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German Pages 241 [252] Year 1969
EMANUEL HIRSCH
BETRACHTUNGEN ZU WORT UND GESCHICHTE JESU
EMANUEL
HIRSCH
BETRACHTUNGEN ZU WORT UND GESCHICHTE JESU
W A L T E R D E G R U Y T E R 8c CO. VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG • J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER• KARL J.TRÜBNER-VEIT&COMP.
BERLIN
1969
(c) 1969 by Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 (Printed in Germany) Ardiiv-Nr. 3005691 Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie] zu vervielfältigen. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Satz und Druck: Otto v. Holten, Berlin 30
ZUM
GELEIT
Seit meiner literarischen und historischen Analyse der synoptischen Evangelien in der „Frühgeschichte des Evangeliums" 1941 schwebt mir der Plan vor Augen, durch eine Reihe zugleich historisch-kritischer wie erbaulich-meditativer Betrachtungen zu einzelnen schwer verständlichen oder häufig mißverstandenen Stellen der Evangelien ein Gesamtbild von Jesu Person, Wort und Geschichte zu geben. Mein achtzigster Geburtstag hat mich nun gemahnt, die Ausführung dieses Plans nicht weiter hinauszuschieben. Es erscheint mir als eine immer dringlichere Aufgabe, der nihilistischen Skepsis der formgeschichtlichen Schule mit ihrer Zerstörung jeglichen tieferen Bildes von Jesu Wort und Geschichte eine Arbeit entgegenzustellen, welche unsrer menschlichen Wahrhaftigkeit durch Kritik hindurch den Weg zum Glauben öffnet. Das hier der Öffentlichkeit übergebene Buch bietet diejenige Lösung der Aufgabe, welche das Ergebnis meiner seit sechzig Jahren stets von neuem geschehenen Beschäftigung mit den Evangelien enthält. Ich habe es vermieden, in die Reihe der Betrachtungen diejenigen Texte aufzunehmen, welche ich in den Analysen und Meditationen meiner Predigerfibel von 1964 schon behandelt habe. Das Bild von Jesu Wort und Geschichte wird dem Leser sich also reicher entfalten, wenn er die Betrachtungen im zweiten Teil der Predigerfibel, die auf evangelische Texte gehen, in die Reihe der Betrachtungen dieses Buchs an passender Stelle einfügt. Doch hoffe ich, daß es mir gelungen ist, schon mit den hier gebotenen neuen Betrachtungen die Hauptmomente von Jesu Wort und Geschichte zur Anschauung zu bringen. Ein Buch Wie dieses, welches zugleich wissenschaftliches und meditatives Gepräge trägt, hat es wahrscheinlich schwer, sich in dem heutigen, immer mehr in Sparten sich zerstückenden theologischen Literaturbetrieb Gehör zu verschaffen. Immerhin, die Leser, welche nach einem solchen Buch verlangen, sind da, und so darf ich vielleicht doch hoffen, daß es mir vergönnt sein werde, den Weg zu ihnen hin zu finden. Göttingen
E. Hirsch
INHALT Jesu Geheimnis mit seinem himmlischen Vater . . . .
i
Sündenvergebung und Krankenheilung
10
Die Saat des Gottesreichs
20
Das reine Herz
30
Die Feinde lieben
40
Die Zeidienf orderung
50
Die Frage des Täufers
60
Alles verkaufen was man hat
70
Spruch vom Auge
79
Der eiserne Sperriegel des Gesetzes
88
Reich Gottes und jüngster Tag
100
Die Frage, wer der Größte sei
110
Zwei Sdiwerter
120
Die Ehre des Dienstes
129
Die unverbrüchliche Heiligkeit der Ehe
137
Die Heimlichkeit des Umgangs mit Gott
147
Nicht schwören
157
Die Verneinung des Vergeltungsdogmas
166
Die Ordnung des Heils
174
Die Schwelle
183
Das Gleichnis vom argen Knecht
192
Die Begnadigung der Ehebredierin
204
Die Salbung in Bethanien
215
Die Gegenwart Gottes in Christus Jesus
224
Anhang:
233
Jesu Klage am Kreuz
JESU G E H E I M N I S MIT SEINEM H I M M L I S C H E N VATER Joh. 19, 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.
Wer mit dem ursprünglicheren Bericht des Markusevangeliums vergleidit, der gewahrt es, daß der vierte Evangelist nicht einfach das nadkte unverhüllte Rätsel von Jesu Todesaugenblick vor seine Leser stellt. Er hat mit scheuen, sparsamen Worten das den Augen und Ohren sich bietende Bild des Sterbens Jesu am Kreuz durchleuchtet mit dem Geheimnis von Jesu Hinübergang zu seinem himmlischen Vater. Er sagt, was sein eigener dichtender Glaube in und hinter der sich dem sinnlichen Wahrnehmen bietenden Wirklichkeit des Kreuzestodes zu erahnen vermochte. Dabei bleibt er der äußeren Wirklichkeit recht nahe. Wenn ein am Kreuz Hängender von der letzten Lebenskraft verlassen wurde, so gaben die verzerrten Nackenmuskeln und die sich auskugelnden Sdiultergelenke nach. Die schwere Last des Hauptes stürzte nieder gegen die sich einknickende röchelnde Brust. Der Erstickende hauchte aus und war erlöst von der unerhörten Qual. Wie der Evangelist es beschreibt: „Er neigte das Haupt und gab den Geist dahin." Eben dies aber wird dem Erzählenden ein Sinnzeidien für den ganzen Sohnesgehorsam, mit dem Jesus dem ihm die Stunde dieses Todes von je verhängenden Willen des himmlischen Vaters sich übergibt. Der Leser soll das Niedersinken des Haupts verstehen und deuten als das letzte heilige Ja Jesu zu der ewigen Liebe, die durch seinen Tod den Erlösungsratschluß vollendet. Mit einem einzigen kleinen Wort erwirkt der Evangelist dies Verständnis. Er hört aus dem letzten röchelnden Hauch Jesu eine geheimnisschwere Aussage heraus: „Es ist vollbradit". D. h., vollbracht ist durch den Tod Jesu das von allen Frommen alter Zeit ersehnte göttliche Erlösungswerk, das den Glaubenden die Gotteskindschaft im ewigen Gottesreiche 1
Jesu Geheimnis mit seinem himmlischen Vater
schenkt. So verklärt sidi das Hinsinken des Haupts im Erleiden des Kreuzestodes zum reinen anbetenden Gotterleiden. Wir müssen alle im Tode den Willen des Ewigen erdulden, die Gott Gehörenden ebenso wie die ihm feindlich Verschlossenen. Wer es aber lernt, im Blick auf den am Kreuz von Golgatha Hängenden zu sterben, dem wird das Versinken in des Todes bittrer Not zu einem Aushauchen in das Geheimnis des Ewigen hinein. Ähnlicher Verschmelzung von allerhärtester Wirklichkeit und sinnender, gleichsam dichterischer Ausdeutung durch das fromme Gemüt des Erzählers begegnen wir nun an zahlreichen Stellen der Evangelien. Wohl fehlt es auch nicht an reiner treuer Wiedergabe des Geschehenen in aller seiner dem Grübeln und Sinnen rufenden Rätselhaftigkeit, und ebenso auch nicht an rein dichterischen Legenden, welche Spiegelglanz oder Traum des Glaubens sind, wenn auch vielleicht nicht ohne auf ihre Weise etwas von Jesu Wesen zu künden. Immerhin, es liegt in der Natur der Sache, daß Erzählende da, wo sie von einem geheimnisreichen persönlichen Geschehen berichten, häufig unwillkürlich ihr Auffassen und Verstehen in die Berichterstattung einfließen lassen. Umgekehrt hat auch unendlich viel Legendenhaftes verborgene Wurzeln in wirklichem Geschehen. Eben dies aber weckt im Leser der Evangelien wenigstens heute, im Zeitalter kalter rechnender Verständigkeit - die bange Frage, ob es denn überhaupt möglich sei, das verborgene Geheimnis von Jesu Person und Geschichte zu erkennen. Wir bedürfen eines solchen Erkennens, damit wir uns über die Bedeutung dieser Person und dieser Geschichte für unser eigenes Verhältnis zu Gott innerlich klar werden können. Um die Dringlichkeit dieser Frage zu empfinden, braucht man sich nur daran zu erinnern, daß so mancher die bei Markus nackt und nüchtern sich zeigende Wirklichkeit von Jesu Sterben am Kreuz - auch dann, wenn er die Darstellung des vierten Evangeliums als dichterische Deutung eines unserm Wissen entzogenen verborgenen Vorgangs ehrt - mit zermalmender, herzzerreißender Gewalt nacherlebt und es nicht vermag, des Grauens durch Erhebung zu höherer Betrachtung Herr zu werden. Scheint es nicht also, als ob das wahre Geheimnis von Jesu Leben und Sterben uns unerkennbar bleibe? Damit drohen seine Person und Geschichte als etwas Zweifel2
Joh. 19, 30 haftes, und einer gottlosen Erklärung ebenso zugänglich wie einer frommen, ganz ins Leere zu versinken. Wäre dem aber so, dann müßten wir uns in unserm eigenen Gottesverhältnis ohne das Evangelium behelfen. Ein moderner Theologe hat auf Befragen zugestanden, daß Jesus zu dem vielleicht bedeutungsvollen Inhalt einiger seiner Worte, was seine Person und Geschichte anlange, kein andres Verhältnis habe als der Hafenarbeiter zu dem Sack, den er trägt. So schürzt sich für den, welcher das Letzte und Verborgenste der irdisch-geschichtlichen Erscheinung Jesu zu erfassen begehrt, ein Knoten. Es ist heute üblich, dafür die Unangemessenheit verantwortlich zu machen, welche die Art der aus alten Zeiten stammenden evangelischen Berichte für unsern nüchtern kritischen Tatsachensinn habe. Indes, dem stellt sich eine jedem Zweifel standhaltende Tatsache der evangelischen Geschichte entgegen. Jesus ist Rätsel und Geheimnis gewesen auch für die Menschen, unter denen er seine Predigt von dem auch den Sündern, Zöllnern und Heiden sich öffnenden Reiche des himmlischen Vaters tat, und unter denen er um dieser Predigt willen den schweren Gang in den Schandtod am Kreuze vollbracht hat. Er ward ihnen ein Zeichen des Widerspruchs und des Mißverstehens. Sie deuteten sich sein Verhältnis zum Ewigen und Göttlichen falsch, auch dann, wenn sie ihn nicht mit wahnhaftem frommem Eifer als einen Gottlosen und Verächter des Gesetzes haßten und schmähten. Erst nach seinem Tode ging der Same des Worts, den er in die kleine Schar der Jünger und Anhänger hineingesät hatte, auf in einem lebendigen, das Gesetz zerbrechenden Glauben. Vollendet rein und klar haben in der nun entstehenden neuen Gemeinde erst Paulus und der vierte Evangelist das Geheimnis Jesu erkannt. Erst vor ihren Augen stand er rein und klar als der Bringer und Träger einer Gotteskindschaft, welche die Liebe des Vaters in sich hinein empfängt und mit unerhörter Freiheit die gottscheidende Macht von Gesetz, Welt und Tod überwindet. Der Grund dafür liegt in Jesus selbst. Das in ihm lebendige Gottesverhältnis und sein unbegreiflich tiefes Bild von der Vaterliebe des Heiligen und Allbedingenden, sie schließen es aus, daß er dem Menschensinn geradezu und platt offenbar ist. Nur in einer unsern Sinn und Geist umwandelnden, selber geheimnisreichen Geschichte unsers Herzens mit Gott kann er erkannt werden nach seinem ver3
Jesu Geheimnis mit seinem himmlischen Vater borgenen Geheimnis, welches durch sein Wort und seine Geschichte nur hindurchscheint für den, der Augen hat zu sehen. Es kann auch gar nicht anders sein, als daß er allen Zeiten und allen Menschen mit seiner Vollmacht geheimnisvoll bleibt. Er spricht zu des Herzens vertrautestem Sehnen als der, welcher ihm Befreiung und Vollendung im Ewigen verheißt. Und dennoch weckt er eben damit audi Scheu und Schrecken als der, welcher den ihm Vertrauenden ins Ungeahnte, Ungekannte hineinruft und den ihm Folgenden in die Welteneinsamkeit einer Sinnes- und Geistesverwandlung von Grund auf hineinführt. Ein Gottesbote, Gottesträger, Gottesruf und Gotteslicht ist er, und wie könnte ein solcher wohl anders uns sich nahen als mit dem Geheimnis Gottes, welches nur im Tode uns ganz zum Leben, nur durch das Leid uns ganz zur Seligkeit, nur durch die Hingabe uns ganz zur Freiheit wird? Auch ohne Jesus: nahe, unheimlich nahe ist uns der Allbedingende, Allwaltende, Ewige in, mit und unter den vergänglichen Erdengewalten, nichtmenschlidien wie menschlichen, die uns allenthalben umringen und unserm Leben und Wirken das Maß setzen. Gott ist die Nacht des Geheimnisses, die ein blendendes, sengendes, versehrendes, verzehrendes Licht schonend zu umhüllen scheint, uns unbegreiflich und doch uns verwandt, unsrerKreatürlichkeit Bangen weckend und dochunsers Lebens Quell, von dem wir Freiheit und Erlösung begehren mit jedem Atemzuge in dieser erstickenden Welt. Und so, wie wir ihn in uns gewahren und bilden, so wird er uns zum Schicksal, das unsern Geist und unsre Seele formt, im Nein und im Ja, ob wir uns nun beugen oder aufbäumen vor ihm. Wie dies geschieht, wohin es uns treibt, das ist unsers Lebens verborgenstes Geheimnis. Es schimmert im Guten wie im Bösen durch unser erscheinendes Wesen hindurch, und nur wer uns in diesem unserm Geheimnis errät und versteht, nur der kennt uns wahrhaft. Mag audi noch so viel von uns kund werden in unsrer Umwelt und Nachwelt: ein Geheimnis bleibt es, welches die mit uns und unsern Wirkungen sich Berührenden lesen und deuten müssen. Ob sie aber recht lesen und deuten, das können weder sie noch wir selbst mit Worten und Gründen demonstrieren und erhärten. Anders aber als in dem Geheimnis eines Menschen mit Gott ist er, der ewige Gott, nicht so da, daß wir etwas andres sagen könnten denn daß er die dun4
Joh. 19, 30 kelste Nacht um die versehrendste Lohe sei. Nicht die toten Bilder und Gedanken, die wir uns machen oder andern nachmachen, sondern allein die Bilder, die mit unvergänglicher Rune in ein Menschenherz geritzt sind, ohne daß es etwas dazu könnte, nur die sind getragen von der unheimlichen Gegenwart und Gewalt des Ewigen, es sei nun uns zum Heile oder zum Unheil. Nach diesem Gesetz des wesentlichen menschlidien Gottesverhältnisses allein vermag er, der da Mensch ward gleichwie wir, uns der Gotteszeuge oder Gottesträger zu sein, der unserm Glauben oder Unglauben ruft, so daß er uns frei macht in verstehender, Gott neu in uns bildender Liebe oder aber uns verknechtet in sich verschließendem, ihn und sein Evangelium verzerrendem Haß. Dies ist die allein der Heiligkeit und Unendlichkeit der Gottheit gemäße Ordnung eines wahrhaft persönlichen Gottesverhältnisses. Sie wird dadurch nicht aufgehoben, daß nach christlichem Glauben Jesus als der Träger des Evangeliums von der göttlidien Vaterliebe die vollendete Offenbarung des wahren Wesensbildes Gottes ist. Aber dadurch, daß Gottes ewiges Geheimnis für uns gegenwärtig ist als Geheimnis von Jesu Verhältnis zu seinem himmlischen Vater, wird es für uns aus einer verzehrenden Unheimlichkeit und Unbegreiflichkeit zu einem uns im Lebensgrunde anrührenden unerhört tiefen und unerhört wunderlichen oder wunderreichen heiligen Bilde. Als solches ergreift es unser Gewissen und damit unsre ganze Menschlichkeit in einem Kampfe auf Leben und Tod und entbindet in uns eine von Jesu Geheimnis durchprägte eigene geheimnisreiche Gesdiidite mit dem himmlischen Vater. Es ist wohl nicht allzu wichtig, was einen Menschen zur sinnend sich vertiefenden Aufmerksamkeit auf die in den Evangelien sidi spiegelnde geschichtliche Wirklichkeit bewegt. Bei dem einen ist es der Eindruck christlich frommer Erziehung auf das Gemüt, bei andern die Verwunderung über die unermeßlichen weit- und geistesgeschichtlichen Wirkungen, die von der Predigt, dem Kampf und Leiden, dem Tod dieses Menschen ausgegangen sind und so gar nicht zu passen sdieinen zu diesem von allem äußerlichen Wirken und Planen abgekehrten, rein dem Bereich verborgener Innerlichkeit zugewandten Menschenbilde. Was aber auch dazu treibe in das Geheimnis der 5
Jesu Geheimnis mit seinem himmlischen Vater
evangelischen Geschichte hinein zu lauschen, welcher Art denn dies Geheimnis sei, und ob es überhaupt ein solches Geheimnis hinaus über einige geistreiche Aussprüche und Gedanken Jesu gebe: wichtig ist allein der Ernst und die Leidenschaft der lauschenden Vergegenwärtigung selbst. Geschieht sie recht, so werden über den um gegenwärtiges Verständnis der evangelischen Geschichte sich Mühenden zwei vielleicht verwirrende Eindrücke kommen. Auf der einen Seite bedünkt es ihn, daß er ja nicht unmittelbar mit Jesus selbst bekannt werde in den evangelischen Erzählungen, sondern mit einem kunstvollen Mosaik aus echten Erinnerungen an sein Wort und seine Geschichte und mancherlei buntfarbigen, ins Sagenhafte sich verirrenden Berichten, durch die sein Bild zugleich umleuchtet und verdunkelt wird. Auf der andern Seite nimmt ihn die Gestalt Jesu, die durch das alles zu ihm zu sprechen beginnt, mit ihrem rätselhaften Zauber um so mehr gefangen, je mehr er ihn selbst von den Beriditen und Erzählungen über ihn zu lösen versucht. Ob einfacher Bibelleser oder gelehrter historischer und literarischer Kritiker, er fühlt sich gedrungen, sie mehr und mehr mit eigenen Augen zu sehen und so aus den Evangelien der andern sich tastend ein eigenes Evangelium zu bilden. Er tritt gleichsam mit den evangelischen Erzählern in eine Reihe und wird so wie sie ein Deuter von Jesu Wort und Geschichte. Solange es Christen gibt, welche die Evangelien sich vergegenwärtigen, ist dies zwiefache Widerfahrnis über sie gekommen. Freilich, in den alten Zeiten geschah es meist unbewußt, ohne daß die, welche die evangelische Geschichte vernahmen, es merkten. Heute in unserm allzu wachen und allzu selbstkritischen Geschlecht müssen auch einfache und schlichte Menschen ohne allen wissenschaftlichen Ehrgeiz dessen inne werden, daß die Evangelien ihnen Jesus nicht unmittelbar bringen. Die Wirklichkeit Jesu muß und will durch die Evangelien hindurch, und so, daß sie gegen diese kritisch macht, zu ihnen sprechen und in ihnen ein eigenes Bild des Menschensohns und seiner Geschichte erzeugen. Die Evangelisten von einst und ebenso die Theologen und Prediger von heute sinken ihnen zu Helfern herab, die ihnen dies und das an Jesus zeigen. Wir danken ihnen. Aber dieser Dank schließt die Freiheit eigenen Schauens und Deutens auch gegen sie in sich. Der erste Mensch übrigens, der diese zum Christenglauben bewußt oder unbewußt ge6
