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German Pages 202 [200] Year 1999
de Gruyter Studienbuch
1999
Friedrich Schleiermacher Über die Religion Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799)
Herausgegeben von Günter Meckenstock
W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1999
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Die Deutsche Bibliothek
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ClP-Einheitsaufnahme
Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion : Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) / Friedrich Schleiermacher. Hrsg. von Günter Meckenstock. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3 - 1 1 - 0 1 6 3 5 5 - 1
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter G m b H Sc Co., D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer G m b H , Berlin Einbandgesraltung: Hansbernd Lindemann, Berlin
Historische Einführung des Herausgebers Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768—1834), damals reformierter Prediger am Berliner Charite-Krankenhaus, veröffentlichte 1799 im Berliner Verlag J o h a n n Friedrich Unger anonym seine Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Dieses Werk, mit dem Schleiermacher seine schriftstellerische Wirksamkeit begann und das ihn auf seinem literarischen Lebensweg mit drei weiteren Auflagen (1806, 1821, 1831) begleitete, wird nachfolgend im Textbestand der Erstausgabe von 1799 wiedergegeben. Die Studienausgabe der „Reden" basiert auf der Edition der Erstausgabe in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke, des Nachlasses und der Briefe Schleiermachers. 1 Die Erstausgabe ist eine Druckschrift im Oktavformat, deren Seiten einen Satzspiegel von 8,1 cm Breite und 14,9 cm Höhe haben. Die Erstausgabe umfaßt nach unpaginiertem Titelblatt und unpaginiertem Inhaltsverzeichnis 3 1 2 Seiten Text, denen noch eine unpaginierte Seite mit einem Druckfehlerverzeichnis folgt. Die 16 Seiten starken Druckbogen sind durch Großbuchstaben (A bis U) gezählt; die Seite hat normalerweise 27 Zeilen.
1
Vgl. Friedrich Daniel Schleiermacher: Kritische G e s a m t a u s g a b e [ =
KGA],
hg. v. H a n s - J o a c h i m Birkner / G e r h a r d Ebeling / H e r m a n n Fischer / Heinz K i m m e r l e / Kurt-Victor Selge, Bd. 1/2, Schriften aus der Berliner 1796-1799,
hg.
v.Günter
Meckenstock,
Berlin
/
New
York
Zeit 1984,
S. 185 — 3 2 6 . Z i t a t n a c h w e i s e und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Wird in dieser historischen Einführung aus Schriften Schleiermachers oder anderer Autoren zitiert, so werden H e r v o r h e b u n g e n bei der Z i t a t i o n nicht eigens ausgewiesen.
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Historische Einführung des Herausgebers
I. D i e E n t s t e h u n g d e r „ R e d e n " Über die Entstehungsgeschichte der „Reden" sind wir durch eine Vielzahl von Briefzeugnissen unterrichtet. N u r der Anfang liegt im Dunkeln. Den Plan m u ß Schleiermacher vermutlich im Spätsommer 1798 gefaßt haben. In seinem H e f t „Vermischte Gedanken und Einfälle" (Gedanken I) findet sich eine G r u p p e von Eintragungen, die Schleiermacher wohl im Hinblick auf die Konzeption der „Reden" notiert h a t . 2 Die Gespräche mit Friedrich Schlegel (1772—1829) und dessen religiöse Interessen dürften für Schleiermacher ein wichtiger Anstoß gewesen sein, seine auf die Kritik und N e u f o r m u l i e r u n g der Ethik gehenden Pläne zunächst zurückzustellen und statt dessen den Geist der neuen Philosophie im Gebiet der Religion f r u c h t b a r werden zu lassen. Schon in den „Athenaeum"-Fragmenten (1798) h a t t e sich Friedrich Schlegel zu religiösen und kirchlich-theologischen Fragen geäußert, und zwar in einem Sinne, den Schleiermacher schwerlich völlig teilte. Z u d e m forderten diese Ansätze einer Neuformulierung der Religionsidee die Präzisierung u n d Durchbildung geradezu heraus. Die romantische Weltsicht m u ß t e ihre Deutungskraft auch und gerade an der Religionsthematik erweisen. Hier wurden zudem Schleiermachers eigenste Lebensinteressen berührt. Der geistige U m b r u c h , den er persönlich erlebt und den er als epochal beurteilt hatte, m u ß t e sich auch in der Auffassung und Darstellung der religiösen Erfahrungen zur Geltung bringen. Im Herbst 1798 w a r Schleiermacher mit einem Aufsatz zu Geselligkeit und Lebensart unter dem Titel „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" beschäftigt, der aber — wohl wegen eines Stellen- und Ortswechsels Schleiermachers — Fragment blieb. 3 Vom 14. Februar bis 14. Mai 1799 vertrat Schleier2
Vgl. Nr. 8 5 - 8 9 . 112a. 121. 1 3 9 - 1 4 1 . 1 5 3 - 1 5 5 , KGA 1 / 2 , 2 5 . 29. 31. 33. 36.
' Vgl. KGA 1/2, 1 6 3 - 1 8 4 .
3
I. Die Entstehung der „Reden"
macher nämlich für den pensionierten J o h a n n Peter Bamberger (1722—1804) bis zum Amtsantritt des Nachfolgers J o h a n n Karl Pischon (1764—1805) die Hofpredigerstelle in P o t s d a m . 4 Die Einsamkeit in Potsdam ließ die Gedankenquelle zur Geselligkeit versiegen. 5 So trat in Potsdam die Religionsthematik in den Vorderg r u n d . Schleiermachers dichte Briefwechsel mit Henriette Herz (1764—1847) und mit Friedrich Schlegel enthalten viele Hinweise zum Fortgang der Ausarbeitungen, dazu auch erste Selbstund Fremdbeurteilungen. Ausarbeitung und Drucklegung der „Reden" waren eng miteinander verknüpft. Während Schleiermacher noch an seinen „ R e d e n " schrieb, ließ in Berlin der Verleger Friedrich Gottlieb Unger (1753 — 1804), der Schleiermacher ein Bogenhonorar von 5 Talern zahlte 6 , schon den Fahnensatz herstellen. Die „Reden" sollten nämlich ursprünglich zur Ostermesse 1799 erscheinen 7 und sind auch im Messekatalog „Allgemeines Verzeichnis der Bücher ..." unter dem Titel „Ueber Religion. Reden an die aufgeklärten Verächter derselben" als zur Ostermesse 1799 erschienen irrtümlich angezeigt 8 . Die „Reden" waren bei Schleiermachers Wechsel nach Potsd a m bis in die zweite Rede hinein gediehen. Sein Brief vom 15. Februar 1799 an Henriette Herz endet mit der Bitte: „Vergessen Sie nicht mich in jedem Brief um die Religion zu m a h n e n
4
Vgl. K G A , Bd. V / 3 , Briefwechsel 1 7 9 9 - 1 8 0 0 , hg. v. A n d r e a s A r n d t / Wolfg a n g V i r m o n d , Berlin / N e w York 1992, Brief Nr. 558 und 656.
5
Vgl. KGA V/3, N r . 559, 2 1 - 2 4 .
6
Vgl. A u s Schleiermacher's Leben. In Briefen [ = Briefe], Bd. 1 — 2, 2. Aufl., Berlin
1860; Bd. 3 - 4 ,
hg. v. L u d w i g J o n a s / Wilhelm
Dilthey,
Berlin
1 8 6 1 - 1 8 6 3 ( N a c h d r u c k Berlin / N e w York 1974); hier Bd. 3, 351. 7
Vgl. KGA V/3, Nr. 565, 1 9 - 2 2 .
8
Vgl. W i c h m a n n von M e d i n g : Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Z u s a m m e n s t e l l u n g und D a t i e r u n g seiner g e d r u c k t e n Predigten, Schleiermacher-Archiv 9, Berlin / N e w York 1992, Nr. 1799/5.
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Historische Einführung des Herausgebers
damit sie mir nicht in's Stocken geräth. Berichten will ich Ihnen treulich wie weit ich bin; aber H a n d s c h r i f t schicke ich wol nicht eher bis ich die zweite Rede zu Ende schicken k a n n ; ich habe bemerkt d a ß es der Religion nicht b e k o m m t wenn ich gar zu kleine Portionen ins Reine schreibe." 9 Etwa eine Woche später m u ß Schleiermacher die zweite Rede vollendet haben. Friedrich Schlegel kommentierte A n f a n g M ä r z Inhalt und literarische Qualität: „Am Schluß der zweyten Rede hat mir die Polemik gegen Kunst, Philosophie und M o r a l am besten gefallen. Sie hätte ausführlicher seyn dürfen. Etwas mager dagegen k a m mir Dein Gott vor. Ich hoffe Du wirst an dieser Stelle in der Folge schon tiefer graben wenn es auch nicht in diesen Reden geschieht, damit sich kein Sack an ihnen freuen und überfüllen möge. Das Bischen über die Unsterblichkeit ist beynah ein Abriß wie mein Ionischer Styl. Indessen m ü ß t e ich die zweyte Rede noch einmal im Ganzen an schauen, um zu sehn wie sichs macht. — Diese Polemik gegen die Unsterblichkeit der Person und des Individui ist gut heilsam aber für den Schluß der wichtigsten Rede nicht neu oder vielmehr nicht eigen genug. Fichte hat wenigstens mündlich sehr o f t darüber gegen mich geredet; ich vermuthe daher, d a ß auch wohl in seinen Schriften Meldung davon seye. Schelling ist voll da v o n . " 1 0 Nach Vollendung der zweiten Rede geriet Schleiermacher in eine Ideenflaute. Er m u ß t e mit dem Schreiben pausieren, weil ihm die Leitidee für die dritte Rede fehlte. Am 25. Februar schrieb Schleiermacher an Henriette Herz: „Sie sehen, ich sehe alles mit Religion an, aber ich schreibe noch keine, wie wird das werden! Werde ich auch Ungern Wort halten? die dritte Rede liegt mir noch gar nicht fertig im Kopf es fehlt mir noch eine Inspiration und ehe die nicht k o m m t kann ich nichts anfan-
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KGA V / 3 , Nr. 559, 4 1 - 4 6 . F. Schlegel, in: KGA V/3, Nr. 579, 3 0 - 4 2 .
I. Die Entstehung der „Reden"
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gen. So etwas läßt aber m a n c h m a l lange auf sich w a r t e n . " 1 1 So lang m u ß t e Schleiermacher d a n n doch nicht warten, denn schon die folgenden Tage sahen ihn wieder an der Arbeit; am 5. M ä r z wollte er die dritte Rede abschließen. 1 2 Doch er w a r am 3. M ä r z mit seiner Leistung nicht zufrieden. „Im Ernst aber merke ich, d a ß hier alles nach und nach schlechter wird, und wenn die folgenden Reden nicht gar erbärmlich werden sollen, so m u ß ich schon aus Religion u m der Religion willen nach Berlin k o m men — aus Religion denn warlich ich will das Universum in Ihnen schauen." 1 3 Schleiermacher schloß die dritte Rede wohl g e m ä ß seinem Terminplan ab. Friedrich Schlegel beurteilte sie zustimmend: „Die dritte Rede hat mir sehr gut, auch das Ende, ja dieses vorzüglich gefallen. Den Styl finde ich weniger vollendet, wie in den ersten beyden Reden, aber der Inhalt gefällt mir sehr u n d auch die Subjektivität der Ansicht u n d der Behandlung. Ich finde in dieser etwas sehr Rhetorisches, obgleich es mehr von der unsichtbaren Art ist. — Am lautesten wird die Subjektivität in der Stelle gegen die Kunst. Indessen bin ich ganz vollkommen Deiner M e y n u n g , in so fern D u doch ü b e r h a u p t nur v o m Zeitalter redest, und Dich überall sichtbar und unsichtbar auf dasselbe beziehst und an dasselbe anschließest. — Sonst finde ich in der alten Tragödie allerdings eine große gediegene Masse von Religion, und auch in den ältern M o d e r n e n die Du wenig kennst von D a n t e bis Cervantes sind viel Mysterien. — Aber d a ß Goethe k a u m Religion hat und Fichte ziemlich viel, wie wohl sie philosophirt u n d gebunden ist, sieht sich k l a r . " 1 4 Schleiermacher fühlte sich in der zweiten M ä r z h ä l f t e unter einem drückenden Schaffenszwang; er wollte die Terminabsprache mit dem Verleger einhalten und litt unter seiner Ungeschick-
11
KGA V / 3 , Nr. 569, 7 0 - 7 4 .
12
Vgl. KGA V / 3 , Nr. 571, 4 5 - 5 5 .
13
KGA V / 3 , Nr. 575, 4 - 8 .
14
F. Schlegel, in: KGA V / 3 , Nr. 592, 1 4 - 2 6 .
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Historische Einführung des Herausgebers
lichkeit, das Werk zu ,machen', klagte darüber, „ d a ß das M a chen für mich ein unnatürlicher Z u s t a n d ist" 1 5 . Doch Friedrich Schlegel m a h n t e ihn: „Ich beschwöre Dich, Dich Ja nicht zu übereilen und Dir Deine volle Bequemlichkeit zu nehmen und zu lassen. Selbst für die äußere Erscheinung der Reden ist dieß heilsam, da m a n es Deinem Styl leicht anmerken könnte, wenn Du ängstlich wirst. Es liegt ja so unendlich wenig dran, ob sie einige Wochen früher oder später fertig w e r d e n . " 1 6 Im M ä r z schrieb Schleiermacher die vierte Rede. Schleiermacher sah sich nicht nur unter Termindruck wegen der Terminabsprache mit dem Verleger Unger, sondern w a r auch bei jeder einzelnen Rede von der Sorge geplagt, o b die staatlichen Zensoren jeweils die Druckerlaubnis erteilen würden. Z w a r w a r mit der A u f h e b u n g des Wöllnerschen Religionsedikts 1 7 am 12. J a n u a r 1798 auch die Zensur gelockert, aber nicht außer Kraft gesetzt worden. Z u d e m w u r d e der Atheismusvorwurf gegen J o h a n n Gottlieb Fichte gerade in zahlreichen Streitschriften diskutiert. Zensor für die meisten Passagen w a r Schleiermachers E x a m i n a t o r und Förderer Friedrich Samuel Gottfried Sack ( 1 7 3 8 - 1 8 1 7 ) . Am 22. Februar 1799 fürchtete Schleiermacher, seine „Reden" k ö n n t e n als atheistisch unterdrückt werden. „Das aber ist gewiß d a ß Sack die Religion zur Censur b e k o m m e n hat. Die erste Rede kann ihm wol gefallen,
15
KGA V/3, Nr. 583, 15 f.
16
F. Schlegel, in: KGA V / 3 , Nr. 592, 2 - 7 .
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D a s üblicherweise nach d e m zuständigen Minister J o h a n n C h r i s t o p h Wöllner (1732-1800) b e n a n n t e , a m 9. Juli 1788 erlassene „Edict, die ReligionsVerfassung in den Preußischen Staaten b e t r e f f e n d " , das die drei staatlich geschützten Konfessionskirchen auf die Beibehaltung ihres alten Lehrbegriffs verpflichtete, w u r d e ergänzt d u r c h ein „Erneuertes Censur-Edict f ü r die Preußischen Staaten exclusive Schlesien" vom 19. D e z e m b e r 1788. Vgl. M i ß b r a u c h t e A u f k l ä r u n g ? Schriften z u m preußischen Religionsedikt v o m 9. Juli 1788. 118 Schriften auf 202 M i k r o f i c h e s , hg. v. Dirk Kemper, Hildesheim 1996, Begleitband, S. 2 2 6 - 2 3 4 . 2 3 5 - 2 4 3 .
I. Die Entstehung der „Reden"
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aber wie wirds mit dem Ende der zweiten werden? Ich fürchte nur er streicht, denn als er vom Fichte mit mir sprach sagte er, er sei sehr gegen die Confiskation eines atheistischen Buches; aber wenn er es zur Censur bekäme würde er ihm doch vielleicht das Imprimatur versagen, und dieß wird ihm wol so gut als atheistisch vorkommen. Ja es ist sehr unangenehm, aber was ist zu machen! Die folgenden Reden werden ihm wohl wieder gefallen. Bekennen will ich mich aber schlechterdings nicht dazu gegen ihn, w a s würde das für Erörterungen geben und ich könnte ihm doch Vieles nicht verständlich machen." 1 8 Schleiermachers Befürchtungen bestätigten sich nicht: die „Reden" passierten die Zensur. Dabei erwies es sich wohl als günstig, daß die zweite Rede vom Oberkonsistorialpräsidenten Adolf Friedrich von Scheve (1752—1837) zensiert w u r d e . 1 9 Die dritte Rede fiel wieder Sack zu. Schleiermacher berichtete am 21. M ä r z über dessen Besuch und Gespräch vom gleichen Tag: „Sack hat mir gesagt, daß er die dritte Rede gehabt hat, er scheint nicht sonderlich davon erbaut. Mein Begriff von Religion scheint ihm sehr unbestimmt (mißverstanden hatte er noch daß ich das Kunstgefühl selbst für Religion hielt) und auf jeden Fall wären in dieser Rede zu viel Bilder so daß es der Deutlichkeit schadete. Das bin ich mir nun gar nicht bewußt, und verstehe nicht was er meint. Er suspendirte denn immer sehr bescheiden sein Urtheil bis er das Ganze kenne, ich aber provocirte auf die beiden ersten Reden und versicherte ihn er würde nichts finden w a s nicht mehr oder weniger in diesen stände. Das Ende der zweiten hat er gewiß nicht gehabt oder nicht gelesen." 2 0 Die Überlegungen zur Zensur veranlaßten Schleiermacher immer auch zu Selbstbeurteilungen. So schrieb er a m 28. M ä r z : „Ob Sack die vierte Rede schon gehabt hat werde ich wol morgen erfahren.
