Die Religion nach ihrer Quelle, ihren Gestalten und ihren Entwicklungen: Band 1 [Reprint 2019 ed.] 9783111569451, 9783111197920


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German Pages 444 [460] Year 1824

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Table of contents :
Vorwort des Uebersetzers
Inhalt des ersten Bandes
Vorrede des Verfassers
Erstes Buch
Zweites Buch. Von der rohesten Form, welche die religiösen Vorstellungen annehmen können
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Die Religion nach ihrer Quelle, ihren Gestalten und ihren Entwicklungen: Band 1 [Reprint 2019 ed.]
 9783111569451, 9783111197920

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Die Religion, nach

ihrer Quelle, ihren Gestalten und ihren C n t w i ek e l u n g e n. Bon

Benjamin Constant. aus dem Französischen übersetzt,

Mit Vermisst n des

und mit einigen Anmerkungen

herausgegeben

Deutsch

von

Dr.

Philipp

A ugust

Petri,

Prediger zu Luerborst im Königreiche Hannover.

MELiyytuvov li; 6 Asya’i/, vpSiQ te oi xptrx'i, (püsiv aväpd;7riv7jV e%ou.ev. WXotTCtiV.

Erster

Band.

Berlin, bei

G.

Reimer.

1 8 2 4.

Vorwort des Uebersetzers.

weniger sich der Uebersetzer bei der Her­ ausgabe des vorliegenden Werkes die Anmaßung eines Urtheils über dasselbe erlaubt, das hier ohnehin ganz am unrechten Orte stehen würde; desto eher kann es ihm vergönnt werden, über

seine Verdeutschung ein paar Worte voran zu schicken. Als er sich zu derselben bestimmte, und mit

dem Verfasser zu diesem Zwecke einen Brief­ wechsel anknüpfte, wußte er, bei einiger Be­

kanntschaft mit den früheren Schriften desselben,

IV weichem Geschäfte er

recht gut zum voraus,

sich unterziehe, und was er dem berühmten Ver­

fasser, einem geistreichen Werke, und — sich

selbst schuldig seyn werde.

Auch hatte schon

die im Julius des vorigen Jahres in Paris

erschienene Ankündigung des Werks,

die hier

aus mehr als Einer Ursache mitgetheilt zu wer­ den verdient, einen Maßstab desselben gegeben. „Das Werk, welches wir hier ankündigen,"

hieß es darin, „ist die Frucht mehr als dreißsg-

„jähriger Forschungen.

Einige Bruchstücke des-

„selben wurden im Jahre 1817. im Königlichen „Athenäum zu Paris vorgetragen. Sie erregten „den lebhaftesten Antheil.

Der Verfasser hat

„nichts gespart, um dieser Arbeit seines „ganzen Lebens den höchst möglichsten Grad

„von Vollendung zu geben." — Dann theilen die Verleger, zu einiger Bezeichnung des Werks,

einen Brief mit, den ihnen der Verfasser über

dasselbe geschrieben:

„Als ich," schrieb ihnen

Herr Constant, „zuerst den Vorsatz, dieß Werk „zu schreiben, faßte, hatte ich noch sehr unzu-

„längliche Kenntnisse, und noch nicht jene Reife „im Denken und Urtheilen erlangt, die uns erst

„mit den Jahren zu Theil wird.

Da ich indeß

„noch keine vorgefaßte Meinungen irgend einer

„Art hegte; so verwarf ich allmählig alle, die „man, wie ich sah, nur aufs Wort angenom-

„men hatte.

Es giebt ihrer in allen Zünften,

„und die Philosophie hat die ihrigen. — —

„Auch hatte die Wissenschaft die außerordentlichen „Fortschritte noch nicht gemacht, die sic den

„Reisenden, dem Handel, und sogar den Krie„gern verdankt.

Wir kannten Aegypten wenig,

„Indien gar nicht. —

Ich habe die Entdek-

„kungen, die in kurzer Zeit schnell auf einander

„folgten, zu nützen gesucht." „Ich kann nicht sagen, daß ich dieß Werk

„verfaßte; ich möchte vielmehr sagen, es habe

„sich selbst verfaßt.

Ich habe die Thatsachen

VI

„geprüft, und sie haben mich geleitet.----------

„Auch

hat mein Buch mehr

als Ein Mahl

„eine andere Richtung erhalten.

Eine uner-

„wartete, aus den früher von mir angenom­

menen Meinungen unerklärbare, Thatsache hat „mich mehrmahls genöthigt, ganz von vorn zu

„beginnen, und die Aufgaben, die mir schon

„gelöst schienen, einer neuen Prüfung zu unter, „werfen."

„Wie aber auch das Urtheil über mein Werk „ausfallen mag, so kann ich mir doch nur Glück

„wünschen, „haben.

die große Arbeit unternommen zu

Zch verdanke ihr die Ueberzeugung,

„daß der bessere Theil unseres Jch's von den

„äußeren Erscheinungen

unabhängig ist,

„von menschlicher Gewalt „hat. — —

„ich,

nichts

und

zu fürchten

Nicht ei» einziges Mahl bin

ohne ein Gefühl

von Freude,

in

die

„Gedankenreihe eingegangen,

in welche

„diese Forschungen versetzten.

Selbst damahls.

mich

VII „als man glauben konnte, und ich selbst viel„leicht es glaubte,

daß ich ungern von den

„öffentlichen Angelegenheiten schiede, ergriff mich, „sobald ich die Reihe unermüdlicher Anstren-

„gungen

des

Menschen,

zur Veredlung

und

„Verbesserung seiner Begriffe zu gelangen, nur

„einen Augenblick überschaute, dasselbe freudige

„Gefühl immer aufs neue.---------- Eine Be­ frachtung vor allem machte mir Muth.

So

„lange die Kraft und der Dünkel der Zugend „wahren,

kann man Gefallen daran finden,

„Hoffnungen mit Füßen zu treten,

die man

„entbehren zu können glaubt--------- Das Alter

„naht, die Gesellschaftsverhältniffe werden drük„kend, die Menschen erscheinen in ihrer wahren „Gestalt; man sucht eine Zuflucht für sein Ber-

„traun, einen Gegenstand für seine Achtung.-------„Dann richtet man seine Blicke gern nach einer

„anderen Welt, nähret sich gern mit anderen

„Hoffnungen!----------Dem Himmel sey Dank,

VIII „mein Buch ist nicht bestimmt, diese andere

„Welt als ein Traumbild darzustellen,

nicht

„bestimmt, diese Hoffnungen zu vernichten!" — Ein Werk von solcher Bedeutung legte mit­

hin dem Uebersetzer ganz andere Pflichten auf, als etwa die flüchtige Uebertragung eines Ro­

mans oder einer Flugschrift; es legte ihm die

Pflicht auf, den eigenthümlichen Geist des Ver­ fassers, wie er sich in seinem Werke offenbart, so darzustellen, daß durch die Uebertragung we­

nig, oder nichts — wenn das möglich wäre —

davon verwischt würde;

nicht also bloß den

Sinn der Urschrift richtig aufzufassen und wieder­

zugeben, sondern auch die Eigenthümlichkeit der Darstellung,

die ganze Weise und Schönheit

der körnigen Schreibart des Verfassers, in der

Uebersetzung so viel als möglich durchscheinen zu lassen; mit Einem Worte:

in der Ueber­

setzung die Urschrift, wie bei einem Kunstwerke,

auch in der Fo.rm nachzubilden.

IX Daß aber,

ich sage nicht die Erreichung,

sondern nur das Strcoen nach einem solchen

Ziele schon an sich, und noch viel mehr bei einem Werke, wie das vorliegende, das durch

die Tiefe seines Inhalts, durch die Kürze seiner

Darstellung,

und

durch

seine,

ost fast un­

merklichen, Uebergänge schon den bloßen Leser

nicht selten ziemlich lange beschäftigt, um den

Sinn und den Zusammenhang völlig klar auf­ zufassen, mit vielen und eigenthümlichen Schwie­ rigkeiten verknüpft sey,

wenn die Deutlichkeit

des Sinns und Zusammenhanges, die Rundung und Leichtigkeit der Perioden nicht darunter lei­ den, und nicht auf jeder Seite die Ucbersetzung

gehört werden soll, weiß jeder, der ähnliches versuchte, und kann jeder erfahren, der sich die

Mühe geben will, die Urschrift hie und da zu vergleichen. —

Der Uebersetzcr weiß es

am besten, wie

wenig es ihm geglückt sey, alle diese Schwierig-

feiten glücklich zu überwinden, und vor allem, daß, weil er treu übersetzen, nicht aber erklären

wollte,

jede etwaige Dunkelheit der Urschrift

seiner Uebersetzung Schuld gegeben werden wird.

Er ist es sich aber bewußt, seinen Beruf wenig­ stens erkannt, und mit den Schwierigkeiten des­

selben pflichtmäßig gekämpft zu haben.

Auch

hat er schon die Zufriedenheit gehabt, daß ihm der Verfasser,

dem er die ersten Bogen zu­

sandte, die treue Wiedergebung des Sinnes der

Urschrift^ die

so

„in

Schreibart

bezeugte.

weit

der

Ausländer

beurtheilen

könne,"

Eine billige Kritik möge nun urthei­

len, was er im Ganzen geleistet,

und nicht

geleistet hat. —> Ueber Einen Punct muß er sich aber zuvor noch äußern.

so reichlich

Gern hätte er nähmlich bei der

angeführten

Literatur

die,

dem

Deutschen unerläßliche, literarische Genauigkeit hergestellt;

aber

seine Abgeschiedenheit, seine

XI Entfernung von allen dazu erforderlichen lite­ rarischen Hülfsmitteln, und die Nothwendigkeit,

die ohnehin verspätete Erscheinung dieses ersten Bandes zu beschleunigen, machten ihm die Er­

füllung dieses Theils seiner Pflicht schlechter­ dings unmöglich. — Schließlich kann der Uebersetzer nicht uner­

wähnt lassen, wie sich der berühmte Verfasser, den wir sowohl in Hinsicht seiner Bekanntschaft

mit dec Deutschen Literatur, als auch wohl noch in mancher andern Rücksicht, als unsern zweiten

Villers,

seinen Freund, betrachten dürfen,

in seinem letzten Schreiben an ihn, sehr be­

scheiden äußerte,

„daß er sich freuen werde,

„wenn man ihm, durch diese Uebersetzung mit

„seinem Werke bekannter geworden, in Deutsch„land die Gerechtigkeit wicderfahren lassen würde,

„zu gestehen, daß er einige Schritte auf der „Bahn gethan habe, auf die er durch Deutsche

„Schriftsteller geführt worden sey."

XII

Der zweite und dritte Band dieses Werks

werden gleich nach Erscheinung der Urschrift

auch in der Uebersetzung erscheinen.

Ob die

Englische Uebersetzung desselben schon erschienen sey, die, zu Folge eines Schreibens des Ver­

fassers, mit der Urschrift zugleich erscheinen

sollte, ist dem Uebersetzcr bis jetzt nicht bekannt geworden. Luethorst, bei Einbeck, im Königreiche Hannover, am 4. Octobcr, 1824.

Dr. Pyil. Aug. Petri.

Inhalt des

I

ersten

Bandes.

(Seilt

.

1

Vom religiösen Gefühle. ------

5

Vorrede des Verfassers.

Erstes

.

B u ch.

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel. Von der Nothwendigkeit, das religiöse Gefühl von den religiösen Formen zu unterscheiden, um den Gang der Religionen zu erkennen, -

47

Drittes Kapitel. Daß die sittliche Wirkung der Götterlehren den festzustcllenden Unterschied beweise. . -

74

XIV

Viertes Kapitel.

Da- dieser Unterschied allein erkläre, warum mehrere religiöse Formen Feinde der Freiheit zu seyn scheinen, während da- religiöse Gefühl ihr immer günstig ist. e « s $ g r $

Seite

96

Fünftes Kapitel. Daß der Sieg eine- neu entstehenden Glaubens über den alten den Unterschied beweise, der zwischen dem religiösen Gefühle und den religiösen Formen vorhanden ist. • •

108

Sechstes Kapitel. Von der 2srt und Weise, wie man die Religion bis jetzt betrachtete. «• e $ $ «

115

Siebtes Kapitel. Plan meines Merks.

------

Achtes K a p i t e l. Von den Gegenständen, die einen nothwendigen Theil tincr Geschichte der SMiqion ausmachcn würden, und gleichwohl meine Untersuchungen nichts angehen. ------

Neuntes Kapitel. Von den Vorsichtsmaßregeln, welche die Beschaffenheit meiner Untersuchungen mich zu ergreifen nöthigt. --------

i6r

Zweites

B u ch.

Von der rohesten Form, welche die reli­ giösen Vorstellungen an nehm en können. Erstes Kapitel. Verfahren, werde.

das ich in diesem Buche beobachten --------

Seite 947

Zweites Kapitel. Bon der Form, welche das religiöse Gefühl bei den Wilden annimmt. ------

250

Drittes Kapitel.

Wie das religiöse Gefühl sich über diese Form zu erheben strebt. -------

302

Viertes Kapitel. Von den Vorstellungen vcn einem andern Leben im Gottesdienste der Wilden. -----

319

Fünftes Kapitel. Von den Irrthümern, in welche mehrere Schrift­ steller verfielen, weil sie den Kampf des reliaiöfen Gefühls gegen seine Form in diesem Zeit­ abschnitte der Religion nicht bemerkt hatten. -

348

XVl Seite

Sechstes Kapitel. Von dem Einflüsse der Priester im wilden Zustande.

369

Siebtes Kapitel. Folgen des Einflusses der Priester auf den Gottes­ dienst der Wilden. ------

385

Achtes Kapitel.

Warum ich den Gottesdienst der Wilden ausführlich schildern zu müssen glaubte. -

4°9

Borrede des Verfassers

XJie Art, wie das Legenwärtige Werk zu

scheinen bestimmt ist, hat vielen und — gegrün­

deten Tadel gefunden.

Ein Buch, wie dieses,

muß in seinem ganzen Umfange vorgelegt werden,

um darüber urtheilen zu können.

Es zerstückeln,

heißt, es ohne Zweck einer Menge von Einreden

bloß stellen, welche die weiteren Entwickelungen nicht würden aufkommen lassen, und die schon

darum einen großen Schein haben können, weil

sie

nicht

in

demselben Augenblicke widerlegt

werden. Auch würde ich diese Art der Erscheinung nie gewählt haben, wenn mich nicht ein sehr natür­

liches Mißtrauen in dem Augenblicke, wo gerade

so bedeutsame Umstände und Verhältnisse die großenAngelegenheiten bewegen und verwickeln, Erster Banb.

*

II

an der Aufmerksamkeit des Publicums für Unter­

suchungen, die keiner Leidenschaft das Wort reden, und die Angelegenheiten des Augenblicks weder ver­

wirren, noch fördern können, hätte zweifeln lassen. Gern hätte ich, hierüber beruhigt, eine andere Erscheinungsweise gewählt, wenn Einmahl ein­

gegangene Verbindungen mir nicht als Verpflich­ tungen erschienen.

Alles, was ich glaubte mir

erlauben zu können, war, zwei Lieferungen zu vereinigen, und zusammen erscheinen zu lassen. *)

Auf diese Weise hoffe ich jeden Zeitabschnitt voll­ ständig genug behandeln zu können, und glaube, daß dieser erste Band den Gesichtspunkt schon

deutlich erkennen lassen wird, aus welchem ich

den wichtigen Gegenstand, der mich beschäftigte, betrachte.

Gleichwohl ist

die Unzweckmäßigkeit

nur­

vermindert worden; ungeduldige Tadler werden *) Nach der ersten Ankündigung, im Julius 1823, sollte die Urschrift in sechs Lieferungen erschei­ nen, vom 15. October an monathlich eine der

selben von

t>i(? io Bogen ausgegeben wer

den, und zwei fetitett einen Band ausmachen. Die oben erwähpte Abänderung hat die spätere

Erscheinung, zu Anfänge dieses Jahrs, veranlaßt. A. d. H.

es sich vielleicht zu Nutze machen, daß ich Alles

nur an seinem Orte sagen kann. Wenn ich demnach in diesem ersten Bande

behaupte, -daß der größte Theil der Begriffe, die den Cultus der Wilden bilden, sich in den Prie­ ster-Religionen EgyptenS, Indiens und Galliens

ausgezeichnet und begründet vorfindet; so wird man mir die tiefen Kenntnisse, die man den Prie­ stern von Memphis so gern beizulegen pflegt, die

oft spitzfindige Philosophie der Braminen, oder die erhabene Lehre der Druiden, vorhalten, und

dieser Vorhalt wird nicht eher seine Bedeutung verlieren,

als

bis

ich

über jene Kenntnisse,

jene Philosophie und über diese Lehre in einer

nachfolgenden Lieferung meine Meinung gesagt haben werde. Eben so wird man mir, wenn ich später­

hin, bei der Würdigung des Griechischen Poly-

theism, zeigen werde, daß die von den Priester-

Religionen hergenommenen, und den Griechen von Reisenden, Philosophen und den Priestern

selbst gebrachten, Meinungen von dem Genius dieses Volkes fortwährend zurückgewiesen wur­

den,

die Mysterien einwerfen,

und ich werde

IV

diesen Einwurf nicht eher vollständig widerlegt haben, als bis ich, noch weit später, gezeigt

haben werde, daß die Mysterien gerade darum

die verwahrliche Niederlage der fremden Lehren, Überlieferungen und Gebräuche waren, weil zwi«

schon ihnen und der öffentlichen Religion ein Widerstreit Statt fand. Für alle diese und viele andere, für den Gang

der Meinungen, und für die Geschichte der religiö­ sen Vorstellungen nicht minder wichtige, Puncte darf ich die Billigkeit meiner Leser in Anspruch nehmen; und da die Bände schnell auf einander

folgen werden; so wird der Aufschub, den ich

begchre, um etwa bestrittene Hypothesen über alle Zweifel zu erheben, eine so kurze Frist nicht

überschreiten. Einer gleichen Billigkeit versehe ich mich, um, wenn es Noth thut, eine andere Art von Anschuldigungen zurück zu weisen. Es würde mir, ich gestehe es, äußerst empfindlich seyn, wenn ich

zu jenem Haufen von Bücherschreibern geworfen würde, der, voll gemeiner Heftigkeit, und in

seinem Wahne in der Wahl der Mittel, Bestall zu erhalten, wenig ekel, über Alles herfällt, was

sich das Geschlecht der Menschen zu Gegenständen

seiner Hochachtung ausgebildet hat.

Gleichwohl

finde ich in der zu Tage liegenden Wahrheit der

Thatsachen eine Nöthigung, mich über den Ein­ fluß des Priesterthums bei mehreren Völkern der Vorzeit mit derjenigen Strenge auszudrücken, die sie mir zu verdienen scheint.

Erinnern zu wollen, daß ich nur von den alten Völkern und von den Oberpriestern des

Polytheisms rede,

hieße,

dem Angriffe aus­

weichen, statt ihn zurück zu weisen.

mehr,

meine Meinung

enthält nichts,

ganz

zu

Es ziemt

sagen;

sie

was ich zu gestehen fürchten

müßte, und ich werde dabei gewinnen, wenn ich

dem Verdachte entgehe, mich in Anspielungen zu flüchten, eine Art des Angriffs, die immer einige Feigheit verräth, und neben der Unziemlichkeit,

die Thatsachen zu entstellen, auch noch den Nach­

theil hat, der Feindseligkeit einen widerlichen Anstrich von Furcht zu geben.

Von meinen Anklagen gegen das Priesterthum der Alten, und seinen Einfluß auf die Gesittung jener Zeit, leiden mehrere auf die Priester der neueren Religionen durchaus keine Anwendung.

VI

Zuvörderst waren die Priester des Alterthum-

schon durch ihkk Berrichtungen zum Betrüge ver­ dammt.

Wunderbare Verbindungen und Mit­

theilungen, die mit den Göttern unterhalten und

gepflogen, Blendwerke, die vorgekehrt, Götter­

sprüche, die ertheilt werden mußten, ihnen den Trug zu einer Nothfache.

machten

Unsere gxrei-

nigteren Glaubensbekenntnisse haben die Priester unserer Tage von diesen verderblichen Obliegen­

heiten befreit.

Dem Gebethe der Gläubigen

Worte leihend, den Niedergeschlagenen und Be­

kümmerten Trost bringend,

dem Reuigen eine

sichere Zuflucht biethend, bedürfen sie, glücklicher­

weise, keiner wunderbaren Eigenschaften.

So

groß sind die Fortschritte unserer Aufklärung, so groß ist die Ruhe, welche geistigere Lehren in allen Seelen begründet haben,' daß die Glau-

benswuth selbst, wenn sie vorhanden seyn sollte,

Schranken zu achten gezwungen ist, deren Über­ schreitung zu dem Wesen des alten Priesterthums gehörte, und über die hinaus der Thron seines Einflusses erbauet war; — daß, wenn Einzelne

diese Schranken nieder zu reißen versuchen sollten, diese einzelnen, unterbrochenen und unterdrückten

Versuche wohl Nachtheile, aber keine Gefahren bringen,

wohl Gegenstände des Tadels, aber

nicht Mittel der Herrschaft seyn können. Dann aber würde auch die unbeschränkte

Gewalt der Druiden und der Magier nie wieder das Erbtheil unserer Priester werden können.

Geneigt, wie wir sind, die Besorgnisse jener

gründlichen Verkündigungen, daß sich das Prie-

sterthum zu einem Staat' im Staate auszu­

bilden und festzusetzen trachte, zu theilen und sie sogar vernünftig und gegründet zu finden,

würden wir in unseren Besorgnissen gleichwohl zu weit zu gehen glauben, wenn wir annehmen

wollten, daß die Vorrechte, welche der Priester­ stand besitzt, oder die er sich für den Augenblick

zueignen würde, ihn auf gleichen Standpunct mit jenen Kaste» stellen würde, die über das

Königthum gebothen, die Könige vom Throne

stürzten, alle Kenntnisse an sich rissen und als

ihr Eigenthum betrachteten, sich eine besondere Sprache schufen, die Schrift zu ihrem Alleingute erhoben, und, als Richter, Arzte, Geschicht­ schreiber, Dichter und Weltweise das Heiligthum

der Wissenschaft jedem, der an ihrem Vorrechte

VIII

keinen Antheil hatte, folglich der unendlichen Mehrheit des menschlichen Geschlechtes,

ver­

schlossen.

Gegen einzelne Bestrebungen zur Wieder­ erweckung dessen, was ein Zwischenraum von zwanzig Jahrhunderten wieder zu erwecken un­

möglich macht, können wir uns auf die gemein­

same Vorsicht und Huth verlassen; in Körper­ schaften nimmt man ein gewisses Gefühl für das­

jenige wahr, was unthunlich ist, und wenn die Berechnung einige gewagte Versuche erlaubt; so eilt dieselbe Berechnung, sich bei der geringsten

Wahrnehmung von Gefahr von ihnen loszusagen. Wenn sich überdieß die Gewalt des Staates,

meiner Meinung zu Folge, über ihren wahren

Vortheil irre geführt, oft zu einer übermäßigen Ausdehnung ihrer sogenannten geistlichen Gewalt

verleiten laßt;

so sind die Bedingungen des

Vertrages offenkundig und bestimmt.

Wenn es

Alleinherrscher giebt, die den Wunsch hegen, daß

Leo XII über politische Lehren einen Bannfluch

ausspreche; so würde doch keiner den Bannstrahl, welchen Gregor VH gegen die Throne schleuderte,

in den Händen Leo's XII sehen wollen; und in

demselben Augenblicke, in welchem ich dieß schreibe, ist eine vor Zeiten furchtbare,

und,

wie man

glaubte, zurückgewünschte, Gesellschaft aus den

Staaten eines Fürsten entfernt worden, auf den sie, allem Anscheine nach, sehr große Hoffnungen gebaut hatte.

Vertrauen wir der Zeit, ohne die

Dunkelheit der Wolken zu vergrößern, die zwei

entgegen gesetzte Winde versammeln, und zwei entgegen gesetzte Winde wieder zerstreuen müssen.

Nichts von dem, was ich von der unbe­

schränkten Gewalt der thcokratischen Gesellschaf­ ten Indiens, Ethiopiens oder des Abendlandes habe sagen können, kann folglich, bei dem besten Willen von der Welt, und bei den geübtesten

Erklärungsgaben, durch irgend einen meiner Leser in Angriffe gegen die Priester von Kirchengemein­

schaften verkehrt oder verdreht werden, denen ich als Bürger Achtung, oder als Protestant Rück­ sichten schuldig bin.

Mein gegen das Priesterthum einiger Poly­ theismen ausgesprochener Tadel ist sogar weit

weniger bitter, als das Urtheil, das die Kirchen­

väter,

oder die Gottesgelehrten, die den Fuß­

stapfen derselben folgten, darüber gefällt haben.

Ich habe die Strenge ihrer Berdammungsurtheite zuweilen gemildert; ich habe das bedingte Gute an­

gedeutet, das die Diener eines falschen Cultus thun konnten, weil in Ansehung des religiösen Gefühls

der Irrthum, meiner Meinung nach, einem gänz? lichen Mangel desselben noch vorzuziehen ist.

Diese Meinung hatte mir vielleicht vor einem Jahrhunderte Borwürfe von ganz anderer Art

zugezogen; man hätte mir wahrscheinlich eine zu

große Duldung zum Berbrechen gemacht, und es würde, wie es mir scheint, für Priester eine-

herrschenden Cultus ein unpolitischer und unüber­ legter Schritt seyn, wenn sie erklärten, mit den

Häuptern eines gestürzten Cultus gemeine Sache machen zu wollen. Was das Maß von Tadel betrifft, das ohne weitere Beziehung auf Glaubensbekenntnisse, Zeit­

räume und die Gestalt der Einrichtungen, das Pricsterthum aller Religionen treffen möchte;

so wird es jedem, der lesen und begreifen kann,

einleuchten, daß solcher Tadel heutiges Tages

nur von Personen verdient werden könnte, welche die Eigenschaften und Zuständigkeiten ihres Amtes

verkennen würden.

Die Brammen würden jedem Ungeweihten,

der die Veda'S *) öffnete, siedendes Ohl in den Mund gießen wollen,

so sehr fürchten sie die

Unterweisung des Volks, und was sie Zucht­ losigkeit, als Folge der Unterweisung, nennen!

Wahrlich, indem ich von dieser engherzigen und verschlagenen Politik den Schleier ziehe, verletze

ich auf keine Weise eine Geistlichkeit, welche auf

die Ehre Anspruch macht, die Wiederherstellung

der Wissenschaften kräftig begünstigt und geför­ dert zu haben, und wenn es Personen gäbe,

welche die Mittel, unter alle Classen des Volks

Einsichten zu verbreiten, und die Bürger durch Aufklärung zu veredeln, verdammten; so würde

jene Geistlichkeit sich mit mir von diesen wieder

auferstandenen Braminen lossagen. Die Priester der Mero« nahmen ihren Kö­

nigen die Krone und schleppten sie zum Tode.

Indem ich mich gegen diese königsmördcrischen

Oberpriestcr erhöbe, würde ich nur diejenigen an *) Veda' s ober Vedam' s heißen die heiligen

Bücher der Indier, welche Vyasa sammelte und auf vier zurückbrachte, deren jedes aus zwei Thei­

len, den Mantra's oder Gebethen, und Dia-mahna's oder Gebothen, besieht.

A. d.

H.

XII

den Pranger stellen, die den Thron zum Fuß­

schemel des Altars machten. Die Magier erklärten dem Cambyses, daß

ihr Wille über die Gesetze erhaben sey.

Meine

Verwerfung dieses Bündnisses des Priesterthumö mit der Gewaltherrschaft trifft nicht eine Kirche,

in deren Nahmen Fenelon, MaMon, Flechier, den Herrschern unaufhörlich wiederhohlten, daß

die Gesetze die Grundlage und die Gränze ihrer Macht seyen.

Diese Erklärungen schienen mir nothwendig. Als treuer Geschichtschreiber habe ich keine einzige

Thatsache entstellt, noch irgend eine Wahrheit Nebenrücksl'chten aufgeopfert.

Ich habe mich

bemüht, das Jahrhundert, die Verhältnisse und Meinungen der Zeit, während des Schreibens zu vergessen.

Dieser mit gewissenhafter Ängstlich­

keit beobachteten festen Bestimmung verdankte ich

die Gattung von Muth, die für mich von allen die schwerste war, diejenige nähmlich, mich in Meinungen von hoher Bedeutung von vielen

Menschen zu trennen, deren Grundsätze ich sonst

theile, und deren edle Denkungsart ich ehre. Von den Gefahren eines Gefühles lebhaft

ergriffen, daö sich zu hoher Anspannung steigert,

die Richtung verliert, und in dessen Nahmen un­ zählige Verbrechen begangen wurden, mißtrauen

diese Menschen den religiösen Aufwallungen, und

möchten die genauen, kalten und unveränderlichen Berechnungen des wohl verstandenen Vortheils an ihre Stelle setzen.

Dieser Vortheil reicht,

sagen sie, hin, um die Ordnung zu begründen,

und den Vorschriften des Sittcngcsetzes Achtung zu verschaffen.

Ich bin in der That weit entfernt, die fromme Übertreibung zu theilen, die alle Ver» brechen der ungläubigen Zeiträume dem Man­

gel des religiösen Gefühls zuschreibt.

Jene

beweinenswürdigen Wirkungen blinder Leiden­ schaften, die mit dem Religions-Glauben nichts zu thun haben, werden eben sowohl in den über­

gläubigen, als in den ungläubigen Jahrhunderten wahrgenommen.

Unter Alexander VI ging das

Nachtmahl voran, und dem Morde folgte die Beichte.

Eben so gebe ich zu, daß die Nothwendigkeit

des religiösen Gefühls durch die Ausschweifungen

der Revolutionen, während welcher es im Auf-

XIV

stände begriffen«» Völkern

gefallen

hat,

die

Gegenstände einer alten Verehrung mit Füßen

zu treten, nicht hinlänglich erwiesen seyn würde. Revolutionen sind Gewrtterstürme,

in

denen

der Mensch sich gezwungen sieht, unter dem

heftigen Stoße aller entfesselten Gewalten, ohne Führer, die ihn leiten, ohne Zuschauer, die ihn zurückhatten könnten, seine Urtheile und seine

Handlung« zu übereilen, und daher bei redli­ chen Absichten sich täuschen, und bei den reinsten Beweggründen Verbrecher werden kann.

jenigen Revolutionen,

welche

durch

Die­

religiöse

Überzeugungen veranlaßt wurden, sind von ver­ dammungswürdigen und grausamen Handlungen und Vorgängen eben so wenig, als die Umwäl­

zungen, welche die Freiheit gebar, frei geblieben. Die Anarchie des Kriegs

des Protestantisms

und seine dreißigjährigen Metzeleien stehen mit

der Anarchie und den Schandthaten, welche die

Blätter

der Französischen Revolution befleckt

haben, auf gleicher Linie, und die wüthende

Frömmigkeit der Puritaner hat sich eben so blutdürstig gezeigt, als der zügellose Atheism unserer Volksführer.

Nachdem ich nun damit begonnen habe, so

oiil einzuraumen und zuzugestehcn, werde ich aber auch jetzt noch die Frage aufwerfen müssen, ob nicht, indem das Menschengeschlecht das rein

giöse Gefühl, das ich von den religiösen Formen unterscheide, verwirft, und die einzige Regel des

wohl verstandenen Vortheiles zu feiner Richt­ schnur macht, es sich alles desjenigen beraube,

was seine Hoheit begründet, indem es auf diese

Weise seinen schönsten Unsprüchen entsagt, von seiner wahren Bestimmung sich entfernt, in einen Kreis sich einschließt, der nicht der seinige, und

zu einer Erniedrigung sich verdammt, die gegen

seine Natur ist? — Der wohl verstandene Vortheil muß Alles,

was dem wohlverstandenen Vortheile entgegen ist, entfernen.

Wenn der Mensch, von diesem

Grundsätze geleitet,

über Leidenschaften trium-

phirt, die ihn auf einen, diesem Vortheile zu­

wider laufenden, Weg führen würden; so muß

er auf gleiche Weise auch alle Regungen und

Gefühle überwinden, die ihn eben so von seinem Vortheile entfernen könnten.

Wenn der wohl verstandene Vortheil mächtig

XVI

genug ist, um den Rausch der Sinne, den Durst

nach Reichthümern,

die Wuth der Rache zu

besiegen; so wird er noch leichter über Regungen

des Mitleids, der Rührung, der Hingebung, die unaufhörlich durch Rücksichten der Klugheit, der

Selbstsucht und

der Furcht bekämpft werden,

das Übergewicht behalten.

Wir werden, indem

wir den-Vorschriften des wohl verstandenen Vor­

theils Gehör geben,

ohne Zweifel auf gegen­

wärtige Genüsse Verzicht leisten können,

aber

es wird nur geschehen, um künftige Vortheile

zu erlangen; wir werden uns alles dessen ent­

halten müssen, was uns anhaltend schaden würde, und diese Regel, die einzige Moral des wohl verstandenen Vortheils, wird auf die Regungen

unsers Edelmuths und -uf unsere Tugenden, wie

auf unsere persönlichen Leidenschaften und auf

unsere Laster, Anwendung leiden müssen. Es giebt keine edle Regung des Herzens, gegen

welche die Logik des wohl verstandenen

Vortheils sich nicht wafinen könnte.

Es giebt

nicht Eine,' die, nach dieser Logik, nicht Schwäche

oder Verblendung wäre, nicht Eine, die der wohl verstandene Vortheil nicht mit seinen genauen

Berechnungen und seinen siegreichen Abwägungen und Gegeneinanderhaltungen zu nichte machte. Wollt Ihr mir einwerftn, daß der wohl

verstandene Vortheil sich selbst gegen eine solche

Entwürdigung unserer Natur erhebe, weil er uns

auffordere, nach der inneren Zufriedenheit zu streben, die, auch mitten im Unglücke, die muth-

volle Erfüllung der Pflicht gewährt? — Aber begreift Ihr denn nicht, daß Ihr mit diesem

Einwurfe wieder auf jene unwillkührlichen Auf­ wallungen zurückkommt, die Euch in einen an­ dern Kreis von Vorstellungen versetzen?

Denn

da sie jeder Berechnung fremd bleiben; so ver­ wirren sie durch ihre Folgen die unfruchtbare Lehre des wohl verstandenen Vortheils. Um den Folgen der von Euch angenommenen Lehre aus­ zuweichen, verfälscht Ihr diese Eurer unwürdige

Lehre; Ihr nehmt einen Bestandtheil darin auf,

den sie verwirft;

Ihr gebt dem menschlichen

Gemüthe das Vermögen wieder, — denn es ist

ein Vermögen, und das köstlichste von allen —

das Vermögen, unabhängig von seinem Vortheile, und sogar auf Kosten desselben, überwältigt,

beherrscht und hingerissen zu werden. Erster Banb.

**

XVIII

Wenn dieser Bortheil gänzlich siegte;

so

würde der Mensch keine andere Reue mehr fühlen, alS die Reue, sich über denselben getauscht,

tmb keine andere Zufriedenheit empfinden, alS feine Borschriften sorgfältig beobachtet zu haben.

Nein, die Natur hat unö den Führer nicht in unserm wohl verstandenen Vortheile, sie hat ihn uns in unserm tiefsten Gefühle gegeben. Dieß Gefühl sagt uns, was böse oder was gut

ist; der wohl verstandene Vortheil unterrichtet

uns nur in dem, was nützlich oder schädlich ist. Wenn Ihr demnach das Werk der Natur nicht zerstören wollt; so achtet dieß Gefühl in

jeder seiner Regungen. des Baums fällen,

Ihr könnt keinen Zweig

ohne zugleich den Stamm

tödtlich zu verletzen. Wenn Ihr das unnennbare Gefühl, das uns ein unendliches Wesen, eine Weltscele, einen Welt­ schöpfer, Weltgeist, — was liegt an den unvoll­

kommenen Nahmen, die es uns nennen sollen? — zu offenbaren scheint, als ein Hirngespirrnst be­ handeln wollt; so wird Eure Truglehre, ohne

daß Ihr es wißt und wollt, auch noch weiter gehen.

Alles, was in den Tiefen unserer Seele vor­ geht, ist unerklärbar, und wenn Ihr allezeit

mathematische Beweise fordert; so werdet Ihr immer nur Verneinungen erhalten. Ist das religiöse Gefühl Thorheit, weil die

Probe nicht gemacht werden kann; so ist auch

die Liebe Thorheit, das Mitgefühl Schwäche, die Begeisterung Wahnsinn,

die Aufopferung

Raserei. Wenn man das religiöse Gefühl ersticken

muß, weil, wie Ihr sagt, cs uns irre leitet; so wird man auch das Mitleid besiegen müssen, denn es hat seine Gefahren, und quält und belä­

stiget uns; man wird die Aufwallung des Blutes dämpfen müssen, die uns dringt, dem Unter­ drückten zu Hülfe zu eilen, denn unser Vortheil

erheischt eS nicht, unsern Kopf Streichen darzubiethen, die nicht für ihn bestimmt sind.

Man

wird, bedenkt es wohl, vor allem jener Freiheit

entsagen müssen, die Ihr so sehr liebt; denn von einem Ende der Erde bis zum andern ist der Bo­

den, auf welchem das Menschengeschlecht wandelt, mit den Leichnamen ihrer Vertheidiger bedeckt.

Nicht der wohl verstandene Vortheil wird dieser ♦♦ 2

XX

Gottheit stolzer und

bauen;

edler Seelen ihre Altäre

er wird abwarten, bis sie, von Andern

errichtet, ihm sicheren Schutz darbiethcn; und wenn Stürme sie erschüttern, werdet Ihr ihn, treulos oder feige,

den geächteten Dienst ver­

lassen , und aufs höchste eine schimpfliche Partei­ losigkeit sich zum Verdienste machen sehen.

Und haben wir diese Erfahrung nicht etwa

gemacht?

Was haben wir seit zwanzig Zähren

in ganz Europa gesehen? Den wohl verstandenen

Vortheil ohne Mitwerber herrschen. war die Frucht dieser Herrschaft?

Und was

Noch einmahl,

ich rede nicht von den Verbrechen;

ich gebe zu,

daß der wohl verstandene Vortheil sie verdammt, und daß seine Rathschläge sie entfernt haben

möchten. *)

Aber diese Gleichgültigkeit, diese

*) Ich räume meinen Gegnern hier einen Punct

ein, den ich sehr gut bestreiten könnte.

Nichts

ist unsicherer, als der Sieg des wohl verstandenen

Bortheiles über die Neigungen, die dem Sitten­ gesetze widerstreben.

Von dem Menschen, den

eine Leidenschaft beherrscht, verlangt jener Vor­ theil ohne Zweifel zunächst, die Leidenschaft, wenn er kann, zu ersticken. Wenn aber dieser Sieg über seine Kräfte geht; so verlangt sein wohl verstandener Vortheil, jene Leidenschaft zu befrie-

Knechterei, diese Beharrlichkeit in der Berech­ nung, diese Gewandtheit in den Borwänden, was waren sie anders, als der wohl verstandene Vortheil? djgen, um der Pein, die er leidet, ein Ende zu machen, denn diese Pein kann so groß werden, daß er ihr unterliegt. Wenn ein Unfall, oder eine mit der Körperbeschaffenheit eines Kranken unverträgliche Krankheit sein Leben in Gefahr setzen, so suchen die Merzte die drohende Gefahr zu entfernen, ohne genau zu prüfen, ob die Mittel, dir sie in diesem Augenblicke des EntscheidungSzustandeS anwenden, auch seiner künf­ tigen Gesundheit nicht nachtheilig sind. Der wohl verstandene Vortheil des leidenschaftlichen Menschen ist, aus dem heftigen Zustande, in den ihn die unbefriedigte Leidenschaft seht, heraus zu kommen; — was kümmert ihn, wenn die Gegenwart ihn aufreibt, eine Zukunft, die er nicht erreichen wird? — Der vornehmste Gründer des Lehrgebäudes vom wohl verstandenen Vortheile, Helvetius, ist weit weniger folgewidrig, als seine Nachfolger gewesen sind. Er ist Bewunderer der Leiden­ schaften, und ermahnt daher seine Schüler nir­ gends, sie zu besiegen. Im Gegentheile sagt er ihnen, daß, wenn sie aufhören, leidenschaftlich zu seyn, sie Dummköpfe seyn werden. Leiden­ schaften will er, Genüsse erlaubt er nur. Er

XXII

Er hat dazu gedient, in unglücklichen Zeiten die Ordnung aufrecht zu erhalten.