Joh. 19, 30
hörende Freiheit von den Berichten anderer bemerkt hat, ist der vierte Evangelist gewesen. Er hat nach seiner dichterischen Art diese Freiheit gemalt in den Worten, welche die gläubig werdenden Samariter zu der ihnen zuerst von Jesus berichtenden Samariterin sprechen (Joh. 4, 40 ff.). Die uns so mit der Vertiefung in die evangelische Geschichte gestellte Aufgabe vollbringt sidi nicht auf einen Tag, auch nicht in einem Jahr. Sie geht mit uns durch alle Stufen unseres Lebens von den Kinderjahren bis ins hohe Alter. Man versteht Jesus nur, wenn man sich im Umgang mit der evangelischen Geschichte innerlich umbilden läßt von naturverhafteter Frömmigkeit zu geistdurchprägter, von sich selbst gefallender Werkhaftigkeit zum anbetenden und verwunderten Empfangen göttlicher Güte, vom süchtigen Gottbegehren zum strengen Gotterleiden, von einem Traumgott, den man begreift, zu einem Gott, dessen Vaterliebe in dunklem Gewände zu uns kommt. Bei alledem aber werden die Grenzen und Irrungen und Träume der selbst noch im Werden auf die Gleichgestalt mit Christus befindlichen evangelischen Erzähler gewissermaßen zu Bundesgenossen eben der Erdgebundenheiten, die wir in uns überwinden müssen, um Jesus wahrhaft zu schauen und ihm wahrhaft zu eigen zu werden. Audi bei großen Theologen, kritischen wie unkritischen, spürt man es, wie sie im Lauf ihres lebenslänglichen Umgangs mit den Evangelien immernoch ringen müssen um die rechte Deutung des Geheimnisses von Jesu Wort und Geschichte. Sie bekommen während ihres Lebens und Arbeitens immer noch tiefere Blicke geschenkt hinein in Jesu von Sohnesgehorsam und Sohnesliebe getragenen und doch anfechtungsumwallten Weg bis hin zu der „Erhöhung" ans Kreuz. Indes, noch hab ich den inneren Vorgang, mit dem wir in das Geheimnis Jesu, zugleich verstehend und anders werdend, hineinwachsen, nicht vollständig beschrieben. Das Schwerste, das zu sagen ist, wird höchstens als Hintergrund der Betrachtung zum Leser gesprochen haben. Vielleicht läßt es sich am anschaulichsten machen an dem Bilde, welches der vierte Evangelist von dem Verhältnis der Menschen zum Kreuze Jesu malt. Die Hohenpriester und Sdiriftgelehrten meinen in einer eigenartigen Misdiung von Haß und Triumph ein gottwohlgefälliges und gottgesegnetes Werk getan zu haben mit ihrer Verfluchung Jesu und ihrem Erzwingen der Kreuzigung. Sie haben 7
Jesu Geheimnis mit seinem himmlischen Vater das Geheimnis Jesu, die Verkündigung seines Vaters im Himmel als des Gottes, der den sündigen Menschen zum Kinde begehrt und ihm das ewige Reich und die ewige Freiheit schenkt, wahrgenommen. Sie vermögen aber diesen Vater Jesu lediglich für eine dämonische Gestalt zu halten, welche alle sittliche und religiöse Ordnung und Zucht auf Erden zerstört und dem für sie wahren Gott, dem eifernden Gott des Gesetzesbundes und der sichtbaren kommenden Gottesherrschaft durch Israel, lästert und sdiändet. Neben ihnen steht Pilatus, der Skeptiker und Nihilist, welchem der diese Welt beherrschende Allgewaltige nicht ein Traumgott des Gesetzeseifers und irdischen Wunderreichs ist, sondern der Genius des Rechts und der Ordnung, welcher im Römerreich reelle Gestalt und Macht besitzt und ausübt. Für diesen Pilatus und diesen Genius der Staatsund Gesellschaftsordnung ist der Vater Jesu eine Schimäre. Sie können in ihm nichts finden als leeren nichtigen Wahn. Wir würden heute sagen: sie halten Jesus für einen Ideologen und Schwärmer, an dem überhaupt nichts Bedeutungsvolles ist. Man kann nicht sagen, daß dieser Nihilismus überhaupt nichts vom Geheimnis Jesu gewahrt. Pilatus schwankt hin und her zwischen dem Urteil, daß es phantastisch und aktiv gewordener jüdischer Messianismus sei, und dem andern, daß es nichtig und bedeutungslos sei. Anderer Art ist die dritte Möglichkeit, den zum Kreuz Gehenden zu verstehen. Der vierte Evangelist veranschaulicht sie an den schweigend von fern zum Kreuz hinsuchenden Frauen und an dem mit ihnen zusammen auf das Geheimnis des Kreuzes schauenden Lieblingsjünger. Mit alledem drückt das vierte Evangelium etwas Erschütterndes aus. Audi dem Sinn und Herzen, dem die Gegenwart Jesu sich mehr oder weniger deutlich nach ihrem Letzten kundtut, erwächst nicht notwendig das verstehende und glaubende Ja. Und so ist es geblieben bis an den heutigen Tag. Die Begegnung zwischen dem Menschenherzen und dem Träger des Evangeliums weckt nicht notwendig den Glauben und die Anbetung. Sie kann auch heute ein leidenschaftliches Verneinen oder achselzuckendes Verachten gebären. Zum Geheimnis Jesu gehört auch dies, daß es keine logische oder sonstwie mit Mitteln der Überredung und Kunst arbeitende Möglichkeit gibt, dem Glauben an Jesus wider das Verneinen und Verachten allgemeine Anerkennung zu schaffen. Die Lage ist für uns eher 8
Joh. 19, 30 noch schwieriger geworden, weil die Verneinenden und Veraditenden heute oft nicht geradezu ihre Gesinnung offenbaren. Sie propagieren häufig unter der Maske eines scheinbaren J a eine umdeutende und entstellende Verzerrung des Bildes vom Evangelium und von seinem Träger. Sie tun dies noch dazu mit innerer Ahnungslosigkeit über ihre Ähnlichkeit sei es mit den Hohenpriestern und Sdiriftgelehrten, die ihn weg haben wollen aus der Welt, oder mit dem Pilatus, welcher auf deren Drängen das Urteil spricht. Damit kehrt die Betrachtung zurück zu der Anfangsfrage, die wir uns gestellt haben. Wir können das Rätsel nicht aufheben, daß das Evangelium und sein Träger es dem Mensdienherzen offen lassen, gemäß eigenem verborgenem Getriebenwerden so oder so sich zu entscheiden. Eben dies aber ist für den, der da überwunden wird zum Verstehen und Glauben, das tiefste und zwingendste Zeugnis für die verborgene Herrlidikeit Jesu als des Sohnes, in welchem des ewigen Gottes Geheimnis zu den Menschen kommt und an ihre Herzen pocht. Hätte der Erdgeist, der da im Menschen mächtig ist, Gewalt darüber, dem Einzelnen sein Gottesverhältnis zu bestimmen, so wäre Gott nicht Gott, weil er nicht das unendliche verborgene Geheimnis wäre, das nur durch eine auf der Grenze von Leben und Tod geschehende Sinnverwandlung dem anbetenden Geiste erscheint. Wahrer Gott wäre dann vielmehr der Erdgeist mit seinem allrechnenden Verstände. Nur durch einen inneren Hinübergang vom Endlichen zum Unendlichen, vom Begreiflichen zum Unbegreiflichen werden wir Gottes in Wahrheit inne. Eben darum aber macht uns das Verhältnis zu Gott frei. Der Erdgeist mit seinem Verstandeswerkzeug knechtet. Freie Kinder, die in Anbetung und Gehorsam wahrhaft sie selbst sind, wahrhaft in ihr Eigenes einkehren, macht aus uns nur der verborgene Gott, dessen Geheimnis offenbar ist im Geheimnis Jesu Christi. Dies meint Paulus, wenn er sagt, Gott habe denen, die ihn lieben, dasjenige bereitet, was kein Auge gesehen und kein Ohr vernommen hat und was in keines Menschen Sinn gekommen ist.
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SÜNDENVERGEBUNG UND KRANKENHEILUNG Markus i,
1-11
Und wie er nach einiger Zeit wieder hinein nach Kapernaum kam, sprach es sich herum, daß er zuhause sei. Und es liefen viele zusammen, so daß auch der freie Platz vor der Tür nicht groß genug war, und er sagte ihnen das Wort. Da kamen Leute, die brachten ihm einen Gelähmten. Und weil sie der Menge halber mit der Trage nicht an ihn herankommen konnten, brachten sie ihn hinauf auf das Fladidach, dort, wo Jesus unten war, und ließen die Trage herunter, auf der der Gelähmte lag. Und wie Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Lieber, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen aber Leute dabei, die dachten in ihrem Herzen: Was redet er da Lästerliches? Wer kann denn Sünden vergeben denn Gott allein? Und Jesus erkannte gleich in seinem Innern, daß sie so bei sidi dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr da in eurem Herzen? Was ist leichter: zu dem Gelähmten zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben, oder: steh auf, nimm deine Trage und geh auf deinen Füßen? Und spradi zu dem Gelähmten: Idi sage dir, steh auf, nimm deine Trage und geh nach Hause! Da stand er auf und ging sogleich mit seiner Trage fort, vor aller Augen. Und es entsetzten sich alle, priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen. Bei der Wiedergabe des Textes sind einige spätere Ausschmückungen des ursprünglichen Berichts gestrichen. Außerdem ist ein Übersetzungsfehler unseres griechischen Markus berichtigt worden. Die ursprüngliche aramäische Erzählung weiß nichts von einem Durchgraben des Flachdachs. Sie stellt sich Jesus auf der Türschwelle mit gekreuzten Beinen sitzend vor. Auf dem großen freien Platz vor dem Hause des Landstädtchens, der der Aufstellung von Arbeitsgeräten und dergleichen dient, ist die Menge versammelt und bildet um Jesus einen dichtgedrängten Halbkreis. Die Träger mit der Bahre gelangen über die seitlich angebrachte Außenstiege aufs Flachdach und lassen die Bahre an Tüchern auf den Platz vor der Schwelle, den die Hörer frei gelassen haben, hinunter. Der an10
Markus 2, 1-12 schauliche Beridit trägt Lokalkolorit und gibt uns ein genaues Bild des Hauses des Petrus in Kapernaum, das Jesus in der kurzen Zeit seiner galiläischen Predigt als Rückhalt diente. Ich halte den Beridit des Geschehnisses für unmittelbar auf Petrus zurückgehend. Der Versuch der formgeschichtlidien Forschung, ihn für späte aus zwei Stüdcen zusammengeschobene Gemeindetheologie zu erklären, ist absurd. Die Gesdiidite gehört der ersten Zeit der galiläisdien Wirksamkeit Jesu an. Bei seinem ersten öffentlichen Auftreten war Jesus, weil er die Schwiegermutter des Petrus heilte, von heilungsgierigen Kranken überlaufen worden. Er hatte sich nachts aus dem Ort in die Einsamkeit geflüchtet. Trotz Bitten der ihn findenden Jünger war er nicht in den Ort zurückgegangen, sondern hatte die erste größere Predigtwanderung unternommen. Nun kehrt er nach Kapernaum zurück und versucht es, von der Schwelle des Hauses aus die in großer Zahl Herbeiströmenden zu lehren. Aber seine Heilgabe ist nicht vergessen. Auf die anschaulidi geschilderte Weise gelingt es den Angehörigen eines Gelähmten, mitten in seine Predigt hinein vom Fladidache her die Trage mit dem Kranken dicht vor der Schwelle zu Jesu Füßen niederzulassen. In Jesus entsteht deutlidi ein Zwiespalt. Wie oft in seinem kurzen öffentlichen Leben ist er einfach wehrlosen Herzens dem unendlich verlangenden Zutrauen gegenüber, das ihm hier von dem Kranken und seinen Trägern - entgegengebracht wird. Aber es graut ihm vor der Wiederholung jenes Ansturms von Heilungsgierigen, der ihn aus Kapernaum vertrieben hat. Prediger des Evangeliums ist er, und als solcher spricht er nun zu dem Kranken, dem er doch eine Liebe tun will: „Dir sind deine Sünden vergeben." Er sagt nicht, daß er selbst sie jetzt vergibt. Er sagt, daß sie bei Gott vergeben sind. Den Sinn des Ausspruchs versteht man, wenn man an das Budi Hiob denkt und sich der Reden der Freunde Hiobs erinnert. Diese halten nadi der Logik des alttestamentlich-jüdischen Vergeltungsglaubens, der auch im Psalter tiefe Spuren seiner wahnhaften Vorstellungen von Gott zurückgelassen hat, Krankheit für eine Strafe, die der Allmächtige wegen schwerer Sünde verhängt. Bei einem völlig Gelähmten müssen die Sünden, auf welche die fromme Betrachtung die Krankheit zurückführt, 11
Sündenvergebung und Krankenheilung
überaus groß sein. Diesem Wahn stellt sich Jesus entgegen. In Vollmacht seines Glaubens an die göttliche Vaterliebe, die er mit dem Evangelium predigt, sagt er dem Gelähmten, daß er kein von Gott Verfemter und Gezeichneter sei. Die Liebe des Ewigen, welche sidi aller Menschen ohne Unterschied annimmt und ihnen allen ohne Unterschied das Reich auftut, ist ihm ebenso nahe wie jedem andern. Der Kranke darf sich innerlich mit allen als gleich geliebt von Gott, als gleich vom ewigen Erbarmen angenommen wissen. D. h. Jesus gibt dem Kranken, soweit es auf ihn ankommt, die Ehre vor der Gemeinde wieder. E r tut nicht das, was der Kranke und seine Träger begehren. Er gibt in seinem Sinne etwas weit Größeres, und indem er es tut, predigt er allen, die da um ihn stehen, das Evangelium von dem Gott, der den Sünder zu seinem Kinde begehrt. Eben damit aber, daß er dies tut, daß er die Antithese des Evangeliums gegen den vom Vergeltungsglauben getragenen Gesetzesdienst sichtbar macht, beginnt - man darf wohl sagen, gleich beim ersten Schritt auf seinem ihm eigentümlichen Wege - die Störung des Verhältnisses zu den Leuten von Kapernaum. Die göttliche Sündenvergebung preisen, wenn man in seinem Stand sichtbar gesegnet vor andern steht, dies kommt jedem Frommen des alten Bundes zu. Aber wenn man selbst gezeichnet ist durch die rächende Hand des Allmächtigen, dann von sich selbst - oder auch wenn man vor einem andern so Gezeichneten steht, von diesem - zu behaupten, daß die Sünden vergeben seien, das heißt dem Gott ins Angesicht widersprechen, der sein Urteil über den Fall durch die schwere Züchtigung sichtbar bekundet hat. Dergleichen ist lästerlich, gottlos. Wo Gott die Strafe hingelegt hat, da muß er selber durch Aufheben der Strafe bekunden, daß er vergeben hat. Jesus hat etwas gesagt, was Ärgernis erregen muß. Finster schweigend, mit entsetzten Gesichtern, stehn die Leute da. Auch der Kranke und seine Träger sind entsetzt, nicht etwa bloß enttäuscht. J a , hätte Jesus wortlos geheilt, so hätte der nunmehr Genesene Psalm 32 beten und am nächsten Synagogengottesdienst die empfangene sündenvergebende Gnade des Allmächtigen preisen dürfen. Dadurch, daß er ihm den Wunderheiler schickte, hätte der Allmächige seine wiederkehrende Gnade dem Kranken gegenüber dargetan. So aber: was denken sie? Wahrscheinlich hat Jesus nicht heilen können, 12
Markus 2, 1-12 weil der Krankheitsdämon, den Gott dem Gelähmten geschickt hatte zur Strafe, viel zu mächtig war für seine Kraft. Und das wagt er nun zuzudecken durch seine lästerliche, gottlose Rede. Jesus sieht die Gesichter, errät die Gedanken, und Letzteres ist in dieser Lage wohl kaum eine große Kunst. Er spricht vor ihnen offen aus, was sie denken. Er wirft ihnen - in Gestalt der Frage, was leichter sei - den Vorwurf vor die Füße, den sie ihm machen: daß er, Lästerung nicht scheuend, mit einem leicht hingeworfenen Wort sich dreist aus der Sache gezogen habe, weil ihm das gute, das ernste, das heilende Wort zu schwer gewesen sei. Und dann spricht er das Wort, welches die Krankheit wegnimmt. Er spricht es harsch, mit schroffstem Befehl, und das ist nicht bloß therapeutisches Kunstmittel. Er schickt den Kranken fort. Fast meint man, er möchte ihn nicht mehr sehen. Und nun sehen wir den Kranken ohne Dank davongehen und hören die Ausrufe der Leute vor dem Hause. Sie sind verblüfft: dergleichen unerhörte Wunderheilung hatten sie noch nicht gesehen. Aber sie sind auch erschrocken. Daß sie Gott preisen, ist eher Abwehr, ähnlich wie das katholische sich Bekreuzen, und keine Anerkennung Jesu als Gottesmann. Diese Heilung, nachdem vorher ein lästerliches Wort gesprochen war, hat etwas Unheimliches. In dem folgenden Kapitel wird erzählt, daß die aus Jerusalem bestellten Sachverständigen Jesus für einen mit dem Teufel im Bunde stehenden Mann erklären, der seine Heilungswunder mit Hilfe von Satans Obergewalt über die Krankheitsdämonen vollbringe. Wie konnten die jerusalemischen Sachverständigen mit dieser tückischen Anklage Glauben finden? Woher kamen denn überhaupt die Bedenklichkeiten gegen Jesus? Diese Geschichte erklärt es. Sie legt den ersten Keim des Unheils bloß. Läßt man die Geschichte in dieser Schlichtheit, die auf alle später eingetragenen Überdeutungen verzichtet, stehen, so hebt sich für die gegenwärtige Beziehung auf uns von selbst das Entscheidende heraus. Jesus vollbringt hier ein Heilungswunder mit fast erregter Kraft und Leidenschaft und erreicht dennoch nicht die erhoffte oder erwartete Überführung von seinem Recht im Kampfe für das Evangelium und wider den gesetzhaften Vergeltungsglauben. Man möchte zunächst sagen, 13
