonds
102 Der Pensionsfonds ist nur eine Ausgestaltung der mittelbaren Versorgungszusage, so dass der Arbeitgeber für die Leistungspflicht des Pensionsfonds einstandspflichtig bleibt, § 2 Abs. 3a BetrAVG. Kann der Pensionsfonds die zugesagten Leistungen oder die garantierte Mindestleistung nicht erbringen, weil der Arbeitgeber insolvent geworden ist und seine Beiträge nicht zahlt, kommt es zur Eintrittspflicht des PSVaG gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG. e)
Unterstützungskassen
103 Da eine Unterstützungskasse nur die Direktzusagen des Arbeitgebers abwickelt, für die dieser noch Zahlungen leistet, wird es idR. zum Zahlungsausfall in der Insolvenz des Arbeitgebers kommen. Der Anspruch richtet sich jedoch unabhängig von der Zahlungsfähigkeit der Unterstützungskasse der Insolvenzeröffnung gegen den insolventen Arbeitgeber; diese Ansprüche werden daher insolvenzrechtlich wie Direktzusagen behandelt.85) Die Arbeitnehmer und Betriebsrentner erhalten einen gesetzlichen Anspruch gegen den PSVaG in der Höhe, in der die Unterstützungskasse nach dem Leistungsplan Leistungen erbracht hätte, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BetrAVG. 4.
Die Abfindung von Versorgungszusagen durch den Insolvenzverwalter
104 Versorgungszusagen können im eröffneten Insolvenzverfahren die Abwicklung des Verfahrens erschweren, jedenfalls erheblich verzögern. Führt der Insolvenzverwalter den schuldnerischen Betrieb zunächst fort und kommt es später zu ___________ 83) BGH, Urt. v. 3.5.2006 – IV ZR 134/05, ZIP 2006, 1309 = NZI 2006, 527; BGH, Beschl. v. 22.9.2005 – IX ZR 85/04, ZIP 2005, 1836; Hefermehl in: MünchKomm-InsO, § 55 Rz. 193. 84) Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, § 108 InsO Rz. 175. 85) Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, § 108 InsO Rz. 177.
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VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren
einer Liquidation oder aber Übertragung des Unternehmens, kann die Erfüllung von Betriebsrentenansprüchen von Arbeitnehmern, deren Versorgungsfall nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetreten ist, zu einer langwierigen Verfahrensdauer führen. Sind Betriebsrentenansprüche Masseverbindlichkeiten, soll der Insolvenzverwalter die Möglichkeit erhalten, diese ohne Zustimmung des Arbeitnehmers und ohne betragliche Höchstgrenze abzufinden, § 3 Abs. 4 BetrAVG. Voraussetzung des Abfindungsanspruchs gemäß § 3 Abs. 4 BetrAVG ist die 105 Liquidation des Unternehmens nach Insolvenzeröffnung oder die übertragende Sanierung gemäß § 613a BGB, wobei bei einer Übertragung des Unternehmens nur die Anwartschaften derjenigen Mitarbeiter abgefunden werden können, die x
nach Insolvenzeröffnung, aber vor Betriebsübergang ausgeschieden sind oder
x
vom Betriebsübergang nicht erfasst sind oder
x
dem Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 6 BGB widersprochen haben.
Die Rechtsprechung des BAG zum Betriebsübergang gemäß § 613a BGB, nach 106 der sich Betriebsstilllegung und Betriebsübergang ausschließen, ist auf § 3 Abs. 4 BetrAVG nicht zu übertragen.86) Dem Insolvenzverwalter muss die Möglichkeit der Abfindung eingeräumt werden, um eine Liquidation zu erleichtern.87) Die Höhe der Abfindung ist nicht auf die Bagatellgrenze des § 3 Abs. 2 BetrAVG beschränkt und ermittelt sich gemäß § 4 Abs. 5 BetrAVG in Abhängigkeit vom gewählten Durchführungsweg der Versorgungsansprüche: Direktzusage/Unterstützungskasse
107
Unterstützungskasse/Direktversicherung/Pensionskasse/Pensionsfonds
§ 4 Abs. 5 Satz 1 BetrAVG
§ 4 Abs. 5 Satz 2 BetrAVG
Barwert zum Zeitpunkt der Übertragung
Kapitalwert im Abfindungszeitpunkt
Ist der Anwendungsbereich des § 3 Abs. 4 BetrAVG nicht eröffnet, weil z. B. das 108 Arbeitsverhältnis noch fortdauert, kommt eine Abfindung nur unter Beachtung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Regeln in Betracht: Beruht die Versorgungszusage auf einer individualvertraglichen Grundlage, bedarf die Abfindung einer Änderungsvereinbarung. Beruht sie auf einer kollektivrechtlichen Grundlage in Form einer Tarifvereinbarung, kann durch Änderungsvereinbarung wirksam eine Abfindung vereinbart werden. Beruht sie auf einer Betriebsvereinbarung, bedarf die Abfindung der Zustimmung des Arbeitgebers und des Betriebsrates, § 77 Abs. 4 BetrVG. ___________ 86) BAG, Urt. v. 22.12.2009 – 3 AZR 814/07, ZIP 2010, 897 = DB 2010, 1018. 87) LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 3.7.2007 – 22 Sa 1/07, ZIP 2007, 2045 = BeckRS 2007, 17181.