Ordnung

ist nothwendig zum Wohlseyn; aber er hat der

äußern Ordnung alle jene Gefühle zum Opfer gebracht, deren Ausbruch Gefahr bringen konnte. Die Ordnung prangt immer an der Seite der Gewalt; der wohl verstandene Vortheil hat sich

gleichfalls dieser Gewalt zur Seite gestellt, wenn

nicht, sie zu unterstützen, doch wenigstens, um

ihr die Hindernisse auö dem Wege zu räumen. Er hat die Schlachtopfer beklagt, aber, wenn sie zum Tode geschleppt wurden, Sorge getragen,

daß die Ordnung nicht gestört werde.

Er hat

die Köpfe fallen lassen, und das Eigenthum

geschützt.

Er hat die Plünderung verhindert,

und den gesetzlichen Mord erleichtert.

Er hat zur Entwickelung der geistigen Kräfte geholftn, ja; aber indem er sie entwickelte, hat

macht den Vortheil zum Beweggründe, aber er strebt nicht, ihn durch ein Beiwort zu entstellen, und ihn in eine Weisheit, in eine Vorsicht zu kleiden, die er nie haben wird. Dennoch habe ich dieß den Anhängern jener Lehre einräumen wollen, weil mir dieselbe, auch nach dieser Ein­ räumung, eben so irrig und eben so schädlich erscheint.

er sie entwürdigt.

Man tjl geistreich gewesen,

aber dieser Geist hat jedem Gefühle, LaS nicht

selbstsüchtig war, den Krieg erklärt. Die Selbst»

verläugnung ward ein Gegenstand des Gelächters. Man hat die menschliche Natur durch Spott ver­

ächtlich zu machen,

durch Geringschätzung zu

erniedrigen gesucht,

und dieß eine vernünftige

Würdigung der Dinge oder eine rührende Berderbniß genannt. Eben weil man geistreich war, hat man sich

in einer Art von Obstande gefallen.

So lange

keine Gefahr vorhanden war, erlaubte der wohl

verstandene Bortheil der Thorheit, das Gute wie das Böse ohne Unterschied zu meistern. Die Gefahr nahte, und der wohl verstandene

Bortheik gab den Rath, dem Bösen, wie dem

Guten, klüglich Beifall zu zollen, dergestalt, daß man sich unter der gemäßigten Gewalt als Tadler, unter der strengen als Sclave zeigte. Die Lugenden erlitten dieselbe Entwürdi­ gung, als die Geisteskräfte.

Sie verloren den

Reitz, der ihren himmlischen Ursprung bezeugt,

und indem man sie nun vorsichtig, zurückhaltend, besorgt, zu viel zu thun, sah, konnte man daraus

XXIV

abnehmen, daß die Seele derselbm nicht yorLandey, daß ihre wahre Quelle vertrocknet sey. Man war mildthätig, weil der wohl ver­ standene Dortheil dem Reichen sagte, daß Ent­

blößung ohneHülfsquelle furchtbar sey. Aber die Mildthätigkeit ward herabgesetzt.

Man unter­

sagte sich Allmosen aus Rührung und Mitleiden;

dafür, daß man den Armen unterhielt, nahm man ihm die Freiheit; man hielt sich für wohl­

thätig, wenn, hinter Schloß und Riegel, man ihm Brodt gab.

Auch hierbei ließ die Berechnung es noch nicht.

Pon den erst werdenden Geschlechtern

zum voraus! belästigt, hat man dem Dürftigen

seine Naturtriebe, und seinen Kindern ihr Daseyn zum Borwurfe gemacht.

Man berechnete, wie

viele Hände die nöthigen Arbeiten vollbringen können.

Man hat den übrigen Theil des mensch­

lichen Geschlechts als überflüssig in die Acht

gethan, und das Leben zu einem Park gemacht, den seine Eigenthümer nach Belieben mit einer

Mauer umziehen, und den Eintritt in denselben lediglich von ihrer Erlaubniß abhängig machen

können.

Man hat häusliche Tugenden geübt.

Der

wohl verstandene Vortheil mag- in seinem Hause lieber in Ruh und Frieden, als in Zank und Streit leben, und der Lärm beunruhigt das Leben.

Aber die häuslichen Tugenden wurden auch nach

dem Vortheile abgemessen; man war selbstsüchtig

für seine Familie, wie vormahls für sich.

Man

vertrieb den bedrohten Freund, auS Furcht, eine ängstliche Gemahlinn zu beunruhigen.

Man ver­

ließ die Sache des Vaterlandes, weil der wohl verstandene Vortheil die Mitgift einer Tochter

nicht gefährdet wissen; man diente der ungerech­ ten Gewalt, weil er die Laufbahn eines Sohnes

nicht unterbrochen sehen wollte.

Dieß Alles war nicht Laster, es war Klug­

heit, sittliche Rechenkunst; es war der logische und vernünftige Theil des Menschen, von dem edlen und erhabenen geschieden; es war, mit

einem Worte, der wohl verstandene Vortheil.

Ehrenwerthe

Ausnahmen

trösten

unsere

Blicke; aber waren diese Ausnahmen nicht gegen

die Regel?

Waren sie nicht Abweichungen von

der Lehre der Selbstsucht, Huldigungen, Macht des Gefühles dargebracht?

der

XXVI

Und bemerkt eS wohl: die Schilderung, die

ich eben entwarf, setzt einen glücklichen Zustand, Ruhe und Frieden, und eine Ordnung der Dinge

voraus, in welcher-Nichts die Berechnung stört, der wohl verstandene Vortheil, ruhig und unge­

schreckt, immer weiß, waS er wollen muß, und es immer dahin bringt, sich Gehör zu verschaffen.

Sie ist das schöne Ideal einer von jenem wohl verstandenen Vortheile

regierten

Gesellschaft.

WaS hat sie mehr, als kunstreiche Biber-Colo­

nien, oderswohlgeordneteBienenstöcke darbiethen?

Aber laßt die so regelmäßig geordnete Gesell­ schaft, diese Sammlung kunstvoll geschichteter

Gebeine und wohl geordneter Versteinerungen, in schwierigere Verhältnisse gerathen, und die

Lehre wird andere Folgen haben. Ihr natürlicher Erfolg ist, jeden Einzelnen

zu seinem eigenen Mittelpuncte zu machen.

Nun

stehen, wenn jeder sein eigener Mittelpunkt ist.

Alle einzeln; stehen aber Alle einzeln, so giebt eS nur Staub.

Kommt das Gewitter; so ist

der Staub Koth. Frevnde der Freiheit, nicht bei solchen Grund­

stoffen empfängt, gründet und bewahrt diese ein

Volk.

Gewohnheiten, die nicht aus Eurer Lehre

Herfließen, eine Erhebung der Seele, die diese Lehre nicht vernichten konnte, eine edelmüthige

Empfänglichkeit, die trotz Eurer Lehrsätze Euch

begeistert

und

Euch

hinreißt,

täuschen Euch

über das Menschengeschlecht und vielleicht über Euch selbst.

Betrachtet den Menschen, wie er

von seinen Sinnen beherrscht, von seinen Bedürf­

nissen eingeengt, durch Verfeinerung verweichlicht,

und um so mehr der Sclave seiner Genüsse wird, als diese Verfeinerung sie ihm erleichtert.

Erken­

net, wie manche Thür er der Verderbniß öffnet. Bedenkt jene Biegsamkeit der Sprache, die ihn mit Entschuldigungen überhäuft, und vor derBe-

schämung der Selbstsucht sichert. *)

Vernichtet

*) In diesem Sinne sagt Campe: Unsere ehrbare

(Deutsche) Sprache ist nie verlegener, als wenn sie diejenigen Französischen Wörter wiedergeben soll, wodurch irgend etwas unanständiges, schlüpfrige» und unsittliches dergestalt überschleiert wird, daß das Unrechtmäßige oder Schändliche der Sache, entweder gar nicht, oder nur schwach und kaum merklich, hervorschimmert. Der Deutsche und seine Sprache lieben die Geradheit, und nennen gern jedes Ding bei feinem rechten Nahmen. Das geht nun aber, bei der Verfeinerung der

XXVIII

in ihm doch den einzigen uneigennützigen Beweg­

grund nicht, der gegen so mannichfaltige Ursachen der Erniedrigung ankämpft.

Alle Lehrgebäude lassen sich auf zwei zurück-

sthren.

Das eine weist uns den Vortheil zum

Führer an, und das Wohlseyn als letzten Zweck;

das andere zeigt uns als solchen die Bervollkommnerung, und als Führer das tiefe Gefühl,

die Selbstverläugnung und die Fähigkeit des Opfers. Wenn Ihr das erstere zu dem Eurigen macht;

so werdet Ihr den Menschen zu dem gelehrigsten, geschicktesten und verschlagensten Thiere machen, aber vergebens ihn auf den Gipfel der Erden­ herrschaft stellen; er wird dennoch unter der un­ tersten Stufe jeder sittlichen Weltordnung stehen

bleiben.

Ihr werdet ihn in einen andern Kreis

Sitten und des Geschmacks, worin wir es unsern

Nachbaren nun einmahl haben gleich thun wollen, nicht mehr an; und wir sehen uns daher, in Er­ mangelung alter Wörter für dergleichen Begriffe,

welche verschleiert rvcrden sollen, gezwungen, neue

zu bilden. — Wörterbuch zur Erklärung und Ver­ deutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Braunschw. i8ui. S. 265. A. d. H.

versetzen, als in welchen Ihr ihn zu berufen glaubt, und wenn Ihr ihn in diesem Kreise der

Erniedrigung Einmahl umstrickt habt; so wer­

den alle Eure Anordnungen, Anstrengungen und Ermahnungen vergebens seyn; Ihr würdet alle

äußere Feinde besiegen, damit der innere unbe­ siegt bliebe. —

Einrichtungen sind leere Formen, wenn sich

niemand für dieselben aufopfern will.

Wird die

Gewaltherrschaft von der Selbstsucht gestürzt; so versteht diese nur die Beute der Gewalt­

herrscher zu theilen.

Schon ein Mahl schien das Menschengeschlecht in den Abgrund versenkt.

Auch damahls hatte

eine lange Verfeinerung es entnervt. *)

Der

*) Die Wirkungen der Verfeinerung sind gedoppelter Art. Ein Mahl vermehrt sie die Entdeckungen, und jede Entdeckung ist eine Kraft. Hierdurch vermehrt sie die Anzahl der Mittel, durch die das menschliche Geschlecht sich vervollkommpert. Von der andern Seite erleichtert sie die Genüsse, und vervielfältigt sie, und die Gewohnheit des Menschen in Ansehung dieser Genüsse wacht sie ihm zu einem Bedürfnisse, das ihn von allen hochherzigen und edlen Gedanken abzieht. So oft

XXX

Verstand, welcher alles zergliedert hatte, hatte Wahrheiten und Irrthümer zweifelhaft gemacht. also da» menschliche Geschlecht zu einer ausschlie­ ßenden Verfeinerung gelangt, erscheint e» einige Geschlechter hindurch rntwürdet. Dann erhebt es sich aus dieser vorübergehenden Entwürdung, und gelangt, indem es mit den neuen Entdek» kungen, womit es sich unterdeß bereicherte, gleich­ sam von neuem seinen Gang antritt, zu einer weit höheren Stufe der Vervollkommnerung. Sv sind wir verhältnißmaßig vielleicht eben so ver­ derbt, als die Römer zur Zeit des Diokletian; aber unsere Derderbniß empört weniger, unsere Sitten sind gefälliger, unsere Laster verdeckter, weil wir keine zur Ungebundenheit gewordene Vielgötterei, keine, immer furchtbare, Sklaverei mehr haben. Zu gleicher Zeit haben wir uner­ meßlich« Entdeckungen gemacht. Glücklichere Ge­ schlechter al» wir werden sowohl die Abschaffung der Mißbrauch«, von denen wir befreit wurden, als dir Vortheile, die wir errangen, zu genießen haben; aber wenn diese Geschlechter fortschrriten sollen auf der Bahn, die ihnen eröffnet ward, wird ihnen zu Theil werden müssen, was uns fehlt, und was uns fehlen muß, Ueberzeugung, Begeisterung, und die Kraft, den Vortheil der Meinung aufzuopfern. Daraus folgt, da- man über die Verfeine­ rung kein Derdammungsurtheil ergehen lassen muß, und daß man sie weder aufhalten kann,

Der Dortheil und die Berechnung vereinigten die Aufgeklärten unter ihr Banner. Ein eisernes Joch hielt die arbeitenden Classen unbeweglich fest. Ohnehin, welche vergebliche Anstrengungen! Wel­

che Schlachtopfer in dieser schon so wenig zahlrei­

chen Minderheit, die sich einer nicht so verächtli­ chen Vergangenheit erinnerte, und deren Herz einer

weniger elenden Zukunft entgegen schlug! Alles war vergebens; sogar die Erfolge blieben frucht­ los!

Nach Caligula, nach Nero, ja noch weit

später, unter den Regierungen des Galba, Probus, Tacitus, glaubten edle Bürger einen Augenblick, daß die Freiheit wiederkehren könne.

Aber die

tödtlich getroffene Freiheit sah ihre Vertheidiger

mit ihr fallen. Das Jahrhundert begriff sie nicht,

noch darf. Das hieße, ein Kind am Wachsen hindern wollen, weil dieselbe Ursache, die seinen Wachsthum befördert, auch das Alter herbciführen wird. Aber man muß das Zeitalter, in welchem man lebt, richtig auffaffen, sehen, was möglich ist, und indem man das einzelne Gute, das noch geschehen kann, befördert, vorzüglich dahin arbei­ ten, für ein künftiges Gutes den Grund zu legen, das um so weniger Hindernisse antreffen, und um so wohlfeiler erkauft werden wird, als es besser vorbereitet wurde.

XXXII

Der wohl verstandene Dortheil gab sie auf. *)

Die Welt war mit Sclqven bevölkert, welche die

Sklaverei entweder zu benutzen wußten, oder sich darin ergaben.

Die Christen traten auf; sie

stellten ihren Stützpunkt außerhalb der Selbst­ sucht auf.

Sie stritten nicht um den Erdkreis,

den die Erdengewalt in Fesseln hielt; sie tödteten nicht, sie starben, und sterbend siegten sie.

Freunde der Freiheit, die Ihr einer nach dem andern von Marius und von Sylla in den Bann gethan wurdet, seyd die ersten Christen eines neuen Niederreichs. Opfer genährt.

Die Freiheit wird durch

Gebt die Kraft des Opfers dem

entnervten Geschlechte,

das sie verloren hat,

wieder. Die Freiheit will immer Bürger, zuwei­ len Helden.

Vertilget die Überzeugungen nicht,

die den Tugenden der Bürger zur Grundlage dienen, und Helden erschaffen, indem sie ihnen die Kraft verleihen, Märtyrer zu seyn.

*) Es ist merkwürdig, daß sich um diese Zeit die ganze Elaste der Gebildeten, mit Ausnahme der Neuplatoniker einer, und der Christen anderer Seits, zur Epikurischen Philosophie bekannte, die im Grunde nichts anderes, als die Lehre des wohl verstandenen Vortheiles war.

Die Religion, nach

ihrer Quelle, ihren Gestalten und

ihren Entwickelungen.

Erstes

B u ch.

Erstes Capitel.

Vom

religiösen

Gefühle.

«Jex Verfasser des Esprit des Lois sagt sehr

richtig, daß alle Wesen, die Gottheit, wie die Welt, die Welt, wie die Menschen, die Menschen, wie die übrigen Gattungen lebendiger Geschlechter, ihre

Gesetze haben. *) Diese Gesetze bestimmen die Natur einer jeden Gattung; sie sind die allgemeine und fortdauernde

Ursache der Art und Weise, wie jede derselben vor­ handen ist; und wenn äußere Ursachen in dieser Art

und Weise des Daseyns hie und da auch einige

Änderungen erzeugen;

so leistet doch das Ganze

Widerstand, und widerstrebt stets den Änderungen. i) Esprit des lois, Iiv. I. chap. i.

6

Man muß demnach diesen ursprünglichen Ge­ setzen keine Ursachen unterlegen wollen; man muß von ihrem Daseyn ausgehen, um die einzelnen Er­ scheinungen zu erklären. Warum lebt eine Classe von Thieren trupp­ weise, während in einer andern Classe jedes abge­ sondert für sich lebt? Warum ist bei dieser die Geschlechtsvereknigung mehr oder weniger von Dauer, während dort der wilde Trieb in dem Augenblicke, in welchem die Begierde bestiedigt ist, seine Kraft wieder erhält. Man kann nichts anders antworten, als daß diese Gattungen so sind. ES ist eine Thatsache, deren Wahrheit keinem Zweifel unterliegt, und deren Erklärungeu willkührlich sind. Denn die schwächsten unter diesen Gattungen sind nicht gerade die geselligsten. Indem sie sich zusammenthun, leisten sie sich nicht den geringsten Beistand; sie gehorchen ihrer Natur, die ihnen Gesetze auferlegt, das heißt, eine Einrichtung gegeben hat, die sie bezeichnet, und über die Art und Weise ihres Da­ seyns entscheidet. Wenn es demnach in dem He^en des Men­ schen ein Gefühl giebt, das alle übrige lebendigen



7



Geschöpf« nicht kennen, und das sich immer wieder erzeugt, wie auch die Lage, worin der Mensch sich

befindet,

beschaffen seyn möge,

wahrscheinlich,

ist's dann nicht

daß dieß Gefühl ein Grundgesetz

seiner Natur sey?

Solche Bewandtniß hat es, meiner Meinung zu Folge, mit dem religiösen Gefühle.

Die wilden

Horden, die Stämme der Barbaren, die Völker,

welche sich in der Kraft des gesellschaftlichen Zustan­ des befinden, diejenigen, die in der Kraftlosigkeit der Verfeinerung ihrer Auflösung entgegen gehen, alle empfinden die Macht jenes unzerstörbaren Gefühls.

Es siegt

hungen.

über alle Verhältnisse und Bezie­

Der Wilde, dem der Fischfang oder eine

beschwerliche Jagd nur einen unzulänglichen Unter­

halt gewähren, weiht seinem Fetische einen Theil

dieses uNfichern Unterhalts.

Ein Kriegervolk legt

seine Waffen nieder, um sich am Fuße der Altäre zu vereinen.

Freie Völker unterbrechen ihre Be-

rathschlagungen, um die Götter in den Tempeln anzurufen.

Zwingherren bewilligen ihren Sclaven

Tage der Erhohlung. Wie Verhältnisse und Vortheile, eben so un­

terwerfen sich auch die Leidenschaften,

Wenn die



8



Bethenden die Kniee geheiligter Bildsäulen um­ fassen, schweigt die Rache, beruhigt sich der Haß. Der Mensch legt seinen gebietherischesten Neigungen

Stillschweigen auf.

Er versagt sich das Vergnü­

gen, schwört die Liebe ab, stürzt sich in Leiden

und in den Tod.

Dieß Gefühl gesellt sich gleichwohl zu allen

unsern Bedürfnissen und allen unsern Wünschen. Wir begehren von den Göttern alles, was wir ihnen nicht opfern.

Der Bürger ruft sie an für

sein Vaterland; der Liebhaber, getrennt von dem,

was er liebt, übergiebt diesen geliebten Gegenstand ihrer Obhuth; das Gebeth des Gefangenen dringt durch die Mauern des Kerkers, der ihn umschließt, und der Tyrann ist unruhig auf seinem Throne,

weil ihn der Gedanke an die unsichtbaren Mächte

bekümmert,

und beschwichtigt sich kaum damit,

daß er sie sich als lohnsüchtig denkt.

Wollen wir diesen Beispielen

einige elende

Völkerschaften entgegen setzen, die man uns ohne

religiöse Vorstellungen an den äußersten Gränzen Erdballs herumwandernd schildert?

Ihr Da­

seyn beruht auf dem zweifelhaften Zeugnisse eini­

ger,

wahrscheinlich wenig genauen,

Reisenden;

— denn

sicher kann

9



man wenig Genauigkeit von

Schriftstellern erwarten, deren einige auf ihr Wort den Atheism von Völkern versicherten, die sie nicht

besucht hatten, ’) wo sie sich fand,

und andere die Religion da,

verkennend,

aus dem Mangel

dleser oder jener Form schloffen,

daß

auch das

Ganze nicht vorhanoen sey. 1 2) 1) Dieß ist der Fall mit dem größten Theile' der Reisen­ den, w lche Robertson in seiner Geschichte von America anführt, und eben das kann man von dem Verfasser einer Beschreibung von Nigritien sagen, die 1789 zu Amsterdam erschien. Auf Treu und Glauben seines Sprachmcisters versichert er, daß die Seräer, ein Neger­ stamm, der von andern Stämmen und Fetlsch-Anbethern umwohnt ist, welche Priester und Zauberer haben, gleich­ wohl keiner Gottheit huldigen. 2) Collins (Account of the enghsh colony in New­ wales) behauptet, daß die Bewohner von Neuholland kein sichtbares oder unsichtbares Wesen anbethen, und unmittelbar darauf spricht er von Opfern, die sie den Seelen der Todten darbringen, wegen der Furcht, die jene ihnen einflößen; von ihrem Vertraun zu den Zau­ berern, und von den groben Kunstgriffen, die diese an­ wenden, um ihren Einfluß zu vergrößern. Em Volk aber, das diejenigen anruft, die nicht mehr sind, das zu der Macht der Zauberei seine Zuflucht nimmt, an übernatürliche Kräfte glaubt, an Beziehungen zwischen diesen Kräften und dem Menschen, und an Mittel, sie ihm geneigt zu machen, bekennt sich augenscheinlich zu

1O

Wäre übrigens eine Ausnahme, welche Horden machten, die sich von Menschenfleisch nähren, und deren Zustand dem der wilden Thiere gleicht, über­

haupt wohl eine Ausnahme von Bedeutung? Wir können demnach dieß Gefühl für allgemein

halten: sollte es nur ein großer Irrthum seyn? Einige Menschen behaupten es von Zeit zu

Zeit.

Furcht, Unwissenheit, Gewalt, List, das

sind, ihrer Meinung zu Folge, die ersten Gründe

der Religion. J)

Also sollten völlig vorüber­

gehende äußere und zufällige Gründe die innere und bleibende Natur des Menschen verwandelt, ihm

eine andere Natur gegeben, und, seltsam.' eine Natur ihm gegeben haben, von der er sich nicht loS einer Religion. Dasselbe gilt von dem Deutschen Seger, in seinem Berichte von Californien. Die Ealifornier, sagt er, erkennen weder einen einigen Gott, noch meh­ rere Götter an; aber sie verwunden sich den Kopf mit Steinwürfen bei der Lodtenfeier ihrer Verwandten; sie geben diesen Schuhe zu ihrer Reise in die andere Welt; sie haben Gaukler, die sich in Höhlen zurückziehen, um hier in- geheim mit höheren Wesen zu verkehren. Ist da- nicht eine Religion? — 1) 6?. Democrit. ap. Sext. Empir. adv. Mathern.

Cicer. de natur. Deor. 11,5. Hume, nat. hist, af relig. Boulanger, Antiqmtr devoile 1, 325- 367. II, 233-

11

machen, selbst dann nicht los machen kann, wenn

die Gründe nicht mehr vorhanden sind?

Denn vergebens erweitern sich seine Kenntnisse, und lehren ihn, indem sie ihm die natürlichen Ge­

setze der Welt erklären, die Urheber derselben nicht langer in Wesen zu suchen, die er mit seinen Ver­

ehrungen beschwere, oder durch seine Bitten zu bewegen suche.

Der Unterricht der Erfahrung ver­

weist die Religion auf ein anderes Gebieth, aber er verbannt sie nicht aus dem Herzen des Menschen.

Sn dem Grade, in welchem dieser sich aufklart, erweitert sich auch der Kreis, aus welchem die Reli,

gion sich zurückzieht.

Sie weicht zurück, aber sie verschwindet nicht. Das, was die Sterblichen glauben, wie das, was

sie hoffen, tritt, so zu sagen, stets an den Kreis ihres Wissens.

Betrug und Gewalt können die

Religion mißbrauchen, aber sie hätten sie nicht erschaffen können.

Wenn sie nicht zum voraus im

Grunde unserer Seele vorhanden war; so würde sie

die Gewalt sich nicht zum Werkzeuge gebildet, ehr­ süchtige Kasten würden sie nicht zu ihrem Hand­ werke gemacht haben. Ist sie aber im Grunde der Seele Aller vor-

12

Handen, woher dann der Lbstand Einiger gegen

diese allgemeine Überzeugung, diese einstimmige Zu­

stimmung?

Sollen uns ihre Beweggründe, oder

ihre Einsichten verdächtig werden?

Werden wir

es ihrer stolzen Unwissenheit zuschreiben, oder die

Anklage gegen sie erheben müssen,

es sey ihnen

daran gelegen, eine Lehre zu verwerfen, welche die

Tugend beruhige und nur dem Laster drohe? Nein, jene Menschen sind, in mehreren Zeiten,

die unterrichtetsten, die aufgeklärtesten,

barsten ihres Jahrhunderts.

die schätz­

In ihren Reihen

finden sich hochgesinnte Vertheidiger der Freiheit, tadellose Bürger, Weltweise, die sich ganz der Er­

forschung der Wahrheit weiheten, erklärte Feinde

jeder willkührlichcn oder unterdrückenden Gewalt.

In der Beschäftigung mit ununterbrochenen Unter­ suchungen hat sich der größte Theil derselben durch Wohlgefallen an den Studien und durch die Ge­

wohnheit des Denkens vor verderblichen Versuchun­ gen bewahrt.

Wie geht cs zu, daß die Religion,

die für solche Menschen nichts schreckendes hat, ein

Gegenstand des Widerwillens und der Feindseligkeit für sie wird?

Ware ihnen dann die Ungereimtheit

derselben in so

hohem Grade eine ausgemachte



Sache?

15

~

Aber sie selbst gestehen, daß die Beleuch­

tung nur zum Zweifel führe. Durch welche seltsame Umkehrung der Gedanken hat dann die unschuldige

und natürliche Zuflucht eines unglücklichen Geschö­

pfes zu hülfreichen Wesen, statt des Mitgefühls,

das sie, wie es scheint, in ihnen erwecken mußte, zuweilen ihren Haß erregt? Wer möchte es, bei einem Blicke auf die Lauf­

bahn, die uns angewiesen ist, wagen, jene Zuflucht

Die Ur­

für unnütz oder überflüssig zu erklären?

sachen unserer Schmerzen und Leiden sind zahllos.

Die Gewalt kann uns verfolgen, die Lüge uns verlaumden.

Die Bande einer durchaus künstlichen

Gesellschaftsverbindung

werden uns lästig.

Schicksals Schläge treffen uns in denen,

die wir

Das Alter naht, eine traurige und ernste

lieben. Zeit,

Des

in der die Gegenstände dunkler werden und

sich vor uns zurück zu ziehen scheinen, worin eine unerklärliche Kälte und Mattheit sich über alle

Gegenstände um uns her verbreitet.

Wir suchen

überall Trost, und fast alle unsere Tröstungen sind religiöse.

Wenn die Welt uns verläßt, knüpfen

wir jenseit derselben ein Bündniß. Menschen uns verfolgen,

Wenn die

schaffen wir uns eine

14 Berufung jenseit der Menschen.

Wenn unsere lieb­

sten Träume, Gerechtigkeit, Freiheit, Vaterland, so schmeicheln wir uns mit der

dahinschwinden;

Hoffnung, es «erde irgendwo ein Wesen geben, das uns anrechnet, trotz unsers Jahrhunderts, der

Gerechtigkeit,

der Freiheit, dem Baterlande treu

geblieben zu seyn.

Wenn wir um einen geliebten

Gegenstand trauern, schlagen wir eine Brücke über den Abgrund,

Gedanken.

und schreiten hinüber mit unsern

Wenn endlich das Leben entschwindet,

schwingen wir uns zu einem andern Leben auf.

So ist also die Religion die treue Begleiterinn, die verständige und unermüdliche Freundinn des

Unglücklichen.

Wer in allen seinen Hoffnungen

nur Wahngebilde sieht, müßte, nach meinem Dafür« halten, von solchem allgemeinen Zuströmen aller

Leidenden, von solchem Flehen des Schmerzes, das

sich von allen Enden der Erde zu einem ehernen Himmel erhöbe, um unbeantwortet zu bleiben, und

von der trüglichen Hülfe, die uns das Geräusche so vieler Gebethe, die in den Lüsten wiederhallen,

zu einer Art Antwort macht,

tiefer, wie jeder

Andere, ergriffen werden.

Aber man hat die Religion entstellt. Man hat

15 bin Menschen in dieser letzten Zuflucht, in diesem

Allerheiligsten seines Daseyns, verfolgt. gung reitzt zur Empörung.

Verfol­

Die Gewalt, welche

strenge Maßregeln gegen irgend eine Meinung

ergreift, reitzt zum offenen Bekenntnisse solcher Mei­ nung alle Gemüther, die einige Geltung haben.

Es liegt ein Grundbestandtheil in unS, der sich über irden Geisteszwang entrüstet.

Dieser Grundbe­

standtheil kann bis zur Wuth aufgeregt, er kann die Ursache vieler Verbrechen werden, aber er steht mit

allem, waS in unserer Natur edel ist, in Verbindung.

Daher dann in allen Jahrhunderten, in denen die Menschen ihre sittliche Unabhängigkeit zurück­

forderten, jener Widerstand gegen die Religion, der gegen die sanfteste aller Hinneigungen gerichtet zn seyn schien, und in der That nur gegen die drük-

kendste aller Tyranneien gerichtet war.

Indem

man die Gewalt dem Glauben zur Seite stellte,

hatte man dem Zweifel den Muth zugefellt.

Die

Wuth der Gläubigen hatte die Ungläubigen ent­

flammt, und so gelangte der Mensch dahin, sich eine

Lehre zum Ruhme anzurechnen, deren hauptsäch­ lichstes Verdienst in der Kühnheit bestand, sie zu bekennen.

16 Schrecken und Staunen hat mich oft ergriffen,

wenn ich das berüchtigte Systeme de la nature

las.

Dieser endlose Eifer eines Greises, jede Zu­

kunft vor fich zu verschließen, dieser unerklärbare

Durst nach Vernichtung, diese Ereiferung gegen eine sanfte und tröstende Vorstellung, schien mir

eine seltsame Verrücktheit zu seyn; aber ich erklärte

sie mir bald, indem ich mich errinnerte, daß die Staatsgewalt dieser Vorstellung eine starke, obgleich

künstliche Stütze verleihe, und von einer Art Wider­

willen gegen den Schriftsteller, der mir die Ver­ nichtung triumphierend als mein und der meinigen

Ziel zeigte, ging ich zu einiger Achtung für den

unerschrockenen Gegner einer anmaßenden Staats­ gewalt über. Die Herrschaft der Unduldsamkeit ist vorüber.

Was auch eine beschrankte und verjährte Politik versuchen mag, um sie in ewigen Gegenden unsers alten Europa's wieder in Gang zu bringen, wir werden sie dennoch nicht mehr wiederkehren sehen. Die Gesittung unserer Zeit verwirft sie, sie verträgt

sich nicht mit ihr.

Um das menschliche Geschlecht

zu ihren ungerechten Gesetzen zurück zu führen, müßte ein neuer Einfall barbarischer Völker unsere

gegenwärtigen Gesellschaftsverbindungen über den

Haufen stürzen und auflösen.

nicht zu besorgen.

Diese Gefahr ist

Kein Theil der Erde verbirgt

noch, wie ehemahls, die wilden Sieger gesitteter

Völker, und wenn Wahrscheinlichkeiten nicht krie­

gen;

so ist das Übermaß der Verfeinerung die

einzige Gefahr, die w.'r jetzt zu fürchten haben.

Mit der Herrschaft der Unduldsamkeit muß auch zugleich die Erbitterung schwinden,

welche die

Unterdrückung erzeugt, und die einen Ruhm darin

sucht, ihr Widerstand zu leisten.

Der Unglaube

hat seinen größten Reitz, den Reitz der Gefahr,

verloren;

wo keine Gefahr mehr ist, da werden

wir auch nicht mehr angezogcn.

Der Augenblick ist also günstig, um uns, ohne Parteilichkeit wie ohne Haß,

mit diesem großen

Gegenstände zu beschäftigen.

Der Augenblick ist

günstig,

um über die Religion wie über eine

Thatsache zu uttheilen, deren Vorhandenfeyn man

nicht bestreiten kann, und deren Natur und allmählige Veränderungen kennen zu lernen, von

großer Wichtigkeit ist» Die Untersuchung ist voll unermeßlichem UmErster Band.

2

18 fange. Sogar diejenigen, die diese Meinung theilen,

haben ihre ganze Ausdehnung noch nicht erkannt. So

viel man auch über diesen Gegenstand ge­

schrieben hat; so ist dennoch die Hauptsache noch

immer nicht erwogen.

Ein Land kann lange der

Schauplatz des Krieges seyn, und dennoch in allen andern

Beziehungen

den

Kriegern,

durchziehen, unbekannt bleiben. Ebenen nur Schlachtfelder,

welche es

Sie sehen in den

in den Bergen nur

Posten, in den Gründen nur Hohlwege und Eng­ pässe.

Nur im Frieden erforscht man ein Land

um des Landes selbst willen. — So war es auch mit der Religion,

einem

großen, mit gleicher Hartnäckigkeit und Heftigkeit angegriffenem

und vertheidigtem

Gebiethe,

das

aber noch kein Reisender besucht hatte, der unpar­ teiisch genug gewesen wäre, um uns eine getreue Beschreibung desselben zu geben.

Man hat bis jetzt nur die Außenseite der Reli­ gion erwogen.

Die Geschichte des innern Gefühls

muß erst noch nach ihrem ganzen Umfange aufgefaßt und gegeben werden.

Die Lehrsätze, die Glaubens-

Artikel, der Dienst, die Gebräuche — das alles sind Formen, welche das innere Gefühl annimmt,

und die es nachher zerbricht. *) Nach welchen Ge­ setzen es diese Formen annimmt, nach welchen i) Um zu verhüthen, daß man sich nicht auf eine Redensart berufe, der man einen ihr fremden Sinn unterlegte, um

mir Schuld zu geben, daß ich die Offenbarung läugnete,

die dem Glauben aller gesitteten Völker Europa's zum Grunde liegt, muß ich bemerken, daß, wenn ich sage,

daß das innere Gefühl eine Form annehme, und sie nachher zerbreche, ich damit keines WegeS bestreite, daß ihm diese Form, bei ihrem Empfange, nicht auf eine übernatürliche

Weise dargebothen seyn, und daß eS nicht eben so, der ihrem Zerbrechen, auf eine übernatürliche Weise von ihr befreit seyn könne. DaS ist sogar nach dem buchstäblichen und ausdrücklichem Berichte unserer heiligen Bücher ge­

schehen.

Das Jüdische Gesetz war ein göttliches Gesetz,

den Hebräern von der höchsten Macht, die sie erleuchtete, dargereicht, und von dem religiösen Gefühle jenes Volkes angenommen. Dieß Gesetz war gleichwohl nur eine Zeit­ lang gut; eS ward durch das neue Gesetz ersetzt, das heißt, die alte Form ward von ihrem Urheber zerbrochen,

das religiöse Gefühl ward eingeladen und ermächtigt, sich von ihr loS zu machen, und eine neue Form ward

an ihre Stelle gesetzt.

Bezeugen, daß der Keim der

Religion sich in dem Herzen deS Menschen finde, heißt sicher nicht, diesem Geschenke des Himmels einen bloß menschlichen Ursprung anweisen.

Das unendliche Wesen

hat diesen Keim in unsere Brust gelegt, um unS auf die

Wahrheiten, die wir kennen lernen sollten, vorzubereiten.

Ich könnte mich hier auf den heiligen Paulus berufen, welcher sagt, daß sich Gott von den Völkern, bis zu

einem gewissen Zeitpunkte, von der eigenen Kraft derselben

2.

----

20



anderen es damit wechselt, sind Fragen, die nie­ mand untersucht hat. habe suchen lassen. (Lpostelgesch. 17, 22-31. -r- D H.) Je mehr man überzeugt ist, daß die Religion unS auf übernatürliche Weise offenbaret wurde, desto eher muß man einräumen, daß wir fähig waren, diese wunder­ baren Mittheilungen zu empfangen. Diese Fähigkeit nun nenne ich daS religiöse Gefühl. Indem ich, in meinen Untersuchungen, von dem rohesten Zustande deS menschlichen Geschlechtes auSgehe, und zeige, wie eS aus demselben heraus kam, entkräfte ich die Nachrich­ ten von dem einzigen Volke nicht, das ich nothwendig in eine besondere Classe bringen muß. Indem uns diese Nachrichten die Verkündigungen des Himmels berichten, welche die Wiege der Welt umtönten, erfahren wir zugleich, daß daö Geschlecht der Menschen von dieser Wohlthat üblen Gebrauch gemacht hat. Die Wahr­ heiten, welche die höchste Macht es hatte erkennen lassen, schwanden schnell aus seinem Gedächtnisse, und, mit Aus­ nahme eines besonders begünstigten Stamme-, sank eS schnell wieder in Unwissenheit und Irrthum. Weit ent­ fernt, die Religion für eine Schöpfung des Hasses, oder für ein Werk deS Betruges auszugeben, habe ich viel­ mehr gezeigt, daß weder Betrug noch Furcht dem Men­ schen seine ersten religiösen Begriffe gegeben haben. Ich sage mehr; im Laufe meiner Untersuchungen ist Eine Thatsache mir besonders ausgefallen, eine Thatsache, die in der Geschichte mehr als Ein Mahl vorkömmt. Die von Menschen geordneten, bearbeiteten, in Vollziehung gesetzten Religionen haben oft Unheil angerichtet, alle religiösen Entscheidungszustände haben Gutes gewirkt.

21

Man hat die Außenseite deS Labyrinths be­

schrieben; niemand ist bis in die Mitte gedrun­ gen, niemand konnte es.

Alle, Frömmler wie

Wcltweise, suchten den Ursprung der Religion in Verhältnissen, die dem Menschen fremd waren.

Jene wollten nicht, daß der Mensch ohne eine Betrachtet den Araber. AlS unbarmherziger Räuber, gewissenloser Mörder, mitleidsloser Gatte, unnatürlicher Vater, war der Araber nur ein wildes Thier. Man kann über die alten Sitten desselben Sale'S kritische Bemerkungen, vor dessen Uebersetzung deS Koran, nach­ sehen. Dor Mahomet betrachteten die Araber ihre Wei­ ber wie ein Eigenthum; sie behandelten sie als Skla­ vinnen, sie begruben ihre Töchter lebendig. Der Pro­ phet erscheint, und zwei Jahrhunderte voll Heldenmuth, Hochsinn und Hingebung, zwei Jahrhunderte, in mehr als Einer Beziehung den schönsten Zeiten Griechenlandund Roms gleich, lassen In den Jahrbüchern der Welt eine glänzende Spur zurück. Ich habe mit Fleiß den Jslamism angeführt, als diejenige von allen neueren Re­ ligionen, die am meisten auf ihrem einmahligen Stand­ puncte fest stehen bleibt, und daher sogar heutiges Tagedie mangelhtzfteste und schädlichste ist. Ich hätte zu viele Vortheile gehabt, wenn ich die christliche Religion -um Beispiele gewählt hätte. Ich -in auch der Meinung, daß der Grundbegriff meines Werks keine einzige Grund­ lage dieser Religion untergrabe, wenigstens keine, wie sie der ProtestantiSm legt, zu welchem ich mich bekenne, und den ich gesetzlich allen übrigen christlichen Gemein­ schaften vorziehen darf.

22

besondere und örtliche Offenbarung, diese wollten nicht,' daß er ohne Mitwirkung der äußeren Dinge

Religion haben könne.

Daher ein erster, daher

eine Reihe langer Irrthümer.

