Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten: Erster Band [1 ed.] 9783428427024, 9783428027026


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German Pages 452 [464] Year 1972

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Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten: Erster Band [1 ed.]
 9783428427024, 9783428027026

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Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten Erster Band

Die Ludwig-Maximilians-Universität

in ihren Fakultäten Im Auftrag von Rektor und Senat herausgegeben von Laetitia Boehm und Johannes Spörl

Erster Band

DUNCKER

&

HUMBLOT •

BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1972 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1972 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

ISBN 3 428 02702 7

Inhalt Geleitwort des Rektors Prof. Dr. phil. Nikolaus Lobkowicz.............................

9

Vorwort der Herausgeber .....................................................................................

11

Die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt (1472 - 1800) Von Prof. Dr. theol. Georg Schwaiger ........................................................

13

Die Anfänge der Theologischen Fakultät........................................................

17

In den Wirren der Reformationszeit — Dr. Eck.............................................

34

In der Zeit der Katholischen Reform und Gegenreformation — Die ersten Jesuiten ......................................................................................................... 51

Von der Welt des Barocks zur Aufklärung.....................................................

89

Zwischen aufgeklärter Reform und Reaktion................................................. 102

Geschichte der Staatswirtschaftlichen Fakultät Von Prof. Dr. oec. publ. Hubert von Pechmann.......................................... 127 Vorgeschichte: Die Kameralwissenschaften an der Universität Ingolstadt 127 Das Kameralinstitut und die Sektion der staatswissenschaftlichen Kennt­ nisse in Landshut ......................................................................................... 136 Die Staatswirtschaftliche Fakultät in München in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ........................................................................................... 140 Die Staatswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts......... 145 Der Ausbau der Forstwissenschaft................................................................... 147

Die Wirtschaftswissenschaften im frühen 20. Jahrhundert........................... 153

Die Forstwissenschaften bis zum zweiten Weltkrieg...................................... 160 Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg............................................................. 168 Literaturhinweise ................................................................................................ 182

Die Medizinische Fakultät von 1472 bis zur Gegenwart Von Prof. Dr. med. Heinz Goerke................................................................... 185

Ingolstadt 1472 - 1800 ......................................................................

185

Landshut 1800 - 1826 ............................................................................................ 205

6

Inhalt München 1826 - 1971: Kliniken und Institute................................................... 209 Gestalten und Ereignisse aus der Geschichte der einzelnen Disziplinen .... 214 Literaturhinweise ................................................................................................ 279

Chronik der Tierärztlichen Fakultät Von Prof. Dr. med. vet. Joachim Boessneck................................................. 281 Gründung der Tierarzneischule (1790) .............................................................. 281 Tierarzneischule (1790 - 1810) ............................................................................ 285

Central-Veterinär-Schule (1810 - 1851) ............................................................ 288

Zentral-Tierarzneischule (1852 - 1890) ............................................................. 294

Tierärztliche Hochschule (1890 - 1914) ............................................................... 301 Tierärztliche Fakultät (seit 1914) ....................................................................... 311

Ehrenpromotionen an der Tierärztlichen Fakultät.......................................... 343

Literaturhinweise ................................................................................................ 344 Bilder aus der naturwissenschaftlichen Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität Von Prof. Dr. phil. Helmuth Gericke und Mitarbeitern.................................. 347 Einleitung. Von Prof. Dr. phil. Helmuth Gericke .......................................... 347 Die Entwicklung der biologischen Fächer an der Universität München im 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Unterrichts. Von Dr. rer. nat. Brigitte Hoppe .................................................................................................. 354

Philipp Ludwig von Seidel und Gustav Bauer, zwei Erneuerer der Mathe­ matik in München. Von Prof. Dr. phil. Helmuth Gericke und Dr. rer. nat. Hellfried Uebele................................................................................................ 390 Adolf Baeyer (1835 - 1917). Von Dr. rer. nat. Otto Krätz............................... 401

Hugo von Seeliger (1849 - 1924). Von Prof. Dr. rer. nat. Felix Schmeidler .. 410

Heinrich Paul Groth, Kristallograph und Mineraloge (1843 - 1927). Von Dr. rer. nat. Karl-Ludwig Weiner........................................................................ 417 Arnold Sommerfeld (1868 - 1951). Von Prof. Dr. rer. nat. Armin Hermann .. 435

Bildtafeln Grabplatte von Georg Zingel in der Franziskanerkirche Ingolstadt .... nach 32 Grabplatte von Johann Permeter von Adorf im Liebfrauenmünster Ingol­ stadt ........................................................................................................... vor 33

Karl Friedrich Schimper: Vorträge über die Pflanzen, geh. in München im WS 1831/32, Nachschrift mit Unterstreichungen und Ergänzungen von der Hand L. Radlkofers .............................................................................. nach 356 Karl Friedrich Schimper: Titelseite der Vorlesungsnachschrift „Ueber Classi­ fication und Schöpfung des Thierreichs und die damit im Zusammenhänge stehenden geologischen Erscheinungen“, vorgetr. in München im WS 1835/36 ....................................................................................................... vor 357

Carl Friedrich Philipp v. Martius: Brief an seinen Nachfolger, den o. Prof, der Botanik Carl Wilhelm Nägeli, vom 8. April 1857 ........................... vor 357 Carl Wilhelm Nägeli: „Botanik“, Titelseite der Vorlesungsnachschrift von Ludwig v. Ammon, WS 1869/70 und SS 1870 .......................................... nach 364

Carl Theodor Emst v. Siebold: „Zoologie“, erste Seite der Vorlesungsnach­ schrift von Ludwig v. Ammon, WS 1869/70 ........................................ vor 365 Carl Theodor Emst v. Siebold: Aus der Vorlesungsnachschrift „Zoologie“ über die von Siebold nachgewiesene „Parthenogenesis der Bienen“ mit Würdigung der Leistungen seines Vorläufers J. Dzierzon................ nach 368 Carl Theodor Emst v. Siebold: Aus der Vorlesungsnachschrift „Zoologie“ über die von Siebold aufgeklärten „Generationen des Bandwurms“ .. nach 368

Richard Hertwig: Porträt, stehend, um 1925 ................................................. vor 369 Richard Hertwig: Brief an den Münchener Forschungsreisenden G. Merz­ bacher vom 12. Mai 1907 ....................................................................... nach 384 Karl Goebel: Porträt, sitzend, München 1913............................................. vor 385

Geleitwort des Rektors Nikolaus Lobkowicz Diese Festschrift anläßlich der 500-Jahrfeier enthält die Geschichte unse­ rer Fakultäten. Gleichzeitig ist heute schon die Zeit abzusehen, in der es an der Ludwig-Maximilians-Universität keine Fakultäten mehr geben wird — und auch keinen Rektor, der eine Festschrift einleiten könnte. Die Fakul­ täten werden sich in Fachbereiche verwandeln, dem Rektor wird ein Präsi­ dent folgen. So fällt es nicht leicht, die geeigneten Worte zu finden, um den vorliegenden Band (der bald durch einen zweiten ergänzt werden soll) vor­ zustellen. Soll man den wehmütigen Ton einer Abschiedsstimmung wählen oder die vergangenen 500 Jahre Vergangenheit sein lassen und optimistisch in die Zukunft blicken? ,Facultas4 bedeutet wörtlich soviel wie ,das Vermögen, etwas zu tun4, ,der Bereich, den man beherrscht4. So ist der Ausdruck ,Fachbereich4 gar nicht eine ungeeignete Bezeichnung dafür, was Fakultäten waren und noch sind — organisatorische Grundeinheiten der Universität, in denen ein Wissens­ bereich beherrscht wird bzw. dessen Beherrschung und die für sie erforder­ lichen Fähigkeiten vermittelt werden. Da auch die neuen Fachbereiche solche Grundeinheiten sein sollen, scheint eine Abschiedsstimmung fehl am Platze. Dies ist um so mehr der Fall, als es in den letzten Jahrzehnten den Fakul­ täten immer schwerer fiel, ihre satzungsgemäße Verantwortung für For­ schung und Lehre wahrzunehmen. Die in den Fakultäten vereinten Fächer waren und sind teilweise immer noch zu heterogen, um den Fakultäten zu erlauben, Forschungsvorhaben zu planen und Studienplätze zu entwerfen; man mußte diese Aufgaben den einzelnen Fächern überlassen. Einige Fakul­ täten haben daraus die Konsequenz gezogen und sich in mehrere Fakultäten geteilt, die nun weitgehend demjenigen entsprechen, was ein Fachbereich sein wird. Andere Fakultäten haben sich zu Teilungen entschlossen, weil sie zu groß geworden waren, um sinnvoll tagen zu können. In dieser Hinsicht ist es nur zu begrüßen, daß aus den Fakultäten demnächst Fachbereiche wer­ den sollen. Und auch in einer anderen Hinsicht. Bisher waren nur Lehrstuhl­ inhaber geborene Mitglieder der „engeren Fakultät44, die alle Entscheidun­ gen traf; dies führte dazu, daß viele in Lehre und Forschung bewährten

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Geleitwort des Rektors

Hochschullehrer jahrzehntelang und oft ihr ganzes Leben an grundsätz­ lichen Entscheidungen nicht mitwirken konnten. Dies soll in den Fachbe­ reichen anders werden — und ich bin entschieden der Meinung, daß dies gut ist. Ob sich die Fachbereiche besser bewähren werden als die Fakultäten, wird die Erfahrung lehren; man sollte über sie nicht zu früh ein Urteil fällen, sei es pro oder contra. Aber ich kann es in diesem Geleitwort nicht unterlassen, hinzuzufügen, daß der Wandel von Fakultäten zu Fachbereichen nicht weni­ ger als jener vom Rektor zum Präsidenten auch eine häßliche Dimension hat: die totale Diffamierung der „alten“ Universität. Wer Wert darauf legt, als fortschrittlich zu gelten, gebraucht ,Fakultät4 und ,Rektor4, als ob dies Bezeichnungen für antediluvianische Monstren wären und besteht darauf, daß die Grundeinheiten der Universität ,Fach­ bereich4 und der Leiter der Universität ,Präsident4 heißen müsse. Nun war und ist gewiß vieles an den deutschen Universitäten nicht in Ordnung; und ohne Zweifel sind heute einschneidende Reformen nötig — auch solche, die jenen weh tun, die stolz auf die Tradition ihrer Universität sind. Aber so verwerflich, daß althergebrachte Bezeichnungen verfemt sein und im Zeit­ alter der Enttabuisierung zu neuen Tabus werden müßten, war die „alte“ Universität gewiß nicht. Vielleicht kann diese Festschrift dazu beitragen, dem aufgeschlossenen Leser zum Bewußtsein zu bringen, wieviel Sorgfalt und Fleiß, wieviel Bil­ dung und Wissen, wieviele schmerzliche Entscheidungen und weitsichtige Energien seit langer, langer Zeit in Fakultäten investiert worden sind. Man kann nur hoffen, daß in zehn Jahren den Fachbereichen und der neuen Universität ebensoviel bescheinigt werden kann.

Vorwort der Herausgeber Die Ludovico Maximilianen begeht ihre Fünfhundert jahrfeier zu einem Zeitpunkt, da die historische Verfassungsstruktur der Universität als eine von den Fakultäten getragene lehrende und forschende „Universitas litterarum“ in Frage gestellt ist. Seitdem vor einigen Jahren Rektor und Senat zusammen mit den Herausgebern und mit den Autoren dieses Bandes die wissenschaftliche Vorbereitung des Universitätsjubiläums kon­ zipierten, hat die Entwicklung der Universität München eine so entschei­ dende Phase des Wachstums und des Verfassungswandels durchgemacht, daß sie heute wiederum vor dem Experiment steht, einen neuen Hochschul­ typ zu erproben, ähnlich, wenngleich auf veränderter Basis, wie vor 170 Jahren, als im Zusammenhang der Neuordnung des Bayerischen Staates der damals mißglückte Versuch gemacht wurde, die Fakultäten zugunsten von Fachsektionen aufzulösen, und als nach umfassenden Reformdiskussio­ nen um die Alternative Universitäts- oder Fachschulprinzip die deutschen Universitäten, voran Berlin und München, sich zur Universitätsordnung mit Rektorats- und Fakultätsverfassung bekannten. So erscheint es zu diesem Zeitpunkt durchaus sinnvoll, nach Ablauf von fünfhundert Jahren die Geschichte der Fakultäten, ihrer inneren Gestalt und ihrer Wirksamkeit in den Persönlichkeiten und in den Wissenschaften zusammenfassend darzustellen, und zwar unter Zusammenschau der wis­ senschaftsgeschichtlichen und der organisationsgeschichtlichen Entfaltung von Lehrstühlen, Disziplinen, Instituten und Kliniken. Ob diese Festschrift eine Schlußbilanz sein wird, — so war es ursprünglich nicht geplant, — wird die Zukunft erweisen. Und ein Urteil über Leistung und Versagen der bis zur Gegenwart bestehenden Fakultäten und Institute wird dem künftigen Geschichtsschreiber und den heute und morgen verantwortlichen Kräften vorbehalten bleiben. Die Herausgabe dieser Jubiläumsgabe konnte nur dadurch verwirklicht werden, daß die kompetenten Fachkollegen der wissenschaftsgeschicht­ lichen Lehrstühle sich zur Bearbeitung ihrer jeweiligen Fakultät bereit erklärt haben; sie taten es neben allen anderen zunehmend zeitbelastenden Lehr- und Forschungsaufgaben, wofür ihnen ganz besonderer Dank gesagt

Vorwort der Herausgeber

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sei. An dieser Stelle sei auch des verstorbenen Kollegen Gernot Rath ge­ dacht und um so herzlicher Herrn Kollegen Heinz Goerke gedankt, daß er die von seinem Lehrstuhlvorgänger nicht mehr durchgeführte Geschichte der Medizinischen Fakultät nachträglich noch trotz mancher widriger Um­ stände übernommen hat.

Jeder Beitrag steht selbstverständlich ganz unter der Verantwortung der Autoren. Die Festschrift ist auf zwei Bände geplant, einesteils wegen des Umfangs, andernteils auch aus Gründen der forscherlichen Situation. So ergab es sich, für den zweiten Band, der im nächsten Jahr folgen soll, neben dem zweiten Teil der Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät (ab 1800) und einer Darstellung der neu etablierten Evangelisch-Theologischen Fakul­ tät auch die Geschichte der Juristischen und der Philosophischen Fakultät vorzusehen, da mehrere einschlägige Arbeiten zur Geschichte der Ingol­ städter Jurisprudenz sowie zur Geschichte einzelner geisteswissenschaft­ licher Disziplinen vor der Veröffentlichung in der vom selben Verlag und von den Herausgebern betreuten Reihe „Ludovico Maximilianea“ stehen, überdies eine Edition zur Studiengesetzgebung und zur Lehrverfassung im früheren 19. Jahrhundert, deren Ergebnisse im zweiten Band dann bereits mit berücksichtigt werden können. Ebenso wird die Staatswirtschaftliche Fakultät noch einen weiteren Beitrag zur Neuzeit liefern. Aus praktischen Gründen wurde daher dem ersten Band kein Register beigegeben. Von einer durchgreifenden Bebilderung wurde in Koordination mit dem gleich­ zeitig erscheinenden Bildband „Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt, Landshut, München 1472-1972“ (Verlag Duncker & Humblot) abgesehen.

Wenn hiermit nun zum Universitäts-Stiftungsfest 1972 der erste Band mit Darstellungen aus der Geschichte der Theologischen, der Staatswirt­ schaftlichen, der Medizinischen, der Tierärztlichen und der Naturwissen­ schaftlichen Fakultäten vorgelegt werden kann, so ist das wesentlich dem wissenschaftlichen Verständnis und der Großzügigkeit des Verlegers, Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, sowie dem tatkräftigen Inter­ esse von Magnifizenz Professor Dr. Nikolaus Lobkowicz zu verdanken.

München, Mai 1972 Prof. Dr. Johannes Spörl

Prof. Dr. Laetitia Boehm

Die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt (1472—1800) Von Georg Schwaiger Eine der edelsten, bis heute dauernden Schöpfungen des mittelalterlichen Abendlandes ist die Universität, verstanden als höchste Form der Lehr- und Lernanstalt. Während die frühen Hohen Schulen spontane Bildungen dar­ stellen, handelt es sich bei den späteren um Institutionen, die von den gel­ tenden Autoritäten geplant und errichtet werden. Im Spätmittelalter er­ schien es immer mehr als Pflicht der größeren Fürsten, für ihr Land eine Universität zu gründen. Dieser Welle von Neugründungen des späten Mit­ telalters ist auch die Errichtung der bayerischen Landesuniversität Ingol­ stadt1 zuzurechnen. 1 Wichtigste Quellen und allgemeine Literatur: a) Ungedruckt: Tomus I Matriculae Collegii Theologici in inclyta Academia Ingolstadiensi (1472 - 1599), Tom. II (1600 - 1701), Tom. III (1701 - 1759), Tom. IV (1759 - 1802). Diese von den Dekanen der theologischen Fakultät geführte Matrikel, bisher wenig benützt, enthält Promotionen und viele sonstige Angaben. Die 4 Bände befinden sich als Leihgaben des Archivs des Herzogi. Georgianums derzeit im Universitätsarchiv München (Georg. III/ll I - IV) (im folgenden abgekürzt: Matricula Collegii Theologici). b) Gedruckt: J. N. Mederer, Annales Ingolstadiensis Academiae, I - IV, Ingol­ stadt 1782 (IV: Codex diplomaticus), fortgesetzt v. M. Permaneder, Annales Almae Litterarum Universitatis Ingolstadii (Pars V), München 1859; C. Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München I - II, München 1872, Neudruck Aalen 1968 (II: Urkunden; Biographisch-Bibliogra­ phisch); G. Frhr, v. Pölnitz, Die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt, Landshut, München, I - III, München 1937 - 1941; ders., Denkmale und Dokumente zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt, Landshut, München, München 1942; R. Obermeier, Die Universität Ingolstadt. Köpfe — Begebenheiten, Ingolstadt 1959. — Von der neuen Reihe „Ludovico Maximilianea. Universität Ingolstadt - Landshut - München. Forschungen und Quellen. Hrsg. v. J. Spörl und L. Boehm“ liegen bisher 3 Bde. vor: A. Seifert, Statuten- und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472 - 1586), Ber­ lin 1971; H. Dickerhof, Land, Reich, Kirche im historischen Lehrbetrieb an der Universität Ingolstadt (Ignaz Schwarz 1690- 1763), Berlin 1971; C. Wallenreiter, Die Vermögensverwaltung der Universität Landshut - München. Ein Beitrag zur Geschichte des bayerischen Hochschultyps vom 18. zum 20. Jahrhundert, Berlin 1971. — In Vorbereitung befinden sich Arbeiten von W. Kausch (Geschichte der theologischen Fakultät der Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert) und K. Faußner (Geschichte der theologischen Fakultät der Universität Ingolstadt im 17. und 18. Jahrhundert). — M. Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theo­ logie seit dem Ausgang der Väterzeit, Freiburg i. Br. 1933. — R. Bauerreiss, Kir­ chengeschichte Bayerns, V, St. Ottilien 1955, VI u. VII, Augsburg 1965 - 1970. —

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Georg Schwaiger

Auf Bitten Herzog Ludwigs des Reichen errichtete der gelehrte Huma­ nistenpapst Pius II. durch Bulle vom 7. April 14592 in Ingolstadt ein Studium generale in Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin und Artes liberales — und „in qualibet alia licita facultate“. Für Studenten und Lehrer sollten dabei die gleichen Privilegien, Rechte und Freiheiten Geltung haben wie an der Universität Wien, und auch die Promotionen jeder Art sollten an allen übrigen Universitäten als vollgültig erachtet werden, wenn dabei nicht gegen die Gewohnheiten und Privilegien der Wiener Hohen Schule gehandelt werde. In der päpstlichen Bulle ist auch die Formel des Eides enthalten, den alle Doktoren und Magistri in die Hände des Rektors leisten sollten. Darin wird besonders die Achtung und Verteidigung der päpstlichen Autorität betont, was in einem päpstlichen Dokument dieser Zeit, nur ein Jahrzehnt nach dem Ende des Restkonzils in Basel und dem Rücktritt seines Gegen­ papstes, verständlich erscheint. Mit dieser Bulle war die Gründung der Universität Ingolstadt — mit den vier klassischen Fakultäten — durch die höchste geistliche Autorität des Abendlandes sanktioniert. Durch Krieg und andere Widrigkeiten gehindert, konnte Ludwig der Reiche, Herzog vom Niedern und Obern Bayern, den großen Plan seiner Universitätsstiftung erst nach gut zwei Jahrzehnten verwirklichen. Vorher hatte er sich mit Umsicht und Tatkraft um die ausreichende Dotation be­ müht. Umfangreiche Hilfe der Kirche war dazu unerläßlich. Sie wurde mit großer Bereitwilligkeit geleistet, von den Päpsten, von den Bischöfen, vor allem vom Eichstätter Bischof Wilhelm von Reichenau und seinem Dom­ kapitel, von Weltpriestern und Ordensleuten. So gelang eine für die Zeit bemerkenswert hohe wirtschaftliche Sicherung der Universität3. Herzog Ludwig konnte auch einige Lehrer gewinnen. Am 2. Januar 1472 erging von Landshut aus sein Eröffnungspatent4. Am folgenden 17. März bestellte er den Kanonisten Dr. Wilhelm Kyrmann aus Donauwörth (Wilheimus de Werdena) zum Vizerektor, der in den vier Monaten seiner Amtszeit, bis zur Bestellung des ersten Rektors, bereits 489 Studenten immatrikulieren konnte. Seit März 1472 wurden Vorlesungen gehalten. Am 2’6. Juni 1472, dem Fest der heiligen Märtyrer Johannes und Paulus, wurde die Univer­ sität in Anwesenheit Herzog Ludwigs, seines Sohnes und späteren Nach­ folgers Georg des Reichen, der Bischöfe von Eichstätt und Augsburg, eines Handbuch der bayerischen Geschichte. Hrsg. v. M. Spindler, II: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 1969 (hier S. 815 - 838: L. Boehm, Das Hochschulwesen in seiner organisatorischen Entwicklung). 2 Mederer IV Nr. 3. 3 Seifert 318 - 333 (mit Berichtigung v. Mederer I, IV u. Prantl 19 - 20). 4 Mederer IV Nr. 10; zum Folgenden Prantl 120 - 32.

Die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt (1472 - 1800)

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Gesandten des Königs Matthias von Ungarn, dann des Weihbischofs von Regensburg, zahlreicher Dignitäre und Kanoniker der umliegenden Dom­ kapitel, zahlreicher Herren aus dem Adel, aus der hohen Beamtenschaft, aus dem Welt- und Ordensklerus feierlich eröffnet5. Auf den Eröffnungstag ist auch der Stiftungsbrief Herzog Ludwigs6 da­ tiert, der die Einrichtung, Ausstattung und Unterbringung der Universität festlegt, ihre Gliederung, die Rechte und Pflichten des Rektors, des „Rates“, der Fakultäten und ihrer Dekane, des Kanzlers, aller Lehrenden und Stu­ dierenden. Die Verfassung der jungen Universität wurde schließlich genauer festgelegt in den allgemeinen Statuten, die wohl noch in das Jahr 1472 an­ zusetzen sind, von Lehrern und Studierenden gemeinsam beraten und be­ schlossen wurden und ohne Zweifel die landesherrliche Genehmigung er­ hielten. Räumlicher Mittelpunkt der Hohen Schule ist das bisherige Pfründhaus mit der zugehörigen Kapelle, ein stattlicher Bau „auf der Schütter“, in der Nähe der Pfarrkirche zu Unserer Lieben Frau gelegen. Dieses Pfründhaus soll künftig „Kollegium“ heißen.

Über die Rechte der Fakultäten und ihrer Dekane, sowie des Kanzlers der Universität, bestimmt der Stiftungsbrief: „... es soll auch ain yeglich facultet insonderhait ainen techannt und rate haben, die sy aus ine erwellen; derselb techannt und rate sollen auch macht haben, Ordnung und Statut in den Sachen ire facultet berürend zemachen, wie sy dann dasselb zw ainer yeden zeit notturfft sein bedunckhet, doch so sollen dieselben Statut auch nit geoffenbartt noch gepraucht, bissolang sy von uns und nach uns unsern obgemelten erben und nachkomen inmassen der universitet Statut confirmirt und bestätigt werden. Item wir haben auch den erwirdigen in gott unsern besonderlichen fründt herrn Wilhalmen bischoven zw Eystett und all sein nachkomen bischoven daselbs zw der genanten unser universitet canntzler aufgenomen nach lautt der brief darüber aussganngen.“

Zum laufenden Unterhalt der Universität haben die Pfarrer von Sankt Martin in Landshut und zu Unserer Lieben Frau in Landau (an der Isar) jährlich je 100 Gulden rheinisch in Gold zu leisten. Eine Domhermpfründe zu Eichstätt ist zur Besoldung eines Doktors von Bischof und Kapitel zur Verfügung gestellt. Der Papst und die betroffenen Priester haben zuge­ stimmt. „Furtter haben wir die pfarr zu Unser Lieben Frawn zw Ingolstat ... ainem doctor der heiligen geschrift gelihen, allso das er in derselben heiligen schrifft all gewöndlich tag ein ordentlich leczon lesen und von der 5 Matricula Collegii Theologici I fol. 1-3. 6 Mederer IV Nr. 11; Prantl II Urk. Nr. 3; Pölnitz, Denkmale und Dokumente 71 f.; Seifert 15 - 39,464 - 470.

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Georg Schwaiger

universitet keinen andern sold dann die obgemelt pfarr davon haben soll.“ Diese Pfarrei wird künftig nur noch an einen Doktor verliehen, „der in der heiligen schrifft ordentlich lese“.

Zur weiteren Ausstattung der Doktoren und Magistri hat der Herzog „auf n st at zway hundert guldein gelts rheinisch gült gekaufft“ und die ent­ sprechenden Kaufbriefe der Universität übereignet. Ferner werden künftig die Renten, Gilten und Zinsen der Barfüßerklöster zu Landshut und Ingol­ stadt, die man reformiert und dabei der genannten weltlichen Einkünfte entledigt hat, zur Besoldung der Professoren dienen. „Und auf das nw man ain wyssen überkäme, wie die obgemelten gült und ränndt zu gemainem nutz und notturfft der universitet gebraucht werde, so wellen wir, das albegen auff das mynst ain doctor in der heiligen schrifft, zwen in geistlichen, ainer in kayserlichen rechten, und ainer in der ertzney ... ordentlich alls sich dann gebürt lesen sollen.“ In den beiden ersten Entwürfen des Stiftungsbriefes war auch die Besol­ dung der Professoren genau festgelegt, die zur Mindestausstattung der Fa­ kultäten gehören sollten. Diese Einzelheiten wurden zwar in der Ausferti­ gung der Urkunde weggelassen, geben aber gewiß ein Bild der tatsäch­ lichen Einkommensverhältnisse in der frühen Zeit. Ein Professor der Theo­ logie hat, wie schon erwähnt, sein Auskommen als Pfarrer an der LiebFrauen-Kirche. Von den drei Rechtslehrem erhält der eine Kanonist (Ordi­ narius in den alten Rechten) jährlich 120 fl rheinisch, der andere Kanonist (Ordinarius in den neuen Rechten, d. h. Liber sextus, Clementinae) 100 fl, der Ordinarius des kaiserlichen (römischen) Rechtes 130 fl; der Ordinarius der Medizin erhält 80 fl und die sechs gemeinsam wohnenden Magistri der Artistenfakultät, die sog. Kollegiaten, bekommen zusammen 240 fl. Den festbesoldeten Lehrern gegenüber sind die Studenten zu keinerlei Hör­ geldleistung verpflichtet, in anderen Fällen haben sie zu zahlen, was in Wien üblich ist. Der Rektor der Universität wird jeweils auf ein halbes Jahr gewählt. In den „Rat“ der Universität, das höchste kollegiale Gremium, werden etliche Lehrer aus allen Fakultäten gewählt. Die ganze Universität genießt weit­ gehende Autonomie, die üblichen Rechte und Freiheiten. Doch ist eine starke Stellung des Landesherrn der Universität gegenüber schon im Stif­ tungsbrief angelegt; sie wird in der Zukunft stets wahrgenommen und auch ausgebaut.

Aufs Ganze betrachtet ist die Universität Ingolstadt in ihrer frühen Periode eine durchaus moderne, gut ausgestattete Hohe Schule. Dies zeigt

Die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt (1472 - 1800)

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sich auch darin, daß zwar der herzogliche Stiftungsbrief noch von der Gliede­ rung in vier Nationen — der bayerischen, rheinländischen, fränkischen und sächsischen — ausgeht, daß aber die Richtung deutlich zur Universitas doctorum et scholarium hinläuft, schließlich zur Universitas doctorum, d. h. die Fakultäten bilden zusammen die Universität; die alten „Nationen“ — offenbar sind sie in Ingolstadt gar nicht mehr richtig wirksam geworden — verschwinden. Und dies ist eben der Charakter aller jüngeren Universitäten. In der ersten Zeit saßen aber auch in Ingolstadt Studenten in wichtigsten Universitätsangelegenheiten mit zu Rate.

Die enge Verbindung der Universität Ingolstadt — wie fast aller Univer­ sitäten des Mittelalters — mit der Kirche kommt nicht nur in der päpstlichen und herzoglichen Stiftungsurkunde, nicht nur in ihrer ganzen Struktur deutlich zum Ausdruck. Sie verdichtet sich in einem der wichtigsten Rechts­ symbole, in den drei Siegeln (Großes und Kleines Siegel, Secretum) der Universität. Der herzogliche Stiftungsbrief beschreibt sie genau und setzt damit auch der alten, innigen Marienverehrung Bayerns und des Hauses Wittelsbach ein schönes Denkmal, das heute noch, wenn auch vielen verbor­ gen, leuchtet: „Das gross sigel ist scheyblich und hat Unser Frawen pild in der mitt under dem tabernackl sitzen und ain kind an dem rechten arm auf der schoss und zw derselben hand und seyten ein schildt und darinn den leo und auf der lincken handt und seyten ein schildt und darinn die wecklein die Pfaltz und Bairlannd betewttend, und darumt gegraben die geschrift: Sigillum maius universitatis Ingolstatensis ...“ Und der herzogliche Rat Dr. Martin Mair leitete seine in bestem Humanistenlatein verfaßte Festrede an­ läßlich der Eröffnung der Universität7 ein mit der feierlichen Anrufung des Heiligen Geistes, wie es selbstverständlicher Brauch der Zeit war: „Veni creator spiritus, mentes tuorem visita, reple superna gratia, quae tu creasti pectora.“

Die Anfänge der Theologischen Fakultät Der Aufbau der jungen Universität vollzog sich rasch, etwa in drei Jahren. Auch hierfür wurde die ständige Sorge Herzog Ludwigs entschei­ dend. Sein Ausschreiben vom 2. Januar 1472 hatte den 2. März des Jahres als Beginn der Vorlesungen vorgesehen8. Doch ist der tatsächliche Anfang wohl auf den 4. März 1472 anzusetzen9. Am 17. März ernannte der Herzog, damit die Hohe Schule ein vorläufiges Haupt habe, den Professor des kanoni7 Prantl II Urk. Nr. 2. 8 Mederer IV Nr 10: „secunda feria post dominicam Oculi“. 9 Seifert 15 A. 4. 2

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sehen Rechtes Dr. Wilhelm Kyrmann aus Donauwörth zum Vizerektor, der am folgenden Tag mit der Führung der Matrikel begann10. Als sich die Fakultäten konstituiert hatten, wurde dann am 25. Juli 1472 Dr. Christoph Mendel, Professor der juristischen Fakultät, zum ersten Rektor gewählt11. Es war offenbar nicht leicht, geeignete Professoren für die theologische Fakultät zu gewinnen. Die Fakultät war im ersten Jahr nur durch einen Lehrer vertreten, den Regensburger Weihbischof Dr. Johannes Hofmann (Ludovici), Titularbischof von Jeropolis (Hierapolis in Phrygien)12. Einer herzoglichen Anordnung folgend hielt er, wohl schon seit März 1472, Vor­ lesungen; gleichzeitig versah er die Geschäfte des Dekans13. Schon mit Rück­ sicht auf seine bischöflichen Verpflichtungen im ausgedehnten Bistum Re­ gensburg konnte er gewiß nicht dauernd in Ingolstadt weilen. Am 4. Februar 1473 nahm er in der oberen Stube des Pfarrhofs zu Unserer Lieben Frau den Dr. Johannes Hebrer aus Bamberg in die Fakultät auf, und beide zusam­ men zogen am folgenden 7. Februar noch den Prior des Dominikanerklosters in Augsburg, Dr. Lukas Praun, ad gremium et consilium facultatis bei. Damit war an diesem Tag, einem Sonntag, die Fakultät auch als Kollegium konstituiert, obwohl keiner der Genannten Ordinarius war14. Als erste und wichtigste Amtshandlung beschlossen sie noch am gleichen Tag die Grund­ züge von Statuten, eine knappe Prüfungsordnung, welche der Herzog sofort bestätigte15. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, über das Pro­ 10 Pölnitz, Matrikel 15 f. 11 Pölnitz, Matrikel I 7 f. 12 Johannes Ludovici, Augustiner-Eremit, Weihbischof von Regensburg (episcopus leropolitanus) 8. August 1464, gest. 1480. C. Eubel, Hierarchia Catholica Medii Aevi, II, Münster i. W. 1914, 164. Er hatte in Wien studiert und war dort 1461 als Studienpräfekt tätig gewesen. Er war Rat Herzog Ludwigs des Reichen und hatte schon an der feierlichen Eröffnung der Universität teilgenommen. Matricula Collegii Theologici I fol. 3. Vgl. Seifert 59. 13 Mederer 13-7; Prantl 133. 14 „ ... anno septuagesimo tercio die vero quarta februarii reuerendus in Christo pater ac dominus d. Johannes Jeropolitanus episcopus arcium ac theologie doctor preclarus reuerendissimi domini ratisponensis in pontificalibus generalis vicarius vti decanus et lector in theologica facultate a principe datus et ordinatus donee de alio uel aliis provideretur, talisque ab omnibus habitus ac tentus, in stubella superiori dotis b. virginis in Ingolstatt ad gremium et consilium facultatis eiusdem assumpsit venerabilem ac egregium virum dominum Hebrerr de Bamberga arcium ac theologiae doctorem excellentissimum prius matricule vniversitatis intitulatum, qui duo primi septima die mensis eiusdem ad gremium et consilium facultatis eiusdem venerabilem patrem ac dominum d. Lucam arcium ac theologiae doctorem ordinis predicatorum in Augusta priorem perintitulatum susceperunt. Hii tres facultatem theologicam tunc representarunt. Vnanimi concordique consensu notulas statutorum subscriptorum per eos conceptas et conclusas per principem confirmari obtinuerunt.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 3. 15 Diese Prüfungsordnung — in der Fakultätsmatrikel (Dekansbuch) „Statuten“ genannt — ist bisher nirgends publiziert. Prantl war sie, wie alle vier handschrift­ lichen Bände der Matricula Collegii Theologici, unbekannt. Der vom ersten Dekan, Johannes Permeter von Adorf, geschriebene Text lautet:

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visorium hinauszukommen, Promotionen vorzunehmen und Ordinarien der Theologie zu bestellen. Noch am 7. Februar 1473 ließen die genannten drei Herren, welche die Fakultät bildeten, den Johannes Permeter, damals Magister artium und Baccalaureus formatus der Theologie, zum Examen zu. Johannes Permeter war aus Adorf im Vogtland gebürtig. Seine Heimat gehörte damals noch zum Bistum Regensburg. Er hatte in Leipzig studiert und war 1472 auf Einladung Herzog Ludwigs nach Ingolstadt gekommen. Der Herzog prä­ sentierte ihn dem Bischof von Eichstätt auf die Ingolstädter Pfarrei zu Unserer Lieben Frau, die schon im Stiftungsbrief der Universität als Be­ soldung eines Ordinarius der Theologie bestimmt war. Am 7. Februar fand das Lizentiatsexamen Permeters statt, das erste Examen der jungen Fakul­ tät. Es wurde in der Sakristei der Liebfrauenkirche abgehalten. Am fol­ genden Tag wurde dem Kandidaten in seiner Pfarrkirche, die zugleich als Universitätskirche diente, der Grad eines Lizentiaten der Theologie verlie­ hen. Johannes Permeter hielt die vorgeschriebenen Vesperiae (Disputation); daran schloß sich die Collatio im Kollegium, das Prüfungsgespräch zur Erlangung des Doktorgrades. Am 9. Februar 1473, dem Fest der heiligen Apollonia, empfing er in der Liebfrauenkirche durch den Weihbischof von Regensburg feierlich die Insignien eines Doktors der Theologie. Da es sich „Quorum statutorum de verbo ad verbum talis est tenor: De promovendis ad licenciam. Ad licenciam in sacra theologia prorhouendus tenetur finitis sentenciis ad duos annos disputaciones lectionesque magistrorum prefate facultatis quam diligenter visitasse et in quolibet annorum predictorum adminus semel in publi­ co auditorio cappaque theologica presidente sibi aliquo eiusdem facultatis magistro respondisse. Quibus omnibus adminus iuxta magistrorum moderacionem completis ad peticionem licenciandi magistri theologie actu regentes per decanum facultatis eiusdem conuocentur, qui audita licenciandi peticione, si ydoneus repertus existit, eundem admittere debent, et tenentur recepto prius a licenciando corporali iuramento secundum formam infrascriptam. luramentum licenciandorum in theologia. Ad licenciam presentatus per aliquem de magistris actu regentibus iuret secundum formam que sequitur: Ego N. iuro sacrosancte romane ecclesie obedientiam, magistrisque in theologia reuerenciam, procurare iuxta posse pacem inter magistros seculares et religiöses, licenciam non resumere in alia vniversitate, nec in alia quam in ista buretum in theologia recipere, tres florenos renenses ad predicte facultatis fiscum infra quindenam persoluere, atque statuta ac statuenda que pro honore facultatis sunt iuxta posse ac nosse obseruare. luramentum aulandi. Licenciatus aulandus in principio actus aule in loco ad hoc deputato flexis genibus iuret se reuerenciam magistris theologie exhibiturum, atque de promouendis fidele testimonium perhibiturum, atque bonum vniuersitatis istius et facultatis theologice ad quemcumque statum deuenerit procuraturum. De numero pro promouendorum assumpcione. Conclusum est in generali conuocatione omnium magistrorum et baccalaureorum theologice facultatis tune presentium per decanum eiusdem in stuba superiori dotis b. Virginis facta quod nullus ad cursum, sentencias vel licenciam in facultate eadem admit titur, nisi adminus per duos magistros actu regentes si plures non affuerint comprobatus et admissus fuerit.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 3 s. 2*

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um die erste Promotion handelte, die an der Universität überhaupt statt­ fand, nahm Herzog Ludwig persönlich teil. Er gab anschließend für alle Lehrer der Universität ein glänzendes Festmahl, wobei die Hofmusik auf­ spielte153.

Dr. Johannes Permeter wurde nun vom Herzog zum ersten Ordinarius der Theologie bestellt. Am 10. Februar 1473 wurde er von den drei anderen Mitgliedern der Fakultät zum Dekan bestimmt. Daraufhin verließen die drei Magistri, Weihbischof Johannes Hofmann, Johannes Hebrer und der Prior Lukas Praun, die Stadt. Ihre Aufgabe, die theologische Fakultät zu konstituieren, war glücklich erfüllt. Nur der Weihbischof von Regensburg kam auch später noch vorübergehend nach Ingolstadt, wenn man ihn drin­ gend brauchte, um die Fakultät als Kollegium rechtsfähig zu machen. Zu­ nächst repräsentierte der Dekan, der sich fortan nur Johannes von Adorf (Johannes de Adorff) nannte, allein die Fakultät. Als neuer Ordinarius disputierte er am 17. Februar 1473 öffentlich in der Aula des Universitäts­ gebäudes, am 22. Februar begann er seine Vorlesungen mit der Erklärung des Johannesevangeliums16. Literarisch ist Johannes von Adorf offensicht­ lich kaum hervorgetreten. Über drei Jahrzehnte hinweg, bis zu seinem Tod am 6. Oktober 1505, wirkte er unermüdlich als Professor der Theologie und als Stadtpfarrer bei Unserer Lieben Frau. Einunddreißigmal lenkte er in dieser Zeit als Dekan die Geschicke der Fakultät17. Er wurde schon 1473 zum 15a „... Omnibus hys sic ut premissum est peractis tres magistri supra nominati vnanimiter concorditerque anno quo supra [1473] septima februarii lohannem Permeter de Adorff tune arcium magistrum et sacre theologie baccalaureum antea ultra quatuor annos formatum ad ecclesiam b. Virginis per reuerendissimum d[ominum] Eistettensem ad presentacionem illustrissimi principis Luduici rite inuestitum... ad examen admiserunt. Et post examen in sacristia ecclesiae b. Virginis habitum a Karolo Pisiensi arcium ac vtriusque iuris doctore tune vicecancellario eundem examinatum ut abilem ac dignum licencia reppertum per dominum leropolitanum uti patrem per eum electum presentari fecerunt. Quiquidem examinatus et presentatus die proxima sequenti 2a s. feria post purificacionem a domino vicecancellario prenominato in templo b. Virginis licenciatus et eodem die ibidem mox post licenciam a domino leropolitano vesperiatus habita collacione post vesperias in collegio. Die nona februarii in die Appollonie virginis ac martiris insignia doctoralia in ecclesia b. Virginis mane recepit...“ Matricula Collegii Theologici I fol. 4. 16 „Die sequenti decima sc. februarii idem Iohannes de Adorff per magistros prenominatos decanus facultatis constitutus, ac actu regens declaratus aliis abeuntibus ipse solus in Ingolstatt relictus solus erat pro longo tempore, facultatem theologicam usque ad aduentum venerabilis viri d. Georgii Zyngel arcium ac theologie doctoris perdigni representauit...“ Matricula Collegii Theologici I fol. 4. 17 Matricula Collegii Theologici I fol. 4 - 42. Hier fol. 42 der Eintrag des Dekans Georg Zingel: „Item sexto octobris millesimo quingentesimo quinto Dominus Johannes de Adorff arcium et sacre theologie professor in facultate theologica lector Ordinarius et plebanus in parochia beate Marie Virginis in Ingolstatt religiose sacramentis susceptis obiit mortem.“ — Prantl II 483 (literarische Tätig­ keit).

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Rektor der Universität gewählt, als Dritter in der Reihe der Rektoren. Insgesamt hat er zehnmal das Rektorat bekleidet. In allen Schwierigkeiten des Anfangs ist er stets in seinem doppelten Amt als Professor und Pfarrer verblieben. Die Grabschrift rühmt von ihm, daß er den Werken des heiligen Thomas von Aquin gefolgt sei und die Schriften des heiligen Hieronymus besonders gepflegt habe. Die beiden Heiligen stehen für die beiden Haupt­ teile der damaligen Theologie: scholastische (thomistische) Theologie und Heilige Schrift auf der Grundlage der Vulgata. Die Grabschrift deutet auch darauf hin, daß Adorf zeitlebens der via antiqua in der Philosophie und Theologie verbunden blieb. Zeitlebens wohnte er im Pfarrhof an der Lieb­ frauenkirche, der als recht ungesund galt. Hochangesehen und allgemein betrauert starb er zu Ingolstadt an der Pest, die 1505 die Stadt heimsuchte und während welcher er sein Amt treulich versah. In der Frühzeit der theo­ logischen Fakultät ist dieser edle, treue Priester an erster Stelle zu nennen. Im Chor seiner Pfarrkirche wurde er beigesetzt. Dort erinnert heute noch das Epitaph in Rotmarmor an den ersten Ordinarius und ersten Dekan der theologischen Fakultät. Adorf ist hier am Katheder lehrend dargestellt, inmitten seiner Schüler, über ihm das Marienbild, in den oberen Ecken des Grabmals die Heiligen Hieronymus und Thomas. Testamentarisch stiftete er mit einem Kapital von 1700 fl vier Stipendien für Theologiestudenten, welche die theologische Fakultät noch im 18. Jahrhundert vergeben hat. Nur Anhänger der via antiqua sollten in den Genuß der Stipendien kommen oder an der Vergabe mitwirken. Diese Beschränkung der Stiftung begrün­ deten die Testamentsvollstrecker ausdrücklich damit, daß Adorf „im alten weg zu Leipzig gestudiert, denselben auch zu Ingolstadt allzeit bis in sein endt geliebt, in sondern eren und reverentz gehabt“18.

Um einen theologischen Lehrbetrieb in den damals üblichen Stufen zu ermöglichen, hatten die drei Doktoren Hofmann, Hebrer und Praun am 7. Februar 1473 zwei Mitglieder der Artistenfakultät, den Magister Kilian Pflüger aus Windsheim und den Magister Heinrich Pfeilschmid (Pfeilsmydt) aus München, für die Sentenzenvorlesung bevollmächtigt. Als Cursor (bac18 Mederer I 5 - 70, bes. 6 -8, 68-70 (Epitaphien); Prantl I 123 f. (via antiqua); A. Schmid, Geschichte des Georgianums in München, Regensburg 1894, 36. Stipen­ dien: „Fundavit D. Adorff quattuor stipendia, duo ex istis a facultate theologica conferuntur, ad reliqua duo Senatus Civicus [Magistrat von Ingolstadt] debet duos praesentare facultati nostrae, a qua praesentati debent approbari.“ Matricula Collegii Theologici III p. 280 (zum 26. April 1724). Die Verpflichtungen der Stipen­ diaten sind in einem Eintrag an der Innenseite des vorderen Buchdeckels dieses Bandes festgehalten: „Stipendiati Adorffiani tenentur singulis diebus sabbathinis et profestis [Vortage] Beatissimae Virginis recitare illius cursum seu officium maius, ad quod promisso set debent ostringere, quando recipiuntur.“

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calaureus), dem die Behandlung der biblischen Bücher oblag, wurde der Regensburger Nicolaus de Capella aufgenommen; er hatte in Paris den Grad eines magister artium erworben19. Am 31. Mai 1473 kehrte Weihbischof Hofmann aus Regensburg zurück. Zusammen mit dem Dekan Adorf reprä­ sentierte er damals die Fakultät, wie die Matrikel ausdrücklich festhält. Sie nahmen in Anwesenheit der Magistri Pflüger, Pfeilschmidt und Nicolaus de Capella sowie des Notars der Universität den Dominikaner Peter Nigri (Schwarz), baccalaureus formatus, in die Fakultät auf20. Im Frühjahr 1475 gelang es dem Herzog, den Professor Dr. Georg Zingel für die theologische Fakultät zu gewinnen. Zingel war 1428 zu Schlierstadt im Odenwald gebo­ ren. Er hatte in Wien studiert und dann an der dortigen Universität als Pro­ fessor gewirkt. In Ingolstadt erhielt er die im Stiftungsbrief als Dotations­ beitrag vorgesehene Präbende im Domkapitel Eichstätt; dieses Kanonikat hatte er bis zum Tod inne21. Am Georgentag 1475 wurde Zingel bereits zum Dekan der theologischen Fakultät gewählt22, 1477 zum erstenmal zum Rek­ tor23. Bis zu seinem Tod wirkte Zingel an der Universität Ingolstadt; zwei­ unddreißigmal war er Dekan24, viermal Rektor25, dazu Vizekanzler der Universität. Am 26. April 1508 starb er im Alter von achtzig Jahren26. In der Minoritenkirche fand er seine letzte Ruhestätte, wo sich auch sein Grab­ mal erhalten hat27. Adorf und Zingel, beide der via antiqua verbunden, waren die einzigen Ordinarien der theologischen Fakultät. 19 „Anno quo supra sc. 73° die septima februarii Kilianus Pflüger de Winsheym arcium magister tunc collegiatus ut sentenciarius actu legens, et Heinricus Pfeilsmydt de Monaco tamquam abilis ad sentencias legendas, et Nicolaus de Cappella arcium magister parisiensis ut cursor assumeba[n]tur per prefatos magistros.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 4. 20 „ ... die ultima mensis maii cum dominus lerapolitanus ex Ratispona in Ingolstatt rediit, ipse et Johannes de Adorff facultatem theologicam tune representantes presentibus venerabilibus viris ac magistris domino Kiliano de Winsheym, domino Heinrico Pfeilsmydt de Monaco et magistro Nicolao de Cappella sacre theologie baccalaureis et Johanne bidello tamquam notario adhoc specialiter vocato concordi consensu ad gremium facultatis eiusdem dominum fratrem Petrum Nigri ordinis fratrum predicatorum ut baccalaureum formatum, qui plene sentencias perfecerat ut tune sufficienter docuerat, assumpserunt.“ Matricula Collegii Theo­ logici I fol. 4. — Zu Peter Nigri (Schwarz) vgl. LThK WH 565. 21 Mederer 110 f., 77 f.; Prantl I 33. 22 Matricula Collegii Theologici I fol. 5. 23 Mederer 112. 24 Matricula Collegii Theologici I fol. 5 - 43. 25 Mederer 112,17, 23, 38. 26 „Anno domini 1508 vicesima sexta aprilis reverendissimus pater dominus Georgius Zingel de Slirstat arcium ac sacre theologie professor canonicus ecclesie Eystetensis lector Ordinarius in theologia, qui ad 35 annos et vicecancellarius studii Ingolstatensis, receptis sacramentis cum deuocione, religiose (vt decet theologum) ex hac lacrimarum valle post multas tribulaciones, quas amore reipublice ab emulis passus est, migrauit ex hoc seculo. Cuius anima deo viuat semper amen.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 45. 27 Mederer 177 f.

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Nach der Ausarbeitung der allgemeinen Universitätsstatuten (1472) war es Aufgabe der einzelnen Fakultäten, sich Statuten zu geben. Die ersten Statuten der theologischen Fakultät, vom 7. Februar 1473, konnten nur als Provisorium gelten, um eben eine Rechtsgrundlage für die Verleihung der Grade zu schaffen. 1475 traten die damaligen Mitglieder der Fakultät, Georg Zingel als Dekan, Johannes von Adorf und Kilian Pflüger — „omnes theologiae professores et regentes in eadem et totam facultatem repraesentantes“ — zusammen, um Statuten zu entwerfen. Herzog Ludwig bestätigte sie, und mit der förmlichen Publikation durch den Notar der Universität, den Freisinger Kleriker Johannes Altenbeck, traten sie am 11. Oktober 1475 in Kraft. Man übernahm großenteils die Statuten der Wiener theologischen Fakultät vom Jahr 1389. Die Vermittlung ging wohl auf Georg Zingel zurück, der aus Wien kam28. Die Statuten von 1475 vermitteln ein gutes Bild der Fakultätsstruktur bis zur Ankunft der Jesuiten im November 1549. Die Fakultät erhält eine eigene Matrikel, ein eigenes Siegel, eine eigene Kasse, die durch den Dekan verwaltet wird und der darüber Rechenschaft zu geben hat; das Recht, sich Statuten zu geben, soll ihr — vorbehaltlich der landesherrlichen Bestäti­ gung — für alle Zeit verbleiben. Der Dekan wird auf ein halbes Jahr ge­ wählt. Er leitet die Fakultätssitzungen, zu denen Lizentiaten, Baccalaurei und Scholaren nur durch Fakultätsbeschluß eingerufen werden können, und besorgt alle Angelegenheiten der Fakultät. Er verteilt die Vorlesungen und die „collationes“, die Ansprachen an den Ingolstädter Klerus. Jedes neue Mitglied, das in die Fakultät aufgenommen wird, verpflichtet sich unter Eid zur Einhaltung der Statuten. Von den Studierenden wird ein religiöses Leben und ein ehrbarer Wandel gefordert; sie und alle Graduierten der Theologie müssen stets die cappa, ein langes dunkles Gewand, tragen. Der Schutzheilige der Fakultät ist — wie in Paris und Wien — der Evangelist Johannes, und zwar unter dem Titel seines Festes „vor der Lateinischen Pforte“ am 6. Mai. An diesem Tag wird ein offizieller Fakultätsgottesdienst gehalten, ein zweiter Gottesdienst am Quatembersamstag in der Pfingst­ woche für die verstorbenen Mitglieder. Die Vorlesungen werden durch Fakultätsbeschluß jeweils für ein Jahr festgelegt, und die Bücher der Sen­ tenzen des Petrus Lombardus, Teile davon und Abschnitte der Heiligen Schrift an die Lehrer der Fakultät zur Behandlung ausgeteilt, ebenso die sermones ad clerum an die Baccalaurei der Fakultät. Täglich werden insge­ samt drei Vorträge gehalten: frühmorgens die lectio magistralis seu ordinaria, dann am Vormittag die Vorlesung der ihr principium machenden senten28 Prantl II Urk. Nr. 7; Seifert 64 f.

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tiarii, nachmittags die Vorlesung der cursores seu biblici, die incipientes sind. Während der drei ersten Studienjahre müssen die Studenten die Texte der Bibel und der Sentenzen selber mitbringen. Die Ferien dauern vom Fest Peter und Paul (29. Juni) bis zum Bartholomäustag (24. August), doch ist das Lesen in dieser Zeit nicht verboten. Feiertage während der Vorlesungs­ zeit sind die Feste der Heiligen Bernhard, Lukas, Hieronymus, Augustinus, Gregorius, Ambrosius, der Aschermittwoch und Petri Stuhlfeier, dazu die Tage feierlicher Fakultätsakte (Promotion, öffentliche Disputation) und die Tage der sermones ad clerum.

Wie in allen älteren Statuten ist das ganze Studium auf die Stufenfolge der zu erwerbenden Grade ausgerichtet. Diese Stufen sind: cursor (baccalaureus), sententiarius, licentiatus und zuletzt magister (seu doctor) resumptus, d. h. der Kandidat ist zum Mitglied der Fakultät aufgestiegen. Allge­ meine Voraussetzung jeder Art von Promotion — außer der Immatriku­ lation mit Eidesleistung — ist, daß der Bewerber Doktor oder Lizentiat einer anderen Fakultät ist, jedenfalls aber magister artium, oder wenigstens das Bestehen einer responsio publica. Über die Zulassung entscheidet die Fakultät, die dabei jeden Versuch einer Protektion durch Fürsten und andere hochgestellte Personen mit Hinweis auf die Statuten ablehnt. Wer cursor (baccalaureus currens) werden will, muß außer den üblichen kanonischen Voraussetzungen für das Priestertum (eheliche Geburt, Frei­ sein von ernsten körperlichen Gebrechen) wenigstens 24 Jahre alt sein und zumindest die Akolythen- und seit zwei Jahren die Subdiakonatsweihe besitzen; er muß fünf Jahre hindurch die lectiones magistrales und gleich­ zeitig auch bei irgendwelchen cursores zwei cursus — einen aus dem Alten und einen aus dem Neuen Testament — besucht und zudem bei den sententiarii den ganzen Petrus Lombardus gehört haben; er muß selber zweimal eine responsio publica und wenigstens einmal einen sermo ad clerum ge­ halten haben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so folgt die Eidleistung vor der Fakultät, deren Mitgliedern der Bewerber anschließend ein Essen (prandium) zu geben hat. Darauf folgt sofort sein „incipere“, das heißt, er steht unter einem von ihm gewählten Mitglied der Fakultät, seinem regens, ist nun wirklicher cursor und hält als solcher über zugewiesene Teile des Alten und Neuen Testaments Vorlesungen. Die Fakultät achtet darauf, daß bei der Verteilung der Abschnitte an die Cursoren allmählich die ganze Bibel behandelt wird. Die Cursoren müssen allen Disputationen und Promotionen der Fakultät beiwohnen.

Während die Cursoren die biblische Grundlegung der theologischen Aus­ bildung vorzunehmen hatten, diente die folgende Stufe, die der Sententia-

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rier, dem Betrieb der Sentenzen des Petrus Lombardus. Immer noch wur­ den die Sentenzen des Lombardus als Grundlehrbuch der scholastischen Theologie gebraucht, wenn sie auch den tatsächlichen Erfordernissen immer weniger gerecht zu werden vermochten. Wer den cursus vollendet hat, muß ein Jahr der Vorbereitung zum sententiarius widmen und in dieser Zeit noch stets die lectiones magistrates besuchen sowie den öffentlichen Akten der Fakultät beiwohnen. Im Cursor-Jahr muß er wenigstens zweimal eine responsio publica und einmal einen sermo ad clerum gehalten haben. Am Beginn der Bewerbung steht wieder die Eidleistung, das prandium und dann das principiare unter Leitung eines von ihm gewählten Fakultäts­ mitgliedes als regens. Der Bewerber muß in der Aula eine kurze collatio zum Preis der Bibel und bei mindestens drei der vier Bücher der Sentenzen ein principium machen und jeweils quaestiones anfügen. Durch diese öffent­ liche Disputation tritt er in den Meinungsaustausch mit seinen Kollegen. Hat er dreimal principium gemacht, so ist er baccalaureus formatus und beginnt sofort mit Vorlesungen über die Sentenzen. In der Lehrstunde hat er eine größere oder zwei kleinere distinctiones zu behandeln. Dadurch werden in einem Jahr zwei Bücher, in zwei Jahren alle vier Bücher des Lombardus vorgenommen. Danach muß der sententiarius sich zwei Jahre auf die licentia vorberei­ ten, immer noch die lectiones magistrales besuchen, den genannten principia der baccalaurei beiwohnen, responsiones und sermones halten. Zur Erlangung der licentia muß der Kandidat wenigstens 30 Jahre alt sein, ins­ gesamt sieben Jahre lang Theologie gehört und wenigstens viermal „respondiert“ haben. Nach einem strengen Lizentiatsexamen in feierlicher Form wird ihm in der Kirche die Licentia verliehen. Bei der anschließenden Beglückwünschung darf der neue Lizentiat italienischen Wein für befreun­ dete Doktoren anderer Fakultäten und für sonstige Genossen auftragen lassen. Im Lizentiateneid verspricht er außer den üblichen Punkten, diesen Grad an keiner anderen Universität mehr nehmen zu wollen, der Kirche stets gehorsam zu sein, den Frieden zwischen Weltklerus und Ordensleuten zu wahren, in Ingolstadt die Magisterwürde zu erwerben und sie hier wenig­ stens ein Jahr lang auszuüben. Er übernimmt auch die Verpflichtung, allen feierlichen Akten der Fakultät beizuwohnen. Nun kann er endlich seine Promotion zum Abschluß führen. Die determinatio erfolgt in den vesperiae, das heißt er muß quaestiones ausarbeiten, diese schriftlich bei den Mitglie­ dern der Fakultät herumtragen und über diese Fragen und Thesen bei den vesperiae frei disputieren; nur für den Notfall darf er sein Heft vor sich auf dem Pult liegen haben. Den förmlichen Schluß der Promotion bildet die

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aula, eine genau festgelegte Disputation. Ist diese glücklich bestanden, so setzt der für die Promotion gewählte Magister (regens) dem vesperiatus das Birett auf. Der aulandus leistet auf den Knien einen Eid, daß er künftig bei Zulassung von Promovenden stets gewissenhaft vorgehen werde. Von jetzt an heißt der Lizentiat magister resumptus: er ist Mitglied der Fakultät.