Sündenvergebung und Krankenheilung es sei Menschenlos, mit den größten Taten nichts zu erreichen, wo man einer tief eingewurzelten Vorstellung, sonderlich einer solchen geistig-religiöser Art, widerspricht. Vorurteil und fromme Gewohnheit weichen auch den stärksten und außerordentlichsten Eindrücken nicht. Sie verlangen danach, innerlich, rein aus der Wahrheit und Heiligkeit des sich ihnen entgegenstellenden Neuen überwunden zu werden. Die äußeren Eindrücke erzeugen nur Verblüffung, Scheu, Verwunderung, keine Wandlung des Sinns. Jedoch nur bei durchgeistigter Frömmigkeit gilt es, daß ihr aus den äußeren Wirkungen keinerlei herzengewinnende Kraft zuwächst. Es ist die Probe auf die Reinheit und Heiligkeit des Evangeliums vom Gottesreich, daß sein Streit mit der niederen gesetzhaften Frömmigkeit des alten Bundes sich durch die außerordentliche, den Bereich des Wahrscheinlichen fast schon überschreitende magnetische Heilgabe Jesu lediglich verschärft hat. Diese hat gerade die Gegenwehr gegen ihn bis zum Entschluß, ihn zu vernichten, aufgepeitscht, ohne die Hüter des Alten innerlich zu erschüttern. Außerchristliche Religionen zeigen ein anderes Bild. Sie bedürfen des Zeugnisses von glänzenden, das Göttliche scheinbar zweifellos bekundendenWundergeschehnissen. So stützt z. B. die israelitische Bundesreligion ihre den Gläubigen fast erdrükkende Autorität auf die angeblichen Wunder des Durchzugs durchs rote Meer und der durch Mose vermittelten Gesetzgebung vom Sinai. Die Stifter aller vorchristlichen Religionen sind umkleidet von dem Märchenschimmer außerordentlicher Taten und Begebnisse. Dem Evangelium hingegen ist es wesentlich, was hier in der richtig verstandenen Geschichte vom Gelähmten sichtbar wird. Das im äußerlichen Sinne Außerordentliche nimmt seine Unkenntlichkeit für den am Irdischen haftenden Sinn nicht hinweg, sondern legt höchstens den Schimmer der Unheimlichkeit um die tiefe herzverwandelnde Wahrheit, die dem Evangelium und seinem Bringer und Träger die Hoheit des Ewigen und Göttlichen gibt. So gewinnt es lediglich durch die kühle Wahrhaftigkeit, welche den zum Teil an den evangelischen Berichten hängenden religionsgeschichtlichen Wust abstreift. Ein noch tieferer Ausdruck des Evangeliums ist es, daß Jesus die seine Sohnschaft begleitende magnetische Heilgabe 14
Markus z,
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eher als Leid, als eine ihm vom Vater auferlegte Plage denn als Vollmacht empfunden hat. Dem entspricht es, daß ihm hier in unsrer Geschichte sein Versuch, sie wenigstens mittelbar als Zeugnis für die Sündenvergebung des Evangeliums zu brauchen, fehlgeschlagen ist. Den Glauben ans Evangelium weckt Gott in den Empfänglichen auf andern Wegen. Das Empfinden inwendiger Herzensnot ist dem Evangelium näher als das Erfahren äußerer Hilfe. Den klarsten Ausdruck für diesen Zusammenhang der Dinge hat das vierte Evangelium gefunden. Es läßt, als Werk eines selbst vom mythischen Denken nicht ganz frei gewordenen Mannes Jesus zum Zeichen seiner Hoheit die Auferweckung des Lazarus unter unerhört phantastischen Begleitumständen vollziehen. Es malt dann aber unbarmherzig, wie gerade diese Tat den Hohenrat zu dem Entschluß bewegt, Jesus zu vernichten. Wenn einer gegen den Gott des Gesetzes mit solchen Zeichen zeugt, dann muß er aus der Welt geschafft werden zur Ehre Gottes. Damit beweist man dann, daß der alte Gott vom Sinai doch noch die stärkere Macht hat, und rettet das Volk vor verderblichem Unglauben. Die herzüberwindende Gewalt des Evangeliums geht diesem Evangelisten nicht von den Wunderzeidien aus. Als einer, der im Verborgenen aus der Wahrheit ist und darum Empfänglichkeit besitzt, sieht der gläubig Werdende Jesus und gewahrt die Gnade und Wahrheit Gottes in seiner Person. Dies hängt nun über unserm eigenen Christenstand ein blitzendes zweischneidiges Schwert auf, welches allem Biederen, Tüchtigen, Rechnenden, Gesetzhaften in unserm Gottesverhältnis mit der Unbarmherzigkeit einer das Höchste fordernden Liebe den Tod ansagt. Es fällt dem Herzen auch des reflektiertesten und durchgeistigtsten, alles Niedere verachtenden Menschen bitter schwer zu glauben, wo er nicht Zeichen und Wunder sieht. Einfacher Sinn pflegt sich auch heute noch fragend und verlangend auf überraschendende Wenden des Geschicks zu richten, die er als Gebetserhörungen, gnädige Bewahrungen und Fügungen deuten kann. Psalter und Gesangbuch bieten ihm auch hinreichend die Bilder und Wendungen dar, mit denen er sich auf solche Weise erbauen kann. Er lernt es sogar, sich mit einer fast rührenden Bescheidenheit an kleinen Tröstungen dieser Art genügen zu lassen und mit deren 15
Sündenvergebung und Krankenheilung Hilfe manchmal ein unglaublich hartes und enttäuschungsreiches Leben in Geduld zu ertragen. Stolzerer und reicherer Sinn schaut mehr aus nach dem Segen seiner Arbeit im Zusammenhang des Daseins, nach dem Erreichen schöner Ziele und Wirkungen. Er ist sich bewußt, daß audi dem fleißigsten Arbeiten, dem angespanntesten Schaffen, der planvollsten Überlegung aus dem unübersehbaren Daseinsgeflecht Gefahr, unter Umständen gar Gefahr des Scheiterns, droht. Das führt ihn dahin, in dem dennoch sich einstellenden Gelingen oder doch Teilgelingen die Gnade und Bestätigung Gottes zu erblicken, der doch vermutlich die günstigen Winde und Strömungen geschickt hat. Auf solchen und manchen andern Wegen tritt bei uns leicht der Rückschluß ein von empfangenen unmittelbaren oder mittelbaren Zeichen und Fügungen auf die Wohlgefälligkeit unsrer Person und ihres Tuns bei dem ewigen Gott. Mindestens aber sind wir geneigt, beim Scheitern oder Bedrängtwerden andrer den umgekehrten Rückschluß zu tun auf verborgene oder offenbare Mißfälligkeit ihres Glaubens, Denkens, Wollens, Handelns bei Gott. Von dem durch Jesus und sein Evangelium verneinten gesetzhaften Vorsehungs- und Vergeltungsglauben unterscheidet sich diese Frömmigkeitspraxis lediglich durch ihren Mangel an Leidenschaft und Folgerichtigkeit. Sie ist meistens bereit zu halben Zugeständnissen an die Undurchdringlichkeit der göttlichen Wege. Alle diese unter uns im Schwange gehenden frommen oder halbfrommen Schwächlichkeiten passen schlecht zum Glauben an Jesus. Er ist von den Dienern einer auf sichtbare Gnade schauenden religiösen Gesetzlichkeit im Bunde mit einer auf den allgemeinen Frieden und den Bestand des Ganzen gerichteten politischen Gesetzesordnung ans Kreuz gebracht worden. Wer dem Gott des Evangeliums sich ernsthaft im Glauben übergeben will, er muß in zwiefacher Rücksicht mit einer fast widersinnig wirkenden Unkenntlichkeit und Verborgenheit der göttlichen Liebe und Gnade sich zurecht finden. Einmal, unsre Erfahrung von der unter dem Gesetz des Daseins stehenden Weltwirklichkeit führt uns lediglich zur Vorstellung eines allgewaltigen verborgenen Ursprungswillens, der unter der vielgestaltigen Hülle von Ordnungen, Ideen und Schicksalswendungen alles Geschehen um uns und in uns bestimmt. Sie lehrt uns schlechterdings nichts über Art, Wesen 16
Markus 2, 1-12 und Zweck oder Ziel jenes Ursprungswillens. Alle Zeichen und Winke über ein Verhältnis dieser geheimnisreichen Macht zum Menschengeschlecht oder gar zum einzelnen Menschen sind dunkel und vieldeutig. Die sonderbarste Aussage angesichts der Rätselhaftigkeit des Geschehens in Kosmos, Menschheitsgeschichte und Geschichte der einzelnen Menschen scheint die zu sein, daß der unenthüllte Ursprung und Herr aller Dinge — der Allmächtige, wie die Frommen ihn nennen — eine allgegenwärtige väterliche Liebe sei, welche als Ruf zu Wahrheit, Freiheit, Reinheit und Liebe in unserm Herzen spreche und die sie vernehmenden und ihr stille haltenden Seelen durch den Tod zur persönlichen Gemeinschaft mit ihr und untereinander vollenden werde. Eben diese sonderbarste aller Aussagen aber wird durch das Evangelium getan. Wenn uns Jesus von Nazareth Bote und Sohn dieser ewigen göttlichen Liebe, und damit Deuter des Rufs in unsern Herzen und Gewissen wird, so glauben wir an diese Wunderrede und wissen uns als Kinder des Allerhöchsten. Es widerspricht dem Wesen solchen Glaubens, durch irgendwelche Zeichen in diesem Erdenleben, die greifbarer Art sind, von der Wahrheit des von uns ergriffenen ewigen Geheimnisses überführt werden zu wollen. Ebenso wie Jesus im Gehorsam gegen den Rätselwillen seines Vaters den Weg zum Kreuze gegangen ist, soll unser Glaube ans Evangelium zeichenlos durch die Rätsel des allgemeinen wie unsers persönlichen Daseinsgeschehens hindurch, dem ewigen uns verheißenen Ziele entgegengehen. Die verborgene Gegenwart der göttlichen Liebe, welche dem Herzen den Mut und den Frieden gibt, ist ihm Zeichen genug. Sodann, man kann freilich dieses Glaubens nicht leben, ohne daß der Seele der Mut erwacht, an einen uns nicht durchschaubaren Zusammenhang des doch von Gott stammenden irdischen Geschehens mit dem ewigen Ziele zu glauben. So wird man denn alle guten Kräfte der vernünftigen menschlichen Kreatur zuhilfe nehmen, und das endlich Gute zu vollbringen trachten, auf daß es ein Vehikel des ewig Guten werde. Der Glaube ans Evangelium macht das Herz in Liebe weit und reich, bereitet es zu Hingabe und Dienst, wo nur immer Hingabe und Dienst nach dem gegebnen irdischen Verständnis tieferem menschlichen Leben Möglichkeit und Stätte bereiten können. Dies alles mag uns auch, wenn wir Anfechtung im Glauben ans Evange17
Sündenvergebung und Krankenheilung lium erleiden, Trost und Hilfe werden, so daß wir uns wieder zurechtfinden. Dennoch, niemals kann uns aus solchem Segen ein Beweis für die Wahrheit unsers Glaubens erwachsen. Wir wissen zuletzt nicht, wie der Allmächtige, den wir in Jesus Christus als Liebe kennen, unser Tun und Treiben hineinwebt in den großen Zusammenhang seines Weltplans. Jesus und mancher seiner Jünger hat sein Segenswerk getan, indem er von den Mächten dieser Welt um seines Tiefsten und Wahrsten willen zerscheitert wurde. Wenn der Ewige auch uns Kleineren manchmal den Segen schenkt, daß wir als Boten und Diener seiner Liebe Gutes wirken und einiges vom Aufgehen der von uns gesäten Saat gewahren dürfen: eine Regel, eine Gewißheit darüber gibt es nicht. Wir sehen darum auch oft genug, wie die dem Evangelium sich nicht Erschließenden aus ihrer Grundhaltung heraus uns sowohl die Wirkenskraft wie die Ohnmacht, je nach Belieben so oder so, zum Beweisstück gegen das Evangelium verkehren. Schaffen wir Gutes, so sind wir Weltkinder gleich ihnen, nur unter falscher Maske. Scheitern wir, so sind wir Narren, die ihr verdientes Teil empfangen. Unheimlich aber können wir ihnen in beiden Fällen werden. Entweder verstehen wir ungeschädigt und unerkannt die Dämonien des Lebens uns zunutze zu machen, oder aber, das Unbeugsame und Unbeirrbare in uns erregt Verwunderung und Grauen. Wenn dem aber so ist, schwebt dann nicht unser Glaube an die Wahrheit des Evangeliums reinweg in der Luft? Was bürgt uns dafür, daß wirklich uns die Sünden beim Vater vergeben sind, daß Jesus wirklich der uns vollmächtig Gottes Ewigkeit aufschließende Herr und Bruder ist? Paulus hat in seinen Briefen auf diese Fragen zwei Antworten. Die eine erinnert uns daran, daß der göttliche Geist in uns unserm Geiste das Zeugnis gibt, daß wir Gottes Kinder sind, indem er uns das„Abba", d. h. Jesu Gebetsanrede an seinen himmlischen Vater, sprechen lehrt. Die andre hat er innerlich vernommen, als er Gott um Befreiung von der rätselhaften anfechtungsschweren Plage bat, mit der ihn seine Damaskuserscheinung versehrt hatte: „Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Hier wie dort wird uns gezeigt, daß die Gnade des Evangeliums, die uns aus Jesu Person, Wort und Geschichte ins Herz strahlt, trotz aller unsrer Schwachheit und Not, trotz allen uns umringenden Rätseln des Lebens ein Licht 18
Markus 2, 1-12 Wo das Wort Jesu „Dir sind deine Sünden vergeben" zu einem vom Schicksal Gelähmten oder Zersdiändeten oder auch zu einem bloß Schwermütigen kommt, da steht das Herz in der Krise. Wird in ihm der Glaube entriegelt, so wird es frei und froh in der verborgenen Liebe Gottes, auch wenn die Lähmung, die Schwermut nicht weichen, frei und froh im Erahnen der ewigen göttlichen Liebe. Wird jedoch dieser Glaube nicht entriegelt, bleibt also das Herz unter dem Bann der irdischen Daseinsgewalten, so, ja so hilft auch eine Wunderheilung heute vielleicht eine Wunderpille - ihm gar nichts. Der törichte alte Mensch nimmt die durch solch eine glückliche Wendung geschenkte neue Kraft, sich zu regen und zu bewegen, lediglich als eine Möglichkeit, um auf seinen eigenen Beinen aus dem Bereich, da die Wunderstimme des Evangeliums tönt, sich eilends zu entfernen und sich in seinem alten dumpfigen und engen irdischen Zuhause zu verkriechen.
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DIE SAAT DES
GOTTESREICHS
Mark. 4, 2 6 - 2 9 Und er lehrte sie lange auf Gleidinisweise, und spradi: Es ist mit dem Reich Gottes so, wie wenn ein Mensch den Samen aufs Land wirft, und sdiläft und aufsteht, wie Nadit und Tag das bringen, und der Same sproßt und streckt sich, er weiß es nicht wie: von selber trägt die Erde die Frucht: zuerst das Hainichen, dann die Ähre, dann der volle Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht soweit ist, dann sendet er gleich die Sichel, denn die Ernte ist da.
Diese erste und früheste Gleichniserzählung Jesu hat in ihrer unscheinbaren Schlichtheit etwas Geheimnisvolles an sich. Es mag wohl sein, daß in ihr auch eine tiefe andächtige Verwunderung Jesu mitschwingt über das Keimen, Wachsen, Blühen und Reifen der Gräser und Blumen. Auch andre Worte von ihm zeigen, daß er dies vielen so Selbstverständliche gar nicht selbstverständlich gefunden, sondern darinnen die Güte und Fürsorge des himmlischen Vaters erahnt hat, die allen Geschöpfen das ihnen innerhalb der Grenzen ihres Lebens Nötige gewährt. Aber diese im natürlichen Werden und Geschehen heimlich waltende Güte wird uns in der Gleichniserzählung wieder Bild und Gleichnis der weit höheren, weit geheimnisreicheren Liebe, mit welcher der himmlische Vater das Wunder des Gottesreichs in uns hineinsäen und dem großen Erntetag entgegenwachsen und -reifen läßt. Die Spannweite, mit der hier auf höchst eigentümliche, durch die überlieferte religiöse Bildersprache keineswegs bestimmte Weise das Alltäglichste und Unscheinbarste zum Sinnbild des Wunders aller Wunder gemacht wird, ist den Jüngern und den Gliedern der ersten Christenheit Anlaß geworden zu mancherlei ausdeutenden Eintragungen und mancherlei Erklärungen. Das Gleichnis ist die Mutter vieler Jesus in den Mund gelegter Gleichnisse geworden. So sind das Gleichnis vom Sämann oder viererlei Acker und das vom Unkraut unter dem Weizen Weiterbildungen, für die man wohl die Lehrer der ersten christ20
Mark. 4, 26-29 liehen Generationen als Urheber vermuten darf. Doch dem sei wie es wolle: wir müssen versuchen, Jesu erste Gleidhniserzählung rein aus sich zu verstehen, ganz auf unsre eigene Verantwortung und Gefahr. Wo ist das Gleichnis gesprochen? Jesus ist zu Kapernaum in ein großes Fischerboot gestiegen, hat sich von den Jüngern ein paar Ruderschläge weit hinausfahren lassen und lehrt nun über eine geringe Entfernung hin das sich am Ufer drängende Volk. Es ist wie eine halbe Flucht. Er lehrt den Tag über und fährt dann, als das Volk nicht wankt und weicht, vermutlich, um ihn beim Betreten des Landes wieder als Heiler zu plagen, am Abend über den See ans andre Ufer. Durch die ganze Szene zittert eine heimliche Spannung. Die pharisäischen Führer im Lande haben sidi schon gegen den Freund der Zöllner und Sünder erklärt, der es mit dem Sabbath und den Reinheitsvorschriften nicht so genau nimmt, und die aus Jerusalem hergeholten Autoritäten haben die Anklage auf Teufelsbündnis wider ihn erhoben. Auch munkelt man von einem nicht eben freundlichen Aufmerken des Landesherrn, des Herodes von Galiläa. Jesus fühlt, daß eine schwere Krise im Anzüge ist. Wie lange wird er das Volk von Galiläa noch lehren? Und ist aus der Saat des Worts vom Gottesreich überhaupt etwas aufgegangen? Aber noch lehrt er, nur erst durch einen schmalen Streifen Wassers von ihnen geschieden, die Leute vom Geheimnis des Gottesreichs. Seltsam nimmt sich das Gleichnis, das er erzählt, in dieser Lage aus. Es will doch anscheinend alles sagen, alles in einem einzigen Bilde zusammenfassen, und es geht so sanft und unscheinbar daher. Wahrlich, man versteht die Wendung: »Wer Ohren hat zu hören, der höre." Aber wer hat solche Ohren? Die Jünger sind, wie am Abend im Sturm sich erweist, kleingläubig. Und die Leute am Ufer, was verstehen sie? Was kommt von dem in ihren Sinn gesäten Wort zum Keimen und Fruchtbringen? Niemand weiß es, und Jesus ahnt Schweres. Ich versuche die Gleichniserzählung zunächst so zu hören, wie sie in den Ohren eines der verwunderten und fast enttäuschten Hörer am Seeufer anklingt. Da ist ja, mußte er denken, überhaupt nicht die Rede vom Kommen des Gottesreichs. In den Büchern der Propheten, vor allem des Daniel, und in 21
Die Saat des Gottesreidies den Bilderreden des Henoch und der andern apokalyptischen Schriften sind viele, teils schreckliche teils wunderbare, Dinge erzählt, die dem Kommen des Gottesreichs unmittelbar vorausgehen und es dann begleiten. Von alledem sagt der Mann im Boote nichts. Er hält oder weiß also nichts davon. Es ist so still, so unfaßlich, so ins Unsichtbare sich verlierend, was er da vom Gottesreich erzählt. Das ist eine höchst ärgerliche und befremdende Rede. Aber . . . unleugbar, er meint sie ernst, heilig ernst. Die hingemalte Antithetik, die Verneinung aller Bilder und Vorstellungen der alttestamentlich-jüdischen Hoffnung, sie mußte sich den Hörern Jesu ins Herz bohren. Also ist sie von ihm gewollt. Jesus spricht in bewußtem Gegensatz wider das, was die Erwartenden in Galiläa sich unter dem Naheherbeigekommensein des Reiches Gottes denken. Er sagt ihnen, daß sein Säen des Worts des Evangeliums in die Gemüter der ihn Hörenden der Weg ist, auf dem der Vater im Himmel das Gottesreich zu den Menschen kommen läßt. Er hat sich mit seiner Predigt des Evangeliums als den von Gott bestellten und entsandten Sämann des Gottesreichs gewußt. Wie er es in seiner Antwort an den Täufer sagt: damit, daß den Armen das Evangelium gepredigt wird, bekommt die den Bußruf des Täufers tragende Erwartung ihre Erfüllung. Herb und klar drückt, von diesem Einsatz her verstanden, die Gleichniserzählung es aus, daß irgend etwas andres, Besonderes, das Kommen des Reiches Gottes Erwirkendes nicht erwartet zu werden braucht. Der gesäte Same des Worts braucht seine natürliche Zeit, um in den Seelen der Hörer zu keimen, zu blühen, zu reifen, Frucht zu tragen. Dies alles aber ist nicht mehr seine, des Sämanns, Sache. Es geschieht in der Stille, ganz so wie alle Saat ohne Zutun des Bauern dem Erntetag entgegenwächst. Eines Tags aber ist es so weit. Die Ernte beginnt. Die Schnitterengel mähen und sammeln ein, und die, in deren Herzen inwendig das Gottesreich gewachsen ist, werden heimgeholt in Gottes ewige Scheuern. Die gegebene Deutung stimmt zu allen andern echten Reden Jesu vom letzten großen Tage. Dieser bringt nicht eigentlich das Gottesreich. Er macht es nur offenbar in den Herzen derer, in denen es gewachsen ist. Das Kommen des Reiches Gottes ist ein geistiges Geschehen. Der Glaube im Herzen ist es, der aus 22