Ja, gewiß, es giebt

eine Offenbarung, aber diese Offenbarung ist all­

gemein, ist bleibend, sie hat ihre Quelle in dem. menschlichen Herzen. sich selbst zu hören,

Der Mensch braucht nur auf

braucht nur die Natur zu

hören, die mit tausend Stimmen zu ihm redet, um

unwiderstehlich zur Religion geführt zu werden. Unstreitig haben auch die äußeren Dinge einen Einfluß auf den Glauben, aber sie bestimmen nur

seine nähere Gestalt, ohne das innere Gefühl zu erzeugen, das ihm zur Grundlage dient.

Das gerade hat man jedoch durchaus nicht be­ greifen wollen.

Man hat uns auf den Wilden

verwiesen, wie ihn der Anblick der, oft schädlichen,

Naturerscheinungen in Furcht setzt, und er in sei­ ner Furcht die Steine, die Baumstämme, die Haut

der wilden Thiere, mit Einem Worte, alle Gegen­

stände, die sich seinen Augen darbiethen, zu Göt­ tern macht.

Man schloß daraus,

daß der Schrecken die

einzige Quelle der Religion sey.

25 Indem man auf solche Weise bewies, übersah man gerade die Hauptfrage.

Man erklärte nicht,

woher jener Schrecken des Menschen bei dem Ge­

danken an verborgene Mächte, wirken, komme.

die auf ihn ein­

Man gab nicht Rechenschaft von

dem Bedürfnisse, das er empfindet, jene verborge­ nen Mächte zu entdecken, und ihnen seine Ver­ ehrung zu bezeigen. Je mehr man sich denjenigen Systemen nähert, die jedem religiösen Begriffe entgegen sind, desto

schwerer läßt sich jene Neigung erklären.

Wenn sich

der Mensch nur darum von den Thieren unterscheidet, weil er die Fähigkeiten, womit diese versehen wor­ den sind, in einem höhern Grade besitzt;

wenn

seine geistige Kraft mit der ihrigen von gleicher Be­ und nur geübter und von größerem

schaffenheit,

Umfange ist; dasjenige,

so müßte diese geistige Kraft alles

was sie bei jenem erzeugt, freilich in

einem geringeren, aber doch in irgend einem Grade,

auch bei diesen hervorbringen. Wenn die Religion aus der Furcht entspringt,

warum haben denn die Thiere, von denen mehrere furchtsamer als wir sind, keine Religion?

Wenn

sie aus der Dankbarkeit entspringt, warum ist die

24 {Religion denn nur ein Eigenthum öeS menschlichen Geschlechts, da die

Wohlthaten wie die Versd-

gungen der physischen Natur für alle lebendige

Geschöpfe dieselben sind?

Wenn man das Richt­

kennen der Ursachen als die Quelle der Religion

andeutet; so sind wir gezwungen, immer wieder dieselbe Folgerung zu machen.

Das Nichtkennen

der Ursachen ist für die Thiere mehr, als für den Menschen, vorhanden; woher kömmt eS, daß der

Mensch allein die unbekannten Ursachen zu ent­ decken sucht?

Außerdem, seht Ihr nicht, wie auch

bei der höchsten Aufklärung, zu einer Zeit, wo es ein

weiteres Nichtkennen der natürlichen Ursachen nicht

mehr giebt, und wo dem Menschen, weil er vor der Natur, die er unterworfen hat,

nicht mehr

zurückbebt, nicht weiter daran liegt, diese Natur alS Gottheit anzubethen,

seht Ihr nicht dasselbe

Bedürfniß einer mystischen Verbindung mit einer unsichtbaren Welt und mtt unsichtbaren Wesen aufs

neue hervortreten?

Schreibt man die Religion unserer vollkommneren Einrichtung

zu;

so verkennt man einen

sehr wesentlichen Unterschied.

Versteht Ihr unter

Einrichtung (Organisation) daS Ganze unserer



2Z



gestimmten Fähigkeiten, unsere Werkzeuge, unsere

Urtheilskraft, unser Vermögen, zu denken und zu verbinden;

so sind wir einverstanden;

aber was

Ihr unsere Einrichtung nennt, ist nichts anders, als unsere Natur, und dann erkennt Ihr an, daß

die Religion in unserer Natur ist.

Versteht Ihr

unter Einrichtung bloß das Übergewicht an natür­ lichen Mitteln, das dem Menschen verliehen ist?

Wenn aber das Übergewicht der natürlichen Ein­ richtung über dir Hinneigung zum religiösen Ge­

fühle entschiede; so müßte man, da einige Thiere

vollkommener eingerichtet sind als andere, an ihnen einige Spuren

Spuren,

jener Hinneigung

die mit der größeren

wahrnehmen,

oder geringeren

Vollkommenheit ihrer Einrichtung im Verhältnisse

ständen. Wenn der Mensch, in Folge feiner Voraussicht

und seines Gedächtnisses,

seine Gedanken wägt,

verbindet und trennt, und aus den Thatsachen, die er beobachtet,

die Folgerungen zieht, die daraus

herfließen; so haben auch die Thiere Gedächtniß,

auch sie haben Voraussicht.

Der Hund, welcher

von feinem Herrn gestraft.wird, hüthet sich, den selben Fehler wieder zu begehen.

Wie kömmt es.

26 daß, da er den natürlichen Unfällen nicht minder,

als der Mensch, ausgesetzt ist, er nicht die Ursachen derselben zu beschwören bemüht ist,

da er doch

den Zorn seines beleidigten Herrn zu vermeiden oder zu entwaffnen sucht?

Und überhaupt, welche Voraussicht schreibt Ihr dem Wilden, selbst in Ansehung seines gegenwär­ tigen Besten dem vergeßlichsten, dem sorglosesten

aller Geschöpfe,

zu!

Sind die Bedürfnisse des

Eskimo befriedigt; so schläft er in seiner Felsen­

höhle, denkt an nichts und beobachtet nichts; der Caraibe reicht mit seinen Gedanken nicht bis an

den folgenden Tag, und doch horcht, wenn es die

Religion betrifft, der Eskimo auf, und der Caraibe

wird nachdenkend; folglich ist Religion für sie ein

lebhafteres und dringenderes Bedürfniß, als alle übrige, ein Bedürfniß, das über ihre ganze Natur, über ihre Gleichgültigkeit, ihre Gefühllosigkeit, ihr dumpfes Hinbrüten, ihren Mangel an Neu- und Wißbegierde, den Sieg davon trägt.

Nehmen wir an, daß das religiöse Gefühl, die religiösen Hoffnungen, die Begeisterung, welche sie einflößen, eitle Trugbilder wären; so würden es

doch wiederum dem Menschen ausschließlich ange-



27



hörige Trugbilder seyn; diese Trugbilder würden

ihn von allen übrigen lebendigen Geschöpfen unter­ scheiden, und es würde daraus für ihn eine zweite, nicht weniger sonderbare, Ausnahme folgen.

Alle

Geschöpfe vervollkommneren sich in dem Grade, wie

sie ihrer Natur gehorchen; der Mensch würde sich

in dem Grade vervollkommneren, wie er sich von seiner Natur entfernte.

Die Vervollkommnerung

aller Geschöpfe ist in der Wahrheit,

die Vervoll-

kommnerung des Menschen würde im Irrthume

seyn. Wir wollen weiter gehen.

Ware die Religion

nicht in der Natur des Menschen gegründet;

so

würde seine vollkommenere Einrichtung ihn von ihr

entfernen, statt ihn zu ihr hinzuführen; denn da

der Erfolg dieser vollkommeneren Einrichtung darin besteht, daß er durch die ihm bekannten, und von

ihm angewandt werdenden Kräfte seine Bedürfnisse besser befriedigt; so würde er um so weniger Ur­ sache haben, unbekannte Kräfte anzunehmen oder

anzurufen; er befindet sich besser auf der Erde,

und müßte sich also um so weniger veranlaßt fin­ den , die Augen zum Himmel zu erheben.

Diese Bemerkung gilt von allen Zuständen

28

b#t menschlichen Gesellschaft.

Es gibt nicht Einen,

in Welchem die Religion, wenn Ihr sie nicht als Mit der Natur des Menschen unzertrennlich verbun­

den anerkennet, nicht ein Mißgriff in seinem Daseyn wäre.

Betrachtet unsere gesitteten Gesellschafts­

vereine. Der Anbau des Bodens versieht uns mit dem zu unserer Ernährung Erforderlichem. Unsere Wände und unsere Dächer schützen uns gegen die

Jahrszcitcn. Uns vor Gewaltthat zu schützen, giebt es Gesetze.

Um über die Aufrechterhaltung dieser

Gesetze zu wachen, giebt es Regierungen, die sich dieses Amtes gut oder schlecht entledigen. Es giebt Strafen für diejenigen, welche die Gesetze übertreten.

Es giebt Pracht und Aufwand, sinnreich erfundene und verfeinerte Genüsse und Vergnügungen für den

Reichen. Es giebt Wissenschaften, uns die Erschei­

nungen, welche uns umgeben, zu deuten, und

diejenigen zu entfernen, welche uns bedrohen. giebt Ärzte für die Krankheiten.

Es

Den Tod anlan­

gend; so ist dieser ein unvermeidliches Geschnk,

und also überflüssig, sich damit zu beschäftigen. Ist nicht Alles auf eine merkwürdige Weife für den

Menschen eingerichtet?

Welches Bedürfniß laßt

diese Einrichtung noch unbefriedigt? Welche Furcht

— ungestillt?

29



Wo ist also der äußere Grund, welcher

uns die Religion nothwendig macht? ist sie es,

das fühlen wir,

Andere zu Zeiten. außer, er ist in

Gleichwohl

Einige fortwährend.

Daher ist dieser Grund nicht

uns,

er ist ein Theil unserer

selbst.

Niemahls wollte man erkennen, was der Mensch

sey.

Man befragte die äußeren Gegenstände über

die zu seinem Wesen gehörigen Anlagen und Eigen­ schaften ; es darf nicht auffallen, daß sie nicht ant­

worten konnten.

Man forschte nach dem Ursprünge

der Religion, wie man nach dem Ursprünge der Gesellschaft, der Sprache, geforscht hat.

Der Irr­

thum war bei allen diesen Forschungen derselbe. Man begann mit der Voraussetzung, daß der Mensch

ohne Gesellschaft,

ohne Sprache,

vorhanden gewesen sey,

ohne Religion

aber diese Voraussetzung

schloß mit ein, daß er alle diese Dinge entbehren konnte, weil er ohne sie hatte daseyn können.

Man mußte sich,

indem man von diesem

Grundsätze ausging, verirren.

Die Gesellschafts­

verbindung, die Sprache, die Religion, sind mit der Natur des Menschen unzertrennlich verbunden; die Formen sind verschieden.

Nach der Ursache



JO



dieser Verschiedenheiten kann man fragen.

Man

kann erforschen lernen, warum der Mensch in der Gesellschaftsverbindung diese oder jene Art von

Regierungsform, warum irgend eine Religion diese

oder jene Übungen, diese oder jene Glaubenslehren

hat, warum irgend eine Sprache mit einer bestimm­ ten andern verwandt ist; aber weiter gehen wollen,

»st ein vergebliches Bemühen, ein sicheres Mittel,

zu keiner Wahrheit zu gelangen.

Die Religion, das Bedürfniß der Gesellschafts­ vereinigung, das Vermögen der Sprache, aus andern Quellen, als aus der Natur des Menschen herleiten wollen,

heißt, sich freiwillig täuschen.

Der Mensch hat nicht Religion, weil er furchtsam, er hat Religion, weil er Mensch ist.

Er ist nicht

gesellig, weil er schwach ist; er ist gesellig, weil die Geselligkeit einen Bestandtheil von ihm ausmacht.

Fragen, warum er religiös, warum er gesellig sey,

heißt nach dem Grunde seines Körperbaues und dessen, was die Art nnd Weise seines Daseyns be­

stimmt, fragen. r) i) Man würde sich irren, wenn man hierin einige Aehnlichkeit mit der Lehre von den angeborenen Vorstellungen zu finden glaubte!

Der Mensch hat sicher in sich selbst

51 Man zerfiel in einen zweiten Irrthum.

es eine Angelegenheit betraf,

auf die Menschen hat;

die

Weil

vielen Einfluß

so glaubte man, entweder

zerstören oder erhalten zu müssen, und in den Zer-

störungs-,

wie in den Erhaltungsentwürfen

hat

man das, was nothwendig vergänglich, und der

Vernichtung minder

unterworfen

nothwendig

war,

ewigen

und

mit

dem

nicht

unzerstörbaren

verwechselt. Es giebt,

wie ich bemerkte,

zerstörbares in der Religion.

irgend ein Un­

Sie ist weder eine

Entdeckung des Aufgeklärten, die dem Unwissenden fremd bliebe,

noch ein Irrthum des Unwissenden,

von welchem der Aufgeklärte sich los machen könnte. Aber man muß das Wesen von der Form,

und

das religiöse Gefühl von religiösen Einrichtungen unterscheiden, ohne daß ich damit von solcher Form und solchen Einrichtungen Böses

zu

sagen

ver­

keim vor ihm vorhandene Borstellung von Religion, Philosophisch zu reden, er erhält seine religiösen Begriffe,

wie alle übrigen, durch seine Sinne.

Der Beweis ist,

daß sie sich immer nach seiner äußeren Lag« richten. Aber

«S liegt in seiner natürlichen Beschaffenheit, nach den Ein­ drücken, die er empfängt, und nach der äußeren Lage, in der er sich befindet, beständig religiöse Begriffe zu bilden.



meine.

Man wird weiter unten in diesem Werke

sehen, daß das religiöse Gefühl ihrer nicht ent­

behren kann.

Man wird mehr sehen; die Form,

die sich in jedem Zeitraume auf eine natürliche

Weise entwickelt, ist gut und zweckmäßig; sie wird

erst dann Unheil bringend, wenn einzelne Personen

oder ganze Kasten sich ihrer bemächtigen, und sie verderben, um ihre Dauer zu verlängern.

es ist darum nicht minder wahr,

Aber

daß, während

das Wesen immer dasselbe bleibt, unveränderlich, ewig, die Form dagegen veränderlich und vorüber­

gehend ist. Daraus also, daß irgend eine religiöse Form angegriffen wird; daß die Philosophie ihre Gründe,

der Spott seine Stachelreden, die geistige Unabhän­

gigkeit ihren Unwillen gegen eine solche Form rich­ tet; daß in Griechenland, zum Beispiele, die Götter

des Olymps einst entthront werden;

daß in Rom

Lucrez die Sterblichkeit der Seele, und die Thor­

heit unserer Hoffnungen öffentlich bekannt machen läßt; daß späterhin Lukian den Homerischen, oder Voltaire diesen oder jenen andern Religions-Lehren Hohn spricht; daraus endlich, daß ein ganzes Ge­ schlecht der Verachtung Beifall zu zollen scheint.



33



womit man einen lange hoch geachteten Glauben überhäuft, aus diesem allen folgt nicht, daß der

Mensch geneigt sey, sich der Religion zu begeben. Es ist bloß ein Beweis, daß, da die auf solche Weise

bedrohete Form dem menschlichen Geiste nicht mehr

zusagt, das religiöse Gefühl sich davon los gemacht hat.

Aber, wird man sagen,

wie soll man sich

von dem religiösen Gefühle, unabhängig von den

Formen, die cs bildet, eine Vorstellung machen? Ohne Zweifel finden wir es auf solche Weise nie­ mahls in der Wirklichkeit;

wenn wir aber biS

auf den Grund unserer Seele gehen; so wird es

uns, glaub'ich, möglich werden, es mit dem Ge­ danken als solches aufzufasscn.

Wenn man das Geschlecht der Menschen ledig­

lich in Beziehung auf den Platz, den es auf der

Erde einnimmt,

und auf das Ziel,

das es auf

derselben erreichen zu sollen scheint, untersucht; so überrascht uns die Übereinstimmung und das richtige Verhältniß, welche zwischen diesem Ziele

und den Mitteln bestehen,

die der Mensch zur

Erreichung desselben anwenden kann.

Die übrigen

Gattungen der lebendigen Geschöpfe beherrschen; Erster Wand.

3



34



timen großsn Theil derselben seinem Nutzen dienst­

bar machen; Diejenigen, welche ihm den Gehorsam versagen, qusrotten oder weithin entfernen; den von ihm bewohnten Boden zwingen, seinen Be­

dürfnissen reichlich und überflüssig Genüge zu leisten, und ihm die verschiedenartigsten Genüsse darzurei­ chen; den Gipfel der Berge erklimmen, um die

Felsen der Verarbeitung zu unterwerfen; die Tiefen

ausgraben, ihnen die Metalle entreißen und zu

feinem Gebrauche gestalten; die Welle und das Feuer bändigen, um ihre Mitwirkung zu jenen

merkwürdigen Umgestaltungen zu erhalten;

der

Beschaffenheit der Luft durch Vorkehrungen und

Verwahrungen, dem Wetter durch Gebäude Trotz biethen; mit einem Worte, sich die physische Natur

unterwerfen, sie zu seiner Sclavinn machen, und ihre Kräfte gegen sie selbst kehren — das Alles sind

nur die ersten Schritte des Menschen -gut Erobe­ rung des Erdkreises.

Bald erklimmt er noch eine

höhere Stufe, und richtet seine, durch die Erfahrung

aufgeklärte, Vernunft gegen seine eigenen Leiden­ schaften; er legt diesen inneren Feinden, welche sich mächtiger als alle äußern, von ihm besiegten, Himdernisse gegen ihn auflehnen, gleichmäßig Zaum

55 und Gebiß an.

Er erhält von sich selbst, und

von seines gleichen Opfer, die man für unmöglich

gehalten hätte.

Er bringt es dahin, das Eigen­

thum von demjenigen,

den es ausschließt, das

Gesetz von demjenigen, den es verdammt, geachtet zu sehen.

Seltene und leicht unterdrückte Aus­

nahmen stören die allgemeine Ordnung nicht im

geringsten. Nun scheint der Mensch, stets in Beziehung

auf irdische Verhältnisse allein betrachtet, auf den Gipfel seiner sittlichen und natürlichen Bervoll« kommnerung gelangt zu seyn.

Seine Anlagen

und Kräfte sind auf bewunderungswürdige Weise so berechnet,

führen.

daß sie ihn diesem Ziele entgegen

Seine Sinne, die, wenn nicht jeder für

sich, doch wenigstens alle zusammen genommen, durch ihre Vereinigung, und durch den wechsel­

seitigen Beistand, den sie sich leisten, vollkomme­ ner, als die der niedrigeren Gattungen sind; sein

so tteues Gedächtniß,

das ihm die verschiedenen

Gegenstände wieder vorhält, ohne ihnen zu ge,

statten,

sich unter einander zu verwirren;

sein

Urtheil, das sie ordnet und vergleicht; sein Ver­

stand, der ihm täglich neue Beziehungen an ihnen 5.



36



aufdeckt, — alles vereinigt sich, ihn schnell von einer Entdeckung zur andern zu führen, und da­

durch seine Herrschaft immer fester zu begründen. Aber bei allen seinen Erfolgen und bei allen seinen Siegen genügt seinem Geiste weder der Erd­

kreis, den er unterwarf, noch die gesellschaftlichen Einrichtungen, die er getroffen; weder die Gesetze,

welche er gab, noch die Bedürfnisse, die er befrie­ digte, noch auch Genüsse und Vergnügungen, die

er vervielfältigte.

Ein Verlangen regt sich unauf­

hörlich in ihm, und fordert Anderes.

welcher

Aufenthalt,

durchwandelt,

ihn

Er hat den

einschließt,

untersucht,

erobert und ausgeziert,

Blick forscht nach einer andern Gegend.

und sein Er ist

Herr der sichtbaren und begranzten Natur gewor­

den, und durstet nach einer unsichtbaren und un-

Er hat für so mannigfaltige und

begranzten.

künstliche Bedürfnisse gesorgt, daß sie von höherer Art zu seyn scheinen.

Er hat alles gekannt, alles

berechnet, und fühlt Ermüdung über der alleinigen Beschäftigung mit Bedürfnissen, Vortheilen und

Berechnungen.

Innersten,

Eine Stimme wird laut in seinem

die ihm sagt, daß alle diese Dinge

nur ein mehr oder weniger sinnreiches, mehr oder



37



weniger vollkommenes Getriebe sind, das weder das Ziel, noch der Umfang seines Daseyns seyn kann, und daß dasjenige, was er für einen Zweck hielt,

nur eine Reihe von Mitteln war. Diese Richtung muß wohl ein Grundbestand­ theil des Menschen seyn,

weil es keinen giebt,

in dem sic sich nicht mit größerer oder geringerer

Stärke,

in dem Schweigen der Nacht, an den

Ufern des Meeres, in der Einsamkeit der Gefilde,

offenbarte.

Es ist niemand,

der sich nicht auf

einen Augenblick, in Selbstvergeffenheit, auf den Wogen einer unbestimmten Betrachtung wie fort­

gezogen, und in ein Meer von neuen, den engen

Verhältnissen

und Berechnungen

dieses

Lebens

gänzlich fremden, Gedanken wie versenkt gefühlt

hätte.

Selbst derjenige, der von unruhigen und

persönlichen Leidenschaften am meisten beherrscht wird,

erleidet ohne sein Zuthun, unwillkührlich,

solche Regungen, die ihn allen ihm eigenthümlichen und besonderen Vorstellungen entreißen.

Sie ent­

stehen in ihm, wenn er es am wenigsten erwartet. Alles, was die sichtbare Welt, den Erdkreis, die

Unermeßlichkeit, betrifft; alles, was in der sitt­ lichen Rührung und Begeisterung

erzeugt,

das



58



Schauspiel einer tugendhaften Handlung,

eines

einer muthig bestandenen

großmüthigen Opfers,

Gefahr, des abgeholfenen oder erleichterten Schmer­ zes Anderer, die Verachtung des Lasters, die Er­

gebung im Unglück, Tyrannei,

der Widerstand gegen die

weckt und nährt in der Seele des

Menschen jene geheimnißvolle Richtung; und wenn

die Gewohnheiten der Selbstsucht ihn dahin bringen, zu solch augenblicklichem Aufschwünge zu lächeln; er

lächelt dennoch mit geheimer Scham, die er unter anscheinendem Spotte verbirgt, weil ein dumpfes

Gefühl ihm bezeugt,

daß er den edelsten Theil

seines Wesens schmäht. Setzen wir hinzu, daß, wenn wir in jenen so

kurzen,

und unserm gesammten übrigen Daseyn

so wenig ähnlichen, Stunden recht auf uns merken, wir finden werden, daß in dem Augenblicke, in

welchem wir aus solchem Sinnen

zurückkehren,

und wieder zu dem Thun und Treiben übergehen,

das uns bewegt, wir deutlich wahrnehmen, wie wir aus höherer Gegend zu dichterem und weniger

reinem Dunstkreise gleichsam hinabsteigen, und uns

Gewalt anthun müssen, um, was wir die Wirk­

lichkeit nennen, wieder zu begreifen.

39 ES ist also eine Richtung in uns vorhanden,

die mit unserm anscheinenden Zwecke,

und mit

allen Anlagen, die uns diesen Zweck erreichen hel­ fen,

Diese Anlagen,

im Widerspruche ist.

die

ganz dem von uns davon zu machenden Gebrauche

gemäß eingerichtet sind, stehen unter einander im Einklänge, um uns zu dienen, richten sich nach

unserm "größtmöglichsten Nutzen, und haben unS zum alleinigen Mittelpunkte. ich vorhin bezeichnet habe,

Die Richtung, die treibt uns vielmehr

aus uns hinaus, giebt uns eine Bewegung, die nicht unsern Nutzen zum Zwecke hat, und scheint

uns einem unbekannten,

unsichtbaren,

mit dem

gewohnten Leben und dem täglichen Thun und Treiben gar nichts ähnliches habenden Mittelpuncte

entgegen zu führen. Jene Richtung bringt oft eine große Unord­ nung in unserm Innern zuwege; sie weidet sich

an dem,

was unsere Logik Luftgebilde nennt;

sie gefällt sich in Aufwallungen, von denen unser

Verstand uns keine Rechenschaft ablegen kann; sie zieht uns von unsern Beschäftigungen und

Angelegenheiten ab; sie zwingt uns, wider unsere Zweifel, zum Glauben, mitten unter Festen zur







Betrübniß, zu Seufzern im Schooße des Glückes, und es ist bemerkenswerth, daß Spuren dieser Hinneigung in allen unsern edlen und zarteren Leidenschaften angetroffen werden. Alle diese Lei, denschasten haben, wie sie, etwas geheimnißvolles, mit sich selbst streitendes. Der gemeine Verstand kann keine derselben auf befriedigende Weise er­ klären. Die Liebe, dieser ausschließliche Vorzug, den wir einem Gegenstände geben, dessen wir lange Zeit hatten entbehren können, und dem so viele andere gleichen; >) das Bedürfniß des Ruhms, die­ ses Durstes nach einem berühmten Nahmen, der uns überleben soll; der Genuß, den wir in der r) Bor den Gerichtshof einer strengen Logik gezogen, würde die Liebe ihre Sache recht gut verlieren können. Würde sie darum weniger vorhanden seyn? Würde sie auf­ hören, während de- schönsten Theiles der Lebens, das Loos der zartesten und gefühlvollsten Seelen zu bestim­ men? Da» religiöse Gefühl ist nicht, wie die Liebe, eine vorüber gehend« Neigung. Sein Einfluß beschränkt sich nicht auf die Jugendzeit. Es nimmt, im Gegen­ theile, an Stärke zu, und wächst mit dem Alter. Wollte man es vernichten, wenn e- vernichtet werden könnte; so würde man nicht bloß die Zeit der Leidenschaften einiger hohen Genüsse berauben, man würde der Zeit der Vereinsamung und der Schwäche den letzten Licht­ strahl, den letzten warmen Hauch entziehen.

4i Hingebung finden, ein Genuß, der dem zur Ge­

wohnheit gewordenen Triebe unserer Natur gänzlich entgegen ist; die Schwermuth, diese Traurigkeit

ohne Ursache, die an sich selbst ein unerklärbares Vergnügen findet;

tausend andere Gefühle,

die

sich nicht beschreiben lassen, sind für genaue Er­ forschung unerklärbare Gegenstände.

Ich will die Quelle jener Hinneigung,

die

den Menschen zu einem doppelten und räthselhaften

Wesen macht, das auf dieser Erde zuweilen wie

am unrechten Orte zu seyn scheint, hier nicht zu erforschen suchen.

Die Gläubigen können darin

das Andenken eines Sündenfalls sehen, die Welt­

weisen den Keim einer künftigen Vervollkommnerung darin erkennen; es ist eine Frage, die ich

unentschieden lasse. Aber ich behaupte, daß, wenn man jene Rich­

tung des allgemeinen Gefühls,

vorhin gesprochen

von welcher wir

haben, mit dem Gefühle in

Verbindung bringt, das den Menschen treibt, sich an unsichtbare Wesen zu wenden, sein Loos von

ihnen abhängig zu machen, auf seine Beziehungen zu der Welt, die sie bewohnen, mehr Gewicht zu

legen,

als auf die unmittelbarsten Vortheile der

— gegenwärtigen Wett;



42

man

wird nicht in Ab­

rede seyn können, daß beide Eigenthümlichkeiten

sich nicht einander stützten, und daß die zweite nicht

auf gewisse Weise

die practische Anwen­

dung der ersten sey.

Wir hegen ein dunkles Verlangen nach etwas Besserem, als das ist, was wir kennen; das reli-

giöse Gefühl zeigt uns etwas Besseres.

Uns

drücken die Schranken, die uns einengen und uns vernichten;

das religiöse Gefühl verkündigt uns

eine Zeit,

wo wir jene Schranken durchbrechen

werden.

die,

Wir sind der Unruhen des Lebens müde,

ohne jemahls nachzulassen, sich einander so

gleich sind, daß sie zu gleicher Zeit die Sättigung

unvermeidlich, und die Ruhe unmöglich machen, das religiöse Gefühl giebt uns die Vorstellung einer unaussprechlichen, niemahls Sättigung erzeu­

genden Ruhe.

Mit einem Worte,

das religiöse

Gefühl ist die Antwort auf jenen Ruf der Seele, den niemand zum Schweigen bringt; Aufschwung zu dem Unbekannten,

auf jenen

Unendlichen,

den niemand ganz zu unterdrücken vermag,

mit

welchen Zerstreuungen er sich auch umringe, wie geschickt er sich auch betäube, oder sich erniedrige.



45



Wenn man dieser Erklärung Schuld geben sollte,

daß sie dunkel oder unbestimmt sey;

so würde

ich fragen, wie man mit zutreffender Bestimmtheit dasienige bezeichne, was sich bei jedem Einzelnen,

in jedem Lande, in jedem verschiedenen Zeitraume verwandelt und ändert?

Alle unsere tiefsten Ge­

fühle scheinen der Bemühungen der Sprache zu spotten; das widerstrebende Wort dient einzig da­

durch, daß es das, was es bezeichnet, allgemein

ausdrückt,

mehr dazu, anzudeuten und zu unter­

scheiden, als genau zu bestimmen.

Als Werkzeug

der Seele drückt es auch nur die Begriffe der Seele gut aus;

es scheitert an allem, was einer Seils

den Sinnen, und anderer Seits dem Geiste an­ gehört.

Drückt einmahl in bestimmten Worten

die Bewegung aus, die der Gedanke an den Tod,

der Wind, der über Trümmer oder Gräber dahin­ pfeift, der Wohllaut der Töne, oder das Ebenmaß

der Formen in Euch erzeugt!

Bezeichnet einmahl

jenes Sinnen, jenes innere Erzittern der Seele,

wenn alle Genüsse der Sinne und des Gedankens

sich hier vereinen,

und wie in einer geheimniß­

vollen Verwirrung untergehen. Wenn ich das religiöse Gefühl auf eine höhere



44



Stufe, aber mit unsern tiefsten und reinsten Em­

pfindungen in Eine Ordnung stelle;

so bin ich

weit entfernt, damit gegen die Wirklichkeit dessen,

was es offenbart, oder dessen, was es ahndet, irgend einen Ausspruch zu thun.

Um jenem Gefühle

einen wirklichen Grund zu versagen, müßte man in unserer Natur eine um so auffallendere Folge­

widrigkeit annehmen, als sie die einzige in ihrer Art wäre.

Nichts scheint vergebens da zu seyn.

Jedes Zeichen deutet auf eine Ursache, jede Ursache bringt ihre Wirkung hervor.

Unsere Körper sind

bestimmt, zu vergehen; auch enthalten sie Keime der Auflösung.

Diese Keime, welche von dem

Lebensgrunde, der unsere vorüber gehende Dauer

sichert, eine Zeitlang bekämpft werden, siegen nichts destoweniger.

Warum sollte die Richtung, die ich

entwickelt habe, und die vielleicht durch einen Keim von Unsterblichkeit bestimmt wird, nicht ebenfalls siegen? Wir fühlen, daß unsere Körper zum Grabe

hingezogen werden; das Grab öffnet sich für sie. Wir fühlen einen andern Theil von uns,

einen

wesentlicheren, obgleich weniger von uns gekannten

Theil,

nach

einer andern Gegend

hingezogen;

wer wird zu behaupten wagen, daß jene Gegend

nicht vorhanden



45

sey,

oder für uns verschlossen



bleibe?

Wenn Ihr in dunkeler Nacht umher irrtet, nur den Begriff der Finsterniß hattet, und gleich­

wohl einen geheimen und bitteren Schmerz darüber

empfändet,

und

wenn

nun

mit einem Mahle

fernhin das finstere Gewölbe sich von Zeit zu Zeit

auf Augenblicke öffnete, und einen plötzlichen Glanz

herein strahlen

schwände,

ließe,

der

alsobald wieder ver­

würdet Ihr nicht glauben, daß über

diesem dunklen Gewölbe jenes lichte Reich vorhan­ den sey, Euch,

nach dem ein unerklärbares Verlangen

ohne Euer Wissen,

verzehrte?

Man kann auch das religiöse Gefühl, obgleich cs nie ohne irgend eine Form vorhanden ist, den­

noch dadurch von jeder Form unabhängig auffassen,

daß man alles, was nach besonderen Lagen, Um­ ständen und Einsichten eine Verschiedenheit erzeugt,

davon trennt, und dasjenige zusammen stellt, was in den verschiedenartigsten Lagen und Umständen unveränderlich bleibt.

Denn eben dadurch, daß jenes Gefühl sich allen Zuständen, allen Jahrhunderten, allen Begriffen anpaßt, ist die Außenseite, die es annimmt, oft

— roh umd ungeschickt.

46



Aber dieser schlechten Außen­

seite ungeachtet, findet man bei ihm immer Züge,

die es deutlich dezeichnen und kenntlich machen. Indern es sich, wie ich gezeigt habe, dem gewöhn­ lichen Thun und Treiben, den gemeinen Berechnun­

gen, anschließt, weist es dieß Bündniß dennoch zurück; gleich einem Gesandten des Himmels, der,

um rohe Bölkerstämme zu bilden, sich nach ihren Sitten und nach ihrer unvollkommenen Sprache

bequemen müßte, dessen Stimme und dessen Blick jedoch immer bezeugten, daß er von höherer Abkunft sey, und das Licht in glücklicheren Gegenden erblickt

habe.

Giebt es wohl ein unwissenderes und aber­

gläubischeres Geschöpf, als den dem Thiere gleichen Wilden, der seinen ungestalteten Fetisch mit Koth und Blut beschmiert? Aber folget ihm zu der Grab­

stätte seiner Todten; höret die Klagen der Krieger um ihre Anführer, der Mutter um das Kind, das

sie verloren hat; Ihr werdet darin etwas verneh­ men, das in Eure Seele dringen, Eure Gefühle

wecken, Eure Hoffnungen beleben wird.

Das

religiöse Gefühl wird Euch, so zu sagen, auf seiner eigenen Gestalt zu schweben scheinen.

47

Zweites Capitel. Von der Nothwendigkeit, das religiöse Gefühl von den religiösen Formen zu unterscheiden, um den Gang der Reli­ gionen zu erkennen.

A)er Unterschied,

den ich in dem eben gelesenen

Capitel fest zu stellen suchte, ist bis jetzt verkannt worden.

Er ist gleichwohl der Schlüssel zu einer

Menge von Aufgaben,

die uns noch durch keine

Mühe und keine Anstrengung gelöst werden konnten. Nicht allein der Ursprung der religiösen Vorstel­

lungen ist unerklärlich, wenn wir das Daseyn des

religiösen Gefühls läugnen;

sondern wir stoßen

auch in dem Gange aller Religionen auf tausend Erscheinungen, von denen wir uns ebenfalls un­

möglich Rechenschaft geben können, wenn wir nicht unter Gefühl und Form unterscheiden.

Es darf



48



also nichts unterlassen werden,

um diese Wahr­

heit kund zu thun, und über allen Zweifel zu erheben.

Das religiöse Gefühl entspringt aus dem Be­ dürfnisse, welches der Mensch fühlt, sich mit den unsichtbaren Mächten in Verbindung zu setzen. Die Form entspringt aus dem nicht minder

von ihm gefühlten Bedürfnisse, die Verbindungs­ mittel, die er entdeckt zu haben glaubt, regelmäßig

und fortdauernd zu machen. Die Heiligung dieser Mittel, ihre Regelmäßig­

keit, ihre Fortdauer, sind Dinge, deren er nicht

entrathen kann. len können.

Er will auf seinen Glauben zäh­

Er muß ihn heute so wieder finden,

als er gestern war, und nicht jeden Augenblick im Begriffe zu seyn scheinen, dahin zu schwinden, und

ihm, wie ein Dunstgebilde, entrückt zu werden. Außerdem muß er ihn auf die Zustimmung derer, mit denen er Vortheil, Gewohnheit und Zuneigung

theilt, gestützt sehen; bestimmt, mit seines gleichen zu leben, und mit ihnen in Verbindung zu stehen,

hat er sich seines eigenen Gefühls nur dann zu erfreuen, wenn er es an das allgemeine Gefühl anknüpft.

Er hegt nicht gern Meinungen, die



49



niemand theilt; er strebt so gut für seine Gedanken, als für sein Betragen, nach der Billigung Anderer,

und die äußere Bestätigung ist zu seiner inneren

Zufriedenheit nothwendig. l)

Daraus entspringt

in jedem Zeitalter die Einführung einer gegebenen (positiven) Form,

die dem Geiste des Zeitalters

angemessen ist. Aber wie genügend auch jede gegebene Form

i) „Eben so wie die Sprache dem Menschen in Ansehung „der gewöhnlichen Gegenstände dc6 Lebens die Gewißheit „giebt, daß er nicht das Spiel eines Traumes ist, dec „ihn in eine Traumwelt versetzte, sondern daß diejenige, „in der er fich befindet, allerdings die wirkliche, allen sei« „nes gleichen gemeinschaftliche Welt ist, (Heraklit,) „eben so erscheint ihm der öffentliche Gottesdienst als „eine Art Versicherung, daß der seinige nicht ein träu„merisches Gebilde seiner Einbildungskraft, sondern daS „wahrhafte Mittel ist, mit den Gegenständen seiner „religiösen Verehrung Gemeinschaft zu haben." (Ne­ an der, über daü Zeitalter Julians.) Man könnte in dieser Einrichtung die eine von den Ursachen der Unduld­ samkeit sehen, wenn diese mit dem guten Glauben ver­ bunden ist. Der unduldsame Mensch verfolgt die Mei­ nungen, die den seinigen entgegen find, als wenn daS Daseyn jener die Wahrheiten entkräftete, die ihm theuer sind; der Gestalt, daß der Unduldsamkeit, die man dem Stolze zuschreibt, vielmehr eine Art Mißtrauen fa sich silbst, und eine Art Erniedrigung zum Grunde läge. Erster Banb» 4



So

für di« Gegenwart sey,



für die Fortschritt» der

Zukunft enthält fle doch einen Keim deS ObstandeS» Sie hat, eben durch ihre Dauer, die Eigenschaft einer fest gestellten, und bei dem fest gestellten verhar«

renden, Lehre angenommen, die sich weigert, dem Berstande in den Entdeckungen, und dem Herzen in den Empfindungen zu folgen, die mit jedem Tag« reiner und zarter werden.

Um auf ihre Anhänger

mehr Eindruck zu machen, gezwungen, fast körper­ liche Bilder zu leihen, biethet die religiöse Form

dem Menschen, dem diese Welt zu einer Bürde wird, bald nur noch eine Welt, die der gegenwärtigen

fast gleicht.

Die Vorstellungen, welche sie erregt,

werden immer enger und enger, wie die irdischen Vorstellungen, von denen sie nur ein Abdruck sind,

und es kömmt die Zeit, wo sie dem Geiste nur noch

Zusicherungen ertheilt, die er nicht annehmen kann,

dem Gemüthe Übungen vorschreibt, befriedigen.

die es nicht

Das religiöse Gefühl trennt sich dann

von dieser, so zu sagen, versteinerten Form.

ES

verlangt nach einer andern, die es nicht beleidigt, und müht sich ab, bis es sie gefunden hat.

Das ist die Geschichte der Religion; man muß

jetzt einsehcn,

daß, wenn man das Gefühl mit







dir Form vermengt, man sich niemahls verstehen wird. In der That, wie wollt Ihr die Reihe der rclü

giösen Erscheinungen erklären, auf die wir in den

Jahrbüchern der verschiedenen Völker stoßen?

Warum,

zum Beispiele,

offenbart sich der

Unglaube, nachdem eine religiöse Form ausgestellt

worden, und die Verfeinerung einen gewissen Grad

erlangt hat, unfehlbar mit immer wachsender Kühn­ heit?

Griechenland, Rom, das neuere Europa,

zeigen uns diese Thatsache.

Sie aus dem Übergewichte einiger Einzelnen erklären zu wollen, denen es mit Einem Mahle, man

weiß nicht, warum, gefalle, den Grund hochgeach­ teter Lehren zu untergraben, heißt die Wirkung für die Ursache, das Krankhcitszeichcn für die Krankheit

selbst halten. Die Schriftsteller sind nur die Werkzeuge der

herrschenden Meinungen.

Ihre Übereinstimmung

mit diesen Meinungen, die Treue, womit sie diesel­ ben ausdrücken, bestimmen ihren Erfolg.