18 19 20
KGA V/3, Nr. 566, 8 - 1 9 . Vgl. KGA V/3, Nr. 573, 61. KGA V/3, Nr. 585, 3 6 - 4 5 .
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Historische Einführung des Herausgebers
Sonderbar ist es daß ich in der ersten und zweiten Rede noch jetzt nichts zu verbessern oder zuzusetzen wüßte (obgleich Schlegel an der 2ten auch noch manches auszusetzen hat), an der dritten und vierten aber schon mancherlei. O b das gerade ein Beweis ist, daß die ersten beiden vollkommner sind weiß ich nicht, es ist aber ein Beweis gegen das Machen überhaupt." 2 1 Die Fremdbeurteilungen ließen ihn an eine gänzliche Umarbeitung der vierten Rede denken, „denn in der soll eigentlich mehr Hohes sein als Sie alle darin gefunden haben und das muß an mir liegen. Die Kirche soll eigentlich dies höchste sein was es menschliches giebt, und ich will sie schon noch herausarbeiten." 2 2 Am 1. April steckte er bereits mitten in seiner Arbeit an der fünften Rede. „Ich habe eine gute Prise gemacht, und es fängt an zu dämmern. Sehn Sie es fehlt mir wieder am Anfange der fünften Rede. Warum sind die Anfänge immer so schwer. Es ist als ob die Ideen auch dem Gravidationsgesetz folgten. Die schweren sammeln sich alle in die Mitte und die leichten verlieren sich so allmählig in dem umgebenden allgemeinen Raum, daß man vergeblich nach dem äußersten Anfange der Anziehungslinie sucht, und am Ende die Grenze dieser Atmosphäre durch einen Machtspruch willkührlich bestimmen muß. Mit dem Schluß scheint es nicht ganz so zu sein; aber warum denn? Den Schluß der fünften Rede habe ich beinah schon. Die einzelne Rede durfte abbrechen, das Ganze aber muß doch schließen und kann es nicht füglich anders als mit einer Aussicht ins Unendliche. Nicht so? begegnet mir noch ein Glück heute mit dem Anfange, so schreibe ich es Ihnen noch. [...] Es lebe der Thee und die Abendstunde, die wenn auch kein Gold, doch Gedanken mit sich führt, ich habe wirklich den Anfang." 2 3 Ein
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KGA V / 3 , Nr. 5 9 3 , 8 - 1 4 .
22
KGA V / 3 , Nr. 6 1 0 , 4 2 - 4 5 .
23
KGA V / 3 , Nr. 6 0 6 , 2 8 - 4 0 . 43 f.
I. Die Entstehung der „Reden"
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verdorbener Räucherfisch verursachte eine Magenverstimmung und erzwang eine kurze Arbeitsunterbrechung. 2 4 Am 8. April konnte Schleiermacher sich an Aushängebogen der zweiten Rede ergötzen und zugleich über einige trockene Passagen der fünften Rede ärgern, so daß er eine größere Umarbeitung vornahm: „aber ist es nicht hart daß ich mehr als einen gedruckten Bogen, gut den dritten Theil der Rede halb umarbeiten und ganz umschreiben soll? Ach und die Messe, an die ich so ehrerbietig glaubte! und was eigentlich das Fundament davon war mein gegebenes Wort fertig zu werden: wo wird das bleiben? Meine Religion kommt mir vor wie so ein kurzer Cursus der Schriftstellerei, wie ich mir einmal einen der Weiblichkeit gewünscht habe; es ist alles darin was so vorzufallen pflegt, nun kommt auch noch das Vernichten, was noch gefehlt hatte." 2 5 Am 9. April ist Schleiermacher in der fünften Rede deutlich vorangekommen und hat neuen Mut gefaßt. „Ich bin nun mit der fünften Rede bis an das schöne, und freue mich auf mein morgendes Stück Arbeit: wenn ich nur einen heitern Tag habe. Mein Dithyramb auf Christum soll kein übles Stück werden hoffe ich. — Wenn Sie mir nur das nicht vergessen, daß Sie, was ich so einzeln schicke in keinem andern Falle weggeben als wenn Unger mir auf den Hacken ist und gleich vor der Censur drucken will, daß er nur nicht so einzelne Stücke zur Censur giebt!" 26 Zugleich beschäftigte ihn die Frage des Werktitels 27 und die Konzeption der Vorrede. Friedrich Schlegel gab ihm zur Vorrede am 8. April durch die Feder von Dorothea Veit (1763 — 1837) Ratschläge: „was aber die Vorrede betriff, so meine ich: Verach-
24 25 26 27
Vgl. KGA V/3, Nr. 610, 1 8 - 3 7 . KGA V/3, Nr. 615, 1 4 - 2 1 . KGA V/3, Nr. 616, 2 4 - 3 1 . Vgl. KGA V/3, Nr. 623 und 628, 1 0 - 1 6 . Schleiermachers Überlegungen zum Werktitel wurden von Friedrich Schlegel offensichtlich nicht aufgegriffen. Vgl. auch oben bei Anm. 8.
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H i s t o r i s c h e E i n f ü h r u n g des H e r a u s g e b e r s
tung des Publikums wäre hinlänglich im Werke selbst; Verachtung des Machens aber, wird sich sehr gut machen, nur muß es recht verachtend, und gemacht seyn. Es muß aber auch eine kleine Rede seyn. Schleiermacher soll sich übrigens keine Grillen im Kopfe setzen, in seinem Buche ist alles so recht, und so nothwendig wie in der besten Welt." 2 8 Am 10. April äußerte sich Schleiermacher gegenüber Henriette Herz zurückhaltend zur Vorrede: „Die Idee der Vorrede scheint Schlegel zu behagen, Sie haben noch kein Wörtchen darüber gesagt. Sehr liegt sie mir nicht am Herzen, und wenn sie mir nicht von selbst kommt werde ich sie nicht holen — es kann recht gut ohne Vorrede gehen. Doch wie der heilige Geist will." 2 9 Nachdem sich Schleiermacher am 12. April noch angelegentlich bei Henriette Herz nach dem Stand der Setzarbeiten und nach ihrem Urteil über seine „Polemik gegen die natürliche Religion" 3 0 erkundigt hatte, konnte er ihr endlich am Montag, den 15. April 1799 beglückt den Abschluß der „Reden" melden. Er begann diesen Brief am 14. April: „ O göttliche Faulheit, du bist doch mein wahres Element! Denken Sie, es ist gleich Mitternacht und ich bin noch in den letzten Sätzen des Christenthums, und es steht doch, so weit es jetzt ist auf zwei Seiten. Aber ich habe mir auch recht gefallen damit zu spielen, und von allem was ich heute gemacht habe, kann ich sagen daß es sehr gut ist. Das historische im Christenthum werden Sie wol eben nicht goutiren; aber Sie werden doch sehen daß es gut ist in seiner Art. Der Schluß ist freilich eine Aussicht ins Unendliche, aber ich werde gar keine Pracht hineinlegen sondern die äußerste Simplicität: denn die Pracht am Ende müßte unendlich sein, und Unendliches kann ich nicht machen. Er ist zwar beinahe schon gemacht, aber geschrieben kann er doch nicht mehr werden. Sie 28
D o r o t h e a Veit / Friedrich Schlegel, in: K G A V / 3 , N r . 6 1 4 , 1 0 - 1 6 .
29
K G A V/3, Nr. 620, 1 8 - 2 1 .
30
K G A V / 3 , Nr. 625, 40.
I. Die Entstehung der „Reden"
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sehen es ist nicht mehr möglich mein Wort zu halten und den Strich heute noch zu machen, wenn ich auch eigensinnig sein und nicht vor dem Ende zu Bette gehen wollte. Ich will doch süß schlafen auf meinen Lorbeern. Wollen Sie das innerste Geheimniß meiner Faulheit wissen? — ich h a b e nicht einmal an die G r u n o w geschrieben. Jetzt eben, am 15ten des M o n a t s April ist der Strich unter die Religion gemacht, des Morgens ein halb zehn Uhr. Hier haben Sie sie, sie mag nun gehen und sehen was ihr geschehen wird. Eine Vorrede werde ich nicht machen. Meinen Sie nicht, d a ß sie im nächsten Buch v o r k o m m e n wird, was Nikolai schreibt? Schlegel wird sagen d a ß die Religion, die Schrift nehmlich, am Schlüsse sich selbst annihilirt, und das ist auch w a h r ; aber eben das scheint mir größer und besser als alle Verachtung des Machens, die ich in die Vorrede hätte bringen k ö n n e n . Wie es mir gestern Abend gegangen ist, ich alter Narr. Voll der Religion habe ich mich schlafen gelegt und mich anderthalb Stunden im Bett herumgetrieben o h n e Schlaf. Es w a r nicht Erhitzung vom Arbeiten, denn das w a r sehr langsam ruhig und leicht gegangen, es w a r eine A n w a n d l u n g von Vaterfreuden und Furcht vor dem Tode. Sehn Sie zum erstem Male ist es mir mit einer gewissen Lebhaftigkeit aufgefallen, d a ß es doch Schade wäre wenn ich diese Nacht stürbe. Darin liegt auch eine Vernichtung der Tagesabtheilung denn o f f e n b a r wird die ganze Zeit w o die Religion geworden ist als ein Tag angesehen." 3 1 Der Druck der „Reden" w a r wohl im Juni 1799 abgeschlossen. Am 19. Juni schrieb Schleiermacher an Henriette Herz: „Gestern, denken Sie sich, h a b e ich in der größten Eil wenigstens zehn Bogen Religion lesen müssen, weil der Setzer, der nun wirklich auf d e m letzten Bogen ist, die Druckfehler verlangte. Das hat mich entsetzlich fatigirt." 3 2 Die ersten Exem-
31
KGA V / 3 , Nr. 629, 2 - 3 4 .
32
KGA V / 3 , Nr. 663, 1 3 - 1 6 .
12
Historische Einführung des Herausgebers
plare der „Reden" hielt Schleiermacher am 4. Juli 1799 in Händen. 3 3 In den öffentlichen Buchhandel kamen die „Reden" im September 1799 zur Michaelismesse.
II. Die A u f n a h m e der „ R e d e n " Schleiermachers Reden „Über die Religion" sind sehr unterschiedlich gelesen und bewertet worden. 3 4 Sie fanden in Schleiermachers Freundes- und Bekanntenkreis eine starke Beachtung, während ihnen in der literarischen Öffentlichkeit keine außerordentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die „Reden" dokumentierten einen Umschwung, gaben einen Anstoß zu neuer schöpferischer Entwicklung. 35 Doch hatten die „Reden"
33 34
Vgl. K G A V/3, Nr. 6 7 1 , 14 f. Wilhelm
Dilthey schildert die unmittelbare A u f n a h m e
der
Erstausgabe
durch die jüngere und ältere Generation (vgl. Leben Schleiermachers, Bd. 1 [einziger], Berlin 1 8 7 0 , S. 4 2 7 - 4 4 6 ; 3 . Aufl., hg. v. M a r t i n Redeker, Bd. 1,1, Berlin 1 9 7 0 , S. 4 4 2 — 4 5 8 ) . Siegfried L o m m a t z s c h bezieht in seinen detailreichen Ü b e r b l i c k darüber, wie die „ R e d e n " von Schleiermachers Zeitgenossen a u f g e n o m m e n wurden, auch die späteren Auflagen ein (vgl. Schleiermacher's Lehre vom Wunder und vom Uebernatürlichen im Z u s a m m e n h a n g e seiner T h e o l o g i e und mit besonderer Berücksichtigung der Reden über die Religion und der Predigten, Berlin 1 8 7 2 , S. 9 9 - 1 2 0 ) . 35
Vgl. August Neander: „Diejenigen aber, welche damals zu dem h e r a n w a c h senden jüngeren Geschlecht gehörten, werden sich erinnern, mit welcher M a c h t dieses in der Kraft jugendlicher Begeisterung von dem verkannten unverleugbaren religiösen Element in der menschlichen
Natur
zeugende
B u c h a u f die G e m ü t h e r der Jugend einwirkte. D u r c h eine einseitige verständige oder spekulative R i c h t u n g , durch einen einseitigen Ethicismus, welcher d o c h , losgerissen von dem religiösen Element, die sittliche Aufgabe des M e n s c h e n in der T i e f e und Erhabenheit ihrer Bedeutung nicht verstehen k o n n t e , w a r das, was das eigenthümliche Wesen der Religion als einem selbstständigen E l e m e n t e in der menschlichen Natur a u s m a c h t e , in Vergessenheit g e b r a c h t w o r d e n . Schleiermacher schlug hier einen T o n an, der zumal in den G e m ü t h e r n der Jugend überall nachklingen m u ß t e . " (Das ver-
II. Die Aufnahme der „Reden"
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keineswegs den Rang einer literarischen Sensation mit reißendem Buchabsatz. 3 6 Für manche waren sie ein sehr künstlerisch komponiertes Erbauungsbuch, für manche die Programmschrift einer neuen Theologiekonzeption. Sie fanden begeisterte Zustimmung; sie riefen aber auch Ablehnung, ja Schmähungen hervor. Die Aufnahme der „Reden" ist teilweise mit derjenigen der von Schleiermacher zum Jahresbeginn 1800 in Berlin ebenfalls anonym veröffentlichten Schrift „Monologen. Eine Neujahrsg a b e " 3 7 verknüpft. D a ß Schleiermacher der Autor der „Reden" sei, war schon bald bekannt. Schleiermacher selbst hat erstmals in der auf August 1803 datierten Vorrede seiner Schrift „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" öffentlich zu erkennen gegeben, daß er die „Reden" und „Monologen" geschrieben habe. 3 8 1) Öffentliche Aufnahme: Friedrich Schlegel war der erste, der auf die „Reden" öffentlich aufmerksam machte und sie kurz besprach. Gleichsam im Sinne einer Mitarbeitervorstellung veröffentlichte er im Herbst 1799 in der Zeitschrift „Athenaeum" anonym eine „Notiz" zu den
flossene halbe Jahrhundert in seinem Verhältniß zur Gegenwart, in: Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben, Jg. 1, Berlin 1 8 5 0 , Nr. 1, S. 6). Neander meldete am 12. Februar 1 8 3 4 Schleiermachers Tod den Studenten mit den Worten, „es sei der Mann dahin geschieden, von dem man künftig eine neue Epoche in der Theologie datiren werde" (Zitat nach O t t o Krabbe: August Neander, H a m b u r g 1 8 5 2 , S. 2 1 ) . 36
Vgl. KGA, Bd. V / 4 , Briefwechsel 1 8 0 0 , hg. v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1 9 9 4 , Brief Nr. 8 9 4 , 4 4 - 5 4 sowie KGA 1/12, S. X l f .
37
Vgl. KGA, Bd. 1/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin / New York 1 9 8 8 , S. 1 - 6 1 .
38
Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1 8 0 3 , S. IV.
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Historische Einführung des Herausgebers
„Reden". 3 9 Schlegel trägt in seiner Besprechung kunstvoll der Bipolarität der „Reden" Rechnung, indem er diese Bipolarität auch zu seinem eigenen Gestaltungs- und Darstellungsprinzip macht. Er stellt nämlich nach einer kurzen allgemeinen Würdigung die Eigenart der „Reden" in zwei Briefen vor, deren erster an einen gebildet-irreligiösen Freund den exoterisch-anknüpfenden Pol der „Reden" abspiegelt und deren zweiter an einen gebildet-religiösen Freund den esoterischen Pol zur Geltung bringt. Durch diese Bipolarität, die das Anliegen und die Struktur der „Reden" durch die Betrachtung aus zwei verschiedenen (entgegengesetzten) Gesichtspunkten offenlegt, gewinnt Schlegel auch genügend Spielraum zu verhaltener Kritik. Seine Besprechung b e k o m m t dadurch sowohl etwas markant-scharfes als auch etwas verschwimmend-undeutliches. Lob und R u h m werden zu guter Letzt doch in einige gewichtige Klammern gesetzt. Der Beginn der Schlegelschen „Notiz" ist überströmend: Die „Reden über die Religion" verdienen vorzügliche Beachtung, „weil gewiß seit langer Zeit über diesen Gegenstand aller Gegenstände nicht größer und herrlicher ist geredet w o r d e n . " 4 0 Nach Schlegel entspricht der Ungewöhnlichkeit des Gegenstandes die Ungewöhnlichkeit seiner Behandlung. „Es sind Reden, die ersten der Art, die wir im Deutschen haben, voll Kraft und Feuer und doch sehr kunstreich, in einem Styl, der eines Alten nicht u n w ü r d i g wäre. Es ist ein sehr gebildetes und auch ein sehr eigenes Buch; das eigenste, was wir haben, k a n n nicht eigner seyn. Und eben d a r u m , weil es im G e w ä n d e der allgemeinsten Verständlichkeit und Klarheit so tief und so unendlich sub-
39
Vgl. Friedrich Schlegel: Notiz zu „Reden über die Religion", in: A t h e n a e u m . Eine Z e i t s c h r i f t von August Wilhelm Schlegel u n d Friedrich Schlegel, Bd. 2, St. 2, Berlin 1799, S. 2 8 8 - 3 0 0 ; Kritische A u s g a b e [ = KA], Bd. 2, C h a r a k t e ristiken u n d Kritiken I (1796—1801), hg. v. H a n s Eichner, P a d e r b o r n 1967, S. 2 7 5 - 2 8 1 .