Mark. 4, 26-29 des geistgetragenen Wortes K r a f t uns dem ewigen Leben entgegenführt. Nur eines muß noch hinzukommen: daß Gott die Sichel des Todes sendet und die Garben einsammeln läßt. Klopstock hat auf den Grabstein seiner Lieben, mit denen er im Glauben verbunden war, das Wort schreiben lassen: „Saat von Gott gesät, dem Tag der Garben zu reifen". Die Schlichtheit und Unmittelbarkeit dieser Worte ist dem Gleichnis Jesu sehr nahe. Haben wir nun Jesu Gleichniserzählung schon ganz verstanden? Nein. Sie hat noch eine andre, eine noch tiefer geheimnisvolle, noch verborgenere Seite. Ihr nähern wir uns, wenn wir jetzt nicht mehr vom Hörer her in sie hineinzublicken versuchen, sondern von ihm her, der sie erzählt. Wir haben gesehen: Jesus steht damals schon am Anfang der Krise, die seiner galiläischen Wirksamkeit ein Ende setzen sollte. Er sitzt schon im Boot, um sich am Abend den Galiläern, für eine kurze Frist wenigstens, ganz zu entziehen. Wenn er von dem vergeblichen Unternehmen, drüben im Heidenlande ebenfalls das Evangelium zu verkünden, nach Kapernaum zurückfahren wird, stehn schwere dunkle Entscheidungsfragen vor ihm. Sie lösen sich dann später, indem er in Gehorsam gegen des Vaters Willen den Todeszug gen Jerusalem unternimmt. Irgendwie schwelt dieses alles schon in seiner Seele, vielleicht noch mit einer inneren Ratlosigkeit, welche des Vaters Willen noch nicht bis zuende gedeutet hat. In dieser Lage erzählt er nun das Gleichnis von der Saat des Gottesreiches. Was braucht er zu bangen, weil der Same des Worts kaum einige schwache Hälmchen des Glaubens an den himmlischen Vater trägt, weil alles andre an ihm, dem Träger des Evangeliums, den Menschen wichtiger zu sein scheint als das Wort des Evangeliums selbst? Es geht alles seinen vorbestimmten richtigen Gang, und zu seiner Zeit wird der Erntetag offenbar machen, daß Gottes Reich da aus der Saat gewachsen ist, wo der Vater es bestimmt hat. Er, Jesus, braucht nichts zu tun als weiter die Saat zu streuen, weiter das Evangelium zu verkünden wider allen falschen Wahn. Das andre ist Gottes geheimes Walten, ist das Wirken der Gotteskraft, die im Samen des Worts liegt. Nun bedenke man, welche Mächte da die israelitisch-jüdische Bundesreligion mit ihrem Gesetzesdienst und ihrer ganz 23
Die Saat des Gottesreiches anderen erdhaft-phantastischen Zukunftserwartung aufzubieten vermochte wider ihn, die schwache Stimme des Evangeliums. Es ging nicht bloß darum, daß die politische Gewalt unter der schützenden Oberhoheit des Römertums allenthalben in Palästina sich dem Drängen der kirchlichen Oberen und der Führer der Frommen willfährig erweisen würde und aufgeboten werden konnte zur Vernichtung Jesu. Noch viel eindrucksvoller war die Macht des alten Dienstes über die Gemüter. Wer in gesetzhafter Frömmigkeit mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, das Tun nach Gottes Willen sinnlich sichtbar zu machen, erzogen worden war, den mußte wohl dem Worte Jesu gegenüber das Gefühl des Unheimlidien, der Taumel der Unsicherheit ankommen. Selbst die einfachsten frommen Werke — Almosen, Gebet und Fasten - schienen hier in den Bereich des Ungreifbaren, Unkontrollierbaren zu entschwinden. Das gesetzlos oder genauer das in roher und schlechter Gesetzeserfüllung lebende Volk freilich mochte wohl aufhorchen, wenn einer ihm auf neue Weise Gottes Liebe und Erbarmen verkündete. Aber es teilte mit den kirchlich strengen Frommen alle Begriffe von Gottes Walten. Es vermochte sich ein Reich Gottes, das nicht äußerlich-irdisch Glück und Wohlsein brachte, nicht vorzustellen. Wie konnte Jesus die allgemeine Verendlichung und Veräußerlichung des Gottesglaubens überwinden, wo er doch durch die von ihm ausgehenden Heilungen zwar Anhänglichkeiten an seine Person erweckte, aber das Verkehrte daran doch wiederum auch nährte? Und wie konnte die Verheißung des Gottesreichs Reineres und Höheres wecken, wo sie doch bei den Frommen wie beim Volk des Landes die tollsten grob äußerlichen Erwartungen aufregte? Kurzum, der Herzensacker, auf den das Wort vom Gottesreich von ihm gesät wurde nach seines Vaters Geheiß, war spröde und hart. Und wenn seine Blicke hinübergingen zu der Welt der Heiden, denen ja nach seinem Sinn das Reich Gottes nicht verschlossen war, so sah er dort ähnliche Hemmnisse, nur in gröberer und roherer Gestalt. Dies alles bedenke man, und dann lese man noch einmal die Worte der Gleichniserzählung, welche besagen, daß aus dem Samen des Worts, welches er nach seines Vaters Geheiß auf den Herzensacker sät, untrüglich das Gottesreich wachsen werde. Es ist unfaßlich, welch ein Glaubensmut, welch eine gelassene Hingabe an des Ewigen Rat und Willen, aber auch, welche innere 2
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Mark. 4, 26-29 Gewißheit, als der Gesandte Gottes die Wahrheit Gottes zu verkündigen, in Jesu Herzen lebendig waren. Das ist ganz etwas andres als die Zuversicht, die wir mitunter bei Schwärmern finden. Diese Zuversicht geht auf Blitz und Donner und Erdbeben, auf wunderbare große Wenden in der Geschichte der Reiche und Völker. Der Wunderglaube, den der Prophet Jesaja seinem Könige anmutete, war magisch-phantastisch, war ein Trauen auf Gottes Macht, äußere Kraftwirkungen zu tun. Der Glaube, der aus der Gleichniserzählung von der Saat des Gottesreichs spricht, ist innerlidi, heimlich, ist der Glaube eines, der durch hingebenden Sohnesgehorsam mit seinem Vater im Himmel eines war. Jesus muß das Evangelium vom Gottesreich mit der Anbetung stiller Gottinnigkeit als ein ewiges Eigentum in sich getragen haben. Daher stammt wohl auch die uns bezeugte zauberhafte Gewalt seiner Rede. Es ist Geistesgewalt, Herzensgewalt, nicht Wortgewalt und Leidenschaftsgewalt gewesen. Einen neuen eigenartigen Glanz wirft diese zweite, uns von Jesu Sohnesvertrauen und Sohnesgehorsam kündende Seite, die sich uns am Gleichnis von der Saat des Gottesreichs gezeigt hat, nach rückwärts. Erst jetzt verstehen wir ganz die stille, rein geisthafte, rein auf das im Herzen Geschehende blickende Wundertiefe, die das Kommen des Gottesreichs für ihn hat. Sein Glaube versteht als Gottesreich rein und klar dies Eine: in den Herzen der Menschen, welche durch Äußerlichkeiten, Gesetzesbindungen und -verknechtungen, erdhafte Träumereien verhärtet sind, soll und wird eben die freie, gelassene, auf das Unsichtbare vertrauende, in Liebe und Gehorsam Gott gehörende Tiefe ewigen Lebens wachsen, offenbar werden und sich vollenden, die in ihm selber ist. Paulus und der vierte Evangelist haben dies bis ins Letzte verstanden. Beim vierten Evangelisten formt es sich - unhistorisch und doch dem Kerne nach treu das Geschichtliche wiedergebend - zu dem Satze, daß Jesus sehen den Vater schauen heißt, und daß dies das ewige Leben ist. Die tiefe Ehrfurcht vor Jesus, welche das rechte Verstehen des Gleichnisses von der Saat des Gottesreichs in uns weckt, wird sich zu erproben haben an einer Besinnung über sein Leben und Schicksal im Ganzen. Wie hat sich Jesu im Sohnesgehorsam geborenes Bild vom inwendigen Werden und Wachsen des
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Die Saat des Gottesreiches Gottesreichs ausgedrückt in seiner eigenen Geschichte und in dem, was aus dieser sich geboren hat? Eines ist klar: der große Tag der Ernte, welcher das den Herzen mit dem Wort Jesu sich schenkende Leben offenbart und durch die Sendung der Sichel zum Einführen der Garben führt, ist für uns der Erscheinung nach überzeitlich geworden. Er ist für jeden von uns der Todestag, mit dem wir in die ewige Gleichzeitigkeit von Gottes Wesen und Leben eingehn, um ewig mit Christus beim Vater zu sein. Es wäre uns wohl also möglich und wahrhaft innerlichem Glauben auch angemessen, von allen Stürmen und Wettern der reichen christlichen Geschichte, durch fast zweitausend Jahre bisher, zu sagen, daß sie nichts sind als ein einziges Saatfeld, ein immerdar geschehendes Werden und Wachsen der einzelnen vom Wort gesegneten Herzen in Glaube und Geist. Das Licht der Ewigkeit hat für das Große und das Kleine, das Wesentliche und das Unwesentliche seine eigenen Maßstäbe. N u r Eines scheint sich nicht leicht in die Ordnung vom Werden des Gottesreichs, wie das Gleichnis sie aufstellt, zu fügen: der Tod Jesu am Kreuz unter dem bitteren Streit mit den Führern der jerusalemischen Frommen. Er kann doch nicht einfach unter die Begleitumstände von Sonne, Regen, Wind und Gewitter gestellt werden, die nun einmal zum Werden und Gedeihen der Frucht mit dazu gehören. Er ist für uns die entscheidende Saat des Worts in die Herzen der Menschen geworden. Dies aber, sprengt es nicht das Gleichnis? Allerdings, so mag es für uns heute aussehen. Für uns ist Jesu Gang zum Vater durch den anfechtungsschweren Tod mit seinem Widerstreit gegen das die Herzen knechtende und von Gott scheidende Gesetz die eigentliche Predigt des Evangeliums geworden. Die dramatischen Bilder vom Sterben und Auferstehen des Herrn, die mit ihrer Sinntiefe für uns Träger des Geheimnisses von Schuld und Vergebung, Zorn und Gnade, Gottesferne und Gottesnähe sind, sie sind in der christlichen Predigt und Lehre faßlichere und eindrucksstärkere Träger des in die Herzen sich säenden Evangeliums geworden als die stille Predigt am See und die Uberlieferung der geheimnisdunklen und dabei so einfach scheinenden Worte Jesu. Indes, hätten wohl diese uns gewohnten und in unsern Kirchenliedern zu uns sprechenden Bilder von dem uns vom Fluche des Gesetzes erlösenden Versöhner für uns irgend lebenzeugende, das Herz be26
Mark. 4, 26-29 wegende Kraft, wenn sie uns nicht ein Zugang werden zu dem seinen Erdenweg gehenden Jesus und uns bilden zur Gleichgestalt mit ihm? Führt sich die spätere Gestalt des Zeugnisses vom Evangelium nicht zurück auf die ursprüngliche, auf die Saat des Samens des Worts in den Seelenacker? Die Möglichkeit, diese Frage zu bejahen, erwächst uns aus der Art, wie Jesus selber seinen Tod und dessen Verhältnis zu seiner Predigt des Evangeliums gesehen hat. Ich knüpfe an ein Luk. 13, 31 ff. erhaltenes und selten ganz verstandenes Wort Jesu an. Die pharisäischen Gegner Jesu haben es geschafft, Herodes von Galiläa zum Bundesgenossen in ihrem Kampf gegen Jesus zu gewinnen. Sie teilen ihm dies triumphierend mit und fordern ihn zum Weichen auf. Jesus nennt in seiner Antwort den Herodes von Galiläa einen Fuchs und erklärt, nidit durch diesen, sondern in Jerusalem - man darf interpretieren: durch den großen Löwen in Jerusalem werde er sterben, wie einem Propheten gebühre. Danach bridit er ohne Übereilung mit dem großen Abschiedsmahl die galiläische Wirksamkeit ab, wandert einsam in den heidnischen Grenzgebieten nördlich Palästinas, vereint sidi im Lande des Philippus wieder mit seinen Jüngern, mit nun letzter Klarheit darüber, daß er der von Gott zum Tode durch die Ältesten seines Volks bestimmte Menschensohn sei, und unternimmt, das Gebiet Galiläas unerkannt durchstreifend, den Todeszug nach Jerusalem. Nun heißt „Prophet" im jüdischen Sprachgebrauch ein Träger und Verkünder göttlichen Worts. Es ist die allgemeine, wenn auch nicht erschöpfende Kategorie, unter welcher Jesus sich als der von Gott zum Säen des Gottesreichs durchs Evangelium Bestellte einordnen muß, und die Tatsache, daß Jerusalem einst die alten Propheten verfolgt hat, die es jetzt ehrt und gegen Jesus geltend macht, gibt jenem Wort im Munde Jesu noch einen vertieften Sinn. Es ist also aus dem Munde Jesu selber belegbar, daß er seinen letzten ihm den Tod bringenden Streit in Jerusalem als Vollendung seines vom Vater empfangenen Auftrags, das Wort vom Gottesreich zu säen, verstanden hat. Er hat seinen im Gehorsam gegen den Vater erlittenen Tod als der leidende Menschensohn selber in sein — von ihm prophetisch genanntes - Sämannsamt eingeordnet. Nicht aus einer später entstandenen Verknüpfung, sondern aus seinem eigenen Deuten des Willens des Vaters stammt es, wenn 27
Die Saat des Gottesreiches
wir sein Säen des Worts vom Gottesreich und sein Sterben am Kreuz als ein einziges Tun verstehen. Das vierte Evangelium hat auch hier Jesus recht verstanden, wenn es seinen Weg als menschgewordenes lebendiges Wort und sein Hineingehen in die vom Vater bereitete Stunde aufs Engste zusammenschließt. Man kann diesen inneren Zusammenhang auch denkend klären. Jede Deutung eines menschlichen Gottesverhältnisses gewinnt ihre Bestimmtheit allein vermöge der Entgegensetzung wider eine sie verneinende und von ihr verneinte verkehrte Deutung. Handelt es sich nun nicht um bloße Lehrtümer, sondern wie beim Wort des Evangeliums um Geist und Leben, so wird die Entgegensetzung zum leidensdiaftlidi gelebten Widerstreit zwischen fromm und unfromm, göttlich und gottlos, wahrem und falschem Dienst und Gehorsam. Allein indem der Träger des Worts des Evangeliums diesen Widerstreit frei auf sich nahm und durchlitt bis ins Letzte, vollendete sich seine Saat hinein in die menschliche Lebenswirklichkeit. Dadurch, daß der Heilige Gottes, der Bringer und Träger des Evangeliums von den Trägern und Hütern des Gesetzesdienstes ans Kreuz gebracht wurde, ward er erst wahrhaft zur göttlichen Offenbarung des Evangeliums. So wurde Jesus durch seinen Zug in den Tod als das Mensdi gewordene Wort erst wahrhaft zur Saat des Gottesreichs, in welcher seine Sämanssendung sich vollbracht hat. Und dies hat er inwendig als seines Vaters Willen mit sich und den Menschen ehren lernen. Wer diese Zusammenhänge innerlich schaut, dem wird Jesu Kreuz aus einer Zersprengung des Gleichnisses von der Saat des Gottesreichs zu dessen wunderreich sinntief erfahrener Erfüllung. Um die hier versuchte neue Betrachtung des Gleichnisses von der Saat des Gottesreichs sich in Glaube und Geist aneignen zu können, dazu wird eine einzige innere Bereitschaft erfordert. Wo das Wort des Evangeliums in Glaube und Geist wahrhaft eines Herzens mächtig wird, da fängt es an, dies Herz nach seiner eigenen inneren Art umzubilden. Wie könnte es anders sein, da es doch gelebtes Gottesverhältnis und nicht bloße Lehraussage ist? Was aber muß nun ein solches fruchttragendes, dem Gottesreich innerlich zugewandtes Herz lernen und immer mehr lernen? Dreierlei, soviel mir deucht. Einmal, es muß lernen, daß Gottes Wahrheit nicht mit äußerlichen Gebärden zu den Menschen kommt, sondern mit der allem äußerlichen Sinn 28
Mark. 4, 26-29 sich verbergenden stillen Gottinnigkeit, die nicht aus dem Siditbaren, sondern aus dem Unsichtbaren als dem allein Ewigen lebt. Sodann, es muß den Mut haben, wider alle Mächte der irdischen Wahrscheinlichkeit, in innerer Freiheit dem scheinbar siegreich daherfahrenden Widerspruch gegenüber, den die Welt, auch die Welt der kirchlichen Überlieferung erhebt, dem Vater im Himmel zu trauen und wider allen Schein den Weg des Glaubens durch Widerspruch und Erfolglosigkeit zu gehen. Es muß so trotzig und fest auf die ihm gewordene gegenwärtige Erschließung der göttlichen Liebe und Gnade trauen wie etwa Luther, als er ein wehrloser Mönchsprofessor wider Kaiser, Papst und alle deren Diener und Gesellen zu Worms für die Wahrheit des Evangeliums zeugte. „Ich bin nidit allein, denn mit mir ist die Wahrheit", die verborgene Wahrheit Gottes. Endlich aber, er muß dasjenige Maß an Leiden, das ihm der Ewige verhängen sollte, zu tragen bereit sein, es sei viel oder wenig. Gar manches ist von diesen drei Zügen echter Jüngerschaft Jesu, echten Glaubens ans Evangelium, hineingestrahlt auch in die idealer gesinnte weltliche Menschlichkeit. Zuhause aber ist solch ein Sinn in dieser nicht. Sein Ursprung liegt in denjenigen Herzen, darinnen die Saat des ewigen Gottesreichs wächst. Sollten diese Herzen aussterben, so würde auch die Ausstrahlung ihrer Freiheit und Vollmacht ins allgemeine Menschenwesen verlöschen, und was würde dann aus der Menschheit werden? Aber sie werden nicht aussterben, diese Herzen. Denn noch immer geht, getragen von der Überlieferung seines Wortes und vom Bilde seines Todes, Jesus im Geist als der Sämann durch die Menschenwelt und streut den Samen des Evangeliums.