Über den Inhalt der Magister-Vorlesungen (lectiones magistrales) ent­ halten die Statuten keine Bestimmungen. Sie hatten gewiß Hauptautoren der Scholastik, besonders Thomas von Aquin, und wohl auch Bücher der Heiligen Schrift zum Gegenstand. Darauf deutet das Grabmal des Profes­ sors Johannes von Adorf hin, aber auch der Vergleich mit den theologischen Fakultäten in Paris, Prag, Köln und Wien. An Gebühren zahlen cursor und sententiarius anläßlich der Promotion je 2 fl an die Fakultät (für allgemeine Wohltaten, zum Beispiel Seelenmessen) und 1 fl an den Pedell der Universität, der licentiandus 3 fl an die Fakultät; der Pedell erhält von ihm 4 f 1 oder ein Kleid.

Nachdem die junge Universität in kurzer Zeit des Ausbaus ihren Rahmen gefunden hatte, erwies sie sich als durchaus lebenskräftige Institution. Dies beweisen vor allem die zahlreichen Studierenden, die zunächst aus Bayern und aus der weiten Umgegend Ingolstadts, aber auch aus dem ganzen mittel­ europäischen Raum an die Hohe Schule kamen. Im Vergleich zu anderen jungen Universitäten der Zeit liegen die Zahlen der Neuimmatrikulierten recht hoch: 794 (1472), 321 (1473), 220 (1474), 176 (1475), 134 (1476), 253 (1477), 177 (1478), 197 (1479), 163 (1480), 205 (1481), 208 (1482)20. Der Haupt­ teil der Hörer entfiel davon auf die volkreiche Artistenfakultät, die in Ingol­ stadt anfangs in zwei Sektionen (via antiqua oder Realisten, via moderna oder Nominalisten) gespalten war; dies führte zu vielen Streitigkeiten30. Die günstige Lage der Stadt mitten im Süden des Reiches, an einem großen Strom in angenehmer Landschaft gelegen, mochte ihr Teil zum Aufblühen der Universität beitragen. Zwar hat sich Konrad Celtis bei seinem Weggang von der Artistenfakultät (1497) recht griesgrämig über Stadt und Land ge­ äußert31, doch überwiegen die anerkennenden Urteile bei weitem. Professor Valentin Rotmar, Annalist der Universität, rühmt im Jahr 158032: „Ingol­ stadt liegt in einer weiten, aber völlig sumpflosen Ebene an der Donau, welche südlich die Stadt bespült und das den tiefer liegenden Teil derselben 29 30 31 32

Mederer I 3, 6,8,10 - 13,17, 20 f., 23; Pölnitz, Matrikel I. Prantl I 52 - 63. Lateinischer Text (Od. 11/26) mit deutscher Übersetzung bei Obermeier 36. Mederer I p. XIII; Prantl 119 f.

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durchlaufende Flüßchen Schütter aufnimmt, welches oberhalb und inner­ halb der Stadt mehrere Mühlen treibt. Auf beiden Ufern der Donau finden sich Wäldchen zu Spaziergängen und auch zur Jagd tauglich, am nördlichen Ufer auch Gärten und Wiesen, sowie am südlichen eine Strecke unbebauten Landes, geeignet zum Exerzieren oder zu geselligen Spielen. Die Straßen der Stadt sind breit und gewähren freien Luftzug. Die Anzahl schönerer Ge­ bäude ist nicht unbedeutend, und insbesondere können in der Stadt 1500 Studierende gute Wohnung finden. Lebensmittel werden aus den Besitzun­ gen und Gärten der Umgegend täglich zugeführt, und außerdem finden wöchentlich zweimal größere Markttage statt.“ In den ersten einundzwanzig Jahren betrug der jährliche Neuzugang durchschnittlich 220 Studenten. Die Erlangung der Grade erforderte in allen Fakultäten eine lange Studienzeit. Auch wenn man damit rechnet, daß viele Scholaren nur vorübergehend in Ingolstadt blieben und daß auch äußere Störungen (Pest und Krieg) auf­ traten, darf man mit einer durchschnittlichen Aufenthaltszeit von zwei bis drei Jahren rechnen. Dies ergäbe für die ersten Jahrzehnte der Universität eine Zahl von 500 bis 600 Studierenden, und die ganze Ingolstädter Zeit über blieb, von Krisenzeiten abgesehen, ein Durchschnitt von 450 bis 600 Stu­ denten33. Adelige und reiche Studenten konnten in der Stadt privat wohnen, soll­ ten aber doch unter Leitung eines Privatlehrers stehen. Die große Mehrzahl der wenig begüterten und armen Scholaren wohnte in den Bursen, in denen das Leben streng nach Statuten geregelt war. Sie wurden jeweils von einem Magister geleitet und unterstanden alle der Oberaufsicht der Artisten­ fakultät. Das Studium der artes liberales, der „freien Künste“, bildete Vor­ aussetzung und notwendige Durchgangsstufe zur Immatrikulation in den drei anderen Fakultäten. Freilich ließ sich studentisches Leben zu keiner Zeit durch obrigkeitliche Statuten erschöpfend regeln. Klagen über unge­ bührliche Aufführung Studierender aller Fakultäten, angefangen von man­ gelnder Teilnahme an dem Lehrbetrieb und den reichlich zugedachten reli­ giösen Übungen bis zu schwerer Unbotmäßigkeit, Trunkenheit und den stets wiederkehrenden Raufhändeln, begegnen an der Hohen Schule von Ingol­ stadt nicht weniger häufig als an den übrigen Universitäten der Zeit. Die aus dem Universitätskarzer entlassenen Studenten mußten später feierlich schwören, sich am Rektor oder an einem anderen Professor für die zugemes­ sene Strafe nicht zu rächen34, sie nicht tätlich anzugreifen und ihnen nicht nachts die Fenster einzuwerfen — Letzteres eine studentische Gepflogen­ 33 Prantl 164. 34 Mederer IV 211 f.; Prantl 1171.

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heit der alten Zeit, die uns noch der Studiosus Goethe35 in Leipzig als Augen­ zeuge recht anschaulich schildert. Im übrigen konnte in den Anfängen der Universität Ingolstadt ein Student selbst zum Rektor gewählt werden, was auch tatsächlich öfters geschehen ist36. Auch der Sohn und Nachfolger Herzog Ludwigs des Reichen, Herzog Georg der Reiche (1479 - 1503), ließ sich die Förderung der Universität angelegen sein. Seine bedeutendste Stiftung war „das Neu Collegium“, das er „an montag nach sant Lucie der hailigen jungkfrawen tag“ (14. Dezember) 1494 für elf arme Studenten stiftete und größtenteils aus herzoglichen Einkünf­ ten dotierte37. Der Herzog hatte sich vorher mit den Bischöfen von Freising und Eichstätt darüber beraten und ein geeignetes Gebäude in der Nähe der Universität erworben. Der Bau war mitsamt der Kapelle für die neue Bestimmung teils neu errichtet, teils umgebaut worden. Das Neue Collegium war nach dem Brauch der Bursen organisiert. Es unterstand, wie alle Bursen, der Artistenfakultät, die auch einen Magister als Regens zu bestellen hatte. Dieser Magister mußte Priester sein oder binnen Jahresfrist die Priester­ weihe empfangen. Elf größere Städte des Herrschaftsbereiches Herzog Georgs erhielten das Recht, geeignete junge Leute auf die elf Freistellen zu präsentieren: Landshut, Ingolstadt, Lauingen, Wasserburg, Burghausen, Schärding, Braunau, Neuötting, Wemding, Hilpoltstein und Weißenhorn. Wer präsentiert werden wollte, mußte wenigstens sechzehn Jahre alt sein und einige Fähigkeit besitzen, im Chor zu singen. Zu den elf ursprünglichen Freiplätzen kamen später zahlreiche Privatstiftungen. Aus den sehr genauen Bestimmungen des Stiftungsbriefes geht deutlich hervor, daß der Landes­ herr mit dem „Herzog Georigen Collegium“ in erster Absicht eine Burse für Theologiestudenten, für künftige Priester also, einrichten wollte. Nicht nur die priesterliche Leitung und die ungewöhnlich vielen pflichtmäßigen Gebete und Gottesdienste weisen darauf hin. Jeder der elf „Kollegiaten“ konnte fünf Jahre in diesem Haus wohnen. Auch der im Stiftungsbrief für diese Zeit vorgesehene Studiengang zeigt die Absicht Herzog Georgs: „... die Studenten unsers Collegiums sollen anfenngklich in artibus siben künst lernen, bis sie maister werden, und so vil zeit der 5. jar, so ain yeder collegiat in unserm Collegio zu wonen hat, im noch verbanden were, dieselb zeit sol er in der hailigen geschrifft der theologie studim ...“ Die übrigen 35 Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Berliner Ausgabe, 13), Berlin Weimar 21967,363 f. 36 Name und Stand aller Rektoren bei Mederer I passim; Prantl I 37 f. 37 Original der Stiftungsurkunde im Archiv des Herzoglichen Georgianums, München; A. Schmid, Geschichte des Georgianums in München, Regensburg 1894 (hier 8-28 Text der Stiftungsurkunde, ebenso Prantl II Urk. Nr. 27).

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elf Bursen der Universität Ingolstadt gingen bald ein; um die Mitte des 16. Jahrhunderts scheinen sie endgültig erloschen zu sein. Nur das „Herzog Georigen Collegium“ überdauerte, wie die Universität selbst, alle Wechsel­ fälle der kommenden Jahrhunderte. Der „Regens“ des Georgianums genoß hohes Ansehen in der Universität. Viele dieser Regenten wurden zu Rek­ toren der Universität gewählt oder später auch als Weihbischöfe gerufen. Die Verwaltung des Universitätsvermögens besorgten im frühen 16. Jahr­ hundert schon je ein Professor der drei höheren Fakultäten und der Regens des Georgianums, der in diesem Gremium die Artistenfakultät repräsen­ tierte. Im Jahr 1593 wurde es von der Artistenfakultät gelöst und in die unmittelbare Obhut des Senats der Universität gegeben. Durch den pfalz­ bayerischen Kurfürsten Karl Theodor wurde es 1785 auch förmlich in ein Priesterseminar umgewandelt. Das „Herzogliche Georgianum“, der theolo­ gischen Fakultät eng verbunden, folgte der Universität nach Landshut und München, stets von den Wittelbacher Landesherren gefördert. Daß man sich in der eher rauhen als guten alten Zeit auch bezüglich der Scholaren, von denen man das Studium der Theologie und ein geistliches Leben erwar­ tete, wie bei allen übrigen Studierenden vorsehen mußte, beweisen die Straf­ drohungen des genannten Stiftungsbriefes Georgs des Reichen: „Wir wollen auch, daß in unserm Collegium frid und ainigkeit gehalten werde, darumb welcher collegiat sich unterstund den regenten zu rawfen oder zu slahen oder andern gewaltsamen frevel an seiner person begieng, oder ainen andern collegiat verwundet, derselb collegiat sol mit der tat solichs frevels all sein gerechtigkait des Collegium verwürkht haben. Darzw so ordnen und setzen wir, welcher collegiat in unserm Collegium bey ainer verdechtigen frawen oder ob ainem würfel- oder kartenspil im Collegium betreten oder zu nechtlicher Zeit mit waffen auf der gaßen gefunden wurde, derselb collegiat sol umb solichen Frevel zwen tag und zwo nächt in dem thurn unnser univer­ sitet gevanckhnus mit geringer speiß enthalten werden...“

Der Schwerpunkt geistigen Lebens lag in den ersten Jahrzehnten der Universität Ingolstadt bei der Artistenfakultät. Hier führten Männer wie Konrad Celtis (seit 1492) und Erhard Windsberger, Arzt und erster bestall­ ter Professor der Poesie, ein neues Bildungsideal herauf. Mit Ingolstadt ist das Erwachen des Studiums der hebräischen Sprache verbunden. Der Dominikaner Peter Schwarz (Niger, Nigri), der schon 1473 in die theologische Fakultät aufgenommen wurde, wirkte als erster Hebraist an der Hohen Schule, 1505 Johannes Böschenstein und 1520 Johannes Reuchlin. Unter Johannes Peurle rückte auch die griechische Sprache zu einem Hauptfach auf (1515). Mathematik und Astronomie wurden durch Johann Engel, den ersten

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Inhaber des 1492 geschaffenen Lehrstuhls für Mathematik und Astronomie, eifrig betrieben, dann durch Johannes Stabius, durch Peter und Philipp Apian. Die geschichtlichen Studien fanden durch den großen Historiogra­ phen Johannes Turmair aus Abensberg, genannt Aventinus, seit 1507 eine eifrige Pflege38.

Die beiden führenden Professoren der theologischen Fakultät, Johannes von Adorf und Georg Zingel, haben sich dem neuen humanistischen Geist nicht verschlossen. Dies beweist zum Beispiel ihre Freundschaft mit Konrad Celtis, den sie auch gegen Verdächtigungen seiner Kirchlichkeit in Schutz nahmen. Zingel geriet öfters in Auseinandersetzungen mit Kollegen ande­ rer Fakultäten. Auch hier spielte der Gegensatz zwischen den „antiqui“ und „moderni“, der immer noch die Artistenfakultät tief spaltete, eine erhebliche Rolle. Adorf und Zingel vertraten mit Entschiedenheit die via antiqua. Als Konrad Celtis nach Wien ging, trat 1498 Jakob Locher, genannt Philomusos, an seine Stelle. Locher wirkte gewiß vielfach anregend; er war aber, wie so viele der jüngeren Humanisten, satirisch und bewußt herausfordernd. Es kam bald zum heftigen Zusammenstoß mit dem Theologen Zingel, der auch den Senat und schließlich sogar den Herzog beschäftigte. Zingel wünschte, daß dem Vortrag der Poesie christliche statt heidnischer Dichter zugrunde­ gelegt würden, zum Beispiel Prudentius oder Baptista Mantuanus (Spagnoli). Der Streit nahm so heftige Formen an, daß Locher vorübergehend nach Freiburg im Breisgau ging. Von dort richtete er eine böse Schmäh­ schrift gegen Zingel („Apologia contra poetarum acerrimum hostem Georgium Zingel“), voll von gröbsten Beleidigungen und schweren Verleumdungen. Die größere Schuld lag gewiß bei dem recht eitlen, überheblichen Philomusos, der auch an der Universität Freiburg sich bald viele Feinde schuf. Auch den hochangesehenen Jakob Wimpfeling hat er grob beleidigt. Als Locher im März 1506 unter dem Einfluß seiner Freunde wieder nach Ingolstadt gerufen wurde, gab es bald und immer wieder neuen Ärger mit Kollegen und mit dem Senat, weil er etwa zu Beginn seiner Vorlesungen die Glocke läuten ließ — was nach den erneuerten Statuten von 1522 nur den Theologen und den beiden Professoren des kanonischen und civilen Rechts zustand — oder beleidigende Anschläge gegen den Senat an die Türen des Kollegiums heftete39.

38 Prantl I 34 f., 77, 121 - 140; H. Lutz, Der Humanismus in Bayern und die Universität Ingolstadt, in: Spindler II 767 - 772. 39 Mederer I 78; Prantl I 131 -134; Obermeier 41 - 46; LThK 2VI 1109 f. - G. Bauch, Die Anfänge des Humanismus in Ingolstadt, München - Leipzig 1901, 52 (Freundschaft Adorfs und Zingels mit Celtis).

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Johannes von Adorf und Georg Zingel wechselten bis zu ihrem Tod als Dekane der theologischen Fakultät halbjährlich einander ab. Der neue Dekan wurde jeweils um das Fest des Märtyrers Georg, das nach deutschem Brauch am 24. April begangen wurde, und des Evangelisten Lukas (18. Oktober) gewählt. Er übernahm sofort die Amtsgeschäfte. Die Fakultätsmatrikel der Dekane hält jedesmal den Akt der Übergabe fest. Übergeben werden dabei regelmäßig ein Tisch (tabula), eine Truhe (archa, cista), welche die Doku­ mente der Fakultät (Archiv) und die Kasse enthält, das Fakultätssiegel40, das Buch der Statuten und Beschlüsse (liber statütorum et actitatorum)41. Georg Zingel hat 1479 als Dekan einen Teppich (tapetum) um 11 fl und ein Fakultätszepter um 5 fl gekauft42, die in Zukunft bei jeder Amtsübergabe erscheinen. In die Kasse fließen die Promotionsgebühren. Ihr Inhalt ist anfangs gering: im Durchschnitt einige Gulden rheinisch, 1484 einmal 24 fl43, gelegentlich auch nur 30 Kreuzer (1483)44, doch 1505 die stattliche Summe von 110 fl45. Ihr Zepter hat die theologische Fakultät 1487, unter dem Dekan Adorf, der Artistenfakultät geschenkt, unter der Bedingung, daß man es bei Gelegenheit stets ausleihen könne46.

Die Fakultät wird in den ersten drei Jahrzehnten in der Regel nur durch ihre beiden Ordinarien, Adorf und Zingel, repräsentiert. Diese beiden Pro­ fessoren sitzen im Rat der Universität (consilium, Senat); einer der beiden übernimmt das Rektorat, wenn die Fakultät im üblichen Turnus an der Reihe ist47. Gelegentlich werden nach Ausweis der Fakultätsmatrikel, die vom Dekan geführt wird, auch andere Magistri, meist der Artistenfakultät, mit Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus betraut, manch­ mal wird auch ein Magister ad gremium et consilium facultatis aufgenom­ men. Den übrigen Lehrbetrieb, in den unteren Stufen, besorgen die von der Fakultät promovierten Cursoren und Sententiarier. Die Fakultätsmatri­ kel ist vor allem dadurch wichtig, daß sie die Dekane aufführt und sämtliche Promotionen enthält. Die erste Epoche der theologischen Fakultät, drei Jahrzehnte umfassend, ging mit dem Tod der beiden um den Aufbau der Fakultät hochverdienten 40 Das Fakultätssiegel wurde am 21. Sept. 1476 vom Dekan Zingel um 7 fl 60 d angeschafft. Matricula Collegii Theologici I fol. 7. 41 z. B. Matricula Collegii Theologici I fol. 10 (18. Okt. 1477), fol. 14 (18. Okt. 1480). 42 Ebd. fol. 12. 43 Ebd. fol. 18. 44 Ebd. fol. 17. 45 Ebd. fol. 42. 46 „Sceptrum facultatis decano facultatis artistice dono pro facultate sua oblatum fuit condicione adiecta ut sceptrum nobis tempore oportuno comodaret...“ Matricula Collegii Theologici I fol. 21. 47 Mederer I 5 (1473) - 59 (1501).

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ersten Ordinarien zuende. Mit Recht rühmt sie die Matrikel als „plantatores facultatis theologicae“48. Kurz vorher war mit dem Tod Herzog Georgs des Reichen die niederbayerische Linie der Wittelsbacher im Mannesstamm er­ loschen49. Daran knüpfte sich der Landshuter Erbfolgekrieg, geführt mit Sengen, Brennen und Morden, der das Land schrecklich heimsuchte und auch die Universität in Mitleidenschaft zog50. Endlich konnte Herzog Albrecht IV. von Oberbayern den größten Teil des umstrittenen Erbes der Reichen Herzöge übernehmen. Am 6. Oktober 1505 starb Johannes von Adorf an der Pest51. Im Januar 1506 wurde Johannes Plüml (Plueml, Pluemel, Blueml), Magister artium und Lizentiat der Theologie, von Herzog Albrecht auf die vakante Liebfrauenpfarrei zu Ingolstadt präsentiert, mit der die lectura in der theologischen Fakultät verbunden war. Plüml war wiederholt schon zum Rektor der Universität bestellt worden52. Am 13. Februar 1506 überreichte ihm Georg Zingel in der Liebfrauenkirche die Insignien eines Doktors der Theologie — Plüml war der achte und letzte von denen, die er als pater zur theologischen Doktorpromotion geleitet hatte. Schon am 2. März hielt Plüml, artium et sacrae theologiae professor, dazu Pfarrer bei Unserer Lieben Frau, seine Antrittsvorlesung als neuer lector Ordinarius der theologischen Fakultät. Im April wurde er zum erstenmal zum Dekan gewählt53.

Zingel und Plüml nahmen von April bis September 1507 an den langwie­ rigen Sitzungen und Beratungen der Universität teil, da Herzog Albrecht IV. eine umfassende Überprüfung sämtlicher Statuten angeordnet und dazu, gleichsam als Rahmenordnung, eine „nova ordinatio“ geschickt hatte. Rektor und Dekane sollten künftig auf ein Jahr gewählt werden. Was den Rektor anlangt, ordnete 1516 ein herzoglicher Erlaß an, wieder zur halbjährigen Amtszeit zurückzukehren. Der Dekan der theologischen Fakultät aber wurde seit 1507 auf ein Jahr gewählt; gemäß den „erneuerten Statuten“ der Univer­ sität von 1522 ging die theologische Fakultät wieder zur halbjährlichen De­ kanswahl über. Da es bisher öfters Unstimmigkeiten über die Rangfolge 48 Matricula Collegii Theologici I fol. 46. 49 Die Matricula Collegii Theologici I fol. 41 berichtet darüber: „Anno D. 1503° princeps illustrissimus Bauarie Georgius sexta feria post Andree in Castro nouo Ingolstattensi vita est functus. Cuius mors ex post vigilia s. Nicolai innotuit et divulgata fuit. Et die eodem cadauer eiusdem ad ecclesiam parochialem b. Virginis delatum ibique per noctem intestinis in sepulcrum ibidem principum Bauarie repositis. Cadauer dimissum, sequent! die videlicet s. Nicolai peractione habita ante portam ciuitatis conductum, et ad Wolzach delatum, in Lanzhutt ex post deferendum ad sepulturam suorum predecessorum fuit.“ 50 Matricula Collegii Theologici I fol. 41; Prantl 1104; Spindler II291 - 294. 51 Matricula Collegii Theologici I fol. 42. 52 Mederer I 33 (1487), 44 (1495), 56 (1499), 71 (1506). 53 Matricula Collegii Theologici I fol. 43.

Grabplatte von Georg Zingel in der Franziskanerkirche Ingolstadt

Grabplatte von Johann Permeter von Adorf im Liebfrauenmünster Ingolstadt

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gegeben hatte, wurde nunmehr (1507) festgelegt, daß bei Plenar-Consilien die theologische Fakultät zuerst und die Artistenfakultät als letzte ihr Votum abgibt. Promotionen dürfen nur in der Liebfrauenkirche, in der Aula des Alten Collegiums, im Kanonisten-Hörsaal oder in der Senatsstube vorgenommen werden, niemals aber in Privaträumen. In den allgemeinen Beratungen wurden auch die Statuten der theologischen Fakultät einer Prü­ fung unterzogen, auch mit den Tübinger Statuten verglichen, aber sämtlich in ihrem vorliegenden Zustand gebilligt54.

Als Zingel am 26. April 1508 starb55, damals ein Greis von achtzig Jahren, bestand die Fakultät aus Plüml allein. Nur gut eineinhalb Jahre wirkte er als Ordinarius. Seine letzte Amtshandlung in der Fakultätsmatrikel trägt das Datum des 15. September 1508. Er legte das Dekanat und das Lehramt nieder, übergab das Siegel und die übrigen Fakultätssachen, verzichtete auch auf die Liebfrauenpfarrei und ging als Prediger nach Bruchsal, an die Residenz des Bischofs von Speyer. Sein letzter Eintrag in der Matrikel stellt das vor­ läufige Ende der theologischen Fakultät fest: „Et sic eadem facultas desiit in universitate Ingolstatensi donee iterum resuscitetur, quod ut brevi fiat velit deus omnipotens56.“ Zu allem Unglück kam noch der Streit mit dem Eichstätter Domkapitel, das nach Zingels Tod dessen Kanonikat nicht mehr als Professorenpfründe hergeben wollte und statt dessen eine jährliche Geld­ leistung anbot57.

In diesem Jahr leitete der Regens des Georgianums, Johannes Zaler, als Rektor die Universität. Er nahm sich besonders der darniederliegenden theo­ logischen Fakultät an. Zunächst wurde alles, was die Fakultät betraf, dem neuen Pfarrer an der Liebfrauenkirche, Magister Johannes Pettendorfer (Bettendorfer), übertragen. Obwohl nur Baccalaureus der Theologie, hielt er theologische Vorlesungen. Nach dem Willen des Herzogs wurde er auch zum Rat der Universität zugelassen. Zunächst wurde dem Arsacius Hais­ wasser in Ellwangen eine theologische Professur förmlich angetragen58. Das Vorhaben scheiterte an den hohen Forderungen. Ebenso blieb die Reise Jakob Lochers nach Tübingen erfolglos, der dort einen geeigneten Theologen gewinnen sollte. Unter diesen Umständen wurde noch im Jahr 1508 Johannes Pettendorfer zum Professor und Dekan der theologischen Fakultät ernannt. Bis zum Eintreffen Dr. Ecks hat er allein die Fakultät repräsentiert. Petten54 Prantl 1104 - 106,113; Seifert 75 -106. 55 Matricula Collegii Theologici I fol. 45. 56 Ebd. fol. 45 s.; Mederer 178 f. 57 Prantl 1112. 58 Er war in Landshut geboren und hatte in Ingolstadt studiert. Matricula Collegii Theologici I fol. 36. 3

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dorfer wurde 1509 zum Rektor der Universität gewählt59. Die Sommer­ ferien benützte er zu einer Italienreise, um sich in Ferrara die theologische Doktorwürde zu erwerben. Um theologische Promotionen vornehmen zu können, zog er den Karmelitenprovinzial Johannes Fortis bei, Doktor der Universität Wien. Johannes Pettendorfer wurde am 4. Februar 1512 zum Weihbischof von Würzburg ernannt. Damit schied er aus der Fakultät aus. Er hat sich schon frühzeitig Luther angeschlossen und sich von der alten Kirche abgewendet60. Nach den schwierigen Jahren, die dem Tod Adorfs und Zingels folgten, begann eine neue Epoche der theologischen Fakultät mit dem Eintritt des Professors Dr. Johannes Eck. In den Stürmen der Reformationszeit — Dr, Eck Im ausgehenden 15. und im frühen 16. Jahrhundert zählte die Universität Ingolstadt zeitweise zu den wichtigsten Mittelpunkten des deutschen Huma­ nismus. Eine Reihe glänzender Namen, vor allem der Artistenfakultät, wies diesen Anspruch aus. Im fortschreitenden 16. Jahrhundert rückte nun die theologische Fakultät stärker, zeitweilig beherrschend, in den Blickpunkt. Den Hintergrund boten die theologischen und kirchenpolitischen Kämpfe der Zeit. Trotz vieler Versuche war die dringend notwendige Reform der Kirche an Haupt und Gliedern im vielfarbenen „Herbst des Mittelalters“ nicht zu­ stande gekommen. So löste das öffentliche Hervortreten Martin Luthers im Spätjahr 1517 die lange schon schwelende Revolution in der Kirche aus. Im aufbrechenden, mit aller Leidenschaft ausgetragenen Streit stellten sich die bayerischen Herzöge — nach wenigen Jahren des Zuwartens — seit dem Frühjahr 1522 entschieden gegen Luther. Zwar wurden auch Teile Bayerns von der reformatorischen Bewegung ergriffen, doch tiefe Wurzel konnte die protestantische Reformation hier kaum fassen, und nach einigen Jahrzehnten schwerer Verstörung brachte die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts neue Konsolidierung. Bayern und sein Herrscherhaus wurden in dieser Zeit die sicherste Stütze für die katholische Kirche und ihr Papsttum im Reich, weit vor den Bischöfen und auch vor den nicht immer zuverlässigen Habsburger Kaisern61. In diesem Rahmen kam der bayerischen Landesuniversität Ingol­ 59 Mederer 180. 60 Matricula Collegii Theologici I fol. 45 - 48 (Tätigkeit Pettendorfers in der theol. Fakultät); Mederer I 76, 80 f., 87; Prantl I 113; Eubel III 258 (Weihbischof zu Würzburg, Episcopus Nicopolitan., circa annum 1523 autem apostata.). 61 G. Pfeilschifter, Acta Reformationis Catholicae, I - IV, Regensburg 1959 1971; Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. v. H. Jedin, IV: E. Iserloh, J. Glazik, H. Jedin, Reformation. Katholische Reform und Gegenreformation, Freiburg Basel-Wien 1967; K. Bihlmeyer / H. Tüchle, Kirchengeschichte, III, Paderborn 181969; Spindler II 295 - 350 (H. Lutz: Die Herzöge Wilhelm IV. und Albrecht V.);

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stadt und ihrer theologischen Fakultät hervorragende Bedeutung zu. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts steht ein einzelner Name im Vordergrund, Professor Dr. Johannes Eck, in der zweiten Jahrhunderthälfte sind es meh­ rere hervorragende weltpriesterliche Professoren und die Jesuiten. Johannes Maier war 1486 in dem kleinen schwäbischen Dorf Egg (Eck) an der Günz, mitten im Bistum Augsburg, geboren62. 1498 begann er seine Studien an der Universität Heidelberg, schon im folgenden Jahr wurde er in Tübingen zum Baccalaureus, 1501 — als Vierzehnjähriger — zum Magister artium promoviert.. In der alten Zeit kamen öfters frühe Promotionen vor, aber der rasche akademische Aufstieg des jungen Eck ist selbst für das frühe 16. Jahrhundert außergewöhnlich. Seine hervorragende, vielseitige Be­ gabung steht außer Zweifel. Seit Oktober 1501 setzte er seine theologischen Studien in Köln fort, seit Juni 1502 zu Freiburg im Breisgau. Der Besuch dieser bedeutenden Universitäten brachte mannigfache Anregungen. Der junge, vielbewegliche Magister war durchaus ein „moderner“ Mensch in seiner Zeit. Seine geistige Heimat bildete in Philosophie und Theologie zu­ nächst mehr die via moderna der Nominalisten, wenn er sich auch um ver­ nünftigen, friedlichen Ausgleich zwischen den Schulen bemühte. Er erhielt die theologischen Grade, angefangen vom Baccalaureus biblicus (1505) bis zum Doktor (1510). Dazwischen empfing er in Straßburg die Priesterweihe (1508). Die frühen Prüfungserfolge, auffallende Gewandtheit in der Kunst des Disputierens und ungewöhnliche Beliebtheit bei den Studenten förder­ ten das Selbstbewußtsein des jungen Lehrers, brachten ihm aber auch mancherlei Mißgunst und Anfeindungen ein. Als Leiter der Pfauenburse in Freiburg, die wegen der wilden Sitten ihrer Scholaren verrufen und in Auf­ lösung begriffen war, stellte er in kurzer Zeit die Ordnung wieder her, ein E. W. Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfäli­ schen Frieden (1648); in Handbuch der Europäischen Geschichte. Hrsg. v. Th. Schieder, III, Stuttgart 1971,445 - 580. 62 Zu Dr. Eck: Matricula Collegii Theologici I fol. 48 - 81 (Ecks Tätigkeit in der Fakultät, mit seinen Aufzeichnungen als oftmaliger Dekan); Mederer I 82 - 188, bes. 184 - 188; Prantl I 114 f., 144 - 163, 172 - 174, 186 f., II 485; F. Zoepfl, Johannes Eck, in: Lebensbilder aus dem bayerischen Schwaben 6, München 1958, 186 - 216 (gute Übersicht über die neuere Literatur); E. Iserloh, in: LThK 2III 642-644; Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. v. H. Jedin, IV 197 f. (Schriftenverzeichnis Ecks; Quellen u. Lit.); Spindler II 311, 641, 770. — Zum jungen Eck: J. Eck, Chrysopassus, Augsburg 1514; H. Schreiber, Geschichte der Albert-Ludwigs-Uni­ versität zu Freiburg im Breisgau, I, Freiburg 1857, 157; J. Greving, Johann Eck als junger Gelehrter. Eine literatur- und dogmengeschichtliche Untersuchung über seinen Chrysopassus praedestinationis aus dem Jahre 1514, Münster i. W. 1906 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 1); J. Schlecht, Dr. Johann Ecks Anfänge, in: Historisches Jahrbuch 36 (1915) 1 - 36; K. Rischar, Professor Dr. Johannes Eck als akademischer Lehrer in Ingolstadt, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 37 (1968) 193 - 212. 3*

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Zeichen seiner Tatkraft, aber auch seines pädagogischen Geschicks schon in jungen Jahren.

Im September 1510 kam der Freiburger Lizentiat Johannes Eck nach Ingol­ stadt, um sich persönlich zu bewerben. Zwei einflußreiche Männer hatten ihn als Professor der Theologie empfohlen, der Augsburger Stadtschreiber Dr. Konrad Peutinger und Dr. Hieronymus von Croaria, Fiskalprokurator beim Reichskammergericht, bis 1508 Kanonist in Ingolstadt. Seine öffent­ liche Disputation über ein Problem der Gnadenlehre (de statu infantium, qui sine baptismo decedunt) fand großen Anklang. Die Universität Ingolstadt empfand es als Bereicherung, diesen fähigen Professor zu gewinnen. Ecks Abschied von Freiburg gestaltete sich zu einem kleinen Triumphzug, Freunde und Schüler in großer Zahl gaben ihm das Geleite, darunter Doktoren, Magistri, Adelige und Kanoniker. Seine beiden bedeutendsten Schüler aus der Freiburger Zeit, Urban Rieger (Rhegius) und Balthasar Hubmaier, folg­ ten ihm bald nach Ingolstadt. Am 13. November 1510, an seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, hielt Dr. Eck seine Antrittsvorlesung in der theo­ logischen Fakultät zu Ingolstadt63, am 28. April 1511 wurde er als Nachfolger Pettendorfers zum erstenmal zum Dekan der Fakultät gewählt64. Als Be­ soldung erhielt Professor Eck ein Kanonikat im Domstift zu Eichstätt, das vor ihm Georg Zingel innegehabt hatte. Gleichzeitig bestellte ihn der Bischof von Eichstätt zum Vizekanzler, zu seinem ständigen Vertreter an der Uni­ versität. Am Beginn des Jahres 1512 ging Pettendorfer als Weihbischof nach Würz­ burg. Damit war Eck der einzige theologische Doktor der Fakultät. Er be­ hielt deshalb das Dekanat nach Ablauf des ersten Amtsjahres bei65. Dazu wirkte er 1512/13 zum erstenmal als Rektor der Universität66. Die durch den Verzicht Pettendorfers freigewordene Frauenpfarrei wurde Balthasar Hub­ maier (Hiebmair) übertragen, und noch im Spätsommer 1512 promovierte ihn Professor Eck, wieder im Beisein des Karmelitenprovinzials Johannes Fortis, zum Lizentiaten und Doktor der Theologie. Am 2. September 1512 wurde Hubmaier in den Rat der Fakultät aufgenommen67. Unter den Schü­ 63 Mederer 182. 64 Matricula Collegii Theologici I fol. 48 s. 65 Ebd. fol. 50: „ ... ob absentiam alterius doctoris praefuit rectoratui et decanatui“ (Eintrag Ecks). 66 Mederer 186. 67 „X. Maii [1512] Magister Baldasar Hiebmair ex Fridberg petiit assumi vt bacc., Friburgi ad sententias admissus... XXIX. Augusti M. Baldasar Hiebmair plebanus B. Mariae virginis, petiit sibi aperiri examen, et assignata fuerunt ei puncta per Eckium decanum et patrem electum, ac loannem Fortis prouincialem Carmelitarum. XXX. Augusti fuit examinatus et procancellario praesentatus. XXXI. die Augusti Eckius ei contulit licentiam. Prima die Septemb. vesperias

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lern der frühen Zeit stand er Dr. Eck besonders nahe. Hubmaier stammte aus Friedberg bei Augsburg und war mit Eck ungefähr gleichaltrig. Dr. Eck rechnete gewiß mit einer längeren Wirksamkeit seines Freundes und Kol­ legen in der Fakultät. Aber Hubmaier ließ sich nicht lange in Ingolstadt halten. 1512/13 war er Dekan68, im April 1515 wurde er dem jungen Mark­ grafen Friedrich von Brandenburg, der studienhalber in Ingolstadt weilte und zum Rektor gewählt wurde, als Prorektor an die Seite gegeben69. Doch Hubmaier verließ bereits im Januar 151'6 die Stadt70. Er ging als Dompfarrer und Domprediger nach Regensburg. Der hochbegabte, doch zum Exzentri­ schen neigende Theologe entfaltete hier sprachgewaltig und die Massen mit­ reißend eine agitatorische Tätigkeit. An der Austreibung der Juden aus der Reichsstadt Regensburg und an dem hektischen Wallfahrtsbetrieb „zur Schönen Maria“, auf dem Platz des zerstörten Judenghettos, nahm er leiden­ schaftlich Anteil71. Seit 1522 näherte sich Hubmaier der Reformation Zwinglis. In den folgenden Jahren wandte er sich den Taufgesinnten zu. Neben Hans Denk wurde er eines der Häupter der Taufbewegung in Ober­ deutschland. Nikolsburg in Mähren wurde durch ihn, der nunmehr von sei­ nem früheren Fanatismus Abschied genommen hatte, ein Mittelpunkt der Täuferbewegung. Auf Verlangen der österreichischen Regierung wurde er aber ausgeliefert und mit seiner Frau 1528 zu Wien lebendig verbrannt.

Hubmaiers Nachfolger auf dem Ingolstädter Lehrstuhl wurde 1516 Dr. Thomas Ramlspach, aus Haimhausen, der in den folgenden Jahren sich mit Dr. Eck im Dekanat abwechselte, aber bereits im April 1519 die Stelle eines Dompredigers in Passau übernahm72. An seiner Stelle wurde am 19. Novem­ ber 1519 Leonhard Marstaller aus Nürnberg in die Fakultät aufgenommen73. celebrauit sub Eckio; II die doctor factus; III die Septemb. repetiit. III fl. facultati debitos facultas ei remisit, ob magnas expensas quas habuit doctorandus in altero doctore hue conducendo. Secunda die septemb. d. Baltasar assumptus est in con­ silium facultatis.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 50 (Eintrag Ecks). — Zu Hub­ maier: Mederer I 97 f.; Prantl I 113 f.; LThK 2V 503 f.; T. Bergsten, Balthasar Hub­ maier. Seine Stellung zu Reformation und Täufertum, 1521 - 1528, Kassel 1961; Balthasar Hubmaiers Schriften, hrsg. v. G. Westin und T. Bergsten, Gütersloh 1962; Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. v. H. Jedin, IV 182,186 f. 68 Eintrag Ecks in der Matricula Collegii Theologici I fol. 51: „Acta in decanatu primo clarissimi doct. Baldasaris Hiebmair Fridbergensis anno 1513 ...“ 69 Ebd. fol. 51; Mederer 192. 70 Matricula Collegii Theologici I fol. 52. 71 G. Stahl, Die Wallfahrt zur Schönen Maria in Regensburg, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg. Hrsg. v. G. Schwaiger und J. Staber, Bd. 2, Regensburg 1968,35 - 282. 72 Ramlspach war am 8. Mai 1516 von Eck zum Dr. theol. promoviert worden. Matricula Collegii Theologici I fol. 52. Ebd. fol. 53 - 56 über die Tätigkeit Ramls­ pachs in der Fakultät. Mederer 189,96,106 f.; Prantl 1114. 73 Matricula Collegii Theologici I fol. 57.

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Er hatte in Paris studiert und erwarb in Wien den theologischen Doktorgrad. An der Seite Ecks gehörte Marstaller bis zu seinem Tod (1546) der Fakultät als Ordinarius an, glaubenseifrig und nicht ohne literarische Tätigkeit, wenn er auch den bedeutenden Theologen der Zeit kaum zugerechnet werden kann74. Neben Eck und Marstaller gehörte ein Jahrzehnt hindurch (1522 1532) Nikolaus Appel (Apel, Apelles) der theologischen Fakultät an75; Eck hatte ihn 1522 zum Doktor promoviert und am 14. April dieses Jahres in die Fakultät aufgenommen76.1532 ging Dr. Appel als Prediger an das Kollegiatstift Moosburg. Im Jahr 1525 trat der Regens des Georgianums, Johannes Schröttinger, von der Artistenfakultät zur theologischen über, verließ aber 1536 die Universität Ingolstadt77. Nach Dr. Ecks Tod (10. Februar 1543) war Marstaller der einzige Professor der Theologie, bis der Jesuit Claudius Jaius wenigstens vorübergehend Hilfe leistete78. Marstaller starb am 17. März 1546 in Freising. Dorthin hatte er sich, bereits betagt und krank, im Schmalkaldischen Krieg und während der gleichzeitigen Pest zu kurzer Erholung begeben. Der Leichnam wurde nach Ingolstadt gebracht und in der Drei­ königskapelle der Liebfrauenkirche beigesetzt79. Damit war die Fakultät wieder völlig verwaist. Erst 1548 trat der Dominikaner Balthasar Fannemann, Weihbischof zu Hildesheim, als einziger Professor ein, der aber schon 1551 als Weihbischof nach Mainz gerufen wurde80. Zu dieser Zeit hatte aber Herzog Wilhelm IV. längst Verhandlungen mit dem Papst und dem Jesuiten­ orden aufgenommen, um theologische Lehrer für seine Universität zu ge­ winnen. Diese Bemühungen führten im Jahre 1549 zu einem ersten Erfolg.

Professor Eck teilt mit so vielen markanten Persönlichkeiten seiner Epoche das Schicksal, seit vierhundert Jahren von der Parteien Haß und Gunst erhoben oder geschmäht zu werden. Als akademischer Lehrer hat Dr. Eck höchst erfolgreich gewirkt, wenigstens in seiner frühen Zeit, ehe noch die großen theologischen Streitigkeiten die Atmosphäre vergiftet ha­ 74 Ebd. fol. 57 - 84; Mederer I 109 - 200, bes. 198 - 200; Prantl I 187, II 486. 75 Matricula Collegii Theologici I fol. 61 - 73. Appel war in Egweil bei Eichstätt geboren und starb am 15. Aug. 1545 als Prediger in Moosburg. Mederer I 114-116, 196; Prantl 1187, II487. 76 Matricula Collegii Theologici I fol. 61. 77 Ebd. fol. 74 (Promotion zum Dr. theol. durch Eck am 13. Nov. 1533). Schröt­ tinger stammte aus Marktl am Inn, war 1519 - 1522 Regens des Georgianums, seit 1536 Pfarrer von Pfarrkirchen (Rottal), dann Kanonikus und Generalvikar zu Passau. Mederer I 108, 129, 149, 157; Prantl I 187, II 487; Schmid, Georgianum 90 f. 78 Matricula Collegii Theologici I fol. 82; Mederer 1188. 79 Mederer 1198 - 200; Prantl II486. 80 Matricula Collegii Theologici I fol. 85. Fannemann war Weihbischof zu Hil­ desheim (1540) und Mainz (1551); gest. 8. Okt. 1561 in Köln. Eubel II 247, 345; 1551 nahm er als Begleiter des Mainzer Kurfürst-Erzbischofs Sebastian von Heusen­ stamm am Trienter Konzil teil. H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, III, Freiburg - Basel - Wien 1970, 496, 549; Acta Reformationis Catholicae IV 632.

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ben. Eck war von seinem Lehrberuf zeitlebens begeistert. Deswegen hat er auch nicht nach hohen Kirchenwürden oder gar nach dem Kardinalshut getrachtet, wie ihm protestantische Gegner vorgeworfen haben81. „Schul­ meister“ zu sein, war ihm schönster, ehrenvollster Titel. In seiner „Epistola de ratione studiorum“ von 1538 schreibt er: „Von der Liebe zur Wissen­ schaft entflammt, kann ich mich nicht von der Hochschule trennen und vom Schweiß der Studenten82.“ Und noch in seinem Todesjahr (1543) bekennt er: „Ich danke Gott von Herzen, daß er den Eifer des Studiums bis jetzt in mir bewahrt hat und ich mit gleicher Freude Bücher lese wie vor vierzig Jahren. Nichts anderes wünsche ich, nichts anderes habe ich alle Tage meines Lebens gesucht, als in der Hochschule zu lehren und zu sterben83.“ Diese Freude am Lehrberuf hat sich vielen seiner Schüler mitgeteilt. Die Begeisterung seiner Hörer begleitete Dr. Eck von Freiburg nach Ingolstadt. Sein Eintreffen be­ deutete einen merklichen Aufschwung der stagnierenden theologischen Fakultät. Dr. Eck war ein vielseitig gebildeter Theologe, der auch literarisch eifrig hervortrat. Neben gründlichen philosophischen und theologischen Studien widmete er sich auch den Rechtswissenschaften und dem gründlichen Stu­ dium der griechischen und hebräischen Sprache, auch als bereits gefeierter Professor84. In seinem ausgeprägten sozialen Sinn hat Eck viele Studenten auch wirtschaftlich entscheidend gefördert, so den von ihm hochgeschätzten Balthasar Hubmaier und Urban Rieger (Rhegius). Rieger war seinem Leh­ rer nach Ingolstadt gefolgt, scheiterte aber bei dem Versuch, sich seinen Lebensunterhalt durch Verköstigung und Unterbringung adeliger Studenten zu verdienen. Der arme Bursche mußte sich schließlich als Söldner bei den kaiserlichen Truppen verdingen. Als Professor Eck einmal in Ingolstadt mit einigen Kollegen spazierenging, sah er zu seiner Überraschung den Rhegius mitten im Söldnerhaufen beim Exerzieren. Sofort greift er ein, bezahlt des­ sen Schulden, kauft ihn vom Militärdienst frei und erreicht sogar durch seine freundschaftliche Verbindung zum mächtigen Leonhard von Eck, dem eng81 Zum Folgenden (außer dem in Anm. 62 dieses Abschnitts genannten Schrift­ tum) bes. K. Rischar, Professor Dr. Johannes Eck als akademischer Lehrer in Ingol­ stadt, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 37 (1968) 193 - 212. 82 J. Eck, Epistola de ratione studiorum (1538), ed. J. Metzler, Münster i. W. 1921 (Corpus Catholicorum 2), 74 f. 83 J. Eck, Replica adversus scripta secunda Buceri apostatae super actis Ratisponae, Ingolstadt 1543,55. 84 Obermeier 62 - 64 (Eck als Hebraist); Rischar 201 f. (Eck ist Kenner des Grie­ chischen, Hebräischen, Chaldäischen; im weltlichen und kirchlichen Recht war der berühmte Ulrich Zasius sein Lehrer; er besaß gründliche geographische, mathematische und astronomische Kenntnisse, so daß er z. B. ohne Schwanken für die umstrittene These von der Kugelgestalt der Erde eintrat).

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sten Berater der bayerischen Herzöge, daß Rhegius auf den Lehrstuhl für Poesie und Rhetorik in der Artistenfakultät berufen wird. Der Schüler hat diesen Dienst seinem Lehrer nie vergessen85. Dem Bruder seiner eigenen Stiefmutter stellte Dr. Eck ebenso die Mittel zum Studium zur Verfügung wie einem armen Studenten aus Gerolfing bei Ingolstadt: beide wurden später Professoren der Universität86. Die ihm verliehene Pfründe an der Katharinenkirche überließ Eck einem armen Studenten der Theologie, und auch als Pfarrer der beiden Ingolstädter Hauptkirchen, von St. Moritz (1519 - 1525) und zur Schönen Unserer Lieben Frau (1525 - 1532,1538 - 1540), hatte er stets eine offene Hand für Notleidende87.

Als junger Mensch hatte Dr. Eck bittere Not am eigenen Leib erfahren, als ihm der geistliche Onkel, von Verwandten aufgehetzt, mitten im Studium jede weitere Unterstützung verweigerte. In einem Buch hat Eck in dieser trostlosen Lage (1504) an den Rand geschrieben: „Ich lebe von der Hoffnung und von der Luft!“ Als junger Lehrer mußte Eck zunächst vom Ertrag seiner Veröffentlichungen und vom knappen Hörgeld seiner Studenten leben. Diese wenig glänzende Wirtschaftslage erklärt, daß er mehrfach Aushilfen über­ nahm. An den Werktagen hielt er meist vier bis sechs Stunden Vorlesungen und Repetitionen. Später hat sich seine finanzielle Situation wesentlich ge­ bessert88. Es ist heute unbestritten, daß Professor Eck als Seelsorger in Ingolstadt vorbildlich gearbeitet und in seinen Pfarrkirchen fleißig selber gepredigt hat. Vom November 1525 bis zum Februar 1532 bestieg er allein in Ingolstadt 456mal die Predigtkanzel. Gewiß war der anbrechende Glaubensstreit für ihn ein zusätzlicher Antrieb, seelsorgerlich zu wirken, besonders durch die Unterweisung89. Als manche Priester reformatorische Predigtwerke benütz­ ten, weil brauchbare katholische Bücher fehlten, verfaßte er fünf stattliche Bände deutscher Predigten: zum Kirchenjahr (Ingolstadt 1530), zu den Heiligenfesten (Ingolstadt 1531), über die sieben Sakramente (Augsburg 1534) und über die Zehn Gebote Gottes (Ingolstadt 1539). Auf Wunsch Her­ zog Wilhelms IV. brachte er 1537 auch eine deutsche Bibel heraus. Eine umfassende, gründliche Bildung des Klerus war Eck zeitlebens ein großes 85 U. Regius, Opera, Latine edita, altera pars, Nürnberg 1562, S. XLII. 86 Tres orationes funebres in exequiis Joannis Eckii habitae, ed. J. Metzler, Münster i. W. 1930 (Corpus Catholicorum 16). 87 Rischar 197. 88 Rischar 196. 89 J. Greving, Ecks Pfarrbuch für U. L. Frau in Ingolstadt, Münster i. W. 1908 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 4/5); A. Brandt, Johann Ecks Predigttätigkeit zu Ingolstadt (1525 -1543), Münster i. W. 1914 (Reformationsge­ schichtliche Studien und Texte 27/28).

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Anliegen. Die Klagen und auch der Spott so vieler Humanisten über die Unbildung des Klerus mögen da und dort übertrieben sein und unzulässige Verallgemeinerungen aufstellen. Aber in den Klagen spiegelt sich gewiß ein gut Stück der Wirklichkeit. Die äußerlich blühenden religiösen Formen der spätmittelalterlichen Kirche konnten über ein tiefes, in allen sozialen Schichten empfundenes Ungenügen nicht hinwegtäuschen. Dr. Eck bezeich­ nete das damals vielfach vertretene Prinzip, man bräuchte nur fromme, keine gelehrten Priester, als schmähliches Armutszeugnis für die Kirche. Aus Unwissenheit ging nach seiner Meinung verhängnisvoller Fanatismus hervor90. Vor allem trat er stets dafür ein, daß nur wissenschaftlich quali­ fizierte Theologen höhere Kirchenämter einnehmen dürften. Im Glaubens­ streit erfuhr er sinnenfällig das Versagen des größten Teils der deutschen Bischöfe und so vieler anderer Prälaten, die ihre stattlichen Pfründen meist auf Grund ihrer adeligen Herkunft erhalten hatten, vielfach sich gegen die höheren Weihen sträubten und oft nur eine recht bescheidene theologische Bildung besaßen.

Professor Eck bemühte sich durchaus, in seiner Zeit „modern“ zu sein, den Erfordernissen seiner Zeit zu entsprechen. Dies zeigt schon seine Wirtschafts­ ethik, in der er sich gegen das traditionelle, nicht mehr zeitgemäße Zins­ verbot der Kirche aussprach, was ihm den Vorwurf eintrug, ein FuggerKnecht zu sein91. Auch in seiner Theologie suchte er der humanistischen Forderung, sich wieder stärker den Quellen zu nähern, gerecht zu werden. Ecks erstes selbständiges theologisches Werk, der über Gnade und Prä­ destination handelnde „Chrysopassus“, zeigt die geistige Verbindung mit der älteren Franziskanerschule92. Für den Lehrbetrieb in Ingolstadt waren die Kommentare gedacht, die er 1516 bis 1520 zur Logik des Petrus Hispanus und zur Dialektik und Physik des Aristoteles herausbrachte. Sie verraten wieder die Bemühung, eine mittlere Linie zwischen via antiqua und via moderna einzunehmen. Willibald Pirkheimer konnte ihn in seiner „Apolo­ gie“ Reuchlins (1517) mit Luther unter die humanistisch gesinnten Theo­ logen Deutschlands rechnen. Die Heilige Schrift und die Kirchenväter, vor 90 J. Eck, Super Aggaeo propheta commentarius, Solingen 1538, M 9. 91 Eccius Dedolatus, ed. S. Szamatolski, Berlin 1891 (Lateinische Literaturdenk­ mäler des 15. und 16. Jahrhunderts, Bd. 2); J. Schneid, Dr. Johann Eck und das kirchliche Zinsverbot, in: Historisch-Politische Blätter 108 (1891) 241 - 259, 321 335, 473-496, 570-589, 659-681, 789 -810; G. v. Pölnitz, Die Beziehungen des Johannes Eck zum Augsburger Kapital, in: Historisches Jahrbuch 60 (1940) 685 705; H. G. Assel, Das kanonische Zinsverbot und der „Geist“ des Frühkapitalis­ mus in der Wirtschaftspolitik bei Eck und Luther (Diss. masch. Erlangen 1948). 92 J. Eck, Chrysopassus, Augsburg 1514; J. Greving, Johann Eck als junger Gelehrter. Eine literatur- und dogmengeschichtliche Untersuchung über seinen Chrysopassus praedestinationis aus dem Jahr 1514, Münster i. W. 1906.

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allem Augustinus, hat Dr. Eck eifrig studiert und zur Begründung seiner Darlegungen in weitem Umfang beigezogen. Aber es geht ihm doch stark darum, seine Gelehrsamkeit zu zeigen und die Breite seiner Bildung funkeln zu lassen. Sein Schicksal wurde die von Martin Luther ausgelöste reforma­ torische Bewegung. Zur jungen Universität Wittenberg hielt Eck zunächst gute Beziehungen. Das änderte sich, als er gegen Luthers Ablaßthesen seine „Obelisci“ schrieb. Diese „Anmerkungen“ waren für den Privatgebrauch des Eichstätter Bi­ schofs Gabriel von Eyb bestimmt, kamen aber — durch Wenzel Link aus Nürnberg — im März 1518 in Luthers Hände93. In die breitere Öffentlichkeit drangen sie zwar so wenig wie Luthers Gegenschrift („Asterisci“), doch war damit die Reihe scharfer polemischer Schriften und Aktionen eröffnet. Nur die wichtigsten Punkte können hier kurz genannt werden. Noch im Ok­ tober 1518 hatte Eck mit Luther ein einigermaßen freundschaftliches Ge­ spräch geführt. Auf der Leipziger Disputation (Juni/Juli 1519) kam es zur entscheidenden Konfrontation. Zunächst disputierte hier Eck mit Professor Karlstadt über die Gnadenwahl. Das folgende Streitgespräch zwischen Eck und Luther spitzte sich zu auf die Frage nach dem göttlichen Recht und dem Primat des Papstes, nach der Autorität der Konzilien und des kirchlichen Lehramtes überhaupt. Durch Ecks überlegene Disputierkünste in die Enge getrieben, sagte Luther, allgemeine Konzilien könnten irren und hätten ge­ irrt, wie die Verurteilung der christlichen Artikel des Hus in Konstanz gezeigt habe. Luther erkannte ein höchstes kirchliches Lehramt, das die Heilige Schrift verbindlich auslegt, nicht mehr an. Die Schrift ist ihm einzige Quelle des Glaubens. Die Leipziger Disputation betrachteten später beide Seiten als siegreichen Erfolg. Formal betrachtet hatte wohl Eck durch sein gutes Gedächtnis und seine dialektische Gewandtheit geglänzt. Es war aber auch die kalte Schärfe seines Intellekts zutage getreten. Ihm ging es vor allem darum, Luther auf den Irrtum festzulegen, in häretische Konsequen­ zen hineinzutreiben und so zu siegen. Beim Wittenberger Mönch spürte man überzeugend und beeindruckend, wie ernst es ihm um das wahre Evangelium zu tun war, wie hart er um den „gnädigen Gott“ rang. In Leipzig fiel die erste klare Entscheidung in der dogmatischen Unklarheit der Zeit. Eck hatte deut­ lich gemacht, daß Luther nicht nur Reform der Mißstände wollte, sondern die geltende Struktur der Kirche bereits preisgegeben hatte.