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Praxishinweis Bei der Abfindung von Anwartschaften im zeitlichen Zusammenhang mit einem Betriebsübergang ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des BAG eine Umgehung des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB vorliegen kann, wenn die Einschränkung der Versorgung nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist.88)
5.
Die Versorgungszusage bei Betriebsübergang nach Insolvenzeröffnung
110 Eine wesentliche Rolle spielt die Behandlung von Versorgungszusagen bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz. Während die Bestandsschutzfunktion des § 613a BGB vollumfänglich gilt, also Arbeitsverhältnisse uneingeschränkt auf den Betriebserwerber übergehen und von diesem zu unveränderten Bedingungen fortgeführt werden müssen, soll hinsichtlich der vor Insolvenzeröffnung erdienten Ansprüche eine teleologische Reduzierung der Norm geboten sein. Grund ist, dass der Arbeitnehmer nicht besserstehen soll als andere am Verfahren teilnehmende Gläubiger, indem ihnen neben dem PSV ein zusätzlicher Schuldner gestellt würde.89) 111 Demgemäß soll die Haftung des Erwerbers für solche Ansprüche, die vor Insolvenzeröffnung entstanden sind, ausgeschlossen sein. Der insolvenzrechtliche Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung gebietet es, die Forderungen der Arbeitnehmer nicht vollständig zu befriedigen, während die anderen Insolvenzgläubiger auf das insolvenzrechtliche Verteilungsverfahren verwiesen werden.90) 112 In Bezug auf unmittelbare Versorgungszusagen bedeutet dies, dass der Erwerber in die vertragliche Versorgungsverpflichtung eintritt, im Versorgungsfall jedoch nur für denjenigen Teil der Betriebsrente, der im Zeitraum nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdient worden ist.91) 113 Praxishinweis Bei der Beratung eines Erwerbers eines Betriebes aus der Insolvenz ist darüber aufzuklären, dass er als neuer Arbeitgeber nicht nur für die nach dem Betriebsübergang, sondern bereits auch für die nach der Insolvenzeröffnung (bis zum Betriebsübergang) erdienten Zuwächse haftet.92) Gegebenenfalls empfiehlt sich hier eine Ausgleichsklausel im Innenverhältnis.
___________ 88) BAG, Urt. v. 29.6.1985 – 3 AZR 95/75, DB 1986, 1779; str., a. A. Willemsen/Hohenstatt/ Schnitker/Schweibert/Seibt-Schnitker/Willemsen, Umstrukturierung und Übertragung, Kap. J Rz. 221. 89) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117 = AP Nr. 18 zu § 613a BGB. 90) Grundlegend: BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117 = AP Nr. 18 zu § 613a BGB. 91) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117 = AP Nr. 18 zu § 613a BGB; BAG, Urt. v. 22.12.2009 – 3 AZR 814/07, ZIP 2010, 897 = DB 2010, 1018. 92) Rolfs, NZA-Beilage 2008, 164, 170.