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DAS R E I N E
HERZ
Matth, j, 8. Selig sind die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Vielen von Jesu Zuhörern aus dem halb gesetzlos lebenden und von den Frommen und Gerechten verachteten Volk des Landes sind Armut, Leid und Hunger vertraute Gäste gewesen, und eben dies hat sie auf die frohe Botschaft vom Gottesreich aufhorchen lassen. Gegen das unmittelbare natürliche Empfinden und gegen das Vorurteil, das in solchen Nöten göttliche Strafen erblickte, hat Jesus diese Plagen des Lebens gepriesen, weil sie ihm Erwecker der Sehnsucht nadi Gott zu sein schienen. Sie waren ihm dies, vor allem dadurch, daß sie ihm tiefe Sinngleichnisse für unser wahres Verhältnis zu Gott darstellten. Vor Gott stehen wir alle als die Unreinen und Bedürftigen mit leeren Händen da. Die Zusammensteller der Bergpredigt haben solche Seligpreisungen Jesu zu einem Gesamtbilde echter dem Evangelium gemäßer Frömmigkeit vereinigen wollen. Es ist echte Treue gegen Jesu Geist, wenn sie dabei durch Zusätze den tieferen Sinn, der ihm vorgeschwebt hatte, deutlich machten. Auch dies kann man verstehen, daß sie das entstehende Ganze durch Anleihen bei einem christlich gedeuteten Psalter abrundeten. Zu diesen Abrundungen gehört nun formell auch die Seligpreisung des reinen Herzens. Sie liest sich, als ob sie aus Psalm 73, 1 und Psalm 17, i j zusammengesetzt wäre. Im Grunde ist es nun gleich, ob man diese Seligpreisung auf ein sonst nicht erhaltenes Wort Jesu zurückführt oder aber für eine freie weiterbildende und abrundende Ergänzung des Wortes Jesu nimmt. Die echten Seligpreisungen Jesu sind von den Zusammenstellern der Bergpredigt so sehr in seinem Geiste gedeutet, daß es unmöglich ist, die mit ihnen eng verbundene Seligpreisung des reinen Herzens streng nach den beiden Psalmstellen, aus denen sie gefügt scheint, auszulegen. Es handelt sich bei jenen beiden Psalmen freilich um sehr vergeistigte Dokumente spätjüdischer Frömmigkeit. Die Rein3°
Matth. 5, 8 heit der Gesinnung und des Gehorsams steht ihnen höher als die kultische Reinheit, auch dann, wenn sie Frömmigkeit und Gehorsam mit treuer genauer Gesetzeserfüllung gemäß den Idealen des Kreises der Frommen gleichsetzen. Ebenso ist ihnen das frohe Bewußtsein einer vertrauten Gemeinschaft mit Gott, das vor allem morgens beim Erwachen über sie kommt, wichtiger als Reichtum und Wohlergehen, die auch den Gottlosen zuteil werden können, wenn auch nur für begrenzte Frist, da ja der Arm des Herrn nicht ruht. Immerhin, auf Zeit haben die Gottlosen Glück und Freude, und manchmal kommt die Rache erst über ihre Kinder. Da trösten sich denn beide Psalmisten der Freundschaft, die sie als Gerechte mit Gott haben. Das ist doch das hödiste Glück, guten Gewissens Gott gleichsam ins Angesicht schauen zu dürfen, ähnlich wie im weltlichen Bereich die vertrauten Hofleute vor dem Fürsten nicht die Augen niederzuschlagen brauchen. Indes, so vornehm, kultiviert und hochstehend die Frömmigkeit der beiden Psalmisten auch sein möge: mit dem Sinn und Geist Jesu, so wie er sich gerade in den richtig gedeuteten Seligpreisungen der Armen, Leidtragenden und Hungernden ausspricht, kommt sie nicht überein. Das reine Herz ist ihnen das sich seiner Frömmigkeit stolz bewußte Herz, und die Zusammensteller der Bergpredigt sind durch jene andern Seligpreisungen hinreichend gegen die Vermutung einiger Gelehrter geschützt, als ob sie es so gemeint hätten. Das reine Herz muß ihnen das Herz sein, welches sich seiner geistlichen Armut, seiner inwendigen Traurigkeit und seines Hungers und Durstes nach wahrer Gerechtigkeit mit Scham und Sehnsucht bewußt ist. Die Verheißung des Gottschauens aber kann einem solchen Herzen gewiß nicht als wohlverdiente Anerkennung seiner Gerechtigkeit und Frömmigkeit durch Gott zuteil werden. Sie muß als überschwengliche, unverdiente, kaum zu glaubende Güte des himmlischen Vaters gemeint sein, die selbst den Zöllner und Sünder in seine volle vertraute Gemeinschaft aufnimmt. Versteht man das Wort aber so, dann wird es ein treuer lauterer Ausdrude des Evangeliums vom Reiche Gottes, welches den Pharisäern und Frommen ebenso wie den Hohenpriestern und Sadduzäern zu schwerem Ärgernis gereicht und sie veranlaßt hat, Jesus als einen Lästerer und Bundbrüchigen aus Israel auszustoßen und der Kreuzigung preiszugeben. Dies also 3i
Das reine Herz ist nach dem Zusammenhang der Seligpreisungen der wahre Sinn des Lobpreises des reinen Herzens, und da wird es unwichtig, ob man meint, das Wort gehe unmittelbar auf Jesus selbst zurück. Aus seinem Sinn und Geist geboren ist es auf jeden Fall. Auch der ihm eigene Widerspruch gegen die kultische Reinheit klingt kraft des Zusammenhangs mit den andern Seligpreisungen in dem Worte an. Was das Wort allein sagen will und sagen kann, das ist nun wohl klar geworden. Eben dieser Sinn jedoch birgt etwas recht Wunderliches in sich. Wie kann man denn das arme und bedürftige Herz, das über sich und seine Erdgebundenheit Leid trägt, das sich nach Gerechtigkeit vor Gott sehnt, aber sie nidit besitzt und auch nicht aus sich zu erwerben vermag, ja wie kann man solch ein Herz rein nennen? Der Ausdruck ist fast noch härter als der Schluß des Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner. Allda wird dem wirklich sündigen Zöllner aus Gnaden die Gerechtigkeit zugesprochen, und umgekehrt wird dem wirklich Mühe und sauren Schweiß an seinen Gottesdienst setzenden Pharisäer, der die Augen zu Gott ebenso zu erheben wagt wie die beiden Psalmendichter, die Gottesferne bescheinigt. Es ist klar: nicht lediglich die synagogale Frömmigkeit des nachexilischen Judentums muß an dem so sich ergebenden Sinn von Herzensreinheit Anstoß nehmen. Auch die Bildungsreligion, sei sie nun geboren aus edelster hellenischer Philosophie oder aus moderner idealer Moralität, wird sich entrüsten. Rücken wir hier nicht einem Pietismus nahe, welcher in ArmeSünder-Frömmigkeit, Bußnot, Verzweiflung, Gnadenerlebnis schwelgt? Kopfschüttelnd fragt man sich: sollte denn wirklich das sich in überschwenglicher Demut vor Gott und den Frommen ergehende Herz das reine genannt werden vom Bringer des Evangeliums? Erfreut sich Gott wirklich gerade an den Herzen, welche ihre Unerfreulichkeiten ausbreiten vor ihm? Luther war ein Mensch von starkem natürlichen Ehrgefühl und ein Hasser aller vor andern Menschen hingebreiteten Demutsreden und Demutsgesten. Er durchschaute die heimliche Selbstgefälligkeit und eitle Schauspielerei, die den unechten Zöllner so sehr unsympatisch erscheinen lassen im Vergleich mit dem echten Pharisäer und auch mit dem hochmütig würdevollen Mann von weltmännischer Bildung. So hat er denn immer wieder gegrübelt über dieser vorerst sonderbar erscheinenden 32
Matth. 5, 8 Herzensreinheit des geistlich Armen, über sich Leid Tragenden und nach Gerechtigkeit und Vollkommenheit ewig Hungernden. Er wollte einsehen, tief innerlich einsehen, in wiefern denn gerade die in jenen drei Seligpreisungen geschilderte menschliche Bedürftigkeit Trägerin der vom Evangelium gemeinten Herzensreinheit sei. An dieser Stelle muß der christliche Glaube sich selbst bis ins Letzte durchsichtig werden und mit einem echten innerlichen J a der Wahrhaftigkeit dem Geist der Seligpreisungen sich ergeben. Sonst schlägt er um in Heuchelei. Rein können wir ein Herz nur dann nennen, wenn das, was es als seine tiefste Gesinnung und Empfindung mit Wahrhaftigkeit bekennt, notwendige Wurzeln hat im Wesen ganzer echter Menschlichkeit. Wir müssen also fragen: gibt es auch in dem gut geratenen Menschen, dem Menschen mit Ehrgefühl, der seinen Stolz den Mitmenschen gegenüber zu wahren weiß und Recht damit hat, gibt es in ihm irgend etwas, das ihn notwendig dahin drängt, sich als arm und bedürftig, als nach dem wahren Leben und der wahren Gerechtigkeit hungernd und sich sehnend zu gestehen im Lichte der ewigen Wahrheit? Es müßte etwas sein, das sowohl den frommen, das Gesetz des Herrn streng befolgenden Pharisäer wie den dem höchsten Ideal nachstrebenden, wider sich selbst unerbittlichen Moralisten als unlauter, sich selbst betrügend überführen kann. Gibt es etwas, das uns hindert, uns unsrer sittlichen Würde und Vollmacht mit Stolz bewußt zu sein und der Meinung zu huldigen, wir könnten uns Gerechtigkeit des inneren Wesens und des zuchtvollen Tuns in gewissem Maße schon verschafft haben und immer noch reiner und besser verschaffen? Es dürfte nicht genügen, tüchtigen und strengen Persönlichkeiten nachzuweisen, daß ihnen zufällig von den vielen in den Grenzen ihrer K r a f t und ihrer Lage immerhin möglichen Vollkommenheiten des Geistes und des Tuns noch dieses oder jenes fehle. Vielleicht kämen sie nach einiger Frist wieder und täten einem dar, daß sie den Defekt durch Selbsterziehung auszugleichen gewußt. Nein, es müßte etwas Hohes und Großes sein, was ihnen fehlt, etwas, das den Menschen erst wahrhaft zum Menschen macht, und dies hätten sie gerade durch ihren strengen frommen oder moralischen Ernst in sich erdrückt. Gibt es das? Gewiß, das gibt es. Wir können uns echtes innerliches Mensch33
Das reine Herz sein nicht denken, ohne vorauszusetzen, daß auf seinem Grunde eine tiefe Ehrfurcht vor dem verborgenen heiligen Geheimnis des Göttlichen und Guten ruht. Menschen ohne solche Ehrfurcht, die erklären, daß ihnen von solch einem unendlich Heiligen und unendlich Verborgenen schlechterdings nichts ahne, sie sind - gesetzt den Fall, daß sie sich nicht selber verleumden - keine wahrhaften Menschen, sondern lediglich psychische Apparaturen in Menschengestalt. Dies gälte auch dann, wenn sie an Verstand, Einbildungskraft, Tatkraft und Leistung etwas Ungewöhnliches und Außerordentliches darstellten. Ein Segen für andre wäre ihre zersetzte und zerfetzte Halbmenschlichkeit auch dann nicht. Möchten solche Verstandeswesen auch noch so kräftig sich zu regen und zu wirken scheinen: es fehlte ihnen der eigentliche Brunnquell alles Geistes- und Seelentums. Vielleicht aber wohnt auch in denen, die sich so verstehen, gleichwohl noch ein letzter Rest von Ehrfurcht und Geheimnis, vielleicht sind sie in einem heimlichen verzweifelten Kampfe wider diesen sie quälenden Rest, in einer Art perpetuierlichen Geistes- oder Seelenselbstmordes begriffen. Manche Erzeugnisse neuerer Literatur sprechen f ü r diese Vermutung, weil allein dieser unaufhörliche Geistes- und Seelenselbstmord ihrem langweiligen Inhalt einen flüchtigen Reiz verleiht. Doch das geht uns hier nichts an. Wir haben allein auf das Geheimnis der Ehrfurcht vor dem verborgenen Heiligen zu blicken. Was wird nun dem widerfahren, den ständig im Wurzelgrund seiner Seele eine Ehrfurcht mahnt an das verborgene heilige Geheimnis in und über allem Lebendigen? Er wird das, was er in der Welt des Verstandes und der Tatsachen ist und wirkt, als klein, begrenzt und bedingt empfinden. Er wird in das Verborgene hineinlausdien, wird ihm sich mit stillem Warten öffnen, um aus dem Geheimnis womöglich zu empfangen, aus ihm zu wachsen, aus ihm reicher und reifer zu werden in seinem Denken und Wagen und Wirken. Er verliert an Eigenherrlichkeit und gewinnt an Bereitschaft, durch Hingabe einem über ihn hinausweisenden Größeren und Höheren zu dienen. Es bedünkt ihn etwas Hohes, endliche Stätte und endliches Werkzeug eines Unendlichen zu werden. Die Menschen aber, in denen das mit Ernst sich vollbringt, sind der Brunnquell alles Wahren, Guten und Schönen für die andern, unter denen sie 34
Matth. j, 8 leben und wirken. Sie sind dies nicht aus sich selbst, sondern aus dem, was sie im ehrfürchtigen Lauschen an Weisheit und Liebe empfangen. Will man ein Beispiel, so denke man an das Bilden und Erziehen junger Menschen. Mit der Erweckung von Verstandeskraft, Willenszucht und Tatsachenkunde bildet und erzieht man noch nicht. Lege man noch so viel Gewidit auf die Selbsttätigkeit des Zöglings, man macht dodi aus ihm nur ein wohlgeformtes Werkzeug der Gesellschaft, das durch das eitle Bewußtsein seines Könnens sich hinwegtröstet über seinen Mangel an Seele und Geist. Nur wer als ein selber vom Verborgenen in Ehrfurcht Ergriffener das heilige Geheimnis des Ewigen ahnt und lebt, wird ganze lebendige Menschen bilden und erziehen. Er ist frei vom Gesetz und macht frei vom Gesetz, ohne daß er oder sein Zögling oder beide Opfer des tötenden, unfruchtbar machenden Eigendünkels werden. Die gemeinsame Ehrfurcht vor dem Heiligen und Verborgenen schafft in diesem wie in jedem andern menschlichen Verhältnis die Liebe und das Vertrauen, die jenseits der Verstandeswelt und ihres Gesetzes binden und verbinden in der Tiefe des Ewigen. Doch je tiefer wir uns in dies unergründliche Geheimnis der Ehrfurcht vor dem Heiligen und Unendlichen versenken, umso deutlicher wird uns auch des persönlichen Lebens Not. Welcher Erdgeborene hält es denn aus, dies ständige mahnende Erahnen des Heiligen und Unendlichen? Ab und an, ja, das ist heilsam und vertiefend. Aber . . . ein bißchen möchte man doch auch in und bei sich in seinem kleinen Selbst sein und sich genügen lassen an seinen gewiß zum Teil unheiligen und überall endlichen Bedürfnissen und Zwecken. Man möchte auch Gefallen finden an sich selbst und darin nur ausnahmsweis gestört werden durch die so überaus unbedingt sich erhebende Gegenwärtigkeit des Ewigen und Unendlichen. Jenen kranken und erstarrten, mumienhaft anmutenden Menschen, die sich der Ehrfurcht vor dem Heiligen und Ewigen ganz zu verschließen trachten, denen möchte man freilich nicht gleich werden. Aber einen gewissen Raum, in dem man sich selbst genug ist und auch andern gegenüber sich selbst zur Geltung bringt, braucht man doch zum Leben, wenn man ein Mensch ist. Und nun brauche ich bloß zu fragen: was ist denn das für ein Herz, das heimlich so fühlt? Ist es nicht, um ein Bild Wolf35
Das reine Herz rams von Eschenbach aufzugreifen, ein elsternfarbenes, ein geschecktes Herz? Jedenfalls, das ist klar: ein reines Herz kann es nicht genannt werden. Ein reines Herz, das ist doch eines, das nur das Eine will, von ganzem Herzen und von ganzem Gemüt. Dies wäre denn unsers Lebens Widerspruch. Das Einzige, dadurch das Herz rein wird, die Hingabe an das im Schauer der Ehrfurcht uns nahe Geheimnis des Ewigen und Unendlichen, vermögen wir nicht ganz zu sein und zu werden. Wir haben Angst davor, unser Selbst daran zu verlieren. Nur auf halbe, unreine, widersprüchliche Weise möchten wir uns mit dem einlassen, das allein rein ist . . . Und also . . . die Seligpreisung des reinen Herzens gewinnt auf einmal einen seltsamen, einen bänglichen Klang. Weil mit ihr etwas Tieferes gemeint ist als der pharisäisch Fromme und der philosophische Moralist meinen, scheint sie sich uns ganz zu entziehen. Pharisäer und Philosoph haben Unrecht mit ihrer Verachtung dessen, was im Zusammenhang der Seligpreisungen mit dem reinen Herzen gemeint ist. Das Tiefste im Menschen, das niederschlagende Gefühl der Ehrfurcht vor dem Heiligen, widerlegt ihren Wahn vom reinen Herzen als flach. Aber es ist schlimm, daß sie Unrecht haben. Denn eben jenes Tiefere, das wahrhaft reine Herz, ist ein Ideal, das uns in Zwiespalt mit uns selber bringt. Ach, und da hilft uns denn nichts, als daß in unsern Gesichtskreis einer tritt, in dem das Wunder geschehen ist, einer, dessen Seele und Geist ganz und gar, alle Tage und Stunden seines Lebens, in der Gegenwart des Ehrfurcht weckenden Heiligen und Unendlichen mit seinem Geheimnis atmete und webte. Ja, und dieser von Ehrfurcht und Heiligkeit ganz Erfüllte, der müßte uns so nahe kommen, so nahe werden, daß er unser Denken und Leben in das seine hineinzieht, unserm Denken und Leben an dem seinen Anteil gibt. Er wäre das reine Herz, welches Gott schaut, d. h. in freier Anbetung ohne Furcht sich von Gottes Liebe und Wahrheit und Heiligkeit umwallt weiß. Indem er uns in sein Geheimnis aufnimmt, würde unser Herz an seines Herzens Reinheit Anteil haben. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß ich von Jesus spreche, aus dessen Sinn und Geist diese Seligpreisung des reinen Herzens geboren ist. Aber . . . was sag ich da? Wirklich von Jesus? Hab ich denn vergessen, daß zur Reinheit des Herzens nach
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Matth. 5, 8 den Seligpreisungen das geistlich arm Sein, das Leid Tragen, das nach Gerechtigkeit Hungern gehört? Nein, daß es nicht allein dazu gehört, sondern eben das Wesen der Herzensreinheit ausmacht, entsprechend dem, daß Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Heiligen, die ihre Grenze spürt, der Urständ der Herzensreinheit ist? Mag sein, daß Ehrfurcht und Liebe Jesus gegenüber in meiner Rede mitschwingen: tut sie aber wirklich seinem Geheimnis genug? Vermenschlidit sie ihn nicht gar zu sehr? Auf solche Bedenklidikeiten hab ich nur eine Antwort, überdies eine kühne. Ich nehme alle die Folgerungen, die da erstaunt ausgesprochen werden können, schlicht auf mich, und ich meine sogar, daß allein so das Geheimnis der Sohnsdiaft Jesu, des Reinen und Sündlosen, richtig geschaut werden kann. Als Jesus auf dem Zuge nach Jerusalem war, um durch den Tod als der vom Vater den Dienern des Gesetzes preisgegebne Menschensohn den ewigen Widerstreit des Gesetzesdienstes wider das Evangelium offenbar zu machen, trat ihm auf judäisdiem Gebiet einer, der von ihm ergriffen war, entgegen und nannte ihn „Guter Meister" (Mark. 10, 17). Jesus aber fuhr den halbherzig Begeisterten an: „Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott." Ein Schuldgefühl im strengeren Sinne konnte in diesem Augenblick schwerlich in ihm mächtig sein. E r war ja ganz dem hingegeben, in leidendem Gehorsam einen anfechtungssdiweren Weg zu gehn, den des Vaters unbegreifliche Liebe ihm wies. Aber arm und bedürftig, rein zum leidenden Gefäß des Ewigen geworden, so fühlte er sich und trug schweres Leid um das ihm auferlegte Werk, und wahrlich, eine Gerechtigkeit war an ihm nicht sichtbar. In den Augen der Gesetzesdiener ward er mehr und mehr zum Lästerer und Frevler, der in das wohlverdiente Fluchgericht hineinlief, und die, welche sozusagen die Seinen waren, verstanden ihn nicht. Er selbst aber, in allem dem Furchtbaren fast erstikkend, keinerlei Zeichen göttlichen Wohlgefallens erwartend oder begehrend, er konnte sich nur sehnen nach der in Gott verborgenen Gerechtigkeit, die an ihm als dem Bringer des Evangeliums durch seinen Tod hindurch offenbar werden sollte. Er konnte sie sich nicht schaffen oder nehmen. Er mußte harren ins Verborgene hinein, bis er die Vollendung, die allein Gottes war, empfangen werde aus den Händen des Allerhöchsten, den er „Abba" nannte. Das heißt, er war ganz bis ins Letzte von 37
Das reine Herz Gott zu dem reinen Herzen gemacht worden, das in ständiger Gegenwart des ihm als unendlich heiliges Geheimnis begegnenden Ewigen lebte. Wie konnte er da sein Vertrauen auf den Verborgenen anders ausdrücken als so, daß er ihn den allein Guten nannte, von dem er das Gutsein leidend empfangen werde, wann und wofern es dem Vater gefiel? Dies ist das wahre Bild der Gottessohnschaft dessen, welcher Bringer und Träger des Evangeliums von der reinen und freien Gnade und Liebe Gottes ist. Es birgt alle Rätsel und Spannungen des Gottesverhältnisses in sich, welches ein geheimnisvolles, ins Nichtssein und Verlorensein hinein empfangenes Leben ist, ganz in Gottes Vaterliebe sich gründend und doch in Geist und Sinn des Menschen sidi gestaltend. Es ist, mit einem Worte gesagt, das Urbild des reinen Herzens, welches nach unserm Wort das Schauen Gottes, d. h. das freie Atmen in der heiligen und gnädigen Gegenwart Gottes ist. Mit Jesus hat dies reine Herz sich hineingeboren in die Geschichte der menschlichen Gemeinschaft mit dem ewigen und dem Verstand und Sinnen sich entziehenden Ursprung aller Dinge. Durch die von Jesus Ergriffenen trägt der Geist Gottes das Bild dieses reinen Herzens als eine lebendige, die Empfänglichen ergreifende Gegenwart in unser Leben hinein, und an den evangelischen Geschichten lernen wir sein Geheimnis in Ehrfurcht deuten und verstehen. Dies ist die einzige Möglichkeit, die uns gegeben ist, den Zwiespalt unsres zwischen Ehrfurcht und Selbstgenügsamkeit schwebenden Lebens zu überwinden. Wo unser Herz in einer zur gläubigen Hingabe werdenden Ehrfurcht dem reinen Herzen Jesu sich hingibt, da wird in uns unter der N o t und dem Widerspruch menschlichen Lebens gnadenhaft jene Reinheit des Herzens geboren, die, wie die Gleichnisrede der Bergpredigt es ausdrückt, Gott schaut. Ist damit nun aber nicht ein neuer Widerspruch gesetzt? Ein weiter Weg scheint es zu sein von der Ehrfurcht vor dem heiligen Geheimnis bis hin zu einem Armsein, Leidtragen, Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit, mit denen unser Herz sich zur Wahrheit hinfindet, daß seine einzige, seine höchste Vollkommenheit sein Gottes Bedürfen ist. Wunderlich ist es zu hören, daß Armsein, Leidtragen, Hungern und Dürsten nach dem Empfangen der Ehre bei Gott unsre Gleichgestalt mit ihm, dem Sohne des Vaters, sein soll. Welche Mühsal, also welches eigene 3»
Matth. 5, 8 Ringen ums Frommsein ist es für ein zwiespältiges Menschenkind, diesen Weg zu gehen. Ist dem aber so, scheint da nicht eine neue Werkhaftigkeit, ein neues ideales Streben, nur eines seltsamer wunderlicher Natur, das letzte Wort des Evangeliums zu sein? Wer so fragt, der verkehrt heimlich wieder das Tun des Vaters an seinen Kindern zu einem sich selber Erschaffen und Bilden des Menschen. Gott selbst ist es, welcher durch Jesus und die von ihm Ergriffenen unser Machenwollen ins Gotterleiden kehrt. Er zeigt uns in den Bildern der Gotteskindschaft, die zu uns kommen, das Geheimnis, daß allein das verlangende J a zum Gotterleiden die Einkehr in die lautere Wahrheit des Gottesverhältnisses und so das Tor zu der von ihm geschenkten Herzensreinheit ist. Unser ist allein das der Wahrheit Stillehalten. Aus Gottes Gnaden ist Jesus der Herr der Gnade geworden, die zu uns kommt. Er hat sich selbst nicht zu dem reinen Herzen gemacht, er hat sich verwundert in dieser dem Vater gehörenden und ihn erleidenden Reinheit des Herzens gefunden, und wir wissen nicht, wann und wie es geschah. Wahrscheinlich ist er in ihr zum Leben erwacht. Auch uns ist es nicht gegeben, anders zu einem Gott in Bedürftigkeit anbetenden reinen Herzen zu werden außer so, daß wir eines Tags entdecken, er, Jesus, der Sohn, habe unser unruhiges und vieltöniges Herz in den Frieden seines Herzens schon aufgenommen, auf daß wir nun mit ihm und in ihm den Vater schauen. Anfang und Ende aller Wege Gottes mit uns liegen im Geheimnis seiner unendlich heiligen Liebe.