Professor Eck verschärfte von jetzt an seinen Kampf gegen Luthers Lehren. Im Frühjahr 1520 reiste er zum erstenmal nach Rom, um dort für die 93 Quellen u. Lit. zur Geschichte der Reformation, Katholischen Reform und Gegenreformation im Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, IV, Freiburg - Basel - Wien 1967.

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Verurteilung Luthers einzutreten; dazu legte er seine Schrift „De primatu Petri adversus Ludderum“ vor. An Luthers römischem Prozeß war Eck maß­ geblich beteiligt. Die Bulle „Exsurge Domine“ vom 15. Juni 1520 verurteilte 41 Sätze aus Luthers Schriften pauschal als „häretisch, ärgerniserregend, irrig, als für fromme Ohren anstößig, für einfache Gemüter verführerisch und der katholischen Lehre widersprechend“. Genauere Differenzierungen der einzelnen Sätze wurden nicht gemacht, so daß die theologischen Unklar­ heiten zwischen Schulmeinungen und sicherer Lehre blieben. Johannes Eck hat drei Jahre später in seinem Reformgutachten für den Papst dies lebhaft bedauert: in der Bulle sei vieles dunkel geblieben; manche der verurteilten Sätze seien so indifferent, daß selbst Gelehrte nicht erkennen könnten, warum sie verurteilt worden seien94.

Die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“ forderte Luther auf, binnen sechzig Tagen nach der Veröffentlichung Widerruf zu leisten. Mit der Pro­ mulgation der Bulle in Deutschland wurden Hieronymus Aleander und Jo­ hannes Eck betraut. Beide wurden dafür zu Nuntien bestellt, Eck auch zum Apostolischen Protonotar ernannt. Doch die Verkündigung des päpstlichen Dokumentes stieß in Deutschland, besonders im Süden, bereits auf erheb­ liche Schwierigkeiten. Luther verfaßte die scharfe Streitschrift „Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen“95 und gab seine lateinische Antwort auf „Exsurge Domine“ heraus: „Adversus execrabilem Antichristi bullam96.“ Am Ende der deutschen Fassung („Wider die Bulle des Endchristes“) schreibt er über den Papst: „Wird der Papst die Bulle nicht widerrufen und ver­ dammen und Eck mit seinen Gesellen, die solcher Bulle folgen, strafen, so soll niemand darüber in Zweifel sein, daß er Gottes Feind, der Verfolger Christi, der Zerstörer der Christenheit und der rechte Antichrist ist97.“ Bei der bekannten Bücherverbrennungsszene Luthers am 10. Dezember 1520, auf dem Schindanger vor dem Elstertor zu Wittenberg, wurden auch Werke Ecks dem Feuer übergeben. Die Bulle „Decet Romanum Pontificem“ vom 3. Januar 1521 sprach die förmliche Exkommunikation Luthers aus. Alean­ der aber berichtete im Februar nach Rom: „Ganz Deutschland ist in hellem Aufruhr. Für neun Zehntel ist das Feldgeschrei ,Luther4, für die übrigen, falls ihnen Luther gleichgültig ist, wenigstens ,Tod der Römischen Kurie4, und jedermann verlangt und schreit nach einem Konzil98.44 94 Acta Reformationis Catholicae I 143. Hier 102 - 150 Ecks Ratschläge (Denk­ schriften) zur Causa Lutheri für Papst Hadrian VI. vom Jahr 1523. 95 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“), Bd. 6,579 - 594. 96 Ebd. 597 - 612. 97 Ebd. 629. 98 Th. Brieger, Aleander und Luther, Gotha 1884,48.

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In den zweiten Romaufenthalt Professor Ecks (Oktober bis Dezember 1521) fiel der Tod Papst Leos X. Deshalb konnte er wenig erreichen. Um so mehr wußte er auf seinem dritten römischen Aufenthalt (März bis Dezem­ ber 1523) für die landeskirchlichen Interessen der gemeinsam regierenden Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. von Bayern und für die Anliegen der Kirche tätig zu werden". Damals erreichte er von Hadrian VI. (1522 - 1523) die großen Zugeständnisse an die Kirchenhoheit der bayerischen Herzöge, auf Kosten der beteiligten Bischöfe, die Ecks römische Reisen mit höchstem Mißtrauen verfolgten100. Professor Eck hatte aber auch herzogliche Aufträge zur besseren Dotation der Universität auszuführen101. Es gelang ihm, von Hadrian VI. und Clemens VII. (1523 - 1534) solche Schreiben zu erwirken. Die Pfarrei Paar hatte demnach jährlich 40 fl an das Georgianum zu ent­ richten102. Die Universität sollte von der Liebfrauenpfarrei in Ingolstadt jährlich 50 fl, von der Pfarrei Wemding 80 fl, von der Pfarrei Abensberg 40 fl, von der Pfarrei Schongau 40 fl erhalten103. Die Pfarrei Zuchering bei Ingolstadt wurde mit einem Jahreseinkommen von 23 Dukaten der Univer­ sität einverleibt, die am Ort einen ständigen Vikar zu unterhalten hatte104. Clemens VII. gestattete, im Dezember 1523, daß zur wirksameren Bekämp­ fung der Ketzerei fünf lesende Doktoren der Theologie — gleichzeitig oder nacheinander — auf Kanonikate in den Domkapiteln zu Freising, Augsburg, Regensburg, Passau und Salzburg präsentiert werden dürfen105. Die Herzöge Wilhelm und Ludwig schickten daraufhin an die fünf angesprochenen Bi­ schöfe einen eigenen Gesandten. Dessen Instruktion betonte, daß bisher nur zwei Professoren Theologie gelehrt hätten, aber Poeterei und griechische und hebräische Literatur so vorgedrungen seien, daß für die Studenten die Ge­ fahr lutherischer Ketzerei bestehe. Es sei die Absicht, noch vier theologische Professoren anzustellen, die zugleich Philosophie lehren sollten, zudem soll­ ten diejenigen, welche Theologie studieren wollten, Hörgeldfreiheit erhalten. Auch sollten noch zwei juristische und ein medizinischer Professor bestellt werden. Die Bischöfe werden aufgefordert, auch ihrerseits die fünf Prä­ benden zur Verfügung zu stellen, auch in Hinblick auf ähnliche Dotation anderer Universitäten und auf den Segen, den die Universität Ingolstadt nicht nur in Bayern, sondern auch über Schwaben, Franken und Tirol ver­ 99 Acta Reformationis Catholicae 1102 - 150. 100 Ebd. 151 - 235, bes. 159 f. 101 Prantl 1172 - 175. 102 Bulle Hadrians VI. v. 12. Juni 1523. Mederer IV 228 - 231. 103 Mederer IV 220 - 223. 104 Ebd. 224 - 228. 105 Ebd. 234 - 236.

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breite106. Die Durchführung dieses Planes stieß, wie zu erwarten war, auf einige Widerstände. Passau und Salzburg, die nach Österreich orientiert waren, verweigerten jede Leistung, die anderen drei Domstifte wandelten die ihnen unbequeme Pfründenausleihe schon in den nächsten Jahren in jährliche Geldreichnisse an die Universität um. Auch sämtliche Einkünfte der Pfarrei St. Moritz zu Ingolstadt sollten unter gewissen Bedingungen mit jährlich 16 Mark Silber der Universität zugewendet werden. Die Ein­ verleibung von St. Moritz kam in dieser Form nicht zustande. Die Universität sprach Professor Eck für alle diese guten Dienste in Rom offiziell ihren Dank aus107. In seinen Denkschriften für Hadrian VI. und Clemens VII. nannte Eck die Mißstände an der Kurie freimütig beim Namen, besonders bei der Vergabe von Ablässen und Benefizien. Sein hohes Ansehen in Rom gestattete ihm diese offene Sprache. Er forderte Bekämpfung der Häretiker, aber nicht weniger wirkliche Reform der Kirche durch Synoden in den Bistümern und Kirchenprovinzen, durch Förderung des theologischen Studiums und durch Hebung der Seelsorge. Ecks theologische Schriften dieser Jahre dienen der Kontroverstheologie und der damit verbundenen rechten Belehrung. Sie befassen sich mit der heiß umstrittenen Rechtfertigungslehre, mit Beichte und Buße108, mit der Lehre vom Fegfeuer109 und vom Meßopfer110. Melan­ chthons systematischer Darstellung des reformatorischen Glaubens („Loci communes rerum theologicarum“, 1521) setzte Eck ein Handbuch des ange­ fochtenen katholischen Glaubens gegenüber: „Enchiridion locorum communium adversus Ludderanos“ (Landshut 1525). Darin führt er in den strittigen Fragen den Beweis aus Schrift und Vätern. Im Anschluß daran werden die Einwände der Gegner gebracht und von ihm widerlegt. Das Enchiridion ent­ sprach einem dringenden Bedürfnis und erlebte über neunzig Auflagen und Übersetzungen.

Seit 1524 setzte sich Professor Eck auch mit dem Züricher Reformator Zwingli111 auseinander. In die harten religiösen Kämpfe der Schweiz griff er vor allem durch seine Verteidigung der katholischen Eucharistielehre auf 106 Instruktion der herzoglichen Gesandten bei Th. Wiedemann, Dr. Johannes Eck, Regensburg 1865, 692 ff. 107 Prantl 1174 f. 108 De poenitentia et confessione, 1522; H. Schauerte, Die Bußlehre des Johannes Eck, Münster i. W. 1919. 109 De purgatorio, 1523. 110 De sacrificio missae, 1526; E. Iserloh, Die Eucharistie in der Darstellung des Johannes Eck, Münster i. W. 1950. 111 E. Iserloh, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, IV 157 - 180, 254 - 262.

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der Badener Disputation (Mai/Juni 152’6)112 ein. Dieses Glaubensgespräch wurde auf Ecks Initiative hin von den katholischen Orten der Eidgenossen­ schaft abgehalten. Neben Eck wirkten besonders die Theologen Johannes Fabri und Thomas Murner an diesem Versuch mit, auf theologischem Weg und unter Zuhilfenahme der weltlichen Obrigkeit die Glaubenseinheit der Eidgenossenschaft gegen Zwingli zu retten. Zwingli selber blieb der Dispu­ tation fern; Basel und Bern, deren maßgebende Theologen Johannes Oekolampadius und Berchtold Haller im schweizerischen Baden erschienen waren, konnten nicht umgestimmt werden.

Der Reichstag zu Augsburg (1530) zeigte, daß die Glaubensspaltung nicht mehr überwunden werden konnte. Die Anhänger Luthers legten hier Kaiser Karl V. ihr Glaubensbekenntnis vor, die von Melanchthon verfaßte „Con­ fessio Augustana“. Johannes Eck hatte zum Reichstag in „404 Artikeln“ eine Zusammenstellung der lutherischen Irrtümer in Thesenform verfaßt. An der katholischen „Widerlegung“ („Confutatio“) der Confessio Augustana kommt ihm entscheidender Anteil zu. Eck wollte in Augsburg eine Einigung, die nach seiner Meinung die Gegensätze nur verdeckte, entschieden verhindern. Die Neugläubigen sollten auch bei dieser Gelegenheit klar widerlegt und als Häretiker erwiesen werden. Eck hoffte, daß dadurch den unsicher geworde­ nen Katholiken der wahre Charakter der Glaubensneuerung demonstriert werde und die Fürsten von Zugeständnissen abgehalten werden könnten113.

Johannes Eck blieb bis zuletzt in Wort und Schrift zur Verteidigung der katholischen Kirche tätig. Doch tritt in den dreißiger Jahren seine Enttäu­ schung und gelegentlich auch Verbitterung über den mangelnden Reform­ willen des Papstes und seiner Kurie stärker zutage, namentlich über den mangelnden Ernst, ein allgemeines Konzil zu berufen114. Er nahm noch An­ teil an den Versuchen, die Spaltung durch Religionsgespräche zu über­ brücken (Hagenau 1540, Worms 1540/41, Regensburg 1541). Seine Haltung in den Verhandlungen ist nicht völlig eindeutig, wobei aber stets die theo­ logische Unklarheit der vortridentinischen Zeit zu berücksichtigen ist. Diese Ungeklärtheit wichtiger Glaubensfragen hat ja wesentlich zum Streit bei­ 112 A. Baur, Zur Vorgeschichte der Disputation von Baden, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 21 (1901) 91 - 111; L. v. Muralt, Die Badener Disputation, Leip­ zig 1926; LThK 211186 f. 113 E. Iserloh, in: Handbuch der Kirchengeschichte IV 263-274; W. Gußmann, Des Johannes Eck 404 Artikel zum Reichstag von Augsburg 1530, Kassel 1930; K. Rischar, Johann Eck auf dem Reichstag zu Augsburg 1530, Münster i. W. 1965 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 97). 114 H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, I: Der Kampf um das Konzil, Freiburg 21951, bes. 269 - 286, 317 - 328 (gute Würdigung der vortridentinischen Kontroverstheologen), 356 - 388.

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getragen und viel Unsicherheit oder auch falsche Sicherheit gebracht. Pro­ fessor Eck hatte an den Beratungen über das „Regensburger Buch“, den kaiserlichen Vergleichsentwurf zum Regensburger Religionsgespräch von 1541, noch teilgenommen. Bei der Behandlung der katholischen und refor­ matorischen Eucharistielehre war ihm die Gewißheit gekommen, daß eine Union scheitern müsse. Er hielt sich nun aus Krankheitsgründen fern und schrieb auf Wunsch Herzog Wilhelms IV. von Bayern die „Annotationes“, die 1542 in Ingolstadt im Druck erschienen sind. Darin wurde der Vermitt­ lungsversuch des Regensburger Buches abgelehnt115. Nach einem kämpferischen Leben starb Johannes Eck in den Mittags­ stunden des 10. Februar 1543 zu Ingolstadt. Er wurde in der Liebfrauenkirche vor dem Sakramentsaltar bestattet. Dort hält heute noch, an der Nordseite der Kirche, eine Bronzeplatte die Erinnerung an ihn fest. Zu Lebzeiten schon hart bekämpft, selber mit Härte angreifend und wieder scharf zurück­ schlagend, ist Dr. Eck umstritten gewesen und umstritten geblieben. Wenn man den Stil theologischer Auseinandersetzungen in seiner Zeit — und in allen konfessionellen Lagern dieser Zeit — kennt, wird vieles verständlich. Die theologische Fakultät rühmte ihr hervorragendstes Mitglied der frühen Zeit als „theologorum suo tempore Phoenix et miraculum“116. Dies Wort wird in der Geschichte einige Geltung besitzen, auch wenn man um die theologi­ schen und menschlichen Schwächen dieses Eiferers für seine Kirche weiß. Johannes Eck hatte der theologischen Fakultät und der ganzen Universität Ingolstadt auf zweihundert Jahre den Weg gewiesen, feste Bastion der katholischen Kirche im Reich zu sein und Vorort der Gegenreformation.

In einer Denkschrift für Papst Hadrian VI. rühmt Professor Eck die Uni­ versität Ingolstadt 1523 als „ganz katholisch und dem Apostolischen Stuhl völlig ergeben“, stets bereit, in der lutherischen Sache mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen117. Das Urteil erwies sich als voreilig. In ihren Be­ ratungen im Jagdschloß Grünwald bei München hatten sich die herzoglichen Brüder Wilhelm IV. und Ludwig X. im ausgehenden Winter 1522 entschlos­ sen, das Wormser Edikt gegen Luther durchzuführen und jede Glaubens115 E, Iserloh, in: Handbuch der Kirchengeschichte IV 276 (QQ., Lit.), 285 - 290. 116 Mederer 1186. 117 „Ausim etiam promittere de universali studio Ingolstattensi, quod est totum catholicum et huic sedi apostolicae addictissimum, quod, quandocumque deputandi per synodum provincialem aut dioecesanam in causa Ludderana aut alia ecclesiastica egebunt consilio doctorum theologiae aut iuris, quod fideliter illud impendent et, si opus fuerit et deputandi petierint, unum aut plures personaliter destinabunt ad deputandorum praesentiam, qui fideliter assistant consilio et auxilio, quatenus pro augmento fidei et honore huius sanctae sedis omnia optatum consequantur effectum.“ Acta Reformationis Catholicae 1138 f.

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neuerung auszusperren; durch eine durchgreifende Reform der Kirche sollte den Neuerungen der Boden entzogen werden. Am Aschermittwoch erging ihr erstes Mandat gegen die Glaubensneuerung118. Die Universität Ingolstadt beschloß schon im April, das herzogliche Mandat auch von sich aus zu ver­ künden und vor allem die Buchhändler zu überwachen. Im November 1522 faßte der Senat den Beschluß, daß alle der lutherischen Ansteckung ver­ dächtigen Studenten dem Rektor angezeigt werden müßten119. Auch in Ingolstadt war, so wenig wie in anderen Mittelpunkten geistigen Lebens, keine völlige Geschlossenheit im Bekenntnis zum alten Glauben vorhanden. Dies beweisen einige Verwarnungen an Lehrer der Universität, vor allem aber das Verfahren gegen Arsacius Seehofer aus München, einen etwa zwanzigjährigen angesehenen Magister der Artistenfakultät. Noch be­ vor Seehofer sich 1522 um einen Lehrstuhl in der Artistenfakultät bewarb, erscheint er in seinen Briefen als begeisterter Anhänger der lutherischen Rechtfertigungslehre; er huldigt einer rein geistigen Kirche, mit „dem ein­ zigen Altar, der unser Herz ist“. Das Schicksal seiner Eltern bedrückt ihn, weil sie noch „in dunkler Finsternis“ sitzen. Ein Freund soll sie davon ab­ bringen, ihren Sohn als Magister sehen zu wollen; denn Christus verlangt, „in Demut und Herzenseinfalt zu leben“. Professor Eck war mißtrauisch geworden und hielt höchste Vorsicht für angebracht. Seehofer mußte bei seiner Bewerbung 1522 einen Eid leisten, „daß er sich der lutherischen Lehre nicht gebrauchen wolle“. Schon im folgenden Jahr wurde die Anklage vor­ gebracht, daß Seehofer Paulusbriefe im lutherischen Geist ausgelegt habe. Dem Untersuchungskollegium gehörten entschiedene Vertreter der alten Lehre an: der Rektor Nikolaus Appel (später Mitglied der theologischen Fakultät), der Jurist Franz Burckhard, der Kanonist Georg Hauer und der Theologe Marstaller. Eine Haussuchung brachte belastende Bücher und Schriften zutage. Seehofer wurde für schuldig befunden und gefangen­ gesetzt. Vor allem durch den Einfluß des herzoglichen Kanzlers sollte der peinliche Fall einigermaßen glimpflich gelöst werden. Die Regierung wollte in dieser frühen Zeit nicht durch allzu schroffes Vorgehen Unruhe auslösen. Seehofer wurde veranlaßt, am 7. September 1523 seine „lutherische irrungen“ demütig zu bekennen und in der Universitätsversammlung feierlich zu widerrufen, wobei er die Heilige Schrift in Händen hielt. Dem jungen Magister standen die Tränen in den Augen. Mit herzoglicher Billigung wurde Seehofer in dem Universitätsverfahren zur Klosterhaft in Ettal verurteilt. Aber der Magister entfloh aus der Einsamkeit des Klosters zu Luther nach 118 Ebd. 1-3. 119 Prantl 1148 f.

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Wittenberg. Er wirkte später als evangelischer Prediger und Pfarrer in Preußen und in verschiedenen Orten Süddeutschlands. 1545 starb er zu Winnenden in Württemberg120.

Mitte August 1523 beschloß der Senat der Universität, zwei Buchbinder (Buchhändler), die nachweislich lutherische Schriften verkauft hatten, einen Tag lang zur Abschreckung einzusperren. Die Buchbinder und ihre Gesellen galten als Angehörige der Universität und unterstanden damit ihrer Ge­ richtsbarkeit. Das Verhör ergab recht geringschätzige und derbe Äußerun­ gen der zwei Buchbindergesellen über Ablaß, Fasten, Kirchenbann und Reliquien der Heiligen. Auf Antrag der Universität mußten die beiden — wieder mit herzoglicher Billigung — ihre Ketzereien öffentlich ab­ schwören, dann wurden sie „über die vier Wälder“ (Böhmer-, Thüringer-, Schwarz- und Scharnitzer Wald), das heißt aus dem süddeutschen Raum verbannt121. Die Abschwörformel, von Professor Hauer rasch verfaßt, offen­ bart anschaulich den Geist und Ungeist der Zeit122.

Zwei Wochen nach der Verurteilung Seehofers erhielt die Universität ein Schreiben der adeligen Frau Argula von Grumbach, Gemahlin des Pflegers zu Dietfurt. Die schlecht unterrichtete Dame erhob den Vorwurf, man habe dem Seehofer mit dem Scheiterhaufen gedroht; man möge ihr eine Disputa­ tion in deutscher Sprache gestatten; darin wolle sie mit den Professoren den Kampf über die Frage aufnehmen, welche Artikel der Lehre Luthers und Melanchthons dem Wort Gottes widersprächen. Gleichzeitig richtete Argula von Grumbach Schreiben an Herzog Wilhelm IV. und an zahlreiche andere Herren. Die Universität gab ihr keine Antwort, leitete ihren Brief aber an den Herzog weiter, daß er „diese Vettel zähme“ („ ... earn vetulam compescat“). Herzog Ludwig X. sprach sich für milde Behandlung dieses Falles aus: er wolle den Freiherrn von Grumbach zu sich rufen, damit er sich seiner gefährdeten Gemahlin annehme123. Der ganze Seehofersche Handel hatte noch eine Reihe weiterer Schriften von lutherischer Seite zur Folge. Auch in den folgenden Jahren sah sich die Universität, vielfach auf Betreiben Pro­ fessor Ecks, veranlaßt, gegen Häresieverdächtige vorzugehen124. Die theo­ logische Fakultät setzte im Jahr 1525 ihrem ehemaligen Mitglied Johannes Pettendorfer im theologischen Hörsaal ein übles Denkmal. Pettendorfer 120 Prantl 1 149 - 157; G. v. Pölnitz, Die Untersuchungen gegen Arsacius Seehofer, in: Historisches Jahrbuch 60 (1940) 159 - 178. 121 Prantl 1152 f. 122 Prantl II Urk. Nr. 56. 123 Prantl I 153 - 155; H. Saalfeld, Argula von Grumbach, die Schloßherrin von Lenting, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 69 (1960) 42 f. 124 Prantl 1157 - 163. 4

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hatte sich als Weihbischof von Würzburg dem Luthertum angeschlossen und geheiratet125.

Zu den traurigsten Ereignissen dieser wilden Zeit gehörte die Verurteilung des Priesters Leonhard Käser im Bistum Passau. Der hochgebildete, hoch­ angesehene Pfarrvikar von Waizenkirchen mußte sich im Herbst 1525 wegen Verbreitung lutherischer Lehren vor dem bischöflichen Gericht in Passau verantworten, wurde aber nach seinem Widerruf freigelassen. Er ging jetzt nach Wittenberg und trat auch mit Luther selbst in Verbindung. Als er zum Besuch seines sterbenden Vaters in die Heimat zurückkehrte, wurde er am 10. März 1527 verhaftet und nun als rückfälliger Ketzer erneut vor das Bischofsgericht gestellt. Zum Prozeß, den man im Verständnis der Zeit sorg­ fältig führte, zog der Bischof die Universität Ingolstadt herbei. Professor Eck und der Magister Anton Praun aus der Artistenfakultät nahmen persön­ lich am öffentlichen Verhör und an der Verurteilung Leonhard Käsers teil. Da Leonhard Käser den Widerruf verweigerte, wurde er schließlich durch Herzog Wilhelm IV. zum Feuertod verurteilt und am 16. August 1527 zu Schärding am Inn lebendig verbrannt. Leonhard Käser ist den edelsten geistlichen Gestalten seiner Zeit zuzurechnen. Er war ein Märtyrer seiner Glaubensüberzeugung, auch wenn Eck diesem Ruhm scharf entgegentrat126.

Im Jahr 1528 wurden mehrere adelige Studenten und der Professor Jo­ hann Veltmiller wegen Übertretung des Fastengebotes vor den Rektor zitiert. Der Professor erhielt wegen Rückfalles eine Geldstrafe von 24 fl und einige Tage Gefängnis. Auch in der folgenden Zeit fand der ungute Geist des Mißtrauens und der Ketzerriecherei immer wieder seine Opfer an der Univer­ sität. Immer noch kamen in diesen aufgewühlten Jahrzehnten Studierende 125 „Vocatus est Pettendorferus Herbipolim, et suffraganeus episcopi constitutus. Ibi vero a catholica religione defecit, et libidinis aestu inflammatus uxorem duxit, et ad Lutheri castra transiit. Ei facultas theologica in schola sua, in perfidiae illius et periurii aeternam memoriam, execrationemque monumentum cum inversis gentilitiis insignibus fecit, ac tale subiecit tetrastichon anno 1525: Desertor fidei, mendax e praesule factus, Ex pastore lupus, atque lutosus aper. Ultricem tulit hanc inverso stemmate poenam, Fumida Plutonis quod modo taeda cremat.“ Mederer 187. 126 Prantl I 161; F. Leeb / F. Zoepfl, Leonhard Käser (f 1527), Münster 1928 (Re­ formationsgeschichtliche Studien und Texte 52); Acta Reformationis Catholicae I 214; A. Ekkert, Leonard Keysser (Käser) in neuer Betrachtung, in: Ostbaierische Grenzmarken 7 (1965) 301 -309. — Von lutherischer Seite erschien (anonym): Histori oder das wahrhafftig geschieht des leydens und sterbens Lienhard Kaysers seligen etwa pfarrers zu Waizenkirchen ..., Wittenberg 1527, und von M. Luther: Von Lenhard Kaiser in Baiern umb des Evangelii willen verbrand, eine seelige Geschieht, Wittenberg 1528; Gegenschrift Ecks (o. O., o. J.): Wahrhafftige Hand­ lung, wie es mit herr Lenhart Käser zu Schärding verbrennt ergangen ist. Wider ain falsch erdicht und erlogen büchlein vormals darvon on namen des Dichters aussgangen.

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aus dem ganzen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches an die Hohe Schule nach Ingolstadt. Doch ist ein merklicher Rückgang gegenüber der früheren Epoche festzustellen. Auch die Pestjahre (1521, 1539, 1545) brachten arge Störungen, längere Zeit sogar die Einstellung des Lehrbetriebs. Im Jahr 1545 flohen die Juristen und die unverheirateten Artisten nach Kelheim. Erst am Beginn des Jahres 1547 kam die Universität wieder in vollen Gang127. Das äußere Elend spiegelt sich auch in der darniederliegenden theo­ logischen Fakultät, in der mit dem Tod der Professoren Johannes Eck (1543) und Leonhard Marstaller (1546) der längst fahl gewordene Glanz erloschen war.

In der Zeit der Katholischen Reform und der Gegenreformation — Die ersten Jesuiten Der Tod Professor Ecks hinterließ in der theologischen Fakultät eine Lücke, die vorerst nicht geschlossen werden konnte. Die rasch wechselnden Nach­ folger zeigten sich den Schwierigkeiten nicht gewachsen. Die Glaubensfragen drängten nun theologisch und politisch zur Entscheidung — man denke nur an den Beginn des Konzils von Trient (1545)128 und den Schmalkaldischen Krieg (1546 - 1547). In diesen Jahren sank die Fakultät immer mehr zur Bedeutungslosigkeit herab. Es war vorerst nicht möglich, neben dem betag­ ten Leonhard Marstaller, der nunmehr auch Vizekanzler der Universität war, einen zweiten Professor zu gewinnen. Die Fakultät konnte von sich aus keine Promotionen mehr vornehmen, weil dazu mindestens zwei Doktoren der Theologie anwesend sein mußten. Am 10. Oktober 1543 konnten die Lizentiaten Georg Flach O.S.B. (vom Kloster Lorch) und Oswald Arnsperger (eigentlich Fischer, aus Arnsberg in Westfalen) nur deshalb zu Doktoren promoviert werden, weil zufällig der päpstliche Gesandte Dr. Robert Vauchop, Administrator des Erzbistums Armagh129, in Ingolstadt weilte und zur Teilnahme sich bereit fand. Am 12. Oktober wurden die beiden neuen Dok­ toren in den Rat der Fakultät auf genommen130. Der Benediktiner blieb nicht lange, und Marstaller vollzog mit Arnsperger die wenigen kollegialen Amts­ 127 Prantl 1161 - 164. 128 H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, 2I, II, III, Freiburg - Basel Wien 1951 -1970. 129 Eubel III118; H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient 2I 643; Acta Reformationis Catholicae IV 637. 130 Matricula Collegii Theologici I fol. 82. Georg Flach wurde am 4. Juni 1544 Weihbischof zu Würzburg (EpiscopusSalonen.) (EubelUI 290) und nahm 1551/52 am Trienter Konzil teil. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient III 261, 326, 356, 387, 495 f., 516, 524. Bis zu seinem Tod (15. Dezember 1564) wirkte er als Weihbischof von Würzburg. N. Reininger, Die Weihbischöfe von Würzburg, Würzburg 1865, 159 - 170. Acta Reformationis Catholicae IV 632. 4*

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Handlungen der Fakultät. Oswald Arnsperger erscheint in dieser Zeit auch als Dekan der Fakultät131, mehrmals als Rektor132 und nach Marstallers Tod als Vizekanzler133 der Universität. Er mußte den zufällig anwesenden Kontroverstheologen Dr. Johannes Cochläus beiziehen, damit der Magister Valentin Fabri am 15. April 1547 zum Doktor promoviert und einige Promo­ tionen niederen Grades vollzogen werden konnten134. Arnsperger ging Ende 1547 als Weihbischof nach Freising135. Nach einem Stillstand übernahm der Dominikaner Baltasar Fannemann (Fanemann), Weihbischof von Hildes­ heim, das Dekanat. Er verlieh auch akademische Grade, ohne daß die An­ wesenheit eines zweiten Doktors erwähnt wird. Bis zur Ankunft der Jesuiten war er der einzige Professor der Theologie136. Der Verfall der theologischen Fakultät erscheint auch in anderen Zeug­ nissen. Im Frühjahr 1545 wandte sich die Universität Köln, in den vergange­ nen Jahrzehnten neben Ingolstadt der andere Vorposten der alten Kirche im Reich, an die Universität Ingolstadt mit der Bitte, sie durch ein Gutachten zu unterstützen. Die Kölner waren durch die protestantisierenden Bestrebun­ gen ihres Erzbischofs und Kurfürsten Hermann von Wied in arge Bedrängnis geraten. Der Senat beauftragte nun die theologische Fakultät mit der Aus­ arbeitung des Gutachtens. Das Ausgabenbuch der Fakultät legt nahe, daß sie den Regens des Georgianums und Magister der Philosophie, Erasmus Wolf, mit diesem Gutachten „in negotio Coloniensium contra episcopum“ betraut und dafür bezahlt hat137.

Durch die ganze Regierungszeit Herzog Wilhelms IV. ziehen sich die ern­ sten Bemühungen, im Zuge der kirchlichen Erneuerung Bayerns die Landes­ 131 Matricula Collegii Theologici I fol. 84 (1544). 132 Mederer 1137 (1530), 150 (1534), 168 (1540), 194 (1545), 197 (1546). 133 Mederer I 200. Er war von 1531 - 1539 Regens des Georgianums, dann Pfarrer an der Liebfrauenkirche. Schmid, Georgianum 92 - 94. 134 Matricula Collegii Theologici 184. 135 Sein letzter Eintrag in die Matricula Collegii Theologici I 85 (25. August 1547). Weihbischof von Freising (Episcopus Darien.) 13. Juni 1548, gest. 1569. Eubel III185. 136 „AnnoDomini 1548 die septima Julii Reverendus Pater et Dominus Baltazar sacre theologie et ordinis predicatorum professor et suffraganeus Hildesemensis assumpsit theologie decanatum...“ Matricula Collegii Theologici I 85. Weih­ bischof von Hildesheim (Episcopus Missinen.) 26. August 1540, später von Mainz, gest. 8. Oktober 1561 in Köln. Eubel III 247; Jedin, Geschichte des Konzils von Trient 2I - III (Reg.); Acta Reformationis Catholicae IV 632. 137 E. M. Buxbaum, Petrus Canisius und die kirchliche Erneuerung des Herzog­ tums Bayern 1549 - 1556, Rom 1971 (Bibliotheca Instituti Historici Societatis Jesu), 53. Diese sorgfältig aus den Quellen gearbeitete Untersuchung (theol. Diss. München) ist für die Anfänge der Jesuiten in Ingolstadt grundlegend. Zum Folgen­ den bes. 40 - 68 (Die Ingolstädter Verhältnisse und die erste Berufung der Jesuiten nach Bayern), 122 - 171 (Bemühungen unter Wilhelm IV. und in den ersten Jahren Albrechts V.; Verwirklichung des Jesuitenkollegs 1555/56). — Zu Erasmus Wolf: Schmid, Georgianum 94.

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Universität zu reformieren und besonders das theologische Studium zu heben. Nach dem Tod des Professors Eck wurde die Krise offen sichtbar. Der Mangel an tüchtigen, gebildeten Priestern wurde mit jedem Jahr fühlbarer. Zur besseren Ausbildung des Klerus dachte Wilhelm IV., stets beraten von Leonhard von Eck, dem Patronus der Universität, schon 1544 daran, in Ingol­ stadt ein theologisches Seminar zu errichten. Durch dieses Seminar und durch die Berufung tüchtiger theologischer Lehrer sollte eine neue Generation von Priestern herangebildet werden, zum Segen und Nutzen von Kirche und Staat. Aus eigener Kraft konnte die geschwächte Kirche Bayerns diese Auf­ gabe nicht erfüllen. Der Herzog wandte sich deshalb seit 1543 um Hilfe nach außen. Er versuchte zunächst, von den Universitäten Köln, Löwen und Paris Theologen zu gewinnen. Als diese Bemühungen erfolglos blieben, wandte er sich, wohl im Frühjahr 1548, erstmals an Papst Paul III. Er bat um Professo­ ren, vor allem um Theologen, und hier zunächst um den Hildesheimer Weih­ bischof Dr. Baltasar Fannemann, ferner um finanzielle Unterstützung. Der Bischof von Trient, Kardinal Madruzzo, der in kaiserlichem Auftrag vom Augsburger Reichstag 1548 nach Rom aufbrach, wurde vom Herzog beauf­ tragt, Briefe an den Papst und den einflußreichen Kardinalnepoten Ales­ sandro Farnese zu überbringen und die bayerischen Wünsche auch mündlich vorzutragen. Die Berufung Weihbischof Fannemanns an die theologische Fakultät war ein erster Erfolg dieser Bemühungen. In der schwierigen Finanzfrage wich der Papstnepote zunächst aus. Er verwies den Herzog auf Verhandlungen mit dem Nuntius Santa Croce. Trotz seiner Enttäuschung schickte Wilhelm IV. Ende August 1548 seinen persönlichen Sekretär Heinrich Schweicker nach Rom. Der eigentliche Auf­ trag Schweickers betraf kaum die päpstliche Konfirmation des Bischofs von Regensburg, sondern die Genehmigung, vom Klerus eine Steuer erheben zu dürfen, und wieder die Bitte um Professoren, vor allem Theologen. Das fruchtbare Ergebnis der Mission Schweickers ist festgehalten in drei päpst­ lichen Breven vom 24. Oktober 1548. Das erste ist an den Eichstätter Bischof Moritz von Hutten138 gerichtet und teilt ihm mit, daß man dem Herzog auf drei Jahre eine Besteuerung des gesamten bayerischen Klerus gestattet habe, ausgenommen nur die Kathedral- oder Metropolitankirchen, die Johanniter und die Bettelorden. Der Ertrag diene der Universität Ingolstadt; näherhin werde er zur Besoldung der lesenden und der noch zu berufenden Profes­ soren verwendet. Das zweite Schreiben erteilt den Generalen und sonstigen 138 Uber diesen tüchtigen Bischof: K. Ried, Moritz von Hutten, Fürstbischof von Eichstätt (1539 - 1552) und die Glaubensspaltung, Münster i. W. 1925 (Reforma­ tionsgeschichtliche Studien und Texte 43/44). — Mederer IV 270 - 282.

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Oberen der Bettelorden in Italien, Frankreich und Niederdeutschland den Auftrag, sich zu bemühen, zwei oder drei Theologen zu finden, die als Pro­ fessoren der Theologie nach Ingolstadt gehen könnten. Das dritte Breve ist an den Erzbischof von Salzburg gerichtet, den Metropoliten der alten bayeri­ schen Kirchenprovinz. Dieser wird aufgefordert, für den Unterhalt eines Theologen oder Kanonisten in Ingolstadt ebenso aufzukommen, wie es viele seiner Suffraganbischöfe bereits täten. Die Berufung von Jesuiten wird in keinem der Schriftstücke auch nur angedeutet, war aber ohne Zweifel bereits erörtert worden. Zumindest über die Berufung des Jesuiten Jay (Jajus) hatte Schweicker eindeutige Absprachen in Rom getroffen139.

Einzelne Mitglieder der jungen, noch wenig zahlreichen Gesellschaft Jesu des baskischen Edelmannes Ignatius von Loyola waren dem Herzog keine Unbekannten mehr. Auf sämtlichen Reichstagen der Jahre 1540 bis 1548 waren Jesuiten, meist im Gefolge der päpstlichen Nuntien, erschienen. Wilhelm IV. war mit einigen auf den Reichstagen von Speyer, Worms und Regensburg schon in Berührung gekommen. Als Claudius Jajus 1543 aus der evangelischen Reichsstadt Regensburg vertrieben wurde, wirkte er einige Zeit an der Universität Ingolstadt140. Er erwarb sich hier hohes Ansehen und erfuhr die Gunsterweise des Eichstätter Bischofs Moritz von Hutten. Es spricht keine Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich die Jesuiten von sich aus an die Universität Ingolstadt gedrängt hätten. Entscheidend für ihre Be­ rufung war der Reformeifer Herzog Wilhelms IV., später seines Sohnes und Nachfolgers Albrecht V. (1550 - 1579), auf dem Hintergrund der schwie­ rigen Verhältnisse. Es ist zudem vielfach bezeugt, daß die ersten Mitglieder der Gesellschaft Jesu wegen ihres feinen, gebildeten Auftretens, wegen ihres überzeugenden Glaubenseifers und ihrer Sittenreinheit bei kirchlichen und weltlichen Großen den besten Eindruck hinterlassen haben. Inzwischen ging der Bischof von Eichstätt als Kanzler der Universität und Exekutor mit größtem Eifer ans Werk, den vom Papst bewilligten Kleriker­ zehnten zugunsten der Universität zu erheben141. In allen vier Rentämtern Bayerns begannen die Beauftragten des Bischofs mit der Ausschreibung und Erhebung, unterstützt von den vier Delegierten des Herzogs aus dem bayeri­ schen Prälatenstand, den Äbten von Scheyern, Prüfening und Aldersbach und dem Propst von Ranshofen. Der bayerische Klerus brachte noch Ende 1548 die erste Jahresrate auf: 22 000 fl, wobei weitere 4 000 fl als noch aus­ 139 Buxbaum 60 - 62. 140 Matricula Collegii Theologici I fol. 82; Prantl I 221; LThK 2V 858 f.; Bux­ baum 123. 141 Instrumentum processus super tres decimas a clero Bavarico praestandas, et universitati attribuendas (Eichstätt, 19. Oktober 1551). Mederer IV 270 - 282.

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ständig aufgeführt sind. Die stattliche Summe wurde aber unter mannig­ fachen Ausflüchten nach München geleitet, zum schweren Ärger des Bischofs, der Universität und des zahlenden Klerus. Auch die zweite Universitätssteuer des bayerischen Klerus, die 1552 einen Ertrag von 25 000 fl brachte, floß nach München. Bischof Moritz von Hutten hatte sich aufs höchste ver­ ärgert von der Aktion zurückgezogen. Die Universität erhielt aus der Hauptund Residenzstadt papierene Schuldverschreibungen 142. Und dennoch wäre es unbillig, hier einfach von einer Zweckentfremdung des Geldes zu sprechen. Für die Dotation der Universität, für ihre — in der Auffassung des Herzogs — notwendige Reform trug eben der Landesherr die letzte Verantwortung.

Die Ankunft der Jesuiten in Ingolstadt hat sich einige Zeit verzögert. Ignatius besaß wohl im Augenblick noch nicht genügend qualifizierte Kräfte, um die neue Aufgabe zu übernehmen. Der Ordensgeneral sah sich genötigt, einige Väter aus ihrem bisherigen Wirkungskreis abzuberufen. Um die Jahreswende 1548/49 bestimmte er den Savoyarden Claudius Jajus (Jay), den Spanier Alfons Salmeron und den Niederländer Petrus Canisius für die Universität Ingolstadt. Herzog Wilhelm wurde ungeduldig und wandte sich noch einmal an den Kardinal Alessandro Farnese. Dieser lobte im Namen des Papstes den Eifer des Herzogs von Bayern und kündigte die Abreise der drei Jesuiten als unmittelbar bevorstehend an143.

Die große Gehorsamsprüfung seines Ordens hatte Petrus Canisius144 für ein gutes Jahr nach Messina auf Sizilien geführt. Von diesem Posten wurde er zu Beginn des Jahres 1549 durch Ignatius abberufen. Im September legte er — als achter Jesuit — zu Rom die feierliche Profeß in die Hände des Ordensstifters ab. Ignatius bestimmte ihm Deutschland als sein künftiges Arbeitsfeld. Auf dem Weg dorthin traf Canisius in Bologna mit P. Alfons Salmeron und P. Claudius Jajus zusammen. Alle drei erwarben hier nach einigen Wochen, am 4. Oktober 1549, die theologische Doktorwürde der Universität. Über Trient und Dillingen setzten sie ihre Reise zunächst nach München fort, wo sie der Herzog freundlich aufnahm und seinem Berater Leonhard von Eck empfahl. Am 13. November 1549 kamen die drei Jesuiten in Ingolstadt an, begleitet vom herzoglichen Sekretär Heinrich Schweicker. Die Professoren und Doktoren der Hohen Schule zogen den neuen Kollegen entgegen und geleiteten sie feierlich in die Stadt. Es wurde eine festliche Tafel zum Willkommgruß gehalten, wobei sie der Vizekanzler offiziell be­ 142 Prantl 1182 - 186. 143 Buxbaum 64 f. 144 Lebensgang, Quellen u. Lit. bei Buxbaum; knappes Lebensbild: E. Buxbaum, Der heilige Petrus Canisius. In: Bavaria Sancta. Hrsg. v. G. Schwaiger, I, Regens­ burg 1970, 327 - 348.

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grüßte. Petrus Canisius sprach den Dank. Dann bezogen die Jesuiten ihr vor­ läufiges Quartier im Alten Kollegium, wie seit der Stiftung des Georgia­ nums („Neu Collegium“) der alte Universitätsbau hieß. Der Regens des Ge­ orgianums schickte den Jesuiten in der ersten Zeit zweimal am Tag die Ver­ köstigung aus der Küche seines Hauses. Nach etwa zwei Wochen, die mit Vorbereitungen und Antrittsbesuchen angefüllt waren, begannen die Jesui­ ten ihre Lehrtätigkeit145. Die Ankunft der Jesuiten in Ingolstadt mochte nach außen hin unbedeu­ tend erscheinen. In Wirklichkeit war sie ein tief einschneidendes Ereignis nicht nur in der Geschichte der theologischen Fakultät, der ganzen Univer­ sität, sondern darüber hinaus in der bayerischen und deutschen Kirchen­ geschichte. Mit Petrus Canisius war der Mann nach Deutschland zurück­ gekehrt, der in den folgenden Jahrzehnten eine der wichtigsten Gestalten der katholischen Erneuerung im Reich wurde, eng verbunden mit den katho­ lisch gebliebenen politischen Mächten, vor allem mit den Habsburgern und den bayerischen Wittelsbachern, dann auch mit bedeutenden geistlichen Fürsten der Reichskirche. Nach Jahrzehnten der Mutlosigkeit, der Ver­ störung und des Niederganges gewann die alte Kirche im Reich wieder Selbstbewußtsein. Die wichtigsten Grundlagen der Katholischen Reform wurden das Konzil von Trient und der Jesuitenorden. Bald ging man ziel­ bewußt daran, nicht nur das Kirchenwesen in den katholisch gebliebenen Territorien des Reiches neu zu festigen, sondern auch verlorenes Gebiet zurückzugewinnen. Mit der Katholischen Reform ist die Gegenreformation aufs engste verflochten. Die Konzeption gegenreformatorischer Weltpolitik, wie sie die Päpste, der spanische Hof und in steigendem Maße auch die österreichischen Habsburger betrieben, ließ im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert die Münchener Residenz neben dem Vatikan, der Wiener Hofburg und dem Escorial zu einem Schwerpunkt der wiedererstarkten katholischen Welt werden. Die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Albrecht V. verschafften den Jesuiten einen der frühesten festen Stützpunkte im Reich146. 145 Buxbaum 65 - 67. - Jaius: LThK 2V 858 f.; Salmeron: LThK 2IX 270 f. 146 Das Weltkonzil von Trient. Sein Werden und Wirken. Hrsg. v. G. Schreiber, 2 Bde., Freiburg i. B. 1951; Jedin, Geschichte des Konzils von Trient 2I - III; Hand­ buch der Kirchengeschichte. Hrsg. v. H. Jedin, IV; E. W. Zeeden, Das Zeitalter der Gegenreformation, Freiburg i. B. 1967; Spindler II 346 -370. — Quellen u. Lit. zur Geschichte der Jesuiten: B. Schneider, in: LThK 2V 912-920; Handbuch der Kirchengeschichte IV 465 -476 (Ignatius von Loyola und sein Orden bis 1556). — C. Sommervogel, Bibliotheque de la Compagnie de Jesus, Bd. I - IX Brüssel - Paris 21890 - 1900, X (Nachträge v. E. M. Riviere) Toulouse 1911 ff., XI (Histoire par P. Bliard) Paris 1932. — B. Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, I - II Freiburg i. B. 1907 - 1913, III - IV Regensburg 1921 - 1928. — Zur not­

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Ignatius von Loyola hat die Bedeutung dieser Berufung wohl erkannt. Er hatte den drei für Ingolstadt bestimmten Jüngern am 24. September 1549 eine ausführliche Instruktion147 nach Bologna nachgeschickt, die für die Zukunft der jesuitischen Wirksamkeit in Deutschland grundlegend werden sollte. Die Instruktion bietet ein klares, kluges Programm. Die drei Patres sollen Ingolstadt und — nach Möglichkeit — Deutschland überhaupt dem Wunsch des Papstes entsprechend im wahren Glauben stärken und im Ge­ horsam gegen die katholische Kirche fördern. Deshalb sollen sie auch die Verbreitung der Gesellschaft Jesu in Deutschland betreiben, besonders durch Gründung von Kollegien. Als Voraussetzung des Erfolges nennt Ignatius das gute Beispiel eines überzeugenden Lebenswandels, hochherziges Gottver­ trauen und ein Leben aus dem Gebet. Ohne herzliche, aufrichtige Liebe ist der Jesuit unglaubwürdig. Der andere Mensch, auch der Andersgläubige, muß spüren, daß es dem Jesuiten ehrlich um das Heil der Seele geht. Das hindert Ignatius nicht, seiner Art entsprechend ein kluges Vorgehen zu empfehlen. Die Aufgabe besteht darin, das Volk „in Glauben, christlicher Lehre und Sitte zu fördern“. Aber die Väter sollen „aufrichtig und herzlich“ vor allem dem Herzog und seinen Räten zugetan sein und sich bemühen, den Fürsten und seine Umgebung als Beichtkinder und zur Teilnahme an den Geistlichen Übungen zu gewinnen. Das Wirken der Patres soll völlig selbstlos sein. Die priesterliche Tätigkeit hat ohne Vergütung zu erfolgen. Man möge sich den Sitten und Gebräuchen des Volkes anpassen, doch ohne Verletzung des Gewissens. Der Ordensgeneral empfiehlt eine reife Gesetzt­ heit in Gang, Gebärde und Kleidung, umsichtige Rede, wohlbedachten Rat, vornehme Zurückhaltung und nicht zuletzt regen brieflichen Verkehr mit Rom. Zur Lehrtätigkeit empfiehlt Ignatius tüchtige Leistungen, klare, regel­ mäßige, aber nicht zu lange Vorlesungen in wohlgesetzter Rede. Der Vor­ tragende soll mit Klugheit Verstand und Herz ansprechen. Ignatius erwartet Predigten und Vorträge über die Heilige Schrift; ihr Zweck sei weit mehr Anregung des Gemütes und Besserung der Sitten als bloße Bildung des Ver­ standes. Ein wichtiger Arbeitsbereich ist auch das Beichthören. Die Tätigkeit der drei Patres erstreckt sich aber in erster Linie auf die Förderung des Ordens und des Priesternachwuchses. Deshalb ergeht der Rat, sie sollten ihren Schülern in geistlicher Freundschaft nahekommen, durch persönliches wendigen Korrektur von Prantl’s vielfach einseitigen und auch falschen Urteilen die bio-bibliographischen Untersuchungen von F. S. Romstöck, Die Jesuiten­ nullen Prantl’s an der Universität Ingolstadt und ihre Leidensgenossen, Eichstätt 1898. 147 Der wesentliche Teil der umfangreichen Instruktion deutsch bei H. Rahner, Ignatius von Loyola. Geistliche Briefe, Einsiedeln - Zürich - Köln 1956, 188 - 195; Buxbaum 81 f.

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Gespräch, durch Geistliche Übungen und durch die Beicht. In allen Be­ mühungen darf nie das geistliche Ziel aus dem Auge verloren werden. Ignatius verlangt auch caritative Tätigkeit, zum Beispiel Hilfe in Spitälern, Gefängnissen, Armeninstituten. Dazu fordert er Erteilung der Christenlehre, geistliche Fürsorge auch für zweifelhafte Katholiken und Häretiker. Die Entscheidung schwieriger Gewissensfälle bedarf jeweils reiflicher Über­ legung. Das persönliche Studium soll sich in erster Linie auf die Hauptpunkte der Kontroverstheologie, die im Augenblick hervortretenden Unterschiede in den Glaubensauffassungen, beziehen. Der Eifer gegen die falschen Glaubenslehren sei so beschaffen, „daß sie den andersgläubigen Personen eher Liebe, großes Verlangen nach ihrem Seelenheil und Mitleid erzeigen“. Diese Instruktion atmet ganz den Geist des Ignatius von Loyola. Sie ist ein Spiegel des Selbstverständnisses der Gesellschaft Jesu in der Frühzeit des Ordens, der einmal eine Tatsache der katholischen Reform ist, zugleich aber Triebkraft weiterer Reformen wird. Freilich sind nicht alle Mahnungen später in gleicher Weise beachtet worden. Zum Beispiel fuhren auch die Jesuiten in der polemischen Kontroverstheologie — wie ihre Gegner — gröbstes Geschütz auf. Nur in diesem großen Rahmenprogramm ist die Wirksamkeit der Jesuiten in Ingolstadt zu verstehen und historisch gerecht zu würdigen. Sie waren nicht geschickt, um gleichsam Wissenschaft um ihrer selbst willen zu treiben. Ihre Lehrtätigkeit, ihre Stellung an der Universität war Mittel zur Förderung der katholischen Reform im Verstand des Ordens. Dies entsprach völlig der Absicht der bayerischen Herzöge des 16. und 17. Jahrhunderts. In allen wesentlichen Punkten blieb die ignatianische In­ struktion vom Jahr 1549 bestimmend für die über zweihundertjährige Tätig­ keit der Jesuiten an der Universität Ingolstadt. Daraus wuchsen bedeutende Leistungen. Daraus mußten aber auch bald schon Spannungen sich ergeben, die sich mit der Entfaltung des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes und mit dem Vordringen des Gedankens individueller Freiheit nur verschärfen konn­ ten. Diese wachsenden Spannungen trugen schließlich auch ihr gut Teil bei zur Krisis des Ordens im 18. Jahrhundert.

Am 26. November 1549 begannen Salmeron und Canisius ihre Vorlesun­ gen. Salmeron las über den Römerbrief, Canisius über das vierte Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus. Jajus, dessen eigentliche Aufgabe die Einrichtung eines Ordenskollegiums war, hielt einige Vorlesungen über die Psalmen. Petrus Canisius erscheint bald als die führende Gestalt. Seine beiden Kollegen waren der deutschen Sprache nie ganz mächtig und wurden bald wieder abberufen. Ignatius schickte als Ersatzleute P. Nikolaus Gaudanus, der die Römerbriefvorlesung Salmerons fortsetzte, und P. Peter

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Schorich148. Im März 1550 waren nämlich Herzog Wilhelm IV. und Leonhard von Eck kurz nacheinander gestorben. Dadurch kamen die Pläne zur Errich­ tung eines Kollegs und zur Reform der Artistenfakultät, die Eck gleichfalls von den Jesuiten wünschte, ins Stocken. Hinsichtlich eines Kollegs waren vom Herzog und von Leonhard von Eck wohl zu hohe Erwartungen geweckt, auch gewisse Versprechen gemacht worden. Salmeron kehrte noch 1550 nach Italien zurück, um in Neapel ein Jesuitenkolleg zu gründen. Den Jesuiten erschienen die Voraussetzungen der Ingolstädter Studenten zu mangelhaft. Sie erstrebten daher die Einrichtung eines philosophischen Vorkurses. Cani­ sius wurde am 18. Oktober 1550 für das übliche halbe Jahr zum Rektor gewählt149, bald darauf vom Bischof von Eichstätt zum Vizekanzler bestellt. Er war bis zur päpstlichen Aufhebung der Gesellschaft Jesu (1773) der ein­ zige Rektor aus den Reihen der Jesuiten, da auf Grund der Stiftungsurkunde kein Ordensmann Rektor werden durfte. Jajus und Schorich haben Ingol­ stadt im April 1551 endgültig wieder verlassen. Der Ordensgeneral berief sie ab, weil das von ihm verlangte Jesuitenkolleg noch nicht gegründet war150. Die Regierung des jungen Herzogs Albrecht V. hatte diese Abberufung zu verhindern versucht und in zwei Schreiben an den Papst (vom 1. Juni und 9. Juli 1550) ausdrücklich davon gesprochen, er sei bereits daran, das Kolleg zu gründen. Die Verzögerung ergab sich vor allem aus der hohen Verschul­ dung, die Wilhelm IV. seinem Sohn hinterlassen hatte. Auch bestand Unklar­ heit, ob ein Kollegium in erster Linie für den Ordensnachwuchs der Jesuiten oder eher in Gestalt einer Burse für Theologiestudenten zu gründen sei. Von Seiten der Regierung, der Jesuiten und der Universität betrieb man damals in Rom die Zuwendung einiger verödeter Klöster an die Universität, speziell zur Dotation des Jesuitenkollegiums. Die von Paul III. bewilligte Besteue­ rung des Klerus, gegen die die meisten Bischofe Protest erhoben, wurde eben­ falls in diese Pläne eingerechnet. In der Frage des Kollegs verhandelten die Jesuiten auch mit den Bischöfen von Eichstätt und Augsburg. Es gelang Petrus Canisius, die Professoren der Universität von der Notwendigkeit einer Kolleggründung zu überzeugen und sie auch zu gewinnen, bei Al­ brecht V. dafür einzutreten. Als der Herzog im April 1551 zur Erbhuldigung nach Ingolstadt kam, wurde wohl erneut darüber verhandelt. Canisius schrieb kurz darauf aus Ingolstadt nach Rom: „Die Hoffnung auf die Er­ neuerung des theologischen Studiums hier war niemals größer oder besser als jetzt, da man vieles über die Gründung zweier Kollegien verhandelt.“ 148 Mederer 1213 f., 217 - 220; Prantl I 222; Romstöck 344 f. 149 Mederer I 214. Über seine Wirksamkeit in der theologischen Fakultät (1552): Matricula Collegii Theologici I fol. 86. — Seifert 114 - 123150 Buxbaum 122 - 145.