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VII. Die Versorgungszusage im Insolvenzverfahren
Nur hinsichtlich aller vor Insolvenzeröffnung erdienter, unverfallbarer An- 114 wartschaften (§ 1b Abs. 1 Satz 1 BetrAVG) haftet der Erwerber nicht, diese werden von der Eintrittspflicht des PSVaG erfasst. Hinsichtlich aller vor Insolvenzeröffnung erdienter, jedoch (noch) nicht un- 115 verfallbarer Anwartschaften haftet der Erwerber ebenfalls nicht. Da eine Einstandspflicht des PSVaG nicht besteht, vgl. § 1b Abs. 1 Satz 1 BetrAVG, nimmt der Arbeitnehmer mit diesen Ansprüchen als einfache Insolvenzforderungen am Insolvenzverfahren teil. Die bereits zurückgelegte Anwartschaftszeit kann jedoch beim Erwerber durch 116 Zurücklegung weiterer Betriebszugehörigkeitszeit unverfallbar werden. Allerdings verbleibt es auch hinsichtlich bei Betriebsübergang verfallbarer, später durch Anrechnung der bereits bei der veräußernden Schuldnerin zurückgelegter Anwartschaftszeit unverfallbar gewordener Ansprüche bei der beschränkten Haftung des Erwerber für die nach Insolvenzeröffnung erdienten Anwartschaften.93) Scheidet der Arbeitnehmer vor dem Betriebsübergang aus oder widerspricht 117 er diesem gemäß § 613a Abs. 6 BGB, hat der Insolvenzverwalter für die während der Dauer des Insolvenzverfahrens erworbenen Anwartschaften einzustehen. Beschäftigt der Insolvenzverwalter Arbeitnehmer nach Insolvenzeröffnung weiter, entstehen bzgl. der weiter anwachsenden Versorgungsanwartschaften Masseverbindlichkeiten, die aus der Insolvenzmasse befriedigt werden müssen. Die Berechnung der insolvenzgesicherten Anwartschaften erfolgt wie bei einem vorzeitigen Ausscheiden des Arbeitnehmers gemäß § 2 Abs. 1, 2 BetrAVG. § 3 Abs. 4 BetrAVG, räumt dem Insolvenzverwalter jedoch die Möglichkeit ein, den nach Insolvenzeröffnung erdienten Teil abzufinden.94) Kommt es im Laufe der Betriebsfortführung durch den Insolvenzverwalter zum Betriebsübergang gemäß § 613a BGB, tritt der Betriebserwerber für den Teil der Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung ein, die nach Eröffnung des insolvenzrechtlichen Verfahrens erdient worden sind. In dem Betriebsübergang ist eine Betriebseinstellung i. S. des § 3 Abs. 4 118 BetrAVG zu sehen; insbesondere findet der für § 613a BGB entwickelte Grundsatz, dass sich eine Betriebsstillegung und ein Betriebsübergangs ausschließen, für den Bereich des BetrAVG keine Anwendung. Dem Fall des (im Falle einer unwirksamen Unterrichtung über den Betriebsübergang möglicherweise lange nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgenden) Widerspruchs muss daher aus Sicht des Insolvenzverwalters im Unternehmenskaufvertrag, ggf. durch Freistellungsansprüche gegen den Erwerber im Innenverhältnis, Rechnung getragen werden. ___________ 93) Annuß/Lemke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierung, Teil B Rz. 28, S. 2. 94) BAG, Urt. v. 22.12.2009 – 3 AZR 814/07, ZIP 2010, 897 = DB 2010, 1018.
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§ 24 Betriebliche Altersversorgung vor und in der Insolvenz
6.
Besonderheiten bei der Sanierung im Insolvenzplanverfahren
119 Bei der Sanierung im Insolvenzplanverfahren vermindert sich der Anspruch auf Leistungen gegen den Träger der Insolvenzsicherung insoweit, als nach dem Insolvenzplan der Arbeitgeber oder sonstige Träger einen Teil der Leistungen zu erbringen haben. Regelmäßig wird in einem Insolvenzplan gemäß § 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG eine Besserungsklausel zu Gunsten des PSVaG aufgenommen. Der PSVaG ist in den meisten Unternehmensinsolvenzen einer der größten Gläubiger. Dem besonderen Stellenwert des PSVaG in den meisten Insolvenzverfahren wird hierbei zusätzlich durch eine Berufung in den (vorläufigen) Gläubigerausschuss sowie im Insolvenzplanverfahren der Bildung einer eigenen Gruppe gemäß § 9 Abs. 4 Satz 1 BetrAVG Rechnung getragen. Da im Insolvenzplanverfahren alle beteiligten Gläubigergruppen zustimmen müssen, wird dadurch verhindert, dass ein Insolvenzplan ohne Zustimmung des PSVaG angenommen werden kann. 120 Aufmerksamkeit verdient die Behandlung der Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung für den Fall einer gescheiterten Sanierung im Insolvenzplanverfahren. Scheitert die Sanierung nach der Bestätigung des Plans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens und wird das Unternehmen in einem zweiten Insolvenzverfahren liquidiert, haftet der PSVaG sowohl für die während des im Insolvenzplan bestimmten Zeitraums als auch für die nach Eintritt des neuen Sicherungsfalls zu erbringenden Versorgungsleistungen in voller Höhe. Gemäß § 9 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG kann der PSVaG die Erstattung von Leistungen verlangen, die er gegenüber Berechtigten des Schuldners erbracht hat, wenn innerhalb von drei Jahren nach dem Insolvenzereignis ein neuer Insolvenzantrag gestellt wird.