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DIE FEINDE
LIEBEN
Matth, j, 48. Liebet eure Feinde und bittet für die, so eudi beleidigen und verfolgen. Auch in der kürzeren ursprünglicheren Gestalt, die hier gegeben ist, darf das Wort nicht sicher als so von Jesus gesprochen gelten. Es hat seine Prägung von der palästinischen Gemeinde jener Zeit empfangen, zu der das palästinische Judentum unter den Erregungen des jüdischen Kriegs und seiner vernichtenden Folgen in erbitterter Feindschaft wider die Christgläubigen aus den Juden hochgeflammt war und in seinem Achtzehngebet täglich diese vor Gott verfluchte. Das ganze fünfte Kapitel des Matthäus stellt, ergänzend und abrundend, aus Sprüchen Jesu eine kleine christliche Thora zusammen, welche das Leben der Christen ebenso regeln soll wie die alttestamentliche Thora das Leben der mit den Christen verfeindeten Juden. D a die Feindschaft der Juden sich von Palästina her über Kleinasien und alle mit jüdischen Siedlungen durchsetzten großen Städte des Römerreichs ausbreitete, und außerdem die Judenschaft unter Domitian die Verfolgungen der Christen durch den heidnischen Staat mit angezettelt hatte, so war den ersten christlichen Gemeinden reichliche Gelegenheit gegeben, das Gebot der Bergpredigt zu üben. Vorbild für diese christliche Haltung den Juden gegenüber ist Stephanus gewesen, der erste christlidie Märtyrer, der etwa ein Jahr nach dem Tode Jesu als Lästerer des Tempeldienstes in Jerusalem gesteinigt worden ist und ausdrücklich zu Gott gebeten hat, er möge seinen Mördern die Sünde nidit zurechnen. Nun kann jedoch kein Zweifel darüber obwalten, daß das Wort dem Sinn und Geist Jesu gemäß ist. Die Fürbitte für die ihn kreuzigenden Soldaten freilich, die das Lukasevangelium in seiner heutigen Gestalt ihm in den Mund legt, ist Legende und muß wohl als Rückübertragung von Stephanus auf Jesus aufgefaßt werden. Aber daß er durch sein Verhalten von der 40
Matth. 5, 48
Gefangennahme an die ihm Glaubenden an das Lamm Jes. 53 erinnert hat, das sich stumm zur Schlachtbank führen läßt, ist eine Tatsache. Audi sind uns andre Worte von ihm, die sich wider Zorn, Rache und Vergeltungsdrang wenden, erhalten geblieben. Die ersten christlichen Geschlechter haben sich als seine echten Jünger erwiesen, wenn sie gemäß dem Gebot der Feindesliebe für die gebeten haben, die sie ihres Glaubens halben beleidigten und verfolgten. Aus dem Gesagten erhellt, daß jenes Wort der Bergpredigt nach seinem unmittelbaren Sinn sich weder auf privat-persönliche Verfeindungen noch auf den Drang, für privat-persönliches Unrecht Vergeltung oder Rache zu üben, bezieht. Es geht auf den Haß, die Feindschaft, die Scheidung, wie sie ohne unmittelbare persönliche Begründung zwischen den Anhängern ethisch und weltanschaulich stark durchgeformter Religionsund Sittengemeinschaften bestehen. Diese Scheidungen haben in der damaligen Mittelmeerwelt eine ebenso zerklüftende und die Menschen gegeneinander erbitternde Macht augseübt wie unter uns heute die weltanschaulich und wirtschaftlich ins Leben greifenden politischen, sozialen und ideologischen Parteiungen und Gruppenbildungen. N u r daß bei ihnen die Heiligkeit religiöser Ideen und Bräuche den Unterscheidungen noch tiefere, noch innerlichere Wucht gab, als es die Hartnäckigkeit der Gruppeninteressen und Gruppenprinzipien heute im allgemeinen vermag. Am stärksten wirkte dies sich aus bei den Gliedern der israelitisch-jüdischen Bundesreligion, weil diese in ihrem Bundesgott die zugleich charaktervollste und härteste, tyrannischste Gestalt unter allen Bildern damaliger Religionen von der Gottheit besaß. Wer aus Israel stammte und sich dem genau geregelten Gesetz und Dienst des Bundes entzog, der war - das Schicksal des Stephanus zeigt es - ein des Todes würdiger Gottloser und Frevler. Eben weil in der Religion der Synagoge, stärker noch als in andern Stiftungs- und Bekennerreligionen, das moralische Verhalten so stark zum Gottesdienst geworden war, galt es hier als religiöse Pflicht, die Gesetzesund Bundestreue im Alltagsleben stark hervorzukehren. Und damit griff der religiöse Unterschied aufs Tiefste in das Verhältnis zu den Mitmenschen ein. Eine Verfemung durch die Autoritäten der Bundesreligion war wie ein Fluch, welcher den Abtrünnigen sich an die Fersen heftete, und zwischen gesetzes41
Die Feinde lieben treuen Juden und andern Menschen war der Umgang selbst dann aufs Äußerste erschwert, wenn es sich nicht um Abtrünnige sondern um echte Heiden handelte. Paulus gehörte noch der Zeit an, da die bittere Feindschaft der jüdischen Gemeinde wider die Christgläubigen aus den Juden noch nicht zu dem großen Bannfluch der Synagoge über sie geführt hatte. Auch er aber hat die Feindschaft und Verfolgung seiner einstigen Glaubensgenossen reichlich erfahren. Von dem, was er 2 Kor. 1 1 als um Christi willen erlitten aufzählt, geht das Meiste mittelbar oder unmittelbar auf die Juden zurück. Der Haß wider ihn, welcher der eigentliche Begründer des gesetzesfreien Christusglaubens im Römerreidi geworden war, ist dann die letzte Ursache seiner Verhaftung, seines Prozesses und seiner Hinrichtung geworden. An ihm kann man am leichtesten ablesen, was mit dem in der Bergpredigt ausgesprochenen Gebot der Feindesliebe gemeint ist. Auf der einen Seite, er hat den Gegensatz des Christusglaubens wider den Mosaismus bis ins Letzte durchdacht. Er darf als der erste reflektierte Theologe gelten, welcher den Satz, daß Christus das Ende des Gesetzes ist, zum unveräußerlichen Gemeingut des christlichen Glaubens erhoben hat. Da gibt es für ihn kein Zugeständnis auch nur der geringesten Art. Wer als Christgläubiger sich wiederum dem Gesetz beugt, ist ihm ein Sündendiener. Auf der andern Seite aber, er hat mit unveränderlicher Liebe an den Menschen seines Volkes gehangen, die sich Christus verschlossen. Er hat ihnen auch die letzte religiöse Ehre gelassen und ihnen bezeugt, daß ihr Eifer wider das Christentum ein echter Eifer um Gott sei, wenn auch einer mit Unverstand. Er versteht gleichsam das Ärgernis, das sie an Christus nehmen: er hat es selber genommen, ehedenn Christus ihm erschien und ihn umwandte. Darum tut er auch alles, was er vermag, um aus ihnen wenigstens etliche zum Glauben hinüberzuziehen. Vor allem, er betet für sie, und er hätte gern seine eigene Seele, seine eigene Seligkeit dran gegeben, wenn er dadurch sein Volk zu Christus hätte führen können (Rom. 9, 3). Zum ganzen Bilde der Liebesgesinnung des Paulus gehört wohl auch die Rückwirkung, welche seine den Glaubenswiderstreit nicht verleugnende, aber menschlich zu überwinden suchende Haltung auf die Gegensätze innerhalb der christlichen Gemeinden selber hat. Die Entschiedenheit in dem Einen, das
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Matth, j, 48 not tut, zeigt sich auch hier. Wo die Freiheit des Glaubens an Christus bedroht erscheint, ist Paulus unerbittlich herb, beinahe hart. Die Wahrheit des Evangeliums darf nicht Schaden leiden. Aber er weiß dieser Entschiedenheit streng ihre Grenzen zu ziehen. Es ist ihm natürlich, daß in der gedanklichen Ausprägung und der praktischen Lebensführung Unterschiedlichkeiten unter den Gliedern der christlichen Gemeinden sich zeigen. Solche Unterschiedlichkeiten sollten in Liebe getragen werden. Wenn das Eine gewahrt bleibt, das not tut, so gibt es eine Einigkeit und Einheit im Geiste Christi, die das Unterschiedliche überbrückt. Man ehrt das Gewissensurteil des andern in freiem Ringen um das Bessere. Die Liebe, die im Widerstreit sich durch Unrecht nicht erbittern läßt, schafft unter den im Glauben Verbundenen den Frieden. Was mit dem Gebot der Feindesliebe konkret geschichtlich gemeint gewesen ist, wird deutlich geworden sein. Zwei Züge sind es, die an der dem Geiste Jesu treu bleibenden Art des jungen christlichen Glaubens sichtbar werden. Einmal, dies junge Christentum ist die am tiefsten von freier reiner Menschlichkeit durchprägte Gestalt religiösen Glaubens gewesen, welche die Welt bis dahin gesehen hatte. Es sucht in jedem ihm begegnenden Menschen, er sei ihm so fremd und fern und feindlich wie er wolle, auf frei sich hingebende, rein an das Wahrheitsgefühl des andern sich wendende Weise und mit unendlicher Liebe und Geduld ein eigenes freies Verstehen und eine eigene innerliche Bejahung des Evangeliums zu erwecken. Es stellt sich uns dar als eine Religion des Geistes, welche alle ungeistige Weise der Werbung und erst recht jeden Druck durch Gruppenmacht und Gruppengewalt verschmäht. Die junge Christenheit bleibt damit ganz in dem Geiste ihres Herrn, der als Träger des Evangeliums, als Sohn und Bote des himmlischen Vaters zu den der Bundesreligion Israels am meisten Entfremdeten, zu dem gesetzlos lebenden Volk des Landes, den Zöllnern und Huren den Weg suchte. Auch ihnen öffnete er das Reich Gottes. Er fand in ihnen vom Vater geliebte und darum zur Buße gerufene Menschenkinder. Ihrem Meister folgend weiß die junge Christenheit: unter dem H a ß wider den Gott des Evangeliums kann ebenso wie unter der Abkehr von allem korrekten frommen Wesen ein lebendiges Herz schlagen, in dem f ü r Gottes Auge ein Verlangen nach echtem Menschsein aus Gott und in 43
Die Feinde lieben
Gott sich verbirgt. Da ist also Raum für das Wagnis helfender und aufrichtender Bruderliebe. Kein christliches Auge darf auf solche Menschen mit anderm Sinn blicken, keine christliche Hand in ihr Leben anders hineinwirken wollen als mit dem Blick und der Helfehand des Vaters im Himmel. Sodann aber, als diese menschlich freieste und weitherzigste aller Religionen bringt das junge Christentum den Ruf zu Buße und Glaube nicht in der Absicht an die Menschen heran, diese nun auf bestimmte Weise zu bestimmten Gedanken und Verrichtungen durchzukneten. Es läßt einem jeden seinen eigenen besonderen Weg zu Gotteserkenntnis und Gottesdienst offen. Der Bote und Lehrer des Evangeliums will nicht zu Gruppenmeinungen und Gruppen verhalten bekehren: dergleichen tun siegreiche Eroberer, welche aus Feinden Knechte und Untertanen machen. Er traut vielmehr dem Evangelium von Jesus Christus es zu, daß es als Träger der wehrlosen Liebe Gottes aus und mit sich selbst in dem Herzen und Gewissen der Ergriffenen das Werk der Umkehr und des Glaubens vollbringe und auf seine Weise den Menschen zu Geist und Leben emporziehe. Allein weil dem so ist, kann die Predigt des Evangeliums wirklich ein Akt selbstvergessener Liebe sein. Anders würde sie zu herrschsüchtiger Propaganda entarten. Diese Art des Evangeliums ist von je den auf klare Gedankenzucht und klare Lebensordnung bedachten Eiferern aller Religionen anstößig gewesen. Zu den Vorwürfen, welche gegen das frühe Christentum und dann wieder gegen das den urchristlichen Glauben erneuernde reformatorische Christentum erhoben worden sind, gehörte stets die Beschuldigung, hier werde praktisch zu Gottlosigkeit und Gesetzlosigkeit erzogen. Und wer möchte leugnen, daß die Liebe des Evangeliums zu allem Menschlichen und die Freiheit des Evangeliums für mancherlei Wege des Denkens und Lebens leicht so mißbraucht und mißverstanden werden können? Wir wenden uns nun von den alten Zeiten fort und unsrer Gegenwart zu. Der christliche Glaube mit seiner Art, Andersdenkenden zu begegnen, ist gewiß nicht ohne Einfluß auf unsre Gesinnung und Haltung geblieben. Der Gebrauch staatlicher Machtmittel, der unmittelbare rohe Zwang in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung wird von uns allermeist verurteilt. Wir machen es den zur Macht gelangten christlichen 44
Matth. 5, 48 Kirchen vergangener Jahrhunderte zum Vorwurf, daß sie dem Geist Jesu und dem Gebot der Bergpredigt in ihrem Verhalten gegen Irrlehrer, Ketzer und Fremdgläubige nicht treu geblieben sind. Es gilt uns als unchristlidi, daß Luthers Satz, Ketzer verbrennen sei gegen den Willen des heiligen Geistes, in der noch heute nicht widerrufenen päpstlichen Bannbulle wider Luther verdammt worden ist. Immerhin, audi wir sind im Kampf der Weltanschauungen und Parteien nicht ganz und nicht folgerichtig zu den Geboten der Bergpredigt zurückgekehrt. Es gilt uns als recht und notwendig, alle Druckmittel der öffentlichen Meinung, unter diesen auch Verfemung, Ehrabschneidung und gesellschaftliche Benachteiligung - ganz ebenso wie einst die Synagoge gegen die jungen Christengemeinden - anzuwenden. Die Verführung, durch Gruppenmadit Gesinnungen und Meinungen, die wir für schädlich halten, abzuwürgen, ist gar zu groß. Erheben Schwärmer und Idealisten Einspruch, so machen wir geltend, daß der Bestand der öffentlichen Ordnung und das Wohl des Ganzen uns zu solchen Druckmitteln verpflichte. Hier müsse nicht das Ethos, sondern die politische Weisheit, die das Zweckmäßige tut, das letzte Wort haben. Nun gehört es sicherlich zu den Notwendigkeiten geordneten Zusammenlebens und zweckmäßigen gesellschaftlichen A u f baus, Machtmittel zum Schutz des Ganzen einzusetzen, und in unsern modernen Staaten, die sich als Integrierung von Weltanschauungsmächten und Gruppenmächten verstehen, werden die geschilderten Wege des Drucks und der Unterdrückung teilweise unvermeidlich sein. Dies ist Menschenlos. Wäre dem nicht so, dann wären die Kirchen wohl schwerlich der Versuchung erlegen, wider den Geist Jesu und der Bergpredigt an solchen Aktionen teilzunehmen oder sie für ihre eigenen Zwecke selbständig ins Werk zu setzen. Eben damit aber, daß wir das Notwendige und Verführende dieser Methoden der Selbstbehauptung in der äußeren Welt gleichsam begreifen, rühren wir an die Gewissensfrage, die uns das Gebot der Bergpredigt stellt. Wir dürfen es uns nicht leicht machen und müssen uns daher der tiefernsten Begründung erinnern, welche die Bergpredigt dem Gebot der Feindesliebe gibt: Kinder sollen wir sein unsers Vaters im Himmel, der da seine Sonne läßt aufgehen über die Bösen und über die Guten und regnen läßt über Gerechte und 4J
Die Feinde lieben Ungerechte. Gott ist der Allmächtige und könnte seine Gewalt so brauchen, daß den Bösen, den Ungerechten von den Schicksals- und Naturgewalten dieser Erde nur Leides und Übel widerfährt - wie dies bekanntlich der alttestamentliche Glaube auch von ihm erwartet und erfleht. Doch er zeigt sich in seinem Allmaditswalten in keiner Weise parteiisch für seine Frommen und gegen seine Lästerer und Widersacher. Allen ist er in Freud und Leid gleichmäßig der Spender des Lebens. Wie Jesus in einem andern noch härteren Bilde gesagt hat: er gönnt auch den Raben, diesem Raubgesindel unter den Vögeln, Leben und Nahrung. Es ist Gottes Art, sein Leben gütig und verschwenderisch hinströmen zu lassen an alle seine Menschengeschöpfe und nicht zu fragen, wer im Empfangen des Lebens und der Lebensgaben die ewige ihn durchs Evangelium zu ihren Kindern berufende Liebe vernimmt und von ihr sidi zum Reinen und Ewigen erheben läßt. Wenn uns also geboten wird, denen überwindende Liebe und Fürbitte zu erweisen, die uns wegen unsers Gehorsams gegen ihn verfolgen, so wird uns damit die höchste Ehre erwiesen und die höchste Gnade. Was gäbe es denn Höheres als Kind sein dürfen des Vaters im Himmel? Nicht als irdische Geschöpfe, welche nach dem Gesetz des endlichen zweckhaften auf Gegenseitigkeit berechneten Guten leben, sondern als Kinder des ewigen Gottesreichs, welches durch uns sich hineinsenken will in die irdische Gemeinschaft, sind wir dazu gerufen, die Feindesliebe als den entscheidenden Träger echter freier reiner Menschlichkeit wirklich werden zu lassen unter denen, die uns durch verborgene Fügung zu unserm Lebens- und Umgangskreise gemacht worden sind. Was da geschehen muß, um unter den Menschen durch Zucht und Ordnung eine feste, allen das Leben hütende Gemeinschaft zu erhalten, das gehört wie Sonne, Wind und Regen, wie Saat und Ernte, wie Wirtschaft und Gericht zu dem Gesetz dieser vom Allmächtigen geschaffenen Welt, die ihr Bestes tut, wenn sie unter der Begrenzung durch das Notwendige nach Möglichkeit gerecht und unparteiisch ist. Kinder Gottes aber sollen in diese von Menschen mit des Allmächtigen Willen gemachte Welt die ewige Vaterliebe Gottes hineinstrahlen lassen, die da jedem Menschen gleich nahe zu sein begehrt und allein durch Erwekkung von Geist, Freiheit und Leben im Herzen eine Stätte zu finden wünscht. Gerade innerhalb des fremdem Gesetz folgen46
Matth. 5, 48 den Weltlebens sollen wir uns erweisen als Menschen, die zutiefst vom Drang nach Selbstbehauptung und vom auf Gegenseitigkeit redinenden Verstand gelöst sind. Wie können wir dies aber, wenn wir nicht zu reiner freier Menschlichkeit uns erheben, die dem Erdenstreit und auch den Nötigungen irdischer Selbstbehauptung und Machtgewinnung entnommen ist? Wir müssen unser Menschsein mit Gottes weiter und großer Menschenliebe durchdringen. So sind wir denn in gewissem Sinne Glieder zweier Ordnungen. Wir vollbringen als Helfer die irdische Ordnung mit ihrer harten Zucht, in der nicht unmittelbar Menschlichkeit und Liebe geübt, sondern allein die Voraussetzung zur Bildung und Erziehung auf Menschlichkeit hin gesichert wird. Und dann sollen wir doch das so entstehende irdische Gemeinschaftsleben, welches mitunter recht hart sein kann, durchglühen mit der Wahrheit, Freiheit und Liebe des Ewigen. Es mag schwer sein, so als Gottes Kinder das Evangelium hineinzuleben in ein gesetzgebundenes Dasein, das sich doch auch in einem selbst und mit einem selbst vollzieht. In Wahrhaftigkeit vermögen wir es nur unter einer Bedingung. Wir haben an dem Dasein gemäß den Bedingungen unsrer erdgebundenen Art nicht als dessen Knechte oder Sklaven teil, sondern nur so, daß wir uns als die zugleich zu höherer Freiheit Gerufenen an es hingeben. Wir haben das, was es uns an Diensten und Pflichten auferlegt, wie Paulus es sogar den Sklaven einbrennt, von Herzen zu tun. Eben dies aber heißt, daß wir es nicht irdischen Herren und Waltern zuliebe tun, sondern auch darin dem ewigen Gott und Herrn zu dienen suchen. Dies kann unter keiner geschichtlichen Lage ohne Folgen sein für das Wie unsersTuns. In unsrer heutigen aber greift es auch tief hinein in das Was des Tuns. Wer dem Gott und Vater dient, der allen Menschen seine Güte zeigt und allen Menschen die Ehre der Gottesebenbildlichkeit mit ihrer Freiheit gewährt, der kann an dem Kampf der Weltanschauungen und Gruppen, der immer auch ein Machtkampf ist, nur auf bestimmte Weise teilhaben. Er muß die Mächte des Hasses und der Verfemung und die Gelüste zur Knechtung und Unterdrückung andrer Menschen in sich überwinden. Das heißt, daß er auch mitten im Weltleben frei ist von dem Gesetz der Weltlichkeit. Nicht dem Bestehenden dient er und nicht der Gruppe, sondern im Kampf des Bestehenden und im 47
Die Feinde lieben Kampf von Weltanschauung wider Weltanschauung, von Gruppe wider Gruppe dem, was nach seiner Einsicht wahr und gut und aufbauend für alle ist, ob sie es wie er nun einsehen oder nicht. Er entzieht sich also den Mächten des Hasses und der Verfemung, und das heißt im strengen Sinne - anders wäre es gelogen und geheuchelt - auch dem Haß wider die Hassenden, der Verfemung wider die Verfemenden, der Verfolgung wider die Verfolgenden. Er wird dadurch auch denen, mit denen er in einem — innerlich stets begrenzten - Bunde steht, stets als ein Eigenbrötler erscheinen. Er kann es vielleicht sogar erfahren, daß die Hasser und Verfemer und Verfolger auf beiden Seiten ihn hassen und verfemen oder doch verachten und unterdrücken. Dies auf sich zu nehmen, gehört mit zum Gebot der Feindesliebe, durch das wir Kinder sind unsers Vaters im Himmel, der seine Sonne läßt aufgehen über die Bösen und über die Guten. Weh aber dem irdischen Lebenskreis, in welchem solche von den in ihm mächtigen Entzweiungen in Haß und Feme freien Kinder des Allerhöchsten fehlen. Und wehe ihm auch, wenn er ihre Treue und ihren Dienst deshalb veraditet, weil sie nicht laut einstimmen in den Haßgesang der Weltanschauungen und Gruppen, weil sie zwar von Herzen treu sind und dienen, aber es mit der Freiheit und Liebe derer tun, die einem verborgenen Reiche angehören. Da heute die Kirchen kämpfende und ihre Gruppenmacht übende Weltanschauungsparteien geworden sind, wird es wohl nötig sein, noch eine besondere Anwendung auf die sichtbaren Kirchentümer zu machen. Sie sollen und dürfen dem Verständnis des Evangeliums, von dem sie getragen sind, rückhaltlos dienen. Charakterlose und allverstehensbereite kirchliche Organisationen sind widerwärtig und keine Träger der Liebe Gottes unter den Menschen. Sie haben sich jedoch frei zu halten von dem Hetzen und Hassen der heutigen Träger öffentlicher Meinung und öffentlicher Vorurteile, freizuhalten auch von dem Hetzen und Hassen derer, die ihr evangelisches Verständnis des Menschseins mit allen Mitteln bekämpfen. Nur der wehrlose Dienst an der Wahrheit und die auch im Streit den Bruder und von Gott Gerufenen im Gegner ehrende Freiheit von den eigenen Zwecken und Aufgaben ziemt ihnen. Sie müssen durch ihr Beispiel zeigen, daß man der Wahrheit und dem Guten, so wie man es versteht, am tiefsten dient, wenn man Haß nicht 48
Matth. $, 4S mit Haß, sondern mit Liebe erwidert, wenn man den Mensdien ehrt, sucht und liebt auch in den der Ungerechtigkeit wahnhaft Verfallenen. Tun sie dies, so werden sie aber audi in ihrer eigenen Mitte, ebenso wie Paulus, größtmögliche Freiheit walten lassen und wissen, daß der Gott des Evangeliums nicht unisono angebetet und gepriesen werden will, sondern durch ein reiches Orchester von Instrumenten und einen Chor von vielen Stimmen, weil die Wahrheit zwar die eine ist, ihr Widerhall im Herzen aber vieltönig gebrochen, weil Jesus Christus mit seinem Evangelium eben dadurch der eine Weg für uns alle ist, daß er ein besonderer Weg ist für einen jeden, den er zur Nachfolge ruft.