Versetzt

Lukian in das Zeitalter Homer's, oder nur Pin-

dar's; laßt Voltaire unter Ludwig ix oder Lud­ wig xi geboren werden, und Lukian, wie Voltaire,

4.



52



werden nicht einmahl den Versuch machen,

Glauben würden

ihrer Zeitgenossen

den sie

zu erschüttern;

es vergebens versuchen.

Die Beifalls­

bezeugungen, die sie zu ihrer Zeit empfingen, die Lobsprüche, welche sie aufmunterten, verdanken sie

weniger ihrem Verdienste, als der Übereinstimmung ihrer Lehren mit denen, welche Glauben zu gewin­

nen begannen.

Sie haben ohne Schonung und

ohne Rückhalt gesagt, was jedermann dachte.

In­

dem sich jedweder in ihnen wiederfand, bewunderte er sich in seinem Dolmetscher.

Es ist kein Luftgespinnst, daß die Völker fromm

oder ungläubig sind; die Logik ist ein Bedürfniß des Geistes, wie die Religion ein Bedürfniß des Herzens

ist.

Man zweifelt nicht, weil man zweifeln will,

wie man nicht glaubt, weil man glauben möchte. Es giebt Zeiten, in denen cs unmöglich ist,

Zweifel zu erregen; cs giebt andere, in denen es

unmöglich ist, die Überzeugung wieder zu befestigen. Woher diese einander entgegen gesetzten Un­

möglichkeiten ? Weil die Vernunft Fortschritte gemacht hat,

und die Form, weil sie dieselbe blieb, auf gewisse Weise, nur noch ein Betrug ist.

55 Das religiös« Gefühl kämpft gegen diesen Be­ trug.

Es schlüpft zuweilen ohne Wissen desjenigen,

der es erleidet, in die gegebenen Religionen, aber der Instinkt ihr« Diener entdeckt und bekämpft es. Die Weltweisen des Alterthums, bis Epikur einschließlich, haben größten Theils diese Richtung

des religiösen Gefühls nur ausgedrückt. x)

Sie

i) Ein neuerer Schriftsteller scheint anzudeuten, daß das religiöse Gefühl erst seit der Einführung des Christen­ thums vorhanden sey. „Bis dahin, sagt er, hatte Gott „nur seine Macht offenbart. Diese Vorstellung------,.brachte em Gefühl von Hochachtung und Furcht zu „Wege------- Gott offenbart sich gänzlich, und eme ,.unermeßliche Liebe ergreift daS Herz des Menschen." (Essai sur Findifference en maxiere de rdligion, Tom. II, pr^face. p. 87. 88 ) Um die Unbestimmtheit dieser Behauptung zu zeigen, wird eine Stelle Plutarchs hinreichen. 2su8 ihr ersieht man deutlich, wie das reli­ giöse Gefühl sich in den PolytheiSm mischt, den die Vernunft zu. reinigen beflissen war. „Kein Fest, keine „Feierlichkeit, kein Schauspiel, sagt der Philosoph von „Chäronea, hat für den Menschen einen Reitz, der dem„jenigen gleich käme, der für ihn in der Verehrung „der Götter, in der Theilnahme an den feierlichen Tän„zen, an den Opfern und Mysterien liegt. Sein Gemüth „ist dann nicht niedergeschlagen, traurig und muthlos, „als wenn er übelwollende und tyrannische Mächte zu „fürchten hätte. ES ist im Gegentheile von aller Furcht, „allem Schmerze und aller Unruhe frei, und berauscht



54



hatten keine irreligiöse Absichten.

Ihre Bestrebun­

gen, den Glauben zu reinigen, waren so wenig feindseliger Art, daß sie mit Überzeugung das Ganze

vertheidigten,

von welchem sie Einzelnes hätten

näher bestimmen, oder vielmehr ausmerzen mögen. „sich in unauslöschlichen Freuden. Diese Freuden bleiben „denjenigen, der nicht an die Vorsehung glaubt, unbeptannt; denn nicht die Pracht der Verzierungen, nicht „die Menge der Wohkgerüche, nicht der Ueberfluß der „Weine und Speisen erfreuen das Gemüth bei den hei„ligen Gebräuchen. Was eS erfreut und in Entzücken „versetzt, ist di^ Ueberzeugung, daß die Götter dem Opfer „beiwohnen, und mit Huld empfangen, was die Liebe „ihnen weiht. Wer diese Ueberzeugung nicht hat, dem „ist der Tempel eine Wüste, die Feier eine eitle und „traurige Pracht; sind die Gebethe Worte, welchen die ,Vernunft ichre Zustimmung versagt, und ist der Opfern „priester ein niedriger Lohndiener, der ein unschuldiges „Thier erwürgt “ Plutarch. — Non posse suaviter vivi secundnm Epicuri decreta, cap. 22. Ich könnte tausend Stellen finden, in denen Seneca sich, in philo­ sophischer Weise, der Begeisterung des religiösen Gefühls hingiebt. Die Zett lud ihn dazu ein. Gr lebte unter Nero, unbvon der Tyrannei gedrückt, floh er hm, wo die Tyrannei ihn nrcht erreichen konnte. Spuren dessel­ ben Gefühls finden sich bei den Neuplatonikern, aber sie wurden zwiefach durch einander widerstrebende Rich­ tungen eingeengt, durch die herrschende Neigung zu ab­ gezogenen Lehren, und durch den Wunsch, daS Daseyn der alten Formen zu verlängern.



55



Aber die gegebenen Religionen wissen für solche Art

Wohlwollen nicht im geringsten Dank. Ihnen sind

Reformatoren Feinde.

Man kennt den Tod des

Sokrates und die Verbannung des AnaxagoraS.

Zwei tausend Jahre später ward Fenelon's reine Liebe, die nichts anders als das religiöse Gefühl

war» das sich unter fest stehenden Glaubenslehren einen Platz, und eine Vereinigung mit diesen Leh­ ren suchte, als eine Ketzerei verdammt. 9

i) Da eS wahrscheinlich ist, daß baS Publicum unserer Lage die Beweggründe des von Innocenz XII gegen den Erzbischofs von Cambray, und die Lehren, welche die Verwerfung der Römischen Kirche erfuhren, erlasse­ nen Breve vergessen hat; so will ich einige von den Sätzen, welche verdammt wurden, ajiführen. Erster Satz. „Es giebt eine, zxr andern Natur „gewordene, Beschaffenheit der Liebe zu Gvtt, welche „eine reine Liebe, unb ohne irgend eine, von dem Eigen„nutze herrührende, Beimischung ist.----------- Weder „die Furcht vor Strafen, noch der Wunsch nach Beloh„nungen, haben an dieser Liebe noch Theil." Zweiter Sah. „In diesem Zustande verliert man „jeden eigennützigen Beweggrund der Furcht oder der „Hoffnung aus den Augen." Zwei und zwanzigster Satz. „Obgleich in der „Lehre von der reinen Liebe die klare und deutliche „Vortrefflichkeit des Evangeliums bestand, wie e- durch „die ganze UeberUcferung gelehret worden; so ermahnten



56



Nun aber bringt die Verfolgung Wirkungen hervor, hie unfehlbar sind.

Der Wunsch, daS Joch

,,die alten Prediger daS Volk der Gerechten dennoch „gewhhnlich nur zu Uebungen der eigennützigen Liebe." Drei und zwanzigster Satz. „In der reinen „Liebe besteht allein das ganze innere Leben, und sie „wird fohann die einzige Quelle und her einzige Beweg„gründ aller uneigennützigen und verdienstlichen Hand„lungen." Breve Jnnocenz's XII, enthaltend die Verdammung der Maximes des Saints, (eines von Fenelon, zur Ver­ theidigung der Grundsätze einer Freundinn, geschriebenen, aber von seinem, nicht minder berühmten, aber dogma­ tisch strengen, Gegner, Dossuet, übet aufgmommeneh Werkes. — D. H.), vom i2< März 1699. Man sieht, daß alle verworfenen Sätze zur Absicht haben, dem religiösen Gefühle vor allen eigennützigen Beweggründen den Vorzug zu sichern. Dieser Vorzug gereicht dem priesterlichen Ansehn nothwendig zu einem großen Nachtheile. Er setzt den Menschen in eine un« Mittelbare Verbindung mit der Gottheit, und macht für ihn die Dazwischenkunft der Mittelspersonen überflüssig. Gerade dadurch muß er hem Einflüsse derer schaden, welche die Dolmetscher der Bitten sind, die er, um Gunst­ erweisungen oder Erlaß von Strafen, gn den Himmel richtet. Wer nach Belohnungen strebt, oder Züchtigun­ gen fürchtet, muß den Anweisungen, die ihm ertheilt werden, ein gelehrigeres yhr leihen, als derjenige, der sein Glück in seinem Gefühle findet, und daher niemand bedarf, um zu diesem Glücke zu gelangen, und desselben zu genießen; und wenn jene reine Liebe, daß ist, daS religiöse

einer Form zu zerbrechen, die sich bedrückend und

quälend erweist, wird das einzige Ziel, nach welchem

mit dem angestrengtesten Sinnen gerungen wird. Die Thätigkeit der Einbildungskraft, der Scharf­ sinn prüfender Forschung, kehren sich gegen das,

was die prüfende Forschung niemahls wahrscheinlich fand, aber die Einbildungskraft gern verehrte, mit

Einem Worte, das religiöse Gefühl trennt sich von

der Form. Da sich aber die Verfolgungen dann verdop­ peln; so erzeugen sie in den empörten Gemüthern

eine Art schwärmerischen Unglauben,

welcher die

Aufgeklärten, die höheren Classen der Gesellschaft,

ergreift und hinreißt, und dieser Unglaube greift

das religiöse Gefühl bald selbst an. äußeren Form bis dahin erstickt,

Von der

erleidet dasselbe

während des Kampfes, den der Unglaube und die

Religion mit einander bestehen, noch mehr Ungün­ stiges.

Wie Empörungen gegen Gewaltherrschaft

gewöhnlich einen Augenblick zügelloser Gesetzlosig­

keit zur Folge haben; so sind quch Erschütterungen

Gefühl, ihm allein das innere Leben ist; so verlieren der äußere Gottesdienst, die Gebräuche, mit Einem Worte, die Form, gar viel von ihrer Bedeutung.

58 des Volksglaubens von einem unbegränzten Hasse, und einer unmäßigen Verachtung gegen alle reli­

giösen Vorstellungen begleitet; religiöse Gefühl,

und obgleich daS

diesem unrechtmäßigen Antriebe

zum Hohne, im Grunde seine Rechte behält; ob­

gleich jene Begeisterung für die Natur,

für das

große All, die wir bei den ungläubigsten Schrift­ stellern wahrnehmen, und die uns, billig und recht,

seltsam vorkömmt,

nur das religiöse Gefühl »st,

das, im Schooße des Atheism selbst, sich unter einem andern Nahmen wieder erzeugt; so verkündet der

Anschein darum doch nicht weniger den vollstän­ digsten Unglauben, und man möchte sagen, daß

der Mensch alles, was die Religion angehet, auf

immer abgcschworen habe. Aber hier zeigt sich eine neue Aufgabe, dir

abermahls nur der Unterschied zwischen Gefühl und Form erklären kann.

Wie geht es zu, daß sich der Mensch in den schrecklichsten Aberglauben stürzt, so oft die gege­

benen Religionen ihr Ansehn verloren haben? Betrachtet die Bewohner der gesitteten Welt während der drei ersten Jahrhunderte unserer Zeit­

rechnung.

Betrachtet sie, wie Plutarch sic uns



5.9



beschreibt, ein redlicher Schriftsteller, der gewünscht

hatte, fromm zu seyn, glaubte,

der es zuweilen zu seyn

den aber wider seinen Willen

der Un­

glaube seiner Zeit, und die Seuche des Skeptizism verfolgten.

Diesem, in seinen Beweisen unbesiegbaren, in

seinen Abläugnungen

durchaus entschiedenen,

in

seinem Spotte siegreichen Skeptizism zur Seite, überschwemmt eine Sündfluth rohen und oft grau­

samen Aberglaubens den ganzen gesitteten Erdkreis.

Der alte Polytheism ist gestürzt, ein anderer, ver­ borgener, finsterer,

seltsamer,

dem ein jeder sich

hingicbt, und vor dem ein jeder erröthet, ist an

seine Stelle getreten.

Den geordneten'Feierlich­

keiten der Oberpriester folgt das tobende Gerenne

der Isis-Priester, dieser letzten Hülfstruppen und verdächtigen Verbündeten eines in den letzten Zügen begriffenen Götterdienstes, der von seinen, an ihrer Sache verzweifelnden. Dienern wechselsweift ent­

fernt,

und

ungestüme

Tänzer,

wieder zurück gerufen

wird.

und verachtete Missionäre, schwärmerische

Seher,

Als

schamlose

lästige Bettler,

schleppen sie mit zerstreutem Haare, zerfleischtem Körper, blutiger Brust, ihres Geschlechts, das sie

6o

abgeschworen, und ihrer Vernunft, die sie betäubt haben, beraubt, die Götzenbilder oder Reliquien

der Gottheiten in Burgen und Dörfern umher. Sie erfüllen die Luft mit ihrem Geheule; sie setzen die Menge durch unnatürliche Verdrehungen in.

Staunen, schrecken sie durch scheußliche Zuckungen;

und eben die Menge, welche die alten Prachtfeste

nicht mehr rührten, fühlt, bei Völkern, die man für aufgeklärt hält, ihre Andacht durch solche Aus­

brüche roher Gaukler von neuem belebt. J) die Stelle der gewöhnlichen Übungen,

An

die dem

grausam gewordenen Aberglauben nicht mehr ge­

nügten, trat der gräßliche Stierdienst, (taurobolium) bei welchem der Anrufende sich mit dem

Blute des Opfers besprengen läßt.

Von allen

Seiten dringen, obrigkeitlicher Bemühungen un­

geachtet, die empörenden Gebräuche der verachtetsten Völkerschaften in die Tempel.

Menschenopfer

gehören von neuem wieder zur Religion,

und

entehren ihren Fall, wie sie ihr Entstehen befleckt i) Phaedr. lib. III, 20. Apul. metamorph VIII. Pirn. XXXV, 12. Dionys. Hal. II, 7. O vi d. Fast. IV, 180-173 Ti bul 1. I, IV, 604. Branch, de List. ap. Grace. VI, O v i d. epist. ex Pont. 7,

57 40.

61 hatten.

Die Götter vertauschen

ihre zierlichen

Gestalten gegen furchtbare Zerrbilder, überall geborgten,

und diese

zusammen gebrachten, aufge­

häuften und gemengten Götter sind um so will-

kommener,

je seltsamer ihre äußere Gestalt ist.

Der Haufen insgesammt wird angerufen, an ihrem

Haufen will die Einbildungskraft sich weiden.

Sie

durstet danach, den Himmel, den sie mit Schrecken stumm und öde findet, wieder zu bevölkern, gleich­ viel mit was für Geschöpfen.

Die Secten ver­

vielfältigen sich, Begeisterte durchstreifen die Erde,

der Staat weiß nicht mehr, wie er den Unglau­ ben,

der bedroht, was vorhanden ist,

die ersetzen wollen,

wahnwitzigen Lehren, vorhanden war,

und die

zugleich

beschwören

schließt mit den Dberpriestern

soll.

was Er

des erschütterten

Götterdienstes unwirksame Bündnisse; er erschöpft

sich in Ermahnungen,

die eben

so

vergeblich,

als wenig eindringlich sind; er bewaffnet sich für das Vergangene, J)

aber es gelingt ihm nur,

i) Dieß ist der Zeitpunct, in welchem die Rimer, die sich religiös nannten, die Werke Cicero'-, als gegen Religion und Staat, verbrannt wissen wollten. S. Arnob. adv. gentes. Arnobius antwortet: Interci per e scripta, et

pnblicatam veile submergere lectionem, non est



den trüglichen äußeren Schein zu retten, während

die Vernunft die Zukunft den unerwarteten Irr­ thümern streitig macht,

welche dieselbe als ihre

Beute zurück fordern.

Diese Jrtthümer sind nicht das ausschließliche

Erbtheil der unwissenden Classe.

Der Wahnsinn

ergreift alle Stände der Gesellschaft.

Die ver«

weichlichtesten Römer, die zartesten Frauen, klim­ men, zur Erde geworfen, die Stufen des Capitols hinan,

und preisen sich glücklich,

mit blutigen

Knien zum Gipfel gelangt zu seyn. J)

deos defendere, sed veritatis testificationem timcre. , »Schriften unterdrücken, und die Lesung derselben ver­ biethen wollen, .heißt nicht, tue Götter vertheidiget, sondern die Wahrheit fürchten." i) J u v e n a 1, Satyr. VI, 525-525. D i o C a $ s. XLIII, 21. XLVI, 25. Dieser Aberglaube ist älter, **) aber er fällt doch in eine Zeit, in der die Religion der That nach ver­ nichtet war. Tibull. 1, 5, 85. Man sagt, daß Cäsar und Claudius sich jener ReliglonS-Uebung unterwarfen.*) Sen ec. de vita beata, 27. *) Nicht etwa auch jünger? Klomm, anderthalb tausend Jahre später, nicht Luther selbst noch auf den Knien die Stufen des neueren Capitols, die Stufen der PetersKirche, hinan? Und welche Erscheinungen wird nicht wieder das bevorstehende — fünf und zwanzigjährige, durchaus bedeutungslose — Jubeljahr an demselben Orte uns wahrnehmen lassen? — Aber diese Anführung des berühmten Verfassers, wre so manche, über-

— 6z — In dem Pallaste der Kaiser, wie in Len Ge­ mächern der Römischen Frauen, sieht man alle

Ungeheuer Agypten'ö, Götzenbilder mit Hunds-, Wolfs- und Sperberköpfen, und jene anstößigen Sinnbilder, die einst in den Mysterien als Bilder

der schöpferischen Kraft gezeigt wurden,

aber zu

gleicher Zeit Gegenstände des Gelächters und der öffentlichen Verehrung geworden sind;

auch die

pantheistischen Bildsäulen, welche die geheimniß­

volle Einigung und Mischung aller Götter an­ deuten. J)

Dieß Alles jedoch befriedigt die Menschengat­

tung nicht.

Sie findet den Schrecken wieder,

aber sie sucht vergebens den Glauben, und Glaube

ist, was sie bedürfte.

Derselbe Plutarch schildert

unS die Menschen aller Stände, Reiche,

Arme,

Alte, Junge, wie sie bald, ohne sichtbare Ursache,

i) Die ganze sechste Satyre Juvenal's ist ein treffende« Gemählde de« Römischen Aberglaubens dieser Zeit, all in diesem Werke niedergelegte, Verwahrung, lehren unß, und da« Ausland überhaupt, besser, al« die Charte, den Zustand Frankreichs, die Freiheit der Presse, und vor allem die Wahrheit dessen kennen, war neuere Nachrichten (S. Kirchenzeitung, Januar, 1824.) uns von dem Drucke und der Beschränkung, welchen die Protestanten in Frankreich unterliegen, berichten. A. d. H.



64



von einer unsinnigen Verzweiflung ergriffen wer­ den, ihre Kleider zerreißen, sich im Kothe wälzen,

und von den Göttern verflucht zu seyn ausrufen; >) bald,

wenn sie von diesen Göttern reden,

aus

Gewohnheit oder Hochmuth, den Ton des Hohnes

und des Spottes annehmen; dann in irgend einem entlegenen Winkel sich mit Zauberern, Amulet-

und Talisman-Verkäufern berathen;

zur Nacht­

zeit die Kirchhöfe aufftlchen, um die Überreste der

Todten auszugraben;

Kinder erwürgen, oder sie

auf Gräbern Hungers sterben lassen, um das Ge­ schick aus ihren Eingeweiden zu erfahren; endlich,

ungeachtet ihrer entnervten Natur, dem Schmerze,

wie dem Verbrechen, Trotz biethen, und ihre durch Wohllüste entkräftete Körper unglaublichen Kastei­

ungen hingeben, gleichsam um der unbekannten Macht, die sie tappend und blindlings zu suchen

scheinen,

entreißen,

Gewalt anzuthun, und der Hölle zu

was sie nicht mehr vom Himmel zu

erhalten hoffen.

Woher diese sittliche Unordnung, zu einer Zeit, wo die Philosophie überall ihre Lehren verbreitet

hat, und wo die Aufklärung die Finsterniß der Unwissenheit zerstreut zu haben scheint?

i) Pint, de Superstit. c. Z.

65

Der Mensch wünscht sich Glück, alle Vorur« theile, alle Irrthümer,

alle Furcht,

haben, und alle Furcht,

alle Irrthümer, alle Bor,

urtheile,

entfernt zu

Man hat

scheinen entfesselt zu seyn.

die Herrschaft der Vernunft angekündigt, und di« ganze Welt liegt im Wahnsinne.

Alle Lehrge­

bäude gründen sich auf Berechnung, wenden sich dem Vortheile zu, erlauben das Vergnügen, em­ pfehlen die Ruhe; und nie waren die Ausschwei­

fungen schimpflicher, die Leidenschaften ungeregelter, die Schmerzen stechender, weil der Skcptizism in

seinen Angriffen auf die Form, die er zertrüm­

merte, dem Gefühle zu nahe gekommen ist, dessen das Menschengeschlecht nicht cntrathen kann.

AuS

den Kämpfen, die der Mensch bestanden, als Sreger

hervor gegangen, wirft er einen Blick auf die Welt, die keine schützende Mächte mehr hat, und verwun­

dert sich seines Sieges.

Die Unruhe des Kampfes,

die Vorstellung der Gefahr, der er Trotz zu biethen

liebte, das heftige Verlangen, angefochtene Rechte

wiederzuerobern —

alle diese Ursachen der Auf­

regung helfen ihm nicht mehr.

Seine Einbildungs­

kraft, ohnlangst ganz erfüllt von einem Erfolge,

den man ihr noch streitig machte, nun unbeschäftigt Erster ©ant

5

66 und wie öde, kehrt in sich selbst zurück.

Er sieht

sich allein auf einer Erde, die ihn verschlingen wird.

Auf dieser Erde folgt Ein vorübergehendes, zufälli­ ges, einzeln da stehendes Geschlecht dem andern;

sie erscheinen, sie leiden, sie sterben; kein Band, das sie verknüpfte!

Keine Stimme, die von denen,

die da waren, zu den jetzt Lebenden reichte, wie die Stimme der jetzt Lebenden ebenfalls bald in

ewiges Schweigen versinken wird!

Was soll der

Mensch thun, ohne Errinnerung, ohne Hoffnung,

und hingestellt zwischen eine Vergangenheit, die ihn verläßt, und eine Zukunft, die vor ihm verschlossen ist?

Seine Anrufungen werden nicht mehr gehört,

seine Gebethe bleiben ohne Antwort.

Er hat alle

Stützen umgcworfen, die seine Vorgänger um ihn her gestellt hatten;

Kräfte beschränkt.

er hat sich auf seine eigenen

Mit ihnen muß er nun der Sät­

tigung, dem Alter, den Vorwürfen, der unzähligen

Menge von Übeln, die ihn belagern. Trotz biethen.

In diesem gespannten und unnatürlichen Zustande find seine Handlungen ein unaufhörlicher Wider­

spruch seines Glaubens und seiner ausgesprochenen Meinungen, die Schrecknisse, welche ihn umgeben, eine

fortwährende Büßung

seiner

Spöttereien.



6?



Man sollte glauben, daß er an einer doppelten Verrücktheit leide,

spricht, das

da er bald demjenigen Hohn

er verehrt, bald vor dem erzittert,

das er eben mit üßen Ftrat.

Ein ewiges Gesetz, das wir anzuerkennen ge-

nöthigt sind,

welche Meinung wir auch über Fra­

gen hegen mögen, von denen wir gestehen müssen, daß sie unauflösbar sind — ein ewiges Gesetz scheint

gewollt zu haben, daß die Erde unwohnbar werde,

wenn ein ganzes Geschlecht nicht mehr glaubt, daß eine weise und gütige Macht über die Menschen wacht.

Vom Himmel getrennt, wird diese Erde

ein Gefängniß für ihre Bewohner, und der Ge­ fangene zerschellt sich das Haupt an den Mauern

des Kerkers,

der ihn einschließt.

Gefühl wird heftig bewegt,

Das religiöse

und müht sich ab

wegen zerbrochener Formen, weil die Form ihm

fehlt, die der gebildete Verstand zulassen kann. Erscheint diese Form, so hat sie die Meinung

für sich, das Sittengesetz schließt sich an sie an,

die,

eine Zeitlang widerstrebende,

giebt endlich nach,

Staatsgewalt

und alles kehrt in die Ord­

nung zurück.

Gerade das geschieht bei der Erscheinung de§

5.

68

EhristenthumS; dar religiöse Gefühl ergreift diese gereinigte Form; daS unbestimmte, schwermüthige

und rührende dieses Gefühls findet in ihr eine Zu­

flucht,, in dem Augenblicke, wo der Mensch Kenntniß vor, den Gesetzen der natürlichen Dinge erlangt,

und die vorhandene Religion dadurch die Stütze

verloren hat, die die Unwissenheit ihr verlieh. Unter der Herrschaft der alten Form hatte di«

Religion sich von der Erde zum Himmel erhoben,

aber ihr Grund war gewichen.

Indem die neue

Form ihr eine neue Grundlage unterlegt, bewirkt sie,

daß die Religion vom Himmel wieder zur

Erde herabstcigt.

Man kann diesen Zeitpunct die

sittliche Wiedergeburt des menschlichen Geschlechts

nennen.

Die politische Welt bleibt ein chaotischer

Wust, die sittliche Welt wird auf mehrere Jahr, Hunderte wiedergeboren.

Eins muß noch angrmerkt werden. lebhaften Errinnerung an alles,

Bei der

waS es in den

Banden einer gegebenen Form gelitten hat, fürch­

tet das religiöse Gefühl in der neuen Form alles,

waS den Fesseln, die ihm die eben von ihm zerbro­ chene anlegte, gleicht.

Es ist ganz frei.

Glück­

lich, wieder zu Grundlehrrn gelangt zu seyn, die



6g

cS für unfehlbar hält,



und zu Wahrheiten,

ihm unbestrntbar zu seyn scheinen,

die

giebt eä sich

mit Entzücken der Ruhe des Glaubens hin, aber

eS weist Sinnbilder zurück,

nicht empfindet,

Übungen,

deren Bedürfniß es

die in seinen Augen

gleichgültig oder überflüssig sind, Priesterordnungen, die eS an das schwere Joch errinnern, daS ihm s»

wehe gethan hat.

Es will kein Priesterthum.

Priester, sagt Tertullian.

Wir sind alle

Wir sind alle alS solche

vor dem himmlischen Vater geweiht. J)

ES achtet nicht der Pracht der Gebräuche; eS

beschäftigt sich

nur mit dem unendlichen,

allcS

erfüllendem, unsichtbaren Wesen, dem jeder Mensch

einen Tempel im Innersten seines Herzens erbauen muß. 2)

In den dürftigsten Kleidern,

oft halb

4) Tertullian., de baptismo. Nonne et la‘/ci eacer-

dotes sumus ? — Derselbe, do castitate, cap. 7. Jeder Christ wollte ursprünglich Macht haben, Dämone

aus-utreiben. — Greg. Na3. Cann. 61, ad Nemes. Jedes Mitglied der ersten Kirche, ohne Unterschied deS

Standes oder Geschlecht-, hatte daS Recht, den Beruf eines Propheten zu üben. — Mosheim, Dissert.

ad histor. eccles. pertin. II, 152. 2) OrigeneS sagt, daß die erste Kirche Tempel und Al­

täre verbannte. S. auch M i n u t i u S F e l i x.

Auf die

70

nackt, verachten die Christen Heidnische Prachtfeste,

Verzierungen heiliger Gebäude, den Schmuck der Priester; sie errichten keine Altäre, sie bethen zu

keinen Heiligenbildern. DaS religiöse Gefühl öffnet, voll Duldung, weil es aufrichtig ist, allen Völkern, allen Gebe­

then, allen Jahrhunderten, mit Freuden eine weite

Thür in den Himmel. *) Es freut sich, sein Glück Frage: cur nullas aras habent, templa nulla, nulla nota simulacra ? antwortet er, was die Perser oder die Völker des Norden- hätten antworten können: Wozu einen Tempel bauen, da Gott den ganzen Erd­ kreis bewohnt? UI, io. 26. 27. 1) „In allerlei Volk, wer Gott fürchtet und recht thut, „der ist ihm angenehm." Apostelgesch. io, 35. — „Ihr wisset," sagt der heilige Petrus, V. 28, — und Petrus war von den Aposteln am wenigsten duldsam, — „Ihr wisset, daß es ein ungewohntes Ding ist einem „Jüdischen Manne, sich zu thun oder zu kommen zu „einem Fremdling, aber Gott hat mir gezeiget, keinen „Menschen gemein oder unrein zu heißen.^ — Dieser Geist der Duldung war in der ersten Kirche lange Zeit herrschend. „Die Priester, welche die Kirche regierten, „der Du jetzt vorstehest," schrieb der heilige Irenäus an den Pabst Victor, „blieben stets in Eintracht mit „denen, die zu ihnen kamen, obgleich diese Glieder an„derer Kirchen waren, in denen man Gebräuche beob„achtete, die von den ihrigen abwichen. Sie sandten

mit dem gesummten menschlichen Geschlechte zu thei­ len, weil dieses Glück ein rein geistiges Glück ist. „ihnen sogar baß Liebesmahl, als Friedenszeichen, gleich „nach ihrer Ankunft." Ense b. Histor. cccles. lib. VII, c. 24. — So erat. lib. V, c. 22. — So 20 m. lib. VII, c. 19. — Phot. Bibliot. c. 120. — Daß Wort Ketzerei wird bei den ersten Christlichen Schrift­ stellern zuwellen im guten Sinne gebraucht. Das Apostolische Glaubensbekenntniß erschien zuerst erst im vier­ ten Jahrhunderte, nach den Concilien von Rimini und Constantinopel. Pearson, Comment, in symb. apostol. — Mosheim, de rebus Christian, ante Constant, magn. p. 88' „Der Gerechte unterscheidet „sich nicht vom Gerechten, mag er unter dem Gesetze „gelebt haben oder nicht; diejenigen, welche, ehe baß „Gesetz gegeben worden, gut gelebt haben, werden für „Kinder des Gesetzes gehalten, und als Gerechte an„erkannt “ — Clemens Alexandr. Stromat. VI „Alle Menschen, welche der Vernunft gemäß gelebt haben, „oder ihr gemäß leben, sind wahrhaft Christen, und „brauchen sich nicht zu fürchten." — Der heilige Ju­ stin. Apol. II; „Preis, Ehre und Frieden Allen de„nen, die Gutes gethan haben, Juden oder Christen " — Der heilige Chrysosth. homil. 56. 57. — Wenn man alle Streitigkeiten, alle Verfolgungen, alle reli­ giöse Metzeleien, die auf die Bekehrung Constantins folgten, aufmerksam untersucht; so wird man sinden, daß alle diese so betrübenden Erscheinungen durch einige wenige Menschen veranlaßt wurden, die der neuen Re­ ligion eine feste Gestalt geben wollten.



?a



Hs wird eine Zeit kommen, wo die zeitlichen Güter

aufs neue der Gegenstand des Verlangens, und di«

Religion,

in der schon vorbereiteten Weise,

Ausschließungen

verschwenderisch,



in Wohlthaten

geitzig seyn wird, weil ihre Diener nach Gold und Gewalt trachten werden.

Dieselbe Freiheit fordert

das religiöse Gefühl in Ansehung der Gebräuche und Enthaltungen.

ES erklärt den Menschen für

frei von allen ersonnenen Obliegenheiten; niemand kann ihm eine eingebildete Verpflichtung auflegen. *) Er kann durch nichts Aeußerliches verunreiniget wer­

den; es ist ihm kein Fasten vorgeschrieben, keine Nahrung verbothen. 1 2) So sehr liegt dem religiösen

1) Sogar die Beichte ward nicht ffit Pflicht gehalten. Der heilige Johann Chrysostomu» sagt ausdrück­ lich, (Homil. II, in psalm. 50,) daß man Gott beichte« müsse, der alle» weiß, und der nie bk Fehler vorhält, die man ihm bekannt hat. „Ich will," setzt er hinzu, „die Menschen nicht zwingen, ihre Sünde« andern Men„fchen zu offenbaren."

,) „Christus hat ausgctilget die Handschrift, so wider „uns war, welche durch Satzungen entstand."-----„So lasset nun niemand Euch Gewissen machen über „Speise, oder über Stans, oder über bestimmte Feicr„tage, oder Neumonden oder Sabbather, welches ist der „Schatten von dem, das zukünftig ist." — „Was laßt „Ihr Euch denn fangen mit solchen Satzungen,------



75



Gefühle zu dieser Zeit seiner Wiedergeburt daran,

sich von der Form für unabhängig zu erklären, und so sehr fürchtet es, seine Reinheit durch Übun­

gen zu beflecken, die es den veralteten Götter­ diensten, denen es abgesagt hat, wieder näheren

könnten. „die ba sagen, Du sollst das nicht kosten,------ welche,,sich doch alles unter Händen verzehret, und ist Men« „schengeboth und Lehre?" Col. 2, 14. 16. 17. 21. 22. Ich könnte auch noch den heiligen Petrus zum Beweise anführen, dessen Anschn noch gewichtiger ist, weil er weit mehr an dem Zudenthurne hing, als der heilige Paulus, und erst durch da- Wunder eines Gesichts dahin gebracht werden mußte, die Enthaltungen, welche das alte Gesetz geboth, aufzugeben. Apostelgesch. 10,13-15. „Der Christ, sagt Tertullian, kann durch nichts „Aeußerliches verunreiniget werden; Gott hat ihm kein „Fasten vorgeschrieben, er hat ihm keine Speise ver„bothen; was er ihm verbothen hat, das sind die bösen, „was er ihm gebothen hat, das sind die guten Hand,»langen." De ieiun. adv. Psych.

74

Drittes Capitel. Daß die sittliche Wirkung der Götter­ lehren den fest zu stellenden Unter­ schied beweise.

Nicht bloß, um den allgemeinen Gang der Re­

ligion zu erkennen, muß unter dem religiösen Gefühle und seinen Formen unterschieden werden, man muß diesen Unterschied auch anerkennen, um Fragen, die Einzelnes betreffen, aufzulösen, welche

bis auf den heutigen Tag unbesiegbare Schwierig­ keiten dargebothcn haben. Mächtige und gesittete Völker haben Götter verehrt, die ihnen ein Beispiel aller Laster gaben. Wer hätte nicht denken sollen, daß dieses ärger­ liche Beispiel die Verehrer verderben muffe? Im Gegentheile, so lange jene Völker diesem Götter-



— 75

dienste treu blieben, bothen sie das Schauspiel der höchsten Tugenden dar.

DaS

ist

nicht Alles.

verließen ihren Glauben,

sie sich in

Eben

diese Völker

und nun erst stürzten

alle Abgründe sittlicher Verderbniß.

Die Römer, keusch, strenge, uneigennützig, als

sie dem unbarmherzigen Mars, dem ehebrecherischen Jupiter, der unkeuschen Venus, oder dem List und

Betrug schützenden Merkur, Opfer brachten, erschie­ nen verdorbener in ihren Sitten, unersättlich in ihrer

Habsucht, grausam in ihrem Eigennutze,

sobald

sie die Altäre jener wilden oder ausschweifenden

Gottheiten verließen. Woher diese seltsame Erscheinung?

Verehrung des Lasters

Sollte die

die Menschen veredeln?

Sollte das Aufhören solcher Verehrung sie ver­

derben ? Nein,

sicher nicht.

Aber so lange das reli­

giöse Gefühl die Form beherrscht, übt es seine

bessernde Gewalt über sie aus.

ist ganz einfach.

Der Grund davon

Das religiöse Gefühl ist eine

eben solche Gemüthsbewegung,

als

alle unsere

natürlichen Gemüthsbewegungen sind; es stimmt folglich immer mit ihnen.