40
F. Schlegel: A t h e n a e u m 2 / 2 , 289; KA 2, 275.
II. Die Aufnahme der „Reden"
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jektiv ist, k a n n es nicht leicht seyn, d a r ü b e r zu reden, es müßte denn ganz oberflächlich geschehen sollen, oder auf eine eben so subjektive Weise geschehen dürfen: denn von der Religion läßt sich nur mit Religion reden. Und dazu m u ß ich mir denn, wenigstens was die Form betrifft, die Erlaubniß erbitten." 4 1 Im ersten (exoterischen) Brief an den gebildeten Religionsverächter legt Schlegel das Schwergewicht auf die die „Reden" prägende Bildung, durch die die Religion zwar nicht als ursprüngliche Menschheitsanlage konstruiert, wohl aber „zur Mitbürgerin im Reiche der Bildung constituirt" 4 2 werde. Dementsprechend setzt Schlegel das Anliegen der „Reden" in die Vers ö h n u n g von Bildung und Religion bzw. Christentum. Er r ü h m t ihre Schönheit und absolute Subjektivität, die den „Reden" etwas R o m a n h a f t e s gäben. 4 3 Schlegel trägt nun seine verdeckte Kritik so vor, d a ß er den irreligiösen Freund (wie später auch den religiösen) auffordert, zwischen der in den ,Reden" vollzogenen Tat einer universalen Bildungsanerkennung und der explizit vorgetragenen partikularen Konstruktion der Religion mit ihrer Ausgrenzung von Poesie, Philosophie und M o r a l zu unter-
41
F. Schlegel: A t h e n a e u m 2 / 2 , 289f; KA 2, 275. Vgl. d a z u Schleiermachers Brief an H e n r i e t t e H e r z v o m 19. Juni 1799: „ h e r n a c h h a b e ich mit Schlegel n o c h ein w u n d e r b a r e s G e s p r ä c h ü b e r mich g e h a b t , wobei wir u n s w a h r scheinlich beide nicht verstanden h a b e n . Er notizirt jezt die Religion, u n d da studirt er mich ordentlich; er will mein C e n t r u m wissen u n d d a r ü b e r h a b e n wir nicht einig werden k ö n n e n . O b ich mich wol selbst so verstehe wie er mich verstehen will? Ich h a b e ihm gesagt ich w ü r d e w o h l nie bis ins C e n t r u m k o m m e n , mit d e m M a c h e n nemlich meinte ich, d a s hat er f ü r eine Blasphemie gegen mich selbst g e n o m m e n , k u r z wir sind nicht z u s a m m e n g e k o m m e n . Was ist denn mein C e n t r u m , wissen Sie es?" (KGA V / 3 , Nr. 663, 5—12). „In Schlegels Notiz, die erst a n g e f a n g e n ist, steht unter a n d e r m ,der Styl der Reden sei eines Alten nicht u n w ü r d i g ' . — D a s ist wol zuviel gesagt. Übrigens bin ich sehr begierig d a r a u f w a s alles in dieser Notiz stehen w i r d . " (KGA V / 3 , Nr. 663, 1 6 - 1 9 ) .
42
F. Schlegel: A t h e n a e u m 2 / 2 , 292; KA 2, 276.
43
Vgl. F. Schlegel: A t h e n a e u m 2 / 2 , 293; KA 2, 277.
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Historische Einführung des H e r a u s g e b e r s
scheiden. Schlegels Verfahren zielt also darauf, in den ,Reden" einen faktisch wirksamen anderen (universalen) Religionsbegriff aufzuspüren, durch den er den explizit-partikularen umdeuten kann. Der esoterisch-religiöse Brief interpretiert die „Reden" als Morgenzeichen der sich nahenden wahren Religion, das allerdings noch von sehr viel Irreligion durchzogen ist. 4 4 Bei dieser kritischen Sichtung der „Reden" gemäß des darin intendierten Geistes stößt sich Schlegel am meisten an der ausgrenzend-partikularisierenden Idee der Virtuosität. Diese dem Exoterischen zugehörige Idee hindere den Autor, „die lebendige Harmonie der verschiedenen Theile der Bildung und Anlagen der Menschheit, wie sie sich göttlich vereinigen und trennen" 4 5 , ganz zu ergreifen. Dadurch erhalte die unvermeidliche Selbstbegrenzung einen willkürlichen und abträglichen Charakter. Unter religiösem Aspekt würdigt Schlegel die „Reden" als ein großartiges Einführungsbuch, als schönen Anreiz zur Religion für alle die, die der Religion fähig sind. Und das heißt: sie sind keine vollendete Darstellung der reinen Religion. Außer durch diese „ N o t i z " hat Friedrich Schlegel im „Athenaeum" noch zweimal im Jahr 1800 auf die „Reden" hingewiesen: Er widmete ihnen zum einen vier Aphorismen in seiner „Ideen" betitelten Aphorismensammlung. Die achte „Idee" lautet: „Der Verstand, sagt der Verfasser der Reden über die Religion, weiß nur vom Universum; die Fantasie herrsche, so habt ihr einen Gott. Ganz recht, die Fantasie ist das Organ des Men-
44
Vgl. dazu: „Uebrigens werde ich nichts dagegen einwenden, wenn Du finden solltest, daß sich neben der Religion in diesem polemischen Kunstwerk ein ununterbrochener Strom von Irreligion durch das Ganze hinzieht; ungefähr eben so wie sich nach der Darstellung des Verfassers an jede wahre Kirche sogleich eine falsche ansetzt." (F. Schlegel: Athenaeum 2/2, 297; KA 2, 280).
45
F. Schlegel: Athenaeum 2/2, 298; KA 2, 280.
II. Die Aufnahme der „Reden"
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sehen für die Gottheit." 4 6 Die „Idee" Nr. 112 heißt: „In und aus unserm Zeitalter läßt sich nichts größeres zum Ruhme des Christenthums sagen, als daß der Verfasser der Reden über die Religion ein Christ sey." 47 Die „Idee" Nr. 125 wirbt: „Wer ein Höchstes tief in sich ahndet und nicht weiß wie er sichs deuten soll, der lese die Reden über die Religion, und was er fühlte wird ihm klar werden bis zum Wort und zur Rede." 4 8 Die „Idee" Nr. 150 schließlich stellt den dann so geläufig gewordenen Bezug der Universumsidee der „Reden" mit Spinoza her: „Das Universum kann man weder erklären noch begreifen, nur anschauen und offenbaren. Höret nur auf das System der Empirie Universum zu nennen, und lernt die wahre religiöse Idee desselben, wenn ihr den Spinosa nicht schon verstanden habt, vor der Hand in den Reden über die Religion lesen." 49 Friedrich Schlegel publizierte zum andern folgendes „Die Reden über die Religion" betitelte Sonett: „Es sieht der Musen Freund die offne Pforte / Des großen Tempels sich auf Säulen heben, / Und wo Pilaster ruhn und Kuppeln streben, / Naht er getrost dem kunstgeweihten Orte. // Drin tönt Musik dem Frager Zauberworte, / Daß er geheiligt fühlt unendlich Leben, / Und muß im schönen Kreise ewig schweben, / Vergißt der Fragen leicht und armer Worte. // Doch plötzlich scheints, als wollten Geister gerne / Den schon Geweihten höhre Weihe zeigen, / Getäuscht die Fremden lassen in der Blöße; // Der Vorhang reißt und die Musik muß schweigen, / Der Tempel auch verschwand und in der Ferne / Zeigt sich die alte Sphinx in Riesengröße." 5 0 46
47 48 49 50
F. Schlegel: Ideen, in: Athenaeum, Bd. 3, St. 1, Berlin 1800, S. 4 - 3 3 ; KA 2, 2 5 6 - 2 7 2 ; hier Athenaeum 3/1, 5; KA 2, 257. F. Schlegel: Athenaeum 3/1, 24; KA 2, 267. F. Schlegel: Athenaeum 3/1, 26; KA 2, 269. F. Schlegel: Athenaeum 3/1, 32; KA 2, 271. F. Schlegel: Die Reden über die Religion, in: Athenaeum, Bd. 3, St. 1, Berlin 1800, S. 234; KA 5, Dichtungen, hg. v. Hans Eichner, Paderborn 1962, S. 301 f.
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Historische Einführung des Herausgebers
D u r c h seine Teilnahme a m „ A t h e n a e u m " w u r d e Schleiermacher ins literarische K a m p f g e t ü m m e l hineingezogen. Im „ H y m n u s auf d a s neunzehnte J a h r h u n d e r t . N a c h d e m neusten Stück des A t h e n ä u m s " polemisierte J o h a n n e s Daniel Falk (1768 — 1826): „Ein jeder Bauer s c h a f f t sich Schleyermachers G o t t " 5 1 . In der zugehörigen A n m e r k u n g g a b Falk zu Schleiermacher folgende Erläuterung: „Prediger zu Berlin, und Verfasser eines mystisch-verworrenen, und dabey sehr wortreichen Buch's: ,Reden über die Religion' betitelt, dessen H a u p t r e s u l t a t e weit geistvoller, tiefgreifender und lebendiger in Fichtens ,Bes t i m m u n g ' a u s g e d r ü c k t sind, ohne daß hier ein so heilloses Spiel mit Worten getrieben wird, denen der Verfasser, nach neuster Weise, jeden beliebigen Begriff unterschiebt, oder gleich Anf a n g s ein p o m p h a f t e s G e s c h w ä t z ,von H ö h e des Zeitalters, auf welcher sich nur wenige befinden' u. s. w. dem Leser die Leetüre des G a n z e n v e r e k e l t . " 5 2 D a m i t war Schleiermachers a n o n y m e A u t o r s c h a f t der „ R e d e n " erstmals öffentlich bekannt gemacht.53 51
52
53
Johannes Daniel Falk: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire, Jg. 5 [1801], Weimar o. J . [1800], S. 2 5 3 - 2 7 2 , Zitat 259. Falk: Taschenbuch 5, 271 f. Falks folgende Satire —Der Jahrmarkt zu Plundersweiler. Parodie des Göthischen" (307 — 398), die ebenfalls auf die „Reden" Bezug nimmt (vgl. 356. 361. 366f), ist durch eine dem Taschenbuch beigegebene Karikatur illustriert. Hier ist Schleiermacher, mit Buckel und den „Reden über die Religion" in der Rocktasche, als Mitglied des Romantikerkreises gezeichnet (vgl. die Abbildungen KGA 1/12, L X X I V f ) . Einen weiteren satirischen Angriff gegen Schleiermacher trug 1803 Garlieb Helwig Merkel (1769—1850) anonym vor: „Ein kleines, feines Priesterchen wallet, / Zur Buße rufend, allein es verhallet / Zu bald in der Luft sein lockender Ton / In hohen Reden über Religion, / Zärtlich girrend den Lippen entfloh'n! / Doch — reitzt ihr die Gali' ihm — ja dann schwillt / Der Kamm und — polternd er droht und schilt — " (Ansichten der Literatur und Kunst unsres Zeitalters, H. 1, Deutschland [Leipzig] 1803, S. 28). Den Nachweis von Merkels Autorschaft führte Erich Eckertz: Die Verfasser zweier antiromantischer Satiren aus dem Jahre 1803, der „Ästhetischen Prügelei- und den ,Ansichten der Literatur und Kunst unseres Zeitalters", in:
Vergrößerter Ausschnitt aus der Karikatur „Der J a h r m a r k t zu Plundersweiler" (vgl. A n m . 52)
Vergrößerter Ausschnitt aus dem Kupferstich „Versuch auf den Parnaß zu gelangen" (vgl. Anm.53)
II. Die Aufnahme der „ R e d e n "
19
Rezensionen in den damals gängigen theologischen und philosophischen Publikationsorganen gab es nur wenige. Schleiermacher selbst berichtete am 2. Juli 1800 an Henriette Herz: „Denken Sie sich, liebe Freundinn, da habe ich gestern in einem theologischen Journal die erste Recension von den Reden gefunden! der Mann nennt es eine der originellsten, geistreichsten und anziehendsten Schriften, die er je über diesen Gegenstand gelesen, ohngeachtet sie wol nicht nach Jedermanns Geschmack sein dürfte, wie er denn auch mit dem Verfasser nicht durchaus einverstanden wäre, was aber bei einem solchen Gegenstande nicht anders der Fall sein könnte. Dann meint er: eines Auszuges sei die Schrift durchaus nicht fähig, er glaube aber ihren Geist, der in einem Mysticism von der reinsten liberalsten und erhabensten Art bestehe, nicht beßer darstellen zu können als durch einige Stellen aus der zweiten Rede, die jeden Leser, der nur einiges Interesse für Religion habe gewiß zum baldigen Genuß des Ganzen einladen würden. Dann kommen einige Stellen über den Unterschied zwischen Religion und Metaphysik und Moral über Gott und Unsterblichkeit, über den Spinoza, und zulezt über die Toleranz, von der er wünscht, daß sie mir auch zu Gut kommen m ö g e . " 5 4 Diese von Schleiermacher zutreffend charakterisierte anonyme Renzension steht in der vom Rintelner Geschichtsprofessor und Theologen Johann Friedrich Ludwig Wachler (1767—1838) herausgegebenen Zeitschrift „Neue Theologische Annalen" und ist im M ä r z 1800 in der Beilage zum zehnten Stück auf den Seiten 209 — 212 erschienen. Im dritten Stück des dritten Bandes der Zeitschrift „Allgemeine Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen
Euphorion 14, Leipzig / Wien 1907, S. 67—83. Merkels Angriff ist stilisiert als Erläuterung zum großformatigen kolorierten Kupferstich „Versuch auf den Parnaß zu gelangen" (vgl. die Abbildungen K G A 1/12, L X X V I — LXXIX). 54
K G A V / 4 , Nr. 901, 2 - 1 7 .
20
Historische Einführung des Herausgebers
Literatur" (Gießen 1800) findet sich auf den Seiten 4 5 1 - 4 8 9 5 5 eine Rezension des Pfarrers und späteren Heidelberger T h e o l o gieprofessors Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766 — 1837). Schwarz referiert alle fünf Reden, besonders ausführlich die erste und zweite. In sein mit Zitaten durchsetztes Referat schiebt Schwarz immer wieder Bemerkungen (Hervorhebungen, Belobigungen, Bemängelungen und Anfragen) ein. Seine insgesamt w o h l w o l l e n d e Besprechung eröffnet Schwarz mit einer zwei Seiten umfassenden Einleitung, indem er das VieldeutigIndividuelle der „Reden" konstatiert und ihrer geschmeidigen Rezeptionsfähigkeit eine sehr unterschiedliche A u f n a h m e bei den verschiedenen Lesern prophezeit. 5 6 Seine kritischen Bemerkungen bemängeln die abstrakte Einseitigkeit des Religionsbegriffs, die die lebendige Wechselwirkung aller menschlichen An-
55
Die Seitenzählung springt irrtümlich von S. 463 auf 468 und von S. 4 7 4 auf 479.
5fi
Vgl. Schwarz: „Wir müssen unsre Leser mit einem der
merkwürdigsten
P r o d u k t e unsrer neuesten theol. Literatur a u s f ü h r l i c h e r b e k a n n t m a c h e n , über welches wir vielleicht sehr verschiedne Urtheile bald lesen w e r d e n . Ree. w ü ß t e sich wenigstens nicht leicht auf ein Buch zu e r i n n e r n , welches so ganz einander entgegengesetzte Urtheile e r f a h r e n k ö n n t e . O b es a u f k l ä r e n d oder verwirrend, als ein P r o d u k t der tiefsten Philosophie o d e r der Mystik im Geiste J a k o b Böhms, als eine logische o d e r dichterische D a r s t e l l u n g , als atheistisch (denn mit den Verstandesverirrungen unsers Z e i t a l t e r s pflegen auch Besorgnisse und — Lästerungen parallel zu gehen) o d e r als an der Reihe derjenigen, welche den G l a u b e n der Christen vertheidigt
haben,
r ü h m l i c h anschliessend, als die reinste Wahrheit oder als U n s i n n e n t h a l t e n d , als religiös oder als irreligiös — gelten w e r d e : d a s wird von der Individualität des Lesers a b h ä n g e n . M a n c h e w e r d e n eine M i s c h u n g von Fichtianismus und Schlegelianismus (wie sie sich beydes in ihrem eignen — ismus mit gehässigem Blicke denken) d a r i n zu finden u n d zu tadeln g l a u b e n : u n d m a n che dagegen die gehaltvolle O r i g i n a l i t ä t so b e w u n d e r n , d a ß sie d a b e y ihr Innerstes mit Entzücken d a r i n lesen; und viele — w e r d e n es g a r nicht verstehen, o d e r w o h l gar unglücklicher Weise die s c h ö n e S p r a c h e desselben in ihrem G e d ä c h t n i ß behalten u n d d a n n nonsensikalisch überall a n b r i n g e n . " (Bibliothek 3, 451f).