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Das eine Kolleg sei für die Gesellschaft Jesu bestimmt, das andere für die Studierenden der Theologie, aber auch dieses werde den Jesuiten unter­ stellt. Dieser Plan scheiterte am scharfen Widerstand des Ignatius, der unter keinen Umständen die Gründung eines Kollegs zugestehen wollte, auch nicht eines zweiten, das nicht für den Nachwuchs seines Ordens bestimmt sei. Die Abberufung der Jesuitenprofessoren benützte der Ordensgeneral als Druckmittel. Die Gründung eines Jesuitenkollegs in Wien bot ihm zu diesem Schritt einen weiteren Anlaß. Zur Bestürzung des Herzogs wurden zu Beginn des Jahres 1552 auch Canisius und Gaudanus abberufen. Das eben gegrün­ dete Kolleg in Wien war ihnen als neue Wirkungsstätte bestimmt. Schon im März verließen sie mit zwei Novizen Ingolstadt, wie beim Einzug vor zwei­ einhalb Jahren geleitet von den Professoren und Studenten, den Räten und Bürgern der Stadt151. Die alten Universitäten haben sich vielfach dagegen gewehrt, Ordensleute als Professoren aufzunehmen, weil diese eben nicht nur der Universität verbunden, sondern gleichzeitig im Ordensgehorsam ge­ bunden seien. Ingolstadt hatte nun zum erstenmal diese Erfahrung ge­ macht. Der Auszug der Jesuiten brachte die theologische Fakultät neuerdings in Bedrängnis. Zunächst versah Dr. Johannes Fabri, der von Canisius promo­ vierte Domprediger von Augsburg, als Prodekan die Dekanatsgeschäfte, 1553 kam Dr. Michael Wagner, aus Gerolfing bei Ingolstadt, als Professor Ordinarius in die Fakultät; er übernahm im Oktober das Dekanat152. Beide waren erst vor kurzem in Ingolstadt zu Doktoren der Theologie promoviert worden. Am 7. September 1554 wurde Dr. Georg Theander (Gottsmann), aus Aubing bei München, Pfarrer an der Liebfrauenkirche, kurz nach seiner Promotion als Professor in die Fakultät aufgenommen153. Um diese Zeit lehrte vorübergehend (1554/55) auch Joachim Zasius, ein Sohn des berühm­ ten Humanisten Ulrich Zasius, in der Fakultät, ohne förmlich aufgenommen zu sein. Da er sich übel aufführte, ließ ihn die Universität bereitwillig nach Basel ziehen154. Michael Wagner konnte ebenfalls kaum als Zierde der „Gottesgelahrtheit“ gelten. 1554 reichte ihm die Universität als Besoldung 100 fl, jedoch nur auf Widerruf, wenn er nämlich fleißig sei und einen guten 151 Mederer 1226; Buxbaum 142. 152 Matricula Collegii Theologici I fol. 86, 195 (kurze Würdigung); Mederer I 234. 153 Matricula Collegii Theologici I fol. 87 s., 196; Mederer I 237. 154 „Anno 1554 die 9 Januarii petiit dominus Joachimus Zasius admitti ad cursum biblicum, et assignatus est ei liber Hester in veteri, et I. epistula ad Thessal. in nouo testamento. Admonitus de nonnullis temerariis et piarum aurium offensiuis sermonibus, indigne ferens paternam admonitionem, iracundia plenus, a dominis sine valedictione discessit...“ Matricula Collegii Theologici I fol. 87; Mederer 1237 f.; Prantl I 304 f.

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Wandel führe. Im folgenden Jahr verabreichte er seinem Kollegen Theander eine Ohrfeige, was amicabiliter beigelegt wurde. Die Beratungskommission nennt ihn kurzweg versoffen, und wenn man seine Einträge in der Matrikel unbefangen betrachtet, mag man schwerlich widersprechen155. Im Gegensatz zu Wagner genoß Theander an der Universität hohes Ansehen. Er wurde als gewissenhafter, eifriger Priester, als kenntnisreicher Lehrer und ob seiner Geschäftsgewandtheit geschätzt156. Die Bestellung der theologischen Fakultät konnte nicht befriedigen, zumal die kirchenpolitischen Ereignisse im Reich neuerdings eine gefähr­ liche Zuspitzung erfahren hatten. 1552 war die lange schon schwelende Re­ volution fürstlicher Libertät gegen kaiserliche Majestät losgebrochen, hatte den alten Kaiser Karl V. zur Flucht genötigt und schließlich zum politischen Religionsvergleich im Passauer Vertrag (1552) und im Augsburger Reli­ gionsfrieden (1555) geführt. Die Schwäche der theologischen Fakultät in diesen Jahren wird nicht nur in einem merklichen Rückgang der Studieren­ den sichtbar. Als 1555 König Ferdinand I. seinem Schwiegersohn Albrecht V. mitteilt, er wünsche eine Beratung seiner Theologen mit denen des Herzogs über einen christlichen Vergleich im Religionsstreit und über Maßnahmen für den anstehenden Reichstag, muß Albrecht antworten, daß er im Augen­ blick über gelehrte und angesehene Theologen nicht verfüge. Diese miß­ lichen Verhältnisse legten dem Herzog wohl nahe, sich um die Rückberufung der Jesuiten nach Ingolstadt zu bemühen157.

Albrecht V. schickte seinen Rat Wiguläus Hundt nach Wien, damit er dort mit Canisius verhandle. Offenbar waren die bayerischen Wünsche darauf abgestellt, nicht nur Theologen, sondern auch Professoren der grie­ chischen und lateinischen Sprache zu gewinnen. Den auf der Synode zu Mühldorf (1553) versammelten bayerischen Bischöfen ließ der Herzog sagen, daß er „aus gotseligem cristlich eifer zu befurderung der eer gottes, wolfart seiner kirchen vnnd Ihrer F. fürstlichen] G.fnaden] vnnderthanen seien hail ein collegium aufzurichten im werckh ist“. Aber immer noch ist keineswegs völlig klar, ob damit ein Jesuitenkolleg im Sinn des Ignatius gemeint ist. Der herzogliche Sekretär Heinrich Schweicker mußte erneut in Rom verhandeln, und schließlich erklärte sich Ignatius 1554 grundsätzlich bereit, etwa in zwei Jahren wieder Jesuiten nach Ingolstadt zu schicken. Inzwischen wolle man aber sofort Studenten aus Bayern in das neugegründete römische Colle­ gium Germanicum aufnehmen; der Herzog möge sein Ingolstädter Kolleg 155 Matricula Collegii Theologici I fol. 86-88; Prantl 1304 f. 156 Mederer I 237 f.; Prantl 1305. 157 Buxbaum 148 f.

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fertigstellen und auch mit König Ferdinand I. wegen einer Rückberufung der Jesuiten von Wien nach Ingolstadt verhandeln. Gedacht war offenbar an ein Kolleg für 30 Jesuitenstudenten und an ein zweites nach Art des Germanikums für künftige Weltpriester unter Leitung der Jesuiten. Auf dem Reichstag zu Augsburg ließ aber der Herzog dem anwesenden P. Salmeron erklären, er wünsche für Ingolstadt drei oder vier bedeutende Theologen aus der Gesellschaft Jesu; von einem Kolleg fiel kein Wort. Im Oktober 1555 hat sich dann Albrecht V., den man auch unter Gewissensdruck setzte, klar für die Gründung zweier Kollegien in Ingolstadt ausgesprochen: zuerst komme die Gründung des Jesuitenkollegs, dann folge ein zweites, in dem wenigstens fünfzehn Theologiestudenten der vollen Obhut der Gesellschaft Jesu anvertraut würden. Damit war wiederhergestellt, was Schweicker in Rom ausgehandelt hatte. Canisius eilte von München nach Ingolstadt, um dort alle notwendigen Dinge zur Kolleggründung an Ort und Stelle zu be­ sprechen158. Ende November 1555 begannen in Ingolstadt die zähen Verhandlungen um die Kolleggründung und darüber hinaus um eine Reform der ganzen Universität159. Canisius hatte ein klares Konzept mitgebracht: Ziel der Jesuiten sei der allgemeine Nutzen der Universität und des ganzen Herzog­ tums Bayern, vor allem hinsichtlich der katholischen Religion. Damit tauchte wieder das eigentliche Programm des Ordens ganz deutlich auf. Das ange­ strebte Ziel könne aber kaum erreicht werden, wenn die Väter der Gesell­ schaft Jesu ihre Mühen allein auf die bisher wenigen, überdies gering quali­ fizierten Theologiestudenten verwenden müßten. „Die ganze Aufmerksam­ keit diesen zuzuwenden, wäre eine Ungerechtigkeit gegen eine bessere Klasse von Studenten, die man andernorts antreffe; denn es hieße, diese guter und annehmbarer Theologieprofessoren berauben. Unser Orden hat wenige Theologieprofessoren, und wir wünschen, soviel als möglich zu helfen. Daher müssen wir uns sorgfältig hüten, gegen das Gebot der Klug­ heit zu fehlen: wo du nicht gehört wirst, verschwende deine Worte nicht.“ Aus Erfahrung wisse man, daß von gewöhnlichen Theologiestudenten, die ungebunden lebten, wenig zu hoffen sei. „Mein Wunsch ist daher, daß ein Kolleg gegründet werde, nicht bloß für junge Männer meines Ordens, son­ dern auch für andere, in der Absicht, Bayern und den Nachbardiözesen in ihrem großen Priestermangel zu Hilfe zu kommen.“ Der Papst warte auf die Ausführung dieses Beschlusses, und auch die Bischöfe verlangten, daß der bereits gesammelte Klerikerzehnt für diesen Zweck verwendet werde. „Soweit ich urteilen kann, liegt hierin, wenn wir die Religion in Bayern 158 Buxbaum 149 - 156. 159 Zum Folgenden: Buxbaum 157 - 172.

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gesichert sehen wollen, der beste Schutz, der gewährt werden kann.“ Cani­ sius wünscht neben den beiden Kollegien noch den Bau einer eigenen Kirche im Besitz des Ordens. In diesem letzten Punkt blieb er unnachgiebig, auch als die herzoglichen Räte die Überlassung einer schon vorhandenen Kirche anboten und auf mögliche Schwierigkeiten mit dem bestehenden Seelsorge­ klerus hinwiesen. Auch in der Dotationsfrage stellte Canisius klare Forde­ rungen. Bei der Behandlung der besonderen päpstlichen Privilegien seines Ordens gab er beruhigende Erklärungen ab: man werde die Erfüllung der allgemeinen Aufgaben von Professoren nicht verweigern; man wolle dem Bischof, dem Herzog und dem Rektor der Universität sich unterwerfen; auch bestehe keine Absicht, die Privilegien des Ordens zu urgieren.

Nach langen, oft schwierigen Verhandlungen wurde zwischen Petrus Canisius und den herzoglichen Räten am 7. Dezember 1555 folgende Ver­ einbarung festgelegt: Der Herzog wird ein theologisches Kollegium mit Kapelle und Garten errichten. Er sichert die wirtschaftliche Grundlage durch ein jährliches Einkommen von 800 rheinischen Gulden, sechs Scheffel Weizen, zwei Scheffel Roggen und zwei Scheffel Hafer, unabhängig von der erstmaligen Aussteuer. Das Kolleg wird der Gesellschaft Jesu übergeben, die berechtigt ist, es nach ihren Grundsätzen zu leiten, jedoch ohne Präjudiz des Herzogs und der Universität. Die Gesellschaft Jesu verpflichtet sich dagegen, zwei Theologieprofessoren für die Universität zur Verfügung zu stellen und eine jedermann zugängliche Schule zu errichten, deren Unter­ richt unentgeltlich erteilt wird. Ferner hat die Erziehung reiferer Schüler zu guten Sitten und ihre Förderung in der Kenntnis der Heiligen Schrift durch die Jesuiten zu erfolgen. Die Gesellschaft Jesu kann außer den benö­ tigten Lehrern so viele Personen und Schüler ihres Ordens im Kolleg unterbringen, wie es die gewährten Einkünfte erlauben und es ihr not­ wendig erscheint, aber keine herzoglichen Theologiestudenten ohne aus­ drückliche Zustimmung des Fürsten. Die Gesellschaft Jesu wird auch mit allen Insassen des Kollegs dem Herzog in der Erhaltung und Festigung der katholischen Religion zu Diensten sein, wenn der Herzog dies begehrt. Die Jesuiten haben die Rechte und Pflichten der Universitätsangehörigen, doch unbeschadet ihrer eigenen Privilegien. Da das vorgesehene Kolleg aus schwerwiegenden Gründen derzeit nicht errichtet werden kann, beziehen die Väter vorläufig — bis zur anderweitigen Unterbringung — einen Teil des Alten Kollegiums, das heißt des Universitätsgebäudes. Dieser wird nach Wünschen des Petrus Canisius hergerichtet werden, außerdem wird ein Garten gemietet. Die Ankunft der Jesuiten wird im Frühjahr 1556 erwartet. Vom Tag des Eintreffens an werden die genannten Einkünfte gereicht. Der

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Herzog trägt auch die Kosten der Anreise nach Ingolstadt. Weiteres wird nach Ankunft der Väter vereinbart werden. Diese Vereinbarung gilt, so­ lange die Gesellschaft Jesu ihre Verpflichtungen an der Universität Ingol­ stadt sorgfältig erfüllt. Der Herzog selbst und Canisius werden sich be­ mühen, daß auch Ignatius diese Übereinkunft anerkennt. Diese Vereinbarung bildete eine wesentliche Grundlage für das spätere Wirken der Jesuiten an der Universität und in der Stadt. Die Jesuiten haben viel von ihren früheren Forderungen aufgegeben oder doch zurückgestellt. Einige nicht völlig deutliche Punkte boten später Anlaß zu langdauernden Streitigkeiten, so das zugestandene Recht, das Kolleg zwar nach den Grund­ sätzen des Ordens zu leiten, doch ohne Präjudiz des Herzogs und der Univer­ sität, ferner die Feststellung, daß die Väter die Rechte und Pflichten von Universitätsangehörigen besäßen, unbeschadet ihrer eigenen Privilegien. Die Vereinbarungen und die recht notdürftige vorläufige Unterbringung beweisen, daß dem Orden doch stark an der Position in Ingolstadt gelegen war. Canisius hatte sich freilich erst zu dem Kompromiß durchgerungen, als der Ingolstädter Baumeister einen Kostenvoranschlag mit einem Plan des Kollegs angefertigt hatte: er ließ sich überzeugen, daß dieses Werk aus finanziellen Gründen nicht sofort und auch nicht in nächster Zukunft aus­ geführt werden konnte. Vor allem eröffnete man Canisius Aussicht auf das Franziskanerkloster mit ansehnlicher Kirche in der Stadt; das Kloster ver­ öde immer mehr und könnte später als Kolleg dienen. Damit das geplante zweite Kolleg — für spätere Weltpriester unter Leitung der Jesuiten — nicht völlig gestrichen wurde, ließ sich Canisius eine Zustiftung für zwölf weitere Stipendiaten in das Georgianum wenigstens in Aussicht stellen. Diese Sti­ pendiaten sollten aus der päpstlich bewilligten Dezimation des bayerischen Klerus unterhalten werden. Trotz mancher Bedenken und gewisser Vorbehalte erklärte sich Ignatius schließlich dazu bereit, auf Grund der Vereinbarungen Jesuiten nach Ingolstadt zu schicken. Mit dem besonderen Segen des Papstes, einem Emp­ fehlungsschreiben des Ignatius und einer umfangreichen Instruktion ver­ sehen, verließen die Väter am 9. Juni 1556 Rom. Ignatius schrieb tags dar­ auf, er habe in der letzten Zeit drei Gruppen von Jesuiten nach Deutschland geschickt, um dem religiös abgleitenden Land zu helfen: nach Köln, Prag und Ingolstadt. Die Entsendung seiner Jünger nach Bayern war das letzte seiner derartigen Unternehmen. Schon am 31. Juli 1556 ist er in Rom ge­ storben. Die ursprünglichen Forderungen des Petrus Canisius wurden erst nach zwei Jahrzehnten (1576) erfüllt durch den prächtigen Bau des Jesuiten­ kollegiums und durch die Einrichtung des Collegium Albertinum.

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Die Jesuiten kamen am Fest des heiligen Willibald, des Eichstätter Diöze­ sanpatrons (7. Juli), in Ingolstadt an. Man hat sie festlich empfangen, konnte sie vorläufig aber nur notdürftig unterbringen160. Sprachliche Schwierig­ keiten machten den Ausländern obendrein zu schaffen. Anfang August kam endlich der sehnlich erwartete Petrus Canisius nach Ingolstadt. Er trat hier zugleich sein Amt als Provinzial der neuerrichteten oberdeutschen Ordens­ provinz an. Damit unterstanden die vornehmlich durch seinen Einsatz er­ richteten Ordenskollegien in Süddeutschland seiner unermüdlichen Sorge161.

Die Gruppe der Ankömmlinge bestand aus sechs Patres und zwölf Alum­ nen, dazu kamen einige Bedienstete. Für die Universität waren drei Väter be­ stimmt162. Dr. Johannes Couvillon aus Flandern und sein Landsmann Dr. Hermann Thyräus wurden „auf Befehl des durchlauchtigsten Fürsten“ noch 1556 als Professoren in die theologische Fakultät aufgenommen163, die damit (neben Wagner und Theander) aus vier Professoren bestand. Beide leisteten den herkömmlichen Professoreneid und wurden darauf sofort auch in den Senat aufgenommen. Von jetzt an blieb der Orden bis zu seiner Auf­ hebung in der theologischen Fakultät, wo er anfangs die Hälfte (2), später die Mehrzahl (3) der ordentlichen Professuren besetzte. Theodor Peltanus aus Geldern, ein hervorragender Philologe, war dazu bestimmt, im Jesuiten­ kolleg die Humaniora zu vertreten. Auf Weisung des Herzogs las er seit 1557 auch öffentlich in der Artistenfakultät als Professor der griechischen und hebräischen Sprache164. Die Artisten befürchteten bereits mit dem Auf­ treten dieses ersten Jesuiten in ihrer Fakultät Schlimmes für die Zukunft. Am Fest des Fakultätspatrons, des heiligen Evangelisten Johannes vor der Lateinischen Pforte, am 6. Mai 1557, wurde Couvillon — als Nachfolger Michael Wagners — zum Dekan gewählt165. Im Herbst folgte ihm Thyräus166. Theodor Peltanus wurde 1562 als erster Jesuit in Ingolstadt zum theologi­ schen Doktor promoviert167. 100 Mederer I 246 f. 101 Buxbaum 171 f. 16^ Mederer I 246 f.; Prantl 1226 f. 103 „Anno supradicto [1556] recepti sunt in consilium reverendissimi domini de Societate Jesu Joannes Chuuillonius et Hermannus Thyreus ss. theologiae doctores. Et hoc factum est iussu illustrissimi principis nostri. Praestiterunt solitum iuramentum, et habent statuta nostra. Hoc autem contigit sub decanatu reverendissimi domini vicecancellarii d. Georgii Theandri.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 91. 104 Mederer I 247; Prantl I 226 f. 165 „In die S. Joannis ante portam latinam post prandium communicato consilio constitutus est decanus reverendissimus dominus Joannes Chuuillonius de Socie­ tate Jesu.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 93. 100 Ebd. fol. 95. 107 Ebd. fol. 102. 5

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Petrus Canisius blieb nicht lang im provisorischen Jesuitenkollegium zu Ingolstadt. Seine Tätigkeit als Provinzial, als Prediger, als Berater Kaiser Ferdinands I. und Herzog Albrechts V., die Gründung neuer Kollegien erforderte fortwährend große Reisen durch ganz Süddeutschland. Albrecht V. zog ihn immer wieder zur Besetzung freigewordener Professuren an der Universität bei. Der Herzog, seine habsburgische Gemahlin und der ein­ flußreiche Kanzler Simon Thaddäus Eck ließen der Gesellschaft Jesu alle nur mögliche Förderung angedeihen. So konnten früh schon immer wieder einzelne Jesuiten in die Artistenfakultät gebracht werden. Neben seinem ausgebreiteten kirchenpolitischen und seelsorgerlichen Wirken entfaltete Canisius noch eine umfangreiche literarische Tätigkeit im Dienst der katho­ lischen Erneuerung168. Die meisten Jesuitenprofessoren der theologischen Fakultät wurden vom Orden bald wieder zu anderen Aufgaben abberufen. Dieser rasche Wechsel konnte einer gedeihlichen Wirksamkeit nicht förderlich sein. Als Thyräus schon 1559 abging169, kam Pater Alphons Pisanus170 an seine Stelle; dessen Nachfolger wurde 1567 Pater Hieronymus Torrensis171, der bis 1575 blieb. Für Couvillon, der 1562 als Begleiter des bayerischen Gesandten Augustin Paumgartner zum Konzil nach Trient geschickt wurde172, trat Pater Theodor Peltanus von der artistischen in die theologische Fakultät über (bis 1572)173. Sein Nachfolger wurde für wenige Jahre (bis 1575) Pater Julius Priscianensis174. Die beiden freien Jesuitenprofessuren wurden 1575 mit Pater Grego­ rius de Valentia, einem Mann anerkannter Gelehrsamkeit, und Pater Lucas Pinellus besetzt175. Diesen Ausländern folgten jetzt allmählich auch einzelne deutsche Jesuiten als Professoren der theologischen Fakultät, so Otto Eisen­ reich (1579 - 1582)176 und sein Nachfolger Mathias Mayrhofer177 (1582 - 1590).

Der dauernde Wechsel der Jesuitenprofessoren hielt an, solange der Orden bestand und Lehrstühle in der Fakultät besetzen konnte. Karl von Prantl ist 168 E. M. Buxbaum, Der heilige Petrus Canisius. In: Bavaria Sancta. Zeugen christlichen Glaubens in Bayern. Hrsg. v. G. Schwaiger, I, Regensburg 1970, 327 - 348. 169 Mprip'rpr T

PT/wt] T

170 Mederer I 303 f.; Prantl I 306, II 491; Duhr I 646, 662; LThK 2VIII 523. 171 Mederer I 302, II26 f.; Prantl I 306, II491. 172 Matricula Collegii Theologici I fol. 100 s.; Mederer I 273; Prantl I 269; S. v. Riezler, Geschichte Baierns, IV, Gotha 1899, 512-515; A, Knöpf ler, Die Kelchbe­ wegung in Bayern unter Herzog Albrecht V., München 1891; Spindler II 340 f. 173 Matricula Collegii Theologici I fol. 102; Mederer I 273, II 5-7; Prantl I 306. 174 Mederer II 2,15 f., 27; Prantl I 306, II 491; P. Rummel, P. Julius Priscianensis S. J., 1542 - 1607, Augsburg 1968, bes. 17 - 25. 175 Mederer II16 f.; Prantl I 306, II491. 176 Mederer II52; Prantl I 306. 177 Mederer II 78; Prantl I 306, II491 f.

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gewiß den Jesuiten wenig freundlich gesonnen, und viele seiner Urteile sind hierin einseitig, manchmal auch falsch. Man kann ihm jedoch schwerlich widersprechen, wenn er im Hinblick auf dieses ständige Kommen und Gehen der Jesuiten die theologische Fakultät einmal einen offenen Tauben­ schlag nennt178. In den ersten drei Jahrzehnten (bis 1588) erscheinen auf den beiden Jesuitenlehrstühlen bereits 12 verschiedene Namen179, von 1588 bis 1'651 wieder in raschem Wechsel 31 Jesuiten (neben 9 weltgeistlichen Pro­ fessoren)180, im Zeitraum von 1651 bis 1715 rund 50 (neben 7 Weltprie­ stern)181, von 1715 bis 1746 etwa 30 Jesuiten (neben 3 Weltpriestern)182. In den letzten Jahrzehnten vor Aufhebung des Ordens (1746 - 1773) wirkten in der theologischen Fakultät etwa 28 Jesuiten (neben 3 Weltpriestern)183.

Die Jesuiten brachten die strenge thomistische Schule ihres Ordens nach Ingolstadt. Im Jahr 1575 begannen die Professoren der theologischen Fakul­ tät damit, den theologischen Cursus nach der Summa des Thomas von Aquin zu lehren184. Am Thomismus haben die Jesuiten stets festgehalten, wenn auch das 18. Jahrhundert manche Versuche der Anpassung — durch eklektizistische Anleihen bei der zeitgenössischen Philosophie — gebracht hat. Der Thomismus war aber in der theologischen Fakultät von Ingolstadt von Anfang an zu Hause. Die beiden Professoren der Frühperiode, Adorf und Zingel, hatten ihn vertreten und Professor Johannes Eck. Mit dem Vordrin­ gen der Jesuiten in die Artistenfakultät wurde ihre an Aristoteles und Thomas ausgerichtete Philosophie auch dorthin getragen, was nicht heißt, Aristoteles sei bis dahin gleichsam unbekannt gewesen.

Der mit weitem Abstand bedeutendste der Ingolstädter Jesuitentheologen des späten 16. Jahrhunderts war der Spanier Gregor von Valencia185. Nach seinen theologischen Studien in Salamanca — damals eine der führenden Theologenschulen Europas — wirkte er einige Jahre an der fürstbischöflichaugsburgischen Universität Dillingen, die der Bischof und Kardinal Otto Truchseß von Waldburg schon 1563 der Gesellschaft Jesu übergeben hatte. Anschließend lehrte Gregor über zwei Jahrzehnte (1575 -1598) in der theolo­ gischen Fakultät zu Ingolstadt. Als gefeierter Lehrer, als theologischer und 178 Prantl I 306. 179 Prantl I 204 - 206. 180 Prantl 1405 - 409. 181 Prantl 1479-481. 182 Prantl 1522 - 524. 183 Prantl 1581 - 584. 184 „Professores theologi cursum theologicum coeperunt hoc anno [1575] secun­ dum D. Thomae Summam docere.“ Mederer II26. 185 LThK 2IV 1194 f. — Seine Tätigkeit in Ingolstadt: Matricula Collegii Theo­ logici I fol. 134 - 166 (1597 war Gregor v. V. zum letztenmal Dekan), 201; Mederer II16,154 - 157; Prantl I 306, II491. 5*

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kanonistischer Gutachter, als hervorragender Systematiker der Theologie hat er vornehmlich die große theologische Reform von Salamanca in Deutschland fruchtbar gemacht. Er sah bei seinen Schülern streng auf sprachliche Form und erzog sie zum Zurückgehen auf die Quellen. Durch engen Anschluß an Thomas von Aquin und durch Erschließung auch der anderen theologischen Schulen führte er seine Schüler zu strenger Selbst­ zucht und wissenschaftlicher Sachlichkeit. Sein Einfluß ging auf alle Hohen Schulen der Jesuiten in Deutschland und auf alle katholischen Universitä­ ten des Reiches, besonders in der Philosophie und Theologie. Gregor von Valencia hat in Deutschland, vornehmlich durch seine Lehrtätigkeit in Ingolstadt und durch sein breites literarisches Wirken, eine neue Generation von Lehrern der Philosophie und Theologie herangebildet, auf der Grund­ lage des christlichen Aristotelismus und des Thomismus. Dies trug ihm den Ehrentitel eines „Doctor doctorum“ ein. Die gelehrten Jesuiten Adam Tanner und Jakob Gretser gehörten zu seinen bedeutendsten Schülern in Deutschland. Gutachten zeigen, daß Gregor im Hexenwahn seiner Zeit befangen war. Im alten Streit, ob das Zinsnehmen erlaubt sei, hielt er — ähnlich wie Johannes Eck schon am Beginn des Jahrhunderts — einen Zinssatz von 5 % durch die Theorie eines von beiden Seiten kündbaren Rentenvertrages für gerechtfertigt. Diese Theorie machte Schule und wurde Rechtsnorm für die bayerischen Gerichte. Sein größtes Verdienst ist die wissenschaftliche Verteidigung der katholischen Kirche in dem Werk „De rebus fidei hoc tempore controversis“ (Lyon 1591, Paris 1610) mit der „Analysis fidei catholicae“ (Ingolstadt 1585, deutsch Waldsassen 1932). Sätze daraus gingen wörtlich in die Entscheidungen des Ersten Vatikani­ schen Konzils ein. In seiner Kontroverstheologie verfuhr Gregor von Valencia zuweilen überscharf polemisch, was ihm sogar den Tadel des Canisius eintrug. Sein Hauptwerk, die „Commentarii theologici“ (4 Bände, Ingolstadt 1591 - 1597), erlebte in zwei Jahrzehnten zwölf Auflagen. Diese „Theologischen Kommentare“ bilden eine Gesamtkonzeption der Philoso­ phie und Theologie, die Verbindung der positiven, das heißt aus der Offen­ barung geschöpften Theologie mit der scholastischen Theologie in einem großen System. Gregor entwickelte schon vor seinem spanischen Ordens­ bruder Luis de Molina seine eigenartige Theorie vom Zusammenwirken der Gnade Gottes mit der menschlichen Freiheit. Deshalb wurde er im Anschluß an seine Ingolstädter Tätigkeit Hauptverteidiger Molinas in Rom, als Papst Clemens VIII. den zwischen Jesuiten und Dominikanern erbittert ausgetragenen Gnadenstreit vor sein Forum zog186. 188 F. X. Seppelt / G. Schwaiger, Geschichte der Päpste, 2V, München 1959, 232 239; Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, IV, 566, 570 - 573.

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Auf den beiden weltgeistlichen Professuren der theologischen Fakultät begegnen im späten 16. Jahrhundert tüchtige Männer, nach Georg Theander zunächst Rudolf Clencke (Clenck), Dr. der Philosophie und Theologie187. Er stammte aus Bremen und war lutherisch erzogen worden, hatte die Universi­ täten Wittenberg, Jena und Rostock besucht und war 1550 an der Univer­ sität Krakau mit der katholischen Lehre vertraut geworden. Im folgenden Jahr begleitete er den Prinzen von Litauen auf mehreren Reisen durch ganz Europa, zunächst nach Moskau, wo damals Iwan der Schreckliche regierte. Nach dem Studium der Rechte begann Clencke in Löwen das Studium der Theologie. Eine ganze Reihe lebender Sprachen war ihm ge­ läufig, dazu besaß er gute Kenntnisse im Griechischen, Hebräischen, Chaldäischen und Syrischen. 1563 wurde er in Ingolstadt zum theologischen Doktor promoviert188. Schon im folgenden Jahr wurde er erster Regens des Seminarium Willibaldinum in Eichstätt, dazu Domprediger. 1570 trat er als Ordinarius in die theologische Fakultät ein. Da er zugleich Regens des Georgianums war, erhielt er die gewünschte Zulage von 200 fl. Clencke übernahm die Vorlesungen der positiven Theologie (Dogmatik), bald auch die Casus conscientiae (Moraltheologie). Im Jahr 1576 sollte er noch einmal nach Moskau reisen, diesmal in Begleitung des Kardinal Giovanni Morone; doch kam diese Reise nicht zustande. Im Januar 1577 folgte er einem Ruf des Herzogs Erich nach Braunschweig, wo er übergroße Schwierigkeiten vorfand, aber schon am 6. August 1578 in Calenberg starb. Er hinterließ eine große Bibliothek, die er der Universität Ingolstadt vermachte. Im selben Jahr starb in Ingolstadt ein Priester, der in der kirchlichen Erneuerung Bayerns mit an erster Stelle zu nennen ist: Martin Eisengrein180. 187 Matricula Collegii Theologici I fol. 123 - 133, 197; Mederer I 319, II 34, 45-51; Prantl I 307, II 492; Schmid, Georgianum 95 f.; L. Pfleger, Rudolf Clenk, ein Ingol­ städter Professor des 16. Jahrhunderts (1528 - 1578), in: Historisch-Politische Blät­ ter 132 (1903) 45 - 58, 90 - 101; K. Schellhaß, Rudolf Clenck und die Gegenreforma­ tion in Braunschweig (1575 - 1578), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 16 (1913) 91 -142; LThK HI 986; 400 Jahre Collegium Willibaldinum Eichstätt. Hrsg, von den Professoren der Bischöfl. Phil.-theol. Hoch­ schule Eichstätt, Eichstätt 1964, 33 f., 36 f., 369, 374; E. Reiter, Martin von Schaum­ berg, Fürstbischof von Eichstätt (1560 - 1590), und die Trienter Reform, Münster i. W. 1965 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 91/92), 166 - 169, 348. 188 Matricula Collegii Theologici I fol. 106 f. (ausführliche Schilderung des Her­ gangs seiner Promotion, welcher sich die Jesuiten widersetzt hatten, durch den Dekan Theander); vgl. Prantl I 307. 189 Matricula Collegii Theologici I fol. 105, 114 f., 118, 125, 133, 197; Mederer I 267 - 272. Hier gibt Mederer (271) folgende Charakteristik des vortrefflichen Man­ nes: „Erat enim mira elegantia, et summa in dicendo suavitate praeditus; rarae prudentiae, ingenii rotundi, staturae denique heroicae, ut verissimum ilium Vergilii versum esse, saepe mihi im mentem veniret: Gratior est pulchro veniens e corpore virtus.“ Mederer II 36 -45; Prantl I 379; L. Pfleger, Martin Eisengrein, Freiburg i. B. 1910; LThK 2III 777; Reiter, Martin von Schaumberg 349; Spindler II 777.

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Auch er ist den großen Konvertiten in der theologischen Fakultät zuzurech­ nen. 1535 in Stuttgart aus vornehmer Familie geboren und evangelisch er­ zogen, widmete er sich den Studien in Tübingen, Ingolstadt und Wien. Als Professor der Universität Wien trat er 1558 zur katholischen Kirche über. Nach zwei Jahren empfing er die Priesterweihe. Kaiser Ferdinand I. schätzte ihn hoch, ließ ihn aber 1562 einem Ruf seines Schwiegersohnes Albrecht V. nach Ingolstadt folgen. Eisengrein wurde zum Pfarrer bei St. Moritz bestellt und als Professor in die theologische Fakultät aufgenommen, ohne förmlich Ordinarius zu werden. Schon 1562 wählte ihn die Universität, wohl unter dem Einfluß des Universitätssuperintendenten Friedrich Staphylus, zum Rektor190. Der hochgebildete Eisengrein entfaltete in den folgenden ein­ einhalb Jahrzehnten regsten Eifer als Kontroverstheologe, als Berater Kaiser Ferdinands I. und Herzog Albrechts V., als Seelsorger und Professor. Der Herzog schickte ihn 1564 nach Wien, um dort für die Gewährung des Laienkelches und der Priesterehe einzutreten. Der Herzog hatte, ähnlich wie Ferdinand I., diese Bitten schon kurz zuvor der KirchenVersammlung in Trient vortragen lassen, da er andernfalls noch größeren Schaden für die Kirche seines Landes befürchten mußte. Ein weiterer Auftrag des Herzogs führte Eisengrein 1566 nach Rom, um dort die Übertragung des Bistums Freising an Albrechts jugendlichen Sohn Ernst, den späteren Erzbischof von Köln, zu erlangen. In der Reichskirchenpolitik des Hauses Wittelsbach verbanden sich treue Kirchlichkeit und echtes Reformstreben mit dem ziel­ bewußten Ausbau der Machtstellung im Reich. Eisengrein wirkte als kaiser­ licher Hofprediger (1568/69), verfaßte später oft aufgelegte Predigtwerke, religiöse Bücher für das Volk und zahlreiche kontroverstheologische Schrif­ ten, in denen besonders seine Kenntnis der Kirchenväter ins Auge fällt. An den meisten kirchlichen Reformen Bayerns war er maßgeblich beteiligt, dabei wirkte er eher friedlich und versöhnlich als schroff polemisch. Der Herzog belohnte Eisengrein seine unermüdlichen Dienste auch durch die Verleihung der Propstwürde der Kollegiatstifte Moosburg und Altötting. Eisengrein setzte sich als Vizekanzler und Superintendent der Universität wiederholt nachdrücklich für deren Freiheit ein, auch gegen die wachsenden Ansprüche der Jesuiten, mit denen er im übrigen vielfach zusammenarbei­ tete. Als Dekan der theologischen Fakultät ließ er am 27. Juni 1568 in der Sitzung beschließen, daß künftig keiner, der nachweislich Konkubinarier sei, irgend einen theologischen Grad erhalten werde, selbst wenn er Dom­ prediger von Freising sei191. Eisengrein erscheint in allen Stadien seines 190 Mederer 1267. 191 „Conclusum enim fuit in hac eadem congregatione: I. Nulli, de quo constet quod sit concubinarius, imposterum aliquem in theologia conferendum esse

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Lebens als wahrhaftige, durch Klugheit und Sittenreinheit ausgezeichnete Persönlichkeit. Am 3. Mai 1578 ist er in Ingolstadt gestorben, allgemein ge­ achtet und betrauert.

An die Stelle Theanders wurde 1570, von der Artistenfakultät her, Albert Hunger192 in die theologische Fakultät gerufen, der 1599 in den Ruhestand trat. Nach Clenckes Weggang übernahm Bartholomäus Vischer193 1577 die Professur der Casus conscientiae und die Leitung des Georgianums, bis er 1584 als Generalvikar nach Regensburg gerufen wurde. Auf dem Lehrstuhl für Bibelexegese und als Pfarrer von St. Moritz entfaltete von 1578 bis zu seinem Tod (1584) der Konvertit Caspar Franck194 eine eifrige Wirksamkeit, als Lehrer vielfach anregend, und ausgezeichnet durch reiche literarische Tätigkeit. Er stammte aus dem Meißener Land, hatte in Wittenberg studiert und dann einige Zeit als lutherischer Prediger in der Reichsgrafschaft Haag gewirkt. Sein Übertritt zur katholischen Kirche kam unter dem Einfluß des Altöttinger Stiftspropstes Martin Eisengrein zustande. Franck war mit Kardinal Hosius von Ermland befreundet und erfreute sich hohen Ansehens. Seine zahlreichen Schriften rechtfertigen seine Konversion, setzen sich mit den lutherischen Theologen seiner Zeit auseinander und sind auch aszetischen Inhalts. Auf Empfehlung des Herzogs weilte einige Zeit der Franziskaner Gott­ fried Fabricius195, der aus den Spanischen Niederlanden kam, in der theo­ logischen Fakultät (1581). Die beiden weltpriesterlichen Lehrstühle erhiel­ ten 1584 der Engländer Robert Turner196, ein Flüchtling vor der Königin Elisabeth L, und der bedeutende Exeget Peter Stevart197 aus Lüttich (bis 1619). Turners Vorlesungen über die Casus conscientiae übernahm nach gradum. II. De concionatoris in cathedrali Frisingensi ecclesia, qui gradus petit, vita et moribus inquirendum esse, et si concubinarius esse deprehendatur, supplicationem eius locum non habere debere.“ Matricula Collegii Theologici I fol. 115. 192 Matricula Collegii Theologici I fol. 122 -171; Mederer I 319, II 177 - 179. Er starb am 11. Febr. 1604. Ein Verzeichnis seiner zahlreichen Schriften ebd. II 179. Prantl 1307, II492. 193 Matricula Collegii Theologici I fol. 144, 149; Mederer I 33 - 35, II 96 - 99; Prantl I 307, II 492; Schmid, Georgianum 96; G. Schwaiger, Kardinal Franz Wil­ helm von Wartenberg als Bischof von Regensburg (1649 - 1661), München 1954, 152 f. 194 Matricula Collegii Theologici I fol. 142 f., 145 - 149, 198; Mederer II 36, 84 -95; Prantl I 307, II492; LThK 2IV 249 f. 195 Mederer II 73-77; Prantl I 307 f. 198 Matricula Collegii Theologici I fol. 150; Mederer II 105, 108 f.; Prantl I 308, II 492 f.; Schmid, Georgianum 96; 400 Jahre Collegium Willibaldinum Eichstätt 34, 38, 369; Reiter, Martin von Schaumberg 171 - 173, 359. 197 Matricula Collegii Theologici I fol. 149- 167; Mederer II 84, 223 f., 240 f.; Prantl I 308, 405 f., II 497; 400 Jahre Collegium Willibaldinum Eichstätt 379; Reiter, Martin von Schaumberg 169 - 171, 358.

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wenigen Jahren Lorenz Eiszeph198, welcher 1590 als Weihbischof nach Eich­ stätt ging. Ihm folgte der Pfarrer an der Liebfrauenkirche Johann Riepel (1591 - 1600)199. Da nach dem Ausscheiden Hungers und Riepels zwei welt­ priesterliche Professuren frei standen, verwendeten sich Herzog Maximilian und der Senat für baldige Wiederbesetzung. Der Senat sprach sich dafür aus, daß künftig die beiden Stadtpfarrer (U. L. Frau, St. Moritz) stets zu­ gleich Professoren sein sollten; der Pfarrer an der Frauenkirche sollte zu seinen pfarrlichen Einkünften noch eine Zulage von 200 fl erhalten. Der abgedankte Herzog Wilhelm V. sprach damals den Wunsch aus, beide Stadt­ pfarreien mit den Lehrstühlen an Theologen aus dem römischen Collegium Germanicum zu übertragen. Doch die Räte Maximilians widersetzten sich dem, weil die aus dem Germanicum Kommenden meistens noch unreife Knaben seien. Es war wieder schwierig, weltgeistliche Professoren zu erhal­ ten. Die theologische Fakultät äußerte in dieser Zeit einmal, daß junge Lehrer noch nicht berühmt und die berühmten meistens bereits abgelebt sind200. Schließlich konnte Adam Gierick (Gerick)201, ein gebürtiger Preuße, gewonnen werden, der hohe und ungestüme finanzielle Forderungen erhob und bewilligt erhielt. Im Jahr 1607 bezog er als Professor 550 fl, was als ungewöhnlich hoch empfunden wurde. 1612 gab er seine Professur (Controversiae fidei) auf und ging als Generalvikar nach Eichstätt, wo er 1632 starb. Canisius hatte in den Vorschlägen, die sich Ende 1555 an die Beratungen über die Reform der Universitätstatuten anschlossen, die Forderung ange­ meldet, es solle ähnlich wie in Wien dem Universitätsrektor und Senat ein Superintendent beigegeben werden202. 1560 wurde der Konvertit Friedrich Staphylus aus Osnabrück, ein großer Freund der Jesuiten, als erster Super­ intendent vom Herzog eingesetzt. Es fiel auf, daß Staphylus als Verheirateter dieses hohe Amt erhielt, obwohl nach den Statuten von 1522 der Rektor unverheiratet sein mußte203. Er bekam zudem die Erlaubnis, auch theolo­ gische Vorlesungen halten zu dürfen204. Mit dem neuen Amt wurde ein 198 Matricula Collegii Theologici I fol. 153; Mederer II 107 f.; Prantl I 308, 405; Eubel III 273 (22. Januar 1590: Episcopus Philadelphien.); Reiter, Martin von Schaumberg 349. 199 Matricula Collegii Theologici I fol. 161, 164 f., 172 f.; Mederer II 124, 164; Prantl 1406. 200 Prantl 1406. 201 Mederer II181 - 183, 263 f.; Prantl 1406 f. 292 Prantl 1280. 203 Mederer I 262, 282 - 290; Prantl I 284 - 287; LThK 2IX 1019 (Lit.). 204 Der Dekan der theologischen Fakultät Georg Theander trug den ungewöhn­ lichen Fall in der Sitzung vor und schrieb nieder: „VI Calen. Junii [1560] clarissimus uir D. Fridericus Staphylus commendatus est nomine principis illustrissimi toti nostrae academiae, et omnium actionum inspector constitutus, comprimis uero philosophis et theologis iniunctum, ut si vel historias, et bonas disciplinas tradere, vel res theologicas publice docere uelit, libera ei potestas concederetur,

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ärgerliches Überwachungssystem eingeführt. In der Instruktion für Staphylus (15’61) ist von „zwen Studiosen“ die Rede, die als Aufpasser fungieren sollten205.1570 wurde Martin Eisengrein, Professor der theologischen Fakul­ tät und Vizekanzler, zum Inspektor bestellt, wie man nun den Superinten­ denten hieß, 1578 der weltgeistliche Theologieprofessor Albert Hunger. Die Universität reagierte, wieder vornehmlich über ihre wackeren Juristen, empfindlich gegen diese Aufpasserei, ohne aber damit die Inhaber dieses Amtes persönlich angreifen zu wollen. Man berief sich auf die Stiftungs­ privilegien. Herzog Maximilian sah sich schließlich zum Nachgeben ver­ anlaßt206.

Die Rechte der Jesuiten gingen ursprünglich nur auf zwei Professuren und auf Gymnasialunterricht in ihrem Kollegium207. Frühzeitig treten aber ihre Bestrebungen hervor, diese Position zu erweitern. Schon 1564 gelang es ihnen, zwei Lehrstühle der Artisten zu besetzen208. Auch ihre Wohnungs­ ansprüche suchten sie auf Kosten der Universität immer mehr auszudeh­ nen. Im Jahr 1571 übergab Albrecht V. das Pädagogium und den philoso­ phischen Cursus der Artistenfakultät den Jesuiten, vorläufig zur Probe auf ein Jahr209. Nach dem damaligen Brauch war beides vielfach beisammen. Von dort trat man in das Fachstudium über. Da der Zugang zur Universität noch nicht an ein Abiturientenexamen geknüpft war, trat das Bedürfnis auf, eine hinreichende humanistische Vorbildung zu schaffen. Das Pädagogium stand bisher unbestritten unter der Jurisdiktion der Universität. Aus dem Provisorium wurde ein Dauerzustand. Gymnasialunterricht und philosophi­ scher Cursus wurden nun nach der „Ratio studiorum“ der Jesuiten einge­ richtet. Es besteht heute wohl kein Zweifel, daß die Jesuitenschule der Frühzeit Vorbildliches geleistet hat, besonders auf der Stufe des Gym­ nasiums. Aber schon äußerlich war mit dieser Neuregelung den weltlichen Lehrern der Artistenfakultät eine Konkurrenz eingerichtet. Auch die Schüpraesertim cum etiam a Summo Pontifice doctor theologiae sit constitutus, et super ea re splendidum habeat Pontificis Maximi diploma. Quam rem cum ego ad collegium theologicum referrem consultandi causa, ne si maritus contra facul­ tatis priuilegia res theologicas tractaret, male audiret schola nostra, domini theologi, quando ita placeat principi, adsensum [statt des gestrichenen consensum] praebuerunt, tametsi valde grauato animo. Georgius Theander Decanus.“ Matri­ cula Collegii Theologici I fol. 100. — Staphylus war 1559 mit päpstlicher Dispens (weil Laie und verheiratet) zum Dr. theol. promoviert worden. LThK 2IX 1019. 205 20. Januar 1561; Prantl II Urk. Nr. 74. 206 Prantl I 287 - 293. 207 Zum Folgenden Prantl 1226 - 275. 208 Mederer I 280. 209 Schreiben Albrechts V. an den Ordensgeneral Franz Borgia (1571) u. „Fürst­ licher Recess, den Cursum Philosophicum und das Paedagogium betreffend“ (1571) bei Mederer IV 324 - 333.

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ler zeigten sich keineswegs nur begeistert. Die Klagen über die Jesuiten häuften sich, und zwar von verschiedenen Seiten. Schon 1571 schrieb die Universität an den herzoglichen Kanzler Simon Thaddäus Eck, das Streben der Jesuiten richte sich darauf, die ganze Artistenfakultät zu gewinnen210. Gegen Ende des Jahres stellte der Ordens­ provinzial Paul Hoffaeus211 derartige Forderungen, daß die Universität in ihrem Bestand ernsthaft gefährdet erscheinen mußte. Unter anderem ver­ langte er Befreiung von der Eidleistung, die Majorität der Jesuiten in der Artistenfakultät, Übertragung der Coerzitiv-Jurisdiktion über ihre Schüler an den Orden; der Besuch der Senatssitzungen müsse dem Belieben der hierzu berechtigten Jesuiten oder der Anordnung des Ordensoberen über­ lassen bleiben. Von der „Verworfenheit“ der juristischen Studenten fürch­ tet Hoffaeus arge Verderbnis der Universität. Er fordert energische Ab­ hilfe, da der Orden nicht nur gemietete Lohndiener zur Lehrtätigkeit stellen will, sondern weit höhere Aufgaben übernommen hat212. Die Jesuiten ver­ langen Änderung und Reinigung verschiedener Statuten der Universität und befürchten sogar, daß in der amtlichen Befugnis des Bischofs von Eich­ stätt als Universitätskanzlers möglicherweise ihren Privilegien eine Gefahr drohe. — Einzelne Punkte des Hoffaeus wurden von den herzoglichen Räten berichtigt, modifiziert, aber die Majorität in der Artistenfakultät wurde eingeräumt213. Von da konnte es bis zur völligen Verdrängung der nicht­ jesuitischen Magistri nicht mehr weit sein.

In den Streitigkeiten griff vor allem der Professor Nikolaus Everhard214, ein hochangesehenes Mitglied der juristischen Fakultät, immer wieder zur Feder, um die Universität zu verteidigen und unrechte Angriffe zurückzu­ weisen. Ende Januar 1572 verfaßte er eine geharnischte Denkschrift für 210 9. Febr. 1571. Prantl I 236. 211 Text bei Prantl II Urk. Nr. 89, dazu Prantl I 237. 212 „Nisi maior adhibeatur cautela, quam hactenus, magnam pravitatem morum importabunt scandalosi et dissoluti illi studiosi iuris in facultatem theologicam et artisticam, habebiturque sicut ante ita etiamnum et mater omnis corruptelae potius, quam ingenuae disciplinae cultrix et amatrix; quam ob rem, ne cum ea iuventute, quae nostrae fidei credetur, propter iuristarum corruptiones paene insanabiles oleum et operam perdamus ac ne societas quoque pessimae opinioni et infamiae involvatur, scire sane cupimus, an et qua magis seria magisque efficaci cura et industria huic tanto malo remedium prospicietur... ; neque enim decet societatem nostram, ut neglecto fructu principali (quem pro instituti sui ratione seu scopum spectare et sollicite quaerere debet, quique consistit in Christiana pietate morum cultuque et honore creatoris) tantum de profitendi munere sit sollicita ethnico et mercenariorum more potius quam christiano.“ Prantl II Urk. Nr. 89, Punkt 17. 213 Albrecht V. an den Ordensgeneral (18. Februar 1572): Prantl II Urk. Nr. 92. 214 Nikolaus Everhard junior, Kanonist, geb. 1537, gest. 1586. Prantl I 313, II493.

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die Landesregierung215, die durch den Vizekanzler, den Professor der Theo­ logie Martin Eisengrein, nach München geleitet wurde. Everhard stellt fest, daß die Jesuiten offenbar den Ruhm der Jugenderziehung für sich allein beanspruchen wollen, daß Rektor und Professoren nur mehr als ihre Büttel und Schergen fungieren dürfen. Das Ganze sei auf das Verderben der Universität gerichtet. Stets führen die Jesuiten die Ehre Gottes im Mund und rufen „scandalum, scandalum“, bis nach Rom, auch wenn die Universität nur in Notwehr handelt, wie sie tun muß, wenn ihre Jurisdiktion geteilt und die eine Hälfte abgetreten werden soll. Was den verweigerten ProfessorenEid betrifft, so möge jedenfalls am Amtsgeheimnis festgehalten werden. Daß jene Leitungsgewalt (potestas gubernandi) der Jesuiten im Pädagogium und im Cursus, die sich bis zur körperlichen Züchtigung erstreckt, unter dem Namen einer Jurisdiktion ausgeübt wird, sei ebenso unwürdig wie un­ erhört. Jede Strafe, die über mündlichen Verweis oder Verweigerung der Promotion hinausgeht, könne nur von der akademischen Obrigkeit verhängt werden. Die Coerzitiv-Jurisdiktion der Jesuiten nennt Everhard eine Schmach für die übrigen Fakultäten und für die ganze Universität. Das Aufsichtsrecht über das Pädagogium muß dem Senat gewahrt bleiben.

In diesen Auseinandersetzungen war hauptsächlich die Artistenfakultät betroffen, nicht so sehr die theologische. Die Verhandlungen gingen hin und her. Entschieden legten Rektor und Senat am 10. Februar 1572 in einem Schreiben an die herzoglichen Räte ihre Auffassung dar: Schuld an den be­ ständigen Zänkereien tragen die Jesuiten als die Angreifer. In München reden die Jesuiten anders, als sie in Ingolstadt handeln; in summa: es gelte, daß nicht aus der freien Universität selbst ein Jesuitenkollegium werde216. Von einsichtigen Leuten wurde dieser Sachverhalt auch innerhalb der Gesellschaft Jesu selber bestätigt. Der Jesuit Peltanus, Professor der theo­ logischen Fakultät, schrieb am 15. März 1572 an Pater Nadal: „Es scheinen in der Tat die Unsrigen ohne alle Not zu viele Ausnahmen, Immunitäten und Freiheiten zu beanspruchen; denn darum scheint es sich bisher zu handeln, daß alle unter uns stehen, über uns aber niemand. Das erweckt einen bösen Schein und macht uns innerhalb und außerhalb Bayerns verhaßt und lächer­ lich. Deshalb meine ich, man solle nicht auf Dingen bestehen, die niemals in Frieden und Eintracht erlangt werden ... Dies ungestüme Drängen hat darin seinen Grund, daß man hier Ordnung und Weise der Dillinger Schule ein­ richten will. Das ist aber töricht, da die Unsrigen hier nicht die ganze Akade215 Prantl II Urk. Nr. 90, dazu Prantl 1241 f. 216 Prantl I 244 f.

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mie innehaben wie in Dillingen, sondern nur einen kleinen Teil, und diesen noch zugleich mit andern auswärtigen Kollegen217.“ Im Jahr 1573 kam es zu neuem schwerem Streit zwischen Senat und Jesuiten wegen der Anstellung des Professors Martini in der Artistenfakul­ tät. Die Jesuiten erhoben Protest. Es kam zum vollen Bruch. Die Jesuiten zogen sich aus der Artistenfakultät völlig zurück, verlegten ihr Pädagogium und den philosophischen Cursus nach München, verblieben aber in der theo­ logischen Fakultät. Albrecht V., der eben das Jesuitenkollegium in Ingolstadt errichtete, zeigte sich sehr ungnädig. 1576 kehrten sechs Jesuiten nach Ingol­ stadt zurück und übernahmen wieder Pädagogium (3 Professoren) und Ar­ tistenfakultät (3 Professoren). Nun wurde das neuerbaute Kolleg bezogen. Rechte und Pflichten der Jesuiten gegenüber der Universität wurden vom Herzog neu umschrieben. Herzog Albrecht hatte das Jesuitenkolleg für sieb­ zig Ordensmitglieder zum Studium der Theologie, der Philosophie und der freien Künste gestiftet. Er stellte ein jährliches Einkommen von 4000 fl bereit218. Die Vorliebe Herzog Wilhelms V. des Frommen (1579 - 1598)219 für die Ge­ sellschaft Jesu verstieg sich gelegentlich bis zur Devotion. In München er­ stand das prächtige Jesuitenkollegium mit der riesigen Michaelskirche. Man redete, es sei jetzt gefährlicher, über den Pfortenbruder der Jesuiten etwas zu sagen als über den Herzog selbst220. Unter diesem Schutzpatron gingen die Jesuiten daran, die ganze Artistenfakultät in Ingolstadt in ihre Hand zu bekommen, obwohl sich die Universität hart dagegen wehrte. Ein Anlaß fand sich, als die drei weltlichen Magistri der Artisten gegen die Mehrheit der Jesuitenprofessoren einen Eichstätter Professor zum Magister promo­ vierten. Der Herzog setzte die drei weltlichen Professoren ab und übertrug die Neubesetzung dieser Stellen an den Jesuitenprovinzial221. Eine landes­ herrliche Verordnung vom 27. Januar 158 8222 übergab schließlich in aller 217 Duhr I 274. Die fürstbischöflich-augsburgische Universität Dillingen war 1563 den Jesuiten übergeben worden. A. Bigelmair / F. Zoepfl, Stadt und Univer­ sität Dillingen, Dillingen 1950; LThK 2III 391 - 393; K. Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen, Neustadt a. d. Aisch 1967, 88 f. (Dillingen). 218 Prantl I 256 - 262; Stiftungsbrief Albrechts V. für das Jesuitenkollegium (München, 20. Dez. 1576) bei Mederer IV 346 - 353. 219 Spindler II 351 -363. 220 Brief des Vizekanzlers Martin Eisengrein an den herzoglichen Kanzler Simon Thaddäus Eck, 4. Febr. 1572. Prantl 1243. 221 Prantl 1264 - 268. 222 „Privilegium oder Befehl an die Universität Ingolstatt. Dass die Patres S. J. daselbst Artisticam Facultatem ohne einige Ergezung umsonst lesen und verwalten sollen. Allein solle der Universität die Unterhaltung der Häuser, Holz, Prämien, eines Famuli zum Läuten und Auskehren etc. obligen.“ Text bei Mederer IV 360 - 364.