Es stimmt immer mit

dem Mitgefühle, dem Mitleiden, der Gerechtigkeit, kurz, mit allen Tugenden. ') Es folgt daraus. ,) Ein Schriftsteller, dem e« weder an Gewandtheit, noch an Gaben gebricht, hat diese Wahrheit zu verdun­ keln gesucht. Er hat über das religiöse Gefühl den Bann ausgesprochen. Er hat es anfangs als nicht vorhanden, dann, als den Menschen in die bejammernswürdigsten Ausschweifungen stürzend, dargcstellt. In Betracht, daß eine längere Untersuchung den ganzen Faden meiner Ge­ danken zu sehr unterbrechen würde, und ich doch nicht gern Behauptungen unbeantwortet lassen möchte, die, mit einer gewissen Kunst aufgestellt, einigen Eindruck machen könnten, widme ich diese Anmerkung einer etwas ausführ­ licheren Prüfung der Lehre des Herrn de la MennaiS. Er hat mir diese Aufgabe sehr erleichtert; denn man wird sehen, daß seine Widersprüche ganz allein mir den größten Theil der Antworten an die Hand geben werden, die ich zu seiner Widerlegung bedarf. Der Verfasser des Essai sur l’indiffVrence en ma­ ttere de religion, (Versuch über die Gleichgül­ tigkeit in Religions-Sachen) frägt, worin da­ religiöse Gefühl bestehe? „Keine Glaubenslehre, sagt er, ist in unser Herz geschrieben, und so lange man ihn uns nicht genannt hatte, war Gott nicht für uns da." (Theil II, S. 194 ) So denkt ec in feinem zweiten Theile. Hier seine Meinung zur Zeit der Erscheinung des ersten: „Die Re: „ligion, sagte er, ist dem Menschen so natürlich, daß eS „vielleicht kein unzerstörbareres Gefühl in ihm giebt. „Selbst wenn fein Geist sie fortweist, giebt eS in feinem „Herzen noch ein Etwas, das sie ihm zurückruft; und

daß, so lange eS mit einer religiösen Form ver­ bunden bleibt, die Fabeln einer solchen Religion „tiefer religiöse Naturtrieb (Jnstincy, der sich bei allen „Menschen wiedersindet, ist auch bei allen Menschen der­ selbe. Dor abweichenden Meinungen durch­ saus geschützt, wird er durch nichts entstellt, „durch nichts verfälscht. Der arme Wilde, der „in den Einöden der neuen Wett den großen Geist an» „bethet, hat ohnstreitig von der Gottheit keinen so „reinen und ausgedehnten Begriff, als Dossuet, aber „er hat dasselbe Gefühl von ihr." (Theil I, S. 85 ) „DaS Gefühl, fährt er jedoch fort, ist seiner Natur „nach leidend; cs läugnet nichts, es bekräftigt nichts, (Theil 11, S. 183 ) „und lehrt uns folglich auch nichts." Aber er führt darauf mit Bewunderung und Beistimniung folgende Worte Tertuluan's an: „Die Zeugnisse „der Seele sind um so wahrer, je einfacher sie sind, — — um so gewöhnlicher, da sie natürlicher, „um so natürlicher, da sic göttlicher sind. Der Lehrer „ist die Natur, die Seele der Schüler." (De Testim. ainmae, lib. adv.gentes.cap. 5 u. G. — Theilll, S. 266 ) Welches ist denn diese Natur, wenn es nicht diejenige ist, die den Menschen zu dem religiösen Gefühle leitet? Welches ist die Seele, deren Zeugnisse so ausgezeichnet find, wenn eS die Seele nicht ist, welche von dem reli­ giösen Gefühle beherrscht wird? Herr de la MennaiS behauptet, „daß das Gefühl des „Wahren und des Falschen, des Guten und des Bösen, „schwankend und veränderlich sey; (Theil II, S. 200.) „daß der Mensch das Döse zuweilen mit Wohlgefallen „thue, (daselbst S. eor.) und daß diejenigen, welche



78



ärgerlich, ihre Gitter verdorben seyn können, und diese Form dennoch einen glücklichen Einfluß auf die Sittlichkeit haben kann. — „das religiöse Gefühl als Gewalt zulassen, nicht unter„scheiden könnten, wasTugend und was Verbrechen sey." (Daselbst, S. 201. 202.) — Was können wir Bessere­ thun, als uns an seine Gaben halten, um seine Trug­ schlüsse zu bekämpfen? Er wird uns lehren, „daß das „Gefühl der Gottheit, das Gefühl des Rechten und „deS Unrechten, des Guten und des Dösen, sich bei „allen Völkern wiederfinde, (daselbst, S. 119.) daß der „Mensch überall, und zu allen Zeiten den wesentlichen „Unterschied zwischen gut und böse, recht und unrecht, „anerkannt hat, daß nie ein Volk die einander entgegen „gesetzten Begriffe des Verbrechens und der Lugend mit „einander vermengte.«' (Theil I, S 172.173.) Erwirb un- lehren, „daß, wenn man dem Menschen sage, e„gebe weder Rechtes noch Unrechtes, weder Verbrechen „noch Tugend, nichts sey an sich gut oder böse, und „seinen alten Vater ernähren, oder ihm die Kehle ab„schneiden, sey gleich, jedermann über dem bloßen Ge­ nbanken empört seyn werde, und daS Gewissen einen „Schrei des Abscheu'S ausstoße." (Daselbst, S. 87.) Kurz, er will uns lehren, „daß der Mensch die Gesetze „deS Rechten und des Unrechten nicht anders verletzen „kann, als wenn er seine Vernunft, sein Gewissen, seine „gesammte Natur verletzt, als wenn er dem Frieden „und dem Glücke entsagt, (daselbst, S. .366. 367.) und „daß, wenn wir die ganze Welt in allen Jahrhunderten „betrachten, wir eine schreckliche Fluth verschiedener, „inS unendliche vervielfältigter Laster und Verbrechen,



79



Die Fabeln sind Gegenstand einer Leichtglaubigkeit, die weder Nachdenken verlangt, noch dazu „eine beständige Verletzung der heiligsten Pflichten, und „ZU gleicher Zeit den unwandelbaren, von dem allgemein „ncn Gewissen stets anerkannten und kund gethaenen, „Unterschied zwischen gut und böse wahrnehmen werden." (Theil III, S. 487.) „Fühlet Ihr, frägt er, daß auf dieses Leben ein an„deres folgt, das nicht enden wird? Nein, antwortet „Ihr." (Theil II, S. 1202.) Der Verfasser irrt. Wir antworten ihm so wenig verneinend, daß wir ihm viel­ mehr, noch einmahl seine Worte entlehnend, sagen werden: „Von einem mächtigen Glauben und einem unbesieg„baren Gefühle vertheidigt, sah das menschliche „Geschlecht im Tode stets nur einen Wechsel des Da„seyns." fDaselbst, S. 142.) „Man hat sich Mühe „gegeben, die Titel von der Größe des Menschen zu der„Nichten. Vergebliches Bemühen! Sie bestehen fort; „man wird sie ihm zeigen. Sie sind in seine Natur „geschrieben! Alle Jahrhunderte haben sie darin gelesen, „alle, selbst die verderbtesten." (Daselbst, S. 139 ) „Wäre die Religion, fährt er fort, eine Sache des „Gefühls, dann müßten alle Menschen die wahre Re„ligion im Innersten ihres Herzens geschrieben finden. „----------- Erkläre man mir nun in diesem Falle die „Verschiedenheit der Religionen." (Theil II, S. 198.) „Sollte man die Schwierigkeit für unüberwindlich „halten?" Der Verfasser selbst wird sie überwinden. „Alle- Allgemeine, sagt er, daS eS im Heidenthume gab, „war wahr; alles Falsche war nur ein örtlicher Aber„glaube. (Daselbst, Dorr. S. GUI.) Und man wende

8o

auffordert. Man michte sagen, daß sie in einem, von den menschlichen Kipfen abgesonderten, Be,»nicht die Menge der verschiedenen Götterdienste ein, (Theil II, S. 76.) »die Verschiedenheit der Götterdienste „beweist nur, daß die Menschen daß Mittel, welches ihnen

»Gott zur Erkenntniß der wahren Religion gegeben, „vernachlässigen können." (Daselbst, S. 179.) Und wei­ ter hin: „Der Götzendienst war, eigentlich zu reden, „keine Religion." (Theil III, S. 147.) Wenn Herr de la MennaiS, um solche offenbare Wispräche auszugleichen, behauptet, daß, wenn er das

Gewissen, das Gefühl, von einer göttlichen Offenbarung herleiten wolle, er sie des Einflusses beraube, den wir ihnen zuschreiben, um sie Gotte selbst Dank zu wissen; so erwiedere ich, daß beide Vorstellungen nicht unver­ träglich mit einander sind. Nehmen wir den Menschen,

wie er ist, mit dem Gefühle, das ihn leitet, und meine

Behauptung bleibt dieselbe, möge nun jenes Gefühl seinen ersten und alten Ursprung in einer übernätürlichen

Offenbarung gehabt haben, oder durch seine wesentliche

und innere Natur ein solches seyn. Es ist aber dennoch, ich gestehe eS, bei Herrn de la MennaiS ein Einwurf vorhanden, den er selbst nicht

zu entfernen versucht hat. Ich will versuchen, es statt seiner zu thun, und möchte wohl, es geschähe mit gleichem Glücke. „Geschah eS in Folge deS Gefühls, daß gewisse Völk.r „das Blut ihrer Kinder scheußlichen Gottheiten dar„bothen, oder die Keuschheit ihrer Töchter ihnen zunr

„Opfer brachten?" (Theil II, S. 200 ) geschah das nicht aus Gefühl!

Nein, sicher

Lst Herrn de la MennaiS

81 hältniste zu Hause sind, und sich nicht unter die Lbrigen Vorstellungen mischen. nicht eine Thatsache bekannt, welche alle alte Geschichte schreibet uns bezeugen? Fast bei allen Völkern des Alter­ thums gab es gewisse Körperschaften, die sich deS reli­ giösen Gefühles zu ihrem Vortheile bemächtigten; die sich das Recht anmaßten, im Rahmen der unsichtbaren Mächte zu reden, und die, als lügenhafte Dolmetscher jener Mächte, den in Schrecken versunkenen Menschen Grausamkeiten befahlen, die das Gefühl verabscheute. Rem, nicht das religiöse Gefühl brachte die Gallier dahin, dem Teutates Menschenopfer zu bringen, die Priester des Teutates thaten es; nicht das religiöse Gefühl senkte vor der Bildsäule Vltzli-Putzli's das Messer der Mexiconer in den Busen ihrer unmündigen Kmder, die Priester Ditzli-Putzli's thaten es. Richt das religiöse Gefühl zwang dieDabylonlerinnen, sich Preis zu geben, oder die Indischen Mädchen, üppige Tänze vor dem Lingam ♦) aufzusühren, die Priester jener unzüchtigen Gottheit waren es. Dieß ist so wahr, daß jene Verbrechen und Unanständigkeiten den Götterdienst solcher Völker, die von jenen furchtbaren Körperschaften*unabhängig blieben, nur vorübergehend befleckt haben. Die Rachweisung dieser Wahrheit wird einen wesentlichen Theil meiner nachfolgenden Untersuchungen auSmachen. ♦) Lingam ist den Indiern, und unter ihnen beson­ ders den Schiwa-Anbethern, die männliche Natur, welche meist in einer silbernen Kapsel getragen wird, und Symbdl der Zeugung ist; er wird in Tempeln, an Heerstraßen rc verehrt. — Adolph Wagner, im Artikel Indische Mythologie und Religion, im Conversationö-Lexicon. A. d. H. Erster Band.

6



8a



Wie die Rechenkunst, der Indischen Trimurti *)

zum Trotze, in Indien dieselbe, wie anderswo, ist; Herr de la Mennais schließt damit, daß er über da- religiöse Gefühl einen förmlichen Bann ausspricht. „Wenn dieses Gefühl unser Führer seyn soll, sagt er; „so giebt eS keine Unordnung, die nicht gerechtfertigt „wäre. (Theil II, S. 202.) Das religiöse Gefühl ist „nicht- anders, als der Fanatism. Es säumt nicht, „einem jeden verschiedene Glaubenslehren zu offenbaren. „Findet sich ein Schwärmer von heftiger und finsterer „Gemüthsart; so giebt eS kein Verbrechen, das eS nicht „unter dem Vorwande der Eingebung begehen könnte." (Daselbst, S. 207 ) Ich verweile nicht dabei, Herrn de la Mennais daran zu erinnern, daß er uns ohnlängst mit ausdrücklichen Worten versicherte, „daß das religiöse „Gefühl vor den Irrthümern der Meinung gänzlich ,gesichert sey, daß es durch nicht- entstellt, durch nichts „verfälscht werde “ (S. oben und Theil I, S. 85. deVersuchs über die Gleichgültigkeit rc.) Ich will ihm eine andere Stelle, ebenfalls von seiner Hand, entgegen setzen: ♦) Die Indische Götterlehre kennt „drei aus dem Kal„meh hervorgegangene Personen: Brahma, Schö„pfer, Wischnu, Erhalter, Schiwa, Zerstörer, „Anfang, Dauer und Ende. Die drei Personen und „Zeiten, in Schiwa wieder ausgenommen, zerstört, ver« „zehrt, als Geschichte, als gewordenes Unendliches, „gleichsam verendlichtes Sterbliches, heißen darum die „Trimurti, (Dreisterblichkeit,) mithin nicht absolut, „und unter Dramatma, dem Absoluten." (S. oben) Hiernach ist Mir die Beziehung in der Anführung nicht deutlich. A. d. H.



85



so war zu Rom, trotz der Ueberlieferungen, die sie zu untergraben schienen, die Sittenlehre dieselbe. ,,Was mißbrauchen die Menschen nicht?

Sie mißbrau-

„chen Nahrungsmittel, bestimmt, sie zu ernähren; Kräfte,

„zur Thätigkeit und zu ihrer Erhaltung ihnen verliehen; „sie mißbrauchen die Rede, den Gedanken, die Wiffen-

„fchasten, die Freiheit, das Leben; sie mißbrauchen Gott „selbst. Darf man deshalb behaupten, daß diese Dinge „verderblich sind?" (Theil I, S. 470.) Das ist, was Herr de la Mennais den Verläumdern des Christenthumantwortet, und was ich den Verläumdern deS religiösen

Gefühls antworte. Unstreitig haben Menschen dieses Gefühl gemißbraucht;

diese, indem sie sich allen Träumereien einer zügellosen Einbildungskraft Hingaben;

jene, mit mehr Schuld,

indem sie sich seiner bedienten, verabscheuungswürdige, unduldsame, unterdrückende, blutdürstige religiöse For­ men zu bilden. Aber das Gefühl ist darum nicht minder der sicherste Führer, der uns nur gegeben werden konnte. Es ist das innere Licht, welches das Innere unserer Seele

erhellt. Es ist die Stimme, die sich überall und zu allen Zeiten gegen alles grausame, oder niedrige oder unge­ rechte erhebt. ES ist der Richter, an den sich alle Men­ schen in letzter Berufung wenden; denn, seltsam, wenn der Schriftsteller, den ich widerlege, die Hauptpuncte seiner Lehre beweisen will; so beruft er sich, wer sollte es glauben, auf das religiöse Gefühl, auf eben das Gefühl, das er verwiesen, geschmäht, als einen blinden, treulosen,

betrüglichen Führer dargestellt hat.' „Wegen dieses ent­ scheidenden Puncts," — nähmlich, zu erfahren, ob das menschliche Geschlecht das gemeinschaftliche Gefühl, und waS

6.

wie anderswo. Das Volk, das seinen Ursprung von der Liebe deS Mars und einer Bestalinn er die allgemeine Vernunft nennt, stets geachtet habe, — ,»wegen diese- entscheidenden Puncts, sagt er, berufe „ich an da-Gewissen. Ich wähle eS zum Richter, bereif, „mich seinen Aussprüchen zu unterwerfen. Möge ein „jeder sich prüfen, und in der Stille seinen Hochmuth „und seine Vorurtheile erforschen. Möge er sich hüthen, „die Trugschlüsse der Vernunft mit den Antworten deö „inneren Gefühl- zu verwechseln, das ich ihn zu ,»befragen auffordere.------ Wenn, bei einer solchen „Prüfung, nur ein Einziger im Innern seines HerzenS „zu sich sagt: Was man mir für Wahrheiten giebt, „welche die Erfahrung bestätigt hat, dem widerspricht, „was ich in mir selbst empfinde, und bei meines gleichen „wahrnehme; so will ich unrecht haben, und erkläre mich „selbst für einen albernen Träumer." (Theil II, S. 47 ) So groß ist die Kraft der Wahrheit. Sie nimmt die widerspenstigsten Geister gefangen, und in eben dem Au­ genblicke, in welchem sie sich freuen, sie verdunkelt zu haben, entreißt sie ihnen das Geständniß ihrer Ohnmacht und ihrer Irrthümer. Und in Wahrheit, womit wollt Ihr, wenn Ihr daGefühl verwerft, den göttlichen Warner in unserm Her­ zen ersetzen? Mit dem wohl verstandenen Vortheile? Eine erbärmliche Lehre, die, auf einen ungereimten Doppelsinn gegründet, die Leidenschaft nothwendig Rich­ ter über diesen Vortheil seyn läßt, und die engherzigste Selbstsucht, wie die höchste Hingebung, in Eine Linie stellt, und mit demselben Nahmen Berechnung schmäht. Mit der Staatsgewalt? Aber Ihr heiligt auf diese Art



85



herleitete, belegte jede verführte Vestalinn darum nicht minder mit einer schrecklichen Strafe. mit diesem Einen Worte alle jene verderblichen und grausamen Gewalten, die man in jedem Lande, in Gallien, wie in Indien, im blutdürstigen Carthago, wie im ausschweifenden Babylon, für von den Göttern ausgegangen ausgab. Die Machthaber glauben immer, einen Vertrag mit dem Geschicke errichtet zu haben. Sie träumen, Eigenthümer der Macht zu seyn, deren zeitwierige Nutznießer sie sind. Die Staatsgewalt ist ihr Wahlspruch, als wenn tausend Beispiele sie nicht lehrten, daß sie die Opfer derselben werden können, statt ihre Besitzer zu bleiben. Prüfen wir nun diesen zweiten Theil der Lehre des Herrn de la Mennais. Es wird keiner langen Ausfüh­ rungen bedürfen, um demselben sein Recht wrederfahren zu lassen. Er beginnt damit, einen falschen Grundsatz aufzu­ stellen, um noch falschere Folgen daraus herzuleiten, den Grundsatz nähmlich, daß man eine Vernunft, die nicht irren könne, eine unfehlbare Vernunft, ausfindig machen müsse. „Diese unfehlbare Vernunft nun, sagt ,,er uns, muß nothwendig die Vernunft eines jeden „einzelnen Menschen, oder die Vernunft aller Menschen, „die menschliche Vernunft, seyn. Die Vernunft eines ,,jeden einzelnen Menschen ist sie nicht, denn die Men„schen widersprechen einander, und nichts ist oft so „verschieden, und einander so entgegengesetzt, als ihre .»Meinungen; es ist folglich die Vernunft aller.-' (Theil H, S. 59.) Man begreift durchaus nicht, wie, da die Vernunft jedes Einzelnen diesen nur zum Irrthum

86

Die sittliche Beschaffenheit der Götter hat eben so wenig den vorausgesetzten Einfluß. Welcher führen kann, — und das ist, was der Verfasser, den ich widerlege, auf jeder Seite darzuthun sucht — die Ge­ sammtheit so vieler einzelnen Irrthümer die Wahrheit bilden sollte. Aber der Fehler liegt nicht in diesem Trugschlüsse allein, er liegt im ersten Grundsätze, in dem Puncte, von welchem jede Lehre ausgeht. Es ist nicht wahr, daß man eine unfehlbare Vernunft finden könne, eS ist nicht wahr, daß man sie finden müsse. Sie kann in dem unendlichen Wesen vorhanden seyn. Sie ist nicht in dem Menschen, nicht für den Menschen vorhanden. Mit eingeschränkten Geisteskräften begabt, wendet er diese Geisteskräfte bei jedem Gegenstände an, über den er zu urtheilen berufen, bei jeder Gelegenheit, wo er zu handeln gezwungen wird, und, wenn man mir diesen Ausdruck erlaubt, je nachdem er fie nöthig hat. Diese Geisteskraft ist eine fortschreitende, und eben weil sie fortschreitend ist, giebt es in dem, was sie entdeckt, nichts unwandelbares und nichts unfehlbares, und es ist keines Weges nothwendig, daß, was sich darin findet, unfehlbar und unwandelbar sey. Dasjenige, von dem die Natur erkannt hat, daß es unwandelbar seyn müsse, hat sie nicht in unsere Vernunft, sondern, das natürliche davon in unsere Sinne, das sittliche in unser Herz gelegt. Unsere Empfindungen sind, wenn dieselben Gegenstände auf unS einwirken, unter denselben Umständen immer dieselben. Unsere Gefühle, unsere Empfindnisse, sind im­ mer dieselben, wenn dieselben Fragen sich darbiethen. Alle- hingegen, was zum Bereiche des Urtheils gehört, ist, siinem Wesen nach, veränderlich, und kann bestritten

Art diese Beschaffenheit auch seyn möge, das zwi­

schen den Göttern und den Menschen bestehende werden. Die Logik giebt unauflösliche Trugschlüsse für und wider alle Behauptungen an die Hand. Mit der unfehlbaren Vernunft des menschlichen Ge­ schlechts ist 6 eben, wie mit der unumschränkten Ober­ gewalt des Volks. Eine Partei war der Meinung, daß es irgendwo eine unfehlbare Vernunft geben müsse, und legte sie der Staatsgewalt bei; eine andere Partei meinte, daß es irgendwo eine unumschränkte Gewalt geben müsse, und legte sie dem Volke bei; daher, im ersteren Falle, die Unduldsamkeit, und alle Schrecknisse der Verfolgungen wegen Meinungen; im andern die tyrannischen Gesetze und alle Ausschweifungen der Volks­ wuth. Die religwse Gewalt sagte: Was ich glaube, ist gut, weil ich es glaube; also müssen es Alle glauben; also sind diejenigen, welche eS läugnen, Verbrecher. DaS Bylk sagte: Was ich will, ist gerecht, weil ich es will; also müssen sich Alle danach richten; also habe ich ein Recht, alle diejenigen zu bestrafen, die sich mir wider­ setzen. Im Nahmen der unfehlbaren Vernunft hat man die Christen den wilden Thieren vorgeworfen, und die Juden zum Holzstoße geschleppt. Im Nahmen der un­ umschränkten Gewalt hat man Kerker gebaut für die Un­ schuld, und Scheiterhaufen errichtet für alle Lugenden. Es giebt keine unfehlbare Vernunft, eS giebt keine un­ umschränkte Gewalt. Die Staatsgewalt kann sich irren< wie jeder einzelne Mensch, und wenn sie ihre Lehren mit Gewalt aufdringen will, ist sie eben so strafbar, als der erste Einzelne ohne Beruf. Das Volk im Ganzen kann irren, wie im Einzelnen jeber Bürger, und wenn eS



88



Verhältniß bleibt darum immer dasselbe.

Ihre

persönlichen Verirrungen bleiben diesem Verhalt­ ungerechte Gesetze giebt; so ist sein Wille nicht recht­ mäßiger, als der Wille des von seinen Trabanten um­ gebenen Tyrannen, oder des Räubers, der in den Wäl­ dern haust. Der Grundsatz ist also falsch; aber die Folgerung, die man daraus herleiten will, ist noch weit abgeschmackter. „Die Staatsgewalt, heißt eö, ist die allgemeine Ver„nunft, durch Zeugniß oder das Wort verkündigt. (Theil II, Dorr. XCIII.) „Der Mensch muß sich ihr „unterwerfen, denn seine persönliche Vernunft irrt, „während die allgemeine nicht itzken kann." (Daselbst, S 270 ) Daraus folgt also, daß, wenn Zeugniß oder das Wort, mit Hülfe, gleichviel welcher Gebräuche, welcher Mei­ nungen, welcher Uebungen, verlangt werden, die per­ sönliche Vernunft sie zulasten und sie bekennen muß. „Nein, erwiedert man, das sind örtliche Irrthümer, „besonderer Aberglaube." (Daselbst, ©. CIIL) Aber um zu erkennen, ob dem so ist, muß die persönliche Ver­ nunft untersuchen, das heißt, sie muß sich von der all­ gemeinen Vernunft absondern, die jene Dinge, wenig­ stens dem Anscheine nach, in ihren Schutz nimmt. Sie sagen es selbst. „Die öffentliche Gewalt ist, der That „nach, überall vorhanden, wo sich irgend Lehrsätze, „irgend ein Cultus, irgend ein Gesetz findet." (Theil!, S. 179,) Sie setzen freilich hinzu: „DerUnter„schied liegt stets nur in der rechtmäßigen, und in der „angemaßten öffentlichen Gewalt." Aber wer soll un­ terscheiden, ob die öffentliche Gewalt eine angemaßte,

-

8g

-

nisse fremd, wie die Ungebundenheit der Kinige

an den Gesetzen gegen die Zügellosigkeiten der oder eine rechtmäßige ist? Die allgemeine Vernunft gewiß nicht; sie giebt sich nur durch Zeugniß, ober durch das Wort kund, und wird sich also nicht unter einer verfolgenden Religion, nicht unter einer unterdrücken­ den Regierung, kund geben. Es kann also nur von der persönlichen Vernunft geschehen; aber wie wird sie sich kund thun können? Indem sie sich abermahls von der allgemeinen Vernunft absondert? Aber haben Sie ihr das nicht ausdrücklich untersagt? Diese Wahrheiten sind so handgreiflich, daß der Ver­ fasser, den ich widerlege, sich gezwungen sieht, es einzugesiehen. „Jeder Mensch, den Umstände irgend einer Art „in die Unmöglichkeit versetzen sollten, die geistige Ge„sellschaft zu erkennen, würde nur gehalten seyn, der „ihm bekannten Gewalt, oder der Gewalt des mensch„lichen Geschlechts, zu gehorchen." (Theil II, S. 283.) Diese letztere betreffend, wie soll er sie entdecken? Sie haben Rousseau beschuldigt, daß er verlange, man solle jede Religion des Erdballs an Ort und Stelle studieren, um die wahre Religion zu unterscheiden; indem Sie auf diese Weise seinen Gedanken entstellten, bereiteten Sie sich einen leichten Sieg. Dieselbe Wallfahrt aber, die er, wie Sie ihm Schuld geben, vorgeschlagen haben soll, wird nöthig seyn, um uns desjenigen zu verge­ wisseren, was die allgemeine Vernunft, ober Macht und Gewalt des menschlichen Geschlechts sagen. Anlangend die von jedem erkannte Gewalt; so wird der Mericaner, kraft solcher bloßen, von ihm erkannten, Gewalt, Menschen würgen, der Babylonier sein Weib

Unterthanen nichts ändert.

In dem Heere des

Sohnes Philipp's würde der Macedonische Krieger, oder seine Töchter Preis geben. Verweigert es Einer oder Anderer — wird es dann nicht die persönliche Ver­ nunft seyn, die sich von der allgemeinen Vernunft ab­ sondert, und jenes Verbrechen begeht, das Ihnen so Hassenswerth erscheint, das Verbrechen, sich höher, als die öffentliche Gewalt, zu achten? Und müssen Sie nicht bekennen, baß der ausschwei­ fendste, der blutdürstigste Götzendienst seine allgemeine Herrschaft gehabt hat? „Diese allgemeine Herrschaft, „sagen Sie, gleicht in allen -Beziehungen der allgemn„nen Herrschaft des Lasters, das, da es niemahls Gesetz, „sondern die Verletzung der Gesetze war, durch seine Ver„vielfältigung niemahls Gewalt erlangt." (Theil III, S. 165.) „Eö gab im Götzendienste nichts allgemeines, „als das Vergessen des wahren Gottes." (Daselbst.) Aber wenn dieß Vergessen allgemein war; so vereinigte es ja alle Kennzeichen, die ©ie Ihrer angeblichen allge­ meinen Vernunft beilegen! Es gab sich durch Zeugniß und durch das Wort kund. Die Priester des Moloch hatten ihr Zeugniß; die Priester Cotytto's ihre Ueber­ lieferungen. Welches war also damahls die Zuflucht deS menschlichen Geschlechts? Die persönliche Vernunft, oder vielmehr die natürlichen Gefühle, die gegen den Betrug im Besitze der Gewalt Berufung einlegten. Sie mühen sich vergeblich ab in dem fehlerhaften Kreise, den Sie zur Kampfbahn gewählt haben. Sie stützen Ihre mehr oder minder gewandten Trugschlüsse ohne Erfolg auf so kindische Beweise, daß man erröthet, darauf zu antworten, oder auch nur, sie abzuschrelbcn.



Or­

der dcS Mordes überführt wäre, von Alewnder'n zum Tode verurtheilt worden seyn, obgleich sein Wenn Sie behaupten, ,,daß der Mensch nur in Kraft ,,des Glaubens Nahrungsmittel zu sich nehme,

daß

,,man dem Kinde sage: Iß, und das Kind esse, ohne

,, zu verlangen, daß man ihm beweise, daß es sterben ,,werde, wenn es nicht esse," (Theil II, S. 125.) fühlen Sie dann nicht, daß Sie, die Lächerlichkeit nicht mit in Betracht gezogen, gerade das Beispiel anführen, das

die Abgeschmacktheit Ihrer Behauptung am auffallend­ sten zeigt? Wahrlich, das Kind ißt weder, weil es

durch Gründe überzeugt worden, daß es essen muß, noch weil die Ueberlieferung es ihm offenbart hat. Es ißt, weil es die Empfindung des Hungers hat.

Indem ich nun Alles zusammen fasse, und Herrn de la MennaiS einräume, daß die Religion entweder

Vernunftgründe, oder das Gefühl, oder die öffentliche

Gewalt zur Grundlage haben muß, behaupte ich, daß

Dernunftgründe, deren Kreis durchaus körperlich (mate­ riell) ist, uns nur zum Skeptizism bei Dingen führen,

die nicht körperlich sind; daß die Gewalt uns allen

Berechnungen der Tyrannei, der Begierde und des Vor­ theils unvertheidigt überliefern, und daß allein das Ge­

fühl, freilich, wie alle unsere schwachen und beschränkten Seelenkräfte, dem Irrthume unterworfen, gleichwohl stets etwas bewahren wird, das sich gegen dergleichen Irrthümer erhebt, wenn sie unheilbringend sind.

Und bemerken Sie, daß sie am häufigsten nur dann

-u fürchten find, wenn sie den Kreis des reinen Gefühls verlassen, um sich gegebenen Formen anzuschließen, die

ihnen eine gesetzliche Stütze leihen.

Sich selbst über-

Richter der Mörder de- KlitoS war.

Gleich dm

Großen dieser Erde haben die Gitter eine -ffentlassen, und dieser Stütze beraubt, wird daS Gefühl,

wenn es sich verirrt, durch menschliche Gesetze im Jaume

gehalten. Nehmen Sie daS schrecklichste Berbrechen, welches daS religiöse Gefühl in feinem Wahne jemahls veranlaßt hat:

Rasende haben unschuldige Geschöpfe getödtet, um sie in den Himmel zu schicken, und um, durch öffentliche Büßung und durch den Tod auf dem Richtplatze gerei­ nigt, selbst in denselben einzugehen.

AVer nach einem

einzigen Beispiele dieses Wahnsinns, hat man Maßregeln ergriffen, um die Wiederhohlung eines solchen Frevelzu verhüthep, und daS Unheil hat aufgehört.

Was hat

man gegen die Mörder der Bartholomäus-Nacht, gegen

die Henker der Dragonaden ♦) gethan?

Und nennt man

nicht die Bartholomäus-Nacht und die Dragonaden eine vielleicht heilsame Strenge? Das ist der Unterschied -wischen den Mißbräuchen beS religiösen Gefühls, und den Mißbräuchen der Formen, worin die Gewalt eS oft

hüllt, um sich seiner zu bedienen.

Wenn Sie jedoch ihre Anklagen weniger übertreiben, sie nicht mehr aus einer kleinen Anzahl, glücklicher Weise

sehr seltener, Vorgänge schöpfen, und sich auf den Satz beschränken, daß das religiöse Gefühl den Menschen zu demjenigen verleite, was man Aberglauben nennt; so will ich das einräumen; aber ist dieser Aberglaube so

*) Dragoner-Bekehrungen, d. i. Bekehrungen, die Lud­ wig XIV, nach der Aufhebung des EdictS von Nantes, durch die Säbel der Dragoner bei den Hugonotten zu erwirken suchte. A, d. H.



93



liche und eine häusliche Weise. Oeffentlich sind sie die Stützen des Sittengesetzes, in ihrem Hause unselig und unheilbringend? Merkwürdiger Weise lst'S nicht der Aberglaube, welchen Sie fürchten. Sie nehmen ihn wohlwollend auf, wenn Sie ihn in Reihe und Glied stellen können. Sie hassen ihn nur, wenn er ungeregelt und unabhängig erscheint, und gleichwohl ist er gerade dann nicht nur unschuldig, sondern oft wohlthuend und tröstend. Giebt es wohl eine süßere und harmlosere Vorstellung, als die Vorstellung, daß die Gebethe der Lebenden die Strafen der Verstorbenen abkürzen können? Nur indem man diese Hoffnung in eine förmliche Ver­ pflichtung verwandelte, machte man daraus im fünf­ zehnten Jahrhunderte eine Quelle des Mißbrauchs für die Gläubigen, und eine Quelle der Verfolgung für die Ungläubigen. Dem persönlichen Gefühle des Einzelnen überlassen, wäre sie nur eine fromme Gemeinschaft be­ freundeter Seelen geblieben, die ein hartes Geschick ge­ trennt hat. — Wag ist natürlicher, als der Wunsch, irgend einen Zufluchtsort zu suchen, um sich daselbst dem Geräusche der Welt zu entziehen, den Versuchungen des Lasters zu entfliehen, und sich durch ein Leben ohne Flecken auf einen Lod ohne Schrecken vorzubereiten? Wenn Ihr aber diese religiösen Zufluchtsörter mit Mau­ ern umzieht, wenn die öffentliche Gewalt ihre Schlösser, Riegel und Gitter verzeihlicher Sehnsucht vorschiebt, die vielleicht weniger Vollkommenheit und mehr Genuß wünschte; so macht Ihr jene Zufluchtsörter zu Kerkern. — Was giebt es rührenderes, alS das Bedürfniß, seine Fehler zu gestehen, einem verehrten Führer das Geheim­ niß seiner Schwächen zu vertrauen, und sogar Bußen



94



folgen sie nur ihren Leidenschaften; aber sie haben mit den Menschen nur nach ihrer öffentlichen Weise zu thun; x) an diese schließt das religiöse Gefühl sich ausschließlich an. Da es gern schätzt und hoch­ achtet, was es verehrt; so wirst eS einen Schleier zu begehren, um sie zu sühnen? Aber wenn Ihr dieß als Pflicht auferlegt, so schadet Ihr dem Verdienste; Ihr erzwingt, was freiwillig seyn mußte; Ihr öffnet grausamen Kränkungen und Bedrückungen die Thür. Die freiwillige Beichte tröstete den schuldigen Lebenden, die erzwungene wird die Marter der mit dem Tode Ringenden. Mißtrauet doch der Natur des Menschen nicht so sehr. Ihr sagt es, sie ist Gottes Werk. Sie hat sinken kön­ nen; so viele Dinge arbeiten täglich daran, sie zu er­ niedrigen.' Aber sie hat nicht alle Spuren ihrer göttli­ chen Abstammung verloren. Das Gefühl verbleibt ihr. Ersticket es nicht durch kleinliHe Gesetze. Verfolgt eS

nicht mit zerschmetterndem Bannstrahle! Der Mensch ist nicht, was Ihr behauptet. Es ist nicht wahr, „daß „er Gefallen am Bösen finde." ES ist nicht wahr, „daß, für den Himmel geboren, er die Erde suche, wie „ein verschlagener Reisende fein Vaterland." (Theil IV, S. 37) i) Eben weil man diese Wahrheit nie erkannte, täuschte man sich unaufhörlich in den Wirkungen, welche die aus­ schweifende Götterlehre der alten Völker haben mußte. Nach dem, was man über jene Götterlehre geschrieben hat, möchte man sagen, daß die Götter alle Handlungen der Sterblichen billigten, die sie selbst begingen.



95



über alles, waS seiner Achtung und Hochschatzung Eintrag thun könnte.

Sobald sich der Mensch aber von der Form trennt, die er auf solche Weise durch seine kräftige Mitwirkung reinigte, nimmt, wiewohl unbemerkt, alles eine andere Gestalt an.

Die verführerischen

Sagen, die er weithin verwies, oder so deutete,

daß er ihre Folgen vereitelte, kommen wieder zum Vorscheine,

und

vergrößern

mit ihrem

getilgten Antheile die Verderbniß,

bereits

die sich

von

nun an auf ihr Beispiel beruft, und man möchte

behaupten, daß, je weniger, kraft eines sonderba­ ren Zusammenhanges, der Mensch an seine Götter

glaube, desto mehr ahme er ihnen nach.

96

Viertes Cqpitel. Daß dieser Unterschied allein erkläre, warum mehrere religiöse Formen Fein­ de der Freiheit zu seyn scheinen, wäh­ rend das religiöse Gefühl ihr immer günstig ist.

Vs giebt eine andere,

noch schwerer zu lösende

Aufgabe, wobei der Irrthum gleichwohl von größter

Gefahr ist. Wenn Ihr die Grundvorschriften aller Reli­

gionen genau erforschet; so werdet Ihr sie immer mit den ausgedehntesten Grundsätzen von Freiheit,

man könnte sagen, mit so ausgedehnten Grund­

sätzen von Freiheit in Uebereinstimmung finden,

daß die Anwendung derselben in unsern politischen Vereinigungen bis auf den heutigen Tag unmög­ lich zu seyn schien.

97 Aber überblickt die Geschichte der Religionen,

und Ihr werdet oft finden, daß die Gewalt, welche

sie schufen, mit den öffentlichen Gewalten der Erde zur Vernichtung der Freiheit einstimmig handelte. Indien, Aethiopien, Aegypten,

zeigen uns das

menschliche Geschlecht von den Priestern unterjocht, gezehntet, und gleichsam vergittert.

Einige Ab­

schnitte unserer neueren Zeiten lassen uns in etwas

milderen Zügen

ein, gleichwohl wenig verschie­

denes, Schauspiel erblicken,

und noch ohnlängst

hatte der vollständigste Despotism, den wir nur

gekannt haben, sich der Religion als einer gefäl­ ligen und eifrigen HülfSmacht bemächtigt.

Wäh­

rend einer vierzehnjährigen Knechtschaft war die Religion nicht mehr jene göttliche Macht, welche

den Himmel verläßt, um die Erde in Staunen zu setzen und zu »erneuern; als demüthige Die. nerinn, als schüchternes Werkzeug, warf sie sich der Gewalt zu Füßen, fragte nach ihren Befehlen,

spähete ängstlich nach ihren Mienen und Bewegun,

gen, und tauschte Verachtung gegen Schmeichelei

ein.

Sie wagte es nicht, die alten Tempelhallen

von der Sprache des Muths und des Gewissen­ ertönen zu lassen; Erster Banb.

sie stammelte am Fuße ihrer

J



98



unterjochten Altäre verstümmelte Worte, und weit

entfernt, zu den Großen dieser Welt von dem stren­ gen Gotte zu reden, der die Könige richtet, forschte

sie vielmehr erschrocken in dm übermüthigen Blicken ihres Herrn, wie sie von seinem Gotte reden dürfe; noch glücklich genug, wäre sie nur nicht gezwungen

gewesen,

im Nahmen

einer Lehre des Friedens

Unterjochung und Krieg zu befehlen, ihre Predigten in Kundmachungen zu verwandeln, ihre erhabenen Vorschriften mit den Heuchelreden der Staatskunst

zu beflecken, dem Himmel für die Erfolge der Un­

gerechtigkeiten zu danken, und den göttlichen Wil­ len zu lästern, indem er als Mitschuldiger genannt

wird.

Diese Widersprüche zwischen Lehre und Anwen­ dung des größten Theils der religiösen Lehrgebäude

haben zwei Meinungen Eingang verschafft,

die

höchst unglückliche Folgen nach sich ziehen können, und beide gleich falsch sind; Ein Mahl, daß die

Religion eine natürliche Bundesgenossinn der Ge­ waltherrschaft, und zweitens, daß der Mangel des

religiösen Gefühls der Freiheit günstig sey. Nur der von mir zwischen dem religiösen Ge­

fühle und den religiösen Formen aufgestellte Unter-



99



schied kann uns von diesem doppelten Borurtheile befreien.

Wenn wir das religiöse Gefühl an sich, und unabhängig von allen Formen, die es annehmen

kann, betrachten; so ist offenbar, daß es durchaus

keinen Grundsatz, keinen Grundstoff von Sclaverei enthält.

Freiheit,

Gleichheit,

Gerechtigkeit,

die

nichts anders, als Freiheit ist, sind ihm vielmehr

seine Lieblingsbegriffe.

Geschöpfe,

die aus den

Händen eines Gottes hervorgehen, dessen Güte der

Macht die Richtung giebt, die Ein Erdenloos mit einander theilen, mit einerlei sittlichen Kräften aus­

gerüstet sind, müssen auch einerlei Rechte genießen. Wenn wir alle Zeiträume durchforschen,

in

denen das religiöse Gefühl den Sieg davon getra­

gen hat, so finden wir immer, daß die Freiheit

seine Gefährtinn -war. Mitten unter der allgemeinen Knechtschaft, unter Kaisern,

welche die Trunkenheit der unbeschränk­

ten Gewalt sogar — unter ihre Sclaven

und das ist viel gesggt — erniedrigt

hatte,

riefen die

ersten Christen die hohen Lehren von Gleichheit und Verbrüderung aller Menschen wieder ins Leben. z)

i) Die Heiden schalten sie schlechte Bürger, empörerische 7-

10O

Kein Volk war unabhängiger, demokratischer, könnt' ich unbedenklich sagen, als die Araber, so lange

der Islam in feinem vollen Eifer bestand. *)

Der

Protestantism hat Deutschland, unter Carl V., vor

allgemeiner Gewaltherrschaft bewahrt; England ver­

dankt ihm seine gegenwärtige Verfassung. Der Mangel deS religiösen Gefühls begünstigt

dahingegen alle Ansprüche der Tyrannei.

Wenn

daS LooS des Menschengeschlechtes dem Ungefähr

eines körperlichen und blinden Verhängnisses über­

liefert ist, ist dann zu verwundern, daß es ost von Unterthanen. Kor holt, Pagan. obtrectator, Seite 112/ 525. Quibiis, sagt Voplscus, indem er von den Christen spricht, praesentia seznper tempora cum enormi libertate disphcent. Bei diesem Ausdrucke deS Dopiscus ist zu bemerken: Er setzt daS Wort semper hinzu, um anzudeuten, daß sich die Christen, aus ge­ wohnter Unzufriedenheit mit der Staatsgewalt, gegen die Verbrechen und gegen die Gewaltherrschaft erhoben, welche die bekannte Welt niederdrückten. Unter der Ty­ rannei stellt man den Einspruch freier, redlicher Seelen, stet- als die Folge einer bösen Neigung dar, das Be­ stehende zu tadeln, und es ist sehr wahrscheinlich, daß Nero's Höflinge von denen, welche die Anzündung Rom'S tadelten, sagten: Diese Menschen sind nie zufn'eden. r) Mahomet macht den Christen km 9. Kapitel deS Koran den Vorwurf, den Priestern und Mönchen Unterthan zu seyn, und demnach andere Herren zu haben, alS Gott.

101

den unfähigsten, grausamsten oder niederträchtigsten

Sterblichen abhängt?

Wenn der Lohn der Tugend

und die Strafen des Verbrechens nur leere Traum­ bilder einer schwachen und furchtsamen Einbildungs­

kraft sind, wozu dann die Klage, daß das Verbre­ chen belohnt, die Tugend geächtet werde?