II. Die A u f n a h m e der „Reden"
21
lagen v e r l e u g n e 5 7 , die U n k l a r h e i t des U n i v e r s u m s b e g r i f f s , die V e r w i r r u n g des M o r a l b e g r i f f s 5 8 , die Ü b e r b e t o n u n g der P h a n t a sie, den zur U n d e u t l i c h k e i t f ü h r e n d e n B i l d e r r e i c h t u m s o w i e d i e P o l e m i k g e g e n jegliche R a t i o n a l i t ä t und O b j e k t i v i t ä t in der Relig i o n . S c h w a r z lobt die O r i g i n a l i t ä t und G e d a n k e n f ü l l e des Bu-
57
Vgl. Schwarz: „Hierauf trennt der Vfr. in dem nun schon bemerkten schneidenden Tone Sittlichkeit, Recht und Religion von einander, so daß keines des andern bedürfe, es beweise die größte Verachtung der Religion sie in ein andres Gebiet verpflanzen zu wollen. Der R a u m versagt es uns, die ganze Stelle — und sie verträgt keine Zerstückelung — hier anzuführen, worin er gegen die beliebte Weise die Religion als Stütze und Krücke der Moral anzusehen mit mächtiger Sprache redet, und welche Ree. unter die schönsten und verdienstlichsten rechnet. So gut indessen diese Worte zu ihrer Zeit gesprochen sind, gegen eine noch ziemlich herrschende einseitige Vorstellungsart: so liegt doch auch in diesem scharfen Abtrennen wieder eine Einseitigkeit der Abstraction, (welche dann freylich bald auf diese bald auf jene Art d a s Hellemachen unsers Lehrvortrags wie ein Schatten zu begleiten pflegt); denn ist nicht in dem Menschen alles vereint? gehört denn dieser der Religion, jener der M o r a l , der dritte dem Rechte zu? oder theilen sich diese bey einem Menschen in Regierung der Stunden und Jahre, wie die Planeten in dem Bauernkalender und stattet man heute einen Besuch bey der Moral und morgen bey der Religion ab? Vereinigt sich nicht alles dieses in dem innersten Heiligthume, in dem Gewissen, dergestalt daß wenn d a s Eine von dem Menschen wahrhaft geachtet wird, auch d a s Andre und Dritte in ihm in demselben G r a d e seine Würde behauptet. Der Verf. sagt selbst: daß die Rel. aus dem Innern jeder bessern Seele von selbst entspringt, wenn d a s aber bey der besseren Seele gerade der Fall ist, so muß Religion und Sittlichkeit auch in der untrennbarsten Verbindung und wegen ihrer Selbstständigkeit in der unauflöslichsten Wechselwirkung stehen. M a n wird bald sehen, daß diese scharfe Abtrennung den Grund von allen den Behauptungen enthält, welchen man nicht beystimmen k a n n . " (Bibliothek 3, 458f).
58
Vgl. Schwarz: „ D e s Verf. Theorie der Moral muß ein sonderbares Ding, eine unmoralische Moral seyn, um nur die Religion zu ihrer vollgültigen Vermittlerin bey der Menschheit zu machen, um dem nach Virtuosität strebenden Menschen — welche Virtuosität beschränkt, und kalt einseitig und hart macht — erst Universalität zu geben! Und auf diese Art wäre sie ja doch wieder ein Hülfsmittel der M o r a l , ein Ergänzungsstück, um diese erst dem Menschen anzupassen, wogegen der Verf. vorher so stark protestirte.
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Historische Einführung des Herausgebers
ches, auch viele vortreffliche Einzelheiten trotz aller Einseitigkeit 5 9 , „die blühende und besonders durch tiefe N a t u r k e n n t nisse gebildete Sprache" 6 0 , den großen genialischen Z u g 6 1 . Schwarz faßt seine Rezension zusammen: „Schon haben einige ausgezeichnete M ä n n e r als Philosophen und Theologen das wichtige Wort ausgesprochen, d a ß m a n in Absicht der Religion und des Menschen einlenken müsse auf die Rechte, welche das Gefühl behauptet. M a n fängt an einzusehen, w o es mit der Unnatur hinausgeht, den Menschen zu einem blossen Begriffwesen zu machen. Der Verf. der vorliegenden Schrift, welche, wie m a n bemerkt haben wird, ü b e r h a u p t mit den Herderschen Schriften über Religion noch die meisten Berührungspunkte zeigt, hat dieses mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Gefühls e m p f u n d e n : d a r u m sprach er von einer Wuth des Verstehens; er hat tief empfunden, d a ß Religion o h n e religiöses Gefühl — Nichts sey. Und d a r u m hat er sich durch sein Buch um die Religiosität seines Zeitalters mehr verdient gemacht, als vielleicht erkannt wird. Aber da seine Phantasie zu geschäftig ist, so ist er in den Vorstellungen verwirrt, vernachläßigt den Verstand, und stellt eine Gefühlsreligion auf, welcher freylich der Gegenstand gleich gilt, wenn sie nur Innigkeit in ungemessenem M a a ß e hat. M a n wird
59 60 61
Was soll doch das verwirrende Spiel mit Worten! Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Moralische Gefühle sind religiöse Gefühle so wie sie nur auf den Gegenstand der Religion bezogen werden. Freylich wird es mit der Dankbarkeit, Demuth, Liebe etc. schlecht stehen, die erst durch den Gedanken der Pflicht erzeugt werden sollen, sie werden vielmehr als eine innere Lebendigkeit des moralischen Gefühls schon vorausgesetzt, und dann von der Moral bestätigt: allein das ist auch das Geschäfte der Moral die Gefühle, welche der Pflichtthätigkeit unterliegen, aus der Natur des Geistes zu entwickeln; sie fordert daher nicht bloß Legalität sondern dabey auch nothwendig moralische Gesinnung." (Bibliothek 3, 468f). Vgl. Schwarz: Bibliothek 3, 480. 487. Schwarz: Bibliothek 3, 486. Vgl. Schwarz: Bibliothek 3, 453.
II. Die Aufnahme der „ R e d e n "
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dabey bemerkt haben, daß sein reiner Sinn doch hin und wieder umlenkt von den grellen Punkten, worauf eine solche Theorie hinführt, und dem Objectiven auch wieder einige Ehre widerfahren läßt." 6 2 Ein bloßer bibliographischer Hinweis auf die „Reden über die Religion" findet sich in dem vom Göttinger Theologieprofessor Karl Friedrich Stäudlin (1761 — 1826) herausgegebenen „Magazin für Religions-, Moral- und Kirchengeschichte" im ersten Band (Hannover 1801) mit der Einordnung in „die Philosophie der Geschichte der Religionen." 6 3 Die „Reden" wurden zumeist als programmatische Äußerung einer Theologie gelesen, die von den Ideen der nachkantischen Philosophie und der frühromantischen Bewegung geprägt ist. Diese Einschätzung wird beispielsweise belegt durch die Rezension der Erstauflage, die 1801 im 56. Band der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Zeitschrift „Neue allgemeine deutsche Bibliothek" erschien und mit dem Kürzel „ A d " gezeichnet ist. 6 4 Der Rezensent 6 5 ist der moderate Rationalist J a k o b Christoph Rudolf Eckermann (1754—1837), Theologieprofessor in Kiel seit 1782. Eckermann ordnet die „Reden" der um Fichte und Schelling gruppierten neuesten Philosophie zu. 6 6 Hier sieht er die Überheblichkeit der Haltung und die Unbestimmtheit des sprachlichen und begrifflichen Ausdrucks beheimatet. Eckermann bescheinigt dem Werk „Originalität" 6 7 , doch könne er weder dem Inhalt noch dem Zweck Beifall zollen. „Schaden
62
Schwarz: Bibliothek 3, 487 f.
63
Stäudlin: Magazin 1, 287.
64
Vgl. Neue allgemeine deutsche Bibliothek [ = N A D B ] , Bd. 56, Berlin / Stettin
65
Vgl. Gustav Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner
1801, S. 4 4 - 5 2 . Deutscher Bibliothek nach ihren N a m e n und Zeichen in zwei Registern geordnet, Berlin 1842, S. 35. 6 f. 66
Vgl. Eckermann: N A D B 56, 45.
67
Eckermann: N A D B 56, 44.
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Historische Einführung des Herausgebers
wird indessen das Buch nicht. Die, denen es schaden würde, werden es nicht verstehen, wenn sie es auch läsen. Denen, die es verstehen, kann es nicht schaden." 6 8 Denn entweder seien sie wie der Autor, der nach allgemeinem Hörensagen der reformierte Prediger Schleiermacher sei, Parteigänger Fichtes, oder sie bemerkten die fehlerhafte Bestimmung des Religionsbegriffs und die fehlerhafte Charakterisierung von Judentum und Christentum leicht. Die Rezension ist nicht klar gegliedert. Die anfängliche Urteilsbildung und die daran sich anschließende Mängelrüge gehen in eine Darstellung des Buchinhalts über. An diese Darstellung schließt Eckermann erneut sachliche Überlegungen zu seinen beiden Hauptkritikpunkten an. In seiner knappen Schilderung des Buchinhalts 6 9 geht Eckermann vornehmlich auf Schleiermachers Religions- und Kirchenbegriff sowie auf dessen Judentum- und Christentumauffassungen ein. Eckermann legt das Schwergewicht seiner Inhaltsangabe auf die zweite und die fünfte Rede, während er die dritte und vierte vergleichsweise knapp streift. Schleiermachers Bestimmung der Religion als Anschauung des Universums sieht Eckermann den Gefahren von Atheismus und Determinismus preisgegeben. Er protestiert entschieden gegen Schleiermachers Begriff und Charakterisierung der „Heroen der Religion" 7 0 . Die Abkoppelung der Religion von der Moral fordert seinen Widerspruch heraus. 7 1 Die Gefühlsbestimmtheit der Religion hält er für eine schlechte Argumentationsbasis, um die Verächter der Religion zu gewinnen. 7 2 Schleiermachers Bestimmung des Judentums als einer direkten Verbindung von
68
Eckermann: N A D B 5 6 , 4 4 .
69
Vgl. Eckermann: N A D B 5 6 , 4 5 - 4 9 .
70
Z . B. KGA 1/2, 2 6 0 , 1. 3 1 3 , 3 5 ; vgl. Eckermann: N A D B 5 6 , 4 6 f. 5 0 .
71
Vgl. Eckermann: N A D B 5 6 , 4 9 f.
72
Vgl. Eckermann: N A D B 5 6 , 5 0 .
II. D i e A u f n a h m e d e r „ R e d e n "
25
Menschlichem und Göttlichem im Sinne von unmittelbarer Vergeltung 7 3 begegne auch bei anderen antiken Religionen und erfasse gerade nicht das Charakteristische. „Vielmehr, d a ß dieß Volk einen einzigen G o t t , außer dem kein Anderer G o t t sey, als den Schöpfer und H e r r n des Weltalls, und als einen G o t t , dem nur das Gute, und nichts Böses wohlgefalle, verehren sollte, und d a ß dadurch der w a h r e Religionsglaube als ein festes Fundament zum G r u n d e gelegt wurde, d a ß n u r der G u t e Glückseligkeit, der Böse aber früher oder später verschuldetes Verderben und Elend zu erwarten habe; das, das ist das Characteristische dieser Religion, die niemals untergehen wird, weil sie im Wesen der Dinge und des vernünftigen Geistes des Menschen gegründet ist." 7 4 Beim Christentum hält E c k e r m a n n Schleiermachers Zentralstellung des Versöhnungsgedankens ebenfalls f ü r fehlerhaft. „Vielmehr strahlt der erhabene Vorzug der christlichen Religion vorzüglich aus ihrem Inhalt hervor, der zuerst in einer positiven Religion das für die H a u p t s a c h e der w a h r e n Gottesverehrung erklärte, was G o t t selbst durch die Vernunft und durch das Gewissen f ü r die H a u p t s a c h e derselben erklärt: daß nicht O p f e r und Gebräuche, nicht äußere Umstände und Verhältnisse, sondern Tugend und Rechtschaffenheit allein, den Menschen G o t t wohlgefällig, und einer ewigen Seligkeit fähig und theilhaftig machen k ö n n e n . " 7 5 G e r a d e auf die Verknüpfung von Religion und M o r a l und eine H o c h s c h ä t z u n g von Vernunftreligion legt E c k e r m a n n alles Gewicht. Z u m Schluß bemängelt er den Stil der „Reden". „Ein gewisses pretiöses Wesen in der Schreibart, ist in diesen Reden sehr sichtbar. Es scheint von dem Bewußtseyn eigener Wichtigkeit auszugehen. Der Verf. scheint sich darin zu gefallen; aber es empfiehlt ihn wirklich nicht." 7 6
73 74 75 76
Vgl. Eckermann: NADB 56, 47 f. Eckermann: NADB 56, 51. Eckermann: NADB 56, 51 f. Eckermann: NADB 56, 52.
26
Historische E i n f ü h r u n g des Herausgebers
Eine schärfere Ablehnung als Eckermann formulierte Daniel Jenisch (1764—1804), ebenfalls ein aufklärerisch-antiromantischer Parteigänger Friedrich Nicolais. 7 7 In seiner Schrift „Kritik des dogmatischen, idealistischen und hyper-idealistischen Religions- und Moral-Systems" (Leipzig 1804) griff Jenisch Schleiermacher — zwar o h n e N a m e n s n e n n u n g , aber mit eindeutiger Kennzeichnung — massiv und herabsetzend an. Jenisch polemisierte gegen die „Reden", in denen er eine von Schelling geprägte Theologie dargestellt sah, unter dem abgewandelten Titel „Heilige Reden im Geist des Schellingschen Systems". 7 8 J o h a n n Paul Friedrich Richter (1763 — 1825) veröffentlichte unter seinem Literatennamen Jean Paul 1800 die gegen Fichtes Wissenschaftslehre polemisierende Schrift „Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana". Darin f ü h r t er — tadelnd und lobend zugleich — die „Reden" als eine Folgeerscheinung des verderblichen Fichteschen Idealismus und als Symptom der Zeittendenz an. Er fordert beschwörend: „wahrlich es ist Zeit zu ahnen, welcher unauflöslichen schwärmerischen Sprachen- und Gedanken-Ver-
77
Z u Jenischs Lebenslauf u n d geheimnisvollem Tod vgl. O t t o Fischer: Evangelisches P f a r r e r b u c h f ü r die M a r k B r a n d e n b u r g , Bd. 2,1, Berlin 1941, S. 380; außerdem
Hermann
Patsch
in
seiner
Einleitung
zu
KGA
1/5,
1995,
S. L X I X - L X X I I I . 78
Vgl. Daniel Jenisch: Kritik des d o g m a t i s c h e n , idealistischen und hyper-idealistische Religions u n d M o r a l - S y s t e m s nebst einem Versuch Religion u n d M o r a l von p h i l o s o p h i s c h e n Systemen u n a b h ä n g i g zu begründen u n d zugleich die T h e o l o g e n a u s der D i e n s t b a r k e i t zu befreyen, in welche sie sich, seit
langer
Zeit,
an
die P h i l o s o p h e n
verkauft
hatten,
Leipzig
1804,
S. X X X I I I . 80. 180. 325. 331 f. Jenisch zitiert d a s E n d e der zweiten Rede (vgl. KGA 1/2, 2 4 2 , 3 6 - 2 4 7 , 1 1 ) a u s f ü h r l i c h (vgl. 8 0 - 8 8 ) und schließt d a r a n kritische B e m e r k u n g e n an (vgl. 89 — 108). Schleiermacher rezensierte diese Schrift Jenischs 1806 in der Zeitschrift „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeit u n g " n a m e n t l i c h (vgl. Jg. 3, Jena / Leipzig 1806, Bd. 2, Nr. 101 v o m 29. April 1806, Sp. 1 9 3 - 2 0 0 ; KGAI/5, 1 0 1 - 1 1 7 ) .