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§ 3 Case Study 2 Übersicht I. Einführung......................................... 1 II. Fallbeispiel 1: Personalabbau außerhalb der Insolvenz ................... 4
I.
III. Fallbeispiel 2: Personalabbau in der Insolvenz ................................... 11
Einführung
So unterschiedlich die Ursachen für Unternehmenskrisen, so unterschiedlich sind 1 auch die Strategien und Maßnahmen mit denen ihnen begegnet wird. Ist die Krise des Unternehmens jedoch schon so weit fortgeschritten, dass es sich um einen handfesten Sanierungsfall handelt, muss fast immer auch mit Maßnahmen zur Reduzierung des Personalaufwandes gerechnet werden. Diese reichen von relativ einfachen Maßnahmen wie temporären Einstellungsstopps über Sanierungstarifverträge, möglicherweise mit mehreren Jahren Laufzeit, bis zur Entlassung von Teilen der Belegschaft. Insbesondere in Deutschland, wo wegen des umfangreichen Kündigungsschutzes eine Anpassung der Personalkapazität lange vermieden wird, besteht im Sanierungsfall meist großer Handlungsbedarf. Dadurch ist das Thema Personalabbau in beinahe jeder Restrukturierung rele- 2 vant. Jedoch ergeben sich aus Praktikersicht grundsätzliche Unterschiede zwischen Fällen, bei denen das Unternehmen bereits Insolvenz angemeldet hat und solchen, die außerhalb einer Insolvenz saniert werden. Dies betrifft vor allem eine deutlich leichtere Durchführung im Insolvenzfall, gepaart mit geringeren Kosten und einer höheren Umsetzungsgeschwindigkeit. Auf der anderen Seite wird im Normalfall in der Insolvenz ein größerer Anteil der Belegschaft entlassen, da der Handlungsdruck i. d. R. deutlich höher ist – bspw. durch insolvenzbedingte Kunden- und Umsatzverluste. Zusätzlich ist der Spagat zwischen Personalabbau und gleichzeitiger Bindung oder sogar Neueinstellung von Leistungsträgern im Insolvenzfall deutlich schwieriger. Diese Unterschiede werden auch an den folgenden Fallbeispielen deutlich.
Falckenberg/Rüden
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§ 3 Case Study 2
3 Abb. 1: Unterschiede in und außerhalb der Insolvenz PERSONALABBAU
…außerhalb der Insolvenz
…in der Insolvenz
• Hohe rechtliche Hürden • Langsame Umsetzungsgeschwindigkeit (Kündigungsfristen, Betriebsratsverhandlungen, Klagen) • Hohe Kosten (Abfindungen/Klagen) • Halten guter Mitarbeiter in Sanierungssituationen grundsätzlich schwierig
• Leichtere Durchführbarkeit • Hohe Umsetzungsgeschwindigkeit • Geringere Kosten • Halten guter Mitarbeiter extrem schwierig/teuer • In der Regel höherer Personalabbau nötig (Umsatz geringer, keine Verlustfinanzierung)
II.
Fallbeispiel 1: Personalabbau außerhalb der Insolvenz
4 Glücklicherweise hatte dieses Unternehmen in seiner sehr langen Geschichte von mehreren hundert Jahren viel Substanz aufbauen können. Bedingt durch interne Fehler und die Wirtschaftskrise 2008/2009 geriet das Unternehmen mit ca. 4.000 Mitarbeitern weltweit und mehreren hundert Millionen Euro Umsatz an den Rand der Insolvenz. Die internen Fehler waren bspw. strategische Fehlentscheidungen wie eine überteuerte Akquisition ohne Due Diligence und eine mangelhafte operative Steuerung und Kontrolle der Tochtergesellschaften. Das Ergebnis waren zahlreiche verlustträchtige Auslandstöchter, eine mit dem >10fachen des EBITDA 2008 extrem hohe Verschuldung und eine Eigenkapitalquote von