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Form die ganze Artistenfakultät „auf ewige Zeiten“ ausschließlich der Ge­ sellschaft Jesu. Der Herzog führte dabei die Sorge um die katholische Reli­ gion an erster Stelle an. Es sei notwendig, daß diese Fakultät als Fundament aller anderen gut bestellt sein müsse und daß dies nur durch die Jesuiten erreicht werden könne. Doch damit hatten die Streitigkeiten der Universität mit den Jesuiten — eines der unerfreulichsten Kapitel der älteren Universitätsgeschichte — kein Ende gefunden. Im Interesse des Friedens und des Ansehens der Gesell­ schaft Jesu griff unter Herzog Maximilian (1598 - 1651) sogar der Ordens­ general Acquaviva mit mehreren energischen Mahnschreiben ein. Am 12. Ok­ tober 1613 schrieb er an den Provinzial Hartel: Die Unsrigen zu Ingolstadt verhandelten mit den Akademikern zu schroff, ja nicht selten in einer unhöf­ lichen, zuweilen scharfen und zu wenig bescheidenen Weise. In einer neuer­ lichen Mahnung (vom 22. März 1614) heißt es: Der Provinzial soll solche Ausschreitungen bestrafen und an den Tag legen, daß die Oberen „mit den hartnäckigen Leuten nicht übereinstimmen“. Acquaviva weist auf die Tu­ gend der Demut hin (10. Mai 1614), die von den Ordensmitgliedern zu üben sei: Das erwarten und fordern auch die Räte des Herzogs. „Immer wieder ent­ stehen neue Schwierigkeiten, weil einige der Unseren zu viel fordern und zu wenig nachgiebig sind. Wäre doch der Streit nie angefangen worden oder würde er wenigstens so beendigt, daß die Erbitterung gegen die Gesellschaft beigelegt und die Einbuße an dem guten Rufe der Gesellschaft und an dem Wohlwollen gegen sie wieder wettgemacht werden könnte223.“

Im Unterschied zur Eroberung der philosophischen Fakultät ist den Jesuiten die volle Übernahme der theologischen Fakultät nicht gelungen, obwohl offensichtlich derartige Befürchtungen nicht völlig grundlos er­ schienen. Eisengrein, der den Jesuiten in der gemeinsamen Arbeit eng ver­ bunden und auch mit Canisius befreundet war224, urteilte 1571 über die Jesuiten, nachdem sie eben das Pädagogium und den philosophischen Cursus an sich gebracht hatten, mit spürbarer Bitterkeit: Es bestehe die Gefahr, daß der eine Teil der Universität den anderen unter die Bank schiebe; die „Tyrannis“ der Jesuiten sei mit Recht Gegenstand allgemeiner Befürchtung; nicht bloß die Häretiker, sondern auch Katholiken würden in Zukunft Ingol­ stadt meiden. Der Herzog meine zwar nicht so, aber die Jesuiten wüßten, was sie wollten225. Wiederholt hat sich der Theologe Eisengrein als Vize­ 223 Duhr 11/1,563 -565. 224 Vgl. Duhr 187. 225 Eisengrein an Simon Thaddäus Eck, 4. Febr. 1572. Am Schluß fügt Eisengrein die bezeichnende Bitte an, Eck solle den Brief vernichten. Prantl I 243.

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kanzler und Superintendent in diesen Jahren bei der Landesregierung für die alten Rechte der Universität und gegen die Machtgelüste der Jesuiten einsetzen müssen, offensichtlich in bestem Einvernehmen mit der juristischen Fakultät. Einer Aufforderung des Herzogs nachkommend, gaben Rektor und Senat am 21. Februar 1572 ihre Meinung über Pädagogium und Cursus kund. Dabei weisen sie in ihrem Schreiben an die herzoglichen Räte Eck, Hund und Perbinger vorsorglich auf eine neu auftauchende Gefahr hin: Man habe in Erfahrung gebracht, daß die Jesuiten, die überhaupt alles an sich ziehen und beherrschen wollten, sich jetzt auch um die Leitung und Ver­ waltung des Georgianums bewerben. Die Universität weist auf die schlechte Behandlung hin, die Knaben im Pädagogium der Jesuiten an Körper und Geist erfahren hätten. Man habe aus diesen Gründen ihnen untersagt, wei­ tere Schüler anzunehmen. Auch wenn bei ihnen alles gut bestellt wäre, dürfe man sie nicht durch die Übergabe des Georgianums zu Herren der Universität machen; es gebe zudem viele andere, welche sich auf die Leitung dieses Hauses besser verstünden als die jesuitischen einseitigen Thomisten und Scholastiker, denen es ein Dorn im Auge sei, wenn ein Weltpriester gut zu predigen verstünde. Niemand würde mehr für das Georgianum unter jesuitischer Leitung ein Stipendium stiften. Von Früchten des Cursus spüre man nichts, seit er den Jesuiten anvertraut sei; die Lehrer wechselten dort jeden Augenblick, und jeder diktiere immer nur, was er einmal irgendwo in Italien nachgeschrieben habe226. In einem privaten Schreiben an Simon Thaddäus Eck (vom 22. Februar 1572) verlieh Eisengrein den Darlegungen der Universität noch verstärktes Gewicht. Er gab dabei zu verstehen, wie sehr die Besorgnis in Ingolstadt verbreitet sei, daß die Jesuiten die ganze theologische Fakultät an sich reißen und die Jurisdiktion der Universität abschütteln wollten227. Um das Georgianum dem drohenden Zugriff der Jesuiten zu entziehen, hat es der Senat schrittweise aus der Jurisdiktion der Artistenfakultät gelöst. 1593 wurde es endgültig in die Obhut des Senats gegeben228.

In den ärgerlichen Streitigkeiten spielten gewiß auf allen beteiligten Seiten Voreingenommenheit, Leidenschaft und wohl auch Eitelkeit ihre Rolle. Im Hintergrund stand aber eine tiefgreifende Umschichtung des Bil­ dungswesens überhaupt. Betroffen war in erster Linie die Artistenfakultät, aber die drei anderen Fakultäten, besonders die theologische, wurden not­ wendig hineingezogen. Es ging nicht nur um den Streit der „Alten“ mit den „Neuen“, der in jeder Epoche in irgend einer Form ausgetragen werden 226 Prantl 1248 f. 227 Ebd. 249. 228 Ebd. 260,436,445.

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muß. 1536 taucht zum erstenmal in Ingolstadt der Begriff „magister philosophiae“ statt „magister artium“ auf229. 1562 erscheint die Artistenfakultät den alten „höheren“ Fakultäten gleichgeordnet230. Die Fakultät wurde fort­ schreitend erweitert. Von der Alleinherrschaft der Dialektik weg ging die Entwicklung mehr zu den Einzeldisziplinen hin, bis allmählich eine philoso­ phische Fakultät im modernen Sinn Gestalt gewann. Mit den Jesuiten setzte eben auch eine neue Unterrichtsmethode ein. Die seit dem Hochkommen des Humanismus eingebürgerten Fächer wie Rhetorik, Poesie und Humanität wurden jetzt großenteils in das vorbereitende Gymnasium verwiesen, das sich aus dem Universitätsverband löste und auch lösen mußte. Mit der „Ratio studiorum“ der Jesuitenschule, die 1599 ihre endgültige Gestalt erhielt, be­ gann auch für die philosophische und theologische Fakultät in Ingolstadt eine neue Epoche des Unterrichts, wie des ganzen Erziehungswesens. Alle Theologiestudenten mußten ja zuerst eine philosophische Ausbildung durch­ laufen.

Die „Ratio studiorum“ enthält genaue Vorschriften für den Ordensprovin­ zial, für den Rektor und die Studienpräfekten eines Kollegs, dann auch Einzelanweisungen für die Professoren und Studierenden. Die Disziplinen jeder Fakultät werden ebenso festgelegt wie der Stundenplan, die Text­ bücher und die Methode des Unterrichts. Dabei sind die Eigentümlichkeiten der Pädagogik des italienischen Humanismus mit der spanischen theologi­ schen Reform des 16. Jahrhunderts und der praktischen Methode von Paris vereint. Darin spiegeln sich völlig die Frühzeit des Jesuitenordens und die Erfahrung der Ordensmitglieder dieser Periode. Die Unterrichtsmethode besteht in der Vorlesung (praelectio), der Wiederholung (repetitio), der Dis­ putation (disputatio), dann in lateinischen oder auch griechischen Stilübun­ gen (compositio) und in der „Akademie“ (academia), in der eine Gruppe ausgewählter Schüler unter Leitung eines Professors literarische oder wis­ senschaftliche Übungen abhält. In den ersten Kursen des Unterrichts steht der klassische (christliche) Humanismus im Vordergrund. Darauf folgt der Aristotelismus in der Philosophie und der Thomismus in der Theologie, jedoch mit biblischer und positiver Ausrichtung. Ein wesentlicher Bestandteil des jesuitischen Unterrichts ist, daß die Professoren nicht nur Dozenten, son­ dern gleichzeitig Erzieher sind. Deshalb müssen sie mit jedem einzelnen Alumnen in Verbindung bleiben. Die religiöse Erziehung und bestimmte Frömmigkeitsformen sind dabei vornehmlich zu pflegen und im einzelnen vorgeschrieben. Für Fehler sind Strafen vorgesehen. Der Eifer der Schüler 229 Ebd. 205. 230 Ebd. 321; vgl. Seifert 164 - 166.

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soll durch öffentlichen Wettbewerb und durch Preisverteilungen angespornt werden231. Dieses System blieb bis zur Aufhebung des Jesuitenordens für die philo­ sophische und theologische Fakultät weitgehend bestimmend. Neben den unbestreitbaren Vorzügen traten auch die Schwächen frühzeitig zutage. Die überwachten Tugenden der Demut, des Gehorsams, des Verzichtens, der Abtötung und der „Frömmigkeit“ haben manchem jungen Menschen früh­ zeitig das Rückgrat gebrochen und ihm jede Lebensfreude genommen. Aufs Ganze betrachtet sind die größten wissenschaftlichen und humanitären Lei­ stungen der Neuzeit weniger aus solchem Geist als vielmehr aus der freien Initiative des Geistes — mit all seinen Höhen und Tiefen— hervorgegangen.

Die „Reformation“ von 1555 hat in der theologischen Fakultät keine we­ sentliche Statutenänderung als nötig erscheinen lassen; doch wurde der Wunsch ausgesprochen, die lange Dauer des theologischen Studiums etwas abzukürzen232. In der Fakultät wurde 1565 beschlossen, daß die Bedingung 231 G. M. Pachtler, Ratio studiorum et institutio schol. Societatis Jesu, 4 Bde., Berlin 1887 - 1894; J. B. Herman, La pedagogie des Jesuites au XVIe siede, Louvain 1914; R. Garcia Villoslada, Storia del Collegio Romano, Rom 1954, 96 - 115; Hand­ buch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, IV, 596 - 599. 232 Prantl II Urk. Nr. 71 (S. 201 f.): „Der theologen facultet betreffendt, ist unser will und meinung, das derselben facultet sovil müglich wider auffgeholffen werde, wie wir dann im werckh seinnd, gelertte und ansechenliche theologos in merer anzal zu vilgedachter unser universitet zubrinngen und als dann dieselb facultet in ein bessere Ordnung zurichten; mittler zeitt aber sollen die jetzt bestellten doctores ire lectiones mit vleiss verrichten, die auditores mitt schuldigen treuen underweisen, auch iren wanndel, wie inen irer profession und dem priesterlichenn standt nach one das und merers als andern gebürtt, dermassen anstellen, damitt sy den nutz, so sy mitt der doctrin schaffen mügen, mitt dem ergerlichen un­ priesterlichen leben und exempel nit verderben, dann wir nit gesinnet, bei inen verer einige offenliche ergernuss und leuchtfertigkheit zugedulden. Es möchte auch nit unrathsam sein, daß die auditores theologiä an etlichen festen in den kirchen dess newen und altten collegii von gaistlichen und theologischen Sachen orationes seu collationes ut vocant hieltten. Alda möchten auch die, so in ordinibus und dessen secundum canones befuegt sein, je zuzeitten, wan gemeine festa collegii, daran man sunsten in der Pfarrkirchen nit pflegt zupredigen, deut­ sche predigen thun, dabey die professores und andere auditores theologiä jeder zeitt erscheinen, einen jeden in dem allen vleissig underrichten und lernen sollen. Item do sy einen oder mehr under iren auditorn sovil geschickht sein befinnden, das die zu regierung der pfarren, seelsorg und verkhundigung dess wortt gottes zugebrauchen, sollen sy uns dieselben, ob sy schon den gradum doctoratus nit erraicht, jeder zeit anzeigen, damitt wir sy alsdann in unserm lanndt verrer be­ fördern und versechen mögen. Fürs letzt nach dem bissanher das gar lanngsam und verzügig procediren in disem studio vilen grossen abscheuchen gemacht und auf andere universiteten zuziechen und sich promoviren zulassen, verursacht hatt, sollen die von der facultet solche zeit pro completione studii theologici, sovil sich nach gelegenheit dasselben will thun lassen und sy bisher im gepreuch gehabt, verkhürtzen oder doch in solchen mit den promovenden altten gebrauch nach dispensiren.“ — Zur Reform von 1555 Seifert HO -123. — Lateinische Fassung der Reformstatuten (1562) bei Mederer IV 295 -317. Hier zu den theologischen Vorlesungen (p. 301): „Omnino

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der Zulassung zum Baccalaureat in der Regel ein fünfjähriger Besuch der Vorlesungen sei, aber unter keinen Umständen dürfe mit der Dispens unter ein dreijähriges Studium heruntergegangen werden. Der Besuch der Vor­ lesungen ist durch ein Zeugnis aller Professoren oder durch eidliche Aussage zweier Mitstudenten nachzuweisen. Der Fakultät obliegt auch die Zensur an der Universität. Diese wird bei deutschen Druckschriften von den Professo­ ren Theander und Eisengrein, bei lateinischen von den Jesuiten besorgt. Die vom Herzog vorgeschriebene Büchervisitation bei den Buchhändlern nimmt der Dekan mit einem der beiden Stadtpfarrer (Liebfrauenkirche, St. Moritz) vor. Über die Fakultätskasse wird jährlich Rechenschaft abgelegt. Die Pro­ motionsgebühren sind nun erheblich gestiegen. Bei der Zulassung muß der Kandidat 18 fl für die Fakultät und die Professoren geben, außerdem für jeden Professor ein Pfund Zucker. Bei den Vesperiae hat er ein Frühstück, bestehend aus Zuckerwerk und süßem Wein, zu liefern. Bei der Doktor­ promotion bekommt jeder Professor der Fakultät ein Barett und Hand­ schuhe — Handschuhe stehen auch allen übrigen anwesenden Professoren und Gästen zu. Auch hat der Kandidat 12 Fackeln für den Gottesdienst anzu­ schaffen. Einzuladen sind sämtliche Professoren der Universität, einige Räte des Herzogs und des Ingolstädter Magistrats, auch einige Jesuiten und Fran­ ziskaner der Stadt. Der Kandidat trägt auch die Druckkosten seiner Disser­ tation und die üblichen Honorare für den Notar und Pedell der Universität, für Mesner und Ministranten233. Die Promotion wurde damit eine ziemlich kostspielige Angelegenheit.

Aus dem gedruckten Vorlesungsverzeichnis vom Jahr 157 1234 geht hervor, daß der theologische Unterricht damals in zwei Gruppen geteilt war: Bibel­ wissenschaft und sogenannte gymnastische Theologie. Die Biblica werden durch zwei Professoren vertreten. Der eine liest über Teile des Alten Testa­ ments und schickt dabei für Hörer, die das Studium rascher abschließen wollen, einen knappen enzyklopädischen Überblick der ganzen Theologie voraus. Der andere behandelt Schriften des Neuen Testaments und knüpft an einzelne Textstellen auch dogmatische Kontroversen an. Die „gymna­ stische Theologie“, die Erklärung der scholastischen Autoren, ist drei Pro­ volumus ac statuimus, ut in posterum lectiones theologiae ad minus duae quotidie habeantur, quas theologi requisita industria ac debita fide suis auditoribus explanent...“ Zu den Reformen 1560 - 1562, unter dem Einfluß des „inspector“ Staphylus, s. Seifert 123 - 128. 233 Prantl 1302 f. 234 Ordo studiorum et lectionum in quatuor facultatibus apud celeberrimam academiam Ingolstadiensem authoritate et decreto serenissimi ac illustrissimi principis ac domini domini Alberti comitis palatini Rheni ac utriusque Bavariae ducis etc. renovatus et publice propositus sub initium huius anni 71 Ingolst. ex officina Weissenhorniana. 1571. 6

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fessoren der Fakultät übertragen, darunter die beiden Jesuitenprofessoren der Fakultät. Zwei Professoren teilen sich in die Summa des Thomas von Aquin, der dritte behandelt das dritte Buch der Sentenzen des Petrus Lom­ bardus (Inkarnations- und Gnadenlehre). Einer der fünf Professoren erklärt an Sonntagen und Vakanztagen privatim die wichtigsten Sätze des Kirchen­ rechts. Die Kandidaten müssen sich häufig in lateinischen und deutschen Sermones und Predigten üben. Ein Lehrplan der Fakultät von 1575 führt nur einen Professor der Bibel auf; seine Vorlesungen sind, zwischen Altem und Neuem Testament wechselnd, auf den ganzen achtjährigen theologischen Kurs verteilt. In der scholastischen Theologie ist der Sententiarius entfallen, die drei Professoren beschäftigen sich fortan ausschließlich mit Thomas von Aquin235. Mehrmals wurde die Fakultät in dieser Zeit vom Herzog um Gut­ achten oder Stellungnahmen in Religionsangelegenheiten gebeten236.

Herzog Wilhelm V. der Fromme (1579 - 1598) hat der Universität und be­ sonders dem Jesuitenkolleg in beträchtlichem Umfang zusätzliche Einkünfte gesichert, unter anderem durch Überlassung verödeter Stifte und Klöster (Biburg, Münchsmünster, Schamhaupten)237. Er übergab den Jesuiten Haus und Garten, wo sie bisher gewohnt hatten, und das neuerbaute Kollegium S. Ignatii Martyris als freies Eigentum. Dieses Seminar war 1585 als theolo­ gische Bildungsstätte der bayerischen Stifte und Klöster gegründet und den Jesuiten unterstellt worden. Aber ein großer Teil der bayerischen Prälaten schickte niemanden dorthin oder zog die Konventualen bald wieder zurück. Im Jahr 1'600 stiftete der Regensburger Dompropst Quirinus Leoninus auf eigene Kosten in Ingolstadt das Seminarium Clericorum Sancti Hieronymi, das als tridentinisches Seminar, vornehmlich für Kandidaten aus Ober­ deutschland, gedacht war und ebenfalls den Jesuiten anvertraut wurde238. Der junge Herzog Maximilian von Bayern (1598 - 1651), der mit dem späte­ ren Kaiser Ferdinand II. in Ingolstadt seine Ausbildung erhalten hatte239, zeigte sich den Jesuiten bei aller Verbundenheit nicht in gleicher Weise nach­ giebig wie sein frommer Vater. Er nahm sich der Universität nachhaltig an und förderte sie in vielfacher Weise. Gelegentlich boten auch unfleißige Pro­ fessoren zu Beanstandungen Anlaß. Besonders ging es ihm um das Ansehen 235 „Professores theologi cursum theologicum coeperunt hoc anno [1575] secun­ dum D. Thomae Summam docere.“ Mederer II 26. In diesem Jahr traten die Jesuiten Gregor von Valencia und Lucas Pinellus in die theologische Fakultät ein. Ebd. 16 f. 236 Prantl 1303 f. 237 Riezler, Geschichte Baiems VI263 f.; Prantl 1349. 238 Prantl 1352 f. 239 Matricula Collegii Theologici I fol. 153, 155, 157; Mederer II 105, 118, 125; Prantl 1378 - 380.

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der juristischen Fakultät. Er wollte offensichtlich nicht seine Landesuniver­ sität mit den Jesuiten-Universitäten von Dillingen und Graz auf eine Stufe gestellt wissen, was immer wieder als Befürchtung laut geworden ist. Profes­ soren und Studenten der juristischen Fakultät setzten den Neuerungen und Ausweitungstendenzen der Jesuiten nicht ohne Erfolg harten Widerstand entgegen, gewöhnlich im Bund mit den weltpriesterlichen Professoren der theologischen Fakultät. Gegen ständige Verunglimpfungen ihrer Fakultät durch einzelne Jesuiten richteten am 28. März 1610 die „reiferen Studenten“ der Jurisprudenz eine Eingabe an den Senat, dessen Mitglieder sie ihre wah­ ren Väter (vere patres) nannten240. Darin beklagen sie sich, daß ihre Fakultät von Jesuiten unaufhörlich als Jugendverführerin geschmäht werde, daß Pater Sebastian Heiß die Juristen öffentlich mit Schweinen und Ochsen ver­ glichen und Pater Mayrhofer in einer Predigt die Jura-Studenten „filios perditionis et diaboli“ genannt habe. Die Jesuiten verbieten ihren Studenten den Besuch juristischer, sogar kanonistischer Vorlesungen. Sie haben Auf­ passer, denen sie dann zur Belohnung „Bildlein“ schenken, und wer bei den Franziskanern beichtet, wird exkludiert. Ihre Philosophie ist für Juristen und Mediziner unbrauchbar. Untersuchungen des Senates ergaben, daß die Kla­ gen der Studierenden nicht unbegründet waren. Die Jesuiten setzten sich zur Wehr. Sie brachten vor, die Studenten, besonders die Juristen, seien ihnen feindselig gesinnt, und nachts würden ihnen beständig mit Geschrei die Fenster eingeworfen. Selbst in Städten der Häretiker, wie Augsburg, Re­ gensburg, Speyer, Hagenau und Worms, seien die Ordensmitglieder weit weniger Unbill ausgesetzt als im katholischen Ingolstadt. Jesuitenschüler würden von den anderen Studenten bei Promotionsakten und anderen An­ lässen mit Geschrei und Stampfen, mit „Rauschen“ und „Ausrauschen“ emp­ fangen, und durch das Gejohle der Pandektisten werde jedesmal morgens um sieben Uhr die Messe in der Katharinenkirche gestört. Ein Student der Jurisprudenz habe zu Pater Jakob Gretser sogar gesagt, „seitt der teuffel die jesuiter hab gen Ingolstatt bracht, sey kein glückh mehr da, sey auch nichts zu winschen, alss das eben der teuffel sye wider hinweckh führ“. Der ärger­ liche, mit Gift auf beiden Seiten geführte Zank machte wieder einmal deut­ lich, daß sich die Jesuiten eben nicht in das Rechtsgefüge der Universität einfügen wollten, sondern sich gleichsam als Staat im Staate verstanden. Nach langen Konferenzen und Beratungen sicherte schließlich ein Entscheid Herzog Maximilians vom 19. September 1613 der Universität im wesent­ lichen ihre herkömmlichen Rechte241. 240 Prantl II Urk. Nr. 130. 241 Prantl I 353 - 374, 383 - 391. 6*

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Im Jahr 1605 hat die theologische Fakultät eine Neufassung ihrer Sta­ tuten (Promotionsordnung) beschlossen242. Die wichtigsten Bestimmungen sind folgende: Vorbedingung jeder Art von Promotion — von begründeten Ausnahmen abgesehen — ist, daß der Kandidat den philosophischen Kurs durchlaufen und den philosophischen Magistergrad erworben hat. Um baccalaureus biblicus zu werden, ist ein zweijähriger, um baccalaureus formatus seu sententiarius zu werden, ein dreijähriger Besuch der theologischen Vor­ lesungen verlangt. Jedem der beiden Baccalaureate muß eine öffentliche Thesenverteidigung oder ein einstündiges Examen vorausgehen. Die Lizen­ tiaten- oder Doktorwürde kann erwerben, wer nach dem philosophischen Kurs volle vier Jahre theologische Vorlesungen gehört und dann öffentlich Thesen verteidigt oder sich zwei Stunden lang aus dem Gesamtgebiet der Theologie prüfen läßt. Bei fremden Kandidaten muß sich der Dekan beson­ ders sorgfältig über Wissen und Lebenswandel vergewissern. An Gebühren zahlt jeder Baccalaureus 15 fl. Der Lizentiat gibt 18 fl an die Fakultät, dazu jedem Professor der Fakultät ein Pfund Zucker. Am Promotionstag trägt er die Kosten einer Messe mit Opfergaben, die Kosten für die herkömmlichen „bona nova“ mit süßem Wein und Zuckerwerk im Universitätsgebäude, dann die Aufwendungen für ein kleines Mahl (conviviolum); zu diesem sind einzuladen der Rektor, der Vizekanzler, die Professoren der Fakultät und die Dekane der anderen Fakultäten, der Notar und Pedell. Der Doktor gibt 36 fl an die Fakultät, wieder ein Pfund Zucker für jeden Professor der Fakul­ tät (wenn es ihm nicht geschenkt wird) und etwa 12 fl insgesamt für die feierlich überreichten Insignien, für das Glockenläuten an die Liebfrauen­ kirche, für Stadtpfeifer, Türmer der Moritzkirche und für den Kirchen­ dienst, dann 2 fl für die Stadtarmen und das Leprosenhaus. Die Vesperiae, das heißt die öffentliche Verteidigung der auf Kosten des Kandidaten ge­ druckten Thesen, werden jeweils am Tag vor der Doktorpromotion mit ge­ wohnter Feierlichkeit gehalten. Dabei ist den anwesenden Professoren und Gästen wieder süßer Wein und Zucker als Ergötzung anzubieten; die Stu­ denten bekommen einen Trunk vom gewöhnlichen bayerischen Landwein. Bei der feierlichen Verleihung der Doktorwürde erhält jeder Professor der Fakultät von jedem Kandidaten ein Barett (pileus seu birretum sacerdotale) und ein Paar schöner Handschuhe. Die übrigen Professoren und Gäste be­ kommen ein Paar gewöhnlicher Handschuhe, außerdem werden Handschuhe unter die Zuhörer geworfen. Damit sind aber die Feierlichkeiten und Kosten für den neuen Doktor oder die Doktoren keineswegs beendet. Es sind acht Pechfackeln zu stellen, und ein Mahl ist auszurichten. Zum feierlichen Akt 242 „Statuta facultatis theologicae de promovendis in s. theologia et promotionum sumptibus.“ Prantl II Urk. Nr. 126.

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und zum Mahl sind einzuladen alle Professoren der Universität, der Bürger­ meister, der Stadtrichter, der Stadtphysicus (Arzt), der Pfarrer bei U. L. Frau, der Regens des Georgianums, einige Jesuiten und zwei Franziskaner. Man hat den Eindruck, daß die feierlichen Promotionen und der aufwendige Doktor­ schmaus auch als gesellige Abwechslung in dem manchmal wohl langweiligen Ingolstädter Alltag geschätzt wurden. Die stets wiederkehrende Betonung, daß den Professoren „süßer“, südländischer Wein gereicht werden muß, mag bei der recht unterschiedlichen Qualität der bayerischen Gewächse verständ­ lich erscheinen. Der kurbayerische Kanzler Freiherr von Kreittmayr preist ja noch im 18. Jahrhundert seine bayerische Heimat glücklich — als das Land, in dem der Essig von selber wächst. 1622 wurde das Fest des heiligen Thomas von Aquin (7. März) durch ein­ stimmigen Beschluß in die Reihe der Fakultätsfeste eingereiht243. Ein kur­ fürstliches Schreiben vom Jahr 1642 mußte rügen, daß viele Theologie­ studenten niemals eine Vorlesung über die Heilige Schrift hörten. Es wurde verordnet, daß nur solche Kandidaten Grade erhalten dürfen, die außer der theologia scholastica auch zwei Jahre lang sacra scriptura und ebenso lang controversiae fidei gehört haben. Dies läßt auf Spannungen in der theologi­ schen Fakultät schließen; denn die Scholastik war den Jesuitenprofessoren anvertraut, während die Lehrstühle der Heiligen Schrift und der Kontroverstheologie herkömmlich durch Weltpriester versehen wurden. Gleich­ zeitig wurde der Brauch abgeschafft, bei den Promotionen den Studenten einen Schluck Wein zu geben und Handschuhe ins Auditorium zu werfen244. Vom Dreißigjährigen Krieg wurde mit bayerisch Land und Volk auch die Universität Ingolstadt hart getroffen. Ingolstadt war noch im 1’6. Jahrhun­ dert zur stärksten Festung des Herzogtums ausgebaut worden und konnte deshalb nie vom Feind genommen werden. Die Siegesstimmung nach den Anfangserfolgen der Liga-Truppen unter Führung des Herzogs und Kur­ fürsten Maximilian und der Kaiserlichen verflog, und in den dreißiger Jah­ ren kam mit den Schweden der Krieg furchtbar ins Land. General Tilly starb nach der unglücklichen Schlacht bei Rain (1632) in Ingolstadts Mauern. Die Bischofsstadt Eichstätt wurde von den Schweden in Schutt und Asche gelegt. Im Gefolge des Krieges sprengten die anderen apokalyptischen Reiter durchs geschundene Land, der Hunger und die Pest. 1634/35 und 1648/49 243 „Facultas theologica unanimi consensu eodem anno 1622 conclusit, ut dies Divi Thomae Aquinatis, Doctoris Angelici, inter festa collegii theologici adnumeraretur; ut, quem scholastici doctores praecipuum auctorem sequuntur, eius quoque memoriam inprimis colerent.“ Mederer II233. 244 Prantl 1404.

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wütete die Pest am ärgsten. Längere Zeit mußte die Universität geschlossen werden245. Das allgemeine Unglück des Vaterlandes fand auch in den niedri­ gen Immatrikulationszahlen seinen Ausdruck. In der Kriegszeit sank die Gesamtzahl der anwesenden Studierenden auf etwa 330 im Durchschnitt246. Unter den Professoren sind für diese Zeit zu nennen der tüchtige Welt­ priester Peter Stevart (Professor in Ingolstadt 1584 - 16 1 9)247, der zahlreiche geschätzte exegetische Schriften verfaßte und viel für die Universität arbei­ tete. Nach dem Verzicht auf seine Professur kehrte er in seine Heimat Lüttich zurück. Als Nachfolger Giericks wurde 1612 Leo Menzel248, Sohn eines Pro­ fessors der medizinischen Fakultät, auf die Professur der Kontroverstheolo­ gie berufen. Er wechselte 1619 beim Weggang Stevarts auf die Sacra scriptura über, erhielt die Moritzpfarrei und das Amt des Vizekanzlers. Er wirkte bis zu seinem Tod (1633) als geschätzter Lehrer. Als Besoldung erhielt er anfangs 200 fl, später allmählich bis 400 fl. Auf der Kontrovers-Professur lehrte seit 1’621 der Weltpriester Johann Forner249, der eine Zeitlang die Eichstätter Domherrnpfründe (mit einem Ertrag von mehr als 1000 fl) inne­ hatte. Nach ungeistlicher Lebensführung verschwand er 1634 ohne Abschied aus der Stadt. Niemand trauerte ihm nach. Nach der schlimmen Pestzeit wurde 1636 für Kontroverstheologie der Elsässer Wilhelm Ludwig Benz250 berufen, auch als Pfarrer an der Liebfrauenkirche, der 1656 als Weihbischof nach Eichstätt ging, und als Professor der Heiligen Schrift Oswald von Zim­ mern251, zugleich Pfarrer von St. Moritz.

Die meisten Jesuitenprofessoren dieser Zeit haben, wie schon gesagt, nur kurze Zeit in der theologischen Fakultät gewirkt. Unter ihnen stehen in die­ ser Epoche Jakob Gretser252 und Adam Tanner an der Spitze, beide Schüler des großen Gregor von Valencia. Gretser, zu Markdorf in Baden geboren, hatte zu Freiburg in der Schweiz unter Canisius die Humaniora studiert. Seit 1586 wirkte er dauernd in Ingolstadt. Als Gregor von Valencia 1592 sich von den öffentlichen Vorlesungen zurückzog, übernahm er dessen ScholastikProfessur (1592 - 1605). Später lehrte er Moraltheologie (Casus, 1609 - 1616). 245 Matricula Collegii Theologici II p. 55 - 59. 246 Prantl I 376 f.; Spindler II 370 - 409. 247 s. Anm. 197. 248 Mederer II 203 f., 266 - 269. Menzel hatte im Collegium Germanicum zu Rom studiert. Zum Streit um seine Nachfolge: Matricula Collegii Theologici II p. 55 - 59. — Prantl 1407. 249 Mederer II 228, 271, 273; Prantl 1407 f. 250 Mederer II 277 f., 342; Prantl I 408; Hierarchia Catholica IV (ed. P. Gauchat), Münster i. W. 1935,173 (31. Januar 1655 episcopus Dardanen.). 251 Mederer I 276; Prantl 1408. 252 Matricula Collegii Theologici I fol. 165; Mederer II 128 f., 183, 194, 214 f., 242 - 245; Prantl 1408 f., II497; LThK 2IV 1223 (Werke, QQ., Lit.).

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Seine angegriffene Gesundheit nötigte ihn, das Lehramt niederzulegen. Jakob Gretser verkörpert wohl als letzter den Späthumanismus der Gegen­ reformation. Sein reiches Wissen auf den Gebieten der Kontroverstheologie, der Kirchenväter, der griechischen Sprache, der byzantinischen und mittel­ alterlichen Geschichte stellte er in den Dienst der Kirche und seines Ordens. Das apologetisch-polemische Moment steht im Vordergrund, doch müssen etwa seine griechische Grammatik und eine Reihe von Editionen als bedeu­ tende wissenschaftliche Leistungen gelten. Gretser schrieb zudem eine große Anzahl liturgischer Werke, die bemerkenswerte historische Bildung ver­ raten. Er verfaßte insgesamt 234 gedruckte und 46 ungedruckte Werke. Dar­ unter befinden sich 89 Editionen (43 Erstausgaben) und 23 Dramen aus der Frühzeit seines Wirkens. Die Pflege des geistlichen Schauspiels lag ja den Jesuiten besonders am Herzen. Gretser starb 1625 in Ingolstadt.

Der gebürtige Innsbrucker Adam Tanner253 stand über zwei Jahrzehnte im theologischen Lehramt in München, Ingolstadt (1603 - 1’618), Prag und Wien. Sein Hauptgebiet war die scholastische Dogmatik. Scheeben hat ihn den ein­ zigen deutschen „wahrhaft großen Theologen“ der Gegenreformation ge­ nannt. Am Regensburger Religionsgespräch von 160 1254 gebührt ihm der Hauptanteil. Dieses Religionsgespräch war von Herzog Maximilian von Bayern mit dem Pfalzgrafen Philipp Ludwig von Neuburg vereinbart wor­ den. Von katholischer Seite nahmen teil die Ingolstädter Theologen Jakob Gretser, Albert Hunger und Adam Tanner, von evangelischer Seite Aegidius Hunnius, Jakob und Philipp Heilbrunner. Man stritt vor allem um die Bibel als ausschließliche oder nicht ausschließliche Glaubensquelle. Die Jesuiten betonten dabei scharf und zugespitzt die Stellung des päpstlichen Lehr­ amtes. Tanners Hauptwerk ist die „Universa theologia scholastica“ (4 Bände, Ingolstadt 1626/27), sein größtes deutsches Werk die „Dioptra fidei“ (Richt­ schnur in Glaubenssachen, Ingolstadt 1617). Adam Tanner erscheint Gregor von Valencia an Verstandesschärfe, Weite des Wissens und darstellender Kraft ebenbürtig. Wie sein Lehrer hielt er ein maßvolles Zinsnehmen für erlaubt. Er hebt sich unter den Zeitgenossen hervor als ein vielfach kritischer Geist, der den Dingen auf den Grund gehen will. Auch in den Naturwissen­ schaften besaß Tanner ausgebreitete Kenntnisse. Anders als sein Lehrer stand er dem Hexenwahn mit größerer Vorsicht gegenüber. Vor allem wirkte er auf Milderung bei den Hexenprozessen hin. Sein jüngerer Ordensgenosse Friedrich von Spee stand geistig in Tanners Nachfolge. Spee’s „Cautio crimi253 Mederer II173,220, 261 - 263; Prantl 1409, II497; LThK 2IX 1289. 254 W. Herbst, Das Regensburger Religionsgespräch von 1601, Gütersloh 1928; W. Lurz, Adam Tanner und die Gnadenstreitigkeiten, Breslau 1932; LThK 2VIII 1096.

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nalis“ (1631) steht am Beginn der allmählichen Befreiung Deutschlands vom schauerlichen Hexenwahn. Adam Tanner starb 1632 in Unken bei Salzburg. Gretser und Tanner gehören zu den wissenschaftlich bedeutendsten Ver­ tretern der deutschen Jesuitenschule des frühen 1'6. Jahrhunderts. Neben ihnen wirkte in Ingolstadt, allerdings in der philosophischen Fakultät, der Jesuitenprofessor Christoph Scheiner255, einer der ersten Naturwissenschaft­ ler seiner Zeit. Er ist Mitentdecker der Sonnenflecken, die er als erster durch genaue Untersuchungen der Wissenschaft zugänglich machte. 1611 hat er auf dem Turm der Heilig-Kreuz-Kirche eine behelfsmäßige Sternwarte, eben zur Beobachtung der Sonnenflecken, eingerichtet. Bekannt wurde er vor allem durch seine Auseinandersetzung mit Galilei. Scheiner hat der astrono­ mischen Wissenschaft außerdem durch die Konstruktion geeigneter Instru­ mente gedient. Zur Entwicklung der astronomischen Fernrohre haben seine Erfindungen wesentlich beigetragen. In seinem langen Leben (1575 -1650) wird deutlich, daß einzelne Jesuiten der zweiten und dritten Generation in der Ordensgeschichte sich ganz bewußt allen Wissenschaften zuwenden, ge­ rade auch den aufstrebenden Naturwissenschaften. Ihr Anliegen bleibt auch hierin ein christlich-theologisches: das neue Wissen sollte nicht, wie es viel­ fach den Anschein hatte, im Gegensatz zum überlieferten Glauben gewonnen und angewandt werden. Die Bewältigung des spannungsgeladenen Problems „Glauben und Wissen“ stellte die wichtigste Aufgabe der neuzeitlichen Theo­ logie dar. Dies wurde mit jedem Jahrzehnt des 17. und noch mehr des 18. Jahrhunderts deutlich256. Spannungen waren hier gewiß unvermeidlich. Echte Widersprüche konnte es für den gläubigen Christen letztlich nicht geben, wenn nicht einer der beiden Partner, der Zeuge des Glaubens oder der Anwalt des Wissens, die Grenze seiner Aussagemöglichkeiten über­ schritt. Im Grunde wurde dies bereits im kirchlichen Verfahren gegen Galilei erkannt und ausgesprochen. Freilich ließ gerade die theologische Engstirnigkeit und die damit verbundene theologische Grenzüberschreitung dieses Verfahren, das zur heilsamen Besinnung für Theologie und Natur­ wissenschaften im großen Aufbruch der neuen Zeit hätte werden können, eben zum symptomatischen „Fall Galilei“ werden. Die weiteren Wege der

255 Mederer II 197, 200 - 202, 210 - 215; Prantl II 500 f.; LThK 2IX 382. 256 K. Werner, Geschichte der katholischen Theologie. Seit dem Trienter Konzil bis zur Gegenwart, München - Leipzig 21889; M. Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit, Freiburg i. B. 1933; A. Kraus, Bayerische Wissenschaft in der Barockzeit (1579 - 1750), in: Spindler II 779 814 (Theologie S. 791 - 797). — B. Hubensteiner, Vom Geist des Barock. Kultur und Frömmigkeit im alten Bayern, München 1967; G. Schwaiger, Kirche und Kultur im barocken Bayern, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 80 (1969) 7 - 20.

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Brüder „Glauben“ und „Wissen“ begannen sich mehr und mehr feindlich zu trennen.

Von der Welt des Barocks zur Aufklärung

Die schweren Schäden, die Pest, Hunger und Krieg dem Land und seiner Universität geschlagen hatten, konnten so schnell nicht überwunden wer­ den. Die allgemeine Erschöpfung zeigt sich schon in den niedrigen Immatri­ kulationszahlen, die die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg zunächst noch aufweist. Auch im 18. Jahrhundert haben der Spanische und der Öster­ reichische Erbfolgekrieg Bayern wieder schwer getroffen, und jedesmal fiel das Unglück des Landes auch auf die Hohe Schule zu Ingolstadt257. Solche Zeiten hatten stets auch merkliche Verwilderung in den allgemeinen Sitten — bei Studenten und manchen ihrer Lehrer — im Gefolge. Trunksucht und Raufhändel stehen stets obenan. Gleichzeitig bemühte sich die Universität in dieser Periode, durch Einrichtung und Ausbau geselliger Veranstaltungen, etwa Reiten, Fechten und Tanzen, die Anziehungskraft zu steigern, beson­ ders im Hinblick auf den jungen Adel und das wohlhabende Bürgertum. Auch die neuen Sprachen fanden fortan betonte Pflege. Die Universität wollte durchaus den Anforderungen der neuen Zeit gerecht werden. Es zeigte sich aber, daß Traditionen auch zur Last werden können. In der deutschen Universitätsgeschichte bedeuten die Gründungen der Universitäten Halle (1694)258 und Göttingen (1737)259 den Durchbruch zur modernen Universität, die dann durch die Humboldtsche Konzeption der Universität Berlin (1810)260 richtungweisend für alle deutschen Universitäten geworden sind bis zu den revolutionären Umbrüchen der Gegenwart. Trotz hervorragender Einzel­ leistungen trat die Universität Ingolstadt seit dem 17. Jahrhundert zurück hinter den aufstrebenden neuen oder neugestalteten Universitäten des pro­ testantischen Nordens. Auch die anpassungsfähigeren katholischen Nachbar­ universitäten von Salzburg261 und Würzburg262 bildeten in dieser Zeit eine 257 Prantl I 464 f., 516 - 519. — Zu diesem Abschnitt vgl. R. Haaß, Die geistige Haltung der katholischen Universitäten Deutschlands im 18. Jahrhunderts, Frei­ burg i. B. 1952; Spindler II411 - 472, 781 - 835. 258 450 Jahr Martin-Luther-Universität Halle - Wittenberg, I - III, Halle 1952; K. Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen, Neustadt a. d. Aisch 1967, 157 (QQ., Lit.). 259 G. von Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737 - 1937, Göttin­ gen 1937; E. Gundelach, Die Verfassung der Göttinger Universität in drei Jahr­ hunderten, Göttingen 1955; Goldmann 146. 260 Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, Berlin 1960; Goldmann 46. 261 M. Kaindl-Hoenig / K. H. Ritschel, Die Salzburger Universität 1622 - 1964, Salzburg 1964; Goldmann 318. 262 F. X. Wegele, Geschichte der Universität Würzburg, I, II, Würzburg 1882;

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Konkurrenz. Die kleine Universität Dillingen263 diente stets fast ausschließ­ lich der theologischen Ausbildung. Die alten Spannungen und der immer wieder ausbrechende Streit zwischen der juristischen Fakultät und den Jesuiten erreichten einen neuen Höhe­ punkt, als es dem Orden gelang, 1675 den kanonistischen Lehrstuhl der juristischen Fakultät in die Hand zu bekommen. Die dauernde Erkrankung des Kanonisten Lossius bot den Anlaß, eine Denkschrift des Ordensprovinzials trat hinzu. Am 8. Mai 1675 ging an die Universität ein Schreiben des Kurfürsten Ferdinand Maria, daß der für den kanonistischen Lehrstuhl vom Provinzial vorgeschlagene Jesuit künftig Mitglied der theologischen Fakul­ tät, doch ohne Vermehrung der jesuitischen Vota in dieser Fakultät, sein solle und gleichzeitig in der juristischen Fakultät bei Promotionen, Disputationen, Consilien und ähnlichen Dingen als Mitglied zu gelten habe, während er aber vom Dekanat der juristischen Fakultät verschont bleibe. Die philosophische Fakultät zeigte hierüber große Freude. Nicht so die juristische und die Welt­ priester der theologischen Fakultät. Die eigentümliche Doppelstellung des Kanonisten rief Bedenken und Widerspruch hervor. Die weltgeistlichen Mit­ glieder der theologischen Fakultät bestritten dem neuen Kanonisten die Fähigkeit, in ihrer Fakultät Dekan zu werden, weil der Dekan nur in seiner Eigenschaft als Ordinarius der Theologie Fakultätszeugnisse ausstellen und andere Fakultätsakte vornehmen könne. Auch wies man auf die Möglichkeit hin, daß einmal der Kanonist in beiden Fakultäten gleichzeitig Dekan sei in einer Zeit, wo beide Fakultäten miteinander Streit haben könnten. Unge­ achtet aller Bedenken entschied der Kurfürst im Dezember 1675, daß der Kanonist in der theologischen Fakultät in allen Amtshandlungen den übri­ gen Ordinarien völlig gleichgestellt sein solle264. Auch sonst fehlte es im späten 17. und im 18. Jahrhundert nicht an Reibungen mit den Jesuiten. Besonders peinlich erschien der Streit um die sogenannte „Deposition“, die Bräuche um die Einführung neuer Studenten, die im Lauf der Zeit in sinn­ lose, oft brutale Quälereien ausgeartet waren. So erhielten zum Beispiel die armen Betroffenen, theatralisch aufgeputzt, zunächst Maulschellen, wo­ C. Braun, Geschichte der Heranbildung des Klerus in der Diözese Würzburg, I, II, Würzburg - Mainz 1889 - 1897; Goldmann 388 f. 263 Th. Specht, Geschichte der Universität Dillingen, Freiburg i. B. 1902; Dil­ lingen und Schwaben. Festschrift zur 400-Jahr-Feier der Universität Dillingen, Dillingen 1949; A. Bigelmair / F. Zoepfl, Stadt und Universität Dillingen, Dillingen 1950; Goldmann 88 f. 264 Als erster Kanonist aus dem Jesuitenorden kam am 25. Mai 1675 Johann Bapt. Weiß nach Ingolstadt, früher schon sieben Jahre lang Professor der Moral­ theologie in der theologischen Fakultät. Am 27. Mai hielt er im Hörsaal der Kanonisten seine Antrittsvorlesung (solenne principium) „De historia Concordato­ rum Germaniae“. Mederer III12 - 18; Prantl I 453 f.

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bei sie die Backen aufblasen mußten, dann benützte ein Kommilitone ihre Körper als Rednertribüne. In Wolle vermummt mußten sie miteinander fechten. Der „Quintus“, ihr einführender studentischer Lehr- und Zucht­ meister, modelte dann mit Hammer, Säge und Bohrer aus jedem einzelnen einen „Mercurius“ heraus. Anschließend wurden sie rasiert und geschoren. Dann schlug man ihnen mit Stecken auf die Finger, während sie ein Tinten­ faß und eine Federbüchse aufzumachen hatten. Der Senat drang auf Ab­ schaffung des ganzen Depositions-Unwesens oder doch auf Ausschaltung aller Mißbräuche. Die Jesuiten waren insofern angesprochen, weil meistens von der philosophischen Fakultät der „Quintus“ bestellt wurde und weil dieses auch finanziell einträgliche Amt als Belohnung armer Studenten betrachtet wurde. Die Mißbräuche wurden auch vom Orden keineswegs gebilligt265. Langen Streit gab es zudem um die Dauer des philosophischen Kurses. Eine Verordnung des Kurfürsten Maximilian von 1642 hatte diesen gewöhn­ lich drei Jahre umfassenden Kurs für Nichttheologen auf zwei Jahre redu­ ziert und die scholastische Metaphysik in das dritte Studienjahr der künfti­ gen Theologen verlegt. Die Jesuiten bestanden jedoch lange auf dem drei­ jährigen Kurs als Vorstufe aller anderen Fachstudien. Erst 1687 und 1693 wurde vom Landesherrn festgelegt, daß die Philosophie nun in der Haupt­ sache innerhalb zweier Jahre behandelt werden müsse, und daß der zwei­ jährige Cursus philosophicus Vorbedingung aller akademischen Grade sei. Der Friede war auch damit nicht hergestellt. Als die Österreicher während des Spanischen Erbfolgekrieges die kaiserliche Administration über Bayern führten, erzielten die Jesuiten mehrere Erlasse zu ihren Gunsten, vornehm­ lich gegen die juristische Fakultät266.

Die theologische Fakultät zählte nun stets fünf Professoren. Die drei Jesuitenprofessoren lasen herkömmlich Scholastik (Dogmatik) und Moral­ theologie (Casus). Die beiden Weltpriester versahen die zwei Ingolstädter Pfarreien; der eine hatte den Lehrstuhl für Kontroverstheologie inne, der andere den der Heiligen Schrift. 1675 erhielt, wie erwähnt, der Kanonist gleichzeitig Professorenrechte in der juristischen und in der theologischen Fakultät. Diese Professur blieb den Jesuiten vorbehalten. Im allgemeinen herrschte offensichtlich zwischen den Weltpriestern und ihren Kollegen aus der Gesellschaft Jesu leidliches Einvernehmen. Die klare Abgrenzung der Rechte beider Seiten trug viel zur Erhaltung des gefährdeten Fakultäts­ friedens bei. 265 Prantl I 382 f., 440,455 - 458. 266 Ebd. 458 - 462.

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Im Jahr 1657 beschloß die Fakultät eine umfangreiche neue Promotions­ ordnung267. Das Baccalaureat darf nur an höchstens drei Kandidaten gleich­ zeitig erteilt werden. Vorbedingung ist der philosophische Magistergrad und ein zweijähriges Studium der Theologie. An Gebühren sind 2 fl an die Fakul­ tät zu entrichten, ferner 13 fl, die an die fünf Professoren zur Verteilung gelangen, je 1 fl 30 kr für Notar und Pedell. Das Examen dauert eine Stunde. Anschließend leisten die Kandidaten den herkömmlichen Eid und werden dann vom Dekan als baccalaurei biblici et formati kreiert. Man gratuliert mit einem Händedruck. Daran schließt sich ein Frühstück auf Kosten der Kandidaten, wozu aber nur die Professoren der Fakultät, der Notar und der Pedell zu laden sind; Mahlkosten dürfen 12 fl nicht überschreiten. Voraus­ setzung des Lizentiatengrades ist außer dem theologischen Baccalaureat ein vierjähriges Studium der Theologie. Das Lizentiaten-Examen dauert über eine Stunde; dazu werden aus dem Gesamtgebiet der Theologie fünf Punkte durch das Los bestimmt und am Vortag den Examinatoren mitgeteilt. Der Examenstag beginnt mit einem gemeinsamen Gottesdienst, für den 1 fl 30 kr zu entrichten sind. Die Gebühren des Lizentiates betragen 4 fl für den Pro­ kanzler, 3 fl für die Fakultät, 15 fl für die Professoren, 5 fl für Zucker an die Professoren (jeder erhält wieder ein Pfund), je 2 fl 30 kr für den Notar und Pedell, 30 kr für die sogenannte fabrica (Herrichten des Mobiliars usw.). Zur Graderteilung richtet einer der Kandidaten die entsprechende Bitte an den Prokanzler. Dieser antwortet in einer kurzen Rede und erteilt dann sofort den Grad, worauf ein zweiter Kandidat den Dank ausspricht. Danach geht es zum Mahl, zu dem der Prokanzler, der Rektor, alle Professoren der Fakul­ tät und die Dekane der übrigen drei Fakultäten zu laden sind. Wenn es sich um drei Kandidaten handelt, was offenbar als Regel betrachtet wird, sind dem Wirt für die 13 Teilnehmer 26 fl zu bezahlen.

Zum Doktorat ist einige Monate vor dem angestrebten Akt ein Promotor unter den Professoren der theologischen Fakultät zu wählen. Die Fakultät sah darauf, daß möglichst jeder Professor an die Reihe kam268. Die Vorberei­ tungen erstrecken sich außerdem darauf, für das Aufsagen von Gedichten — eine Aufgabe der jüngeren Studenten — zu sorgen, dann beim Gastwirt und bei den Trompetern Vorkehrung zu treffen, Handschuhe, Wachskerzen, südländischen (spanischen) Wein und Leckereien zu beschaffen. Zwei Tage 287 „Statuta et consuetudines, quas inclyta facultas theologica Ingolstadiensis servare ut plurimum solet in conferendis gradibus, excerpta tum ex antiquis statutis tum ex ipsis actis et praxi iussu et auctoritate ipsius collegii theologici.“ 18. Okt. 1657. Prantl II Urk. Nr. 142. 268 „Quis ordo inter professores sacrae theologiae in publicis promotionibus servandus“ (Fakultätsbeschluß vom 13. Aug. 1657). Prantl II Urk. Nr. 141.

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vor dem öffentlichen Promotionsakt ergeht durch den Notar, der dafür einen Reichstaler erhält, Einladung an alle Professoren der Universität, den Regens des Georgianums, den Stadtrichter, den Stadtphysikus und zwei Magistrats­ räte. Die Gebühren betragen diesmal insgesamt gar 262 fl 8 kr, wenn nur ein einziger Kandidat die Doktorwürde erhält. Neben dem Mahl für 27 Gäste sind den fünf Professoren der Fakultät, dem Notar und dem Pedell auch noch ansehnliche Gerichte ins Haus zu schicken, die sogenannten „Bschaidessen“, um 21 fl. Auch das ganze bei der Promotion beschäftigte Personal ist zu stärken und mit Trinkgeldern zu versehen. Die ganze Summe muß im Voraus entrichtet werden, bis zu den 30 Kreuzern, die man für zerbrochene Gläser vorsorglich in Anschlag bringt. Die Vesperiae bestehen wie früher in einer öffentlichen Disputation, bei der spanischer Wein und Zuckerwerk herum­ gereicht werden. Tags darauf findet dann der eigentliche actus doctoralis nach dem genauen Ritus der Fakultät statt. Nach der Ansprache des Pro­ motors folgen die Eidleistung des Kandidaten, der Zug zur Kirche, die Kreation, Gratulation und Convivium. Symbolisch überreicht werden laurea, liber clausus et apertus, pileus, epomis, anulus, baltheus, fax, dann erhält der neue Doktor der Theologie amplexus et consessus. Der stets lateinisch durch­ geführte Ritus der öffentlichen Promotion wurde in der theologischen Fakul­ tät bis 1969 beibehalten und nur wenig verändert. Die Amtskleidung wurde den Professoren in dieser Zeit vom Landesvater regelmäßig als eine Art Ehrengeschenk verliehen, gewöhnlich im Wert von 40 fl; doch gingen „epomides“ (Umhänge) und „bireta“ (Barette) in der theo­ logischen und philosophischen Fakultät auf Rechnung der Fakultätskasse. In diese Kassen flossen vornehmlich Beträge anläßlich der Promotionen269. Bei der feierlichen Promotion des Benediktiners Placidus Hayden von Niederaltaich zum theologischen Doktor, am 2. April 1710, mußten 171 fl 38 kr entrichtet werden. Davon betrugen 67 fl 15 kr die herkömmlichen „Ge­ rechtsame der theologischen Fakultät“. Außerdem hatte der Kandidat — ne­ ben den vielen kleineren Reichnissen — 50 Paar Handschuhe und ein Essen für 16 Personen zu bezahlen. In der theologischen und philosophischen Fakul­ tät war den ganzen Tag vorlesungsfrei, am Gymnasium ab 9 Uhr vormittags und den ganzen Nachmittag270.

1701/02 kam von der Landesregierung zweimal der Befehl, daß künftig der Rektor und die Dekane jeweils auf ein Jahr gewählt werden sollten. Die theologische Fakultät fand dies ihren Bedürfnissen wenig entsprechend und faßte im Jahr 1707 einstimmig den Beschluß, ihren Dekan wieder nur auf ein 269 Prantl 1466. 270 Matricula Collegii Theologici III p. 100.

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halbes Jahr zu wählen271. Die Zahl der Theologiestudenten blieb im 18. Jahr­ hundert recht stattlich. Im Durchschnitt waren es gegen 200 Studierende, davon '60 bis 80 Jesuitenstudenten und etwa 120 Kandidaten des Weltklerus und Ordensleute272.

Die beiden weltpriesterlichen Professuren der Fakultät blieben auch in dieser Zeit stets mit den beiden Ingolstädter Pfarreien verbunden, der Lehr­ stuhl für Kontroverstheologie mit der Liebfrauenpfarrei, der Lehrstuhl für Heilige Schrift mit St. Moritz. Für die Tüchtigkeit der weltpriesterlichen Pro­ fessoren spricht auch die Tatsache, daß viele von ihnen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zu hohen kirchlichen Würden und in leitende Stellen der Bistumsverwaltungen geholt wurden. Dem Kontroverstheologen Ludwig Benz273, der 1656 nach einigem Zögern doch als Weihbischof nach Eichstätt ging, folgte Johann Heinrich Pascha274, Sohn eines Professors der juristischen Fakultät. Er wurde 1665 als Offizial nach Eichstätt gerufen. An seine Stelle kam Franz Jakob Zadler275 aus Landau, der aber schon 1671 als Generalvikar nach Freising ging. Um die Nachfolge in der Kontroverstheologie und in der Frauenpfarrei entstand diesmal ziemlicher Ärger, da die Jesuiten die Pro­ fessur erstrebten und dem neuen Professor Ignaz Christoph Kherl aus Lands­ hut, der in Rom studiert hatte, deshalb erhebliche Schwierigkeiten gemacht wurden. Kurfürst Ferdinand Maria griff aber energisch zugunsten des Welt­ priesters Kherl durch276. Als Kherl 1714 starb, erhielt Lehrstuhl und Frauen­ pfarrei der Münchener Max Ferdinand Ignaz von Planckh (1715 - 1744)277, nach ihm Balthasar Eckher aus Waldsassen (1744 - 1775)278, ein stets rühriger Mann, lange Zeit auch Prokanzler der Universität. Er trat zunächst heftig als Gegner der neueren Richtung auf, die mit den aufgeklärten Reformen Ickstatts einsetzte. Später wandte er sich mit ähnlicher Leidenschaft gegen das Übergewicht der Jesuiten.

Den Lehrstuhl der Heiligen Schrift und die Moritz-Pfarrei hatten inne Oswald von Zimmern (1636 - 1680)279, Johann Georg Zöpfl (gestorben 1696)280, 271 Matricula Collegii Theologici III p. 11s.; Mederer III 103, 118; Prantl I 466, 479. 272 Frdl. Mitteilung v. Herrn K. Faußner (aus der Vorbereitung seiner Diss.). 273 s. Anm. 250. 274 Mederer II342, 366 f.; Prantl 1480. 275 Mederer II 366 f., 386; Prantl 1480. 276 Mederer II 385 f., III136 f.; Prantl 1480. 277 Mederer III138, 218; Prantl 1480. 278 Mederer III 221 f.; M. Permaneder, Annales Almae Litterarum Universitatis Ingolstadii, München 1859,16,19; Prantl 1523,559 - 565, 582 f., 661. 279 Der hochangesehene Professor, Vizekanzler und Pfarrer, ehedem General­ visitator des Bistums Augsburg, mußte sich seit 1675 aus Alters- und Krankheits­ gründen zurückziehen. Er starb 1680. Mederer II 276, III 13 f., 38 f.; Prantl I 408, 479 f., II502.