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DIE
ZEICHENFORDERUNG Markus 8, 1 1 - 1 2
Und die Pharisäer gingen heraus, und fingen an, sidi mit ihm zu befragen, versuchten ihn, und begehrten von ihm ein Zeichen vom Himmel. Und er seufzte in seinem Geist und sprach: Was suchet doch dies Geschlecht Zeichen? Wahrlich, ich sage euch: Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben.
Jesu Predigt vom Gottesreich greift dem Gesetzesbund der israelitisch-jüdischen Volks- und Religionsgemeinde an die Daseinswurzel. Wie berechtigt scheint es da, daß die Pharisäer von ihm ein Zeichen verlangen, das deutlich vom Himmel, d. h. von Gott kommt. Die Heilungswunder genügen ihnen nicht, da ihr göttlicher Ursprung angezweifelt werden kann. Es scheint berechtigt, sag ich, berechtigt nämlich von dem an Zeichen und Wunder gebundenen Dienst des Gottes des Gesetzesbundes her. Man braucht nur an die Märdiendinge zu denken, welche im alten Testament über die Beglaubigung der von Jesaja dem König Hiskia gegebenen Weissagung durch ein unerhörtes Wunder erzählt werden. Es gilt da als ganz selbstverständlich, daß ein Glauben heischendes prophetisches Wort durch ein Wunder gestützt wird, und dem Könige Ahas wird es als Unglaube zugerechnet, daß er es ablehnt, ein Zeichen zu fordern. Jesus aber ist durch die Voraussetzungen des alten Glaubens und Dienstes hindurchgebrochen. Für ihn ist die Zeidienforderung der Pharisäer Ausdruck des Unglaubens und der Verschlossenheit dem Wort des Evangeliums gegenüber. Das ist eine Haltung, die von der des Jesaja bis in die Wurzel hinein verschieden ist. Es ist auch deutlich, daß Jesaja und er unter Glaube ganz verschiedene Dinge verstehen. Für Jesaja ist Glaube das Sichbeugen vor einer wunderhaften und unglaublichen Ankündigung, die der Prophet kraft seiner Vollmacht als Prophet autoritär vollzieht. Für Jesus ist Glaube Hingabe an das tiefe beseligende Wort von der Liebe des Vaters, der
Markus 8, 11-12 allen umsonst sein Reich schenkt. Der Glaube, den Jesus meint, entspringt einem tiefen inneren Gezogenwerden des Herzens von dem geheimnisvoll lebendigen Wort des Evangeliums. Er hat seine Gewißheit rein in sich selbst, rein in der göttlichen Liebe, die ihm gegenwärtig wird. Darüber versinkt die Frage nach der Vollmacht des das Evangelium Verkündenden. Wer hier erst Beglaubigung begehrt, bekundet seine innere Unempfänglidikeit für die sich im Wort des Evangeliums dem Herzensverlangen gegenwärtig erschließende Liebe des Vaters. D. h., er bekundet seine „ungläubige und ehebrecherische" Art, die dem ihm sich innerlich bezeugenden Geiste Gottes sidi nicht hingeben mag. So geistert in Jesu Ablehnung der Zeichenforderung der ganze tiefe Abgrund zwischen dem alten Gesetzesbunde und dem Evangelium auf. Es wird deutlich, daß er, der Sohn, der Bringer und Träger des Evangeliums, ganz etwas andres ist als ein Propeht im alten Sinne des Worts. Jesu menschliche Art wird dem sich auftuenden Abgrunde gegenüber sehr deutlich. Er „seufzt". Dies ist der Sdimerz des Sämanns des Worts, daß die eifrigsten und in ihrer Weise frömmsten Menschen des alten Glaubens so feindselig, so abwehrend gegen seine Verkündigung des Gottesreichs sich verhalten. Aber . . . er bleibt unerbittlich sich selber und seinem Sohnesverhältnis zum Vater treu. Hart, sehr hart sagt er es den Pharisäern und allen, die ihnen hierin gleichen ins Gesicht, daß ihnen seitens des Evangeliums und seines Bringers und Trägers nie ein Zeichen gegeben werden wird. Beharren sie hier auf ihrer verkehrten Art, nun, so müssen und sollen sie eben ungläubig bleiben. Nie kann wahrer Glaube und Dienst sich dadurch empfehlen, daß er den in unwahrem Glauben und Dienst Gefangenen sich auf die ihrer Unwahrheit gemäße Weise ausweist. Es liegt in der Sache, daß der hier sich auftuende Widerstreit etwas dem Evangelium Wesentliches ausdrückt. Er muß sich zwischen Jesus und jeder durdi die menschliche Natur bedingten religiösen Haltung immer aufs Neue erheben durch den Wandel der Zeiten hindurch. Es ist in der Theologie und Frömmigkeit der christlichen Kirchen weitgehend eine Voraussetzung geworden, daß die christliche Wahrheit sich auf objektiv beweisbare Bekundungen der göttlichen Allmacht stützen dürfe und müsse, und daß ohne dergleichen uns zum Zeichen gegebne Ji
Die Zeichenforderung Wundergesdiehnisse ein seiner gewisser christlicher Glaube garnicht bestehen könne. Zu den Krankenheilungen, die den Pharisäern nicht genügten, sind da noch Legenden wie die Auferweckung des Jünglings von Nain und des Lazarus sowie die Hochzeit zu Kana getreten. Vor allem ist Jesus selbst durch die Jungfrauengeburt und den leibhaften Hervorgang aus dem Grabe, die zu angeblich wissenschaftlich beweisbaren Tatsachen gemacht worden sind, für breite Schichten der christlichen Theologie und Frömmigkeit in seiner übermenschlichen Würde wunderhaft auf eine Weise beglaubigt, die selbst den härtesten Ansprüchen der zeichenfordernden Pharisäer genügen würde. Wer sieht nicht, daß Jesu Antwort an die Pharisäer, wenn es so mit dem Ausweis seiner Vollmacht bestellt wäre, unmöglich in dieser Weise hätte gegeben werden dürfen. Zum mindesten hätten Wahrhaftigkeit und Liebe geboten, die Pharisäer darauf zu vertrösten, daß noch in Kürze, so daß es dem Geschlecht ihrer Zeitgenossen zugute komme, die herrlichste Beglaubigung durch Zeichen und Wunder sich einfinden werde. Kierkegaard hat aus dieser Verwicklung mit Unerbittlichkeit den richtigen Schluß gezogen. Nur Heidentum und Judentum kennen eine unmittelbar dem am Äußeren haftenden Verstand gegebene Kenntlichkeit des Göttlichen. Im Bereich der außerchristlichen und unterchristlichen Religion hängt die Wahrheit und Wirklichkeit des Göttlichen an mythischen und magischen Selbstbekundungen. Im Christentum gibt es diese Kenntlichkeit des Göttlichen nicht. Es ist ein Dienst, den unsre moderne Verständigkeit dem christlichen Glauben leistet, daß sie alle jene mythischen und magischen Gegebenheiten hinweggewischt hat für den nüchternen Sinn. So allein, daß die wunderhafte Seite an der Erscheinungswelt der Religion, und gerade auch der christlichen Religion, für unsern Verstand ins Nebulose und Zweifelhafte entschwindet und dem Herzen vorerst einmal innerlich gleichgiltig wird, kann heute echter christlicher Glaube, echter Glaube an den in Knechtsgestalt über die Erde wandelnden Herrn und Erlöser entstehen. Das heißt für Kierkegaards konservativen Sinn nicht, daß alle in der heiligen Geschichte berichteten Wundergeschehnisse reine Legenden wären. Es heißt für ihn nur, daß sie erst dann uns ihren wunderbaren Wirklichkeitskern enthüllen, wenn wir ohne sie, jenJ2
Markus 8, 11-12 seits ihrer, von der für Verstand und Sinne verborgenen Gegenwart der göttlichen Liebe in dem Menschen Jesus von Nazareth bezwungen worden sind. Dem Glauben schimmert diese im Geheimnis der Sohnschaft geborgene gegenwärtige göttliche Liebe, die Jesus zum innerlich für den Empfänglidien überzeugenden Bringer und Träger des Evangeliums macht, auch in den Bereidi des Äußeren hinein. Solange aber das Herz nicht aus der Kraft des göttlichen Geistes Jesus innerlich im Glauben eigen geworden ist, sieht es in dem die Gestalt Jesu in der heiligen Geschichte umfließenden mythischen und magischen Schimmer nichts als einen chaotischen Wirrwarr der Überlieferung, welcher jedes Zweifels des Verstandes wert ist. Kierkegaard hat diese Sätze zu zwei von ihm folgerichtig durchgeführten Aussagen gesteigert. Einmal, die Zeichen und Wunder, welche das Leben Jesu begleiten und umrahmen, gehören für den Glauben nicht zur Hoheit Jesu, sondern zu seiner Knechtsgestalt. Jesus hat mit tiefem Leiden die Schmach dulden müssen, daß er um der Liebe willen das Gewand des Wundertäters und Gottesmanns heidnischer und jüdischer Art tragen mußte. Sodann, die Auferstehung Jesu ist ein Geheimnis des Glaubens, keine geschichtliche Tatsache in gewöhnlichem Sinn. Sie bedeutet daher, auch mit der Himmelfahrt zusammen, für uns keineswegs, daß der christlichen Kirche ein offensichtlich über Welt und Tod triumphierender Erlöser gegeben wäre, kraft dessen sie eine besondere Herrlichkeit hätte mit ihren Gottesdiensten und andern Betätigungen. Die Kirche ist allein Kirche des gekreuzigten Herrn und Erlösers, welcher für die lebendig Glaubenden auf verborgene Weise erhöht worden ist zu Gott. Daher denn dem christlichen Glauben der Blick fort von dieser Erde und zum Ewigen hin wesentlich ist. Der dem Glauben Erhöhte zieht die Seinen eben, weil seine Herrlichkeit nicht auf Erden erscheint, von diesem Erdenleben fort in das ewige Reich. Wäre es anders, so wäre die christliche Kirche nichts Besonderes der vielgestaltigen Welt der außerchristlichen Religionen gegenüber. Auf diese Weise wird die Antwort Jesu an die Pharisäer für Kierkegaard zur Bezeugung der Wahrheit und Wirklichkeit des im Evangelium sich uns schenkenden himmlischen Vaters. Es ist dieser Wahrheit und Wirklichkeit unerbittlich eigen, daß sie kein Zeichen über sich hinaus in der Welt des Greifbaren 53
Die Zeichenforderung und Sinnengebundenen gewährt. Es kommt dem Gott des Evangeliums nicht zu, sich den Ansprüchen des Heidentums und Judentums an Manifestationen der Gottheit zu beugen. Durch diese allein dem Evangelium gemäße Ansicht werden die gesamten Auseinandersetzungen über die Tatsächlichkeit der die evangelische Geschichte umrahmenden und durchziehenden Wundergeschehnisse zu einem Streit um Dinge, die f ü r den Glauben keine Lebensfragen mehr darstellen. Der Glaube hat seinen Grund und Gehalt vor ihnen und jenseits ihrer. So können sich denn die über jene Wundergeschehnisse verschieden Urteilenden durchaus in der Einigkeit des Glaubens und der Liebe zusammenfinden. Es handelt sich um einen Unterschied nicht im Entscheidenden, sondern in der Entfaltung des Glaubens zu einem ganzen Welt- und Lebensbilde. Außerdem gewinnt die Predigt des Evangeliums die Möglichkeit eines tieferen und wahreren Einsatzes, als die heute nun einmal unmöglich gewordene Vergegenwärtigung der Wunderhaftigkeiten der evangelischen Geschichte es wäre. Unleugbar liegt in der wesenhaften Zeichenlosigkeit des Glaubens an das Evangelium trotz allem Gesagten auch eine H ä r t e und Strenge, die nicht leicht vom Herzen zu tragen ist. Sie bekundet sich nicht so sehr in dem weiten und großen Ausblick auf das Ganze der christlichen Geschichte und ihrer kirchlichen Einleibung, als vielmehr in der Aufgabe an den Glauben des Einzelnen, die eigene kleine Lebensgeschichte mit ihren Wendungen, Krisen und Lösungen hineinzuordnen in ein lebendiges Gottesverhältnis. Das eigene Innere des Menschen ist an sich schon ein vieldeutiges und leicht sich verwirrendes Schweben in einer Mannigfaltigkeit von Entschlüssen, Empfindungen und Schicksalsbegegnungen. Es kann auch vom strengsten sittlichen Ernst nicht leicht in zielstrebige Ordnung gebracht werden, sintemal fort und fort Neues sich einwebt. Wie schwer scheint es da doch, daß das Empfangen der ganzen äußeren und inneren Lebenswirklichkeit aus Gottes H ä n d e n nicht an eindeutigen wunderbaren Begegnungen mit der göttlichen Vorsehung und Lenkung einen objektiven H a l t und Maßstab gewinnt. Fußfesten und unbezweifelbare Tatsachen, die gar nichts andres sein können als greifbare göttliche Wunderzeichen, scheinen dem Herzen beinahe unentbehrlich. Dies gilt umso J4
Markus 8, 11-12 mehr, als die undurchdringliche individuelle Zufälligkeit des eigenen inneren und äußeren Daseins sich allen Versicherungen der rationalen Moralisten zum Trotz keineswegs durch gewissenhafte Beachtung der Regeln und Grundsätze sittlich-vernünftigen Handelns zur sicheren Erkenntnis des göttlichen Willens durchklären läßt. Es bleibt immer ein Rest, eine Dunkelheit, eine Mehrdeutigkeit des Appells an Herz und Gewissen zu bewältigen, für die man Winke und Weisungen durch klare Bekundungen vom Himmel her sehr wohl brauchen könnte. Ist es da wirklich wahr, daß die göttliche Liebe uns Zeichen besonderer Art nicht vergönnt? Die Heiden hatten ihre Götterorakel, die alttestamentlichen Frommen die Befehle und Weisungen prophetischer Gottesmänner. Daß dies alles dem Christen nicht gegeben ist, wird von den kirchlich Frommen meist anerkannt. Zum mindesten hängt sich an den Rückfall in dergleichen, etwa ans Losorakel, für Christen ein ungutes Gefühl. Aber greifbare Gebetserhörungen und inwendige Erleuchtungen oder Gottesstimmen, die doch beide ins äußere oder innere Leben hineinbrechende Gotteszeichen sind und sein sollen, fehlen der leidenschaftlicheren Gestalt überlieferungsgeprägter Frömmigkeit nicht. Dem mehr nüchternen oder mehr furchtsamen Sinn, dem dergleichen nicht zuteil wird, einfach weil er nicht naiv genug dazu ist, entsteht daraus, daß er ohne solche Hilfen lebt, oft ein Gefühl der Ratlosigkeit, wenn nicht gar der Erstorbenheit. Hier liegt eine der Wurzeln der Ermattung und Verkümmerung religiösen Sinns unter den Menschen heute, auch soweit sie sich nach göttlicher Gegenwärtigkeit sehnen. Und doch kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß jene mehr innerlichen christlichen Ersatzbildungen für Götterorakel und Weisungen von Gottesmännern ebenso wie alles andre Zeichenwesen dem von Jesus gesprochenen Verdikt anheimfällt, sobald es zur Objektivierung oder Verbürgung eines Lebens mit Gott zu werden beginnt. Vermögen wir es nicht, diese Not eines lebendigen Gottesund Vorsehungsglaubens zu überwinden, so wird die Welterfahrung mit ihrem unheimlichen Aufdecken der endlichen Verkettung alles Geschehens zum Tode unsers inneren Menschen den Weg bahnen. Nicht nur der Glaube ans Evangelium würde dann vergehen, sondern mit ihm alles höhere, nicht 55
Die Zeichenforderung verstandesbestimmte Menschentum, das sich über Erwerb, Gewinn und Genuß in die freieren Bereiche des Geistes und der Liebe erhebt. N u r wenn auch ohne Zeichen unserm Innenleben die unendliche Möglichkeit des ursprünglich und unbegreiflich Quellenden und des großen und kühnen Wagens über allen Verstand hinaus sidi erhält, wird es echte große Wahrheit, Freiheit im Sinne innerer Vollmacht, und Liebe im Sinne sich schenkender und verschwendender Hingabe unter Menschen noch geben. Es ist klar, daß dies alles einem zeichenlosen Glauben, der es wagt sich von Gott innerlich ergreifen zu lassen, in gewissem Sinne wahlverwandt ist, daß es mit diesem zusammen steht und fällt. Die reine, von allen unterchristlichen und vorchristlichen Einsdilägen befreite Innerlichkeit eines im Evangelium lebenden und webenden Herzens ist gerade heute der Brunnquell der Humanität edleren Gepräges. Welche Hilfen also haben wir, die gesdiilderten Nöte zu überwinden, welche den reinen diristlichen Gottes- und Vorsehungsglauben zu erwürgen drohen? Ich weiß nur eine Überwindung der N o t : den Blick auf Jesus, wie er ohne Zeichen, ja wider die gaukelnden Scheinzeichen des alten Glaubens, den Weg des dem Vater sich stille lassenden gehorsamen Sohnes durch dies Leben gegangen ist, bis hin zum bittern Ende am Kreuz. Der Hebräerbrief drückt dies in dem Satze aus, daß wir, um fest zu bleiben in jenem Glauben, der nicht sieht, auf Jesus als den Anfänger und Vollender unsers Glaubens sehen sollen. Ich muß versuchen, dies zu veranschaulichen an dem Bilde von Jesus, das die Evangelien uns zeigen. Daß Jesus für sein eigenes Bewußtsein die seine Sohnesvollmacht bestätigenden Zeichen gefehlt haben, werden manche vielleicht wegen seiner wunderbaren Krankenheilungen bezweifeln. Dem gegenüber erinnere ich an sein die Heilungen begleitendes Wort: „Dein Glaube hat dir geholfen". Er bezeugt mit ihm, daß er ohne ein ihm die Heilung zutrauendes Verlangen sich machtlos fühle. Auch hat er da, wo dies ihm die Macht zutrauende Verlangen fehlte, z. B. in Nazareth, tatsächlich nicht heilen können. Da, wo dies Verlangen vom Vater eines Kindes ausgeht - so bei der von ihm aus todesähnlicher Betäubung ins Leben zurückgeholten kleinen Tochter des Jairus und beim mondsüchtigen, d. h. epileptischen Knaben - , ist das 5*