Wenn

das Leben, im Grunde, nur eine seltsame Erschei­

nung, ohne Zukunft, und so kurz ist,

wie ohne Vergangenheit,

daß man es kaum für wirklich

halten sollte, warum sollte man dann für Grund, sätze ein Opfer werden, wenigstens entfernt ist?

deren Anwendung — Besser gethan ist's, von

jeder Stunde Gewinnst zu ziehen, da wir der fol­ genden nicht gewiß sind; in jeder Freude sich zu

berauschen, so lange die Freude möglich ist, und, die Augen vor dem unvermeidlichen Abgrunde schlie­

ßend, zu kriechen und zu dienen, statt zu kämpfen;

sich, wo möglich, zum.Herrn zu machen, oder

Sclav zu seyn, wenn die Herrschaft schon von An­ dern gewonnen ist; Angeber zu seyn, um nicht selbst angegeben, Henker, um nicht Opfer zu werden. —

Der Zeitpunct, in welchem das religiöse Gefühl aus der Seele der Menschen schwindet, ist stets dem Zeitpuncte

ihrer Unterjochung

nahe.

Religiöse

103

Völker haben Sclaven werden können; aber kein

ungläubiges Volk blieb frei.

Die Freiheit kann

nur durch Uneigennützigkeit gegründet und erhalten werden, und jeder Sittenlehre, die nicht mit dem

religiösen Gefühle Gemeinschaft hat, kann nur die

Berechnung zum Grunde liegen.

Um die Freiheit

zu vertheidigen, muß man sein Leben zum Opfer

darzubringen wissen, und waS giebt es Höheres,

als daS Leben, für denjenigen, der über das Leben

hinaus nur Vernichtung erblickt?

Wenn nun

Gewaltherrschaft und Mangel des religiösen Gefühls

zusammen treffen, wirft das Menschengeschlecht sich in den Staub, überall, wo die Gewalt sich zeigt.

Diejenigen Menschen, welche sich aufgeklärt nennen,

suchen in der Nichtachtung alles dessen, was mit

den religiösen Vorstellungen Verbindung hat, eine jämmerliche Entschädigung ihrer Knechtschaft. Man sollte auf dett Gedanken gerathen, daß die Gewiß,

heit, eS gebe kein anderes Leben, ihnen für die Schande deS gegenwärtigen zum Troste gereiche.

Glaubt nicht, daß, was Ihr Aufklärung nennt,

dabei gewinne.

Wenn der Glaubensrichter (In­

quisitor) die Geißel schwingt, kehrt der ungläubige Haufen auf den Knien an den Fuß der Altäre

loj zurück, und der Gottesläugner greift, beim Heraustreten aus den Tempeln, begierig nach dem Lohne

£) des beweinenswürdigen Zustan­

der Heuchelei.

Von der Macht

des eines so tief gesunkenen Volks!

begehrt es nur Reichthümer, von dem Gesetze nur Straflosigkeit;

es trennt die That von dem Worte,

das Wort von dem Gedanken.

Es hält sich für

berechtigt, seine Meinung zu verrathen, wenn es

sich nur, selbst gegen die Lauen, seiner doppelten Zweizüngigkeit rühmen kann; Gewalt ist ihm die

Rechtfertigung alles dessen, was dazu hilft, ihm zu gefallen.

Schmeichelei, Verläumdung, Nieder­

trächtigkeit, wollen für unschuldig gelten, weil sie vorgeben, befohlen zu seyn. Indem ein jeder Zwang zu erleiden behauptet, hält sich jeder auch für los­

gesprochen.

Der Muth, vom Himmel zu großher­

zigem Widerstande verliehen, macht sich zum Voll­

strecker unwürdiger Machtgebothe.

Man wagt sein

Leben, nicht um die Unterdrücker zu stürzen, son­ dern um die Opfer zu zertreten.

Man kämpft mit

Heldenmuthe für eine Sache, die man verachtet.

Die entehrte Rede fliegt von Munde zu Munde,

ein müssiges, lästiges Getöne, das, weil es aus nicht Einer reinen Quelle kömmt,

und nirgends



104



die Ueberzeugung hinbringt, der Wahrheit und der Gerechtigkeit auch nicht Einen unbesudelten Aus»

druck übrig laßt. Der Geist, daS unwürdigste aller Werkzeuge, wenn er sich vom Gewissen geschieden hat, der Geist, noch stolz auf feine nichtswürdige Geschmeidigkeit,

bewegt sich mit zierlicher Gewandtheit mitten in dieser allgemeinen Entwürdigung. Man lacht über

seine eigene Sklaverei, seine eigene Verderbniß, ohne darum weniger Sclave, ohne darum weniger

verderbt zu seyn; und dieser Scherz, ohne Maß und ohne Ziel, der Schwindel eines Bastardgeschlechtes,

ist selbst das lächerliche Mahlzeichen einer unheil­

baren Entartung. Wenn ein Volk lange von einer an sich selbst

fehlerhaften oder durch ihre Diener entstellten Reli­

gion litt, können die Freunde der Freiheit Ungläu­ bige werden, und diese Ungläubigen sind dann die

ausgezeichnetsten Menschen

eines solchen Volks.

Wenn eine drückende Regierung gewaltthätig den

Aberglauben auftecht erhielt, der ihre Ungerechtig­

keiten unterstützte, können die Freunde der Freiheit Ungläubige werden, und diese Ungläubigen sind dann Helden und Märtyrer; aber ihr« Tugenden

105

selbst sind Errinnerungen einer andern Lehre.

Sie

sind eine edle Folgewidrigkeit in ihrem Lehrgebäude, ein Erbtheil des religiösen Gefühls, dem sie ihre

innere Stärke verdanken.

In Wahrheit, ist dieses

Gefühl nicht die Freistätte, wo sich, erhaben über

die Bewegung der Zeit, und geschützt vor der Nähe

des Lasters,

die Vorstellungen vereinen,

welche

die Gottesverehrung der tugendhaften Menschen auf Erden bilden?

Ist es nicht der Mittelpunct, wo

die Ueberlieferung von dem, was gut, groß und

schön ist, mitten in der Erniedrigung und der Un­ gerechtigkeit der Jahrhunderte aufbewahrt bleibt? Giebt es der Tugend nicht Antwort in ihrer eigenen

Sprache, wenn die Sprache aller sie Umgebenden

die Sprache der Niederträchtigkeit und der Verwor­ fenheit ist? Und wenn endlich Freunde der Freiheit

diesen Trost und diese Hoffnung verloren haben,

sehen wir ihr Gemüth stets sich bestreben, die ihm entsinkende Stütze wiederzuergreifen.

Cassius, der

in den Grundsätzen Epikur's erzogen war, und mit ihm jedes Daseyn nach diesem Leben verwarf, rief

in der Hitze des Kampfs die Manen des großen

Pompejus an; und in seinen letzten Unterredungen mit Brutus sagte er: „Ja, es wäre schön, wenn



io6

—•

„es Schutzgeister gäbe, die an den Angelegenheiten

„der Menschen Antheil nähmen; es wäre schön, „wenn wir nicht bloß durch unser Fußvolk und „durch unsere Flotte, sondern auch durch den Bei-

„stand der Unsterblichen, in so edler und heiliger „Sache stark wären." *)

Von solcher Beschaffenheit ist die unveränder­ liche Richtung des religiösen Gefühls.

Zwischen

ihm und der Freiheit, zwischen dem Mangel dieses

Gefühls und der Tyrannei, bestehet eine gleiche Natur, ein gleichartiger Grundsatz.

Doch ein Grundstoff entgegengesetzter Beschaf­ fenheit schleicht sich zuweilen in die religiösen For­

men ein.

Eine geistige,

aus dem Bedürfnisse,

regelmäßige Verbindungen zwischen der Erde und

dem Himmel anzuknüpfen,

entstandene Gewalt,

kann sich mit der weltlichen Macht verbinden, und

die Religion, welche Freiheit und Gleichheit Aller verkündigt hatte,

wird nur zu oft die Bunds­

genossinn der Tyrannei einzelner Menschen. Bemerkt jedoch wohl: Auch dann sind es nicht religiöse Menschen, die jenen Vertrag unterzeichnen.

Die Mitglieder der Priesterschasten, die in Aegypten

i) PI ut ar eh. in Bruto.



107



das Volk tyrannisierten, oder in andern Ländern,

in Persien zum Beispiele,

der weltlichen Unter­

drückung dm Arm liehen, betrachteten den Gottes­

dienst, den sie mißbrauchten, nicht als etwas gött­ liches.

Das religiöse Gefühl hatte mit diesem

strafbaren Mißbrauche nichts zu thun.

Man sucht

nicht Vortheile von Dingen, die man für göttlich

hält.

Um demnach die obige Frage, wie alle übrigen, zu lösen, müssen wir abermahls den Unterschied

zwischen dem religiösen Gefühle und den religiösen Formen anerkennen. Weit entfernt, an dem Uebel,

das gewisse

Gottesverehrungen über den Menschen bringen kön­

nen, Schuld zu seyn, ist das religiöse Gefühl viel­ mehr das Opfer derselben;

weit entfernt, jene

unterdrückenden Formen zu bestätigen, verwirft es sie vielmehr, und verwahrt sich gegen dieselben.



io8

Fünfte- Capitel.

Daß der Sieg eines neu entstehenden Glaubens über den alten den Unter­ schied beweise, der zwischen dem reli­ giösen Gefühle und den religiösen Formen vorhanden ist.

Vndlich, — ich frage jeden Leser, der aufrichtig die Wahrheit sucht, — endlich, wie will man den

unermeßlichen Vortheil, den die neuen Formen in

ihrem Kampfe mit den durch die Zeit abgenutzten davon tragen,

erklären,

wenn man nicht den

Unterschied zwischen dem religiösen Gefühle und den religiösen Formen zugiebt?

Kehren wir nochmahls zu dem Zeitpuncte zu­

rück, der uns schon mehrere Beispiele an die Hand gegeben hat.

Zwei Religionen machen sich den

Erdkreis streitig.;' eine von ihnen wird von der Staatsgewalt unterstützt; sie hat ihre Stärke in



log



einer Dauer von sechs Jahrhunderten, oder besser

vielmehr, ihr Ursprung verliert sich in die Nacht

der Borzeit.

Dichter haben sie verschönert, Welt­

weife sie gereinigt, sie hat Alles weit von sich

entfernt, was die Vernunft erschrecken konnte.

Es ist die Religion aller aufgeklärten Nationen,

der Gottesdienst des herrschenden Volks. Die andere genießt weder den Schutz

der

öffentlichen Gewalt, noch den Beistand alter Ueber­ lieferungen;

die Dichtkunst hat ihr keine Aus­

schmückungen zu Theil werden lassen; sie hat nicht

das glänzende Gefolge der Weltweisheit; sie hat kein Bündniß geschloffen mit den Achtung gebie­ thenden Tiefen des Uebersinnlichcn; sie entstand in

i) Diese Behauptung widerspricht dem Gemählde, da» ich vom Römischen Aberglauben zur Zeit des Verfalls der Vielgötterei entwarf, in keinem Stücke. Jener AberKlaube hatte mit der öffentlichen oder Staats-Religion nichts gemein; er erschien vielmehr, um an ihre Stelle zu treten. Die Vielgötterei hatte darum nicht minder alle Verbesserungen der Weltweisheit empfangen, und war, ohne allen Vergleich, der Lehre nach, weit besser, al» der Glaube der früheren Jahrhunderte. Aber dl« Ueberzeugung war nicht mehr bei demselben, und wenn da« ist, so gleichen all« Verbesserungen Zweigen, die von einem grünen Baume genommen sind, und thörigter Weise auf einen todten Stamm gesetzt werden sollen.

1 IO

einem unbekannten Winkel der Erde, unter einem, allen übrigen Menschen verhaßten,

Volke,

das

selbst in seinem verachteten Untergange der Gegen­ stand einer allgemeinen Geringschätzung war. Wer hätte nicht glauben sollen, daß die erstere ohne Mühe

den Sieg

gewinnen müsse?

Alle

aufgeklärte Menschen theilen diese Meinung; alle

lächeln, als ein dumpfes und verwirrtes Gerücht ihnen von dem Daseyn einiger zerstreuten, unbe­

kanntes und verfolgten Schwärmer Nachricht giebt.

Woher kömmt es, daß das Ereigniß dennoch diese stolzen Vorherverkündigungen täuscht?

Weil

das religiöse Gefühl, von der alten Form Einmahl geschieden, sich in die neue geflüchtet hat. warum?

Und

Weil die alte Form, ungeachtet der Rei­

nigungen, denen man sie gern unterzogen haben würde, es an die Zeiten erinnert, in der es sie,

ihrer Gebrechen und Unvollkommenheiten müde, verworfen hat.

Der Nahme seiner Götter führt

Errinnerungen der Rohheit und der Unwissenheit

mit sich.

Durch menschliche Forschung in jedem jedes

ReitzeS beraubt,

und gleichsam entheiligt worden.

Die neue Form

Sinne zerstückt,

ist

sie

hingegen ist noch rein von jeder widrigen Errin-

111

nerung, Gottes,

Der Nahme

ihres Stifters

und

des

den er lehrt, errinmrt an keinen Zeit­

punct, in welchem sie das religiöse Gefühl beleidigt

hätte.

Es weiht sich ihr also mit Begeisterung,

begiebt sich unter ihr Panier, und spricht durch den Mund ihrer Anhänger.

Sie verdanken ihr

die starke und feste Zuversicht, die in ihrer Sprache mit der Furcht und der Bangigkeit in der Sprache

ihrer Gegner einen großen Abstich bildet.

Die

Apostel der neuen Form wandern von Wundern

umgeben, die einzig dadurch unbestreitbar bleiben, daß diejenigen, die sie bekräftigen, voll unerschüt­

terlicher Ueberzeugung sind.

Die Vertheidiger der

alten Form stützen sich verlegen auf Wunder, an denen sie selbst zweifeln, verbleichteAbbilder un­

nachahmbarer Muster.

Jene bedienen sich ohne

Furcht der Vernunft und des Glaubens, der Ver­

nunft: gegen ihre Feinde, des Glaubens: für ihre

eigene Lehre; sie besorgen nicht, durch den Gebrauch von Vernunftgründen und Vernunftschlüssen eine Sache zu gefährden, die nicht gefährdet werden kann;

ihre Angriffswaffe ist die Prüfung, ihr Schild eine

innige-und feste Ueberzeugung.

Diese schwanken

zwischen der Vernunft, die sie bedroht, und einer

112 Begeisterung, die vor der Begeisterung der Gegner

Der Skeptizism, den sie gegen ihre

erschrickt.

Gegner richten wollen, wirkt auf sie selbst zurück, und gerade, weil sie nicht fest in ihrem Glauben

sind, sind sie schüchtern in ihren Ableugnungen.

Ihre mehr

oder weniger geschickten Wortführer

werden durch Einräumungen, durch entrissene oder

widerrufene Geständnisse,

durch Einflüsterungen,

welche zu erkennen geben, daß die Religion, welche

sie empfehlen, nur eine Stütze für die Schwachen sey, deren die Starken enthoben seyn könnten, in

die Enge getrieben.

Sie nun zHlen sich zu den

Starken, und man ist ein

schlechter Missionar,

wenn man sich über sein eigenes Glaubensbekennt­

niß stellt. Man könnte glauben, daß sie mehr Eifer be­

sitzen,

weil sie einen Beweggrund mehr haben.

Sie werden durch ihren Vortheil angefeuert, wäh,

rend die Märtyrer der aufkommenden Meinung

noch weit von dem Augenblicke entfernt sind, wo der Sieg

derselben ihren Anhängern persönliche

Vortheile verschaffen wird.

Aber die Uneigen­

nützigkeit übt die erste und größte Gewalt, und wenn man gewinnen, überreden, überzeugen muß.

115 wird die Begierde nach Bortheil schwächer,

statt

stärker zu werden. Bemerkt, wie alle Begriffe sich um das reli­

giöse Gefühl her ordnen, und, auf das geringste Zeichen

desselben aufmerksam,

Dienste

bestimmen

Glauben,

und

sich nach seinem

umbilden.

Im

alten

den die Philosophie unterjocht hatte,

war der Mensch bis zum unbemerklichen Sonnen­ unermeßlichen Weltall herabgesetzt

stäubchen

im

worden.

Die neue Form giebt ihm seinen Platz

als Mittelpunct einer Welt zurück, seinetwillen geschaffen wurde.

und Zweck Gottes. vielleicht wahrer;

die nur um

Er ist zugleich Werk

Der philosophische Begriff ist aber

wie

viel

mehr Wärme

und Leben hat der andere; und in gewisser Hin­

sicht, hat er auch seine höhere und erhabenere

Wahrheit.

Wenn man die G.rvße darin setzt,

waS sie in der That bestimmt; so ist mehr Größe

in einem kühnen Gedanken, in einer tiefen Ge­ müthsbewegung, in einer That der Hingebung,

als in der gesammten Einrichtung der Himmels­

körper.

Nehmt auch wahr, wie die veraltete Form stets Vergleiche in Vorschlag bringt; aber diese AnerErstrr Band.

8

— biethungen werden Merkwürdig!

114



verächtlich zurück gewiesen.

Will man nur dem äußeren An­

scheine Glauben beimessen, so ist es die Macht, welche Vergleich, und die Schwäche, welche Kampf will. Die wahre Macht ist nähmlich ganz und gar

auf der Seite der anscheinenden Schwäche.

Die

alte Form ist todt, sie verlangt nur nach der Ruhe der Todten.

Die neue Form will kämpfen und

siegen, weil sie, voll religiösen Gefühls, der Seele

das Leben zurückgegeben, Gräber wieder erweckt hat.

und den Staub der

115

Sechstes Capitel. Bon der Art und Weise, wie man die

Religion bis jetzt

betrachtete.

«öSenn wir die eben gelesenen Bemerkungen nun auf die Art und Weise anwenden, wie man bis

jetzt über die Religion geschrieben hat;

man sich nicht sehr wundern,

so wird

daß beinahe Alle,

die sich bis jetzt mit diesem großen und umfas­

senden

Gegenstände

beschäftigen

falschen Weg eingeschlagen haben.

wollten,

einen

Drei Parteien

entstanden, die, weil sie die Natur und den fort­

schreitenden Gang

des

religiösen Gefühls nicht

aufgefaßt und richtig erkannt hatten, alle drei in grobe Irrthümer sielen. J)

i) Dadurch, daß ich jene drei Parteien, von denen ich reden will, in Eine Reihe stelle, und den Beweggrund als Irrthum bezeichne, der die erste Partei vermochte, 8.

116 Die erste Partei hielt dafür, daß die Religion

dem auf seine eigenen Kräfte und seine eigenen Einsichten

beschränkten

Menschen

unzugänglich,

und ihm von dem höchsten Wesen auf eine gege­ bene und unveränderliche Weise mitgetheilt worden sey; daß sie, durch eine von dem menschlichen Geiste

abgeänderte und anders bestimmte Weise, nur ver­

lieren könne; daß, wenn der Lauf der Zeiten sie

auf eine solche Weise abgeändert und anders be­ stimmt habe, sie, so viel nur immer möglich sey, zu ihrem ersten Zustande und ihrer ursprünglichen

Reinheit zurückgebracht werden müsse, und sagte daher, daß ein erschütterter Glaube um jeden Preis wieder befestigt werden müsse.

Aber sie untersuchte

nicht, ob dieß Unternehmen in der Macht irgend

einet Gewalt stehe.

Die Geschichte zeigt uns alle

angewandte Vorsichtsmaßregeln als unnütz, Strenge als unzulänglich.

alle

Der vergiftete Sokra-

mit Gewalt aufrecht zu erhalten, was zusammen stürzte, habe ich vielleicht einen zu gelinden Ausdruck-gebraucht. Ost war es nicht Irrthum, sondern Berechnung. Die Priester der Vielgötterei in ihrem Verfalle mußten recht gut, daß sie eben nicht zam Siege der Wahrheit thätig waren, wenn sie, unter dem Vorwande, die Religion ihrer Väter zu erhalten, die Christen zu Märtyrern machten.



117



tes, der flüchtige Aristoteles, der geachtete Diagoras,

hielten den Unglauben Athen's nicht auf.

Die aus

Rom verbannte Griechische Philosophie kehrte bald als Siegerinn dahin zurück,

und die Strenge

Ludwig's xiv. in seinem hohen Alter half nur dazu, das ungeduldige Frankreich auf den offen; barsten und dreistesten Unglauben vorzubereiten.

Mit Recht über die Uebel erschrocken, welche Glaubenswuth und Unduldsamkeit erzeugen, sah die zweite Partei in der Religion nur einen, bald gröberen, bald studierteren, bald körperlichen, bald

abgezogenen, aber stets mehr oder weniger Un­ heil bringenden Irrthum.

Sie zog daraus den

Schluß, daß es wünschenswerth seyn dürfte, das

Sittengesetz aus eine rein irdische Grundlage zu bauen, und alles religiöse Gefühl auszurotten. Hatte sie aber die Erfahrung zu Rathe gezogen; so würde die Religion ihr erschienen seyn, die

stets in dem Augenblicke wiedergebohren wird,

in welchem die Aufklärung sich damit blähte,

sie erstickt

zu haben.

Juvenal

schrieb,

daß

nur die Kinder an ein anderes Leben glaubten.

Indeß schlich eine unerkannte Secte sich in das

Reich ein, welche den Blick unvcrrückt auf die



118



künftige Welt richtete, und die gegenwärtige sollte

ihre Beute werden.

Und in der That, wenn die

Religion für uns nothwendig, wenn ein Vermögen in uns vorhanden ist, welches geübt seyn

will, wenn unsere Einbildungskraft ein Bedürfniß fühlt, die Gränzen, die uns einfchließen, zu über­

schreiten,

wenn dem leidenden und beunruhigten

Theile von uns eine Welt Noth thut, worüber sie verfügen, und die sie nach Gefallen ausschmücken kann; so würde es sehr unnütz seyn, der Religion

ihre Nachtheile und ihre Gefahren vorzuwerfen. Die Nothwendigkeit wird über die Klugheit immer

den Sieg davon tragen.

Wer es auf dem festen

Lande nicht aushalten kann,

muß eS mit den

Wellen aufnehmen, wie voller Klippen das Meer auch seyn möge.

Die dritte Partei endlich ergriff, was sie für einen richtigen Mittelweg zwischen zwei Abwegen

hielt,

und glaubte,

nur eine Lehre zulassen zu

dürfen, die sie die natürliche Religion nannte, und die sie auf die reinsten Lehrsätze und auf die

einfachsten Begriffe zurückbrachte.

Aber diese Par­

tei unterschied sich von den beiden ersteren, den Rechtgläubigen und den Ungläubigen, nur durch





lig

ihr Ziel, nicht durch den Weg.

Wie jene, setzte

sie voraus, daß der Mensch zum Besitze einer un­

abhängigen (absoluten) Wahrheit gelangen könne,

welche folglich immer dieselbe,

stehende, sey.

eine allzeit fest­

Wer genau, wer ausschließlich die

Lehrsätze annahm,

auf welche sie sich beschränkt

hatte, schien ihr diese Wahrheit zu besitzen.

Wer,

als Gottesläugner, diesseits blieb, oder wer, durch Annahme wundervoller Offenbarungen, wandelte,

schien ihr sich

jenseits

in gleichem Grade zu

täuschen.

Diese dreifache Art und Weise, die Religion zu betrachten, hat die Folge gehabt, daß — ich

wage eS zu behaupten —

ihrem

Keiner noch sie aus

wahrhaften Gesichtspuncte betrachtet hat.

Ein flüchtiger Blick auf die religiösen oder ungläu­ bigen

Druckschriften Frankreichs,

Deutschlands,

Englands und

wird mir unverwerfliche Beweise

dieser Behauptung an die Hand geben.

Vor dem Beginne des achtzehnten Jahrhun­ derts waren alle von den Vertheidigern der ver. schiedenen Religionö - Gesellschaften in Frankreich

erschienenen Schriften nur dem Siege ihrer Partei

gewidmet.

Sic gingen alle von einem Puncte aus.

120

über welchen man übereingekommen war, und der

ihnen die Hauptfragen verboth, oder sie überhob,

sich damit zu befassen. Die fruchtbare Quelle der WortkLmpfe, die Ketzerei, ward von den Katholiken als ein stets

williger Irrthum betrachtet, und als ein Ver­

brechen behandelt. J)

Ihre Anhänger, über die

i) Seit einer ziemlich langen Reihe von Jahren durste man fich schmeicheln, daß diese engherzige und feindselige Weise, die verschiedenen Ansichten in der Religion zu be­ trachten, duldsameren und milderen Grundsätzen Platz gemacht hätte. Während eine- langen Zeitraum- höchst ungerechter Bedrückungen, hatten die katholischen Prie­ ster fich eifrig bemüht, und (d. i., die Protestanten. Herr Benjamin Constant gehört bekanntlich einer alten protestantischen Familie an. — D. H.) zu überzeugen, daß alle Borwürfe, die man ihrer Kirche über ihren feindseligen Verfolgung-geist mache, VerlLumdungen ihrer Widersacher wären. Diese Diener eine- damahls unterdrückten Gottesdienstes meinten e- ohne Zweifel aufrichtig, und gern glaub' ich, daß an ihren versöh­ nenden und friedsaixen Lehren nicht- geändert sey. Aber man kann nicht umhin, zu seufzen, wenn man fieht, wie eins der ausgezeichnetesten Mitglieder jener Kirche mit einer Art von Wuth, die Frankreich glücklicher Werse nicht mehr gewohnt ist, wieder mit Bannflüchen hervor­ tritt, die, sind sie ohnmächtig, kindisch, und höchst verdammungswerth find, wenn sie einige Kraft haben. Aau traut seinen Augen kaum, wenn man zu Anfänge

121

Grundlehren mit ihren Feinden einverstanden, be­ stritten nur einige Folgerungen aus Grundsätzen,

die Alle annahmen. des neunzehnten Jahrhunderts lieft, daß diejenigen, welche diese oder jene Glaubenslehre annehmen, strafbar sind, weil, wenn es nicht von der Vernunft abhLngt, zu begreifen, eS immer von dem Willen abhLngt, zu glauben, was durch ein Zeugniß von genügendem Ansehn beglau­ bigt wird; (Essai sur Pindifference en matiere de religion, Tome I, pag. 514.) als wenn es von unserm Willen abhinge, ein Zeugniß als genügend anzu­ nehmen, daS unserer Vernunft gleichwohl nicht genügte, und alS wenn die durch diesen Trugschluß um einen Grad entfernte Schwierigkeit, darum nicht weniger un­ aufgelöst bliebe. DaS Staunen wird größer, wenn man sieht, daß ein Mann, der nicht aus dem Allerheiligsten der Druiden, oder auS den Gewölben des heiligen Amts hervorgeht, sich über die verächtliche (abject) Nei­ gung ereifert, welche die Reform für das Andenken des Sokrates, des Aristides oder des Cato blicken ließ; (daselbst, Theil I, S. 67.) wenn dieser Mann Dul­ dung für einen Abgrund erklärt, in welchem die Religion sich den Untergang bereiten wird; (daselbst, Theil I, S. 225.) einem aufgeklärten Verthei­ diger des Christenthums es zum Verbrechen macht, die Deisten aus gutem Glauben, deren Wandel sittlich gut ist, ohne Umstände (difficulte) gerettet zu haben; (da­ selbst, Theil I, S. 223.) endlich, in einem Lande, wo mehrere GetteSverehrungen gleichzeitig unter Bestätigung

122

Mehr Verachtung, obgleich wenigere Verfol­

gungen, als die Ketzerei, erfuhr der Unglaube, der Gesetze bestehen, laut erklärt, daß keine Religlon bestehen sann, alS wenn sie alle an­ deren verdrängt, (daselbst, Theil I, S. 225.) bei Gefahr, durch diesen Grundsatz die ReligionS-Kriege wieder zu entzünden, und die unglückseligen Zeiten wie­ der über sein Vaterland zu bringen, die zwei Könige durch Meuchelmord hinrichteten, und Tausenden daö Leben kosteten. Und möge derjenige, der diese unbe­ greiflichen Zeilen niedergeschrieben hat, sich nicht durch daS Votgeben entschuldigen, daß er in seiner Eigenschaft alS Katholik niemand verdamme; (daselbst Dorr. XLIII.) s"'ne Erbitterung gegen den protestantischen ReligionsLehrer, der eS sich nicht herauSnimmt, dieje­ nigen zu verdammen, die nicht, wie er, den­ ken; (daselbst, Theil II, SJorr. XLIII.) sein Eifer, bei der Vorstellung, daß, nach den Grundsätzen deS Prote­ stantismus weder Juden, noch Mahometaner und Her­ den, als Ketzer, von der Seligkeit ausgeschlossen werden können; (daselbst, Theil I, S. 231.) mit Einem Worte, dieser Durst, ewige Strafen um sich her zu verhängen, (daselbst, Theil II, S.262.) scheint mir der unmittel­ barste, auf eine Gottesverehrung des Friedens und der Liebe gethaene, Ausfall zu seyn. Sollte man sich schmei­ cheln, der Religion zu dienen, indem man behauptete, daß Gott ganze Völker dem Schwerte geweihet habe? (daselbst, Theil III, S. 47.) Einem Theile der Bür­ ger unaufhörlich wiederhohlen, daß die Gesetze Verwün­ schungen und Beschimpfungen begünstigen; sagen, daß „gleich den großen Schuldigen, von denen bas Alterthum

123

der auf gewisse Weise von einer Meinung gebrandmarkt ward, die sich aus dem lebhaften Antheile, welchen die Religions-Kriege erregt hatten, und durch daS Blendwerk des Hofes eines Königs gebildet hatte, der den Glauben zu einer Mode„redet, ein gewisse- Volk," von welchem wenigstens der zehnte Theil jetzt auS Franzosen besteht, „den Verstand „verloren hat; da- daS Verbrechen seine Vernunft ver„dunkelte; daß es der Verachtung, der ihm angethae„neu Schmach, eine dumpfe Fühllosigkeit entgegen setzt; „----------- daß es sich für die Züchtigung gemacht fühlt; „baß leiden und dulden, und die Schande, seine Natur „geworden sind;" (daselbst, Theil III, S. 57.) „daß daS „Blut, welches seine Väter vor zwei tausend Jahren „vergossen haben, noch über es kömmt;" und nachdem er es auf diese Weise, so viel es durch Worte geschehen konnte, mit Füßen getreten hat, „eS seinem Richter „übergeben;" (daselbst, Theil IV, S. 202.) das — ich stehe nicht an, eS zu sagen — das erlaubt weder die Religion, noch das Sittengesetz, noch die Politik, noch der Anstand; und sollte man mir auf den Trümmern meiner zerrütteten Geisteskräfte Schwei­ gen gebiethen; (daselbst, Theil II, S. 105.) sollte man mich als einen Aufruhrgeist behandeln, den das Gesetz des Todes ereilen, und der das Verbrechen ewig zum Gefährten haben wird; (daselbst, Theil III, S.60.) rch würde mir nur desto aufrichtiger Glück wünschen, einen Glauben zu be? kennen, der mir erlaubt, alle Menschen zu lieben, und Aller Seligkeit z» hoffen.



134



angelegenheit, und zu einem Mittel, sich Ansehn

und Vertrauen zu verschaffen, machte. Wenn Boffuet in seiner Geschichte die Heiden

niederdonnert, oder in seiner Polemik die Prote­ stanten verfolgt;

so scheint er mehr ein Richter,

der, von der Höhe seines Richtstuhls herab, den Schuldigen

das Urtheil spricht,

ein unpar­

als

teiischer Erzähler der Ereignisse, oder ruhiger Er­

forscher der Lehrmeinungen, zu seyn;

und wenn

er seine Streiche auf die Ungläubigen fallen läßt, sind

es

abermahls Urtheilssprüche,

Urtheilssprüche,

die er fällt,

von Beweisgründen

unterstützt,

bei denen aber das Ansehn eine viel bedeutendere

Stelle einnimmt, als die Gründe.

Fern

sey

es

großen Mannes

von mir,

das Verdienst eines

zu schmälern.

Wenn es

dem

Gesichtspunkte, aus welchem Boffuet die Religion

betrachtete,

nothwendig an Unparteilichkeit und

Umfang fehlte;

so war er dagegen in dem Adel

und dem Aufschwünge seines Geistes bewunderungs­

würdig.

Die gfeligion redete in seinem Munde

eine würdige und muthige Sprache, die sie seit der Zeit höchst trauriger Weise abgeschworen hat.

Ohne daß selbst der Redner, den das Feuer feines



125



Geistes hknriß, es wußte, hatten sich die letzten Funke» der Freiheit in seine Beredtsamkeit ge­ flüchtet. Was er einem unumschränkten Allein­ herrscher nicht im Nahmen der Gesetze und des Wohls der Völker sagte, das sagte er ihm im Nahmen eines Gottes, vor dem alle Geschöpfe in ihre ursprüngliche Gleichheit zurücktreten. *) Indem ich jedoch einem Schriftsteller Gerech­ tigkeit widerfahren lasse, den seine Lobredner nur wegen seiner heftigen und hassenswerthen Aeuße­ rungen rühmen, glaube ich darum nicht minder versichern zu können, daß von allem, was uns Boffuet hinterlassen, ja noch viel mehr, von allem, was ich in anderen Werken desselben Zeitabschnitts finde, zur Erläuterung der neuen, von mir auf-

i) Nichts beweist mehr das natürliche Bündniß der Reli­ gion mit der Freiheit. Boffuet war in seiner Sinnes­ weise der herrschsüchtigste Mensch; alle seine Meinungen begünstigten die unumschränkte Gewalt. Die „Politigue de l’Ecriture - Sainte“ (Staatskunst der hei­ ligen Schrift) hätte die Ehre verdient, in der Kaiser­ lichen Druckerei zu Constantinopel gedruckt zu werden; aber wenn er im Rahmen der Religion die Gewalt tadelt; so würde man ihn für einen jener ersten Christen halten, welche die standhaftesten Apostel der Freiheit, nnd die unerschrockensten Gegner der Tyrannei waren.

126 geworfenen Fragen, des Unterschiedes zwischen dem

Wesen und der Form, deS Ganges der Vorstel­

lungen,

des stufenweisen Verderbens und Vvll-

kommenerwerdens

der Glaubenslehren,

der fort­

schreitenden und unwiderstehlichen Aenderungen und

näheren Bestimmungen, Fragen, an dioman da­ mahls nicht dachte, und den Religions-Streitig­ — ich darf versichern, daß

keiten völlig fremd,

sich von jenem allen für den eben erwähnten Zweck nicht der geringste Gebrauch machen ließ.

Nach Ludwig xiv. änderte sich der Schauplatz. Von der drückenden Aufsicht eines alten Selbst­ herrschers,

und dem Zwange eines alten Hofes

frei geworden, stürzte sich Frankreich, vermöge der ganz natürlichen Wirkung einer langen und festen

Zusammenpressung, schweifung.

in Zügellosigkeit und Aus­

Wie man eine Frau von Prie einer

Frau von Maintenon folgen, und die Würden der Kirche

von Bossuet auf Dubois übergehen sah,

sah man auch den Unglauben aus dem Grabe der

Heuchelei hervorgchen. Sicherlich werd' ich die Ungläubigen des letzten

Jahrhunderts

nicht

als

der Regentschaft vorstellen.

die Erben

der Orgien

Edlere Beweggründe



127

erfüllten mehrere von ihnen.

— Eine langsame, aber

sichere Rückwirkung bereitete sich von langer Zeit

der in Frankreich vor.

Die Bartholomaus-Nacht

hatte alle Gemüther empört.

Die Ermordung

Heinrich's in., die Heinrich's iv., hatten die Mei­ nung gegen religiösen Mord aufgeregt. Ludwig xrv. hatte endlich durch die Grausamkeiten, womit er den Widerruf der Verordnung von Nantes beglei­

tete, durch die Dragonaden, die Einziehung des Vermögens, die Hinrichtung der Vater, die Ein­ kerkerung

der Weiber,

den

vollends alle Gefühle von

Raub

der Kinder,

Menschlichkeit gegen

priesterliche Unterdrückung bewaffnet.

Die Erbit­

terung der Philosophen war gerecht und aufrichtig.

Eben diese Erbitterung aber, die Anstrengungen,

die sie ihnen geboth, die Art Vereinigung, wel­ che sie bildeten, um verbunden jenen Lehren den Krieg zu erklären, die sie so vieler Verbrechen und

so vieler Uebel anrlagten, alle diese Dinge ver­

kündigten ihnen einen Selten-Geist, und überall, wo dieser Geist herrscht, bedient er sich ihm eigen­

thümlicher Mittel. Voltaire hatte gesagt, es sey besser, stark als

richtig zu treffen, und alle Nachahmer Voltaire's.

128

eine unzählbare, rührige Menge, und die von den

Höhen der Literatur bis zu den niedrigsten Stän­ den herab verbreitet war, fielen mit einer Wuth über die Religion her, die mit den von ihnen erlangten Kenntnissen, und mit den ihnen verlie­

henen Gaben, fast immer in umgekehrtem Verhält­ nisse stand. Voltaire's unbestreitbarer Satz hatte allerdings

seinen Nutzen, der aber von den Umständen abhing.

Die gewaltsamen Verfolgungen begannen aufzu­ hören; den heimlichen Verfolgungen mußte aber noch Einhalt gethan werden.

Alles schien recht­

mäßiger Weise einen Abscheu vor allen Arten von Verfolgung einflößen zu dürfen.

Das aber hieß

die Glaubenswuth entwaffnen, nicht, das religiöse Gefühl nach seinem Werthe anerkennen.

Es ent­

sprang daraus über dieß eine schmähende und

bittere Weise, von einer werthen Sache zu der großen Mehrheit des menschlichen Geschlechts zu

reden, und diese Redeweise, welche immer gewiß ist, bei einer alten und verdorbenen Nation einen

augenblicklichen Erfolg zu haben, mußte den zart­ finnigen und reitzbaren Gemüthern, dieser unbe­

merkten aber mächtigen Minderheit, die, sogar

in mitten allgemeiner Entwürdigung, stets damit endigt, das Gesetz zu geben, eine Art von Wider­

willen einflößen. Die Philosophen, die bei ihrem Angriffe auf

die vorhandene Religion die Grundsätze aufrecht erhalten wollten, die jeder Religion zum Grunde liegen, betrachteten jene Grundsätze gleichwohl nur

aus ihrem unwürdigsten puncte,

und rohesten Gesichts­

als Ergänzung der Strafgesetze.

Wenn man ihre Schriften liest, sieht man, wie

sie wollen, daß ihnen die Religion sofort und auf der Stelle diene; als eine Art Land- und Schutz­

wache ihr Eigenthum ihnen verbürge; ihr Leben schütze und sichere; ihre Kinder in der Zucht, und die Ordnung in ihrem Hauswesen erhalte.

möchte sagen, fürchteten,

daß sie sich,

Man

auf gewisse Weise,

um und für nichts zu glauben. J)

i) Man könnte auf unsere sittliche Denkart anwenden, waS man sich von der natürlichen Faulheit der Türken sagt. Man erzählt, daß der Secretair eines Franzö­ sischen Gesandten zu Constantmopel täglich eine Zeitlang in seinem Garten spatzieren ging. Die den Gesandten umwohnenden Türken bathen diesen, seinem Secretair zu verzeihen, und ihm keine so schwere Ruße aufzulegen. Sie begriffen nicht, daß man um nichts, und ohne ein Ziel, gehen könne. Erster Band.

9



15°



Die Religion muß ihnen an Diensten zahlen, was

sie ihr an Glauben bewilligen. Diese engherzige

und

unzulängliche Weife,

die Religion zu bttrachten, hat mehr als Einen

Nachtheil.

Wie man dadurch, daß man für alles Schöne

der Natur einen unmittelbaren Gebrauch, eine bestimmte Anwendung auf das gemeine Leben nach­

weist, allen Reitz ihres prachtvollen Ganzen schmäht,

eben so erniedrigt man die Religion, wenn man es niemahls aus den Augen läßt, daß die Re­

ligion Nutzen schaffen soll;

da,

zweitens,

die

praktische Nutzbarkeit keines Weges auch zugleich

die Wahrheit der Lehre in sich begreift; so ist der Mensch darum auch noch nicht religiöser,

man ihm sagt,

weil

daß die Religion Nutzen schafft,

denn man glaubt nicht an einen Zweck; endlich

dient der Nutzen der Religion denen, welche herr­ schen, zum Vorwande, um den Gewissen derer, welche beherrscht werden, Gewalt anzuthun, der Gestalt, daß man ungläubigen Völkern mit einem

Federzuge verfolgende Herren giebt. Dieß Bedürfniß eines unmittelbaren, und,

so zu sagen, wesentlichen und sichtbaren Nutzens

ist übrigens das unserm Volksgeiste eigenthümlich anklebende Gebrechen. *)

Vortheile.