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Johann Jakob Stuber (gestorben 1713)281, Philipp Otto von Nytz, der 1722 in seine österreichische Heimat zurückkehrte282, dann der Bartholomäer-Priester Johann Peter Artinger283, der sich bis zu seinem Tod (1729) auch mit der Edition liturgischer Schriften beschäftigte, Johann Joseph Anton Hertel284, Sohn eines Medizinprofessors von Ingolstadt, ein in der Universitätsverwal­ tung sehr rühriges und geschätztes Mitglied, der 1756 als Pfarrer an die Lieb­ frauenkirche nach München gerufen wurde. Sein Nachfolger wurde Johann Georg Hagn von Zangberg285, vorher Stiftsdechant von Altötting, geschätzt als Wohltäter seiner Pfarrkirche und der Universitätsbibliothek; als er 1765 starb, trat Carl von Leutner286 als Schriftprofessor (1765 - 1774) in die Fakul­ tät ein. In dieser Zeit kam es zu heftigen Auseinandersetzungen in der Fakultät und in der Universität. Die beiden weltgeistlichen Theologieprofes­ soren Eckher und Leutner kämpften gemeinsam gegen ihre ständige Majori­ sierung durch die Jesuiten. Die Mehrheit der Jesuiten in der Fakultät lasse keinen guten Vorschlag der beiden Stadtpfarrer aufkommen. Ständig wür­ den die beiden Weltpriester von den Jesuiten überstimmt. Sie setzten sich dafür ein, daß das Dekanat ständig an die Weltpriester komme, verbanden sich mit den Dekanen der juristischen und medizinischen Fakultät und gaben zu erwägen, einen eigenen Direktor der theologischen Fakultät zu bestellen. Diese Vorschläge sind enthalten in einem Promemoria Eckhers von 1767, worin er auch unter Hinweis auf die Vorgänge im theresianisch-josephinischen Österreich eine „Zähmung“ der Jesuiten verlangt287. Vom neuen Geist der Kritik, besonders der Bibelkritik, zeugt ein anony­ mes Promemoria aus den siebziger Jahren, das wohl auf das Denken der beiden Professoren Eckher und Leutner zurückgeht. Darin ist der Wunsch ausgesprochen, daß in der Bibel-Exegese nicht wie bisher nur auf „den ab­ geschmackten und verdrehten sensus moralis und mysticus“ oder auf „die leere und spröde Streit-Theologie“ gesehen werde, sondern eine buchstäb­ lich grammatische Schriftauslegung, verbunden mit historisch-geographi­ scher Kritik, geboten werde. Als Voraussetzung dazu müsse eine eigene Vorlesung über orientalische und griechische Linguistik eingeführt oder etwa einem geeigneten Jesuiten der philosophischen Fakultät übertragen werden. Auf solche vorgängige kritische Exegese, worüber die Kandidaten 280 Mederer III 13, 38, 40 (Zöpfl wurde erst nach dem Tode Zimmerns 1680 förm­ lich als Ordinarius eingeführt), 87-89; Prantl 1480. 281 Professor 1697 - 1713. Mederer III90 f., 133 f.; Prantl 1480. 282 Professor 1713 -1722. Mederer III 132,134,160; Prantl 1480. 283 Mederer III160 f., 177 f.; Prantl I 523, II506. 284 Mederer III176 f., 265 f.; Prantl I 523. 285 Mederer III 265 f., 292 f.; Prantl 1582. 286 Mederer III 293 f.; Prantl I 582,661. 287 Prantl 1582 f.

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auch zu prüfen seien, könne sich dann die Kontroverstheologie fruchtbar stützen. In jedem Fall müsse die Polyglotten-Bibel des Brian Walton (um 300 fl) angeschafft und der Universitätsbuchdrucker mit einem hebräischen Alphabet versehen werden288.

In den Bemühungen der Professoren Eckher und Leutner zeigt sich der Einfluß kritischen Denkens und durchgreifender Reformen, wie er im katho­ lischen Deutschland namentlich in den vielfachen „theresianischen Refor­ men“ der Habsburger Lande seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kräftig durchgebrochen ist289. Der Aufbruch zu neuen Bereichen theologischer Wis­ senschaft, besonders zum geschichtlichen Denken hin, hatte schon an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert in der katholischen Kirche eingesetzt. Vor allem Frankreich stellte in der gelehrten Maurinerkongregation die führenden Kräfte auf dem Weg zur historisch-kritischen Forschung. Der Dominikaner Alexander Natalis schrieb 1676/86 die erste umfassende Kir­ chengeschichte der Neuzeit290, teilweise stark polemisch und apologetisch. Kurz darauf brachte der Weltpriester Claude Fleury unter dem Einfluß Mabillons und Tillemonts, quellennah verfaßt und in gefälligem Stil ge­ schrieben, seine „Histoire ecclesiastique“ heraus (1691 - 1720), die zahlreiche Übersetzungen erlebte und weitreichenden historiographischen Einfluß übte291. Der gelehrte französische Oratorianer Richard Simon292 hatte bereits im späten 17. Jahrhundert alle wesentlichen Positionen einer wissenschaft­ lich-kritischen Behandlung der Bibel abgesteckt. Im 18. Jahrhundert er­ reichte die neue, heftig umkämpfte Bibelkritik, konzentriert in der LebenJesu-Forschung, bereits einen erheblichen Einfluß. Dieser zeigte sich zu­ nächst im evangelischen Bereich, vor allem bei Johann August Ernesti in Leipzig, Johann David Michaelis in Göttingen, Johann Salomo Semler in Altdorf und Halle, Johann Gottfried Eichhorn in Göttingen. Einen radikalen kritischen Angriff auf Bibel und Offenbarung unternahm der Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Samuel Reimarus, dessen berühmte „Frag­ mente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten“ Gotthold Ephraim Lessing 288 Ebd. 583. 289 H. Raab, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, V (Frei­ burg - Basel - Wien 1970) 508 - 530 (QQ., Lit.). 290 „Selecta historiae ecclesiasticae capita.“ — A. Hänggi, Der Kirchenhistoriker Natalis Alexander, Freiburg i. d. Schweiz 1955. 291 Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, I (Freiburg - Basel - Wien 1962) 33-44; P. Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, 2 Bde., Frei­ burg - München 1967. 292 Exegetische Hauptwerke: Histoire critique du Vieux Testament, Paris 1678, mit neuem Vorwort Rotterdam 1685; Histoire critique du texte du Nouveau Testament, Rotterdam 1689; Histoire critique des versions du Nouveau Testament, Rotterdam 1690; Histoire critique des principaux commentateurs du Nouveau Testament, Rotterdam 1693.

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in den Jahren 1774 bis 1778 herausbrachte. An den „Fragmenten“ entzündete sich eine leidenschaftliche Kontroverse innerhalb der protestantischen Welt, welche die stärker kontrollierbaren katholischen Universitäten nicht unbe­ rührt ließ293. In der großen geistigen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts steht auch der politische und geistige Kampf um die Gesellschaft Jesu, bis zur päpstlichen Aufhebung des Ordens im Sommer 1773294. Der Orden stellte der Universität Ingolstadt auch in den letzten hundert Jahren seiner Wirk­ samkeit noch eine ganze Reihe hochqualifizierter Lehrer. Der Orden besetzte, wie erwähnt, in der theologischen Fakultät drei Professuren: zwei Lehr­ stühle der scholastischen, das heißt dogmatischen Theologie, einen der Moral­ theologie nebst Casus, wozu seit 1675 noch der Kanonist kam. Christoph Hau­ nold295 lehrte von 1653 bis 1666 in Ingolstadt. Der von ihm publizierte Cursus der Theologie verschaffte ihm hohes Ansehen. Auch der Moraltheologe Jakob Illsung (1671 - 1679)296 verfaßte mehrere Schriften theologischen und juristi­ schen Inhalts. Jakob Wiestner297, 1681 bis 1683 Professor der Moraltheologie, dann bis 1700 Professor des kanonischen Rechtes, erwarb sich als Kanonist einen Namen, ebenso sein Nachfolger Melchior Friedrich (gestorben 1708)298. Franz Xaver Schmalzgrueber 2", aus Griesbach im Rottal gebürtig, muß unter die bedeutendsten Systematiker der Kanonistik seiner Zeit gerechnet werden. Er lehrte an mehreren Kollegien des Ordens Humaniora, Philo­ sophie und Theologie. Zunächst vertrat er in Ingolstadt Moraltheologie (1703 - 1705), anschließend einige Jahre an der Universität Dillingen kano­ nisches Recht. Nach Friedrichs Tod wirkte er als Kanonist wieder in Ingol­ stadt (1709 - 1716). Als Kanzler der Universität Dillingen brachte er in sieben Bänden sein geschätztes „Jus ecclesiasticum Universum“ (Ingolstadt - Dillin293 K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, 1929; A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 61951; W. Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957; E. Hirsch, Geschichte der neue­ ren evangelischen Theologie, 5 Bde., Gütersloh 31964; Handbuch der Kirchenge­ schichte, hrsg. v. H. Jedin, V 571 - 597 (Lit.). 294 B. Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, IV (2 Teile), München - Regensburg 1928 (18. Jahrhundert); F. X. Seppelt/G. Schwaiger, Das Papsttum im Kampf mit Staatsabsolutismus und Aufklärung (Geschichte der Päpste V), München 21959, 453 - 484, 543 - 547 (Aufhebung der Gesellschaft Jesu, mit QQ. u. Lit.); B. Schneider, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, V 626 -636. — Zum Folgenden vgl. Prantl I 481 f., 523 f., 584; Duhr IV/2, 101 -158. 295 Mederer II 332, 351, 370, III 66 f.; Prantl 1481, II502. 296 Mederer II 385, III 83 f.; Prantl 1481, II 503. 297 Mederer III42,48, 50, 99; Prantl 1481, II 503. 298 Mederer III 97,123; Prantl 1481, II 503. 299 Mederer III 104,111,122 - 124,129,142; Prantl I 481, II 503; Sommervogel VII 795 - 798 (Werke); LThK 2IX 427. 7

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gen 1719 - 1728) heraus, das mehrfach aufgelegt wurde. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten besonders hervor Joseph Mayr300, Anton Mayr301, der Verfasser einer vielbändigen Darstellung der scholastischen Theologie, Paul Zettl302, Adam Dichel303, Leonhard Hausmann304, Georg Hermann305, Joseph Schreiber300 und Joseph Fitterer307. Als Kanonisten lehrten in dieser Zeit Vitus Pichler (1716 - 1731)308 mit reicher literarischer, vor allem kanonistischer Tätigkeit, dann Wilhelm Beusch (1734 - 1743)309, der das Obliga­ tionenrecht behandelte, und der vielseitig gebildete Franz Xaver Zech (1743 1768)310. Pater Zech verband in seinen zahlreichen, teilweise heute noch brauchbaren Schriften die Darstellung des geltenden deutschen Rechtes mit der Kanonistik. Auch in solchen Arbeiten, wie sie in dieser Zeit von Jesuiten nicht selten verfaßt wurden, spiegelt sich die Bemühung des Ordens, den Erfordernissen der neuen Zeit gerecht zu werden und dadurch die wachsen­ den Vorwürfe der Rückständigkeit zu entkräften. Unter den letzten Jesuiten­ professoren der theologischen Fakultät treten neben dem tüchtigen Zech stärker hervor der Kanonist Christoph Ublacker (1768 - 1773)311, dann die Theologen Anton Ziegler (1746 - 1753)312, Joseph Zwinger (1752 - 1758)313, Georg Urban (1766 - 1773)314, Joseph315 und Maximus Mangold316, deren Haupttätigkeit auf philosophischem Gebiet lag, Joseph Monschein (1752 1755)317, Verfasser einer vielbändigen Dogmatik, und vor allem Benedikt Stattler318, zu Kötzting im Bayerischen Wald geboren, seit 1770 Professor der 300 Matricula Collegii Theologici HI, Anhang (Elogia) p. 7; Mederer III 215; Prantl II506; Romstöck 498. 301 Mederer III 240; Prantl II506. 302 Mederer III161; Prantl II 507; Romstöck 128. 303 Mederer III173 f.; Prantl II506; Romstöck 331. 304 Mederer III138; Prantl II505; Romstöck 386. 305 Mederer III180, 201, 207 f.; Prantl II 508; Romstöck 152. 306 Mederer III184; Prantl II 508; Romstöck 152. 307 Mederer III191; Prantl II 506; Romstöck 365. 308 Mederer III 140, 169, 174, 183; Prantl II 506; Sommervogel VI 1706 - 1714; LThK 2VIII493 f. 309 Mederer III190, 214 f.; Prantl II 506. 310 Mederer III 214, 296, 301 f.; Prantl II 509; Sommervogel VIII 1474 - 1478; LThK 2X 1316. 311 Mederer III296, 299, 302; Prantl II509. 312 Mederer III 224, 255 f.; Prantl II 509; Romstöck 510. 313 Mederer III 250, 273; Prantl II 509. 314 Mederer III 294, 296; Prantl II 509. 315 Mederer III265 f.; Prantl II511. 316 Mederer III 286; Prantl II511. 317 Mederer III 250, 266; Romstöck 237 - 239. 318 Matricula Collegii Theologici IV passim, bes. p. 141 ff.; Mederer III 305, 307; Prantl II 512; Sommervogel VII 1498 - 1509; F. Scholz, Benedikt Stattler und die Grundzüge seiner Sittlichkeitslehre, Freiburg i. Br. 1957; ders., Benedikt Stattler, in: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. H. Fries und G. Schwaiger, I, München 1973 (QQ., Lit.).

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Dogmatik in Ingolstadt, wo auch der junge Sailer unter den Hörern dieses eindrucksstarken, aber auch recht streitbaren theologischen Lehrers saß. In Bayern hatte sich nach dem schwächlichen Regiment und dem glanz­ losen Kaisertum Karl Albrechts (1726 - 1745) Kurfürst Max III. Joseph (1745 1777)319 gleich am Beginn seiner Regierung zur fortschrittlichen Kultur­ politik bekannt, als er den gefeierten Aufklärungsphilosophen Christian Wolff und dessen Schüler Johann Adam Ickstatt in den Reichsfreiherrnstand erhob. Das Gedankengut einer maßvollen Aufklärung war in bayerischen Stiften und Klöstern schon im frühen 18. Jahrhundert sichtbar geworden. Jetzt durchdrang es allmählich das gesamte staatliche, kulturelle und reli­ giöse Leben und wies der inneren Entwicklung des Landes den Weg. Die Universität Ingolstadt wurde aber in diesem Prozeß, von einigen Ansätzen abgesehen, nicht die treibende Kraft. Schon 1746 wurde Ickstatt vom Kur­ fürsten zum „Direktor“ und zum Professor für öffentliches, Natur- und Völkerrecht der Universität Ingolstadt bestellt. Er hatte den Auftrag, die Hohe Schule nach der Stagnation im Österreichischen Erbfolgekrieg der vier­ ziger Jahre wieder zu heben, den Lehrbetrieb zu reformieren und zu über­ wachen. Ickstatt wurde der Initiator der eigentlichen Aufklärungsgenera­ tion in Bayern. Er begann die Neuordnung des Lehrplans der juristischen Fakultät im Kampf gegen die allzu strengen Zensurvorschriften. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen mit den Jesuiten und der theologischen Fakultät, die bisher die Zensur geübt hatte. Auch die besonderen Vollmach­ ten des Direktors Ickstatt stießen auf Widerstand. Der Theologieprofessor Balthasar Eckher übte das Zensoramt streng und trug den Streit von seiner Kanzel als Pfarrer der Liebfrauenkirche in die breite Öffentlichkeit. Ickstatt und Eckher erhielten nacheinander kurfürstliche Verweise. Ickstatts Schüler und Kollege Johann Georg Lori, einst Jesuitenschüler, mußte seine Lehr­ kanzel aufgeben und wurde als Hofrat an das neue Münz- und Bergkolle­ gium nach München berufen. Damit verlagerten sich auch seine Pläne einer bayerischen gelehrten Gesellschaft in die Hauptstadt, die hier 1759 zur kur­ fürstlich bestätigten Akademie der Wissenschaften führten. Ihr war eine von gelehrten Ordensleuten getragene Akademiebewegung lange vorausgegan­ gen; die Benediktiner Bernhard Pez, Anselm Desing, Oliver Legipont und Frobenius Forster, dann der Augustinerchorherr Eusebius Amort aus Polling waren hier die führenden Persönlichkeiten. Die großen alten Orden wurden den Erfordernissen der Zeit besser gerecht als die Jesuiten. Gerade der starke 319 Über Bayern unter den Kurfürsten Max III. Joseph (1745 - 1777) und Karl Theodor: L. Hammermayer, in: Spindler II 983 - 1102 (mit QQ. u. Lit.), bes. 999 1016 (Wissenschaftsentwicklung); L. Boehm, Ingolstadt zwischen Reform und Reaktion, ebd. 829 - 831. 7*

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Anteil einzelner Bischöfe und mehr noch der Prälatenklöster ließ in Bayern im 18. Jahrhundert eine katholische Aufklärung maßvollen Gepräges wach­ sen, die zu schönen Hoffnungen für Staat und Kirche berechtigte. Nur ver­ einzelt wurden radikale Töne angeschlagen320.

Die lange Vorgeschichte der Aufhebung des Jesuitenordens kann hier nicht dargestellt werden. Unter dem harten Druck der Bourbonenhöfe ließ sich Papst Clemens XIV. bewegen, die Gesellschaft Jesu am 21. Juli 1773 aufzuheben321. Der Papst war zur Überzeugung gekommen, daß dem Orden ein gedeihliches Wirken nicht mehr möglich sei. Im Sinne des staatskirchen­ rechtlichen Territorialismus der Zeit, wonach kirchliche Jurisdiktionsgebiete möglichst mit den staatlichen Grenzen übereinstimmen sollten, hatte Kur­ fürst Max III. Joseph 1769 die Errichtung einer eigenen „Bayerischen Je­ suitenprovinz“ verordnet. Unter seinen Beratern zeigte sich vor allem Peter von Osterwald den Jesuiten feindselig. Dank der nüchternen Einstellung des redlichen, religiös gesinnten Kurfürsten wurde in Bayern die Gefahr doktri­ närer Aufklärerei glücklich vermieden. Die Aufhebung der Gesellschaft Jesu wurde in Bayern nur zögernd und durchaus rücksichtsvoll durchgeführt. Die neue bayerische Provinz des Ordens bestand damals aus zwölf Niederlassun­ gen, darunter die neun Kollegien in München, Ingolstadt, Burghausen, Landsberg, Landshut, Mindelheim, Regensburg, Straubing und Amberg mit 546 Mitgliedern, von denen 229 Priester waren. Die ganze bayerische Provinz zählte damals 238 Patres, 149 Laienbrüder und über hundert Novizen. Das Gesamtvermögen des Ordens in Bayern wurde auf 7 382 000 Gulden ge­ schätzt. Kurfürst Max Joseph bestimmte das Jesuitenvermögen für Schul­ wesen und öffentliche Wohlfahrt322. Erst sein Nachfolger, der pfalzbayerische Kurfürst Karl Theodor (1777 - 1799), entfremdete dieses Vermögen zur Dota­ tion einer „bayerischen Zunge“ des Malteserordens (1781), obwohl alle Welt wußte, daß diese Zunge nicht einem religiösen Bedürfnis entsprang, sondern vornehmlich zur Ausstattung der illegitimen Nachkommenschaft des Kur­ fürsten und zur Versorgung des Hofadels diente323. 320 Vgl. Prantl I 546 - 574; L. Boehm, Bayerns Beitrag zur Akademiebewegung: Die neue Universitas Doctorum, in: Spindler II 835 - 838. — G. Schwaiger, Die Aufklärung in katholischer Sicht, in: Concilium 3 (1967) 559 - 566; H. Graßl, Auf­ bruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765 - 1785, München 1968. 321 s. o. Anm. 294. 322 Duhr IV/1, 222 -282; M. Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns, II, Mün­ chen 1928, 316 f.; Bauerreiss VII409 - 413; Spindler II1095 f. 323 L. A. Frhr. von Gumppenberg, Das bayerische Großpriorat des Johanniter­ ordens, in: Oberbayerisches Archiv 4 (1843); G. Schwaiger, Die altbayerischen Bistümer Freising, Passau und Regensburg zwischen Säkularisation und Kon­ kordat (1803 -1817), München 1959, 6; ders., Pius VI. in München (1782), in: Mün­ chener Theologische Zeitschrift 10 (1959) 123 - 136.

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Die Publikation der Aufhebung des Jesuitenordens wurde in Ingolstadt von Seiten der kurfürstlichen Regierung mit aller Umsicht vorbereitet. Der gesamte Vermögensstand der Jesuiten wurde sorgfältig erhoben. Am 30. September 1773 gab der Kurfürst Weisung, daß das päpstliche Breve nur unter Vorbehalt der Temporalienfrage publiziert werden dürfe. Alle Ex­ jesuiten seien sofort auf den schuldigen Gehorsam dem Landesherrn gegen­ über zu vereidigen. Jeder solle gefragt werden, wozu er sich für verwendbar halte. Außerdem sollte jeder Jesuit eine schwarze Kleidung und einstweilen 50 fl Bargeld bekommen, auswärtige Fratres für jeden Tag 5 fl Reisegeld; auswärtige Scholaren seien mit 4 fl täglichem Reisegeld baldigst in die Heimat zu schicken. Der kurfürstliche Statthalter wurde angewiesen, dafür Sorge zu tragen, daß bei der Verkündigung des Breves keine Pöbel-Exzesse ausbrächen. Über die Aufhebung des Ordens sollte weder öffentlich geredet noch geschrieben werden. Auf jederlei Beschimpfung der Exjesuiten stand strengste Strafdrohung324.

Nach diesen Sicherheitsvorkehrungen wurde die päpstliche Aufhebung am 4. Oktober 1773 in Ingolstadt verkündet325. Ein Beauftragter des Bischofs von Eichstätt und zwei kurfürstliche Kommissäre, Baron Ickstatt und Pro­ fessor Prugger, waren dabei anwesend. Kurz darauf haben die Exjesuiten noch zwei Massenpromotionen ihrer Leute in der theologischen Fakultät durchgeführt. Am 7. Oktober 1773 wurden im Refektorium des IgnatiusKonviktes zwanzig Exjesuiten (Priester) auf einmal zu Baccalaurei, Lizen­ tiaten und Doktoren der Theologie gemacht, ebenso am 19. Oktober noch einmal sechsundzwanzig priesterliche Exjesuiten320. 324 Prantl 1579. 325 „Promulgatum fuit Breve Clementis XIV. P. M. Dominus ac Redemtor noster de suppressione ordinis Soc. Jesu. Commissarius episcopalis aderat titl. D. Stapf, Collegiatae Ecclesiae ad D. Virginem canonicus et consiliarius ecclesiasticus Eystadiensis cum notario et duobus testibus clericis. Intererant quoque commissarii electorates D. Baro de Ickstadt, universitatis director etc., et praenobilis D. Brugger, praxeos et iuris patrii professor, cum notario academico. Huie promul­ gation! adesse quoque debuit plurimum reverendus praenobilis et clarissimus D. Benno Zwerger, ss. theol. doctor, clericorum saecularium in communi viventium regens [Regens des Bartholomäer-Instituts in Ingolstadt], iam autem utraque, et episcopali et electoral! authoritate collegii Albertini director constitutus, quod ex tune incolere coepit.“ Matricula Collegii Theologici IV p. 153 (zum 4. Okt. 1773). Zum Barholomäer-Institut, benannt nach dem Priester Bartholomäus Holz­ hauser (1613 - 1658), vgl. Prantl I 404 f., 507-509, 511 f.; Schmid, Georgianum 54-56; Obermeier 129. — Rektor der Universität war im akademischen Jahr 1772/ 73 Karl von Leutner, Prof, der Hl. Schrift und Pfarrer bei St. Moritz (Mederer III 312), zugleich Dekan der theologischen Fakultät (9. Nov. 1772 — 24. Nov. 1773). Matricula Collegii Theologici IV p. 151 s. Bis 1769 wurde der Dekan der theologi­ schen Fakultät jeweils halbjährlich gewählt, und zwar am Fakultätsfest S. Johan­ nes ante Portam Latinam (6. Mai) und Anfang November (kurz nach der Wahl des neuen Rektors). Am 8. Nov. 1769 wurde auf landesherrliche Weisung erstmals auch der Dekan der Theologen für ein Jahr gewählt. Ebd. p. 132.

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Rückschauend wird man sagen müssen, daß die Gesellschaft Jesu bayerisch Land und Volk in der Zeit schwerer Bedrängnis ihre besten Kräfte zur Ver­ fügung gestellt und über zweihundert Jahre in Staat und Kirche Bedeuten­ des geleistet hatte, namentlich im religiös fundierten höheren Bildungs­ wesen. Die genannten Spannungen mit den Jesuiten an der Universität Ingol­ stadt hatten manchmal gewiß auch eine Wurzel in der Eitelkeit und in kolle­ gialem Neid auf beiden Seiten. Der eigentliche Grund lag aber darin, dies be­ weisen gerade die ersten Jahrzehnte, daß die Jesuiten sich nicht in die be­ stehende Korporation der Universität im nötigen Umfang einfügen konnten und wollten, daß sie zu sehr ihre Sonderstellung betonten und ihre Position kräftig auszubauen strebten. Hinter den Spannungen stand ferner der Unter­ schied zwischen dem jesuitischen Ideal einer ganzheitlichen religiös-wissen­ schaftlichen, streng kontrollierten Erziehung (im Seminar oder Kolleg) und der freieren Ordnung der deutschen Universität. Schwierigkeiten ergaben sich auch daraus, daß der Orden längere Zeit zahlreiche Ausländer einsetzte und daß die Professoren in der Regel viel zu häufig von der Ordensleitung ausgewechselt wurden. Unter den Ingolstädter Jesuitenprofessoren finden sich viele glänzende Namen in der theologischen und philosophischen Fakul­ tät, die voll auf der Höhe des Wissens ihrer Zeit standen, die aufstrebenden Naturwissenschaften nicht ausgeschlossen. In den theologischen Disziplinen Dogmatik und Moraltheologie und in der Kanonistik zählten Jesuiten der Universität Ingolstadt vom ausgehenden 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert zu den besten Köpfen ihrer Epoche. Auch unter den Jesuitenprofessoren der philosophischen Fakultät befinden sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zahl­ reiche Männer umfassender Bildung, feiner Geistigkeit und anerkannter Ge­ lehrsamkeit in allen Disziplinen der Zeit. Karl Prantls summarisches Verdikt über die „Jesuitennullen“ der Universität Ingolstadt327 ist unrecht verall­ gemeinernd, auch wenn die nachweisbaren Mängel nicht zu beschönigen sind, auch wenn man zugeben wird, daß im 18. Jahrhundert die große Zeit der Jesuitenschulen bereits der Vergangenheit angehört hat. Zwischen aufgeklärter Reform und Reaktion

Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen die Gedanken der Aufklärung im katholischen Deutschland stärker zum Durchbruch. Überall 326 7. Okt. 1773: „In refectorio convictus S. Ignatii martyris baccalaureatus, licentiae et doctoratus theologiae gradibus simul ac semel donati fuerunt sequentes exjesuitae... [folgen die 20 Namen, darunter Joh. Nep. Mederer] omnes sacerdotes.“ Ebenso am 19. Okt. 1773 weitere 26 — „hi omnes sacerdotes ex­ jesuitae“. Matricula Collegii Theologici IV p. 153 - 156. 327 Prantl I 443 f.; ähnlich abwertende Qualifikationen ebd. 338, 408, 481 f., 506, 523, 542, 584, 613. Dagegen F. S. Romstöck, Die Jesuitennullen Prantl’s an der Uni-

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zeigte sich jetzt das lebhafte Bemühen, das kulturelle Leben und den Bil­ dungsstand aller Schichten zu heben, namentlich durch Verbesserung des Schulwesens und der gesamten Volksunterweisung. Reorganisierung des Bildungswesens von der Volksschule bis zur Universität hinauf wurde in geistlichen und weltlichen Territorien des Reiches mit größtem Ernst und nicht selten mit wahrer Leidenschaft betrieben. Die Aufklärung hatte sich ganz bewußt dem Menschen zugewandt, und unmerklich hatte sich im fort­ schreitenden 18. Jahrhundert das Welt- und Lebensgefühl geändert. Statt der unermeßlichen illusionistischen Weiten verlangten die Menschen jetzt nach überschaubaren Ordnungen, statt gefühlsseligen Überschwanges nach rationaler Klarheit und Nüchternheit, statt himmlisch-irdischen Prunkes nach Hilfe und Nützlichkeit im menschlichen Alltag. Den Menschen des aufgeklärten Zeitalters waren die barocken Festgewänder zu schwer und faltenreich geworden. So wurde die Aufklärung einer der großen Ent­ lastungsversuche der abendländischen Geschichte. Gegenüber dem allzu drückend gewordenen Ballast der Geschichte griff die Aufklärung auf ein Ursprüngliches vor der Geschichte zurück: auf den Menschen als Vernunft­ wesen. Das mystische Himmelslicht des Barocks wurde im „Zeitalter der Kritik“ (Kant) durch das Licht der Natur und der Vernunft ersetzt.

Bezeichnend ist das neue Selbstverständnis des Staates, die Abwendung vom patriarchalischen Gottesgnadentum der Vergangenheit, auch wenn zu­ nächst noch die alten Formeln weitergetragen werden. Das starke Betonen der intellektuellen Kräfte des Menschen durch die Aufklärung, ihr optimi­ stischer Fortschrittsglaube, ihre Forderung an den Menschen, durch Wissens­ erwerb, durch Denken und vernünftiges Handeln seine Persönlichkeit zu entfalten, wirkten überall aufrüttelnd. Der Staat erschloß sich aufgeklärtem Denken und ergriff nun in allen Bereichen menschlichen Lebens die Initia­ tive, besonders im Bildungswesen als dem Ausgangspunkt aller angestreb­ ten Verbesserungen. Die Staatstheoretiker der Aufklärung schrieben ja dem Staat mit Betonung auch die Aufgabe zu, nicht nur für die allgemeine Wohl­ fahrt, sondern auch für die geistige und sittliche Bildung der Staatsbürger zu sorgen. So wurden die Universitäten im 18. Jahrhundert eigentlich erst zu Staatsanstalten im modernen Sinn. Zwei Aufgaben werden nunmehr der Universität zugeschrieben, die beide der Entwicklung des einzelnen Men­ schen und der Gesellschaft zugute kommen sollen: sie hat einerseits zum selbständigen, „kritischen“ Denken anzuleiten und durch neue Erkenntnisse die allgemeine Bildung und Wohlfahrt zu fördern, andererseits auf solider versität Ingolstadt und ihre Leidensgenossen. Eine biobibliographische Studie, Eichstätt 1898.

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wissenschaftlicher Grundlage eine gediegene Ausbildung der höheren Berufe im öffentlichen Leben zu übernehmen. Aus dieser Auffassung heraus sind alle Universitätsreformen und -neugründungen des aufgeklärten Jahrhun­ derts zu begreifen. Auch in Ingolstadt leitete die Aufhebung des Jesuitenordens, wie an den meisten katholischen Universitäten des Reiches, eine neue Reformperiode ein. Die theologische und die philosophische Fakultät wurden davon zunächst am stärksten berührt. Jetzt kam der tiefgreifende Wandel im System der Wissenschaften deutlicher zum Ausdruck. In der Theologie lautete die Alternative: alte „scholastische“ oder neue positive, das heißt auf kritisch geprüfte, echte Offenbarung gegründete Lehrweise, alte „metaphysische“ oder neue „kritische“ Methode328. Es war als Glück zu betrachten, daß die Neuordnung der Universität Ingolstadt noch einige Jahre in den Händen des erfahrenen, bewährten Barons Ickstatt lag und durch die Umsicht des Kurfürsten Max III. Joseph gefördert wurde. Die Vertreter einer katholischen Aufklärung im Land erhofften sich durch die Millionen des Jesuitenvermögens einen bedeutenden Aufschwung des Schulwesens und des gesamten geistigen Lebens. Der Kur­ fürst rief verschiedene Orden auf, ihre fähigsten Leute nach Ingolstadt zu schicken. In den Kreisen der Reformer rief es Enttäuschung hervor, als be­ kannt wurde, daß aus Mangel an geeigneten anderen Lehrkräften ein Teil der Exjesuiten weiterhin an der Universität lehren sollte. Nur die Gymna­ sien Bayerns blieben dem Einfluß der Exjesuiten entzogen. An der Univer­ sität verblieben zunächst vier Jesuitenprofessoren, Benedikt Stattler in der theologischen und drei weitere Exjesuiten in der philosophischen Fakultät. Trotz schwerer Bedenken glaubte auch Ickstatt auf die jesuitischen Lehr­ kräfte nicht sofort verzichten zu können, weil man im Augenblick die nötigen anderen Professoren noch nicht zur Hand hatte. Die übrigen Jesuiten-Lehrstühle wurden durch Mitglieder der ständischen Klöster Kurbayerns besetzt. Die halbe Lösung erwies sich als schwerer Schaden. Die notwendige durch­ greifende Reform der theologischen Fakultät und des theologischen Stu­ diums, wie sie damals in den österreichischen Erblanden und in vielen geist828 Zum Folgenden vgl. Prantl I 619 - 697 (Die letzten Jahre in Ingolstadt, 1773 1800; theol. Fakultät: 655 - 666); L. Boehm, Ingolstadt zwischen Reform und Reak­ tion, in: Spindler II 829 - 831; L. Hammermayer, Das Ende des alten Bayern. Die Zeit des Kurfürsten Max III. Joseph (1745 - 1777) und des Kurfürsten Karl Theo­ dor (1777 - 1799), in: Spindler II 983 - 1102, bes. 985 - 1033 (Die Aufklärung in Wis­ senschaft und Gesellschaft) und 1091 - 1102 (Landesherr und Kirche) (mit reicher Lit.). — Zu den Reformen der katholischen Universitäten und theologischen Fakul­ täten im Reich: Lit. im Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin, V (1970), 573 f. (Bonn, Dillingen, Freiburg, Fulda, Graz, Ingolstadt, Innsbruck, Löwen, Mainz, Münster, Olmütz, Osnabrück, Paderborn, Prag, Salzburg, Wien).

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liehen Territorien des Reiches durchgeführt wurde, blieb in Bayern sehr erschwert. Die Exjesuiten besaßen weiterhin einflußreiche Freunde und Helfer in Ingolstadt, in verschiedenen Bischofsstädten, namentlich in Augs­ burg und Eichstätt, nicht zuletzt in München. Es begann ein unguter Kampf der Parteien, vielfach geführt mit den Mitteln der Intrige, der Verdächtigung und Verleumdung. Die Auseinandersetzung blieb nicht im Bereich der Uni­ versität. Sie wurde in zahlreichen Zeitschriften und Broschüren lautstark ausgetragen. Solche Auseinandersetzungen bewegten damals die ganze katholische Welt, da die Jesuiten bis vor kurzem vielfach eine Art Monopol­ stellung im höheren Bildungswesen der Katholiken eingenommen hatten. Die Lehrstühle der Universität, die im Zusammenhang mit der Auf­ hebung der Gesellschaft Jesu frei geworden waren, wurden im Auftrag des Kurfürsten noch 1773 durch Ickstatt und seinen Schüler Georg von Lori mit Jesuitengegnern und Vertretern der katholischen Aufklärung besetzt. Sie kamen alle aus bayerischen Klöstern. Unter ihnen gewannen besonderes Profil der Benediktiner Hermann Scholliner329 aus Oberaltaich in der theo­ logischen, und der Augustinerchorherr Gerhoh Steigenberger330 aus Polling in der philosophischen Fakultät. Hermann Scholliner hatte bisher an der Universität Salzburg, im gemeinsamen Studium der bayerischen Benedik­ tinerkongregation und in seinem Heimatkloster Oberaltaich unterrichtet. Die beiden weltgeistlichen Professoren der theologischen Fakultät, die noch der vorigen Periode angehört hatten, schieden bald aus der Fakultät aus; 329 Geb. 15. Januar 1732 in Freising, gest. 17. Juli 1795 als Propst in Walchenberg (Welchenberg); 1750 Lehrer für Kirchenrecht im Kloster Oberaltaich, 1751 Direktor des Studium commune der bayerischen Benediktinerkongregation, 1760 1766 Prof, für Dogmatik an der Universität Salzburg, 1773 - 1780 in Ingolstadt. Hauptwerke u. Lit. A. Kraus, in: LThK 2IX 449; A. Hofmann, Beda Aschenbrenner (1756 -1817). Letzter Abt von Oberaltaich. Leben und Werk, Passau 1964, 21, 127; R. van Dülmen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 29 (1966) 507. 330 Geb. 20. April 1741 in Peißenberg, gest. 5. Aug. 1787; Studien in Polling unter Eusebius Amort und dem bedeutenden Propst Franz Töpsl, der ihn nachhaltig för­ derte und zu weiteren Studien nach Paris und Rom schickte; Stiftsbibliothekar, Lehrer für Philosophie und Theologie in Polling, 1773 - 1778 Prof, für Philosophie in Ingolstadt (Logik, Metaphysik, Ethik, Literaturwissenschaften), 1774 Beichtvater und Spiritual der Alumnen des Collegium Albertinum in Ingolstadt; Verwalter der Jesuiten- und Universitätsbibliothek in Ingolstadt, seit 1778 wieder in Polling als Bibliothekar und Lehrer, 1781 Hofbibliothekar in München, 1783 Mitglied des kurfürstlichen Geistlichen Ratskollegiums. Wie sein Propst Töpsl, der selber Schüler der Jesuiten in München und Ingolstadt gewesen war, und alle Pollinger Chorherren dieser Zeit war Steigenberger ein entschiedener Gegner der Jesuiten. R. van Dülmen, Propst Franziskus Töpsl (1711 - 1796) und das Augustiner-Chor­ herrenstift Polling. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Aufklärung in Bayern, Kallmünz 1967, bes. 78-83, 295 -316; ders., Aufklärung und Reform in Bayern. I. Das Tagebuch des Pollinger Prälaten Franz Töpsl (1744 - 1752) und seine Korrespondenz mit Gerhoh Steigenberger (1763 - 1768), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32 (1969) 606 - 747, 886 - 961.

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Carl von Leutner, zur Zeit der Aufhebung des Jesuitenordens Dekan und Rektor331, verzichtete 1774 auf Lehrstuhl und Pfarrei, Eckher starb im fol­ genden Jahr332. Ende Oktober 1773 wurden im Zuge der Neuordnung für die theologische Fakultät folgende Professoren bestellt333: der Benediktiner Hermann Scholliner als Professor primarius der Dogmatik, ferner drei Exjesuiten: Benedikt Stattler334 als Professor pomeridianus der Dogmatik, Franz Xaver Sautermeister335 als Professor der Moraltheologie und Johann Nepomuk Mederer336 als Professor der Kirchengeschichte, die damit erstmalig als eigene Disziplin 331 Matricula Collegii Theologici IV p. 151. 332 Permaneder 16,19; Prantl 1661. 333 „Subeunte hoc mense [Okt. 1773] pro facultate theologica denominati sunt sequentes doctores P. Hermannus Scholliner, Benedictinus Oberaltacensis, theo­ logiae dogmaticae professor primarius, quam antehac in universitate Salisburgensi septennio, sexennio autem in studio communi Congregationis Benedictino-Bavaricae, et triennio in suo monasterio tradiderat. Plurimum Titi. D. Benedictus Stattler, pomeridianus. D. Franc. Xav. Sautermeister, theol. moral. D. Joan. Nep. Mederer, histor. eccles. professores exjesuitae.“ Eintrag des Dekans Scholliner in: Matricula Collegii Theologici IV p. 157. 334 s. Anm. 318. 335 Geb. 24. Nov. 1725 in Mindelheim (Schwaben), gest. 27. April 1801 in Schon­ gau; nach verschiedener Lehrtätigkeit in der Gesellschaft Jesu 1770 - 1773 Prof, der Moraltheologie in Ingolstadt, 6. Dez. 1773 Prof, der Polemik am Lyzeum München, 1774 Pfarrer in Dachau, 1776 in Schongau. Mederer III 305, 307; Prantl I 584, 661; Romstöck 329 - 331 (Werke). 336 Geb. 2. Juni 1734 in Stöckelsberg bei Neumarkt/Oberpfalz, gest. 13. Mai 1808 in Ingolstadt; nach Lehrtätigkeit im Jesuitenkolleg zu Amberg 1768 Prof, der Ge­ schichte in der philosophischen Fakultät Ingolstadt als Schüler und Nachfolger des bedeutenden Historikers Heinrich Schütz S. J., 1773/74 Prof, der Kirchen­ geschichte in der theologischen Fakultät, 1774 Prof, am Lyzeum Amberg (Lehramt nicht angetreten) und München, 1775 Mitglied der Kurbayerischen Akademie der Wissenschaften, 1780/81 und 1784 - 1800 Prof, der Geschichte in der philosophi­ schen Fakultät Ingolstadt, 1787 Pfarrer bei St. Moritz in Ingolstadt, 1795 Vize­ kanzler der Universität. Bei der Verlegung der Universität nach Landshut blieb er als Pfarrer bei St. Moritz in Ingolstadt, wo er auch starb. Seine bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen sind die „Annales Ingolstadiensis Academiae“, 4 Bde., Ingolstadt 1782, und die erste kritische Edition der Lex Baiuwariorum in: L. Westenrieder, „Beyträge zur vaterländischen Historie“ V, München 1793. Außer­ dem schrieb er eine volkstümliche bayerische Geschichte (1777/78). Ungedruckt: Systema historiae ecclesiasticae (um 1775 entstanden; Bayer. Staatsbibliothek München, Clm. 28779). Mederer III 299, 301, 318; L. Westenrieder, Beyträge zur vaterländischen Historie, IX, München 1812, 1-115; Permaneder 6, 17, 49, 154, 160, 206; Prantl I 613, 633 f., 649 f., 662, 688 f., II 516; Romstöck 498; Duhr IV/2 85 f. (2 Lustspiele Mederers: „Nobilitas affectata et punita“, 1758 in Ingolstadt, „Peregrinatio“, 1759 in Landshut aufgeführt), 596. — Die lange verkannte und verzeich­ nete Leistung der Jesuiten-Historiker in Ingolstadt wird in neueren Untersuchun­ gen gebührend gewürdigt: A. Kraus, Die historische Forschung an der Churbayeri­ schen Akademie der Wissenschaften, München 1959; ders., Vernunft und Ge­ schichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Ge­ schichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert, Freiburg - Basel - Wien 1963; L. Hammermayer, Gründungs- und Frühgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Kallmünz 1959; L. Hammermayer, in: Spindler II 1012-1016; H. Dickerhof, Land, Reich, Kirche im historischen Lehrbetrieb an der Universität Ingolstadt (Ignaz Schwarz 1690 - 1763), Berlin 1971, bes. 181 - 183.

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erscheint. Am 8. November 1773 hielt Scholliner seine Antrittsvorlesung, anschließend wurden die neuen Professoren zum Akademischen Senat zuge­ lassen und in herkömmlicher Weise vereidigt. Unter dem gleichen Datum erging ein landesherrlicher Erlaß, daß künftig die Professoren der theologi­ schen Fakultät stets „Geistliche Räte“ seien. Die drei Exjesuiten hatten Schol­ liner insgeheim gebeten, dies zu erwirken337.

Die Spannungen innerhalb der neuorganisierten Fakultät erreichten bald ein unerträgliches Maß. Dem tüchtigen Hermann Scholliner mangelte es nicht an Selbstbewußtsein, und Benedikt Stattler konnte es schwer verwin­ den, daß ein Benediktiner erster Professor der dogmatischen Theologie sein sollte. Scholliner und Steigenberger waren Gegner der bisher in Ingolstadt betriebenen spekulativen Theologie und einer ähnlich ausgerichteten Philo­ sophie. Sie forderten Intensivierung der naturwissenschaftlichen und histo­ risch-kritischen Studien in der philosophischen und theologischen Fakultät. Die verbliebenen Exjesuiten, an der Spitze Benedikt Stattler, stellten sich entschieden gegen derartige Neuerungen. Es war damals Brauch, oft auch Vorschrift, daß den Vorlesungen ein bestimmtes Lehrbuch zugrundegelegt wurde. Diese Rolle dachten die Exjesuiten der Philosophie und Theologie Stattlers zu. Benedikt Stattler, ein entschiedener Molinist, war auf seine Weise auch ein moderner Denker. Radikal vollzog er den Bruch mit der scholastischen Methode seiner Mitbrüder. Leidenschaftlich verfocht er die irenischen Ziele eines Leibniz und Wolff. Er unterbaute sein Lehrgebäude mit brauchbar scheinenden Sätzen aus dem philosophischen System des ehedem gefeierten Christian Wolff, um so mit Wolff die Übereinstimmung von katholischer Glaubenslehre und Vernunfterkenntnis rational zwingend nachzuweisen338. Doch das System Wolffs, das so vielen evangelischen und 337 8. Nov. 1773: „Hora 1. pomeridiana solenne principium theologiae dogmaticae professoris primarii [Scholliner], postea ad senatum academicum cum aliis admissi, et consueto iuramento obstricti.“ 12. Nov.: „Hora 3. vespertina sacrae facultati in conclavi Provincialis congregatae excell. d. director universitatis [Ickstatt] promulgavit electorale decretum, quo cursus theologiae deinceps ad triennium restringebatur, iubebantur professores, ut sua desuper sensa clausa singuli ad manus Serenissimi per allefatum directorem deferrent.“ 22. Nov. 1773: „Hac die sacrae facultati communicatum fuit clementissimum electorale decretum de dato 8. nov. et praesentatum hodie, quo character consiliarii ecclesiastici electoralis in perpetuum annexitur cathedris nostrae, pro quo tres alii clam me subplicaverant.“ Eintragungen Scholliners: Matricula Collegii Theologici IV p. 158 s. 338 B. Stattler, Demonstratio evangelica, Augsburg 1770; ders., Demonstratio catholica, Pappenheim 1775. — Verzeichnis seiner Werke bei Sommervogel VII 1498 - 1509. — J. Diebolt, La theologie morale catholique en Allemagne ... 1750 1850, Straßburg 1926, 127; H. Schiel, Johann Michael Sailer. Briefe, Regensburg 1952, 702 (Reg.); F. Scholz, Benedikt Stattler und die Grundzüge seiner Sittlich­ keitslehre, Freiburg i. B. 1957; ders., Benedikt Stattler (1728 - 1797), in: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. H. Fries und G. Schwaiger, I,

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katholischen Theologen des Jahrhunderts als Waffenkammer zur Glaubens­ begründung gedient hatte, erschien bereits veraltet. Schon setzte Immanuel Kant in Königsberg seine Feder an, um die alten und neuen „metaphysi­ schen“ Systeme der Philosophie — auch als Grundlagen einer entsprechen­ den Theologie — aus den Angeln zu heben. Der Kampf der streitenden Parteien in der theologischen Fakultät ent­ brannte an dem Vorschlag Ickstatts und seiner Freunde, das eigentliche theologische Studium (nach Abschluß der Philosophie) von vier auf drei Jahre zu verkürzen und neue theologische Disziplinen einzuführen, zum Beispiel biblisch-orientalische Sprachen als Voraussetzung einer kriti­ schen Exegese, Kirchengeschichte und Pastoraltheologie. Das spekulati­ onsfeindliche, historisch-kritische theologische Werk des Benediktiners Dominikus Schramm339 von Kloster Banz sollte den Dogmatik-Vorlesungen zugrundegelegt werden. Am 12. November 1773 teilte Ickstatt als Direktor der Universität den versammelten Theologieprofessoren das kurfürstliche Schreiben mit, daß künftig der theologische Cursus drei Jahre betragen solle. Die Professoren erhielten Weisung, ihre Ansichten hierüber einzeln und verschlossen über Ickstatt ad manus Serenissimi schriftlich einzu­ reichen340. München 1973 (QQ., Lit.); R. Obermeier, Die Universität Ingolstadt, Ingolstadt 1959,103 - 105 (Stattler), 109 - 123 (Ickstatt), 123 - 131 (Eindrücke dreier Professoren der protestantischen Universität Altdorf in Ingolstadt mit sehr positivem Urteil über die vornehme, irenische Haltung Stattlers, 1778). Vgl. B. Stattler, Plan zu der allein möglichen Vereinigung der Protestanten mit der katholischen Kirche und von den Grenzen dieser Möglichkeiten, München - Augsburg 1781; F. X. Hai­ merl, Die irenische Beeinflussung Johann Michael Sailers durch Benedikt Stattler, in: Jahrbuch des Histor. Vereins Dillingen 52 (1950) 78-94; H. Graßl, Aufbruch zur Romantik, München 1968, 84 - 96. — Zur Irenik dieser Zeit vgl. Handbuch der Kirchengeschichte V 554 - 570. 339 Dominicus Schramm, Compendium theologiae, 3 Bde., Augsburg 1768 - 1789; ders., Institutiones theologiae mysticae, 2 Bde., Augsburg 1774 (zuletzt Paris 1874). LThK 2IX 483. 340 Matricula Collegii Theologici IV p. 158; s. o. Anm. 337. — Zu den langen, hefti­ gen Auseinandersetzungen zwischen der jesuitischen Partei und den „Reformern“ vgl. R. van Dülmen, Anfänge einer geistigen Neuorientierung in Bayern zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Eusebius Amorts Briefwechsel mit Pierre Francois Le Cou­ rayer in Paris, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 26 (1963) 493 - 559; ders., Sebastian Seemiller (1752 - 1798), Augustiner-Chorherr und Professor in Ingolstadt. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte Bayerns im 18. Jahrhundert, ebd. 29 (1966) 502-547; ders., Die Prälaten Franz Töpsl aus Polling und Johann Ignaz von Felbiger aus Sagan. Zwei Repräsentanten der katholischen Aufklärung, ebd. 30 (1967) 731 - 823; ders., Propst Franziskus Töpsl (1711 - 1796) und das Augu­ stiner-Chorherrenstift Polling. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Auf­ klärung in Bayern, Kallmünz 1967; ders., Aufklärung und Reform in Bayern. I. Das Tagebuch des Pollinger Prälaten Franz Töpsl (1744 - 1752) und seine Korrespon­ denz mit Gerhoh Steigenberger (1763 - 1768), in: Zeitschrift für bayerische Landes­ geschichte 32 (1969) 606 - 747, 886 - 961.

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Die Gutachten der Professoren sind höchst aufschlußreich. In ihnen kon­ zentrieren sich die stark divergierenden Auffassungen der beiden Parteien. Da alle Theologiestudenten die erste Ausbildung in der philosophischen Fakultät erhielten, da in dieser Fakultät Exjesuiten und neuerdings andere Ordensleute lehrten, griff der Grundsatzstreit über die theologische Fakul­ tät hinaus. Das entscheidende Gutachten der Reformpartei stammt von Hermann Scholliner. Er fordert Differenzierung des theologischen Lehr­ systems und Betonung der historischen Forschung. Mit allem Nachdruck wendet er sich gegen die alles beweisende metaphysische Dogmatik Benedikt Stattlers, der sich alle Exjesuiten in Ingolstadt verpflichtet fühlten. Stattler selbst meinte, allein seine Methode, seine „demonstrative“ Dogmatik, die alles „aus zureichenden Gründen“ bewies, könne die Seelsorger, Prediger und „Christenlehrer“ gründlich lehren, „welche nicht nur auf dem Land, sondern auch in Städten eine Menge Freydenker, welche in allen Zusam­ menkünften über die Religion philosophisch zu spotten pflegen, gründliche Rede und Antwort sollen geben können“. Hermann Scholliner und andere Vertreter der Reform hielten Stattlers schwer lesbare, schwer verständliche Theologie für nichts anderes als eine „Dunkel- oder Weibertheologie“. Nach ihrer Meinung konnte der „verdorbene Sauerteig des Molinismus und Probalilismus“ — jesuitische Lieblingsmeinungen — nur durch das Studium der Heiligen Schrift, der Kirchenväter und der päpstlichen Erklärungen im strengen Sinn überwunden werden. Damit wollte der Theologe aus Ober­ altaich keineswegs eine „gesunde Metaphysik“ verwerfen, „wenn sie nur ordentlich und deutlich ist“. Aber die Theologie dürfe nicht unter einem metaphysischen Zwangsrecht stehen, auf welches jetzt, wie früher auf Aristoteles, Lehrgebäude in der Theologie ausgeführt werden sollen. Schol­ liner verurteilt die alte Scholastik und ebenso den neueren Versuch, diese Scholastik durch die demonstrative Metaphysik und den Rationalismus Christian Wolffs zu ersetzen, was ja im 18. Jahrhundert nicht wenige Theologen versuchten, um mit dieser Krücke die hart angegriffene Scho­ lastik zu stützen. Scholliner und seine Freunde glaubten vielmehr mit voller Gewißheit behaupten zu dürfen, „daß die christliche Religion nicht auf die bloße Vernunft, sondern auf eine die Vernunft übertreffende Offenbarung gegründet ist. Die Vernunft kan eine nüzliche Dienstmagd, aber nicht Frau im Hause seyn“. „Nicht die leichtirrende Vernunft, sondern das untrüglich geschriebene oder ungeschriebene Wort Gottes, das Ansehen der Kirche kann in Glaubenssachen entscheiden, und man wird dennoch im Stande sein zu erweisen, derselben doch nicht zu wider seyn. Auf diese Weise ist die Metaphysik gut genug angewandt, und mehr ist der Dogmatik ein

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Überfluß, und neu-scholastische Zänkerey“341. Scholliner und seine Freunde wehrten sich also gegen die alles erklärende und alles beweisende Speku­ lation der späten Jesuitenschule. Sie wollten nicht „Menschenfündlein“ über das Wort Gottes stellen.

Beide Standpunkte, konzentriert in Stattler und Scholliner, seit 1773 in Ingolstadt um den Vorrang kämpfend, schlossen einander aus. Aber sie waren nun klar ausgesprochen — ein Zeichen überdies, wie sehr auch im katholischen Bereich die philosophisch-theologischen Grundsatzfragen um­ kämpft waren, die Kant wenige Jahre später mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) zu lösen gedachte. Der Exjesuit Stattler verstand die katho­ lische Theologie im Sinn einer demonstrativen, spekulativen Metaphysik, der alle anderen theologischen Disziplinen untergeordnet sein sollten. Der Benediktiner Hermann Scholliner, angeregt durch die österreichischen Re­ formen, versuchte das theologische Studium so zu reformieren, daß die alles beweisende Metaphysik zugunsten der exegetischen und historischen Fächer eingeschränkt und der theologische Wissenschaftsbetrieb durch neue Disziplinen erweitert und bereichert würde. Die harten Auseinandersetzungen in der theologischen Fakultät spiegeln sich auch in der Dekans-Matrikel dieser Jahre342. Am 8. Dezember 1773 wurde ein kurfürstliches Schreiben mitgeteilt, daß der Moraltheologe Sautermeister, derzeit Dekan der Fakultät, als Professor für Polemik nach München versetzt werde; ihm folgte als Professor der Moraltheologie der Weltpriester Wolfgang Schmitt, bisher Polemik-Professor in München343. Am 14. Dezember 1773 wurde Scholliner zum neuen Dekan gewählt344. Sei­ nen Aufzeichnungen in der Matrikel hat Benedikt Stattler später an zahl­ reichen Stellen scharf korrigierende Einträge hinzugefügt345.

Über allem ärgerlichen Streit gehörte die Zukunft dennoch der Reform­ richtung, welche die besseren Argumente vorbringen konnte und die Zei­ chen der Zeit erkannte. Der neue theologische Lehrplan von 1774346 entschied zugunsten der neuen Richtung an der Universität Ingolstadt. Der gelehrte 341 R. van Dülmen, Sebastian Seemiller, bes. 507 - 509. 342 Matricula Collegii Theologici IV. 343 Ebd. p. 161 s. — Sautermeister war am 25. Nov. 1773 — als Nachfolger Karl v. Leutners — zum Dekan gewählt worden. Ebd. p. 152. — Zu Wolfgang Schmitt (Schmid) aus Renting (bei Schwandorf/Oberpfalz), ebd. p. 165 (Promotion), p. 231 (Entfernung vom Lehramt); Prantl I 662. 344 Matricula Collegii Theologici IV p. 163. 345 z. B. ebd. p. 178,179, 203, 206, 219, 221, 233. 346 Gedruckt in: Churfürstlich-Baierische hoher und niederer Schulen-Ordnung, wie solche von Sr. Churfürstl. Durchlaucht unter dato den 9. Oct. diess laufenden Jahres an die churfürstliche Universität zu Ingolstadt vorsehungsweis erlassen worden, Ingolstadt 1774; Prantl I 622 f., 656.