Markus 8, 11-12 Außerordentliche der Tat sogar für die Beobachtung ihrer Zeugen bedingt durch eine ungeheure Erregung, welche die von dem leidenschaftlichen verzweifelten Verlangen geschaffene Lage in ihm aufweckt. Nirgends aber außer in klar legendären Berichten ist die Heilung ihm ein Erweis seiner besonderen Vollmacht. Der innere Zustand, der da durch das an ihn herantretende Verlangen seiner mächtig wird, kann nur beschrieben werden als der Glaube, daß des himmlischen Vaters Liebe hier, wenn man vertrauend zu ihm rufe, die Hilfe gar nicht versagen könne. Von einem Bewußtsein, daß der Vater ihm als dem Sohne eine besondere Heilungsmacht übertragen und ihn so bestätigt und ausgewiesen habe, fehlt in den echten Berichten jede Spur. Ein solches Bewußtsein widerspräche auch der klar bezeugten natürlichen Abneigung, welche er gegen das Krankenheilen als eine Störung seiner wahren Aufgabe, das Evangelium zu predigen, empfunden hat. Kierkegaards Satz, daß die Heilungen für Jesus zur Knechtsgestalt gehört haben, trifft im wesentlichen das Richtige. Dem entspricht es, daß die letzte nicht legendäre Heilung Jesu die an Bartimäus, dem Blinden von Jericho, ist. In den Kampftagen zu Jerusalem, die seiner Verhaftung vorausgingen, hat Jesus nicht eine einzige Heilung mehr vollbracht, obwohl doch für ihn wie für seine Gegner hier die Bestätigung seiner Sendung durch ein Zeichen etwas Wesentliches bedeutet hätte. So schauen wir denn Jesus in seinem letzten schweren Streit ganz als einen innerlich und äußerlich wehrlos Preisgegebnen. Er steht mit seinem Sendungsbewußtsein als ein rein auf die eigene innere Gewißheit Angewiesener vor uns. Ob er sich mit Wahrheit den göttlichen Willen so deutete, daß er als ein Geschändeter, ein in den Augen der Führer seiner Kirche und ihrer Frommen Gottloser den Tod des Gottesknechts erleiden solle, ob dies Rätselhafte wirklich die vom Vater verhängte Vollendung seiner Predigt vom Gottesreich sein solle, dafür hatte er außer dem, was in ihm lebte als Gehorsam und Anbetung, nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die göttliche Vorsehung und Lenkung war ihm rein in seinem Glauben da. Alles war somit subjektiv, alles war in der Schwebe. Und dies war ihm verhängt in einer so zugespitzten, so anfechtungsgeladenen Lage, wie sie seitdem keinem Menschen beschieden gewesen ist. Man versteht Luthers Wort, daß keines Menschen 57
Die Zeichenforderung
Glaube sonst dieser Probe des Verhülltseins Gottes hätte standhalten können. Es ist nötig, den Widerstreit, den Jesus zu durchleiden hatte, sich genau vorzustellen. Einmal, nichts ist furchtbarer, innerlich verzehrender als eine Entzweiung darüber, was heilig und was unheilig ist. In Jesu letztem Streit stand Gottesglaube wider Gottesglaube. Um es abkürzend auszudrücken: es stand Gott wider Gott. Nach den Maßstäben des Gesetzesdienstes war das Evangelium ein gottwidriger Frevel. Die ganze die Gemüter im Namen Gottes bindende fromme Überlieferung, welche in Jesu Erziehung und Bildung doch auch an seiner eigenen Seele geformt hatte, stand wider das Evangelium vom Gottesreich, so wie Jesus es verkündigte. Was hatte er dagegen einzusetzen? Nur Eines: seinen eigenen Glauben, sein eigenes Herz. Sodann aber, selten war wohl ein Todesschicksal so erdrückend für den Glauben, der sidi hier in Jesu Herzen dem ganzen alten Heiligen entgegenstellte. Eine kleine Schar war ihm aus dem Zusammenbruch der galiläisdien Wirksamkeit geblieben, und diese Schar bestand aus Menschen, welche wie Petrus das Geheimnis des Gottesreichs noch nicht hatten scheiden lernen von den phantastischen Hoffnungen der alten Bundesreligion, Menschen, die eigentlich nur Narrheit sich als Träger des Evangeliums vom Gottesreich vorstellen konnte. Für menschlichen Verstand war Jesu Tod so gut wie eines und dasselbe mit dem Untergang des Evangeliums. Es hätte garnicht erst der Glaube der alten Religion noch hinzukommen müssen, nach welchem aller Mißerfolg Widerlegung einer Botschaft, Gericht seitens des Ewigen war. Eines nur hatte Jesus: die in seinem Gleichnis von der Saat des Gottesreichs ausgesprochene Gewißheit des Glaubens, daß der in die Herzen gesäte Same unfehlbar Frucht tragen werde zu der vom Vater bestimmten großen Stunde. In diesem Lichte lese man die auf dem Todeszuge gesprochenen Worte Jesu, daß die Jünger nicht für den kommenden Tag sorgen sollten, daß es genug sei, den heutigen Tag seine eigene Plage haben zu lassen. Das Wort ist aus seiner eigenen Seele genommen. Der heutige Tag ist der des Zuges in den Tod, des Kampfes zur Bezeugung des Evangeliums in Jerusalem, des Sterbens und des Todes. Der kommende, der morgende Tag ist der Tag nach alledem. Er ist geborgen und verborgen $8
Markus 8, 11-12 in der Liebe des Vaters, der sogar für das Rabengesindel sorgt, sidier also auch für seinen in den Tod gehenden Sohn und für die von ihm zurückgelassenen nur halb verstehenden Zeugen vom Gottesreidi. Aber das gesäte Wort wird nicht untergehen, und Gottes Reich wird sich offenbaren an der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit. Dies ist Jesu Vorsehungsglaube, der uns zum Bilde und zum Trost vorgehalten ist in unsrer kümmerlichen Bekümmerung. Ob ich wohl Recht habe, wenn ich mir von hier aus die Überschwenglichkeit von Jesu Gleichnis deute, daß der Glaube Berge versetzen könne? Welt und Verstand und Alltag, sie liegen wie ein Berg auf unserm sidi zum Glauben aufrichten wollenden Gemüt. Sie drohen in uns das Bewußtsein zu erstikken, daß Gott die unendliche Möglichkeit ist, die zeichenlos durch den Tod hindurch die Wege des Lebens geht. In Jesus von Nazareth war dies Wunder des Glaubens, das ihn mit Gehorsam und Gelassenheit den Weg der Anfechtung bis zum bittern Ende gehen ließ. Der Berg wurde für den Blick des Alltagsverstandes nicht versetzt. Er mußte ohne eine äußere Kennzeichnung seiner verborgenen Hoheit am Kreuze sterben und sah den Sieg nicht, der in diesem Sterben lag. Und dennoch wurde der Berg versetzt. Für uns leuchtet in seiner schwersten Anfechtung die Liebe des Vaters mit ihm und mit uns allen. Ihm gab des Vaters Liebe die Vollmacht, durch den anfechtungssdiweren Tod hindurch unser Herr und Erlöser zu werden, der das Gottesreich in unser Herz sät und uns im Glauben frei macht von aller Knechtung durch Welt, Alltag und Verstand. Indem dies uns aber in seinem Tode aufleuchtet, werden wir stark, das uns beschiedene Teil an der Verborgenheit der göttlichen Vaterliebe zu tragen. Jesu Glaube hat den Berg versetzt, der auf unserm Herzen liegt, und ermöglicht es uns, andern die Zeugen zu werden von der Berge versetzenden Stärke des keines Zeichens bedürfenden Glaubens an das Evangelium.
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D I E FRAGE DES TÄUFERS Aus Luk. 7 , 1 8 ff. (Ursprünglicher Bericht) Und Johannes sandte Jünger zu ihm und ließ ihm sagen: Bist du der, der da kommen soll, oder sollen wir warten auf einen andern? Und er antwortete und sagte ihnen: Kehrt zurück zu Johannes und berichtet ihm, was ihr hört und seht: Blinde sehen und den Armen wird das Evangelium gepredigt. U n d selig ist, wer keinen Anstoß nimmt.
Durch die Entfernung der Zusätze, welche von den späteren evangelischen Bearbeitern gemacht worden sind, tritt der wahre Sinn des erzählten Vorgangs ans Licht. Johannes der Täufer hat in seiner Bußpredigt den Erwarteten der spätjüdischen Hoffnung als einen furchtbaren und gewaltigen Richter verkündet, der gerade an dem unrein und ungläubig gewordenen Israel, soweit es nicht im letzten Augenblick noch Buße tue, den göttlichen Zorn vollstrecken werde. Nun hört er von der großen Bewegung, welche Jesus in Galiläa durch seine Predigt entfacht hat, und er fordert durch Boten Jesus auf, sich deutlich zu erklären, ob er der von Johannes verkündigte Kommende sei. Es ist, soviel wir sehen, der erste Versuch, Jesus zu einer Erklärung darüber zu bewegen, ob er mit seiner außerordentlichen Vollmacht etwa der Messias sei. Wunderlich fast, daß gerade Johannes ihn unternimmt, wo Jesus doch so ganz anders sich gibt, als nach dem Bilde der johanneischen Bußpredigt von dem Kommenden zu erwarten wäre. Der unruhig in die Zukunft spähende leidenschaftliche Stürmer Johannes zeigt damit feineres Gespür für das Außerordentliche an Jesus als die Führer der Kirche und der Gruppen der Frommen. Deutlich ist, daß ein Ja zu dieser Herausforderungsfrage Jesus in ganz andre, seiner Art widersprechende Schicksalsbahnen hätte hineinreißen müssen. Er hätte eine ungeheure Erregung ent60
Luk. 7, 18 £F. zündet und wäre ein politisch-religiöser Revolutionär geworden, welcher Israel als Reiniger des Volks nadi innen und Befreier und Kämpfer nach außen mit sich zu reißen versuchen mußte. Nach kürzerer oder längerer Frist wäre er dann untergegangen in einer ungeheuren Katastrophe des Ganzen. Oder aber, wenn er gegen die entfesselten Leidenschaften sich selbst hätte treu bleiben wollen, wäre er in Zwiespalt mit seinen eigenen Anhängern geraten, und es hätte dem Herodes von Galiläa ein Kleines sein müssen, ihn wie den Johannes dingfest zu machen und in der Stille zu beseitigen. Wie aber soll Jesus antworten? Er hält den üblichen Traum vom Messias-König und Messias-Richter, wie die Versuchungsgeschichte zeigt, für satanisch, dem wahren Bilde vom Gottesreich widersprechend. Doch das Geheimnis seiner Sohnschaft und der damit gegebenen rätselhaften göttlichen Führung ist ihm so groß und heilig, daß er davon vorläufig noch nicht einmal zu seinen Vertrauten spricht. Er muß in sich selber stille und leidend-geduldig abwarten, auf welchem Wege dies Geheimnis sich erfüllen wird nadi des Vaters Willen. Er antwortet dem Johannes also mit einem Rätselspruch. Dieser stellt dem Fragenden die offenbaren Tatsachen, in denen Jesu Geheimnis sich mittelbar auswirkt, vor die Seele und überläßt es ihm, die Rune richtig zu entziffern. Feierlich, in Gleichnissen, die tieferem Sinn leicht zu entziffern sind, spricht Jesus von dem wahrhaft Unerhörten, das da in Galiläa geschieht. Die Blinden, d. h. die Rohen und Unwissenden, welche wenig oder nichts von den geistlichen Dingen kennen und sich vielleicht bisher auch kaum darum gekümmert haben, fangen, wenigstens zum Teil, an, sehend zu werden und das Geheimnis des Gottesreichs zu erahnen. Oder mit dem parallel wie zur Erklärung hinzugesetzten Bilde: es ist jetzt ein Prediger da, welcher den „Armen", dem von den Frommen gering geachteten und für unwürdig der Gnade Gottes gehaltenen Volk des Landes, das Evangelium vom Gottesreich verkündet. Dieser Prediger bahnt also der Botschaft von der Liebe Gottes den Weg zu allen ohne Unterschied. Diese Tatsachen haben bei einem Teil der israelitisch-jüdischen Bundesgemeinde, nämlich bei den Frommen und ihren Führern, Anstoß und Ärgernis geweckt. Jesus aber bekennt sich zu dem Geschehenden und hält diejenigen für dem Heil nahe, die diesen Anstoß nicht nehmen. 61
Die Frage des Täufers
Darin liegt auch eine Abweisung der Herausforderung des Johannes. Johannes, der da auf der Schwelle zwischen dem Alten und Neuen steht, scheint in Gefahr, sich durch ein Ärgernis daran, daß Jesus seinem Bilde von dem Kommenden so wenig entspricht, gemeinsam mit seinen Gegnern unter den Führern der Kirche und der frommen Gruppen gegen Jesus zu verschließen. Wie es dann in der erläuternden Rede Jesu heißt: der Geringste im Reich Gottes ist größer als Johannes, der doch alle alten Propheten an Größe übertrifft. So etwa muß man mit Hilfe der folgenden Rede Jesu über Johannes den Runenspruch lesen. Das hier sich zeigende Bild Johannes des Täufers ist dem christlich frommen Gefühl der ersten Geschlechter unerträglich gewesen. Das vierte Evangelium hat daher gründlidi umgestaltet. Es erdichtet einen Johannes, welcher Christus das Lamm Gottes und den Welterlöser nennt, und schildert dann, wie Johannes an der Freude über Christus den Schmerz über seine eigene Vorläuferstellung vergißt. „Er muß wachsen, idi aber muß abnehmen." Das ist eine schöne Diditung, aus der man über menschlich ideales Verhalten dem einen in den Schatten stellenden Großen gegenüber viel lernen kann. Die herbe Wirklichkeit, welche den nicht verstehend und verkehrt drängend auf der Schwelle stehenden Johannes zeigt, übertrifft jedoch die Dichtung an erschütternder Wudit und gewährt auch den tieferen Blick in die Gesdiichte Jesu. Was zwischen Jesus und die Gesetzesstrengen sich schiebt und auch zwischen Jesus und Johannes sich zu schieben scheint, heißt in Jesu Sprudi das Ärgernis oder, wie ich vorgezogen habe zu verdeutsdien, der Anstoß. Es liegt im Anstoßnehmen, wenn man das Wort im bestimmtest möglichen Sinne versteht, eine Zwiespältigkeit. Anstoß nehmen wir an dem, was uns nahe tritt, uns an sich heranzuziehen scheint, und dann plötzlich, eben wenn es zur ernsthaften Berührung kommen will, erfolgt hart der Rückstoß, durch den es uns befremdend, feindselig wird. Ein anhebendes Ja, das sich überraschend verwandelt in ein entschiedenes Nein, das ist unser Verhältnis zu dem, das uns Anstoß gibt. Johannes und Jesus, sie sagen es beide: „Tut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen." Was könnte einander wohl näher sein? Für Johannes aber ist der Bringer des Gottesreichs der Schwinger der bereitstehenden 6z
Luk. 7, 18 ff. Axt, der den Baum fällt und verbrennt. Für Jesus hingegen ist er der, welcher den still •wachsenden Samen auf den Herzensacker wirft. Was könnte einander ferner sein? Oder, auf den Begriff der Buße bezogen, sieht es so aus, daß Johannes jene Sinnesumwandlung meint, die durdi die Angst vor dem bevorstehenden Zorngericht erwedkt wird, Jesus aber eine ganz anders scheinende Sinnesveränderung, welche aus dem Wort von der schrankenlos jedem sich öffnenden göttlichen Vaterliebe einen das Alte abtuenden neuen Geist im Herzen lebendig werden läßt. Muß der Mann des Gerichts nicht Anstoß nehmen, wenn er hört, was durchs Evangelium aus der Buße gemacht wird? Solche Gegensätzlichkeit bei solcher Nähe: das ist die Lage, in welcher die Möglichkeit echten großen Anstoßes lauert. Wir verstehen die Schwelle, auf welcher der Täufer stand, ohne sie überschreiten zu können, am leichtesten von Paulus her. Paulus hat sie überschritten, und dadurch wurde sein Leben aufgespalten in die zwei Teile des im Christushaß gipfelnden Pharisäismus einerseits, des dem Herrn Christus dienenden Glaubens ans Evangelium anderseits. So greift denn Paulus auch aus der evangelischen Überlieferung den Begriff des Ärgernisses oder Anstoßes auf. Er weiß aus eigener Erfahrung, daß das Evangelium, das den si