Es hat unstreitig seine

Es giebt der Verbindung unserer Vor­

stellungen mehr Regelmäßigkeit und Zusammen­

hang.

Man geht dem Ziele gerader entgegen,

wenn man es nicht aus den Augen verliert.

Aber

man läuft auch, wenn man alle Fragen nur eines

Zieles wegen erforscht,

große Gefahr,

ihre Seiten wahrzunehmen.

nicht alle

Man beseitigt alle

Gefühle, alle Eindrücke, alle unwillkührliche Auf­

wallungen,

die zuweilen mehr, als strenge Ber-

nunftgründe und Schlußfolgen dazu geeignet sind, ein neues Licht über die Gegenstände menschlicher

Forschungen zu veichreiten, und vielleicht die Auf­ lösung der meisten Räthsel in sich enthalten, deren Erklärung wir allein von der Logik fordern.

1) Sogar Herr von Chateaubriand, dessen Gabe unbestreit­ bar, und der sicherlich der erste unserer Schriststekker ist, wenn er die dunkle und schwermüthige Seit« der reli­ giösen Gefühl- schildert, hat auf eine seltsamere Weise, als irgend jemand, dieser Nutzenswuth gehuldigt. Er macht den Nutzen des Christenthums für die Dichtkunst geltend, als wenn ein Volk darauf bedacht wäre, der Götterlehre seiner Dersemacher in seinem Glauben Stoss zu verschaffen.



1JU



Drei Schriftsteller haben sich jedoch dann und

wann über dies« beschränkte und kleinliche Ansicht erhoben.

Der eine derselben, dessen ich schon er­

wähnt habe, ist Fenelon, aber man hat gesehen, wie ihm gleich in seinen ersten Schritten von der

Römischen Kirche Einhalt gethan ward, die es ihm,

seltsam genug, zum Berbrechen machte, daß .er

geglaubt hatte, der Mensch könne, ohne ein Zurück­ kommen auf sich selbst, ohne selbstsüchtige Absichten,

und ohne Persönliche Berechnungen, Gott lieben. Der zweite ist Johann Jakob Rousseau.

Einige

seiner Aussprüche tragen daS Gepräge eines reinen,

uneigennützigen, von aller Beimischung irdischer Beweggründe freien, religiösen Gefühls.

Allein

Rousseau, der vön tausend einander widersprechen­ den, Gedanken hin und her getrieben wurde, hat

nicht minder über Religion, wie über Staatskunst,

verworrene, und mit einander unverttägliche, Sätze

aufgestellt.

Er, der absprechendste von Allen, und

zu gleicher Zeit der Ungeduldigste über das Ab­

sprechen Anderer, er hat alles wankend gemacht, nicht, weil er, wie man sagte, alles umkehren

wollte, sondern weil ihm nichts an seinem Platze zu seyn schien.

Er hat, durch seine wundervolle



155



Kraft, die Säulen, auf denen das menschliche Da,

seyn, gut und schlecht, ruhte, ihren alten Grund­ lagen enthoben; aber er hat, als ein blinder Bau­

meister, aus den zerstreut umher liegenden Bestand­ theilen kein neues Gebäude aufzuführen vermocht.

Aus seinen Kvaftäußerungen sind nur Zerstörungen

geworden, aus diesen Zerstörungen ein Chaos, dem

er sein kraftvolles Gepräge hinterlassen hat. — Herr von Montesquieu endlich hätte mehr noch

durch feinen Geist, als durch sein Gemüth, über das, was die Religion angeht, ein neues Licht ver­

breiten können.

Er konnte keinem Gegenstände

nahen, ohne viele Wahrheiten zu entdecken,

und

da alle Wahrheiten zusammenhängen; so hätte er, indem er von den Erscheinungen, die er mit einem

bewundernswürdigen Scharfsinne ergründete, zum gemeinschaftlichen Grunde jener zahllosen Wirkun­ gen Hinaufstieg, — er hätte vielleicht unter den

mannigfaltigsten Artungen und den verschieden­ artigsten Gestaltungen den obersten Grund wahr­

genommen.

Außerdem aber, daß auch das Genie

seinem Jahrhunderte nur auf eine gewisse Weite voraneilt, hatte Herr von Montesquieu in seinem Esprit des lois die Religion nur nebenher zu

— 154 — untersuchen; er hat nur von ihr gesagt, was er nothwendig von ihr sagen mußte. Indem man dieß Meisterwerk des achtzehnten Jahrhunderts liest, glaubt man zu bemerken, wie der Verfasser die Gedanken zu entfernen sucht, die sich ihm bis zum Lastigwerden aufdrangen, wie Aeneas mit seinem Schwerte die Schatten verjagte, um sich durch sie hin den Weg zu bahnen. Die Französische Revolution brach aus, weil wir zu aufgeklärt geworden waren, um unter der Willkühr leben, und nahm eine verkehrte Richtung, weil wir nicht aufgeklärt genug waren, um von der Freiheit Genuß haben zu können. Sie ent# fesselte eine Menge, die noch nicht durch das ge# ringste 'Nachdenken zu dieser plötzlichen Loslaffung vorbereitet war. Sie verwandelte sich bald genug in eine körperliche Gewalt, ohne Zügel und ohne Regel, die sich auf alle Einrichtungen warf, deren Unvollkommenheiten sie hervorgerufen hatte. Die Religion erlitt die abscheulichste Verfolgung. Es entstand daraus, was daraus entstehen mußte; der Gegenstoß war um so stärker, als der Stoß unge­ recht und heftig gewesen war. Unter den gegen­ wärtigen Schriftstellern Frankreichs thun mehrere

von denen, die sich Vertheidiger der Religion nen,

nen,

und mit der Geschichte eben so unbekannt

find,

als ihre Vorgänger, die Bolksführer,

«S

waren, und eben so verblendet in Ansehung der Folgen aller tyrannischen Maßregeln, — sie thun,

gleich einer Entdeckung zu Gunsten der Religion, den Vorschlag, zu den früheren gewaltsamen Maß.

regeln zu schreiten, die unter Franz i.,

unter

Philipp ii., Maria von England und Ludwig xiv.

fehl schlugen.

O der jämmerlichen Klügler,

die

nicht minder Verräther der Regierungen, als Ver-

räther der Völker sind! — Auf solche Art ist die Religion in Frankreich

allzeit auf eine parteiische und oft oberflächliche

Weise behandelt, und eins um's andere mit bös­ licher und feindseliger Schulfüchferei vertheidigt,

oder mit unüberlegter Leidenschaftlichkeit angegrif­ fen worden.

Hat sie wohl in England weniger leidenschaft­

liche Verfechter, oder billigere Feinde gefunden?

Durch ein glückliches Zusammentreffen von Um­ ständen ist der Protestantism, obgleich mit Gewalt unter Heinrich vixi. eingeführt, *) Dank sey eS

*) 66 kann dieß wohl nicht in dem Ginne gemeint seyn,



rz6



den Grausamkeiten Maria'-, und den ohnmäch­

tigen Versuchen der Stuarte, mit der Verfassung, die lange der Stolz England'- gewesen .ist, ver­

schmolzen worden.

ES hat dieß aber die Folge

gehabt, daß die Religion in England mehr, als bei irgend einem andern Volke, eine feststehende, als wenn Heinrich VIII., dieser bekannte heftige Wider­ sacher Luther'- und der Reformation, selbst zu gewalt­ samer Einführung deS Protestantism'S etwas gethan habe. Er brach ihm nur die Bahn, indem er, zu Befriedigung persönlicher Leidenschaft, sich später vom Römischen Stuhle eben so unabhängig erklärte, als er diesem früher, 'auS gleicher Leidenschaftlichkeit/ (Siehe seine Ehestandögeschichte) durch seine bekannte, gegen Luther und dessen Lehren gerichtete, Schrift über die sieben Sakramente, geschmeichelt, und sich dadurch den Titel eine- Beschützers des (katholischen) Glau­ ben- erworben hatte. — Noch das Todesurtheil fei­ ner -weiten unglücklichen Gemahlinn, Anna Boleyn, Elisabeth'-, der wahren Einführerinn des ProtestantiSm'S in England Mutter, ward, zum Theile, durch ihr Schuld gegebene Lutherische Ketzereien begründet. A. d. H.

i) Diese Eigenschaft deS Feststehenden hindert sogar dieje­ nigen Untersuchungen, die den Zweck haben, die Meivungeu anderer Länder kennen, und ihre Alterthümer erforschen zu lehren. „WaS kann man," sagt mit Recht einer der scharfsinnigsten Kritiker Deutschlands, (Herr Rhode, Ueber Alter und Werth einiger morgen-



157



jeder freien und unparteiischen Untersuchung un­

zugängliche Sache ward.

Warburton, Hurd, Tillotson, haben Bossuet'ö Herrschsucht,

ohne seinen Geist zu haben.

Die

Anglikanische Kirche ist für sie, was für den Erzbischoff von Meaur die Römische Kirche war, mit

dem Unterschiede, daß für sie die Unduldsamkeit ab­ geschmackter ist, weil, indem sie andern das Recht, Ketzer zu seyn, streitig machen, sie selbst dem Rechte, Protestanten zu seyn, entsagen.

Die Schriftsteller

einer geringeren Ordnung besitzen im Ganzen mehr

classische

Gelehrsamkeit, als unsere Gvttesgelehr-

ten, aber ihr Gesichtspunct ist nicht ausgedehnter.

Sie dringen in den Geist der früheren Jahrhun­ derte und der entfernteren Völker nicht tiefer ein,

ländischen Urkunden) — „was kann man von Unter,Buchungen erwarten, deren Verfasser mit den Worten „beginnen: die eilf ersten Capitel der Genesis (des „ersten Buchs Mose) sind entweder wahr, oder unsere „Religion ist falsch. Nun ist aber unsere Religion nicht „falsch, also sind die ellf ersten Capitel der Genesis „wahr." Sir W. Jones. Asiat. Research. I, 225. Es zielt übrigens manchen Ungläubigen, der sich, im entgegen gesetzten Sinne, eben so wenig bündiger Gründe bediente. Trugschlüsse gab re zu allen Zeiten und unter allen Parteien.



*58



ihre Logik

ihre Philosophie ist nicht freisinniger,

bewegt sick in keinem weniger irrigen Kreise. Die Englischen Sertirer haben unstreitig über

die Geschichte der früheren Jahrhunderte des Chri­ stenthums einiges Licht verbreitet.

Jeder Kampf

läßt immer ein wenig Licht zum Vorscheine kommen.

Jene Andersgläubigen aber, so gut, als die Recht, gläubigen, dem dogmatischen Geiste unterworfen,

der die ganze Nation bezeichnet, gehen nicht über

den von dem Glaubenssätze bezeichneten Kreis hin­

aus ; nur in ihm bewegen sie sich.

Sie streiten

über Auslegungen, und es sind wiederum solche Wortstreite, in denen, weil alle Parteien gemein­

schaftliche Grundlagen angenommen haben,

keine

sich mit den ersten und ursprünglichen Wahrheiten beschäftigt, und der Gegenstand des Streits nur die größere oder geringere Folgerung betrifft, die

aus dem, was man zum voraus als die Wahrheit angenommen hat, gezogen werden soll. Unter den Ungläubigen, die in England scheler

angesehen werden, als in andern Ländern,

weil

sich die Engländer errinnern, daß eins von den

Mitteln, deren Carl n. sich bediente,

um die

Freiheit des Volks zu vernichten, darin bestand.



159



die Religion lächerlich zu machen, — unter den

Ungläubigen, sag' ich, nehmen Collins, Tindal,

Woolston, und später Toulmin, nur eine unter­ geordnete Stelle ein.

Zch übergehe Hobbes ab­

sichtlich mit Stillschweigen; die Religion schien ihm ein Mittel der Tyrannei zu seyn, und er schonte sie,

ohne daran zu glauben.

Er kann

nicht für ihren Freund gehalten werden, denn er

entehrt sie;

noch für ihren Feind, denn er em­

pfiehlt sie.

Toland verdankt sein ganzes Verdienst

Spinoza'n.

Schaftesbury, Bolingbroke, Cherbury

und Hume sind die einzigen Schriftsteller dieser

Classe, die einen wirklichen Werth haben; aber sie haben auch alle Mängel der Französischen Philo­

sophen,

den Redeprunk,

die Sinnsprüche,

die

Bitterkeiten, die gehässigen Einflüsterungen,

die

unbedenklich verfälschten, oder künstlich verstüm­ melten Berichte. Hume zeigt in seiner natürlichen Geschichte der

Religion viel Geist, wenig gründliche Kenntnisse,

einen, bei der anscheinenden Sanftheit, geschickt genug

angebrachten Spott, einen, oft beißenden, Scherz; aber sein Werk ist darum dem Ernste und der Würde

des Gegenstandes nicht minder sehr unangemessen.

140

Gibbon

hat

seine

ungeheure Gelehrsamkeit,

seine unermüdlichen Forschungen,

die oft merk­

würdige Feinheit seiner Darstellungen,

und die

Unparteilichkeit, die er sich zum Gesetz macht, wenn

eine Parteilichkeit gemuthmaßt werden würde, durch eine, wenn er sie ungestraft anbringen zu können

glaubt, oft falsche Kunst, durch gänzlichen Mangel an Empfänglichkeit für Begeisterung, eine Bedin­

gung,

ohne welche man unfähig ist, eine ent­

stehende Religion zu beschreiben,

und durch eine

empörende Gleichgültigkeit gegen den Muth und gegen daS Unglück, befleckt.

Thomas Payne hat nur die oberflächliche Meta­ physik deS BaronS von Holbach in einer niedrigen und oft gemeinen Schreibart wieder zum Vor­

scheine gebracht.

In Folge eines nur zu gewöhn­

lichen Irrthum», glaubte er in der Religion eine

Feindinn der Freiheit zu sehen, die er mit Leiden­ schaft liebte, ohne sie recht zu begreifen, und da

er die Grundsätze der einen übertrieb,

verkannte

er die Natur der anderen.

Godwin,

alS Payne,

viel gründlicher und scharfsinniger,

in der Entwickelung politischer,

oft

grillenhafter Meinungen, erhebt sich keines Weges



Ui



über ihn, wenn er über Religion schreibt.

Von

den Vorurtheilen einer gemeinen Philosophie be­ herrscht,

möchte man sagen, daß er dem, ihm

gewöhnlichen, Scharfsinne entsage; und bei seinen Angriffen auf ein Gefühl,

daS man nicht ver­

nichten kann, scheint er das menschliche Herz zu

übersehen, das er anderwärts mit einer merkwür­ digen Treue beschreibt.

Noch jetzt hängen in England die Gemüther

entweder unvernünftigen Glaubenssatzungen, oder

leichtfertigem Unglauben an, aber weder Glaubens,

satzungen noch Unglaube reden zum Herzen, und das Wesen der Religion beruht Spitzfindigkeiten deS einen,

weder in

den

noch in den Unbe­

greiflichkeiten (Abstractionen) der anderen.

Wenn wir die religiöse Stimmung der beiden

Länder, auf die wir eben unsere Blicke warfen, aufmerksam erforschen, so könnte man eine gewisse Gleichförmigkeit bemerken; aber man muß sie in der

Nähe beobachten, um sie wahrnehmen zu können. Die Mitglieder der in England befindlichen abge­

sonderten Religions-Gesellschaften werden in der religiösen An - und Aufregung,

die sie erfahren,

durch den Buchstaben der Glaubenslehren beengt,



14»



von dem sie nicht gern abgehen möchten.

Das

in Frankreich sich ansbildende Geschlecht wird in

dem religiösen Bedürfnisse, daS er zu empfinden

beginnt, Eines Theils durch die Ueberlieferung

der Ungläubigkeit gehemmt, die eine Art philoso, phischer Glaubenssatz geworden ist, von welchem

sich dieß Geschlecht noch nicht loszusagen wagt,

und andern Theils durch das widrige Bündniß

der Religion mit der Politik.

Diese Ursachen

legen der Entwickelung des religiöse» Gefühls bei uns und unfern Nachbarn Fesseln an.

Das protestantische Deutschland biethet uns ein erfreulicheres Schauspiel dar.

Die Deutschen

haben daS große Verdienst, oder das große Glück,

fast Alle eine Grundwahrheit anzuerkennen, ohne welche man nichts Wahres entdeckt, oder nichts Gu­

tes zu Stande bringt.

Dieß ist die Wahrheit, daß

beim Menschen alles im Fortschreiten begriffen ist.

Keiner seiner Begriffe bleibt auf demselben Puncte

stehen; sie entwickeln fich trotz alles Widerstandes,

machen sich Bahn durch alle Hindernisse, und am Schlüsse jedes etwas längeren Zeitabschnittes finden

sie sich auf irgend eine Weise näher -bestimmt, oder

haben sie wesentliche Verbesserungen erhalten.

145 Von allen Wahrheiten ist diese in Frankreich die abgesagteste.

Wir besitzen eine gewisse Selbst­

gefälligkeit, die uns glauben laßt, daß wir gerade

in diesem oder jenem Augenblicke zur Vollkommen­

heit gelangt sind, und daß fortan das menschliche Geschlecht auf diesem Puncte stehen bleiben, und uns bewundern müsse.

Die Deutschen, weniger mit sich zufrieden in

der Gegenwart,

weniger neidisch auf ihre Nach­

folger in der Zukunft, wissen, daß jedes Geschlecht

nur wie ein Punct in die unermeßliche Reihe der menschlichen Dinge hingestellt ist, um aus demje­

nigen Vortheil zu ziehen, was schon geschehen ist,

und dasjenige vorzuberriten, muß.

was noch geschehen

Die geselligen, politischen, religiösen For­

men erscheinen ihnen, als was sie find,

unent­

behrliche Hülfsmittel für den Menschen, die gleich­

wohl Abänderungen und Umwandlungen erleiden müssen,

wenn er selbst Abänderungen und Um­

wandlungen

erleidet;

und das allein ist schon

ein trefflicher Vortheil, um über die Religion zu urtheilen.

Ein besonderer Umstand hat seit hundert Jah­ ren dazu beigetragen, sie in dieser eigenthümlichen



144



Weise zu bestärken, und auf dieser Bahn fort­

schreiten zu lassen. Der Protestantism war früher in Deutschland,

was er noch jetzt in England ist, ein eben so

feststehender und festbestimmter Glaube, als der Katholizism, von welchem die Reformatoren sich getrennt hatten.

Die Diener der beiden abwei­

chenden Religions-Gesellschaften vergaßen, daß ihre

Häupter die Verbesserung nur damit, daß sie in Sachen der Gottesverehrung die Freiheit der Mei­ nungen behaupteten und verkündigten,

rechtfertigen können.

hatten

Vermöge einer abgeschmack­

ten und grausamen Folgewidrigkeit, von der ihnen

übrigens ihre ersten Vorbilder das Beispiel gege­

ben hatten, zürnten sie über die Gränzen, welche die Römische Kirche feststellen wollte, hielten sich

aber gleichwohl für befugt, nicht minder willkührliche Gränzen zu ziehen.

Sie forderten für sich

die Freiheit zurück, und verweigerten sie ihren Feinden; sie eiferten gegen das Ungerechte und

Lächerliche der Unduldsamkeit, und bedienten sich desselben.

Friedrich u. bestieg den Thron. Die Literatur seine- Landes war in der Kindheit.

Alle seine

145





Gunstbezeigungen wurden Französischen Gelehrten

zu Theil.

Diese Gelehrten waren, Voltaire aus,

genommen, der nicht lange in einem Dunstkreise von Schutz und Abhängigkeit leben konnte, mittel«

mäßige und untergeordnete Köpfe, wie alle Schrift«

steiler sind, die es sich gefallen lassen, das Gefolge der Gewalt zu bilden.

Ein ruhmsüchtiges, nur

nach Auffehn strebendes, Gezücht, hatten sie in

Frankreich ihren Ruf auf einen oberflächlichen,

jenes ernsten Forfchungsgeistes entbehrenden, Un­ glauben gegründet,

der,

je nachdem man die

Sache ansieht, den Unglauben begründet oder ent­ schuldigt.

An einen auswärtigen Hof gerufen,

Nahmen sie, wie Kunstgenossen, diesen Unglauben

als einen nothwendigen Theil ihres Gepäckes, als das Werkzeug ihrer glücklichen Leistungen, mit.

Das Christenthum sah sich von Seiten deS philoso­ phischen Monarchen, seiner gelehrigen Schmeichler,

und ihrer diensteifrigen Nachahmer, unaufhörlichen

Angriffen ausgesetzt.

Alle Seiten, welche schwach

erschienen, wurden ohne alle Schonung ausgestellt, alle heiligen Sagen dem bittersten Spotte Preis

gegeben, und lächerlich gemacht.

Zu diesen Französischen Gelehrten, welche kühn Erster Sßajib.

tO



146



waren auf Befehl, gottlos aus Verehrung der Gewalt, gesellten sich einige Deutsche Schriftsteller, welche ihren traurigen Vorbildern weit überlegen waren.

Daraus entstand jene Schule Wieland'S,

in Versen, Nicolai's, inProse; und sogar Lessing,

den ich,

in Hinsicht der Aufrichtigkeit, der Ge­

lehrsamkeit und deS Genie's,

mit Erröthen den

MarquiS d'Argens und den Lamettrie's vergleichen

möchte, schien sich ihnen zu Zeiten zu nähern. Die Bedrückungen von Seiten der Regierungen

in mehreren Deutschen Fürstenthümern gaben den

Gegnern der Religion mehr als Vorwände an die Hand.

Professoren, die wegen ihrer Meinungen

angegeben, Prediger, die wegen Irrglaubens ver­ folgt wurden, deuteten auf das Bedürfniß größerer Geistesfreihcit; und das Gehässige der Verfolgun­

gen fiel auf die Meinungen zurück, welche die Verfolger rächen wollten.

Aber der Deutsche Geist,

von Natur nachdcnkend; zu ernst, um lange mit

Scherzreden beschäftigt, oder durch Späße zerstreut zu »erden;

zu redlich, um Beifallsbezeigungen

aufzuopfern, was ihm wahr zu seyn schien; die

Deutsche Sinnesweise, zur Begeisterung sich hin­ neigend, und in der Religion, wie in der Liebe,

— nur glücklich in Sinnen,



147

und

Entzückung

widerstrebten

schwärmerischem

dürren,

beide

und dogmatisch geworbrnrn Sehren,

schneidenden

dir nur bittere

Spottrcden, deren Ungerechtigkeit jeder billig Den­ fühlte,

kende

und

Thatsachen,

daß

Unterrichtete wußte,

von

denen

jeder

genau waren,

sie nicht

als Beweist anführten.

Daher erhoben sich viele Vertheidiger des be­

drohten Glaubens.

Sn Folge der Freiheit, welche

Friedrich den Druckschriften

gestattete, führten die

neuen Vertreter der Religion ihre Sache jeder auf Daher

Weise.

seine

unbemerkten

(?)

diesen

unter

jene

wesentlichen,

Abweichungen

Streitern

eineö

und

Heerö

obgleich

Spaltungen ohne Ober­

haupt. Eine Partei

hielt

eS

mit

dem

alten

Lehr­

begriffe, und stützte ihn, so gut sie eS konnte, auf ihre

gewöhnliche Heeresmacht,

die

Wunder

und

Weißagungen.

Die andere Partei

entsagte

diesen Hülfsmit­

teln, beschränkte sich auf den rein sittlichen Theil, und stellte den geschichtlichen, überlieferten, und vor

allem wundervollen, in eine Art Helldunkel.

148 Dieß geschah jedoch nicht mit Einem Mahle. Dieser Gang war nur ein ehrenvoller Rückzug, auf welchem man nie verschiedenen Posten nur

allmählkg, und um die übrigen desto bester be­ haupten zu können, verkiek.

Was später Ver­

vollkommnerungen hießen, schienen jeht Opfer yi seyn.

Nachdem aber Friedrich n. todt war, befolgte

die Staatsgewalt eine der Weise jenes Fürsten gerade entgegen gesetzte Weise

Sie wollte die

verschiedenen GotteSgelehrten um ein gemeinschaft­

liches Panker vereinigen.

Diejenigen, welche bk«

Bereinigung «m dieß Panier verweigerten, wur, den die Zielscheibe der Vorwürfe der den alten

Glaubenslehren

treu

gebliebenen.

Man

machte

ihnen ihre Verhandlungen zum Verbrechen,

und

nun geschah «S, daß ihre Opfer ihnen als Ab­

trünnigkeit angerechnet wurden.

Mit den über-

Kiebenen Parteien ist'S in der Religion, wie in der

Politik.

Viele,

die dem Christenthume eifrigen Bei­

stand geleistet hatten, wurden auf diese Weise seine erklärten Feinde. Sie wollten diesen Nahmen nicht

und aus ihren Anstrengungen, ihn zu entfernen, und der Unmöglichkeit,

worin sie sich befanden,

sich zu den Lehren, die sie, wenn nicht abgesagt, doch wenigstens aufgegeben hatten, bildete sich eine

Lehre, in welcher sich, dunkel und unausgebildet, der Keim einer Vorstellung findet, die ich für aus­

nehmend richtig halte. Nach dieser Lehre ist der Mensch, der auS den Händen der Allmacht hervorgieng, von derselben,

von seinen ersten Schritten an, geleitet worden;

aber der Schöpfer richtete feinen Beistand der Lage und

den Kräften

seiner Geschöpfe

gemäß

ein.

Die Jüdische Religion leitete die Hebräer bis zu

dem Augenblicke, wo eS ihr gelang, sie für einen gereinigtem

Glauben

empfänglich

zu

machen.

DaS Christenthum trat sodann an die Stelle des

Mosaischen Gesetzes.

Die Reformation brachte daS

Christenthum mit den Einsichten

eines späteren

Jahrhunderts in Uebereinstimmung.

Andere Der.

besscrungen werden einst kommen, die Verbesserung

abermahls zu verbessern. ’)

i) Sine Folge dieser Lehre «ar er, daß Deutschland in der Zeit, von der wir reden, die Abhandlungen über die Herablassung Dotter gegen die Menschen, über den fort«



i5o



Ich übergehe das Uebernatürkiche, daS diese Lehre einräumt, ein eingeschränktes Übernatürliches, das schreitenden Gang der Offenbarungen, über die Erziehung deS Menschengeschlechts, endlich, über das den Bedürf­ nissen der Seit angepaßte Christenthum, häufig zu Tage gefördert werden sah. Um eine Vorstellung von dem herrschenden Gedanken zu geben, der in allen diesen Druckschriften vorwaltete, will ich die Erörterungen die­ ser Gottesgelehrten über die Wunder anführen. „Die Wunder, sagten sie, — mögen sie nun über„natürliche Dinge, oder bloße natürliche Erscheinungen „gewesen seyn, deren Grund jedoch den unwissenden „Menschen, die sie anschaueten, unbekannt war, „die Wunder waren zu der Zeit, in der sie geschahen, »»gültige und nothwendige Beweise. Das menschliche Ge„schlecht war nicht aufgeklärt genug, um durch Gründe „überzeugt zu werden; es bedurfte auffallenderer und „kürzerer Beweise. Heutiges TageS bedürfen wir anderer. „Uns kann man durch die Dernunftlehre, durch die Sit„tenlehre, durch das Gefühl des Schönen und Rechten, „überzeugen; die Wunder brauchen nicht bestritten, son„dern nur übergangen zu werden." Eben das sagten sie von den Geheimnissen und Prophezeihungen. Auffallend ist, daß dieselbe Vorstellung sich, ein Jahr­ hundert früher, "einem Engländer darboth. Er hatte die Behauptung aufgestellt, daß man die Dauer einer Religion nach der allmähligen Abnahme ihrer Ueber-cinsttmmung und Verwandtschaft nut gleichzeitigen Mei­ nungen und Angelegentlichkeiten berechnen könne. — John Craigs, Theolog!® chnstian® principia

mathematica.

Lond. 1639, in 4° ♦ Leipzig, 2755,

die Frommen unzufrieden machen, und den Philo.

sophen mißfallen muß.

Aber ich glaube, daß sie,

Aber der dogmatische Geist der Engländer hatte die Meinung als gottlos verworfen; sie hat dahingegen in Deutschland ein ausnehmend religiöses Ansehn gewonnen. „Als äußere Anordnung," sagt einer ihrer Vertheidiger im Jahre 1312, „ist das Christenthum, mit der Zelt, „unvermeidlichen näheren Bestimmungen und Adände„rungcn unterworfen, aber die eigentliche Lehre hat „von diesen Abänderungen nichts zu fürchten. Im Ge„gentheile, sie wird dadurch erhabener und göttlicher „erscheinen. Welche Form sie auch umkleiden mag, die „ewigwahren Grundvorstellungen dieser Religion werden „immer deutlicher ausgedrückt werden. Die Formen des „Judenthums haben seinen Geist, am Schluffe zweier „Jahrtausende, überlebt; der Geist des Christenthums „wird feine Formen überleben, indem er die für jeden „geistigen und geselligen Zustand des menschlichen Ge» „schlecht- geeigneten annimmt" — Allgemeine Jena'sche Literatur-Zeitung vom Zten September, 1312. Diese Lehre nähert sich in einigen Beziehungen dem Indischen Lehrsätze der von Zeit zu Zeit, und so oft erfolgenden, Menschwerdungen, als Gott den Menschen die Wahrheit erkennen lassen will. Es ist merkwürdig genug, daß man in einer Jüdischen Hypothese eine gleichförmige Vorstellung antrifft. Die Juden gaben Adam, Abraham und David eine und dieselbe Seele, und glaubten, daß diese Seele die des Messias seyn werde. — Barto locci, Biblioth. Rabbiit. Sie behaupteten auch, daß man Clr von PinehaS, dem Sohne deö HcchenpnesterS Eleazar, nicht unterscheiden

— 153 — Ivie schon gesagt, -en Keim eines neuen und wich­ tigen Gedankens enthält. Ich will ihn alsobald entwickeln, vollenden wir aber zuvor die Untersu­ chung, in welchem religiösen Zustande sich Deutsch­ land befindet, Das Lehrgebäude, welches ich vorhin hargelegt habe, ist tröstend und erhaben. Es dürfte nur Einen Schritt weiter gehen, um jene engherzige pnd feindselige Richtung von der Religion zu entfernen, welche dje Wahrheit zu einer Gabe des Zufalls oder der Laune macht, und diejenigen zu ewigen Strafen verdammt, die dieser Wahrheit, phne ihre Schuld, beraubt wurden, ’) dürfe, und daß der Prophet, der halb unter dem Nah,

nun Pinehq», bald unter dem Nahmen Eli, unter den Menschen gelebt habe, nicht ein Mensch, sondern immer

derselbe Engel gewesen sey, der menschliche Gestalt an­ genommen habe, um dem Volte Gottes dessen Rathschläge zu ertheilen. — Origenes, Tractat. VII, — Aegi­ dius Camart, De vebus gestis Eli®,

zj Alle Religionen al« den Einsichten und Sitten her Völker

angemessen« Offenbarungen der Gottheit zu betrachten, deiIt zwischen der Vorsehung und hen Menschen Beziebuhungen a fstellen, hie alle Tugenden und alle Erkennt­ nisse her Menschen zu Gründen der Dankbarkeit und

der klebe machen. Die Griechen waren ft«, aufgeklärt, giüchlich. Hi« Römer zeigen uns, ungeachtet ihres Durste«



155



Aber auch ohne den Mangel aller geschichtli­ chen, übersinnlichen und sittlichen Beweise, würde dieß Lehrgebäude, das Gepräge der Bermenschlü chung (Anthropomorphism's), der schwachen Seite jedes Glaubens, weder dem Verstände, der hand­ greifliche Beweise verlangt, noch dem Gefühle genügen, welches das Wesen, das es verehrt, gern mit einem unbegranzten Wohlwollen und mit nach Eroberungen, — anfangs einer Frucht derRothwen-

diqkeir, dann der Gewohnheit und der Liebe zur Gewalt,— und ungeachtet der zu häufigen Grausamkeiten ihrer auswärtigen Staatskunst, das Bild des vervollkomm­

neten Menschen, seiner Kräfte, seine- Muths, seiner Vaterlandsliebe, aller männlichen, großen, und vielleicht weiter getriebenen Lugenden, als wir jetzt fassen und

begreifen können. Wird nicht die Religion, die so viel Einfluß auf jene beiden Völker hatte, und die folglich

zu ihrer Vervollkommnung beitragen mußte, als ein Segen der Vorsehung betrachtet werden können?

Er­

scheint uns diese Vorsehung, der wir jene allmähligen,

immer reineren und heilbringenderen Offenbarungen verdanken müßten, nicht in Zügen, hie ihrer Gerechtig­

keit und ihrer Güte würdig find?

Ist es nicht süß,

diese Güte und diese Gerechtigkeit über der Freiheit Athen'-, der Vaterlandsliebe Sparta'-, der Hingebung

de- republicanischen Rom'-, wachen; Sokrates begei­

stern, Limoleon Muth einflößen, Cato von Utica -u

sich berufen, Brutus bewaffnen, die Standhaftigkeit Seneca'6 aufrecht erhalten zu sehen?



154



einer unbegränzten Güte schmückt.

Als Offenba­

rung angekündigt, könnte eS über Einwürfe und

Zweifel siegen, und der kriegerischeste aller Pro­ pheten machte eine fast gleichförmige Vorstellung

als Grund

seiner göttlichen Sendung bekannt.

Aber von einem Menschen anderen Menschen vor­

gelegt, muß es, wie alle menschliche Muthmaßun­ gen, auf dem Meere von Muthmaßungen, die sich

einander verschlingen, um wieder zum Vorscheine zu kommen, wenn das Vergessen derselben ihnen wieder den Anstrich der Neuheit giebt, auf gutes Glück Herumtreiben.

Auch die Deutschen sind, nach Verlauf einiger Jahre, über diese Hypothese hinweggcgangen, um

eine weit umfassendere, und in einigen Beziehun­ gen genügendere, anzunehmen.

Gezwungen, sie mit wenigen Worten zu be­ zeichnen, um sie kennen zu lehren, bitte ich meine

Französischen Leser um Nachsicht für die Dunkel­ heit,

die sie auf den ersten Blick darin finden

dürsten.

Diese Dunkelheit wird sich vielleicht auf­

hellen, und ich hoffe, daß sie sehen werden, wie

das Gewölk eine Borstellung einschließt. Die Religion, sagen die Anhänger dieses neuen



155



Lehrbegriffs, ist die allgemeine Sprache der Natur, durch verschiedene Zeichen, verschiedene Lehren, Sinn­ bilder und Gebräuche, ausgedrückt.

Alle Völker

haben, oder wenigstens b e i allen Völkern hat der aufgeklärte Theil, das ist, die Priesterzunst, diese Sprache geredet.

man

Die Verschiedenheiten,

wahrzunehmen

glaubt,

gehende Abweichungen,

wenig

sind nur

welche

vorüber­

wichtige Formen,

die derjenige, welcher die Religion kennen lernen

und über sie urtheilen will, von sich weisen muß,

um sich

bis zur wirklichen und geheimnißvollen

Einheit, in welcher sie sich, wie in einem Mittel­

puncte, verschmelzen,

Bahn zu machen.

Dieser neue Gesichtspunct, aus welchem das gelehrte Deutschland jetzt die Religion

ist von

unermeßlichem Nutzen

betrachtet,

gewesen.

Man

verdankt ihm seit einigen Jahren bewunderungs­ würdige Entdeckungen über die Beziehungen der

Religionen unter einander, über die Verbindungen der Völker, über das gemeinsame Band der Göt­

terlehren.

Man verdankt ihm die Kenntniß des

Alterthums in seiner Tiefe und in seinem Reitze. Unsere Gelehrten hatten die Denkmähler und Ueber­

lieferungen der Vorzeit als Hervorbringungen einer



IZ6



Welt ohn» Leben, oder als Gerippe untergegan­

gener Gattungen studiert.

Die Deutschen haben

in diesen Ueberlieferungen und in diesen Denk­

mählern die Natur deS Menschen aufgefunden; jene N-tur, die, obgleich vervielfältigt, dennoch

stets dieselbe ist, und die man daher zu der leben­ digen Grundlage aller Forschungen und aller Lehr­

gebäude machen muß. Griechenland und der Orient gleichen in den Schriften Freret's, Dupuis's, Saint-

Croix's, aufgetrockneten Mumien.

Unter der Feder

Creuzer's und Görres's werden diese trockenen Mu­

mien erlesene und bewunderungswürdige Bild­ säulen, des Meißels der Praxiteles und PhidiaS

würdig. *)

Alles dient der Vernunft in ihrem ewigen Gange.

Die Lehrgebäude sind Werkzeuge, mit

deren Hülfe der Mensch im Einzelnen Wahrheiten

entdeckt, sogar indem er sich über das Ganze täuscht; und wenn die Lehrgebäude verschwunden sind, blei­ ben die Wahrheiten. *) In Deutschland sind di« Stimmen, vorzüglich Herr-

mann'S und BoffenS, über Wahrheit und Werth der Ansichten Ereuzer'S und seiner Genoffen bekanntlich noch

sehr getheilt. — Vergl. vorzüglich Jen, Literatur-Zeit., i82i, Nr. 81 — 87.

A. d. H.



157



Diese Hypothese biethet außer dem noch eine

richtige Seite dar, die ohnehin in dem Augen­ blicke, da der dogmatische Unglaube eine Art Be­

schwerde oder Ermüdung erzeugt, gleich dem Theism und Pantheism, dem religiösen Gefühle, das, aus

seiner Zuflucht vertrieben, einen neuen Zufluchts­ ort sucht, wohl thun muß; und ich trage kein

Bedenken, es vorher zu sagen, wir werden sie in

Frankreich bald an die Stelle von Dupuis's enger und trockener Lehre treten sehen.

Es wird ein

Sieg für die Einbildungskraft, und, in einigen

Beziehungen,

ein Gewinn für die Wissenschaft

seyn. 9 i) Nicht ohne wahre Zufriedenheit zeige ich hiermit an, daß

das Ganze dieses neuen Deutschen Lehrgebäudes dem Französischen Publicum bald von einem jungen Schrift­

steller vorgclegt werden wird, der mit den ausgebrcitetksten Kenntnissen einen seltnen Scharfsinn, eine roch

seltnere Aufrichtigkeit, und eine Unparteilichkeit verbin­ det, von der unsere Literatur wenige Beispiele auftu* Herr Guignaud wird bald eine Uebersetzung von Creuzer's Symbolik (Symbolik und Mythologie

weisen hat.

der alten Völker- besonders der Griechen, Leipz. 1819,

r82l, 5 Bande in 8 — D. H.) erscheinen lassen, einem Werke, das die Aufmerksamkeit des ganzen unterrichteten

Europa's auf sich gezogen hat, dar aber, in der Urschrift, den Fehler hat, jener Lehrweise und jener Deutlichkeit



158



Gleichwohl scheinen mir diejenigen Gelehrten, welche ihr beigetreten sind, eine, zugleich damit in Verbindung stehende Wahrheit verkannt zu haben, ohne welche dieses Lehrgebäude den eigenthümlichen Fehler aller Lehrgebäude hat. zu ermangeln, deren Bedürfniß Frankreich allein empfin­

det, und ihren Werth schätzt. Der Uebersetzer hat diesem großen Uebelstande dadurch abgeholfen, daß er daS Buch

umarbeitete, und die wichtigen, überall darin zerstreuten, Gedanken und Vorstellungen in ihrer natürlichen Ord­

nung folgen ließ. — (Auch einem Deutschen Auszuge aus der Symbolik und Mythologie, von Moser, Leipz. und Darmst. 1822, rühmt man das Verdienst größerer

Deutlichkeit und Faßlichkeit nach. — D. H.) — WaS der Plan meines Werkes und seine Gränzen mir zu

entwickeln versagten, wird durch Herrn Guignaud's Ar­ beit unerwartete Ausführungen erhalten, und obgleich sich seine Meinungen und meine Zweifel zuweilen im

Obstande befinden, bin ich doch überzeugt, daß er die

Wahrheiten, welche ich aufzustellen suchte, oft, ohne cü

zu wollen, durch unbestreitbare Beweise befestigt haben wird.