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Exbenediktiner Heinrich Braun347 von Tegernsee und andere Reformer hat­ ten ihn im engen Anschluß an die österreichische Studienreform des Abtes Stephan Rautenstrauch348 ausgearbeitet. Dieser Plan verkürzte das Theo­ logiestudium auf drei Jahre. Neben den bisherigen Fächern Dogmatik, Moral­ theologie, Heilige Schrift wurden jetzt als neue Disziplinen eine Art enzyklo­ pädische Einleitung, biblisch-orientalische Sprachen, Pastoraltheologie, geistliche Beredsamkeit und Kirchengeschichte eingeführt. Damit begann in der theologischen Fakultät ein wissenschaftlicher Betrieb im modernen Sinn, ausgerichtet auf die Erfordernisse des Seelsorgeklerus. Jetzt wurde die Exegese des Alten und Neuen Testaments mit dem Studium der orien­ talischen Sprachen verbunden und damit der Zugang zum biblischen Urtext geöffnet; bisher hatte allein der lateinische Vulgatatext die Grundlage ge­ boten. Das Studium der Kirchengeschichte sollte die geschichtliche Dimen­ sion in der Weitergabe der Offenbarung durch die Kirche erschließen, gründ­ liche Ausbildung in Predigt, Katechese und allen Erfordernissen der Seel­ sorge den künftigen Priester zum besseren Wirken befähigen.

Die Neuordnung des Theologiestudiums im Geist der katholischen Auf­ klärung, wie sie damals an allen katholischen Universitäten des Reiches durchgeführt wurde, erwies sich als großer Segen. Im Grunde wurde jetzt erst der Klerus allgemein auf wissenschaftlicher Grundlage ausgebildet. Zu diesen notwendigen Reformen gehörte auch die Absicht des Staates, daß möglichst alle Priester ihre Ausbildung künftig an den im Geist der katho­ lischen Aufklärung erneuerten Fakultäten, Lyzeen und Seminarien erhal­ ten sollten. Daß es dabei gelegentlich zu harten Auseinandersetzungen zwischen der beanspruchten Kirchenhoheit des Staates und dem Recht der Bischöfe kommen mußte, war schier unvermeidlich349. Doch haben die meisten Bischöfe der Reichskirche in dieser Zeit die Notwendigkeit der Reform erkannt und von sich aus unterstützt. Am deutlichsten beweisen dies die Reorganisationen und Neuerrichtungen von Universitäten oder Akademien in den geistlichen Staaten (z. B. in Salzburg, Passau, Würzburg, Bamberg, Mainz, Erfurt, Trier, Fulda, Bonn, Münster)350. In Bayern brachte 347 L. Wolfram, Heinrich Braun (1732 - 1792). Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungsepoche in Bayern, München - Bamberg - Leipzig 1892; Spindler II 1113. 348 B. F. Menzel, Abt Franz Stephan Rautenstrauch von Bfevnov-Braunau, Königstein/Taunus 1969 (Lit.). — Handbuch der Kirchengeschichte, Hrsg. v. H. Jedin, V, 508 - 523. 349 Vgl. G. Pfeilschifter-Baumeister, Der Salzburger Kongreß und seine Aus­ wirkung. 1770 - 1777, Paderborn 1929. 350 R. Haaß, Die geistige Haltung der katholischen Universitäten Deutschlands im 18. Jahrhundert, Freiburg i. B. 1952; Handbuch der Kirchengeschichte V 573 f. (Lit. zu den einzelnen Universitäten), 589 - 593.

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erst der Regierungsantritt des Kurfürsten Max IV. Joseph und die rück­ sichtslose Kirchenpolitik seines dirigierenden Ministers Montgelas (seit 1799) die ungute Verschärfung, den Radikalismus der Spätaufklärung351.

Gegen die neue Studienordnung von 1774 kämpfte Benedikt Stattler mit allen Mitteln an. Er wollte sich mit den Reformen nicht abfinden. Im August 1774, mitten in den Ferien, kam es zum schweren Streit über das neue Schema der theologischen Vorlesungen. Stattler griff mit ungestümer Hef­ tigkeit die Festlegung an, daß künftig der ganze Dogmatik-Cursus in einem Jahr absolviert werden sollte352. Sein unablässiges Agieren und Agitieren blieb nicht ohne Erfolg. Es kam ihm sehr gelegen, daß 1776 sein großer Widersacher Ickstatt starb. Am 30. November 1776 wurde Stattler — seit Aufhebung seines Orden zum erstenmal — wieder zum Dekan gewählt. Seine Eintragungen in die Matrikel eröffnete er triumphierend damit, daß am 5. Februar 1776 der Fakultät ein kurfürstliches Dekret mitgeteilt wor­ den sei, nach welchem die DogmatikVorlesungen wieder auf zwei Jahre aus­ gedehnt wurden353. Bald gelang es ihm, seine ärgsten Gegner an der Univer­ sität, Hermann Scholliner und Gerhoh Steigenberger, zu vertreiben354. Er schreckte vor den trüben Kampfmitteln der Verdächtigung nicht zurück. Im August 1777 richteten die Theologieprofessoren Wibmer, Wishofer, Wurzer und Scholliner unter Hinweis auf die Handhabung in Österreich, wo kein Exjesuit auf einen theologischen Lehrstuhl zugelassen werde, an den Kurfürsten die Bitte, die Theologiestudenten nicht völlig in die Hände Stattlers zu treiben, der nur den verwerflichen Molinismus und Probabilismus lehre und den Besuch der Moral- und Pastoraltheologie hintertreibe; man fürchtete auch, daß durch die Ernennung des Stattler-Schülers Johann Michael Sailer der exjesuitische Einfluß verstärkt werde. Sailer war näm­ lich vor Aufhebung des Ordens Jesuitennovize gewesen und wurde daher 351 G. Schwaiger, Die altbayerischen Bistümer Freising, Passau und Regensburg zwischen Säkularisation und Konkordat (1803 - 1817), München 1959. 352 Matricula Collegii Theologici IV p. 203 (Eintrag des Dekans Scholliner, mit späterer Korrektur Stattlers). 353 „Hoc anno 1776 5. febr. datum est ad s. facultatem decretum electorale de biennio studii theologiae dogmaticae restituendo, et s. facultati deferens honorem per sua membra propria privative ordinandi omnia studia eidem propria: ubi et obligationis conscientiae admonebamur omnes, et ne quid extraneis rationibus in hoc negotio tribueremus, quod cum religione et salute animarum tarn arcte connectatur, qui finis sit omnis studii theologici.“ Matricula Collegii Theologici IV p. 235. 354 „4ta Sept. 1777 valedixit per circulare circum missum academiae nostrae PI. R. et Magnif. D. Hermannus Schollinger Ord. S. Bened. Oberaltacensis, qui cum ipse infra hunc labentem annum dimissionem post clariss. Dom. professorem Steigenberger petiisset, a Serenissimo una cum illo obtinuit.“ Matricula Collegii Theologici IV p. 240 s. (Eintrag Stattlers). Vgl. R. van Dülmen, Seemiller 510; ders., Propst Franziskus Töpsl 210 - 223.

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den Exjesuiten zugerechnet. Im folgenden Jahr brachte die Fakultät diese Klage erneut und verschärft vor: die Alleinherrschaft der Stattlerschen Philosophie und Theologie verfälsche die reine Lehre, und damit hänge eine bedenkliche Vernachlässigung der Heiligen Schrift und der Kirchenge­ schichte zusammen355. Ungeachtet aller Proteste der an der Universität noch verbliebenen Vertreter der Reformpartei konnte Stattler die Neuerungen weitgehend zurückdrängen. Es gelang ihm, die Mehrheit der Fakultät für sich zu gewinnen, und nach dem Weggang Scholliners (1777) war der ränke­ volle Mann noch einmal Herr der theologischen Fakultät. Eine nähere Ausführung des dreijährigen theologischen Cursus, die Hein­ rich Braun im Jahr 1777 entworfen hatte, fand jetzt die Zustimmung der theologischen Fakultät. Das Hauptgewicht wird auf Systematik und Metho­ dik des Unterrichts gelegt. Im ersten Jahr sollen orientalische Sprachen, Exegese (Theorie der Hermeneutik) und Kirchengeschichte gehört werden, mit einem Anhang über theologische Literaturgeschichte, im zweiten Jahr Dogmatik mit Einflechtung der Patristik und daneben in strenger Unter­ scheidung der Agenda und Credenda Moraltheologie, die aber weder ein Laxismus noch ein Rigorismus sein soll, im dritten Jahr Fortsetzung der Dogmatik, dazu Kirchenrecht und Pastoral; die Pastoral ist gegliedert in Katechetik, Homiletik und Liturgie. Im August 1779 richtete die Fakultät unter dem Einfluß Stattlers an die Regierung den Antrag, einen neuen, auf vier Jahre berechneten Plan des theologischen Studiums einzuführen. Man wies dabei auf den notwendigen Kampf gegen die Freigeisterei hin. Die Schlußprüfungen seien nach Ablauf der vier Jahre einzurichten, die Ertei­ lung der Weihen in die Ferienzeit zu verlegen, Pfarreien und Kanonikate oder Benefizien in Städten und Märkten nur an Doktoren der Theologie zu vergeben und der theologischen Fakultät die Oberaufsicht über das Geor­ gianum zu übertragen. Der neue Kurfürst Karl Theodor (1777 - 1799) for­ derte sein Geistliches Ratskollegium zu gutachtlicher Stellungnahme auf. Dieses Gutachten, von Heinrich Braun verfaßt, äußert sich in allerschärfster Weise gegen die Geldschneiderei der Fakultät, die aus jährlich etwa zwanzig Promotionen 3000 fl einzustreichen gedenke, und gegen die graduierten Meßfischer, die in allen Sakristeien herumlaufen würden. Der Bericht sprach ungescheut aus, daß das Ganze nur auf eine Unterstützung der schändlichen probabilistischen Theologie Stattlers hinauslaufe, die besser völlig ausgemerzt werden solle, und daß durch die Aufsicht über das Georgianum der Jesuitismus durch die Hintertür wieder eindringen wolle. Der Kurfürst ging nur teilweise auf die Wünsche der Fakultät ein. Der vierjährige Cursus der 355 Prantl I 657. 8

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Theologie wurde wiederhergestellt. Die Absicht der Exjesuiten, sich das Georgianum dienstbar zu machen, schlug fehl356. Als die philosophische Fakultät im Jahr 1781/82 damit begann, die ganze Philosophie deutsch vorzutragen, kämpfte Benedikt Stattler mit der theo­ logischen Fakultät heftig dagegen an: den Studierenden der Theologie sei es höchst notwendig, nach bisherigem Brauch lateinisch zu dozieren357. Diese Invektiven gehörten zu den letzten Unternehmungen Stattlers an der Uni­ versität Ingolstadt. Im Zuge der Errichtung einer bayerischen Zunge des Malteserordens — aus dem Jesuitenfonds (1781) — wurden die Exjesuiten, die nun nicht mehr aus diesem Vermögensstock bezahlt werden konnten, von der Universität abgezogen und anderweitig untergebracht, gewöhnlich unter demütigenden Umständen358. Im August 1781 waren die bayerischen Prälaten aufgefordert worden, die theologischen und philosophischen Lehr­ stühle mit eigenen Lehrkräften zu versorgen. Benedikt Stattler mußte sich 1782 auf die Pfarrei Kemnath in der Oberpfalz zurückziehen359. Später ging er nach München, wo er unter Kurfürst Karl Theodor zeitweilig bedeuten­ den Einfluß gewann, sich in eigenartiger Weise dem Zeitgeist öffnete und verschloß. Er versuchte, in einem umfangreichen Werk den „Alleszermalmer“ Kant zu widerlegen360, mußte aber selbst die römische Verurteilung der wichtigsten Werke seines eigenen umfangreichen Schrifttums erleben. Im Jahr 1797 starb der begabte, aber recht starre, einrissige Mann zu Mün­ chen, ohne Widerruf zu leisten. Er hatte gewiß ein Leben lang für die gute Sache in seiner eigenwilligen Auslegung gestritten. Person und Werk Statt­ lers fielen rasch der Vergessenheit anheim. Auch Sailer, nach Scholliners Abgang zweiter Professor der Dogmatik (1780), wurde 1781 als „Obskurant“ abgeschoben; er erhielt das Benefizium in Aislingen, konnte aber durch die Unterstützung seiner Freunde die „Brachzeit“ zu fruchtbarer literarischer Tätigkeit nützen361. 356 Prantl 1656 - 659; vgl. R. van Dülmen, Seemiller 509 f. 357 Matricula Collegii Theologici IV p. 281 s.; vgl. Prantl 1686. 358 „Serenissimus Elector Carolus Theodorus volens introducere in status suos Bavariae et Superioris Palatinatus ordinem Equitum Melitensium pro fundo ipsis assignavit bona extinct! ordinis Jesuitic! conventione pariter cum praelatis Bavariae et Palatinatus inita, ut ipsi loco exjesuitarum scholas omnis Bavariae et Superioris Palatinatus in se susciperent, exclusis ergo ab omnibus scholis exjesuitis professoribus (per continuas quippe a tempore extincti ordinis coeptas inquietudines et alias vellicationes plurimorum animos offenderant); in eorum locum venerunt viri ex religiosis ordinibus praecipui...“ Matricula Collegii Theologici IV p. 276 s. (Eintrag des Dekans J. M. Wibmer, Prof, der Kirchengeschichte, Prokanz­ lers der Universität und Pfarrers bei U. L. Frau, am Beginn des Dekanatsjahres 1781/82). 359 „Discessus Stattleri (obtinuit enim a Serenissimo Parochiam in Kemnath Palatinatus Superioris)...“ Ebd. p. 278. 360 B. Stattler, Anti-Kant, 3 Bde., München 1788.

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Nach dem Ausscheiden der Exjesuiten verlief die Entwicklung der Fakul­ tät ein wenig friedlicher, wenn auch die Rivalität zwischen Benediktinern und Augustinerchorherren deutlich sich abzeichnete. Die Reformen konnten sich nun im Geist einer maßvollen katholischen Aufklärung besser entfal­ ten. Es fiel nicht immer leicht, in den bayerischen Prälatenklöstern geeignete Männer für die theologischen Lehrstühle zu finden. Die neue Aufgabe war zu plötzlich auf die Klöster zugekommen. Als neue Professoren wurden 1781 anstelle der Exjesuiten berufen für Dogmatik der Benediktiner Wolfgang Frölich362 von Sankt Emmeram und der Zisterzienser Stephan Wiest363 von Aldersbach, für die Heilige Schrift und die orientalischen Sprachen der Augustinerchorherr Sebastian Seemiller364 von Polling, für Moraltheologie der Benediktiner Aemilian Reiff365 aus Benediktbeuern. Zusammen mit den neuen Professoren der philosophischen Fakultät, die ebenfalls aus den bayerischen Stiften und Klöstern kamen, erhielten sie auf Befehl des Kur­ fürsten die philosophischen und theologischen Grade366. Mit den Neuberu­ fungen des Jahres 1781 und mit der Studienordnung von 1784 war in der 361 Über Sailer (1751 - 1832): Matricula Collegii Theologici IV p. 236 (Disputation Sailers, damals Alumnus des Albertinums, unter Leitung seines Lehrers Stattler, 27. Januar 1777), p. 239 (Mai 1777: Durch kurfürstl. Dekret „repetitor publicus ex philosophia et theologia decemitur R. D. Michael Sailer exjesuita alumnus albertinus quotidie binis horis repetitiones habiturus, exceptis diebus Jovis et in festis“), p. 267 (27. Okt. 1780: „ad doctoratum in stuba academica promotus fuit Plurimum Rev. ac Praenob. D. Joannes Michael Sailer professor dogmaticae promotore decano sacrae facultatis, quem ordo tangebat“; zur Ergänzung v. H. Schiel, Johann Michael Sailer, I, Regensburg 1948, 54), p. 268 (8. Nov. 1780: Antrittsvorlesung Prof. Sailers „de officio theologiae professoris“), p. 274 (Zensur von Andachtsbüchem für das Volk, 1781); H. Schiel, Johann Michael Sailer. Leben und Briefe, I: Leben und Persönlichkeit in Selbstzeugnissen, Gesprächen und Erinnerungen der Zeitgenossen, II: Johann Michael Sailer, Briefe, Regensburg 1948-1952; G. Schwaiger, Johann Michael von Sailer, Bischof von Regensburg, in: Bavaria Sancta. Hrsg. v. G. Schwaiger, II, Regensburg 1971, 296-315 (QQ., Lit.); ders., Johann Michael von Sailer (1751 - 1832), in: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. H. Fries und G. Schwaiger, I, München 1973. 362 Geb. 27. Mai 1748 in Sünching bei Regensburg, gest. 1812. Permaneder 61 f., 77,82,93,103,115,122; Prantl I 664; Schiel, Sailer 145. 363 Geb. 7. März 1748 in Teisbach, gest. 10. April 1797 in Aldersbach. Werke: Institutiones theologiae, 6 Bde., Eichstätt 1782- 1789; Introductio in historiam theologiae revelatae, Ingolstadt 1794; Institutiones Patrologiae in usum academ., Ingolstadt 1795. Permaneder 62, 93, 97, 103, 107, 116, 129, 138, 151, 155; Prantl I 665, II513; Grabmann, Geschichte der Theol. 213; LThK 2X 1119. 364 Geb. 17. Okt. 1752 in Velden a. d. Vils, gest. 22. April 1798 als Pfarrer in Forstenried bei München. Permaneder 62, 77, 82, 93, 103, 107, 116, 122, 129, 138; Prantl I 665, II 513; R. van Dülmen, Sebastian Seemiller (1752 - 1798), in: Zeit­ schrift für bayerische Landesgeschichte 29 (1966) 502 - 547. 385 Geb. 16. Mai 1741 in Ambs b. Moosburg, gest. 9. Juni 1790. Permaneder 93, 97, 103,107,116,122; Prantl I 665, II 513. 386 „ ... Hi omnes per speciale decretum Serenissimi Principis, Ducis ac Electoris una cum DD. professoribus philosophicae facultatis ad me procancellarium datum philosophicis et theologicis gradibus insigniti sunt. Mense novembri a DD. neoprofessoribus omnibus habita principia solennia in aula academica ...“ Matricula Collegii Theologici IV p. 277 (Eintrag des Dekans und Prokanzlers Wibmer). 8*

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theologischen Fakultät das Reformprogramm der katholischen Aufklärung endgültig zum Sieg gekommen, wenn auch einige Jahre später als an ande­ ren katholischen Universitäten. Im Jahr 1784 wurde von der theologischen Fakultät und der UniversitätsKuratel gemeinsam ein neuer Plan des theologischen Studiums erarbeitet, der auch die landesherrliche Genehmigung fand367. Bis dahin blieb sowohl die genaue Bezeichnung der Fächer wie auch die endgültige Besetzung der Professuren schwankend. Neuerdings wurde jetzt — aufbauend auf dem zweijährigen philosophischen Kurs — der dreijährige theologische Kurs eingeführt. Die Vorlesungen können nun erstmalig, je nach Wunsch der Professoren, deutsch oder lateinisch gehalten werden. Die Lehrgegenstände erscheinen noch stärker gegliedert als in den früheren Reformen. Gehört werden sollen folgende Stoffgebiete: im ersten Jahr theologische Litterärgeschichte, Kirchengeschichte, orientalische Sprachen (Hebräisch und Chaldäisch, Syrisch, Arabisch), biblische Hermeneutik und Exegetik, Patrologie, Dogmatik und Moral; im zweiten Jahr theologische Litterärgeschichte, Kir­ chengeschichte, orientalische Sprachen, Dogmatik, Moral und Pastoral; im dritten Jahr Dogmatik, Pastoral, Liturgie, Katechetik, Homiletik, Predigt­ kunst und Kirchenrecht. Dieser Studienplan sollte auch bei den kirchlichen Weiheexamina der Ordinariate berücksichtigt werden. In allen Fächern werden die Lehrbücher genannt, nach denen der Unterricht erfolgen soll. Es sind, ähnlich wie in den Reformen des Theologiestudiums an den übrigen katholischen Universitäten des Reiches, die Autoren der katholischen Auf­ klärung. Man gibt sich alle Mühe, auch in der theologischen Wissenschaft den Erfordernissen der neuen Zeit gerecht zu werden. Der Scholastik und der polemischen Kontroverstheologie alten Stils wird eine klare Absage erteilt. Man will durch die einzelnen Fächer nach Inhalt und Methode eine gelehrte Bildung vermitteln, und zwar auf sauberer philologischer Grundlage in der biblischen Exegese und unter Anwendung der historischen Kritik auch in der Theologie. Die neue Studienordnung, an der der Exeget Seemiller maß­ geblich mitgewirkt hatte, wurde über das Geistliche Ratskollegium in Mün­ chen den Bischöfen und den Klöstern Bayerns mitgeteilt. Von den Ordina­ riaten Augsburg, Freising, Regensburg, Passau, Konstanz, Salzburg und Bamberg, ferner aus mehreren Klöstern liefen zustimmende Antworten ein. Nur der Bischof von Eichstätt erhob schwere Bedenken gegen die Neuerungen an der Universität. Er sah die Religion in Gefahr, sprach sich für ein vierjähriges Studium der Theologie — wie in Mainz — aus und ver­ barg nicht sein Entsetzen, daß in Ingolstadt jetzt Philosophie nach dem Pro­ 367 Prantl I 660, II Urk. Nr. 153.

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testanten Feder und noch dazu in deutscher Sprache vorgetragen werden. Die kurfürstlichen Geistlichen Räte erwiderten ihm, daß ein dreijähriges Theologiestudium genüge, daß Kenntnis der lateinischen Sprache an der Universität bereits vorausgesetzt sei und daß die Protestanten keine derart verschiedene Logik, Metaphysik, Physik und Mathematik hätten, daß sie nicht ein katholischer Priester vortragen könne. Der neue Studienplan blieb bestehen, nur wurde 1790 die eine der beiden Dogmatik-Professuren auf Wunsch der bayerischen Prälaten eingezogen368, und 1794 bestimmte die Regierung, daß künftig alle Lehrstühle der theologischen Fakultät aus­ schließlich von Benediktinern zu besetzen seien.369 Damit war auch den ärgerlichen Streitigkeiten der Orden untereinander, namentlich zwischen Augustinerchorherren und Benediktinern, in der Fakultät ein Ende gesetzt. Große Bedeutung kam dieser Weisung nicht mehr zu, da 1799 durch den neuen Kurfürsten Max IV. Joseph und seinen Minister Montgelas eine grundlegende Neuorganisation der Universität erfolgte370. Im Zuge der Neuordnung der Universität vom Jahr 1799 wurde der theo­ logische Studienplan weiter bereichert. Vorgeschrieben waren im ersten theologischen Semester theologische Enzyklopädie, Methodologie und Litterärgeschichte, orientalische Sprachlehre (Hebräisch und Chaldäisch nach Schröder, Syrisch nach Michaelis, Arabisch nach Rosenmüller), biblisch­ orientalische Hermeneutik (nach Schäfer), griechische Sprache (Lektüre des Kebes), Kirchengeschichte (nach Dannenmayr), allgemeine Moraltheo­ logie; im zweiten Semester Anthropologie, orientalische Sprachen und Her­ meneutik, griechische Sprache (Lektüre des Epiktet), Kirchengeschichte, Patrologie (nach Wiest), allgemeine Moraltheologie; im dritten Semester griechische Sprache, Exegese des Johannesevangeliums, Dogmatik, ange­ wandte Moral; im vierten Semester griechische Sprache, Bibel-Exegese, Dogmatik, Pädagogik (nach Vierthaler); im fünften Semester Bibel-Exegese, Kirchenrecht (nach Schenkl), Pastoral, Liturgie (nach Kratzer), Landwirt­ schaft (nach Sebastian von Nau); im sechsten Semester Bibel-Exegese, Kir­ chenrecht, Pastoral, Katechetik (nach Socher), bayerische Geschichte. Die Absicht der neuen Regierung, daß der Priester neben der kultisch-sakra­ mentalen Tätigkeit, neben der Seelsorge im kirchlichen Verstand des Wortes vor allem Tugendlehrer, Lehrer des Volkes überhaupt sein müsse, tritt hier deutlich zutage371. In weit größerem Ausmaß als bisher schon wird der Seelsorgepriester nun als Staatsdiener in Anspruch genommen. 368 369 370 371

Prantl 1660 f. Ebd. 665 f. Permaneder 504 ff.; Prantl 1646 - 648. Prantl 1661.

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Unter den Männern, die seit 1773 aus bayerischen Klöstern an die Uni­ versität gerufen wurden, befanden sich bedeutende Gelehrte im theologi­ schen, kanonistischen und philosophischen Bereich, nicht zuletzt auch in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern der philosophischen Fakultät; der Name des Benediktiners und späteren Fürstabtes Cölestin Steiglehner372 von Sankt Emmeram, des hochangesehenen Physikers und Astronomen, eines der Väter der modernen wissenschaftlichen Meteorologie, kann für viele stehen. Die meisten dieser klösterlichen Universitätslehrer haben sich auch literarisch ausgezeichnet. Vielleicht hätte sich gerade hier eine Überwindung des feindlichen Auseinandergehens von Naturwissen­ schaften und Theologie angebahnt, wenn nicht die radikale Zerschlagung der Stifte und Klöster am Beginn des 19. Jahrhunderts diese Ansätze vernichtet hätte; denn im 19. Jahrhundert wurden die nichttheologischen Gesprächs­ partner der Theologie fast ausschließlich die vorherrschenden philosophi­ schen Systeme, und eben nicht die machtvoll sich entfaltenden Erfahrungs­ wissenschaften.

Unter den bedeutenden Theologieprofessoren der letzten Jahrzehnte in Ingolstadt wurden Benedikt Stattler und Hermann Scholliner, neben sei­ ner Reformtätigkeit auch um die Weiterführung der „Monumenta Boica“ hochverdient, bereits genannt. Unter den Professoren der dogmatischen Theologie, die aber jetzt bewußt vom einseitig Spekulativen auf ihren bibli­ schen Grund und auf Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes im stren­ gen Sinn zurückgeführt wurde, treten nach Stattler und Scholliner hervor der junge Johann Michael Sailer373, zunächst als Repetitor und Professor der Philosophie, dann als Professor secundarius der Dogmatik (1780/81). Sailer stand aber zunächst noch im Schatten und unter dem Einfluß seines Lehrers Benedikt Stattler. Seine große Wirksamkeit entfaltete sich erst an der Universität Dillingen (1784 - 1794) und an der Universität Ingolstadt und Landshut bei seiner Wiederberufung (1799). Als arger Mißgriff erwies sich bald die Bestellung des Benediktiners Wolfgang Frölich von Sankt Emmeram für Dogmatik (1781 - 1790); er spielte sich als Hüter der rechten Lehre und reinen Sitte auf, spionierte und intrigierte erfolgreich gegen Kollegen, auch anderer Fakultäten, worauf die erbosten Studenten, wie einst bei manchen Vätern der Gesellschaft Jesu, wiederholt nach seinen 372 Permaneder 62 f., 77, 83, 132; Prantl I 689 f., II 516; M. R, Grill, Coelestin Steiglehner, letzter Fürstabt von St. Emmeram zu Regensburg, München 1937; H. W. Schlaich, Das Ende der Regensburger Reichsstifte St. Emmeram, Ober- und Niedermünster, in: Verhandlungen des Histor. Vereins für Oberpfalz und Regens­ burg 97 (1956) 163 - 376; G. Schwaiger, Das dalbergische Fürstentum Regensburg (1803 - 1810), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 23 (1960) 42 - 65. 373 s. o. Anm. 361.

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Fensterscheiben zielten. Frölich trug maßgeblich zur Indizierung Stattlers, zur Verfolgung mehrerer Professoren der philosophischen Fakultät und zur Verschärfung der Illuminatenhetze um den Juristen Weishaupt bei374. Durch zahlreiche literarische Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie, Ge­ schichte und Theologie trat hervor der Dogmatikprofessor Stephan Wiest (1781 - 1794)375, ein Zisterzienser von Aldersbach, ähnlich sein Nachfolger Marianus Dobmayer376, Benediktiner von Weißenohe, Professor der Dogma­ tik, Patrologie und theologischen Litterärgeschichte (1794 - 1799). Als Nachfolger des Exjesuiten Sautermeister übernahm noch 1773 Wolf­ gang Schmitt den Lehrstuhl der Moraltheologie, mußte aber schon 1775 — nach einem öffentlichen Skandal vor dem Kreuztor zu Ingolstadt — wieder ausscheiden377. Den Zisterzienser Balduin Wurzer378, Professor der Moral­ theologie und Kirchengeschichte (1775 - 1777), rief man bereits nach zwei Jahren in sein heimatliches Kloster Aldersbach zurück. Wurzer kämpfte in seinen Werken gegen die scholastische Methode und setzte sich für eine positive, vereinfachte Dogmatik und Moraltheologie ein. Nicht selten gingen Professoren bei Bedarf von einem Fach auf ein anderes über. Für das neue Lehrstuhlfach Pastoraltheologie wurde 1774 Joseph Maximilian Wibmer379 angestellt; er wirkte zwei Jahrzehnte lang hochangesehen, auch als Pfarrer an der Liebfrauenkirche und als Vizekanzler der Universität. Wibmer lehrte zunächst Pastoral, dann Moraltheologie und Kirchengeschichte (bis 1794). 374 Prantl I 664 f. 375 s. o. Anm. 363. 376 Geb. 24. Okt. 1753 in Schwandorf, gest. 21. Dez. 1805 in Amberg. Hauptwerk: Systema theologiae catholicae. Hrsg. v. Th. P. Senestrey, 8 Bde., Sulzbach 1807 1819 (eines der besten dogmatischen Werke der Zeit, reich an positivem Material und an Zeitkritik). Werner 248 -252; Permaneder 144, 211; Prantl I 666, II 513; LThK 2III 432. 377 s. o. Anm. 343. — August 1775: „... famosa illa extra portam crucis [Kreuztor] verberum exceptio, illata testibus cuidam hortulano, et panificis uxori Klingerin notae Kragerin a cl. D. Wolfgango Schmitt professore theologiae moralis. Cuius avertendi scandali ego ipsemet decanus causale auxilium tuli, ita ut ipsissimus praefatus cl. D. professor Schmitt a cathedra sua avocaretur a Serenissimo D. D. Electore.“ Matricula Collegii Theologici IV p. 231 (Eintrag des Dekans Wibmer, Prof, der Moraltheologie und Pfarrer bei U. L. Frau, nachdem er am 14. Nov. 1775 zum Dekan gewählt worden ist). 378 Geb. 25. Dez. 1738 in Kelheim, gest. 3. Jan. 1809 in Aldersbach. Werke: Philosophia regularis, Regensburg 1769; Prodromus isagogicus historico-critico-literarius in theologiam regulärem eclecticam, Regensburg 1773; Specimen theologiae moralis christianae methodo acroamatica, Ingolstadt 1775; De statu religionis christianae in Bavaria, Periodus I, Ingolstadt 1776, Periodus II, ebd. 1777; Rationes dubitandi de Synodo Neuenhaimensi, Augsburg 1777; außerdem Mss. u. andere QQ. LThK 2X 1276. — Prantl I 663; Allgemeine Deutsche Biographie 44, 366 f.; J. Diebolt, La theologie morale catholique en Allemagne (1750 - 1850), Straßburg 1926, 54 -57; Schiel, Sailer I 44, 52 f., 61; E. Krausen, Die Klöster des Zister­ zienserordens in Bayern, München 1953, 28; R. van Dülmen, Töpsl 298. 379 Permaneder 14, 60, 153; Prantl I 663, II 512; R. van Dülmen, Töpsl 296, 298, 304.

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Der Moral- und Pastoraltheologe Leopold Leeb (1777 - 1781)380 veröffent­ lichte mehrere theologische und kanonistische Werke. Aemilian Reiff381, Professor der Moraltheologie (1781 - 1790), schrieb außer einem System der Moraltheologie auch über die Geschichte der Buchdruckerkunst. Als Nachfolger Reiffs wirkten auf dem Lehrstuhl der praktischen Theologie die Benediktiner Raphael Thaller (1790)382 und Georg Schneller383 aus dem Stift Oberaltaich (1790 - 1798). Als Professoren der geistlichen Beredsamkeit unterrichteten der Exjesuit Franz Xaver Gebhard (1777 - 1781)384, dann der Augustinerchorherr Gaudentius Staudinger (1781 - 1792)385 von Stift Rohr.

Mit der Reform von 1773/74 hatte in Ingolstadt auch die historisch­ kritische Exegese begonnen, zunächst noch in recht bescheidenem Ausmaß. Die historisch-kritische Betrachtung der Heiligen Schrift, ausgelöst vor allem durch Richard Simon, hatte in Deutschland durch den Einfluß der Protestan­ ten einen günstigeren Boden gefunden als in Frankreich. Die katholischen Exegeten des 18. Jahrhunderts standen zunächst dieser Bewegung noch ganz fern. Man begnügte sich mit der Vulgata und pflegte weder die biblischen Sprachen noch historische Kritik. Die Indizierung der Werke Simons machte es schwer, auf seiner Arbeit aufzubauen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gingen einzelne katholische Exegeten daran, den schweren Rückstand gegenüber den Protestanten aufzuholen. Über bescheidene An­ fänge kam man nicht hinaus, da eine freie wissenschaftliche Arbeit auch jetzt nicht möglich war. Die Maßregelung des Mainzer Exegeten Isenbiehl (seit 1774)386 wirkte erneut abschreckend. Schriftsinn und Auslegung mußten stets von vorneherein auf die kirchliche Lehre bezogen sein. Dieser For­ derung konnte nur die mystische oder allegorische Deutung gerecht werden. Die moderne, durch die historisch-kritische Methode begründete Bibel­ wissenschaft konnte nur im schärfsten Eintreten für den Wortsinn, im Kampf gegen jede Allegorie zur eigentlichen Wissenschaftlichkeit vordrin­ gen. Die katholischen Aufklärungstheologen bemühten sich unter erheb­ lichen Widerständen, durch das Studium der biblisch-orientalischen Spra­ chen zunächst zum Urtext vorzudringen, da ja noch die Vulgata ausschließ­ lich das Feld beherrschte. Im übrigen mußten sie sich damit begnügen, erst einmal Interesse für die Heilige Schrift zu wecken, dann die Ergebnisse der 380 Augustiner-Chorherr von Schlehdorf. Permaneder 32, 54, 61; Prantl I 663, II512. 381 s. o. Anm. 365. 382 Permaneder 117,120; Prantl 1665. 383 Permaneder 117,143,173; Prantl I 665, II513. 384 Permaneder 32,61; Prantl 1663. 385 Permaneder 63,137; Prantl 1665. 386 A. Ph. Brück, Die Mainzer Theologische Fakultät im 18. Jahrhundert, Wies­ baden 1955.

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protestantischen Forschung sich vorsichtig anzueignen, mit der kirchlichen Lehre in Einklang zu bringen und so für die katholische Theologie frucht­ bar zu machen.

In Ingolstadt waren die biblischen Studien vor 1773 recht im Argen ge­ legen. Die Jesuiten hatten die orientalischen Sprachen, die zu Reuchlins Zeiten einst geblüht hatten, im allgemeinen wenig gepflegt. Hebräisch war gewöhnlich vom Mathematikprofessor der philosophischen Fakultät gelehrt worden. Auch den Theologiestudenten war die Heilige Schrift im allgemei­ nen wenig vertraut. Noch war das Bibellesen den Katholiken nicht allgemein erlaubt, und selbst ein Chorherr des Stiftes Polling erhielt noch 1790 in München einen scharfen Verweis, weil man ihn allzu häufig mit einem grie­ chischen Neuen Testament sah; dies galt als Zeichen für „zu wenig Religion“. Offensichtlich hatte der alte Professor der Heiligen Schrift Carl von Leutner schon um 1770 die Notwendigkeit des Studiums der biblischen Sprachen erkannt und — freilich anonym — gegen den in Ingolstadt herrschenden „sensus moralis und mysticus“ der Schriftauslegung angekämpft. Die bayerischen Reformer setzten große Hoffnungen auf den neuen Professor der Heiligen Schrift und der orientalischen Sprachen, den Augustiner-Eremi­ ten Stephan Wishofer (1774 - 1781)387. Dieser gab sich zwar redliche Mühe, konnte aber die Erwartungen nur teilweise erfüllen. Zudem unterlag er den ständigen Angriffen der Exjesuiten. Stattler ließ sich kaum eine Gelegen­ heit entgehen, die neue „Philologie“ zu provozieren und bei Disputationen auch öffentlich zu verhöhnen. Wishofer zeigte sich diesen Angriffen nicht gewachsen. Doch leitete er eine neue Epoche der Exegese in Ingolstadt ein, namentlich durch die Förderung tüchtiger Schüler. Der bedeutendste wurde der junge Augustinerchorherr Sebastian Seemiller aus Polling, der 1781 seinem Lehrer in der Professur für Heilige Schrift und orientalische Spra­ chen nachfolgte. Seemiller war mit den alten Sprachen wohlvertraut, hatte schon als Dreiundzwanzigjähriger eine vielbeachtete Studie über das erste Kapitel der Genesis veröffentlicht, die auch bei kritischen Protestanten Anerkennung fand. Er darf als der erste kritische Exeget in Bayern gelten. Sein gelehrter Propst Franz Töpsl, ein um die Reform des bayerischen Bildungswesens hochverdienter Prälat, ließ ihm viel­ fache Förderung angedeihen. Schon als junger Professor des Hausstudiums in Polling, dessen Qualität hinter Ingolstadt damals kaum zurück­ stand, veröffentlichte Seemiller sein bedeutendstes bibelwissenschaftliches Werk, die „Institutiones ad interpretationem S. Scripturae, seu Hermeneutica sacra“ (Augsburg 1779); sie geben einen Überblick über die Erforschung 387 Permaneder 61; Prantl 1663.

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der Bücher des Alten und Neuen Testaments, hermeneutische Grundsätze und Anleitungen zum notwendigen Sprachstudium. Im Wesentlichen enthält das Werk das, was man später unter der Einleitung in die Heilige Schrift verstand. Die Forschungsergebnisse des späten 18. Jahrhunderts sind hier kritisch und exakt zusammengefaßt. Seemiller, der als seinen eigentlichen wissenschaftlichen Lehrer den Pollinger Chorherrn Gerhoh Steigenberger betrachtete, blieb literarisch eifrig tätig und pflegte intensive wissenschaft­ liche Korrespondenz mit protestantischen und katholischen Theologen. Er publizierte kritische Untersuchungen über ältere Bibelausgaben und einen vorbildlichen Katalog der Inkunabeln der Ingolstädter Universitätsbiblio­ thek. Als alle theologischen Lehrstühle den Benediktinern übertragen wur­ den, ging Seemiller 1793 in sein Stift zurück. Er übernahm nach einigen Jahren die Pfarrei Forstenried, wo er am 22. April 1798 starb, erst fünfund­ vierzig Jahre alt. Neben Eusebius Amort und Franz Töpsl gehört er zu den bedeutendsten Vertretern der Pollinger Schule im 18. Jahrhundert388. Seemillers Nachfolger auf dem Ingolstädter Lehrstuhl wurde der Benediktiner Paul Schönhuber (1794 - 1801)389.

Als erster Professor der Kirchengeschichte wirkte in der theologischen Fakultät der Exjesuit Johann Nepomuk Mederer (1773/74)390, später Pro­ fessor der bayerischen Geschichte und der historischen Hilfswissenschaften in der philosophischen Fakultät, verdienter Herausgeber der „Annales Ingolstadiensis Academiae“ (4 Bände, Ingolstadt 1782) und der Lex Baiuwariorum (1793), auch Pfarrer an der Moritzkirche und Vizekanzler (1795). Bei der Verlegung der Universität nach Landshut blieb er Stadtpfarrer in Ingol­ stadt. Er starb hier am 13. Mai 1808. Nach der kurzen Tätigkeit Mederers in der theologischen Fakultät trat das neue Fach Kirchengeschichte offensicht­ lich im Lehrbetrieb der Fakultät wieder zurück. Später begegnen der Moral­ theologe Balduin Wurzer (1775 - 1777)391 und dann der Moral- und Pastoral­ theologe Joseph Maximilian Wibmer392 als Professoren der Kirchen­ geschichte in der theologischen Fakultät. Wibmer war gleichzeitig Vizekanz­ ler der Universität, Inhaber des herkömmlich mit einer theologischen Pro­ fessur verbundenen Eichstätter Kanonikats und Pfarrer an der Liebfrauen­ kirche. 1794 ging er nach München, wo er 1820 starb. Der erste bedeutende Kirchenhistoriker wurde mit dem hervorragenden Gelehrten Vitus Anton 388 R. van Dülmen, Seemiller (s. o. Anm. 364); ders., Töpsl, bes. S. 86 f. 389 Aus St. Emmeram. Permaneder 144, 211; Prantl 1666. 390 s. o. Anm. 336. 391 s. o. Anm. 378. 392 Wibmer bezeichnet sich in der Matricula Collegii Theologici IV (p. 276) seit 1781 selbst nur noch als Professor publicus Ordinarius historiae ecclesiasticae, z. B. als Dekan 1793/94 (p. 408).

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Winter393 gewonnen. Er stammte aus Zeilbach bei Hohenegglkofen (Nieder­ bayern) und war nach gründlichen Studien einige Zeit als Präzeptor an der kurfürstlichen Pagerie in München und in der Seelsorge tätig. 1794 wurde er als Stadtpfarrer bei Sankt Moritz und als Professor der Kirchengeschichte und Patrologie bestellt, 1799 für Katechetik und Liturgik. Winter gehörte zu den angesehensten Lehrern der Universität. Auch als Seelsorger wurde er hochgeschätzt. In seinen liturgischen Schriften, nicht so sehr in der prak­ tischen Seelsorge, vertrat er entschieden die Reformforderungen mancher Aufklärer. Sein Ziel war die Förderung der Religion als Grundlage des sittlichen Lebens durch eine Liturgiereform im Geist der katholischen Auf­ klärung. Auch Einflüsse Kants sind hier deutlich erkennbar. Winter gilt als bedeutendster Liturgiereformer der Aufklärung. An der organisatorischen Durchführung der Verlegung der Universität nach Landshut war er führend beteiligt. Er zählte bis zu seinem Tod (27. Februar 1814) zu den geschätzte­ sten Mitgliedern der theologischen Fakultät. In dieser Landshuter Periode veröffentlichte er seine Hauptwerke, die ebenso sein ausgebreitetes Wissen wie seine kritische Methode bezeugen: „Geschichte der Schicksale der evan­ gelischen Lehre in und durch Baiern“ (2 Bände, München 1809/10); „Aelteste Kirchengeschichte von Altbaiern, Oesterreich und Tyrol“ (Landshut 1813); „Deutsches katholisches, ausübendes Ritual“ (Frankfurt a. M. 1813). Sein Fakultätskollege Sailer hat ihm einen ehrenvollen Nachruf gewidmet394. Die Professur für kanonisches Recht, in der juristischen Fakultät, versahen seit Aufhebung des Jesuitenordens bedeutende Männer, zunächst der Laie Johann Adam Weishaupt, ein hochbegabter, bei den Studenten recht belieb­ ter Lehrer. Berühmt und berüchtigt wurde er als Gründer und Haupt des Illuminatenordens (1776). Dieser Orden freimaurerischer Prägung, wenn auch zunächst deutlich abgesetzt von der übernationalen Freimaurerei, ent­ stand aus dem Geheimbund der „Perfectibilisten“, worin sich junge auf­ geklärte Dozenten, Beamte und Studenten Ingolstadts zusammenfanden. Die hierarchische Struktur, die rigorose Moral und Disziplin und das ausge­ klügelte Überwachungssystem seines Ordens übernahm Weishaupt von der Gesellschaft Jesu, obschon seine letzten Ziele — eine klassenlose, kosmo­ 393 Geb. 22. Mai 1754 in Zeilbach, gest. 27. Febr. 1814 in Landshut. Matricula Collegii Theologici IV p. 430 f. (Dr. theol. 1794); Permaneder 157, 196, 217, 255, 270, 298, 309, 317, 324, 330, 338, 345; Prantl I 646, 648, 666, 710, II 517; A. Vierbach, Die liturgischen Anschauungen des Vitus Anton Winter, München 1929; F. X. Haimerl, Die methodischen Grundsätze des Vitus Anton Winter in seiner „Aeltesten Kir­ chengeschichte von Altbaiern, Oesterreich und Tyrol“, in: Münchener Theologische Zeitschrift 4 (1953) 147 - 163; A. Kraus: LThK 2X 1182 f.; G. Schwaiger, Vitus Anton Winter (1754 - 1814), in: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. H. Fries und G. Schwaiger, I, München 1973. 394 „Rede zum Andenken an Vitus Anton Winter, Professor und Stadtpfarrer bei St. Jodok in Landshut. Gehalten am 23. März 1814“, gedruckt Landshut 1814.

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politisch-republikanische Weltordnung — den äußersten Gegensatz zu den Absichten der Jesuiten bildeten. Soweit gläubige Katholiken, Geistliche aller Ränge und Laien, sich dem Geheimbund anschlossen, die meisten gewiß, ohne die letzten Absichten des phantastischen Rechtslehrers zu ken­ nen, zählten sie meist zur radikaleren Richtung der katholischen Aufklärer; sie standen gewöhnlich auch im Einfluß spätjansenistischer und gallikanisch-febronianischer Ideen. Illuminaten saßen bald auch in den bayerischen Bischofsstädten und Domkapiteln. Erst nach längerem Zögern entschloß sich der ängstlich gewordene Kurfürst Karl Theodor zu entschiedenem Durchgreifen. 1784 verbot er erstmals alle geheimen Gesellschaften. Weis­ haupt wurde im folgenden Jahr von seinem Lehramt suspendiert, suchte aber bald Zuflucht in der Reichsstadt Regensburg, später in Gotha. Die ein­ setzende Verfolgung der Illuminaten trug viel dazu bei, die Atmosphäre an der Universität und im ganzen Land zu vergiften. Vollends unter dem Ein­ druck der Schreckensnachrichten aus dem revolutionären Frankreich stützte sich der mißtrauisch gewordene Kurfürst auf die beharrenden Kräfte, die vielfach erstarrten Traditionen verbunden waren395.

Nach Weishaupts spektakulärem Abgang wurde das kanonische Recht wieder Ordensleuten anvertraut, durchweg tüchtigen Männern: den Benedik­ tinern Karl Klöcker von Benediktbeuern (1785 - 1789)396, Beda Aschenbren­ ner von Oberaltaich (1789 - 1796)397 und Ulrich Riesch von Benediktbeuern (1796 - 1799)398. Klöcker und Aschenbrenner haben später als Äbte ihre heimatlichen Klöster geleitet. Gerade Aschenbrenner ist ein typischer Ver­ treter jener gescheiten, redlichen Mönchsgeneration des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die echte Religiosität, monastisches Ideal und umfassende Bildung mit dem drängenden Fortschritt des Zeitalters zu verbinden suchte. Vielen von ihnen, gerade in bayerischen Klöstern, ist diese Verbindung auch tatsächlich gelungen, wenn auch manchmal unter Sturm und Drang. Die Kanonistik blieb Aschenbrenners Hauptarbeitsgebiet im wissenschaftlichen Bereich. Ihr galten die wichtigsten seiner zahlreichen Schriften. Im Streit um die neuerrichtete Nuntiatur in München (1784), mitten in der leiden­ schaftlich geführten Auseinandersetzung um Hontheim-Febronius, trat er entschieden für die päpstlichen Rechte gegenüber dem Episkopalismus der Emser Punktatoren ein. Im übrigen stand er auf dem Boden des überall 395 Beste Übersicht v. L. Hammermayer, in: Spindler II1027 - 1033. 396 Permaneder 113-115; Prantl I 676, II 514; A. M. Scheglmann, Geschichte der Säkularisation im rechtsrheinischen Bayern, III/l, Regensburg 1906, 297-328; A. Hofmann, Beda Aschenbrenner, Passau 1964, 22 - 24, 207; Bauerreiss VII 454. 397 Permaneder 115,143,166,168; Prantl I 676, II 514; A. Hofmann, Beda Aschen­ brenner (1756 - 1817). Letzter Abt von Oberaltaich. Leben und Werk, Passau 1964. 398 Permaneder 188; Prantl 1676.

Die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt (1472 - 1800)

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herrschenden Staatskirchenrechts der Zeit, ohne freilich je dem Radika­ lismus zu verfallen. Er bemühte sich um maßvolle Reformen des Studien­ betriebs und des klösterlichen Lebens. Als Abt des wirtschaftlich und monastisch gutgestellten Stiftes Oberaltaich erlebte er, wie Karl Klöcker in Benediktbeuern, die unruhigen Jahre um die Jahrhundertwende und schließ­ lich das gewaltsame Ende fast aller bayerischen Stifte und Klöster in der allgemeinen Säkularisation.

Die aufgeklärten Reformen an der Universität Ingolstadt hatten in allen Fakultäten die Pflege der Wissenschaften gehoben und einen neuen Auf­ schwung eingeleitet. Aus unchristlichem oder unkirchlichem Geist waren sie nicht gekommen. Bis zum Ende des Jahrhunderts blieben noch die alten, in der Gründung des späten Mittelalters verankerten katholischen Struk­ turen bestimmend. Man hielt die hergebrachten akademischen Gottes­ dienste, und die vier Fakultäten erinnerten sich immer noch ihrer alten Patrone in den Fakultätsfesten des Jahres. Die Theologen (facultas sacra) feierten den heiligen Thomas von Aquin und ihren älteren Schutzherrn, den Evangelisten Johannes (vor der Lateinischen Pforte), die Juristen (facultas consultissima) den heiligen Ivo, die Mediziner (facultas saluberrima) die heiligen Ärzte Cosmas und Damianus, die Philosophen (facultas inclyta) die heilige Märtyrin Katharina399. Nach dem Tod des ungeliebten Kurfürsten Karl Theodor übernahm im Februar 1799 der neue Kurfürst Max IV. Joseph, aus der Linie Zwei­ brücken-Birkenfeld der pfälzischen Wittelsbacher, das schwer belastete pfalzbayerische Erbe. Schon war der grundstürzende Umbruch aller alten, altgewordenen Ordnungen unaufhaltsam eingeleitet. Der leitende Minister Montgelas, ehedem verfolgter Illuminat, ging mit Ungestüm daran, den neuen bayerischen Staat nach seinen Vorstellungen zu bauen. Mit der Neu­ organisation der Universität von 1799 begann eine grundlegende neue Epoche ihrer Geschichte, tief einschneidend, aber in den letzten Ingolstädter Jahrzehnten vielfach vorbereitet. Der konfessionell-katholische Charakter wurde nun endgültig abgebaut. Der theologischen Fakultät wurde auch von Montgelas große Bedeutung zugemessen als Ausbildungsstätte katholischer „Religionsdiener“ und „Volkslehrer“. Sie wurde mit hochqualifizierten Leh­ rern ausgestattet. 1799 wurde in die theologische Fakultät neu berufen der stark der Aufklärung zuneigende Anton Michl, der Kirchengeschichte und 399 Im Jahr 1779 beschloß die philosophische Fakultät, das bisher stets übliche Fest (25. Nov.) nicht mehr zu feiern. Prantl I 684. Die Matricula Collegii Theologici IV enthält bis zur Verlegung der Universität nach Landshut (1800) regelmäßig die Eintragungen über die Feier der Feste der theol. Fakultätspatrone, öfters auch die der Patrone anderer Fakultäten.

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auch Kirchenrecht las und zugleich der juristischen Fakultät zugeteilt war; Winter übernahm zunächst Katechetik, Liturgik und Kasuistik. Von weit größerer Bedeutung wurde für die theologische Fakultät die Berufung des Moral- und Pastoraltheologen Johann Michael Sailer und des Dogmatikers Patriz Benedikt Zimmer. Da gleichzeitig Joseph Weber in die philosophische Fakultät berufen wurde, war das „Dillinger Kleeblatt“ — Sailer, Zimmer, Weber — wieder glücklich vereint400. Immer noch wurde die theologische Fakultät als erste unter den Fakultäten genannt, aber von der Machtstellung vergangener Zeiten blieb an der Schwelle der neuen Zeit nur noch ein primatus honoris. Einsichtige Theologen haben dies nicht bedauert, sondern ihre beste Kraft in den großen Aufgaben der Universität, im Dienst des Staates und der Kirche, eingesetzt. Als im Mai 1800 die ganze Universität aus der Festung Ingolstadt in das ruhigere Landshut zog, war Vitus Anton Winter einer der vier Herren, denen die schwierige Überführung anvertraut war. Winter, damals Dekan der theologischen Fakultät, nahm sich dieser Aufgabe mit Umsicht und zur allgemeinen Zufriedenheit an401. Für die theologische Fakultät wurde das Viertel] ahrhundert in Landshut (1800 - 1826)402 eine Zeit hoher geistiger Anstrengung, bemerkenswerter wis­ senschaftlicher Leistungen, erbracht in tiefgreifender, oft leidenschaftlicher, aber recht fruchtbarer geistiger Auseinandersetzung. Im Mittelpunkt stand bald die große Gestalt des Pastoral- und Moraltheologen Johann Michael Sailer: er wurde im Bereich der Theologie sowohl wie in der religiösen Er­ neuerung aus dem Geist lebendigen Christentums eine der wegweisenden Persönlichkeiten dieser Zeitenwende. 400 Ph. Funk, Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchener Romantik, München 1925; G. Schwaiger, Die altbayerischen Bistümer 321 - 332. 401 Am 12. Mai 1800 trägt Dekan Vitus Anton Winter in die Matricula Collegii Theologici IV (p. 497-499) ein: „Theatrum belli appropinquat civitati Ingolstadiensi. Princeps et episcopus Constantiensis Baron de Dalberg, et coadjutor Moguntinus, fugitivus urbem transit. Dispersi milites adveniunt. Kray copiarum caesarearum praefectus Ulmae diutius subsistere nequit. Tota urbs Ingolstadiensis trepidat. Plenum universitatis, quid in his rerum circumstantiis sit agendum, diu haesidat. Tandem duos deputatos D. Goenner et Schrank Monachium mittit, qui 18 Mai redeunt una cum clementissimo rescripto huius tenoris: universitatem illico Landishutum esse transferendam ibique collegia post quattuordecim dies continuanda. Commissarii translationis nominati sunt a Serenissimo Electore Schrank et Goenner, ab universitate Winter theologiae, et Winter medicinae professores. Schrank et Goenner via Monachio redeuntes abiere Landishutum cura transferendarum rerum duobus Winteris relicta. 21 Maii iam primi currus rebus universitatis onusti Landishutum missi sunt, quos dein alii magno numero 28 currentis [mensis Maii] secuti sunt. Eodem etiam omnes professores profecti exceptis Medero, Kandlero et Siardi, per clementissimum rescriptum de 17 Maii iam dispensati. Serner ipsus licentiam pro hoc semestri Ingolstadii remanendi et petiit et obtinuit.“ 402 Der Überblick über die Geschichte der theologischen Fakultät in Landshut und München wird von mir demnächst bis zur Gegenwart fortgeführt.

Geschichte der Staatswirtschaftlichen Fakultät Von Hubert von Pechmann

1, Vorgeschichte — Die Kameral-Wissenschaf ten an der Universität Ingolstadt Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden „mit regem Wetteifer“, wie Roscher (1874) feststellt, in verschiedenen deutschen Staaten für die Cameralien teils eigene Akademien, teils Universitäts-Fakultäten errichtet. So entstand die kurpfälzische Akademie zu Lautern 1774 (sie wurde 1784 mit der Universität Heidelberg verbunden), eine ökonomische Fakultät in Gießen 1777, Staatswirtschaftliche Institute in Marburg 1789, in Stutt­ gart 1782. An der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt hatten einem allgemei­ nen Zug der Zeit folgend bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kameralwissenschaftliche Vorlesungen stattgefunden. Sie begannen mit dem Wirken Johann Adam (von) Ickstatts, der 1746 zum Direktor der Hochschule und Professor in der juristischen Fakultät ernannt worden war. Ickstatt war Sohn eines Hammerschmieds aus dem kurmainzischen Dorf Vockenhausen, war in Marburg Schüler von Christian Wolff gewesen und hatte an der Uni­ versität Würzburg, die stark unter dem Einfluß der Aufklärung stand, Natur- und Völkerrecht gelehrt. Von dort hatte ihn Kurfürst Karl Albrecht als Instructor für den Prinzen Maximilian Joseph nach München berufen. (Kluckhohn 1869)

Als Universitätsdirektor in Ingolstadt entwarf Ickstatt einen Lehrplan für die juristische Fakultät, in dem Vorlesungen über Polizei- und Kameralwissenschaften nach der von Justus Christoph Dithmar stammenden „Ein­ leitung in die ökonomischen, Policey- und Cameralwissenschaften“ vor­ gesehenwaren (Sepp 1966).

Die Dithmarsche Gliederung der Fachgebiete war im übrigen für die Lehrpläne der späteren Staatswirtschaftlichen Fakultät noch lange Zeit maßgebend. 1746 war durch eine kurfürstliche Verordnung die juristische Fakultät, die bisher lediglich aus vier durch Jesuiten besetzten Lehrstühlen

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bestanden hatte, um weitere vier Lehrstühle erweitert worden. Einen von diesen, der das „Jus oeconomica camerale“ vertreten sollte, übernahm Ickstatt. Er hielt Vorlesungen über Natur- und Völkerrecht, deutsches Staatsrecht sowie über Polizei- und Finanzwirtschaft (Kluckhohn 1869). Die Kameralwissenschaften dürften damit in Ingolstadt zum ersten Mal vertreten gewesen sein.