II. Die Aufnahme der „Reden"
27
w i r r u n g wir z u t r e i b e n . " 7 9 U n d er b e h a u p t e t , ein Z e i c h e n der v o n Fichte a u s g e l ö s t e n , „ a l l e s ins S c h w a n k e n b r i n g e n d e n S ü n d f l u t h " 8 0 sei „ d e r m a l e r i s c h e S t a n d p u n k t f ü r alle R e l i g i o n e n " 8 1 . In einer A n m e r k u n g k o n k r e t i s i e r t er dieses Z e i c h e n : „ I c h m e i n e die s o n s t vortreflichen , R e d e n ü b e r die R e l i g i o n f ü r g e b i l d e t e Verächter d e r s e l b e n ' . Er giebt d e m W o r t e R e l i g i o n eine neue, u n b e s t i m t e , p o e t i s c h e B e d e u t u n g , der d o c h o h n e sein W i s s e n die alte t h e o l o g i s c h e z u m G r u n d e liegt, weil j e d e s G a n z e u n d a l s o a u c h d a s U n i v e r s u m nur d u r c h einen G e i s t ein G a n z e s ist f ü r einen G e i s t . " 8 2 In seiner „ V o r s c h u l e der Ä s t h e t i k " spielte J e a n Paul 1 8 0 4 v e r m u t l i c h a u f die „ R e d e n " a n , w e n n er die „ f i g ü r l i che A n s c h a u l i c h k e i t " 8 3 des S c h l e i e r m a c h e r s c h e n Stils l o b t . G e o r g Friedrich Wilhelm H e g e l ( 1 7 7 0 — 1 8 3 2 ) ist literarisch z w e i m a l , a l l e r d i n g s in u n t e r s c h i e d l i c h e m U m f a n g , a u f die „ R e d e n " e i n g e g a n g e n . In der V o r r e d e seiner S c h r i f t „ D i f f e r e n z des Fichte'schen u n d Schelling'schen S y s t e m s der P h i l o s o p h i e " zieht H e g e l 1801 die „ R e d e n " als einen I n d i k a t o r d e s Z e i t b e d ü r f n i s ses h e r a n . „Wenn E r s c h e i n u n g e n , w i e die R e d e n über die Relig i o n , — d a s s p e k u l a t i v e B e d ü r f n i ß nicht u n m i t t e l b a r a n g e h e n , s o d e u t e n sie u n d ihre A u f n a h m e , n o c h m e h r a b e r die W ü r d e , w e l c h e mit d u n k l e r e m o d e r b e w u ß t e r e m G e f ü h l , P o e s i e u n d K u n s t ü b e r h a u p t in i h r e m w a h r e n U m f a n g e , zu erhalten anf ä n g t , auf d a s B e d ü r f n i ß n a c h einer P h i l o s o p h i e hin, v o n welcher d i e N a t u r f ü r die M i s h a n d l u n g e n , die sie in d e m K a n t i -
79
J e a n Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, Erfurt 1800, S. 54; Sämtliche Werke [ = SW], Akademie-Ausgabe, Bd. 1/9, hg. v. Eduard Berend, Weimar 1933 (Nachdruck Köln 1979), S. 476, 1 f.
80
Jean Paul: Clavis 60; SW 1/9, 477, 13 f.
81
J e a n Paul: Clavis 57f; SW 1/9, 476, 18 f.
82
Jean Paul: Clavis 58; SW 1/9, 476, 3 6 - 4 0 .
83
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Bd. 2, H a m b u r g 1804, S. 457. In der 2. Auflage änderte Jean Paul in „bildliche Anschaulichkeit" (Bd. 2, Stuttgart / Tübingen 1813, S. 607; Sämtliche Werke, Bd. 1/11, hg. v . E d u a r d Berend, Weimar 1935, S. 260).
28
Historische Einführung des Herausgebers
sehen und Fiehte'sehen Systeme leidet, versöhnt, und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der N a t u r gesetzt wird, nicht in eine solche, worin sie auf sich Verzicht thut oder eine schaale N a c h a h m e r i n derselben werden müßte, sondern eine E i n s t i m m u n g d a d u r c h , daß sie sich selbst zur N a t u r a u s innerer K r a f t g e s t a l t e t . " 8 4 In seiner A b h a n d l u n g „ G l a u b e n und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, J a c o b i s c h e , und Fichtesche P h i l o s o p h i e " , die Hegel 1802 in der von ihm selbst und Schelling herausgegebenen Zeitschrift „Kritisches J o u r n a l der P h i l o s o p h i e " publizierte, bespricht er die „ R e d e n " eigens a m Schluß seiner Auseinandersetzung mit der Individualitätsphilosophie Friedrich Heinrich J a c o b i s . Hegel würdigt die „ R e d e n " kritisch als die höchste A u s b i l d u n g des die d u r c h a u s subjektiv g e n o m m e n e Subjektivität verabsolutierenden J a c o b i s c h e n Prinzips, wobei die gegenüber J a c o b i idealischer gefaßte Selbst- und Weltanschauung dennoch partikular b l e i b e . 8 5 84
85
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fiehte'sehen und Schelling'schen Systems der Philosophie, Jena 1801, S. XI; Gesammelte Werke [ = GW], Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Jenaer kritische Schriften, hg. v. Hartmut Buchner / Otto Pöggeler, Hamburg 1968, S. 8, 4 - 1 3 . Vgl. Hegel: „Wenn das Diesseits, was Wahrheit hat, statt die Wirklichkeit zu seyn, das Universum, und die Versöhnung mit der Natur Identität mit dem Universum, als Empfindung unendliche Liebe, als Anschauung aber Religion ist, aber so, daß diese Identität selbst, es sey mehr als Passivität des Auffassens und innern Nachbildens oder mehr als Virtuosität, etwas schlechthin subjectives und besonderes bleiben, ihre Aeußerung nicht befestigen, noch ihre Lebendigkeit der Objectivität anvertrauen, und hiemit eben die vorige Reflexion der Sehnsucht auf das Subject behalten soll, so hat das Jacobische Princip die höchste Potenzirung erreicht, deren es fähig ist, und der Protestantismus, der im Diesseits Versöhnung sucht, hat sich auf das Höchste getrieben, ohne aus seinem Charakter der Subjectivität herauszutreten. In den Reden über die Religion ist diese Potenzirung geschehen; da in der Jacobischen Philosophie die Vernunft nur als Instinct und Gefühl, und Sittlichkeit nur in der empirischen Zufälligkeit und als Abhän-
II. D i e A u f n a h m e d e r „ R e d e n "
29
Eine ausführliche Berücksichtigung und Würdigung hat der Lehrer J o h a n n Gottlieb R ä t z e (1760—1839) in seiner Schrift „Ansichten von d e m Natürlichen und Uebernatürlichen in der christlichen R e l i g i o n " (Zittau / Leipzig 1803) den „ R e d e n " zu-
gigkeit von Dingen, wie sie die Erfahrung und Neigung und des Herzens Sinn gibt, das Wissen aber nur als ein Bewußtseyn von Besonderheiten und Eigentümlichkeit, es seye äußerer oder innerer, begriffen wird, so ist in diesen Reden hingegen die Natur als eine Sammlung von endlichen Wirklichkeiten vertilgt, und als Universum anerkannt, dadurch die Sehnsucht aus ihrem über Wirklichkeit Hinausfliehen nach einem ewigen Jenseits zurückgehohlt, die Scheidewand zwischen dem Subject, oder dem Erkennen und dem absoluten unerreichbaren Objecte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen befriedigt. Aber indem so das Individuum seine Subjectivität von sich wirft, und der Dogmatismus der Sehnsucht seinen Gegensatz in Idealismus auflößt, so soll diese Subjectobjectivität der Anschauung des Universums doch wieder ein Besonderes und Subjectives bleiben; die Virtuosität des religiösen Künstlers soll in den tragischen Ernst der Religion ihre Subjectivität einmischen dürfen, und statt diese Individualität entweder unter dem Leib einer objectiven Darstellung großer Gestalten und ihrer Bewegung untereinander, der Bewegung des Universums aber in ihnen, zu verhüllen, — wie in der triumphirenden Kirche der Natur, das Genie in Epopäen und Tragödien erbaute, oder anstatt dem lyrischen Ausdruck sein subjectives dadurch zu nehmen, daß er zugleich im Gedächtniß vorhanden, und als allgemeine Rede auftrete, soll dieses Subjective in der Darstellung der eignen Anschauung des Universums, so wie in der Production derselben in andern, die wesentliche Lebendigkeit und Wahrheit ausmachen, die Kunst ohne Kunstwerk perenniren, und die Freyheit der höchsten Anschauung in der Einzelheit und in dem für sich etwas besonderes haben, bestehen; wenn der Priester nur ein Werkzeug und Diener seyn kann, das die Gemeinde, und das sich ihr und sich opfert, um das Begränzende und Objective der religiösen Anschauung zu thun, und dem alle Macht und Kraft vor der mündigen Gemeine nur als einem Representanten zukommen kann, soll sie, sich unmündig stellend, den Zweck und die Absicht haben, das Innere der Anschauung von ihm als einem Virtuosen des Erbauens und der Begeisterung in sich bewirken zu lassen;es soll einer subjectiven Eigenheit der Anschauung (Idiot heißt einer, insofern Eigenheit in ihm ist) statt sie zu vertilgen, und wenigstens nicht anzuerkennen, so viel nachgegeben werden, daß sie das Princip einer eigenen Gemeine bilde, und
30
Historische Einführung des Herausgebers
teil werden l a s s e n . 8 6 R a t z e s Rezension ist g e p r ä g t von L o b und H o c h a c h t u n g für d a s G e s a m t u n t e r n e h m e n sowie A b l e h n u n g und M ä n g e l a u f w e i s in vielen Einzelheiten. „Eine originelle, überaus lehrreiche, und von einem religiösen Geiste überfließende Schrift, aber auch voll von schwankenden, mystischen
daß auf diese Weise die Gemeinchen und Besonderheiten ins unendliche sich geltend machen und vervielfältigen, nach Zufälligkeit auseinander schwimmen und zusammen sich suchen, und alle Augenblicke wie die Figuren eines dem Spiel der Winde preisgegebenen Sandmeeres die Gruppirungen ändern, deren jeder zugleich, wie billig, die Besonderheit ihrer Ansicht und ihre Eigenheit etwas so müssiges und sogar un geachtetes sey, daß sie gleichgültig gegen die Anerkennung derselben, auf Objectivität Verzicht thun, und in einer allgemeinen Atomistik alle ruhig neben einander bleiben können, wozu freylich die aufgeklärte Trennung der Kirche und des Staats sehr gut paßt, und in welcher Idee eine Anschauung des Universums nicht eine Anschauung desselben als Geistes seyn kann, weil das, w a s Geist ist, im Zustande der Atomen, nicht als ein Universum vorhanden ist, und überhaupt die Katholicität der Religion nur in Negativität und der Allgemeinheit des Einzelnseyns besteht. Wenn also schon die Subjectivität des Sehnens in die Objectivität des Schauens sich emporgehoben hat, und die Versöhnung nicht mit der Wirklichkeit, sondern mit dem Lebendigen, nicht mit der Einzelheit, sondern mit dem Universum geschieht, so ist selbst dieses Anschauen des Universums wieder zur Subjectivität gemacht, indem es theils Virtuosität, oder nicht einmal ein Sehnen, sondern nur d a s Suchen eines Sehnens ist, theils es sich nicht organisch constituiren, noch die wahrhafte Virtuosität in Gesetzen und in dem Körper eines Volkes und einer allgemeinen Kirche ihre Objectivität und Realität erhalten, sondern die Aeußerung ein schlechthin inneres, unmittelbarer Ausbruch oder Nachfolge einzelner und besonderer Begeisterung, und nicht die wahrhafte Aeußerung, ein Kunstwerk vorhanden seyn soll." (Glauben und Wissen, in: Kritisches Journal der Philosophie, Bd. 2, Tübingen 1802, 1. Stück, S. 1 3 4 - 1 3 7 ; G W 4, 3 8 5 , 8 - 3 8 6 , 3 6 ) . 86
Rätze verweist nicht nur in den Anmerkungen seiner Abhandlung zweimal (vgl. 8. 41) auf die „ R e d e n " , sondern er widmet ihnen auch einen Anhang, in dem er auf die Beurteilung derselben (vgl. 141 — 160) einen thematisch geordneten Abdruck einiger Hauptstellen (vgl. 160—201) folgen läßt. Rätze nennt anmerkungsweise „F. Scheiermacher [!], Prediger am Charitee-Haus zu Berlin" (141) als Ve rfasser der anonymen Schrift.
II. Die Aufnahme der „Reden"
31
und irrigen Begriffen und Urtheilen." 8 7 „Im Ganzen genommen sind diese Reden consequent und auf eine Hauptansicht hinweisend, im Einzelnen aber inconsequent, und es möchte wohl kaum ein Hauptsatz darin anzutreffen seyn, der hie und da durch Unbestimmtheit nicht aufgehoben, oder wenigstens in einen scheinbaren Widerspruch versetzt würde. Dennoch ist des Geistvollen, Religiösen, Originellen und Beherzigungswürdigen so viel in diesen Reden, daß sie einer vorzüglichen Prüfung und Aufmerksamkeit werth sind. Ueberhaupt kann es, in Rücksicht der subjectiven Religion, d.i. des religiösen Geistes, der religiösen Gesinnung, kein religiöseres Buch geben, als die Reden an die gebildeten Religionsverächter, aber in Rücksicht der objectiven Religion, d.i. der Darstellung des religiösen Stoffs durch Begriffe, herrscht bey aller Vortrefflichkeit, Wahrheit und Bestimmtheit, auch viel Unbestimmtes, Irriges, Einseitiges und Widersprechendes d a r i n . " 8 8 Während Rätze die subjektive Seite der „Reden", ihre Religiosität und ihre Darstellungskunst, sehr rühmt, formuliert er gegen ihre objektiv-lehrmäßige Seite in zwei Gedankenkreisen seine Einwände, Vorbehalte und Widerlegungen. Der erste Überlegungsgang ist Schleiermachers Religionsbegriff gewidmet. „Der Hauptfehler dieser Schrift besteht zunächst in einem einseitigen, unvollständigen und mystischen Religionsbegriffe." 8 9 In drei Schritten präzisiert Rätze diesen Vorwurf. Erstens kritisiert er die Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit und unklare Zuordnung der Begriffe von Universum und Gott; ihn irritiert zudem sichtlich die mangelnde Normativität in der Schleiermacherschen Phänomenbeschreibung und -Würdigung. Die Objektivität und Zweckmäßigkeit der Religionsvorstellungen werde bei aller Vortrefflichkeit des religiösen Sinnes ver-
87
Ratze: Ansichten 141.
88
Rätze: Ansichten 1 4 2 f.
89
Rätze: Ansichten 143.
32
Historische Einführung des Herausgebers
nachlässigt. Für den Gottesbegriff fordert Rätze den Primat vor dem Universumsbegriff. Zweitens greift Rätze Schleiermachers Diastase von Religion und Moral an. „Nicht minder unrichtig ist es, wenn das Subjektive in der Religion bloß als etwas Passives, Gefühltes, Demüthigendes und Hingebendes dargestellt, alles Active, Moralische, Denkende und Erhebende aber von der Religion ausgeschlossen w i r d . " 9 0 Bei aller berechtigten Betonung der Eigenart und Eigenständigkeit der Religion müsse doch ihre Trennung von der Moral als unsachgemäß getadelt werden. Zudem widerspreche die Ablehnung und Aussonderung moral- bzw. philosophiegeprägter Religionsansichten der von Schleiermacher ansonsten proklamierten Mannigfaltigkeit legitimer religiöser Äußerungen. Damit ist schon der Überschritt zum dritten Punkt präformiert. „Eben so sonderbar, unbestimmt und ungültig ist es auch, wenn der Verfasser alle Philosophie aus der Religion hinauswirft, und dieselbe für etwas der Religion Fremdartiges erklärt." 9 1 Rätze mißt der Philosophie wichtige aufklärende, durchbildende, reinigende und verteidigende Aufgaben für die Religion zu. Die von ihm akzeptierten Vorwürfe gegen die Religionsphilosophie, die das denkerische Moment in der Religion sachgemäß neben dem anschauenden, fühlenden und handelnden zur Geltung bringe, setzt er zu Lasten der Philosophen und nicht der Philosophie. In einem zweiten Gedankenkreis beschäftigt sich Rätze mit Schleiermachers Stellung zu den positiven Religionen. Seinen grundsätzlichen Beifall modifiziert Rätze durch seine Kritik der Schleiermacherschen Auffassung des Übernatürlichen im Positiven. „Einen reinem, kühnern, consequentern und moralischem Naturalismus in der Religion kanns nirgends geben, als in den Reden an die gebildeten Religionsverächter. Ihrem Verfasser sind die positiven Religionen weiter nichts, als natürliche Er90 91
Ratze: Ansichten 150. Rätze: Ansichten 152.
II. Die Aufnahme der „Reden"
33
scheinungen von wirklich religiösen Menschen, oder begeisterte Darstellungen der Anschauungen des U n i v e r s u m s . " 9 2 O b w o h l Rätze die Widerlegung des religiösen Naturalismus schon in seiner eigenen Abhandlung zu seinem besonderen Anliegen gemacht hat und er in diesem Punkt auch Schleiermacher entschieden entgegentritt, rühmt er d o c h Schleiermachers Darstellung
des religiösen
Kräftefeldes
im
subjektive
Christentum.