Auf jeden Fall wird Herrn Guignaud's Arbeit

den unermeßlichen Nutzen haben, denkenden Freunden, und Bewunderern des Alterthums eine durchaus neue Bahn zu eröffnen, und den Umfang der Vorstellungen über die alten Religionen zu vergrößern, ein Umfang,

der von den Gelehrten des vorigen Jahrhunderts viel

zu geringe angegeben war, und von welchem Dupuis'-

große Arbeit und, seit zwanzig Jahren, einen kleinen Theil für da- Ganze halten ließ.



159



Unstreitig ist die Religion die Sprache,

in

welcher die Natur zu dem Menschen redet; aber diese Sprache ist verschieden; sie war im Munde oder des aufgeklärten

der Völker,

Theils,

der

diese Völker regierte, nicht zu allen Zeiten dieselbe. Sowohl für diesen Theil,

als für den großen

Haufen, ist die Religion einem regelmäßigen Fort­

schreiten unterworfen, dem sowohl die Priester, als

die Tribus, gehorchen.

(das Volk,) welche sie beherrschen, Dieß Fortschreiten ist bei Priester-Re­

ligionen geheimnißvoller, weil unter dem Priester­

joche alles gcheimuißvoll ist.

Zuweilen ist es auch

langsamer, weil die Priester alles mögliche thun, um cS aufzuhalten.

Aber eS erfolgt darum nicht

minder unvermeidlich und gewiß nach bestimmten Gesetzen, die ihren Ursprung im menschlichen Her­

zen haben.

Man irrt also, wenn, anstatt die

reinste Lehre als das Ergebniß der Arbeiten, der

Fortschritte, mit Einem Worte, der sittlichen und geistigen Veredelung des menschlichen Geschlechts zu betrachten,

man annimmt,

daß diese Lehre,

man weiß nicht wie, allen andern Lehren voran­

gegangen sey,

und wenn,

um sie Priesterkasten

zur Ehre anzurechnen, man sie in eine Zeit setzt,



i6o



wo der Mensch unfähig mar, Diese Priester,

sie zu begreifen.

obgleich unterrichteter,

und vor

allem verschlagener, als der große Haufen, hatten sich dennoch keines Weges zu Begriffen erheben

sinne», die nur das langsame und stufenweise Ergebniß einer Reihe beharrlicher Anstrengungen,

mannigfaltiger Entdeckungen und ununterbrochenen Nachdenkens, seyn konnten.

Die Religion zu einer unveränderlichen, und

Nur ungeweihten Blicken verschleierten, machen wollen;

sich schmeicheln,

Einheit

daß man jene

einzige Sprache entdecken werde, und daß sich so­

dann die Gottesverehrungen, Glaubenslehren und Sinnbilder aller Völker als ein Theil jener gehei­

ligten Sprache unfern Augen entschleiern werden,

heißt, eine grillenhafte Hoffnung nähren.

Weder

in den Sinnbildem noch in den Lehren kann diese Einheit gefunden werden.

Aber erforscht die Na­

tur des Menschen, da werdet Ihr, wenn Ahr sie recht studiert, die einzige Quelle aller Religionen

und den Keim aller Abänderungen, die sie erlei­

den, entdecken.

161

Siebtes Capitel.

Plan

meines

Werks.

A)ie Schilderung, die ich eben von der verschie­

denen Art und Weise, wie man bis jetzt die Re,

ligion betrachtete, entworfen habe, scheint mir zu

beweisen, daß in diesem wichtigen Puncte noch eine Lücke vorhanden ist.

Ich habe sie, so viel es mir

meine Kräfte erlaubten, auszufüllen versucht. Ich habe keiner einzigen Glaubenslehre den

Krieg erklärt, die Göttlichkeit keines Glaubens

angegriffen, dem sich öffentliche Verehrung weiht. Aber ich glaube, daß man achtungsvoll — denn alles, was die Religion angeht, verdient Hoch­

achtung — ich glaube, sag' ich, daß man ach­ tungsvoll bedenklichen Fragen ausweichen, und von einer Thatsache, die uns ausgemacht zu seyn

scheint, ausgehen könnte. Erster Band.

Diese Thatsache ist, 11

16a daß da- ttligiöse Gefühl *), ein wesentliches Mahl­ zeichen unserer Natur, eine ihr anklebende Eigen­

schaft ist.

Ich beachtete die Formen, die dieß religiöse Gefühl

annehmen

konnte,

und fand sie der

Lage und dem Verhältnisse Einzelner oder ganzer i) Zch habe daS religiöse Gefühl in einem vorhergehenden Ca­ pitel -u bestimmen versucht.

Aber während deS Drucks

dieses Werks hat der erste der Englischen Dichter eine

Bestimmung desselben gegeben, die mit der meinigen so sehr übereinstimmt, daß ich mich nicht enthalten kann,

sie hier herzusctzen:

How osten we sorget eil time, when loee, Adminng natiire’s universal throne, Her woods, her wilds, her waters, the interne, Reply of hfers to our Intelligence! Live not the stars and mountains ? Are the waves Without a spirit ? Are the drooping caves Without a feeling in their silent tears ? No, no. They woo and clasp us to their spheres, Dissolve thii clog and clod of clay before Its hour, and merge our soul in the great shore, Strip off this fond and false Identity1 Who thinks of seif, when gazing 6n the sky? Lord Byron’s Island, Man versichert mich, daß gewisse Leute Lord Byron deS AthekSw'S und der Gottlosigkeit anklagen. ES ist mehr Religion in diesen zwölf Versen, als in den früheren,

jetzigen und künftigen Schriften aller dieser Angeber zusammen.



165



Völker, die eine Religion bekennen,

nothwendig

angemeffen. In der That, liegt es nicht am Tage, daß

der Wilde, der nur wie die Bewohner der Wälder

für seinen Unterhalt sorgt, nicht dieselben religiö­ sen Begriffe, wie der gesittigte Mensch, könnte?

haben

Wenn die Gesellschaft eingerichtet ist, aber

die natürlichen Gesetze der Welt noch unbekannt

sind, ist es da nicht ganz in der Ordnung, daß dje Kräfte der Natur die Gegenstände der Ver­ ehrung sind?

Wenn in einer vorgerückteren Zeit die Gesetze

der sinnlichen Natur bekannt geworden sind, zieht die Verehrung sich auf daS sittliche Gebieth zurück.

Späterhin, wenn die Verkettung der Ursachen und Wirkungen im Sittlichen entdeckt ist, flieht die Religion

in die übersinnliche und geistige Welt.

Noch später, wenn die Spitzfindigkeiten des Uebersinnlichen, als unfähig, etwas zu erklären, aus,

gegeben worden, findet die Religion im Heiligthume

unserer Seele glücklicher Weise ihre unbezwingliche Zuflucht.

Folgendes war demnach meine erste Grundlage. Ich sagte:

Da

die Gesittung

fortschreitet;

11.

so



164



müssen die religiösen Formen dieß Fortschreiten

ebenfalls erfahren, und die Geschichte hat mich

in diesem ersten Ergebniß meiner Untersuchungen bestärkt. Darauf forschte ich nach den Zeiträumen dieses Foktschreitens, und glaubte wahrzunehmen, daß

jede religiöse Form sich in drei bestimmte Zeit­

abschnitte theilt. Der Mensch verlangt zunächst nach einer Re­

ligion, das heißt, er sucht, gemäß seinem Natur­

triebe und seinen Einsichten, die Beziehungen zu

entdecken, die zwischen ihm und den unsichtbaren Mächten bestehen.

Wenn er diese Beziehungen

entdeckt zu haben glaubt, giebt er ihnen eine

regelmäßige und bestimmte Form.

Nachdem er auf solche Weise für das erste

Bedürfniß (n^cessite) seiner Natur sorgte, ent­ wickelt und vervollkommnet er seine übrigen An­

lagen und Fähigkeiten.

Aber sein Fortschreiten

selbst wird Ursache, daß die Form, die er seinen religiösen Vorstellungen gegeben hatte, zu seinen

entwickelten und vervollkommneten Anlagen und Fähigkeiten nicht mehr paßt. Von diesem Augenblicke an wird die Ver-





165

nichtung dieser Form unvermeidlich.

Da die Viel«

gitterci der Ilias dem Jahrhunderte deS PerikleS

nicht mehr zusagt, so spricht Euripides in seinen

Trauerspielen den entstehenden Unglauben aus. Wenn, wie eS in der Natur der Dinge liegt,

der Fall eines veralteten Glaubens

durch beste­

hende Einrichtungen aufgehalten wird; so erzeugt

diese künstliche Verlängerung für das menschliche

Geschlecht nur ein rein mechanisches Daseyn, wäh­ rend welches alles todt zu seyn scheint.

Begei­

sterung und Glaube wenden sich von der Religion

ab.

Es giebt nur noch Formeln, Uebungen und

Priester. Aber dieser erzwungene Zustand hat auch seine

Gränzen.

Ein Kampf erhebt sich, nicht bloß zwi­

schen der bestehenden Religion und den Einsich«

ten, die sie beleidigt, sondern auch zwischen dieser

Religion und dem Gefühle,

das sie nicht mehr

befriedigt.

Dieser Kampf führt

den

dritten Zeitpunct

herbei, die Vernichtung der aufrührerischen Form, und dadurch die Entscheidungszustände eines voll­ kommenen Unglaubens, Entfchcidungszustände, die

aller Regel und Ordnung entbehren, und zuweilen

166 schrecklich, immer «der unvermeidlich sind, ■ wenn der Mensch von demjenigen befreit werden soll,

waS fortan nur eine Fessel für ihn seyn würde. Auf diese Zeit der Entscheidung folgt stets ein« Form für die religiösen Vorstellungen, die den Kräften und Fähigkeiten des menschlichen ÄeisteS

besser zusagt,

und die Religion geht verjüngt,

gereinigter und schöner aus ihrer Asche hervor.

Don seinem rohesten Zustande an, verfolgt der Mensch diesen Gang,

aber er stößt auf seinem

Wege auf Hindernisse verschiedener Art.

Unter

diesen Hindernissen giebt es innere, und giebt es

äußere. Die inneren Hindernisse sind zunächst seine

Unwissenheit, dann die Herrschaft seiner Sinne, die Beherrschung, welche er von seinen Umgebun­

gen erleidet, seine Selbstsucht, und endlich, in eini­

ger Hinsicht, selbst ein Theil seiner Vernunft.

Es giebt in dem von dem Gefühle getrennten

Verstände einen, wenn man so sagen darf, kör­ perlichen (materiellen) Theil, der sich jedem Auf­ schwünge der Seele widersetzt. *)

Wir haben

i) Die Nymphen, sagt KallimachoS, entdeckten drei geheimnißvoll« Steine, die dazu dienten, die Zukunft zu ent.



167



weiter oben gesehen, daß er von keiner unserer

innigen Aufwallungen Red' und Antwort geben konnte.

Ihn bei seiner Trockenheit und bei seinen

engen Schranken auf die Religion anwenden, heißt die Rechenkunst

auf

die

Dichtkunst

anwcnden.

Man verkennt seine Natur, und macht einen fal­

schen Gebrauch von ihm, wenn man ihn auö sei­

nem Kreise heraus treten läßt.

Er zeigt uns auf

unserer täglichen Wallfahrt wohl die Klippen, an denen wir uns stoßen, und die Abgründe, in die

wir stürzen könnten, aber, zum Himmel gewandt, ist er nur noch eine irdische Fackel, die un- den

Glanz der Gestirne raubt. J)

schielten. Et« Übernichten sie Minerven, die sie au)

ihm

scheint ihm den

Wink zu geben, daß die Macht, welche jene un­ bekannten Kräfte belebt,

nicht ohne irgend eine

Beziehung zu ihm ist.

Er empfindet das Be­

dürfniß, Weise

diese Beziehungen

eine bleibende

auf

zu bestimmen und festzustellen.

jene Gewalt auf gutes Glück auf;

er ruft,

ihr,

er redet mit

er bethet sie an.

Nicht bloß die Furcht läßt, habe,

Er sucht

wie ich gezeigt

diesen Trieb bei ihm entstehen;

denn

die

Gegenstände seiner Furcht sind weder die einzigen, noch die vornehmsten Gegenstände seiner Verehrung.

Unstreitig

stellt er zuweilen diejenigen

in diese

Zahl, die ihm Böses zugcfügt haben, aber er ver­

ehrt unter ihnen auch oft solche,

die ihm durch

sich selbst nicht die geringste Furcht einflößcn.

1) Erste- Buch.

255 Aus dem Schrecken, den er empfindet, wenn

er sie a>on der

göttlichen

schließen zu wollen,

Natur erfüllt

glaubt,

daß dieser Schrecken ihn zu

ihrer Verehrung gezwungen habe, heißt die Wir­ kung für die Ursache nehmen.

Eben

so

erzeugt

wenig

Vortheil seinen ersten Dienst. Gegenständen

nieder,

die

ein

Gedanke

von

Er wirft sich vor

nicht

den

mindesten

Nutzen für ihn haben können.

Daß

nachdem

er er

sie

sie

sich

nützlich

vergöttert

zu

hat,

machen ist

sucht,

ein anderer

Trieb seiner Natur;

diesen Trieb aber wie den

ersten betrachten

wollen,

zu

heißt

wieder

zur

Ursache machen, was nur Wirkung ist.

Der Wilde verehrt verschiedene Gegenstände,

weil er etwas verehren muß; aber welche Gegen­ stände wird er verehren?

bungen.

Nichts von

Er frägt seine Umge­

dem,

kann ihm Auskunft geben.

was ihn umgiebt,

Er kehrt in sich selbst

zurück; er schöpft die Antwort aus seinem eigenen Herzen.

Diese Antwort ist der Schwäche seiner

wenig geübten Vernunft -und

wissenheit angemessen.

seiner tiefen Un.

Diese Vernunft hat noch

keine Vorstellung von dem, was die Gottheit in

854 einer vorgerückteren Zeit ausmacht.

Diese Un­

wissenheit täuscht ihn über die Ursachen der natür­ lichen Erscheinungen.

Der Mensch setzt, wie ich oben bemerkte, x) feine religiösen Vorstellungen stets in das unbe­ kannte.

Für den Wilden ist alles unbekannt.

Sein religiöses Gefühl wendet sich also an alles, was er antrifft.

Ueberall,

wo Bewegung ist,

sieht er auch

Leben; der rollende Stein scheint ihm entweder ihn zu fliehen, oder ihn zu verfolgen; der tosende

Strom stürzt sich auf ihn; irgend ein erzürnter

Geist

wohnt

in

dem

schäumenden Wasserfalle;

der heulende Wind ist der Ausdruck des Leidens

oder der Drohung;

der Wiederhall

des Felsen

prophezeiht oder giebt Antwort; und wenn der

Europäer dem Wilden die Magnetnadel zeigt; so erblickt dieser darin ein

führtes Wesen,

seinem Vaterlande ent­

das sich begierig und ängstlich

nach ersehnten Gegenden kehrt. 2)

i) Erste- Buch. 3) Ein Wilder, der zum ersten Mahle einen Brief sah, und Zeuge von dem Eindruck« der Nachricht war, die er überbracht hatte, betrachtete ihn als ein schwatzhaf­ tes und treuloses Wesen, das irgend ein bedeutendes Geheimniß offenbart hab«.

355

Eben so wie der Wilde überall da, wo Be­ wegung ist, Leben voraussetzt, eben so setzt er überall, wo Leben ist, eine ihn betreffende Wir­ kung oder Absicht voraus. Es währt lange, ehe der Mensch einräumt, daß er nicht der Mittel­ punct aller Dinge sey. Das Kind bildet sich ein, der Mittelpunct zu seyn, um welchen sich alles drehe; der Wilde urtheilt, wie das Kind. Auf solche Weise von mächtigen und thätigen Gegenständen umgeben, die einen beständigen Ein­ fluß auf sein Schicksal haben, bringt er unter diesen Gegenständen demjenigen seine Verehrung dar, der auf seine Einbildungskraft am stärksten wirkt. Der Zufall entscheidet darüber. *) Bald i) Man wird sogleich, und noch in diesem Kapitel, sehen, daß es im Gottesdienste der Wilden noch ganz etwas anderes giebt, als die Verehrung der Gegenstände, die ich andeuten werde; aber ich mußte mit dieser Andeu­ tung beginnen, weil die, jenen Gegenständen darge­ brachten, Huldigungen gleichsam das Aeußere oder da« Wesentliche des Gottesdienstes bilden. Es ist ja gewiß, daß die Amerikanischen Wilden die Gegenstände zu Feti­ schen wählen, die ihnen in ihren Träumen vorkommen. (Charlevoix, Journal,6.243. Lettr.ddif.VI, 174.) Die niedrigeren Stämme der Malabaren machen sich Gitter nach augenblicklicher Laune; ein Baum, da­ erste Thier, welche- sie erblicken, wird ihre Gottheit.



256



ist es der Felsen, bald der Berg, zuweilen ein Stein, oft ein Thier. Die Lungusen stecken, wo es ihnen gut dünkt, eine Stange in die Erde, hängen einen Fuchs- oder Zobelbalg daran, und sagen: Das soll unser Gott seyn. Die Eanadischen Wilden werfen sich vor der Haut eines Bibers nieder. (Paw, Recherches sur les Americains, Untersuchun­ gen über die Amerikaner, I, 118.) Bei den Negern von Biffao erfindet oder verfertigt ein jeder sich seine Gottheit selbst. (Histoire general des voyages, All­ gemeine Geschichte der Reisen, II, 104.) ES giebt in den Wüsten Lapplands einzelne Steine, die eine rohe Aehnlichkeit mit der Gestalt des Menschen haben. Wenn die Lappländer in der Nähe dieser Sterne vorbeikommen; so verfehlen sie, auch noch jetzt, nie, einige Rennthiere zu opfern, deren Gehörne man um diese Steine her sindet. (Voyages d’Acerbi, Acerbi's Reisen.) Man wird sich vielleicht wundern, baß ich die Anbethung der Sonne und der Gestirne im Götterdienste dec Wilden nicht besonders aufführe. Es geschieht deshalb nicht, weil, wenn die Verehrung der Gestirne der herr­ schende Götterdienst eines Stammes ist, seine Religion einen Gang nimmt, der von demjenigen, der jetzt der Gegenstand meiner Untersuchungen ist, gänzlich abweicht. Zch werde davon tm folgenden Buche handeln, und schiebe bis dahin alles, was ich über die Anbcthung der Gestirne zu sagen habe, auf. In Ansehung der Wilden, für welche die Sonne und die Gestirne nur wie alle übrigen Gegenstände, die ihnen auffallen, Gegenstände der Verehrung sind, ändert diese Verehrung in keiner Weise etwas an der Eigenthümlichkeit der Religion, der



257



Diese Verehrung der Thiere scheint unS etwas

seltsames zu seyn.

Wenn wir jedoch darüber nach­

denken; so werden wir sie sehr natürlich finden. ES ist in den Thieren etwas unbekanntes, wir

könnten sagen geheimnißvolles, vorhanden, daS den Wilden veranlassen muß, sie zu verehren.

Die Unmöglichkeit, sie zu beurtheilen und zu begreifen, eine Unmöglichkeit, die wir übrigens sie angehört.

Fast alle Amerikanische Wilden verehren

die Sonne, (Allgemeine Geschichte der Völker und Länder

von Amerika, I, 61-64.); aber ihre Religion ist darum

nicht minder von der Religion der Völker, bei denen die Verehrung der Gestirne im Schwange geht, ver­ schieden. Dasselbe ist der Fall mit dem Feuerdienste. Wenn dieser Dlenst nur eine einzelne Verehrung ist, wie sie die Wilden dem ersten besten Thiere oder Baume erweisen, so ist in der Religion nichts verändert.

Auf

solche Weise bethen die Horden Sibirien'- und die de-

nördlichen Amerika'- das Feuer an, während den Afri­ kanischen Völkerschaften diese Anbethung immer fremd geblieben ist. (Meiners, Kritische Geschichte, I, 237.) Indessen ist zwischen der Religion Sibirien'- oder der an den Ufern de- Ohio, und der Religion auf der Küste von Guinea nicht der geringste wesentliche Unterschied. Wenn der Feuerdienst hingegen -um Dienste der Elemente ge­ hört; so kündigt er eine ganz andere religiöse Form an, mit der ich mich erst späterhin werde beschäftigen

könne». Erster Banb.

17



2g8



mit ihnen theilen, die wir aber aus Gewohnheit nicht Mehr wahrnehmrn; ihr viel sichererer Natur­

trieb, als unsere Vernunft; ihre Blicke, die so

kräftig und lebhaft ausdrücken, was in ihnen vorgeht; die Verschiedenheit und Seltsamkeit ihrer

Gestalten; die oft in Staunen setzende Schnellig« keit ihrer Bewegungen; ihr Mitgefühl mit der Natur, das ihnen die Annäherung der natürlichen

Erscheinungen verkündigt, die der Mensch nicht voraussehen kann; endlich, die Scheidewand, die der Mangel der Sprache auf ewig zwischen ihnen

und ihm bildet — dieß alles macht sie zu räth-

felhasten Wesen. „Man müßte, bemerkt der scharfsinnige Hee„ren, *) selbst an der Stelle des Wilden gewesen i) Heeren, Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Bittet der alten Welt. — Die Irokesen und Delaware» glauben den Thieren die Art von Gesittung zu verdanken, zu welcher sie gelangt sind. Jeder ihrer Stimm« unterscheidet sich durch den Nah­ men einet Thier», zum Gedächtnisse solcher Wohlthat, von der sie «och mit Dankbarkeit reden. Die Monsey'j erzählen, das sie anfangs im Schooße der Erde, unter einem See, wohnten. Einer von ihnen entdeckte eine Oeffnung, durch dje er zur Oberfläche stieg. Ein Wolf, der eine Deute suchte, tödtete einen Dammhirsch, den

— »59 — „seyn, um das Verhältniß aufzufassen, in welchem „er mit den Thieren zu stehen scheint." der Monsey mit sich in seine unterirdische Wohnung nahm. Erfreut über diese unbekannte Speise, verließ der ganze Stamm seine finstere Wohnung, um an einem Orte Wohnung zu machen, wo da- Himmelslicht seine Blicke erfreute, und die Jagd ihn mit überflüssiger Nahrung versorgte. Daher die Verehrung, deren Gegen­ stand bei ihnen der Wolf, wie bei andern die Klapper­ schlange geworden ist, die sie ihren Großvater nennen. „Es liegt am Lage," setzt der Verfasser hinzu, au- dem ich diese Einzelnheiten entnehme, „daß die Indianer sich „in der ersten Zeit auf gewisse Weise als die Bunds„genossen gewisser Thiere betrachteten. Die ganze be„lebte Natur, auf welcher Stufe es auch sey, ist in „ihren Lugen ein großes Ganzes, von welchem sie sich „noch nicht zu trennen versucht haben. Sie schließen „die Thiere von dem Aufenthalte der Geister, zu welchem „sie nach ihrem Lode zu gelangen hoffen, nicht aus." (Histoire, moeurs et coutumes des nations indi» ennes, qui habitoient autrefois la Pensylvanie et les ^tats voisins, par J. Heckewelder, missionnaire morave, Geschichte, Sitten und Gewohnheiten der In­ dianischen Völkerschaften, die vormahls Penshlvanien und die benachbarten Staaten bewohnten, von I. Heckewelder, Moldauischem Missionär, Paris ißat, S. 397. 406.) Die Meinung, daß zwischen den Thieren und den Men­ schen eine Art von Verwandtschaft bestehe, ist auf allen Westindischen undSüdsee-Jnseln verbreitet. (Hawkesworth, Account of tlie voyages, etc. Nachricht von Reisen rc. UI, 758. Mars den, history of Su-



o6o



So lange er ihnen durch ihre Unterjochung

nicht den räthfelhaften Zauber genommen hat, so lange theilen sie mit ihm Leben und Herrschaft,

so lange herrschen sie als seines gleichen in den

Wäldern.

Sie sprechen ihm Hohn in den hohen

Lüsten, wie in den tiefen Wellen.

Sie besitzen

einige feiner Kräfte in einem höheren Grade; sie sind bald seine Sieger, bald seine Beute, und man begreift, daß, indem er überall den verbor­ genen Sitz der unsichtbaren Kräfte sucht, er ihn

oft im Innern jener Wesen findet, deren Daseyn

ihm durch nichts erklärt, und deren Bestimmung ihm durch nichts offenbart wird.

Die Verehrung, welche der Wilde den Thieren erweist, erstreckt sich sogar noch über den Zeitpunct hinaus, wo er sie zähmt, und sich dienstbar macht.

Der Besitz eines Hausthiers bringt in seinem

Leben eine so große Umwälzung hervor, daß er

darüber nur noch geneigter wird, diesem neuen matra, Geschichte von Sumatra, 259.

Dalentyn, Nach­

richten aur Ostindien, II, 139. 400.)

Einige Stämme

behaupten, daß die Weiber zuweilen Kroktdilie zur Welt

bringen, die man sofort in den nächste» Sumpf trägt,

die man aber immer kennt, und welche die Kinder der Fa­ milie AS Brüder behandeln. (Hawketworth, daselbst.)

26 l Gefährten seiner Arbeit eine fast göttliche Natur beizulegen. *) Die Kamtschadalen, die nur eine einzige Gat«

tung gezähmt, und sich dienstbar gemacht haben, lassen sich nach ihrem Tode von den Thieren dieser

Gattung zerfleischen, in der Hoffnung, auf solche Weise wieder zu ihren Vorfahren zu gelangen.

Der treue Hund, der Glück und Unglück dieser Welt mit ihnen theilt, wird ihr Führer in eine

künftige Welt. 3 1)*

Der Vorzug, den der Wilde diesem oder jenem

Thiere, ausschließlich vor einem andern, giebt, ein Vorzug, den man oft einer Reihe verschlungener

Ursachen beimeffen wollte, 3) rührt von Zufällig-

1) Herder, Idee» zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, I.

Sie geben ihre Todten den Hunden, um sie zu zerflei­ schen und aufzufressen. (Steller, Beschreibung von Kamtschatka, S. 273 ) Die Perser hatten eine ähnliche Gewohnheit. Sollte sie, bei dem außerordentlichen Werthe, den die Borfahren der Perser, die oor Eyrut fast eben so wilde Bergbewohner, al« die Kamtschadalen, waren, dem Besitze eines Hausthiers beilegten, ihren Ursprung nicht demselben Grunde verdanken? EL ge­ schieht oft, daß die Ursachen vergessen werden, di« Ge­ wohnheiten jedoch sich erhalten. 3) Wenn ich weiter unten von der Verehrung der Thiere

s6a

feiten her, deren Spur bald verschwindet.

Die

Troglodyten, von denen' uns Plinius erzählt, ver­ ehrten die Schildkröten,' die bis zu ihnen her­

schwammen. *)

Der Glanz der Farben, die schil­

lernde Haut, die gewaltige Schnelligkeit der Be­

wegungen, haben den Schlangen vielleicht die religiöse Verehrung zuwege gebracht, deren An­

denken ihnen dann nachher ihren ausgezeichneten

Platz in den meisten Götterlehren erwarb. 2) bei den gesitteten Völkern, zum Beispiele bei den Aegyp-

tiern, handele, werde ich die gänzliche Derthlosigkeit und Unbrauchbarkeit der Erklärungen darthun, welche

die meisten alten und neueren Schriftsteller über diesen Gottesdienst gegeben haben.

i) Plinii Histor. natur. IX,

ia

8) Alle Ursachen aufzuführen, welche der Unwissenheit Ge­

genstände der Verehrung liefern, würde eine überflüssige

und endlose Arbeit seyn.

Die geringfügigsten Umstände

tragen dazu bei, und ihre Aufzählung würde in« unend­ liche gehen.

Die Grubenarbeiter in Irland glauben an

Gchutzgeister, die mit ihnen arbeiten.

KnoSerS (Klopfer).

Sie nennen sie

Sie hören sie nur bann nicht,

wenn sie selbst ihre Arbeit unterbrechen. (Gtäudlin, Magazin zur ReligionS-Kunde, I, 518. 519.) ES ist

offenbar der Mederhall. Wer zweifelt, daß eine Völker­ schaft, bek der eS keinen eingeführten Götterdienst gäbe, diese KnockerS nicht zu ihren Gottheiten machen

würde? Dasselbe würde den Bergschotten begegnen, die



s6z



Immerhin aber hat die Borstellung des Nutzens so geringen Einfluß auf den Grund der Vereh­

rung, daß der Verehrer den Götzen, wenn dieser

noch heutiges Tages einem gewissen guten Gerste, damit er ihre Heerden beschütze, und den Fleisch fressenden Thieren, damit sie dieselben verschonen, eine Art von Verehrung und Dienst erweisen. (Pennant’s Scott­ land, S. 97.) Dre Neger von Juidah haben eine große, nicht giftige, und sehr leicht zu zähmende, Schlange zu ihrem Fetische gemacht, weil sie einer dieser Schlangen, die vor ihrem Siege über eine benachbarte Horde in ihr Lager gekommen war, diesen Sieg -ugeschrieben hatten. (Desmarchais, Voyage en Guine'e, Reise nach Guinea, II, 133.) Zu Folge einer ähnlichen Sage er­ wiesen die Delawaren der Nachteule eine Art von Ver­ ehrung. In einem Kriege, den sie gegen ein mächtigeVolk führen mußten, waren sie, hieß e-, tn ihrem Lager eingeschlafen, und merkten keine Gefahr, als die große Schildwache deS menschlichen Geschlechts, die Nachteule, mit Einem Mahle Lärm schlug. Alle Vögel ihres Ge­ schlechts wiederhohlten ihr Geschrei, da- wie „Auft auf! Gefahr! Gefahr!" zu klingen schien. Indem sie nun diesem Aufrufe gehorchten, und jeder seine Waffe ergriff, gewahrten sie zu ihrem großen Erstaunen, daß der Feind sie zu umringen suchte, und daß sie sämmtlich während ihres Schlafe- würden niedergemetzelt worden seyn, wenn die Nachteule sie mcht zur rechten Zeit benach­ richtigt hätte. (He cke weider, Moeurs des In­ diens de Pensylvanie, Sitten der Jndraner Pensylvarnen's, S. 339.)



264

ein lebendige- Wesen ist,

— ost tidtet,

um ihn

überall bei fich haben zu können; *) und eS ist

wieder so wahr, daß da- Unbekannte der Krei­ der Verehrung ist, daß in dem Zeitpuncte, in

welchem der Mensch fast alle Thiere verehrt, niemahls seines gleichen Verehrung weiht.

er

Der

Mensch ist das, waS er am besten kennt, und das ist der Grund einer Ausnahme, die vielen Schrift­

stellern aufgefallen ist, ohne daß sie die Ursache derselben entdeckten.

Dieser rohe Gottesdienst ist dem unwissenden Menschen so natürlich, daß er in dem Augenblicke

zu ihm zurückkehrt, in welchem er aus den Banden der öffentlichen Religion entlassen, oder von ihren Vortheilen zurückgewiesen wird.

Die Indischen Parias, die von der Gemein­

schaft mit andern Kasten mit Abscheu ausgestoßen, und bei keinem Gottesdienste zugelassen werden,

auch keinem unterworfen sind, haben diesen Glau­ ben wieder angenommen.

Jeder von ihnen, er­

zählen unS die Reisenden, 1 2) wählt sich seinen 1) Lettr. ddif. VI, 174. r) Roger, Pyrard, I, »76« — Hamilton, New Ac­ count of the east Indies, Neuer Bericht von Ost­ indien, 310« Sonnerat, I, 47.

— eigenen Gott.

s6§



Es ist bald diese-, bald jene- Thier,

ein Stein, oder ein Baum. Zn China, wo die Religion nur eine Form

ist, und die Mandarinen Pantheisten oder Athei­ sten sind, *) verehrt das Volk die Schlangen, und 1) Ich will nicht behaupte», baß e- unter den religiöse» Philosophien der Chinesen nicht Eine gäbe, die sich dem LheiSm näherte. Einer der besten Köpfe, und de» ausgezeichnetesten Gelehrten, die wir in Frankreich haben, Herr Abel R^musat, scheint einen, wegen seiner Ueber­ einstimmung mit dem Platoni-m Griechenland'-, sehr merkwürdigen Chinesischen PlatoniSm entdeckt zu haben. Da ich seine Denkschrift, die ich mir nicht verschaffen konnte, nicht genau kenne; so kann ich darüber nicht entscheiden. Da da- menschliche Geschlecht unmöglich unthätig -usehen kann, wenn der Unglaube es unter­ drückt, oder die Zweifelsucht eS beunruhigt; so scheint eS mir ziemlich wahrscheinlich zu seyn, da- man sich in China, wie in den letzten Zeiten der Griechischen Phi­ losophie, seit langer Zeit in Versuchen erschöpft habe, um mit Hülfe de- abgezogenen Denken- wieder -um Glauben zu gelangen; aber ich rede von dem bestehen­ den, und gleichsam sichtbaren Zustande der Chinesischen Religion. China, mit welchem Europa täglich eine auf­ fallendere Lehnlichkeit erhält, China, von der kaiserlichen Zeitung und dem Bambu-stocke regiert, hat so viel we­ niger Ueberzeugung, al- es Formen mehr hat, und muß an Aberglauben mehr haben, wa- eS an Ueberzeugung weniger hat. Gin traurige- Ergebniß der Herrschgewalt, und einer übergroßen Verfeinerung, ist China für die

266 biethet ihnen Opfer dar. >) Gleichwohl heschränkt sich das religiöse Gefühl nicht auf die Erzeugung

dieser engen- und rohen Form.

Ueber den Feti­

schen^ 8) körperlichen Gottheiten, die das Bedürfniß Europäischen Völker, waS die Mumien bei den Aegyptifchen Festen waren, das Bild einer vielleicht unver­

meidlichen Zukunft, die man sich zwar au- dem Ginne schlägt, der mau aber mit großen Schritten entgegen geht.

1) Barro w, Travels in China, Reisen in Chino, S 534. In Tonquin verehrt jeder kleine Ort einen besonderen

Schutzgeist, den er, wie im alten Aegypten, unter der

Gestalt eines Hundes, einer Schlange, oder irgend eines

andern Thiers, vorstellt. (Des AbtS Rich ard Voyage au Tonquin, Reise nach Tonquin.) Die Theokratie der

Hebräer bewahrte sie nicht immer vor jeder Spur von Fetischdienste. ES wäre vielleicht gewagt, in der Ver­ ehrung deS von Jakob geheiligten Steines Dethel den

Dienst der Steine erkennen zu wollen.

Aber die eherne

Schlange, welche Moses in der Düste aufrichten ließ, und welcher »die Hebräer Weihrauch darbrachten, ist eine

offenbare Spur vom Lhierdienfte.

Die furchtsame und strenge Ordnung der Leviten scheint nicht darüber er­

schrocken zu seyn.

Die dem Mosaischen Gesetze ergeben,

sten Könige, David, Josaphat, Jonathan, duldeten ihn. Erst unter Ezechiar ward er Untersagt.

3) Ich habe den Gottheiten der Wilden den Rahmen Fe­

tische gegeben, weil diese Bezeichnung die gewöhnlichste, und eben deshalb von allen die verständlichste ist. Man

weiß übrigens,

daß sie die Erfindung Europäischer



267



des Augenblicks erzeugt, anrust, und vernichtet,

schwebt stets ein unbestimmterer, geheimnißvollerer, auf das gemeine Leben weniger anwendbarer Be­

griff, der jedoch das Gemüth des Anbethenden

mit einer tieferen Verehrung, mit einem innigeren Gefühle, durchdringt.

Bei dem Wilden, wie bei dem gesitteten Menschen, neigt die religiöse Richtung sich zu der

Borstellung des Unendlichen und Unermeßlichen.

Daher jener große Geist, der in den Wolken, über den Bergen, in der undurchdringlichen Tiefe der Meere, thront, stets unsichtbar ist, und selten angerufen wird, weil er an dem Geschicke der

Erdbewohner wenig Antheil nimmt, zu welchem gleichwohl die Seele sich auffchwingt, gleich als

wenn sie sich Mühe gäbe,

zu edleren Begriffen

zu gelangen, als diejenigen sind, welche die Un­ wissenheit den Menschen liefert. Reisendm, und von einem Portugiesischen Worte horgenommm ist. Der Rahme Fetisch ist bei den verschiede­ nen Lblkerschaften, die sich zu diesem Dienst» bekennen,

nicht allgemein. Der Oftiake nennt sie seine Starryks, der Irokese feine Beutelratzen re. ES schien mir unnbthkg, diese verschiedenen Rahmen beizubehalten, da die verschieden aukgedrückt» Borstellung doch immer dieselbe

ist.

s6tz Diese Richtung ist sehr gebietherisch, da sie sich bei den dümmsten Horde« findet.

Die Cueis,

oder Bergbewohner von Tipra, im östlichen Ben» galen, find die unwissendsten, rohesten und grau­

samsten Wilden.

Sie glauben,

daß in jedem

Baume eine Gottheit vorhanden ist. keine bestimmte Gesetze.

Sie haben

Der Mord wird bei

ihnen nur von den Lenvandten des Gemordeten

gestraft,

wenn diese Macht genug haben, ihn

rächen zu können.

nicht darum.

Die Gesellschaft kümmert sich

Sie schneiden den Weibern ihrer

Feinde den Kopf ab, wenn sie sie unvertheidigt

antteffen, und haben sie eine schwangere Frau

getödtet;

so gereicht ihnen daö zu besonderer

Freude und zu besonderem Ruhme.

Indessen

erkennen sie einen großen Geist an, der mit den

sämmtlichen übu'gen Gottheiten, die sie verehren, nicht- gemein hat, *) und den sie durch kein Bildniß darzustellen wagen. a)

Ein Amerikanischer Wilder, dessen Fetisch ein Stter war, erklärte einst dem Missionär, der ihn

beftagte, daß er nicht den Stier selbst, sondern i) Asiatic researdiee, Asiatische Forschungen, 11,187*193.

a) Daselbst, VII, 196.



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eine Beutelratze der Stiere verehre, die unter der Erde verborgen sey, und mit ihrem Athem all«

Thiere seiner Gattung belebe.

Er setzte hinzu,

daß diejenigen, welche die Bären verehrten, gleich­ falls an eine Beutelratze der Bären glaubten,

und als man ihn fragte, ob eS keine für die

Menschen gebe, war seine Antwort bejahend. *) Es ist dieß offenbar eine Bemühung deS Wilden, seine Begriffe zu verallgemeinern; es ist daS reli­

giöse Gefühl, das gegen eine rohe Form ankämpft, und unter dieser Form, die eS verhüllt und ein­

zwängt, leicht verkannt werden kann. 8) i) Bogel, Versuch über die Religion der Aegypter und Griechen, S. ior.

Lasiteau, Moeurs des Sauva­

ges, Die Sitten der Wilden, I, 370. VI, 171.

Lettr. )

tobte,

und

ein anderer, daß er seinen Freund

er

tödtet ihn. 2)

machen

sich auf den Weg,

obern,

dessen Eroberung einem

geträumt hat. 3)

Man

Ganze Stämme

um dasjenige zu er­

ihrer Mitglieder

begreift leicht,

welche

Gewalt diese Ueberzeugung den Dollmetschern der himmlischen Winke verleihen muß. Eine letzte Ursache der Macht jener Menschen

ist

endlich

das Bedürfniß,

in der Zukunft zu

lesen.

Man hat mehr als Ein Mahl die Bemerkung

daß die Nichtkenntniß der uns

gemacht,

bedro­

henden Ereignisse die größte Wohlthat sey, welche wir der Natur verdankten.

Schon die Vergangen­

heit macht die Ertragung des Lebens schwer genug. Es

hat

niemand das Drittheil seiner Laufbahn

vollbracht,

ohne

über

zerrissene

Verbindungen,

vernichtete Täuschungen, geschwundene Hoffnungen

seufzen zu müssen.

Was würde erst seyn, wenn

der Mensch, bei einem Herzen, das Errinnerungen

1) Charlevoix, Journal, 354» 2) Daselbst. 3) Daselbst, 355.



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des Todes schon gebeugt hätten,