Er
selbst hält an der Vernünftigkeit und Unverzichtbarkeit der Offenbarungspositivitäten fest, schon um der Abgrenzung der positiven von der natürlichen Religion willen. Zuletzt gibt Rätze noch einen unterstützenden Hinweis an die Pädagogen,
sich
Schleiermachers bedenkenswerte Ausführungen zum Religionsunterricht zu Herzen zu nehmen. 2) Private Aufnahme: Über die private A u f n a h m e der „ R e d e n " und ihre erste Beurteilung sind zahlreiche Briefdokumente
und
Erinnerungen
überliefert. N o c h im Juli 1 7 9 9 verschickte Schleiermacher E x emplare seiner „Reden" an V e r w a n d t e 9 3 und Freunde. 92
Rätze: Ansichten 155 f. R ä t z e belegt seine T h e s e durch ein längeres Z i t a t zum Wunder-und Offenbarungsbegriff.
93
Schleiermachers O n k e l und väterlicher Freund Samuel Ernst T i m o t h e u s Stubenrauch ( 1 7 3 8 — 1 8 0 7 ) meldete in seinem am 16. Juli 1 7 9 9
begonnenen
Brief den Erhalt der Schrift: „ R e c h t sehr danke ich Ihnen, daß sie mir die schon lange erwartete Schrift nun endlich geschickt und auch mit ihren E i g e n t ü m l i c h k e i t e n mich vorläufig in etwas b e k a n n t gemacht h a b e n . Gewaltig ist meine Neugier diesmal auf die Probe gestellt, da ich dies Buch — ohne es öffnen und ansehn zu können — ganzer 2 4 Stunden versiegelt bey mir behalten mußte, da ich es M o n t a g s erst auf die Accise schicken konnte. J e t z t kann ich mich über den Inhalt noch nicht näher einlaßen, da ich bis jetzt nur noch die erste R e d e oder die Apologie habe durchlesen k ö n n e n , denn sie erfordert ganze A u f m e r k s a m k e i t aber schon daraus bin ich in den Stand gesetzt dem Urtheil ihrer dortigen Freunde aus Ueberzeugung beyzutreten, daß sie sehr gut geschrieben und nach d e m , was Sie mir von der Z e i t , in welcher sie sie abgefaßt h a b e n , mitgetheilt h a b e n , muß ich Ihnen
34
Historische Einführung des Herausgebers
Im Freundes- und Bekanntenkreis Schleiermachers waren die „Reden" für längere Zeit ein Werk, das immer wieder als exemplarische Darstellung der neuen romantischen Religionsauffassung diskutiert und gewürdigt wurde. Friedrich Schlegel berichtete etwa am 10. O k t o b e r 1799 aus Jena an Schleiermacher: „Goethe hat sich mein prächtiges Exemplar geben lassen, und k o n n t e nach dem ersten begierigen Lesen von zwey oder drey Reden gegen Wilhelm die Bildung und die Vielseitigkeit dieser Erscheinung nicht genug r ü h m e n . Je nachläßiger indessen der Styl und je christlicher die Religion w u r d e , je mehr verwandelte sich dieser Effekt in sein Gegentheil, und zuletzt endigte das Ganze in einer gesunden und fröhlichen Abneigung. Also ein neuer Beleg f ü r die innere Duplicität dieses Mittels. H a r d e n berg hat Dich mit dem höchsten Interesse studirt und ist ganz eingenommen, d u r c h d r u n g e n begeistert und entzückt. Er behauptet nichts an Dir tadeln zu k ö n n e n , und in so fern einig mit Dir zu seyn. Doch damit wird es nun wohl so so stehen. Er hat mir einen Aufsatz über Katholicismus verheißen, auch will er über Dein Buch mir etwas f ü r Dich aufschreiben. [...] Schellingen geht es mit Deinen Reden fast wie Fichte'n. Jedoch hatte er H o c h a c h t u n g , und sagte mir wenn Du nur etwa noch etwas des Inhalts oder der Art schriebest, oder auch etwas zur Vertheidigung der jetzigen Schrift, so wolle er d a n n damit anfangen, und hernach auch die jetzige Schrift gründlich studiren, die ihm wie Fichte'n sehr schwer zu lesen und zu verstehn wird. Er ist ungefähr eben so weit darin g e k o m m e n wie Fichte." 9 4
auch allerdings das Zeugniß geben, daß Sie sehr fleißig dabey gewesen; aber das ist wohl allerdings vorauszusetzen, daß Sie mit dem Plan und den Ansichten und Ideen schon zu Richtigkeit gekomen waren, ehe Sie anfingen, sie wirklich schriftlich abzufassen." (KGA V/3, Nr. 677, 6—21). Z u m Inhalt der „Reden" bekundete Stubenrauch etwas später eine wohlwollende Zurückhaltung (vgl. KGA V/3. Nr. 680, 8 - 1 6 ) . 94
KGA V/3, Nr. 710, 3 - 1 5 . 2 4 - 3 0 .
II. Die Aufnahme der „Reden"
35
In seinem 1799 geschriebenen und posthum vollständig 1826 veröffentlichten Aufsatz „Die Christenheit oder E u r o p a " rühmt Friedrich von Hardenberg (Novalis) (1772—1801) kaum verhüllt Schleiermachers epochale Bedeutung für die Religion: „Zu einem Bruder will ich euch führen, der soll mit euch reden, daß euch die Herzen aufgehn, und ihr eure abgestorbene geliebte Ahndung mit neuem Leibe bekleidet, wieder umfaßt und erkennt, was euch vorschwebte, und was der schwerfällige irdische Verstand freilich euch nicht haschen konnte. Dieser Bruder ist der Herzschlag der neuen Zeit, wer ihn gefühlt hat zweifelt nicht mehr an ihrem Kommen, und tritt mit süßem Stolz auf seine Zeitgenossenschaft auch aus dem Haufen hervor zu der neuen Schaar der Jünger. Er hat einen neuen Schleier für die Heilige gemacht, der ihren himmlischen Gliederbau anschmiegend verräth, und doch sie züchtiger, als ein Andrer verhüllt. — Der Schleier ist für die Jungfrau, was der Geist für den Leib ist, ihr unentbehrliches Organ dessen Falten die Buchstaben ihrer süßen Verkündigung sind; das unendliche Faltenspiel ist eine Chiffern-Musik, denn die Sprache ist der Jungfrau zu hölzern und zu frech, nur zum Gesang öffnen sich ihre Lippen. Mir ist er nichts als der feierliche Ruf zu einer neuen Urversammlung, der gewaltige Flügelschlag eines vorüberziehenden englischen Herolds. Es sind die ersten Wehen, setze sich jeder in Bereitschaft zur G e b u r t ! " 9 5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ( 1 7 7 5 - 1 8 5 4 ) äußerte sich zunächst nach einem nur oberflächlichen ersten Leseeindruck reserviert und verfaßte wohl auch im Gegenzug gegen die
95
Novalis: Schriften, Bd. 3, hg. v. Richard Samuel / H a n s - J o a c h i m Mähl / Gerhard Schulz, 3. Aufl., Stuttgart 1 9 8 3 , S. 5 0 7 - 5 2 4 , hier 5 2 1 , 4 - 2 2 . Der Aufsatz wurde posthum zunächst auszugsweise (vgl. Novalis Schriften, hg. v. Ludwig Tieck / Friedrich Schlegel, Bd. 2, Berlin 1 8 0 2 , S. 5 3 4 - 5 5 2 ) und später vollständig
(vgl. Novalis Schriften, 4 . Aufl., Bd. 1, Berlin
S. 1 8 7 - 2 0 8 ) veröffentlicht.
1826,
36
H i s t o r i s c h e E i n f ü h r u n g des H e r a u s g e b e r s
„ R e d e n " im H e r b s t 1799 d a s Gedicht „ E p i k u r i s c h G l a u b e n s b e kenntniß Heinz W i d e r p o r s t e n s " 9 6 . Schelling sprach aber später a m 3. Juli 1801 gegenüber A u g u s t Wilhelm Schlegel seine große Verehrung für die „ R e d e n " aus: „ich ehre jetzt den Verfasser als einen Geist, den m a n nur auf der g a n z gleichen Linie mit den ersten Original-Philosophen betrachten kann. O h n e diese Originalität ist es nicht möglich, so d a s Innerste der Speculation durchdrungen zu h a b e n , ohne auch nur eine S p u r der Stufen, die m a n durchgehen mußte, zurückzulassen. D a s Werk, wie es ist, scheint mir bloß a u s sich selbst entsprungen, und ist dadurch nicht nur die schönste Darstellung, sondern zugleich selbst ein Bild des U n i v e r s u m s , und gleichwohl muß, wer etwas der Art hervorbringen will, die tiefsten philosophischen Studien gemacht haben — oder er hat durch blinde göttliche Inspiration g e s c h r i e b e n . " 9 7 Schelling ließ sich als Zeichen seiner Wertschätzung sein E x e m p l a r der „ R e d e n " , d a s er 1801 von A. W. Schlegel b e k o m m e n hatte, „ w i e ein w a h r h a f t geistliches Buch in schwarzen C o r d u a n mit g o l d n e m Schnitt b i n d e n . " 9 8 A u g u s t Wilhelm Schlegel ( 1 7 6 7 - 1 8 4 5 ) schlug Schleiermacher a m 9. Juni 1800 bei den Vorbereitungen z u m d a n n gescheiterten Zeitschriftenprojekt vor, die „ R e d e n " gleichsam als Schleiermachers literarische Visitenkarte zu n u t z e n . 9 9 Schleiermachers E i n w a n d , die „ R e d e n " hätten eine zu geringe R e s o n a n z gefunden, um als Q u a l i t ä t s b e w e i s dienen zu können, ließ A . W. Schlegel nicht gelten; er antwortete a m 7. Juli 1800: „Wenn Sie sonst keine E i n w e n d u n g gegen die N e n n u n g der Reden über die
96
Vgl. A u s S c h e l l i n g s L e b e n . In B r i e f e n , hg. v. G u s t a v L e o p o l d Pütt, B d . 1, L e i p z i g 1 8 6 9 , S. 2 8 2 - 2 8 9 s o w i e K G A V / 3 , N r . 7 2 5 , A n m . zu 7 1 - 7 5 . D i e u m s t r i t t e n e P u b l i k a t i o n i m „ A t h e n a e u m " u n t e r b l i e b a u f G o e t h e s R a t (vgl. K G A V / 3 , Nr. 754, 6 1 - 6 6 ) .
97
A u s Schellings L e b e n 1, 3 4 5 .
98
A. W. S c h l e g e l , in: B r i e f e 3 , 2 9 1 .
99
Vgl. A. W. Schlegel, in: K G A V / 4 , N r . 8 8 2 , 107 f.
II. Die Aufnahme der „Reden"
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Religion in der Einleitung statt Ihres N a m e n s haben, als d a ß das Buch nicht b e k a n n t genug sey, so fällt diese von selbst weg; ich versichre Sie, d a ß es Sensation gemacht, w o ich nur hingehört, noch neulich geschah mir aus Schlesien von Neubeck eine A n f r a g e deswegen. D a ß es noch nicht in großer Anzahl verkauft w o r d e n , beweist dagegen nichts. Wer weiß aber, Sie schreiben noch vor A n f a n g des Instituts ein Buch mit ihrem N a m e n . Mit der Anonymität, das lassen Sie nicht dauern — ich glaube es w ü r d e mir auch schlecht gelingen." 1 0 0 J o h a n n Wilhelm Ritter ( 1 7 7 6 - 1 8 1 0 ) billigte den „Reden" gleichsam epochale Bedeutung zu. 1 0 1 August Ludwig Hülsen (1765 —1810) k o n n t e sich gerade wegen der hohen Qualität der „ R e d e n " zunächst nur Fichte oder Schelling als Verfasser vorstellen 1 0 2 ; auf Schleiermacher, den das ziemlich k r ä n k t e 1 0 3 , k a m er nicht. Die „Reden" wirkten auf durchaus unterschiedliche religiöse Charaktere. Einigen w u r d e die Lektüre zum Bekehrungserlebnis. Im Sinne einer theologischen Befreiung hat Claus H a r m s (1778 — 1855) sein Studienerlebnis der Jahreswende 1801/02 und seinen Bruch mit dem Rationalismus geschildert: „Ein Freund sagte mir in einem Collegio: D u , H a r m s , ich habe ein Buch b e k o m m e n , das ist eins f ü r dich. Ich weiß nichts damit zu machen, du vielleicht; du sollst es von mir haben, aber sage mir darnach, w a s du von demselben hältst. Das waren Schleiermachers Reden über die Religion. Wir gingen nach der Stunde eben am H a u s e des Freundes vorbei, er holte das Buch aus sei-
100
A. W. Schlegel, in: KGA V / 4 , Nr. 908, 2 2 - 3 0 .
101
Vgl. D o r o t h e a Veit, in: KGA V/4, Nr. 935, 20 f.
102
Vgl. H ü l s e n , in: KGA V/3, N r . 704, 1 0 - 5 7 . Statt einer eigenen eingehenden Beurteilung stellte Hülsen die eines älteren L a n d p r e d i g e r s in Aussicht, die aber nicht z u s t a n d e k a m (vgl. KGA V / 3 , Nr. 780, 5 6 - 6 5 ) . Z u W e r t s c h ä t z u n g vgl. KGA V/3, Nr. 845, 8 5 - 9 3 .
103
Vgl. KGA V / 4 , N r . 928, 1 0 2 - 1 0 5 .
Hülsens
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H i s t o r i s c h e E i n f ü h r u n g des H e r a u s g e b e r s
ner Stube und ich ging mit diesem Buch unter'm Arm nach Hause. Es war ein Sonnabend-Mittag. Nachmittags fing ich an darin zu lesen, bestellte bald bei der Wärterin, jedem Kommenden zu sagen, ich wollte nicht gestört werden, las tief in die Nacht hinein und brachte es zu Ende, mag darnach wohl ein paar Stunden geschlafen haben, fing Sonntag Morgen wieder von vorn zu lesen an, las den Vormittag, fing nach Tisch wieder zu lesen an — da ward es mir im Kopfe nicht anders, als würden zwei Schrauben an meine Schläfen gesetzt. Darauf legte ich das Buch hin, ging um den kleinen Kiel, den einsamen Gang, den Gang der Stillen in der Stadt, und auf diesem Gange war's, daß ich wie mit einem Male allen Rationalismus und alle Aesthetik und alles Selbstwissen und alles Selbstthun in dem Werke des Heils als nichtig und als ein Nichts erkannte, und mir die Nothwendigkeit wie einblitzte, daß unser Heil von anderer Herkunft sein müßte. Ist dieses wem mysteriös, mystisch, und diese Erzählung eine Mythe, ein Phantasma, so nehm' er's so; ich kann's nicht deutlicher geben, hab' aber daran, was ich die Geburtsstunde meines höhern Lebens nenne; doch richtiger gesagt: die Todesstunde meines alten Menschen nach seiner Erkenntniß in göttlichen Dingen, anders gesprochen, wie Stilling gesprochen von dem Eindruck, den Herder auf ihn gemacht habe: ich empfing von diesem Buch den Stoß zu einer ewigen Bewegung." 1 0 4 Der spätere Kollege Schleiermachers in der Berliner Theologischen Fakultät Philipp Konrad Marheineke (1780—1846) hatte bei der Lektüre der „Reden" ein besonderes Evidenzerlebnis. Im Brief vom 9. August 1805, mit dem er sich Schleiermacher bekannt machte, schrieb Marheineke: „Ich glaube fast, daß ich erst da, als ich Sie über die Religion reden hörte, zum ersten-
104
Claus Harms: Lebensbeschreibung, verfasset von ihm selber, Kiel
1851,
S. 67f; Ausgewählte Schriften und Predigten, hg. v. Peter Meinhold u. a., Bd. 1, Flensburg 1955, S. 7 9 f.
II. Die Aufnahme der „Reden"
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mal in meinem Leben mit voller Besinnung religiös und f r o m m gewesen bin; denn es w a r w a h r h a f t i g etwas mehr, als die Reflexion, die ich w a h r n a h m in meinem G e m ü t h e , als ich auf diese Weise Ihre Bekanntschaft machte. Und wen m a n in solchen Stunden als einen Propheten göttlicher O f f e n b a r u n g kennen gelernt hat — wie sollt' ich es Ihnen nicht sagen dürfen, d a ß ich Sie von ganzem Herzen liebe?" 1 0 5 Für die A u f n a h m e der „ R e d e n " in ihren verschiedenen Auflagen ist besonders der Briefwechsel aufschlußreich, den Schleiermacher mit seinem Studienfreund, dem schwedischen D i p l o m a t e n und Dichter Karl Gustav von Brinckmann (Brinkman) ( 1 7 6 4 - 1 8 4 7 ) geführt hat. A m 6. Juli 1799 schrieb Schleiermacher an Brinckmann nach Paris: „Denke, ich habe meine Unschuld verloren, die literarische nemlich! Z w a r vor der Welt nicht, denn es ist im strengsten incognito geschehen, aber doch innerlich und da es Leute giebt die einem jungen Menschen so etwas an den Augen ansehen so fürchte ich d a ß auch die böse Welt zeitig genug dahinter k o m m e n wird. Ich habe ein kleines Büchlein über die Religion geschrieben, und wenn es der M ü h e verlohnte, wenn es nicht Tollheiten genug in Paris gäbe, und wenn D u nicht absichtlich die ganze deutsche Litteratur hier gelaßen hättest, so w ü r d e ich es Dir geschikt h a b e n . " 1 0 6 Mit Verzögerung las Brinckmann die „Reden" und brieflich a m 14. M ä r z 1800 begeistert. „Das ist ja ein ches Buch, — das Lessingen entzückt haben w ü r d e , meine E r w a r t u n g e n bei weitem übertroffen hat. Und 105
lobte sie unendliund das doch er-
Marheineke, in: Briefe 4, 116. i° 6 KC.A V/3, 673, 4 3 - 5 1 . Brinckmann bekundete am 10. Oktober 1799 sein starkes Interesse an den „Reden" (vgl. KGA V/3, Nr. 709, 1 2 - 1 8 ) . Schleiermacher stellte am 4. Januar 1800 die baldige Übersendung in Aussicht und bat um ein „ordentliches Wort darüber" (KGA V/3, Nr. 758, 94). Doch kam die Verschickung nicht zustande (vgl. KGA V/3, Nr. 796, 46—49), und Brinckmann konnte ein Exemplar erst mit Verspätung in Hamburg bekommen.
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Historische Einführung des Herausgebers
wartete ich nicht wenig, troz der Lobpreisung im Athenäum, deren Posaunenton mir mißfiel. Seitdem hatten mir ein par recht kluge Menschen versichert, das Ganze sei ein solcher mystischer Galimathias, daß meine ganze Freundschaft für den Verfasser nicht hinreichen würde, dies Buch mit meiner filosofischen Denkart auszusöhnen. Nun weißt Du wol, wie diese Menschen Filosofie und Mystik ansehen — noch viel abgesonderter wie dieses und jenes Leben, nach der Vorstellung der Frömmlinge. Wir aber, deren synthetische Natur im Himmel und auf Erden nur sv Kai näv erkennen, denen Empfinden, Denken, Ahnden, Anschauen wenigstens in den Momenten der Andacht, nur freundliche Nüanzen des nämlichen Stralenspiels sind — wir können diesen Weisen die Zaubergestalt unserer Religion schwerlich versinnlichen durch das Knochenbild metafysischer Denkformen. — Dein Buch hat mich auch durch seinen ächtfilosofischen Gehalt überrascht, und entzückt. Nur der Nicht-Denker kan hier Schwärmerei finden; der edlere Schwärmer hingegen wird durch jedes Blatt zum andächtigen Weisen geläutert. Wenn ich Talent genug besässe, dies Buch möchte ich geschrieben haben; denn ich habe Geist genug um bis in das Mark seines Innhalts einzudringen, und es entwickelt eine Idee, die früh in mir das Lebensprinzip meines höheren Selbst ward — was man mir immer als Paradox vorwarf, wenn ich es so ausdrückte: ,Bei der Religion wäre der Innhalt völlig gleichgültig.' — Noch diesen Winter hab ich mich mitten in Paris mehr als je mit Religion beschäftigt, und bin völlig aufs Klare gekommen; Deine Reden aber enthalten alles was ich je dunkel, oder unentwickelt gedacht so schön und so erhaben, daß mir an dem Rezensentenbeifall nichts gelegen ist. Du siehst wie sehr ich das Koiva xcov cpitaov schon auf Dein Buch anwende. Styl und Einkleidung möchte ich Dir ausserdem noch recht förmlich beneiden." 1 0 7 107
B r i n c k m a n n , in: K G A V/3, Nr. 8 1 0 , 3 - 3 4 .
II. Die Aufnahme der „Reden"
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In seinem Antwortbrief vom 22. M ä r z 1800 betonte Schleiermacher, d a ß die „ R e d e n " wie die „ M o n o l o g e n " gegenüber den geplanten ethischen Werken (Kritik und Entwurf der Moral) einen vorläufig-spielerischen C h a r a k t e r hätten: „siehe die Reden und die M o n o l o g e n nur so an, als wenn J e m a n d der ein recht ordentliches Concert zu geben gedenkt sich vorher u n d ehe die Z u h ö r e r recht versammelt sind etwas auf seine eigne H a n d fantasirt." 1 0 8 Schleiermacher, über Brinckmanns Lob höchst erfreut, erbat dennoch mehr, nämlich eine ausführliche unparteiliche Beurteilung seines Werks. Brinckmann h a b e aus Friedrich Schlegels Rezension der „Reden" im „ A t h e n a e u m " ersehen, d a ß dieser „zu einer ordentlichen Kritik nicht zu gebrauchen ist, Du weißt wie wenig m a n sie von den Recensenten erwarten darf, und weißt zwar nicht, kannst mirs aber glauben d a ß ich wenigstens herzlich ungeschikt bin mich selbst zu kritisiren. Laß Dich also erbitten dieses Liebeswerk an mir zu t h u n und mir ein recht ordentliches ausführliches Urtheil über die Reden abzufaßen von Deiner Unpartheilichkeit an die meinige gerichtet." 1 0 9 Wegen einer schweren E r k r a n k u n g k o n n t e Brinckmann Schleiermachers Wunsch nicht erfüllen, sondern referierte nur ein Gesprächsurteil, das den „ R e d e n " mangelnde Offenheit und zurückhalten der w a h r e n Überzeugungen attestierte. 1 1 0 Schleiermacher gab sich dazu „belustigt". „Dergleichen k ö n n t e einem das Schreiben verleiden, wenn m a n aufs Verstandenwerden gerechnet hat; aber so thöricht bin ich zum Glük nicht gewes e n . " 1 1 1 Schleiermacher h o b am 27. Mai besonders die stilisti-
108
KGA V / 3 , Nr. 817, 3 9 - 4 1 .
109
KGA V / 3 , Nr. 817, 4 7 - 5 3 .
110
Vgl. Brinckmann, in: KGA V / 3 , 834, 3 2 - 3 4 . 6 4 - 7 3 .
111
KGA V / 3 , Nr. 847, 58. 6 4 - 6 6 .
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Historische Einführung des Herausgebers
sehe Prägekraft des Rhetorischen für die Konzeption des Werks hervor. 1 1 2 Mit dem zeitlichen, sachlichen und persönlichen Abstand vom f r ü h r o m a n t i s c h e n Schlegel-Kreis wuchs auch Schleiermachers Distanz zu den „Reden". Sie waren für ihn gleichsam zu einem biographischen D o k u m e n t geworden. Am 26. N o v e m b e r 1803 schrieb Schleiermacher an Brinckmann: „Die Reden über die Religion sind auch bei'm Lichte besehn schlecht genug; aber hätte ich sie damals nicht frisch weg geschrieben, jezt w ü r d e ich sie gewiß nicht besser schreiben sondern gar nicht." 1 1 3 In den literarischen Kämpfen um die Frühromantiker ergriff Brinckmann öffentlich f ü r die „Reden" Partei. Im ersten (und einzigen) „Bändchen" seiner 1804 publizierten „Gedichte", das Goethe gewidmet ist, stellte er „Elegieen" und „Arabesken" zusammen. Bei den „Arabesken" ließ Brinckmann unter der Überschrift „Die Reden an die Religion" folgendes Sinngedicht abdrucken: „War ich ein T r ä u m e n d e r einst — auch T r ä u m e ja sendet ein G o t t uns — / H o r c h t e des Sfärengesangs, wachend vern e h m ' ich es hier. / Weltenerschütternd und heilig und ernst, wie die Stimme des Schicksals / Durch das Unendliche bebt, redet es laut im Gewölk: / , G l a u b ' an ein göttliches Sein, an das Wahnbild nicht der Erscheinung! / Wie du das Ewige denkst, bist du des Ewigen T h e i l . ' " 1 1 4 Schleiermacher hat 1806 und erneut 1821 die „Reden" jeweils seinem Jugendfreund gewidmet. Schleiermacher begrüßte, d a ß sein Studienfreund Karl Gustav von Brinckmann die „Reden" den Philosophen Friedrich 112 113 114
Vgl. KGA V/4, Nr. 869, 4 1 - 4 3 . Briefe 4, 84. Karl Gustav von Brinckmann: Gedichte, Bd. 1 [einziger], Berlin 1804, Arabeske Nr. 83, S. 209. In einer Erläuterung macht Brinckmann Schleiermacher als Autor der „Reden" und „Monologen" namhaft: Diese „beiden Schriften sind schon so oft unwillkürlich mißverstanden, oder absichtlich gemißdeutet worden, daß ich mit Freude diese Gelegenheit benuze, um meinen Glauben an die echt religiöse und sittliche Tendenz dieser genialischen
II. Die Aufnahme der „Reden"
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Heinrich Jacobi ( 1 7 4 3 - 1 8 1 9 ) und Karl Leonhard Reinhold (1758—1823) bekannt machen wollte. 1 1 5 Jacobis erste vorläufige Reaktion war nach Brinckmanns Bericht vom 4. Juli 1800 aus Eutin eher zurückhaltend: „Dein Buch wolte er während meines Hierseins lesen. Ich ließ ihm aber keine Zeit. Er hat mir aber versprochen, es zu thun, und ich wolte auch sein Endurtheil lieber schriftlich haben, um es Dir rein mitzutheilen. Die Schlegelsche Posaune hatte Dir auch bei ihm geschadet. Er hatte angefangen und es schön — nur zu schön — geschrieben gefunden, behauptet aber daß Du dich ohne Noth verfichtest, und daß auf dem Weg zu keiner Religion zu gelangen sei. ,Blos formelles Gesez ist Weg ohne Ziel, so wol in Absicht des Guten als des Wahren' sagte er mir noch gestern. Dies möchte ich Dir als die Lösung aller der Paradoxie schreiben, die man ihm vorwirft."116 Die Abgrenzung gegenüber Johann Gottlieb Fichte (1762— 1814), der für Schleiermacher nach der Enttäuschung über Kants Ethik („Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre" im Herbst 1797) zum Hauptvertreter der transzendentalen Ethik geworden war, tritt in Schleiermachers Antwortschreiben vom 17. Juli 1800 an Brinckmann deutlich hervor: Fichtes „Tugendlehre verdient allerdings gar sehr, daß man sie studiert. Dies schließt aber nicht aus, daß nicht sehr viel dagegen zu sagen wäre. Du siehst wenn mir kein größeres Unglük droht als
Kunstwerke um so freimütiger zu bekennen, da dieser Glaube nicht einzig und allein durch das Studium derselben bewirkt, sondern zugleich durch die vertrauteste Bekanntschaft mit dem schönen Privatcharakter ihres Urhebers zur un erschütterlichen Überzeugung erhoben worden ist." (Gedichte 1,330). i ' 5 Vgl. KGA V / 3 , Nr. 8 1 7 , 6 5 - 7 1 . Ein später Hinweis auf die „Reden" findet sich bei Karl Leonhard Reinhold: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts, Heft 5, H a m b u r g 1 8 0 3 , S. X . 116
Brinckmann, in: KGA V / 4 , Nr. 9 0 5 , 2 4 - 3 3 .
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Historische Einführung des Herausgebers
das Verfichten, so steht es n o c h gut genug u m mich. N a m e n t l i c h ist mirs w o l nie eingefallen auf d e m Wege eines f o r m e l l e n Gesezes zur Religion k o m m e n zu wollen, u n d ich h o f f e J a c o b i wird dies a u c h nicht aus den Reden herauslesen k ö n n e n w e n n er sie ordentlich liest. Ich w ü n s c h e d a ß der liebenswürdige M a n n mich a u c h ein wenig lieben m ö g e mit der Zeit, er ist der einzige von unsern n a m h a f t e n P h i l o s o p h e n von dem ich mir dies w ü n sche. Reinhold ist mir h ö c h s t gleichgültig und Fichte m u ß ich z w a r achten,, aber l i e b e n s w ü r d i g ist er mir nie erschienen. D a z u g e h ö r t , wie D u weißt f ü r uns e t w a s mehr, als d a ß m a n , w e n n a u c h der g r ö ß t e , spekulative P h i l o s o p h sei." 1 1 7 Nicht n u r bei s u p r a n a t u r a l i s t i s c h , s o n d e r n a u c h bei neologisch-rationalistisch g e s o n n e n e n T h e o l o g e n w u r d e n die „ R e d e n " wegen ihrer pantheistischen A n k l ä n g e u n d ihrer P o l e m i k gegen die n a t ü r l i c h - v e r n ü n f t i g e Religion abgelehnt. E x e m p l a r i s c h sei auf Friedrich Samuel G o t t f r i e d Sack verwiesen, der in einem vermutlich A n f a n g 1801 geschriebenen, aber erst w o h l A n f a n g M a i 1801 abgeschickten Brief Schleiermachers Religionsbegriff scharf kritisierte u n d den Vorwurf der Unchristlichkeit gegen das Buch mit d e m der Heuchelei gegen den ordinierten Prediger v e r b a n d . „Ihr Werk ü b e r die Religion erschien. Als ich einen Theil der ersten Rede im M a n u s c r i p t gelesen h a t t e , m a c h t e ich mir die a n g e n e h m e Vorstellung, d a ß die Schrift eines M a n n e s von Geist der Religion Verehrer u n d Freunde u n t e r d e n e n , die sie b l o ß v e r k e n n e n , g e w i n n e n w ü r d e ; u n d d a ß sie in keiner and e r n Absicht als in dieser geschrieben sei. Sie erinnern sich o h n e
117
KGA V / 4 , Nr. 916, 8 0 - 9 2 . Schon a m 5. Juli 1799 h a t t e Schieiermacher geg e n ü b e r H e n r i e t t e H e r z eine gewisse Besorgnis vor der R e a k t i o n Fichtes geäußert: „Ich h a b e ordentlich eine kleine Furcht davor, d a ß Fichte gelegentlich die Reden lesen w i r d ; nicht d a v o r d a ß er viel dagegen e i n z u w e n d e n h a b e n m ö c h t e , d a s w e i ß ich vorher, u n d es m a c h t mir nicht b a n g e — sondern nur, d a ß ich nicht weiß, w o er mir alles in die Flanke fallen wird, u n d d a ß ich nicht w e r d e w ü r d i g mit ihm d a r ü b e r reden k ö n n e n . " (KGA V / 3 , Nr. 672, 2 - 6 ) .
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Zweifel, mit welcher Lebhaftigkeit ich Ihnen meine Freude und meine Hoffnung zu erkennen gegeben habe; die Folge hat mich inzwischen zu bald gelehrt, wie gröblich ich mich getäuscht hatte. Ich kann das Buch, nachdem ich es bedachtsam durchgelesen habe, leider für nichts weiter erkennen, als für eine geistvolle Apologie des Pantheismus, für eine rednerische Darstellung des Spinozistischen Systems. Da gestehe ich Ihnen nun ganz freimüthig, daß dieses System mir allem dem, was mir bisher Religion geheißen hat, und gewesen ist, ein Ende zu machen scheint, und ich die dabei zum Grunde liegende Theorie für die trostloseste sowohl als verderblichste halte, und sie auf keine Art und Weise weder mit dem gesunden Verstände noch mit den Bedürfnissen der moralischen Natur des Menschen in irgend eine Art von Vereinigung zu bringen weiß. Eben so wenig begreife ich, wie ein Mann, der einem solchen Systeme anhängt, ein redlicher Lehrer des Christenthums sein könne; denn keine Kunst der Sophistik und der Beredsamkeit wird irgend einen vernünftigen Menschen jemals überzeugen können, daß der Spinozismus und christliche Religion mit einander bestehen könnten. Ich bin zwar überzeugt, daß Sie als Prediger die Grundsätze und Meinungen nicht vortragen werden, die Sie als die wahren und richtigen mit so wegwerfender Verachtung der ihnen entgegenstehenden in Ihrem Werke darzustellen gesucht haben. Sie werden fernerhin bei den gemeinen Begriffen von der Abhängigkeit des Menschen von Gott, von der Verbindung, in der wir mit dem höchsten Wesen stehen, und von den Gesinnungen der Anbetung, der Dankbarkeit, des Gehorsams und des Vertrauens, die daraus fließen, in einer verständlichen und vielleicht auch biblischen Sprache reden; aber Sie werden es als ein Mann thun, der von diesem allen in seinem Herzen nichts glaubt, der sich nur zu den Irrthümern und dem Aberglauben des undenkenden Pöbels herabläßt, und um nicht anstößig zu werden noch Redensarten gebraucht, die bei ihm selbst gar keinen oder einen durchaus verschiedenen Sinn haben. Was ist ein Prediger,
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der das Universum für die Gottheit hält, dem Religion nichts weiter ist, als Anschauung des Universums; der zwischen Religiosität und Moralität durchaus keine Verknüpfung erkennt; der alle Motive zum Gutsein, die aus Religionsbegriffen hergenommen sind, verachtet und verhöhnt, der von keiner Dankbarkeit gegen einen unsichtbaren ewig lebenden Wohlthäter etwas wissen will — — — was ist ein solcher Prediger für ein bedauernswürdiger Mensch! Wie muß ihn bei jedem Worte, das er auf der Kanzel sagt, sein Herz des Doppelsinnes, der Heuchelei und des Verfälschens der Wahrheit aus lohnsüchtigem Eigennutz oder aus niedriger Menschenfurcht oder Menschengefälligkeit bezüchtigen! — Lösen Sie mir das Räthsel, wie Ihnen ein Geschäft noch gefallen kann, das Ihnen doch nothwendig als Frucht und als Beförderung der Albernheit und des Aberglaubens erscheinen muß — wie Sie das Beharren bei diesem Geschäft aus Convenienz mit Ihrem eigenen Gefühl von Recht in Harmonie bringen können? Ich kann mir denken, daß ein Spinosa in sich selbst ruhig und vielleicht auch glücklich gewesen sei; aber daß er es als ein bestellter Lehrer der christlichen Religion, und wenn er öffentlich gerade das Gegentheil in seiner Philosophie hätte lehren müssen, gewesen sein würde, daran zweifle ich. Ehre macht es ihm daher, daß er, seiner Armuth ungeachtet, den ihm angebotenen Lehrstuhl in Heidelberg ausschlug. — Doch vielleicht haben Sie sich darüber einen mir unbekannten Grundsatz gemacht, und halten es nicht für Unrecht, die, religiöse Gegenstände bezeichnenden Worte zu gebrauchen, obgleich Sie den Sinn, der nach dem allgemeinen Sprachgebrauch damit verbunden wird, für Unsinn h a l t e n . " 1 1 8 In einer umfänglichen Replik wies Schleiermacher die persönlichen und sachlichen Vorwürfe Sacks zurück und legte dabei auch seine Intentionen, die ihn bei der Konzeption der „Re118
Sack, in: K G A , Bd. V/5, hg. v. Andreas Arndt / Wolfgang V i r m o n d , Berlin / New York 1 9 9 9 , Nr. 1 0 0 5 , 1 6 - 7 5 .
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den" geleitet hatten, ausführlich dar. In diesem wohl Ende Mai 1801 geschriebenen Brief an Sack gibt Schleiermacher eine Selbstinterpretation seiner „Reden". „Hier m u ß ich zuerst aufs Ernstlichste gegen Ihre Ansicht von diesem Buche protestiren. Es sollte eine Apologie des Pantheismus, eine Darstellung der spinozistischen Philosophie sein? Etwas, wovon nur beiläufig auf wenigen Seiten die Rede war, sollte die H a u p t s a c h e sein? und die ganze erste Rede, worin Sie Selbst nichts dergleichen finden, und ein großer Theil der zweiten und die dritte und vierte und fünfte, in welchen allen von ganz anderen Dingen die Rede ist, kurz fast das ganze Buch sollte nur eine müßige Zugabe zu diesen wenigen Seiten sein? Sie sagen, ich sei ein Pantheist, diesem Systeme sei die Religion ganz entgegengesetzt, und zugleich sagen Sie, ich rede von den entgegengesetzten Vorstellungsarten mit wegwerfender Verachtung! H a b e ich denn von der Religion, in welchem Sinne Sie das Wort auch nehmen, habe ich von dem Glauben an einen persönlichen G o t t mit Verachtung geredet? Gewiß nirgends. Ich habe nur gesagt, d a ß die Religion davon nicht abhange, o b m a n im abstracten Denken der unendlichen übersinnlichen Ursach der Welt das Prädicat der Persönlichkeit beilege oder nicht. Hiervon habe ich, obgleich so wenig als irgend J e m a n d ein Spinozist, den Spinoza als Beispiel angeführt, weil in seiner Ethik durchaus eine Gesinnung herrscht, die m a n nicht anders als Frömmigkeit nennen kann. Von dem Factum, d a ß einige Menschen G o t t die Persönlichkeit beilegen, Andere nicht, habe ich den G r u n d in einer verschiedenen Richtung des G e m ü t h s aufgezeigt und zugleich, d a ß keine von beiden die Religion hindere. Hievon m u ß m a n nun unterscheiden, daß ohne einen gewissen A n t h r o p o m o r p h i s m u s nichts in der Religion in Worte gefaßt werden k a n n , und dieser ist es wohl eigentlich, den Sie, verehrungswürdiger M a n n , so festhalten, und ich thue es mit Ihnen, wie Sie in den Reden überall finden können. Allein dieser bleibt nicht in den Schranken des metaphysischen Begriffs der Persönlichkeit Gottes, hängt also
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H i s t o r i s c h e E i n f ü h r u n g des H e r a u s g e b e r s
auch von diesem nicht a b , und muß also auch in der Religion auch dem erlaubt sein, dem seine M e t a p h y s i k dieses Prädicat für die Gottheit nicht gestattet. Wiederum ist aus d e m Begriff der Persönlichkeit G o t t e s keine Religion zu entwickeln, er ist nicht die Q u e l l e der A n d a c h t : N i e m a n d ist sich in derselben seiner bewußt, er zerstört sie vielmehr. Jener A n t h r o p o m o r p h i s m u s herrscht auch in der Schrift, in den Reden J e s u , im Christenthum d u r c h a u s , o b aber auch jener metaphysische Begriff von Persönlichkeit mit demselben von jeher verbunden gewesen, daß möchte eine g a n z andere Frage sein. Der jetzt gewöhnliche Begriff von G o t t ist z u s a m m e n g e s e t z t aus dem M e r k m a l e der Außerweltlichkeit, der Persönlichkeit und der Unendlichkeit, und er wird zerstört, s o b a l d eins von diesen fehlt. O b nun diese wohl schon d a m a l s gebildet sein mögen? Und wenn m a n manche Christen genannt hat, welche die Unendlichkeit G o t t e s aufhoben, o b m a n nicht auch ein Christ sein könnte, wenn m a n in seiner Philosophie eins von den andern beiden aufhebt? Mein Endzweck ist gewesen, in dem gegenwärtigen Sturm philosophischer Meinungen die U n a b h ä n g i g k e i t der Religion von jeder M e t a p h y s i k recht darzustellen und zu begründen. In mir ist a l s o u m irgend einer philosophischen Vorstellung willen der Ged a n k e eines Streites meiner Religion mit dem Christenthum niemals entstanden und nie ist mir eingefallen, mich als den Diener einer mir verächtlichen Superstizion anzusehen, vielmehr bin ich sehr überzeugt die Religion wirklich zu haben, die ich verkündigen soll, wenn ich auch eine g a n z andere Philosophie hätte, als die Meisten von denen, welche mir zuhören. Eben so wenig ist in mir eine irgend u n w ü r d i g e Klugheit oder reservatio mentalis, sondern ich lege den Worten gerade die Bedeutung bei, die ihnen der M e n s c h , indem er in der religiösen Betrachtung begriffen ist, beilegt — nur nicht außerdem noch irgend eine andre. Eben der E n d z w e c k schwebte mir auch vor, indem ich meine M e i n u n g von d e m Verhältniß der Religion zur M o r a l mittheilte. Deutlich genug h a b e ich g e s a g t , u m es nicht wiederholen
II. Die A u f n a h m e der „Reden"
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zu d ü r f e n , daß ich die Religion nicht deswegen für etwas Leeres halte, weil ich erkläre, d a ß sie zum Dienst der Moral nicht nothwendig ist. Deutlich genug, d a ß ich unsere kirchliche Anstalt, wie sie jetzt ist, für ein doppeltes, theils der Religion, theils der Moral gewidmetes Institut halte, und so glaube ich also weder etwas meiner Ueberzeugung Zuwiderlaufendes, noch etwas Geringes zu thun, wenn ich von der Religion zu den Menschen rede, als zu solchen, die zugleich moralisch sein sollen, und von der M o r a l , als zu solchen, die zugleich religiös zu sein behaupten, von beiden nach dem Verhältniß, welches ich jedesmal schicklich finde. Vielmehr halte ich den Stand des Predigers für den edelsten, den nur ein w a h r h a f t religiöses, tugendhaftes und ernstes G e m ü t h würdig ausfüllen kann, und nie werde ich ihn mit meinem Willen gegen einen andern vertauschen. [...] H a b e ich wirklich durch die H e r a u s g a b e jener Reden meine Nutzbarkeit als Prediger geschwächt: es ist nicht meine Schuld. Das w u ß t e ich wohl, d a ß viele nicht im Stande sein w ü r d e n ihre Metaphysik und ihre Religion zu trennen, und d a ß diese dem, der eine andre Metaphysik f ü r gleichgültig hält, auch keinen herzlichen Eifer für die Religion zutrauen w ü r d e n , und d a ß ich mich nicht gegen Alle w ü r d e näher erklären k ö n n e n . Deshalb und nur deshalb sezte ich dem Buche meinen N a m e n nicht vor, und that ernstlich das Meinige ihn u n b e k a n n t bleiben zu lassen. D a ß ich diesen Endzweck nicht erreicht,liegt nicht an mir, sondern an der in Berlin einheimischen literarischen Neugierde und Plauderei." 1 1 9 Georg Ludwig Spalding (1762—1811), Gymnasialprofessor in Berlin, w a r durch den pantheistischen Schein der „Reden" nicht erschreckt. Er schrieb am 3. Juni 1803 an Schleiermacher: „So bleibt es auch mir zuweilen ungewis, o b der Verfasser der Reden über die Religion, die Wörter Gott, Unsterblichkeit in
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KGA V/5, Nr. 1065, 6 4 - 1 3 4 . 1 6 4 - 1 7 4 .
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Historische Einführung des Herausgebers
der gewöhnlichen Bedeutung nehme. [...] In welchem Sinne er die Wörter auch nehme, es wird ein herzvoller, ein wahrer, Sinn sein; er wird Liebe tragen zu dem großen Wesen, das nicht er ist, nicht die Menschen um ihn her, das alles das ist, was von der Menschen Wilkühr nicht abhängt, was die Leute wol N a t u r zu nennen pflegen. G o t t und N a t u r mag zusammenfließen: aber ihm wird vielmehr die N a t u r G o t t als G o t t die N a t u r sein; ein Unterschied, wie ich ihn mir oft gedacht habe zwischen Xenofanes und Parmenides auf der einen, und Spinoza auf der anderen Seite." 1 2 0 Spalding erklärte sich „die Reden aus den Predigten, nicht u m g e k e h r t " 1 2 1 . Für Spalding war die Innigkeit und Aufrichtigkeit der denkenden Frömmigkeit Schleiermachers entscheidend. 3) Entwicklungslinien: Die „Reden" e r f u h r e n zu Schleiermachers Lebzeiten noch drei weitere Auflagen. Bei der zweiten Auflage 1806 und der dritten Auflage 1821 n a h m Schleiermacher Umarbeitungen und Ergänzungen des Textes vor und fügte in der dritten Auflage außerdem ausführliche Erläuterungen hinzu; bei der vierten Auflage 1831 f ü h r t e Schleiermacher vornehmlich stilistische 120
Schleiermacher-Nachlaß im Archiv der Berlin-Brandenburgischen A k a d e m i e der Wissenschaften [ = S N ] , Nr. 394, Bl. 1 5 r - v ; vgl. Briefe 3, 345 f.
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SN 394, Bl. 16r; vgl. Briefe 3, 346. Spalding sah den Erfolg der ersten Pred i g t s a m m l u n g Schleiermachers im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Aufsehen, d a s die „ R e d e n " erregt h a t t e n . So schrieb er a m 12. N o v e m b e r 1802 an Schleiermacher: „ M e r k w ü r d i g ist es, d a ß Ihre Predigten bei vielen Interesse erregt h a b e n u n d Beifall g e w o n n e n , die sonst v o n Predigten nichts wissen wollen. Ich leugne nicht meine V e r m u t h u n g , d a ß dieses etwas d u r c h die vorhergegangenen Reden b e w i r k t w o r d e n . Dis scheinen mir e t w a die W u n d e r gewesen zu sein, welche Ihrer Lehre G l a u b e n bereiteten. Von mir selbst gestehe ich: ich glaube, wie R o u s s e a u , m a l g r é les miracles; aber d a r u m ist mir der Erfolg nicht weniger lieb". (SN 394, Bl. 5v —6r; vgl. L o m m a t z s c h : Schleiermacher's Lehre v o m W u n d e r 105, A n m . 2).
II. Die A u f n a h m e der „Reden"
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Glättungen durch. Der Textbestand der zweiten bis vierten Auflage ist in der ,Kritischen G e s a m t a u s g a b e ' in einem eigenen Band dokumentiert, indem auf der Textgrundlage der vierten Auflage die Textfassungen der zweiten und dritten Auflage in einem Variantenapparat mitgeteilt w e r d e n . 1 2 2 Die Rezeptionsgeschichte der „ R e d e n " ist stark dadurch bestimmt,
welche
Textfassung
den
späteren
Ausgaben
nach
Schleiermachers Tod zugrunde gelegt w u r d e . 1 2 3 Hier lassen sich deutliche Unterschiede zwischen dem 19. J a h r h u n d e r t und dem 2 0 . J a h r h u n d e r t konstatieren mit einer Rezeptionsverlagerung von der Letztfassung zur Erstfassung. Die Letztfassung ist in die von Schleiermachers Schülern veranstaltete Gesamtausgabe „Sämmtliche W e r k e "
aufgenom-
men w o r d e n 1 2 4 und hat die Wirkungsgeschichte der „ R e d e n " durch das gesamte 19. J a h r h u n d e r t geprägt. Im 19. Jahrhundert wurde nämlich insgesamt zehnmal die Textfassung der vierten Auflage von 1831 gedruckt: 1 8 3 4 , 1 8 4 3 zweimal, 1 8 5 9 , 1 8 6 8 , 1 8 7 8 , 1 8 8 0 , 1 8 8 9 , 1 8 9 5 , 1899. Abweichend legte Siegfried L o m matzsch seiner Ausgabe von 1 8 8 8 den T e x t der zweiten Auflage von 1 8 0 6 zugrunde. Eine Sonderstellung nimmt die kritische Ausgabe 1 8 7 9 von Bernhard P ü n j e r 1 2 5 ein, die auf der T e x t -
122
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische G e s a m t a u s g a b e , hg. v. Hermann Fischer / Gerhard Ebeling / Heinz K i m m e r l e / G ü n t e r M e c k e n s t o c k / K u r t - V i c t o r Selge, Bd. 1/12, Reden über die Religion (2. — ) 4 . Auflage, M o nologen (2. — ) 4 . Auflage, hg. v. G ü n t e r M e c k e n s t o c k , Berlin / New York 1 9 9 5 , S. 1 - 3 2 1 .
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Vgl. Meding: Bibliographie, Nr. 1 7 9 9 / 5 .
124
Vgl. S ä m m t l i c h e Werke, Bd, 1/1, Berlin 1 8 4 3 , S. 1 3 3 - 4 6 0 .
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Reden Ueber die Religion. Kritische Ausgabe. M i t Zugrundelegung des T e x tes der ersten Auflage besorgt von G . C h . Bernhard Pünjer, Braunschweig 1 8 7 9 . Pünjers Ausgabe ist allerdings keine kritische Edition im strengen Sinne. In seinem Variantenapparat erfaßt Pünjer die Abweichungen
der
zweiten und dritten Auflage nicht vollständig, die Abweichungen der vierten Auflage überhaupt nicht. Abweichungen in Schreibweise und Zeichensetzung sowie Korrekturen von Druckfehlern weist er nicht nach. Er normiert
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H i s t o r i s c h e E i n f ü h r u n g des H e r a u s g e b e r s
grundlage der Erstauflage die Varianten der zweiten und dritten Auflage mitteilt. Die 1899 von Rudolf Otto veranstaltete Säkularausgabe 1 2 6 der Erstauflage wandelte die Rezeption völlig. Im 20. Jahrhundert dominierte eindeutig die Erstfassung, die sowohl in den meisten Einzelausgaben als auch in den Werksammlungen wiedergegeben wurde. Bisher gab es insgesamt 33 Ausgaben mit dem Text der Erstauflage; allein die Edition von Otto erlebte sieben Auflagen. Außerdem wurde zweimal der Text der vierten Auflage zugrunde gelegt. Ab 1887 gab es sechs verkürzte Ausgaben sowie ab 1912 eine größere Anzahl von Textauszügen.
d i e S c h r e i b w e i s e und n i m m t h ä u f i g K o r r e k t u r e n a u c h g e g e n d a s D r u c k f e h lerverzeichnis vor. Er g i b t k e i n e n t e x t k r i t i s c h e n A p p a r a t und keinen S a c h a p parat. 126
Ü b e r die R e l i g i o n . R e d e n an die G e b i l d e t e n unter ihren Verächtern, Z u m Hundertjahr-Gedächtnis
ihres ersten E r s c h e i n e n s in ihrer
ursprünglichen
G e s t a l t neu h e r a u s g e g e b e n v o n R u d o l f O t t o , G ö t t i n g e n 1 8 9 9 ; 7 . A u f l . , 1 9 9 1 .
Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799)
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