Nach dem Ausscheiden Ickstatts fand sich zunächst kein Nachfolger für das Fach „Jus camerale“. Doch wurden gelegentliche Vorlesungen über Cameralwissenschaften von Inhabern anderer Lehrstühle wie Franz Siardi und Caspar Kandler gehalten. 1776 wurde der Besuch von Ökonomievor­ lesungen für die Studierenden der philosophischen Fakultät vorgeschrie­ ben. Professor Gabler kündigte für das WS 1777/78 eine Vorlesung „Oekonomie über Peckmann (vermutlich Johann Beckmann) an. (Sepp 1966) Die immer stärkere Betonung der staatlichen Fürsorgetätigkeit für das wirtschaftliche Leben führte, wie Doeberl (1928) ausführt, zur Forderung auf die Errichtung staatswirtschaftlicher oder kameralistischer Institute oder Fakultäten zur Ausbildung praktischer Landwirte und künftiger Verwal­ tungsbeamten.

Ein sorgfältig ausgearbeiteter Plan für eine „Cameral Hohe Schule“ in München nach dem Vorbild der 1774 gegründeten Kameralhochschule in Kaiserslautern wurde 1777 von Georg von Lori in Einverständnis mit dem Kurfürsten vorgelegt. Lori, ein Bauernsohn aus Gründl bei Steingaden, Schüler und Freund von Ickstatt, war einige Jahre Professor für Rechts­ geschichte und Kriminalrecht in Ingolstadt und 1852 als Mitglied des Hof­ raths nach München berufen worden.

Sein Vorschlag umfaßte ein Studium von 4 Semestern. Im ersten Semester sollte Philosophie, „Reine Mathematik“, Naturgeschichte, Pflanzenreich und Experimentalphysik, im zweiten Rechnungswesen und Buchhaltung, ange­ wandte Mathematik, bes. Mechanik, Hydrostatik und Hydraulik, Natur­ geschichte, Pflanzenreich und Chemie gelehrt werden. Im dritten Semester war Landwirtschaft und Stadtwirtschaft — eine Einteilung, die sich bereits bei J. Chr. Dithmar findet —, Polizeiwissenschaft und Handlungswissen ­ schaft vorgesehen. Im vierten Semester sollte Finanzwissenschaft, Staats­ wirtschaft, Forstwissenschaft und Wechselrecht gehört werden. An Lehr­ mitteln forderte Lori eine Büchersammlung, für die ein Bibliotheksfond ausgeworfen werden sollte, eine Sammlung physikalischer Instrumente, ein Naturalienkabinett sowie ein chemisches Laboratorium, ferner einen ökono­ mischen Garten, ein Landgut zwecks Übung im praktischen Ackerbau und eine Manufaktur „zu praktischen Vorlesungen über das Fabrikwesen“

Geschichte der Staatswirtschaftlichen Fakultät

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(Stieda 1908). Wiewohl Lori auf kurfürstlichen Befehl bemüht war, die Organisation „so wohlfeil als möglich“ zu treffen, kam sein Plan nicht zur Ausführung, da Maximilian Joseph noch im gleichen Jahr starb und Lori aus der Nähe des Kurfürsten entfernt wurde.

Einen weiteren Anstoß erfuhr das kameralwissenschaftliche Studium in Bayern durch die Initiative einer privaten wissenschaftlichen Vereinigung, der „Gesellschaft für die Pflege sittlicher und landwirtschaftlicher Wissen­ schaften“, die 1765 in Altötting gegründet worden war und seit 1772 ihren Sitz in Burghausen hatte. Im Zeichen der Aufklärung war deren Vorgehen keineswegs ungewöhnlich; auch in anderen Staaten, so in Bem und Zürich, hatten die sog. ökonomischen Gesellschaften entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Landeskultur. So war die hohe Kameralschule zu Kaiserslautern aus der dort 1768 gegründeten öko­ nomischen Gesellschaft hervorgegangen.

Auch Kurfürst Karl Theodor scheint einer Förderung des kameralistischen Studiums gegenüber aufgeschlossen gewesen zu sein. Die Regierung in Burghausen wurde angewiesen, die dortige ökonomische Gesellschaft über zwei Fragen zu vernehmen, nämlich: 1. Ob für eine zu errichtende Kameral­ schule Burghausen der schicklichste Ort oder ob nicht vielmehr ein in der Mitte des Landes gelegener Ort geeigneter sei. 2. Wie hoch sich allenfalls die Kosten einer solchen Kameralschule „in Zahlung der Professoren, An­ schaffung der zu nöthigen Proben erforderlichen Felder, so anderen Requi­ siten“ stellen würden. Ein am 13. April 1780 erstattetes Gutachten der Ge­ sellschaft, unterzeichnet vom Vicepräsidenten Freiherrn von Hartmann und dem Direktor Franz v. Paula Schrank, lehnte jedoch Burghausen wegen seiner Lage am äußersten Ende Bayerns, dem Mangel an hinlänglichen Quartieren für die erwarteten vielen „Lehrlinge“, der höheren Kosten für bereits in Ingolstadt studierende Juristen, Theologen etc., die zusätzlich Kameralwissenschaften erlernen wollten, als ungeeignet ab. Die Gesellschaft schlug vielmehr vor, in Ingolstadt eine Kameralwissenschaftliche Fakultät als 5. Fakultät zu errichten. Es wurde die Erwartung ausgesprochen, daß dadurch die Ingolstädter Universität „sich zu vollkommener Blüte empor­ schwingen, sehr viele Ausländer herbeyziehen — folg, fremdes Geld nützlich hereinbringen und das Wohl — das Glücke — die Vermögensumstände dor­ tiger Bürgerschaft merklich vergrößern würde“. Bezüglich der Kosten für die neue Fakultät wurde geltend gemacht, daß hier „Exjesuiten Güter“ vorhanden seien (der Jesuitenorden war 1773 auf­ gehoben worden), die für „die nötigen Proben und Beweise vorgekehrt“, d. h. für Versuchs- und Unterrichtszwecke benutzt werden könnten, daß 9

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ferner im dortigen botanischen Garten „die noch etwa abgängigen zur öko­ nomischen Botanik erforderlichen Pflanzen künftig, wenn sie nicht schon vorhanden, erzügelt werden“ könnten.

Da Chemie (durch Professor Rousseau), Mathematik (durch Professor Hel­ fenzrieder), Botanik (durch den Mediziner Professor Karl) bereits gelehrt werde, wäre nur ein einziger neuer Professor nötig, „welcher nichts anderes als die Kameral-Polizey-Finanz-Staats-Handlungs- und Handwerkswissen­ schaft vorzutragen habe“. Zudem könne ein Professor der Medizin zusätz­ lich gegen eine jährliche Zulage beauftragt werden „die thierische Physio­ logie und Veterinärkunst ... vorzutragen“. Zwar wurde die Einrichtung der 5. Fakultät auch von der Oberlandesregierung befürwortet, doch wurde von anderer Seite Landshut und auch wieder Burghausen als der passende Ort für die neue Kameralschule vorgeschlagen. Da eine Einigung nicht zustandekam, unterblieb zunächst die beabsichtigte Gründung der Cameralschule, bzw. Fakultät. Es wurde lediglich ein Lehrstuhl für Cameral und Oeconomie der Universität Ingolstadt errichtet und dem damals erst 25jäh­ rigen Professor Franz Xaver Mooshammer übertragen. Sein ursprünglich der philosophischen Fakultät zugeteilter Lehrstuhl wurde 1781 in die juri­ stische Fakultät übernommen. Dieser erste Kameralwissenschaftliche Lehrstuhl in Ingolstadt war so­ zusagen die Urzelle, aus der sich schließlich die Staatswirtschaftliche Fakul­ tät entwickelt hat.

Moshammer war ursprünglich als außerordentlicher Professor angestellt worden, bereits im Vorlesungsverzeichnis 1783/84 erscheint er als ordent­ licher Professor und kurfürstlicher Hofrat.

Neben Mooshammer hielten noch weitere Professoren Vorlesungen über Statistik und Ökonomie. So las Johann Nepomuk Krenner jedes zweite Semester Statistik, und zwar nach Gottfried Achenwall, dessen „Staatsklug­ heit nach ihren ersten Grundsätzen“ 1761 erschienen war. Krenner war Mitglied der ökonomischen Gesellschaft von Burghausen. In der Philoso­ phischen Fakultät wurde von Mathias Gabler und nachdem dieser 1781 die Universität verlassen hatte, von Vicelin Schlögl, der Lateranischer Kanoni­ kus aus dem Stift Polling war und in Ingolstadt seit 1774 als Professor der Ästhetik und Eloquenz wirkte, eine Ökonomie-Vorlesung nach Johann Beck­ man gehalten. (Sepp 1966) Im Ganzen hatte jedoch der kameralwissenschaftliche Unterricht nur einen geringen Umfang und hatte im Wesentlichen die Bedeutung eines Neben­ fachs für die Juristen, denen der Besuch kameralistischer Vorlesungen vor­

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geschrieben war. Mooshammer hielt selbst die Lehrpläne der juristischen Fakultät für unzureichend für sein Fachgebiet. 1782 trug er seine Ideen in einer ausführlichen Schrift „Gedanken und Vorschläge über die neuesten Anstalten teutscher Fürsten die Kameralwissenschaften auf hohen Schulen in Flor zu bringen“ vor. Sein Studienplan für eine Kameralfakultät war auf 6 Semester abgestellt und umfaßte einen enormen Wissensstoff, der in dieser Zeit schwerlich zu bewältigen gewesen wäre: Beginnend mit Encyklopädie und Literatur sämtlicher Cameralwissenschaften, mit Logik und Metaphysik, Mathematik, Geschichte und Naturgeschichte war eine Reihe naturwissenschaftlicher Fächer, Statistik, kaufmännische Rechnungsverfas­ sung und doppelte Buchhaltung, Technologie, Bergwerkskunde und Vieh­ arzneikunde, Polizeiwissenschaft, Forstwissenschaft, Bürgerliche Baukunst, Landwirtschaft, Finanzwissenschaft und Staatswissenschaft, Handlungs­ politik und Geographie neben einer Anzahl juristischer Fächer und Münz­ wissenschaft vorgesehen.

1784 wurde im Zug einer allgemeinen Reform der Universität vom Dekan der Philosophischen Fakultät ein Studienplan eingereicht, der zwar nicht zur Ausführung kam, aber eingehende Angaben über die bereits be­ stehenden Vorlesungen enthielt. Es ist daraus ersichtlich, daß damals in der Philosophischen Fakultät eine Anzahl von Fächern gelehrt wurde, die in erster Linie für ein staatswirtschaftliches Studium bestimmt waren, wie z. B. die von Vicelin Schlögl vorgetragene angewandte Mathematik („mit Berück­ sichtigung der im gemeinen bürgerlichen Leben ... vorkommenden Maschi­ nen“), oder die von ihm gelehrte „Anleitung zu juridisch- und politischen Rechnungen“, worin er nicht nur die „Rechnungen der Handelsleute und Professionisten“, sondern auch die Landvermessung, Leibrenten, Witwen-Waisen- und Brandkassen, Remissionsbereicherung bei Feldfrüchten und dgl. be­ handelte. Schlögl las auch über Landwirtschaft. Coelestin Steiglechner, ein Benediktiner aus dem fürstlichen Reichsstift St. Emmeran zu Regensburg, lehrte neben Physik auch Meteorologie, vermutlich die erste meteorologische Vorlesung, die in Deutschland gehalten wurde. Sie wird in Ausführungen des Dekans als eine der ältesten aber auch zugleich der unvollkommensten Wis­ senschaften“ bezeichnet. Dabei sei die Witterungslehre, „wenn sie mit ande­ ren Wissenschaften gleichen Grad der Vollkommenheit erlangt hätte, die allernützlichste für ein Lande, das meistens vom Pflug seinen Nahrungs Saft ziehen muß ...“ (Sepp 1966)

1784 verfaßte Friedrich Casimir Medicus, der damalige Director der Kame­ ralschule in Kaiserslautern, der nach Ingolstadt gerufen worden war, einen Plan zur Errichtung einer Staatswirtschaftlichen Fakultät an der Universität 9*

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Ingolstadt. Er bemängelte an dem bisherigen Studiengang das Fehlen eines systematischen Vortrages. Medicus’ Plan gliedert sich in drei Hauptteile: die Grundlehre, die Quellenlehre und die eigentliche Staatswirtschaft. Für die Naturgeschichte, auf die sich Landwirtschaft, Forstwirtschaft und alle bürgerlichen Geschäfte gründen, hält er einen eigenen Lehrer für not­ wendig.

Unter Quellenlehre versteht M. „diejenigen Wissenschaften, die das StaatsVermögen ausmachen“, nämlich Landwirtschaft, Forstwissenschaft und Bergbau oder die Gewinnung der rohen Produkte. Ferner die Lehre der Handwerker und Fabriken oder die Veredelung der rohen Produkte. Endlich auch die Handlungswissenschaft „oder der Absatz mittels Tausch oder Ver­ silberung der rohen und der veredelten Produkte“. Sämtliche QuellenWissenschaften darf nach Medicus’ Auffassung nur ein Lehrer vertreten, damit nicht ein Teil zur Ungebühr über den andern erhoben werde.

Die eigentliche Staatswirtsschaft besteht nach Medicus aus drei Teilen: Der Polizeiwissenschaft, welche die Anweisung gibt „wie alle die Geschäfte des bürgerlichen Lebens ... (die bei den Quellenwissenschaften genannt sind) geleitet werden müssen, damit jedes in dem Staate blühend werden könne. Die Finanzwissenschaft, welche lehrt, wie die Staatsgelder ... ohne Bedrückung der Quellen-Wissenschaften erhoben werden können; endlich aus der „wahren Staats Wirthschaft“, d. h. „der Kunst in jedem Lande die Gesez zu erfinden, die alle diese vorher genannten Wissenschaften in Leben und Thätigkeit bringen“. Als Hilfsmittel, die für die Fakultät erforderlich seien, nennt Medicus eine entsprechende Ausstattung der UniversitätsBibliothek, den Anbau der nötigen Pflanzen im botanischen Garten ent­ sprechend Succows oekonomischer Botanik, ein Mineralien Cabinet, sowie ein Chemisches Laboratorium. Schließlich schlug Medicus vor, die oekonomische Gesellschaft von Burg­ hausen nach Ingolstadt zu verlegen und die Glieder der neuen Fakultät zu deren Mitgliedern zu ernennen.

Die weitgehenden Vorschläge von Medicus wurden nicht verwirklicht. Der einzige Erfolg war zunächst die Errichtung eines Lehrstuhls für Landwirt­ schaft, bzw. Ökonomie, in der Philosophischen Fakultät, auf den 1784 der Direktor der Ökonomischen Gesellschaft Franz von Paula Schrank berufen wurde. Schrank war ehemaliger Jesuit, hatte Theologie und Naturwissen­ schaften studiert und nach der Aufhebung des Jusuitenordens in Wien den Theologischen Doktorgrad erworben. Er hatte zuvor als Professor der Physik und Mathematik in Amberg und als Professor für Rhetorik in Burg­

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hausen gewirkt. Seine Berufung nach Ingolstadt entsprach der von Medicus ausgesprochenen Empfehlung. Am kameralwissenschaftlichen Studienbe­ trieb waren weiterhin die beiden Fakultäten beteiligt: In der juristischen Fakultät las Mooshammer seit 1784/85 über Staats-Wirtschaftslehre, der ursprünglich die Lehrbücher von Hohenthall und Achenwald, später von Joseph von Sonnenfels zu Grunde gelegt wurden. 1786 wurde die „Handlungs- oder Merkantilwissenschaft“ in den Vorlesungsstoff mit aufgenom­ men. Daneben vertrat er noch juristische Fächer, u. a. das Wechselrecht.

In der Philosophischen Fakultät las Schrank 1784/85 erstmals über Land­ wirtschaft. Bereits 1786 schlug er unter Hinweis auf den „mangelnden Unterricht der Oberaufseher der Förste und Waldungen ... die meist nur Jura studiert haben“ die Einrichtung eines eigenen Kollegiums über Forstwissenschaft für Jura-Studierende vor.

Der Anregung Schranks wurde von der Kuratel stattgegeben und be­ stimmt, daß die Forstwirtschaft nach Succows Einleitung von Professor Schrank gelehrt und die Juristen „primi anni zu der Frequentierung obligirt werden sollen“. Diese Regelung stieß allerdings auf den Widerstand der Ju­ ristenfakultät, die lediglich das „Jus forestale“, nicht aber die Forstwissen­ schaften in den juristischen Lehrplan eingegliedert wissen wollte, da die letz­ teren „eine blos philosophische oder eigentlich physikalische Wissenschaft“ seien. Sie nütze zudem den Theologen weit besser als den Juristen, da diese mit ihren Pfründen „die ansehnlichsten Förste“ zu besorgen hätten. Die Forstwissenschaft wurde daraufhin mit einem Reskript vom 28. April 1787 an die philosophische Fakultät zurückverwiesen und bestimmt, daß sie von den Philosophen „secundi anni“ gehört werden solle (Sepp 1966). Es kann aber festgestellt werden, daß der forstwissenschaftliche Unter­ richt an der Universität Ingolstadt im Jahre 1786 begonnen hat. Der erste Vertreter dieses Fachgebietes, Professor Schrank, war, wie erwähnt, von Haus aus Theologe. In die Geschichte der Wissenschaft ist Schrank aber vor allem als hervorragender Botaniker eingegangen. 1809 ging er als Direktor des Botanischen Gartens nach München, wo er 1835 starb.

Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erfuhren die Kameralwissen­ schaften in Ingolstadt eine weitere Ergänzung. 1791 wurde eine Professur für „Oekonomie, Mercantil und Technologie“ errichtet und mit Benedikt Holzinger, vormals Professor in Burghausen, besetzt. Wie Schrank war auch Holzinger ursprünglich Theologe und erscheint in den Vorlesungsverzeich­

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nissen als Geistlicher Rat und Professor. 1792 wurde von F. X. Mooshammer — der inzwischen als v. Mooshamm in den Ritterstand erhoben worden war — ein neuer Plan für ein Kameralistisches Institut in Ingolstadt vorgelegt, das aber keine eigene Fakultät sein sollte. Vielmehr sollten „diejenigen Professoren aus verschiedenen Fakultäten zusammentreten, welchen bisher die Lehrstühle über die kameralistischen Haupt- und Hilfswissenschaften anvertraut waren“. Aufgeführt wurden in diesem Zusammenhang die „wirkl. Hof u. geistl. Räthe“ Ludwig Rousseau (für Chemie und Natur­ geschichte), F. X. v. Mooshamm (für Staatswirtschaft, Polizei und Kameralwissenschaft), F. v. Paula Schrank (für Ökonomie und ökonomische Botanik, Forstwissenschaft und Bergwerkswissenschaft), Benedikt Holzinger (für Enzyklopädie und Methodologie sämtlicher Kameralwissenschaften, für Technologie, Handlungswissenschaft und bürgerliche Baukunst) Gerold Barthel (für reine und angewandte Mathematik, einschließlich der Feldmeß­ kunst, des Maschinenwesens, der Hydrotechnik, für Markscheidekunst und politische Rechenkunst) ferner Placidus Heinrich, ein Benediktiner aus St. Emmeran, der den zum Abt von St. Emmeran in Regensburg gewählten Cölestin Steiglechner als Professor für Naturlehre, physikalische Versuche, Stern- und Witterungskunde abgelöst hatte. G. Barthel war Nachfolger von V. Schlögl, der in sein Kloster zurückgekehrt war. Das von Mooshamm vorgeschlagene Kameralinstitut scheint seine Tätig­ keit vorübergehend aufgenommen zu haben, seine offizielle Gründung erfolgte allerdings erst im Jahre 1799. Schrank berichtet in seinen Bemer­ kungen über das Kameralinstitut 1799, seine Einrichtung sei schwankend geblieben, weil es in München heimliche Gegner habe. Doch habe sich anfänglich eine Zeit hindurch eine Art von Facultätsverfassung erhalten, die sich aber allmählich auflöste.

Immerhin wurden die Kameralwissenschaften bereits als selbständiges Studium betrachtet; doch sollten diese Fächer auch von Juristen und Theo­ logen gehört werden. Schrank hatte während seines Rektorats 1795 einge­ führt, daß am Ende des Vorlesungskatalogs die Kameralwissenschaften unter einer eigenen Rubrik rekapituliert wurden. Darin wurden 21 ver­ schiedene Vorlesungen aufgeführt. Über das kameralwissenschaftliche Studium bestanden auch in Ingol­ stadt offenbar unterschiedliche Auffassungen. Schrank beklagte sich über viele Kränkungen, die er erfahren mußte, sowie über eine „ausgezeichnete Zurücksetzung“, die ihm 1796 widerfahren sei und ihn veranlaßt habe „in Forstwirtschaft und Bergbaukunde Schlägel und Eisen vor Ort“ zu legen. Der kameralistische Unterricht hatte wieder eine merkliche Einschränkung

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erfahren, denn 1798/99 werden im Vorlesungsverzeichnis nur noch 13 kame­ ralistische Fächer aufgeführt. Forstwissenschaft und Bergwerkskunde waren nicht mehr vertreten.

Erst nachdem Kurfürst Karl Theodor verstorben war, wurde unter seinem Nachfolger Maximilian Joseph am 2. November 1799 das Kameralinstitut ge­ gründet. Entsprechend dem seinerzeitigen Vorschlag Mooshamms blieben die am Institut tätigen Professoren Mitglieder ihrer Fakultäten. Dem Insti­ tut gehörten elf Mitglieder an: Schrank, der zum Direktor ernannt wurde, Holzinger als Sekretär, die Professoren v. Mooshamm, Bertele, Knogler und Magold, die bereits früher kameralistische Vorlesungen gehalten hatten. Ferner aus der Philosophischen Fakultät Gregor Leonhard Reiner, der Historiker Josef Milbiller und Josef Weber. Weitere Mitglieder waren Johann Georg Messmaier von der Juristischen und Heinrich Maria Levelling von der Medizinischen Fakultät. Aus dem Titel des Lektionskataloges vom November 1799: „Vollständiger Lehrplan sämtlicher Fakultäten und des Kameralinstitutes“ ist zu entneh­ men, daß das Institut den Fakultäten praktisch gleichgeordnet war.

Der Vorlesungsplan der 6 Semester umfaßte einen äußerst umfangreichen und vielseitigen Wissensstoff; Schrank hatte in seinen Bemerkungen zum Kameralinstitut das Lehrgebiet in Grundwissenschaften, nämlich Höhere Mathematik, Theoretische Physik, Chemie, Botanik und Naturgeschichte und die eigentlichen Kameralwissenschaften eingeteilt. Zu den letzten zählte er Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergbaukunde, Mechanik, Baukunst, Po­ lizeiwissenschaften, Technologie und Staatswirtschaft. Unter den 1799 vor­ geschriebenen Vorlesungen finden sich weiterhin Mineralogie, Geographie, Statistik, Vieharzneikunde im Wechsel mit Anthropologie und nicht weniger als fünf juristische Fächer. Großen Wert legte Schrank auf Botanik, wobei das Schwergewicht auf der Pflanzenphysiologie liegen sollte, „der einzige Weg, auf welchem gründliche Botanisten, nicht Kräuterfrauen, gebildet werden“. Von der Zoologie hielt er alle Teile für gleich wichtig, für den Kameralisten vorzüglich die Insekten „nicht nur wegen des Nutzens und Schadens, den sie wirklich stiften, sondern auch wegen der Verleumdungen, womit man sie überhäuft hat. Während man mit Schriften und Mandaten wider den Borkenkäfer und die arme Nonne (einen Schmetterling) zu Felde ziehe, denke man nicht daran, daß verkehrte naturwidrige Forstwirtschaft ... die ganze und alleinige Ursache des Übels sei“. Das Kameralinstitut konnte in Ingolstadt kaum mehr eine Tätigkeit entfalten, da es zusammen mit der Universität im Jahre 1800 nach Landshut verlegt wurde.

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2, Das Kameralinstitut und die Sektion der staatswissenschaftlichen Kenntnisse in Landshut Der kameralistische Unterricht wurde in Landshut von Professoren der juristischen Fakultät — v. Kandler, v. Mooshamm, Siardi — von 2 Mitglie­ dern der medizinischen Fakultät und 8 Professoren der philosophischen Fakultät bestritten. Der überfüllte Stundenplan und die Vielfalt von Fächern waren einem gründlichen Studium zweifellos nachteilig und die Redensart „ein Kameralist sei ein Mensch, der von Allem etwas, von Nichts etwas Rechtes wisse“, die Schüpfer in seiner Rektoratsrede 1928 zitierte, entbehrte nicht ganz der Grundlage. Der Staatsrechtslehrer Anselm von Feuerbach, der ebenfalls in Landshut wirkte, hat sich über das „leere Vielerlei und Allerlei“, die „fast ungeheure Menge gesetzlich vorgeschriebener, großen­ teils unnöthiger Vorlesungen“ wobei er besonders Polizeirecht und Polizei­ wissenschaft, ein besonderes Naturrecht für Philosophen und dann noch ein besonderes Naturrecht für Juristen im Auge hatte, höchst kritisch ge­ äußert (Hoffmann 1885). Auffallend ist auch die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der von einem Professor vertretenen Fachgebiete. So las der Theologe und Geistliche Rat Schrank über Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergwerkskunde und Tech­ nologie, daneben bestritt er eine Anzahl naturwissenschaftlicher Vorlesun­ gen und Übungen, u. a. eine Anleitung, die Naturgeschichte zu studieren, eine Allgemeine Physiographie, Botanik nach eigenem Grundriß und An­ leitung zur Bestimmung der Pflanzen und der Tiere. Getreu seiner Über­ zeugung, daß alle Teilgebiete der Zoologie gleich wichtig seien, behandelte er in seinen zoologischen Vorlesungen Kriechtiere, Fische, Insekten und Würmer gleichermaßen, wie aus der Ankündigung für das SS 1804 hervor­ geht, wo „Herpetologie, Ichthyologie, Entomologie, Helminthologie“ nach eigenem Grundriß aufgeführt sind.

Geistlicher Rat und Professor Holzinger las u. a. über Landwirtschaft, Technologie, Obstbaumzucht, Handlungswissenschaft, Kameralpraxis und Bürgerliche Baukunst sowie eine Enzyklopädie der Kameralwissenschaften, wobei er die Schriften von Theodor Schmalz, dem „letzten Physiokraten“ zu Grunde legte. Für seine Baukunst-Vorlesung benutzte er das 1751 erschie­ nene Werk von Laurenz Johann D. Succow. In der Handlungswissenschaft lehnte er sich an Jung-Stilling an, später an den dem Freihandel zugeneig­ ten J. K. Leuchs. Moshamm, der der Juristischen Fakultät angehörte, vertrat Polizeiwissen­ schaft, Staatswissenschaft und Finanzwissenschaft, also die eigentlichen

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kameralistischen Fachgebiete, ferner Handelspolitik, Handlungsrecht und Wechselrecht, Gesandschaftsrecht, Polizeirecht und Kameralrecht. Seine Finanz- und Staatswirtschaft schloß sich eng an den führenden österreichi­ schen Nationalökonomen Joseph von Sonnenfels an, dessen Werk „Grund­ sätze der Polizei, Handlung und Finanz“ ihm als Grundlage seiner Vor­ lesungen vor geschrieben war, wie er in der Vorrede zu seinem Lehrbuch bemerkt (Hoffmann 1885). Der Umstand, daß „Polizeiwissenschaft“ als ein Hauptfach der Kameral­ wissenschaften erscheint, entsprach dem Zeitgeist des aufgeklärten Absolu­ tismus. Auch verstand man unter Polizei in weiterem Sinne nach einer von Justi stammenden Definition „alle Maßregeln in innerlichen Landesangele­ genheiten, wodurch das allgemeine Vermögen des Staates dauerhafter ge­ gründet und vermehrt, die Kräfte des Staates besser gebrauchet und über­ haupt die Glückseligkeit des gemeinen Wesens befördert werden kann“. In diesem Sinne rechnete Justi die „Commercien-Wissenschaft, die Stadt- und Landoeconomie, die Verwaltung der Bergwerke, das Forstwesen und dgl. mehr“ zur Polizei. Nach Sonnenfels lehrt die Polizeiwissenschaft „die Grund­ sätze, die innere Sicherheit zu gründen und zu erhalten“. Speziell kameralistische Vorlesungen wurden auch von Professor Frohn gehalten, nämlich Staatswirtschaft und Finanzwissenschaft, Kameralpraxis und Politische Rechenkunst (d. h. Statistik) sowie Steuerwesen in verschie­ denen Staaten.

Über Bayerische Staatsökonomie, d. h. die Einhebungs- und Verrech­ nungsart der Staatseinnahmen sowie über Zoll- und Mautordnung las Lan­ desdirektionsrat und Professor v. Hellersberg, über Staatsarzneikunde der Mediziner Professor v. Leveling.

Weitere Fächer waren Polygonometrie und Markscheidekunst, worüber Magold nach eigenem Lehrbuch las. Wenige Jahre nach der Verlegung der Universität nach Landshut erfolgte eine grundlegende Neuorganisation im napoleonischen Stil, wie es der Ein­ stellung Montgelas’ entsprach.

Durch eine Verordnung vom 26. Januar 1804 wurde die alte Fakultäten­ gliederung beseitigt. Die Wissenschaften wurden in zwei Klassen: Die All­ gemeinen und die Besonderen Wissenschaften eingeteilt, jede dieser Klassen wiederum in 4 Sektionen. In der II. Klasse der „Besonderen Wissenschaften“ wurde nach der Theologie und der Rechtswissenschaft eine 3. Sektion der „Staatswirtschaftlichen Kenntnisse“ geschaffen. Sie erscheint auch unter der Bezeichnung „die staatswirtschaftlichen oder Kameralwissenschaften

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in weitester Bedeutung“. Eine vierte Sektion war der Heilkunde gewidmet. Die Kameralwissenschaften erscheinen damit gleichberechtigt neben den bisherigen, nun als Sektionen bezeichneten Fakultäten.

Allerdings finden sich die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer Chemie, Zoologie, Botanik etc. in der I. Allgemeinen Klasse, II. Sektion der mathematischen und physikalischen Wissenschaften. Vorlesungen über Forstwissenschaft hatte Professor Schrank in Landshut wieder aufgenommen und mit Unterbrechungen bis 1806 gehalten. Sie waren allerdings nicht eigentlich für Forstleute, sondern für Kameralisten vom 5. Semester, auch Juristen und Theologen bestimmt und beruhten auf Friedrich Ludwig Walthers Lehrbuch der Forstwissenschaft.

1806 wurde Ludwig Wallrad Medicus als Ordinarius für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Technologie berufen. Sein Vater war Friedrich Casimir Medicus, der seinerzeit den Plan für die Errichtung einer Staatswirtschaft­ lichen Fakultät in Ingolstadt ausgearbeitet hatte. Frühere Kameralisten, die Vorlesungen über Forstwirtschaft gehalten hatten, stammten vielfach von anderen Fachrichungen bzw. Berufen her: Manche, wie Schrank, J. Fr. Stahl oder Walther, der Verfasser viel benützter Lehrbücher, waren ur­ sprünglich Theologen, andere wie Jung, Mediziner gewesen. Ludwig W. Medicus hingegen hatte sich nach einem umfassenden Studium der Kameral­ wissenschaften in Heidelberg und an der Handlungs-Akademie in Hamburg unter der Leitung von zwei hervorragenden Forstmännern, dem Pfälzer Forstdirektor Kling und dem württembergischen Forstrat G. F. von Jäger in der forstwissenschaftlichen Praxis gründlich ausgebildet. Vor seiner Be­ rufung nach Landshut hatte er als außerordentl. Professor an der Univer­ sität Heidelberg und als Ordinarius für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Bergbaukunde in der „staatswirtschaftlichen Sektion“ der Universität Würz­ burg gewirkt. In Landshut wurde ihm auch die Aufsicht über den „ökono­ mischen und Forstgarten“ übertragen, der neben der Burg Trausnitz ange­ legt worden war. Medicus war ein sehr eifriger und gewissenhafter Lehrer und hat eine erstaunlich vielseitige Vorlesungstätigkeit entfaltet, die außer Land- und Forstwirtschaft, Forstbotanik, Technologie, Bergbaukunde und Bürgerlicher Baukunst noch einen erheblichen Teil der Staatswirtschaft umfaßte. Im Jahre 1802 war der Universität durch eine Stiftung des Kurfürsten Max Joseph ein ansehnlicher Wald- und Grundbesitz zugefallen. Ein am 8. April dieses Jahres erlassenes clementissimum electorale decretum de augenda Universitati dotatione hatte nämlich bestimmt, daß „das

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sämtliche bewegliche und unbewegliche Vermögen der Dominikaner in Landshut sowie jenes der Klosterfrauen zum heiligen Kreuz allda, mit allen seinen Rechten und Nutzungen, sie mögen bestehen, worin sie wollen, der Universität übertragen werde“ (Schüpfer 1930). Es handelte sich dabei um Waldungen, die in sieben Distrikten in der Umgebung von Landshut zer­ streut waren und eine Fläche von 2654 Tagwerk umfaßten, sowie um eine Brauerei und Landwirtschaft. Die Waldungen befanden sich in einem schlechten Zustand, da zu Klosterszeiten die Aufsicht sog. Hacklförstern, d. h. angrenzenden klosteruntertänigen Bauern, die kaum des Schreibens und Lesens kundig waren, gegen eine kümmerliche Vergütung übertragen war. Starke Bodenstreunutzung, Vieheintrieb, Pechgewinnung und Rot­ wildschäden hatten im Verein mit ungeordneter Schlagführung Boden und Waldbestände schwer geschädigt. Mit einer königlichen Verordnung von 1815 wurde der Universität die Verwaltung ihres Vermögens freigegeben und zugleich bestimmt, daß die Inspektion über die Waldungen, Landwirtschaft und Brauerei dem Professor für Forst- und Landwirtschaft übertragen werden solle. Dieses Amt fiel Ludwig W. Medicus zu, der 1806 nach Landshut berufen worden war. Medicus hat sich mit großer Energie bemüht, die bestehenden Mißstände zu beseitigen. Die Hacklförster wurden abgeschafft, die Grenzen in Ordnung gebracht, Streu- und Weidenutzungen eingeschränkt. Mangelhaft bestockte Flächen mit Nadelholz, vor allem mit Föhren, aufgeforstet. 1807 wurde auch Georg Anton Däzel, ein Theologe, nach Landshut berufen. Er war zuerst Lehrer der Philosophie und Mathematik an der kurfürstlichen Pagerie in München, dann Lehrer der Forstwissenschaft an der 1790 gegrün­ deten Forstschule in München gewesen. In Landshut las er ökonomische und politische Rechenkunst, über ökonomische Ertrags- und Wertsermittlung, mathematische Geographie, Astronomie und Grundsteuerermittlung.

Trotz des überaus reichlichen Angebotes an Vorlesungen kam das Kameralstudium in Landshut zu keiner wirklichen Blüte. In den Jahren 1805 bis 1815 waren in der Sektion für Staatswissenschaft im Durchschnitt nur etwa 30 Studierende vorhanden. Möglicherweise haben der verschärfte Studien­ zwang und die von der Regierung geübte Schuldisziplin sich abschreckend ausgewirkt. Klagen der Universität über finanzielle Not und geringe Besol­ dung waren offenbar berechtigt. Hinzu kamen scharfe weltanschauliche Ge­ gensätze zwischen den Anhängern der Aufklärung und einer religiös restaurativen Gruppe. Auch die Stellung der Staatswissenschaften innerhalb der Universität war keineswegs gefestigt. Der Mediziner Röschlaub, ein scharfer Gegner der aufgeklärten Kulturpolitik, der 1820 das Rektorat übernahm,

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verlangte sogar, daß die rein praktischen Disziplinen der staatswirtschaft­ lichen und medizinischen Fakultäten aus der Universität entfernt und auf Spezialschulen gelehrt werden sollten (Huber 1939).

Aus den Vorlesungsverzeichnissen gewinnt man nach 1820 den Eindruck einer zunehmenden Einschränkung des Lehrbetriebes. 1824 waren noch 4 Professoren vorhanden, nachdem Joh. Adam Oberndorfer, der 1822 die Stelle des verstorbenen Holzinger eingenommen hatte, vorübergehend wie­ der ausgeschieden war. 1825 sind im Vorlesungsverzeichnis nur noch 3 Lehr­ kräfte verzeichnet. Auch die Studentenzahlen hatten sich offenbar weiter vermindert, denn bei Frohns Ankündigung der Kameralpraxis findet sich der Zusatz „wenn sich eine hinlängliche Anzahl Zuhörer meldet“.

In den letzten Jahren, die die Universität noch in Landshut verblieb, dürften sich auch Sparmaßnahmen nachteilig ausgewirkt haben. Röschlaub hatte in einem Gutachten sich gegen die vor allem von Zentner betriebene Verlegung der Universität in die Landeshauptstadt ausgesprochen und eine Sanierung durch Verminderung des Personals und Besetzung mehrerer Lehrstellen durch Geistliche vorgeschlagen (Huber 1939). 3. Die Staatswirtschaftliche Fakultät in München in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die Universität Landshut wurde am 20. August 1826 geschlossen, um nach München verlegt zu werden. Mit der Übersiedlung wurde die Staatswirt­ schaftliche Fakultät errichtet, allerdings zufolge der von König Ludwig I. angeordneten größten Sparsamkeit mit einer zunächst bescheidenen Aus­ stattung. Die Besetzung der Lehrstühle lag in der Hand des dem Ministe­ rium des Innern unterstehenden „Obersten Kirchen- und Schulrates“, zu dessen Vorstand Eduard Schenk ernannt wurde. Dabei bestand die Absicht, zunächst die zum Lehramt fähigen Akademiker und die besten Landshuter Professoren zu berücksichtigen und nur für Fächer, wo vorzügliche Lehr­ kräfte in Bayern nicht verfügbar waren, „einige wenige ausgezeichnete Männer aus dem Ausland“ zu berufen (Huber 1939). Für Staatswirtschaft und Nationalökonomie bemühte sich Schenk, den Heidelberger Professor Heinrich Rau zu gewinnen, einen der führenden Nationalökonomen, den Roscher (1874) als „den Volkswirtschaftslehrer der gut regierten deutschen Mittelstaaten von 1815 bis 1848“ charakterisiert und dessen Lehrbuch der politischen Ökonomie als Vorlesungsgrundlage diente. Wegen des ungünsti­ gen Münchner Klimas hat Rau den Ruf jedoch aus Gesundheitsrücksichten abgelehnt.

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Dafür wurde auf sein Ansuchen J. A. Oberndorfer als Ordinarius für Finanzwissenschaft, Rechnungsrecht und Kameralpraxis berufen. Obern­ dorfer hatte über dieses Fachgebiet bereits einige Jahre in Landshut ge­ lesen. Er vertrat die staatswirtschaftlichen Theorien der Restauration und hatte wegen der heftigen Auseinandersetzungen mit den Aufklärern 1824 die Universität verlassen. Staatswirtschaft und Finanzwissenschaft wurden ferner durch den Hono­ rarprofessor und Regierungsrat Julius von Niethammer und den von Lands­ hut nach München versetzten Privatdozenten Karl Steinlein vertreten, der 1831 ein Handbuch der Volkswirtschaftslehre herausbrachte, das für die Literaturgeschichte der Nationalökonomie von Bedeutung ist. Polizeiwissen­ schaft wurde von Honorarprofessor Franz Häcker gelesen, der später in die juristische Fakultät übertrat, sowie von dem widerruflich als Privatdozent zugelassenen Georg Ludwig Dauner. Für die technischen Fächer: Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergbau­ kunde und Technologie wurde L. W. Medicus als Ordinarius in die Münchner Fakultät übernommen, in der er bis zu seinem Tod im Jahre 1850 lehrte. Medicus las außerdem über 2 Semester eine Übersicht der gesamten Ge­ werbekunde, deren 1. Teil die Urproduktionslehre (Landwirtschaft, Forst­ wirtschaft, Bergbaukunde) und deren 2. Teil die „Technische und commercielle Produktion“ (Technologie, Bürgerliche Baukunst und Handelswissen­ schaft) umfaßte.

Die personelle Ausstattung der Fakultät mit nur 2 ordentlichen Lehr­ stühlen, 2 Honorarprofessoren und einigen Privatdozenten war zunächst dürftig genug. Allerdings wurden einige Vorlesungen von Angehörigen anderer Fakultäten bestritten, so von Josef Gerhard Zuccarini von der Philosophischen, Lorenz Zierl von der Medizinischen und Carl Wolf von der Juristischen Fakultät. Zuccarini las ökonomische und technische Botanik, Forstbotanik sowie abwechselnd mit Medicus Land- und Forstwirtschaft. Er trat 1935 in die staatswirtschaftliche Fakultät über. Zierl hielt Vorlesungen über Agrikulturchemie, Landwirtschaft, über Krankheiten der Haustiere, aber auch über Staatswirtschaft; auch er wechselte später in die Staats­ wirtschaftliche Fakultät über. Der Lehrstoff war vorwiegend auf die Ausbildung von Verwaltungsbeam­ ten zugeschnitten. Schwerpunkte bildeten Finanzwissenschaft, über die z. B. im Sommersemester 1827 16 Stunden angekündigt wurden, und Polizei­ wissenschaft, der 10-15 Wochenstunden pro Semester gewidmet waren.

Vorlesungen über Forstwirtschaft mit Forstbotanik, Forsttaxationslehre und Forstdirektionslehre gehörten ebenso zum festen Lehrprogramm wie

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die Landwirtschaft. In einigen Naturwissenschaftlichen Fächern wie Agri­ kulturchemie und technischer Botanik zeichnet sich bereits der Beginn von Arbeitsrichtungen ab, die später in der Fakultät besondere Bedeutung ge­ wannen. Bei der geringen Zahl hauptamtlicher ordentlicher Professoren war die Belastung mit Lehraufgaben für den einzelnen Dozenten erheblich. Auch Privatdozenten wie Steinlein waren am Vorlesungsbetrieb in starkem Umfang beteiligt und kamen zu ansehnlichen wöchentlichen Stundenzahlen. Nach der Verlegung hatte sich Friedrich Benedikt Wilhelm Hermann, damals Lehrer für Mathematik am Gymnasium zu Erlangen, um eine ao. Professur der Kameralistik und politischen Arithmetik an der Universi­ tät München beworben; er stammte aus Dinkelsbühl und hatte sich 1823 als Dozent für Kameralwissenschaften in Erlangen habilitiert. Seine Berufung erfolgte im Herbst 1827 auf Betreiben Schenks. Der König hatte zunächst die Berufung eines „ausgezeichnet tüchtigen Kameralisten“ verlangt, wo­ gegen sich jedoch Fakultät und Senat, zu einem Gutachten aufgefordert, aus finanziellen Gründen aussprachen. Eine Verstärkung der National­ ökonomie wurde von der Fakultät zudem nicht für nötig erachtet (Huber 1939). Hermann, im Zeitpunkt seiner Berufung erst 31jährig, reihte sich mit seinem 1832 erschienenen Hauptwerk „Staatswirtschaftliche Unter­ suchungen“ unter die ersten deutschen Wirtschaftstheoretiker ein. Roscher zählt ihn zu den ausgezeichnetsten Nationalökonomen des 19. Jahrhun­ derts. Die Lehre von Adam Smith, als dessen Schüler er sich bezeichnete, hat Hermann entscheidend vertieft und erweitert, was besonders in seiner Preislehre zum Ausdruck kam. Um das Königliche Bayerische Statistische Bureau, das er von 1839 bis 1867 leitete, hat er sich große Verdienste er­ worben. Die von ihm angekündigten Vorlesungen umfaßten Technologie, Nationalökonomie und Finanzwissenschaft sowie statistische Fächer (Poli­ tische Arithmetik, Statistik von Europa und Nordamerika). 1829 las er auch über Geschichte der Staatswirtschaft, 1832 über Handelswissenschaft mit praktischer Anleitung zur Doppelbuchhaltung. Hermann trat auch im politi­ schen Leben hervor: 1848 wurde er in die konstituierende Nationalver­ sammlung zu Frankfurt delegiert, war Mitbegründer der sog. Großdeutschen Partei und 1849 - 55 Mitglied der Bayerischen Kammer der Abgeordneten. 1852 hat er Bayern auf der Wiener Zollkonferenz vertreten und sich für eine allgemeine deutsche Zoll- und Handelseinigung eingesetzt.

Neben seinem Lehramt war Hermann auch in der Staatsverwaltung tätig. Er war Staatsrat im ordentlichen Dienst und Vorstand der Königlichen General-Bergwerks- und Salinenadministration.

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Während der Zeit von 1833 bis 1843 war der forstwissenschaftliche Unter­ richt vorübergehend erheblich erweitert worden. Zwar war die oberste Forstbehörde bereits 1817 nachdrücklich dafür eingetreten, die Ausbildung zum höheren Forstdienst auf die Universität zu verlegen, doch hatten die bayerischen Staatsforstdienstanwärter ihre Ausbildung seit 1820 zumeist an der Forstlehranstalt Aschaffenburg erworben. Diese Anstalt wurde 1832 geschlossen, 1843 allerdings schon wiedereröffnet. Zwei Aschaffenburger Professoren, Caspar Papitis und Johann Ed. Hierl, wurden in die Münchner Fakultät übernommen (Schüpfer 1929). Letzterer gehörte 1841 der Philoso­ phischen Fakultät an. Papius hatte einige kleinere Schriften als Vorlesungsprogramme ver­ öffentlicht. Er las über Forst- und Holzwirtschaft, insbesondere Forst­ benutzung, Forsttaxation sowie Jagdwirtschaft. In einer 8stündigen Vor­ lesung war auch die Geschichte der Forstwirtschaft in Deutschland ent­ halten. Großes Gewicht legte er auf Torfwirtschaft, da er den „unermeß­ lichen Reichttum an Torf“ in den bayerischen Mooren als wichtiges Surro­ gat für Brennholz betrachtete.

Hierl entfaltete einen umfassenden Lehrbetrieb auf dem Gebiet der Mathematik und Vermessungslehre. 1835 kündigte er nicht weniger als 5 verschiedene, meist mathematische Vorlesungen an, die insgesamt 18 Wo­ chenstunden umfaßten; dazu kamen noch Vermessungsübungen im Freien. 1838 steigerte er seine Vorlesungstätigkeit auf 28 Wochenstunden, 3 weitere Stunden waren für Situationszeichnen vorgesehen. Die technische Ausbil­ dung wurde vervollständigt durch Lycealprofessor Caspar Leonh. Eilles, der von 1838 - 1869 als Dozent für Mechanik und Mathematik wirkte. Vor ihm hatte Friedrich August Pauli dieses Fach 2 Jahre lang vertreten, bis er 1835 zum Vorstand der polytechnischen Schule ernannt wurde. Der 6. Lehrstuhl war ursprünglich für Höhere Mechanik errichtet, wurde aber vom Jahre 1844 dem Fachgebiet Geognosie, Bergbau und Hüttenkunde gewidmet und Karl Emil von Schaf häutl übertragen, der 1803 in Ingolstadt geboren, nicht nur durch seine geologischen Untersuchungen, sondern auch durch die Konstruktion physikalischer und musikalischer Instrumente und als Musiktheoretiker bekannt geworden ist. Seine „Geognostischen Unter­ suchungen des südbayerischen Alpengebirges“ erschienen 1851. Er las über Geologie und Petrefaktenkunde mit Beziehung auf Bergbau und Boden­ kunde, über Eisenhütten- und Salinenkunde. Schafhäutl war bis zum Sommersemester 1885 aktiv am Lehrbetrieb beteiligt und hat noch als 82jähriger zwei Vorlesungen gehalten.

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Auch die übrigen naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer wurden in den 1840er Jahren stärker ausgebaut. Experimentalchemie „mit Beziehung auf Land- und Forstwissenschaft“ wurde von August Vogel gelesen, der 1845 in die philosophische Fakultät übertrat. Sein Nachfolger war Cajetan Kaiser, der der Fakultät 1849 - 71 angehörte, zunächst als Honorarprofessor, ab 1851 als Ordinarius. Er war zuvor Professor an der Münchner polytech­ nischen Schule gewesen. Kaiser richtete u. a. ein chemisches Praktikum für Landwirte und Techniker ein. Außerdem hat er als neues Fachgebiet 1850 die Bierbrauerei eingeführt. Neben Allgemeiner Botanik gab es eine spe­ zielle Vorlesung über Agronomie und Pflanzenphysiologie. Medicus, der den landwirtschaftlichen Lehrstuhl innehatte, hat bis zu seinem Tod im Jahr 1850, die letzten Jahre allerdings nur noch je eine Wochenstunde, gelesen. Über ein halbes Jahrhundert war er als Professor tätig gewesen. Drei Jahre, von 1813 - 1816, war er Rektor der Universität. Als Nachfolger wurde 1847 Nikolaus Carl Fraas berufen. Fraas war 1810 in der Nähe Bambergs geboren, war nach Studium und Promotion in Mün­ chen unter der Regentschaft König Ottos in Griechenland Dozent in Athen gewesen. Er hat in dieser Zeit ein botanisches Werk in griechischer Sprache verfaßt. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen — Geschichte der Landwirtschaft, Buch der Natur, Schule des Landbaus, Ackerbaukrisen, Wurzelleben der Culturpflanzen — behandelten vorwiegend landwirtschaft­ liche, aber auch botanische Gegenstände. In seinen Vorlesungen befaßte er sich nicht nur mit Landwirtschaft und angewandter Botanik („Allgemeine Botanik für Förster und Landwirte“), sondern übernahm auch national­ ökonomische Vorlesungen, u. a. Geschichte der Nationalökonomie. Seine „Geschichte der Landbau- und Forstwissenschaft“ (1865) hat auch für die Wirtschaftsgeschichte Bedeutung. In den Folgejähren ist aus den Vorlesungsverzeichnissen ein merklicher Rückgang des Lehrbetriebes zu entnehmen. Die Frequenz der Fakultät war ohnedies bescheiden und stieg in dem Zeitraum von 1828 bis 1854 selten über 100 Studierende. Die Wiedereröffnung der Forstlehranstalt Aschaffen­ burg, der nun als „Zentralforstlehranstalt“ die Ausbildung der bayerischen Forstleute oblag, bewirkte zwangsläufig einen Rückgang des Forststudiums in München. 1856 gab es nur noch 2 Forststudierende. Papius, nach dem Tod von Medicus der allein verbliebene forstwissenschaftliche Lehrer, be­ schränkte sich auf eine Vorlesung über TorfWirtschaft im Wechsel mit einer Encyclopädie der Forstwissenschaften. Außerdem wurde nur Oberndorfers Vorlesung über Staatsforst- und StaatsjagdVerwaltung geboten.

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Auch durch die Tätigkeit von Friedrich Knapp, der der Fakultät von 1854 bis 1863 angehörte, wurde das Vorlesungsangebot nur unwesentlich erwei­ tert, zumal Knapp nur mit Unterbrechungen Vorlesungen hielt, die vor­ wiegend „Die Lehre von den Brennstoffen und der Heizung“ betrafen. 4. Die Staatswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Im Ganzen überwogen um die Mitte des Jahrhunderts bei weitem die technischen Fächer, da die Staatswirtschaft nur durch den einzigen Lehr­ stuhl, den Staatsrat v. Hermann innehatte, vertreten war. Da Hermann aber noch Vorstand der Königlichen General-Bergwerks- und Salinenadministra­ tion war, mußte er mehrere Jahre seine Vorlesungstätigkeit auf die Winter­ semester beschränken. Um so wichtiger war, daß 1859 ein zweites staats­ wirtschaftliches Ordinariat errichtet wurde. Sein erster Inhaber war Wil­ helm Heinrich Riehl. Riehl war Rheinländer, 1823 zu Biebrich bei Mainz geboren, hatte in Marburg, Tübingen, Bonn und Gießen Theologie, Kulturund Kunstgeschichte studiert.

1846 - 48 hatte er die Karlsruher Zeitung redigiert und war in die deutsche Nationalversammlung gewählt worden, war dann Mitarbeiter der Augs­ burger Allgemeinen Zeitung.

Im Jahre 1853 wurde Riehl auf Grund seiner Arbeiten „Die Bürgerliche Gesellschaft“ und „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deut­ schen Sozialpolitik“ auf Veranlassung von König Maximilian II. zunächst als Honorarprofessor für Staatswirtschaft berufen. 1859 wurde er zum Or­ dinarius für Kulturgeschichte und Statistik ernannt. Seine Lehrtätigkeit begann Riehl mit einer Vorlesung über „Allgemeine Kulturgeschichte von der Entdeckung Amerikas bis in die neueste Zeit“ und einer weiteren über „Ethnographie von Deutschland aus dem volkswirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkt“. In den folgenden Jahren las er u. a. „System der Staats­ wissenschaft, Kulturgeschichte des Mittelalters und Neuere Kulturgeschichte sowie Landes- und Völkerkunde des Königreichs Bayern, Kulturgeschichte der Renaissance- und Reformationszeit“, sowie „Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft und Geschichte der sozialen Theorien“. Im Vordergrund stand in Riehls Wirken die Volkskunde, freilich nicht in folkloristischer, sondern in sozialer Richtung; besonders lag ihm das Bauerntum am Herzen, in dem er die „erhaltende Macht des Volkes“ erblickte. Als Statistiker betrieb Riehl eine ausgesprochene „Schilderungsstatistik“; seine „geistvollen und so über­ aus anregenden Gemälde von einzelnen Seiten des Volkslebens“ rechnete io

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selbst Roscher (1874) zu den Zierden der statistischen Literatur. Auch sozio­ logische Probleme haben Riehl stark beschäftigt. Als Schriftsteller wie als akademischer Lehrer war Riehl überaus anregend und von großer Aus­ strahlung. Unter seinen literarischen Arbeiten sind neben dem 1. Band der „Naturgeschichte des Volkes“, das den Titel „Land und Leute“ trägt und 1854 erschien, die weiteren Bände „Die Familie“ (1855), „Wanderbuch“ (1869) und „Die Deutsche Arbeit“ (1862) von Bedeutung. Im Auftrag des Königs leitete Riehl auch das bekannte Sammelwerk über bayerisches Land und Volkstum, die „Bavaria“, zu der er hervorragende Mitarbeiter gewinnen konnte. Der 1. Band über Ober- und Niederbayern ist 1860 erschienen. 1885 wurde Riehl Direktor des bayerischen National­ museums und Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Altertümer Bayerns, eine Stellung, die er bis zu seinem Tode im Jahre 1897 beibe­ hielt. Riehls künstlerische Ader, seine romantische und empirische Art stand in starkem Gegensatz zur trockenen Gelehrsamkeit der reinen Theoretiker, wirkte aber gerade dadurch besonders anziehend und erfrischend. Selbst Schnabels Urteil, der von der „romantischen Anhänglichkeit an die gute alte Zeit“ spricht, der Riehl den liebenswürdigsten literarischen Ausdruck verliehen habe, dürfte Riehls Bedeutung, insbesondere auch seiner Stellung in der Soziologie, nicht ganz gerecht werden.

Auf Staatsrat v. Hermann, der im November 1868 73jährig verstorben war — er hatte noch für das Wintersemester 1868/69 eine tägliche Vor­ lesung über Nationalökonomie und Wirtschaftspolizei angekündigt — folgte 1869 Johann Alphons Renatus (v.) Helferich. 1817 in Neuschatel geboren, hatte er in Erlangen, Berlin und Heidelberg studiert, in Heidelberg den Doktorgrad erworben und sich in Freiburg habilitiert, wo er schon 1844 im Alter von 27 Jahren ao. Professor und wenig später Ordinarius wurde. Seine Habilitationsschrift behandelte die periodischen Schwankungen im Werte der edlen Metalle von der Entdeckung Amerikas bis zum Jahre 1830. Helferich hat in München 20 Jahre lang als einziger Nationalökonom die Vor­ lesungen über Finanzwissenschaft, Nationalökonomie und ökonomische Poli­ tik wahrgenommen und zahlreiche größere Beiträge in staatswissenschaft­ lichen Zeitschriften veröffentlicht, von denen auch einige wirtschaftsge­ schichtliche Gegenstände betrafen (Zorn 1970). Für Schönbergs Handbuch der politischen Ökonomie schrieb er den Abschnitt über Forstwirtschaft, auch mit dem Problem der Waldrente hat er sich in einem Aufsatz aus­ einandergesetzt.

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Der Fakultät gehörte seit 1867 auch Josef (v.) Pözl als Professor des bayerischen Staatsrechts an. Pözl war 1814 geboren, außerordentlicher Pro­ fessor in Würzburg gewesen und 1847 als Ordinarius zunächst zur Münchner juristischen Fakultät gekommen. Er las über Verwaltungsrecht und Polizei­ wissenschaft. 1848 hat er der deutschen Nationalversammlung angehört. 1863 war Pözl zweiter und 1865 erster Präsident der Kammer der Abge­ ordneten. 1882 wurde er zum Reichsrat ernannt. Seine Lehrbücher des Bayerischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts haben mehrere Auflagen erlebt.

5. Der Ausbau der Forstwissenschaft

Zwischen 1840 und 1845 waren durchschnittlich jährlich 70 Studierende der Forstwissenschaft immatrikuliert gewesen. Seit der Wiedereröffnung der Forstlehranstalt Aschaffenburg war die Hörerzahl rasch zurückgegan­ gen und der Unterricht hatte sich auf wenige Vorlesungen, die vor allem für Cameralisten bestimmt waren, beschränkt. 1859 war dann für die An­ wärter des Höheren Forstdienstes in Bayern der Besuch eines einjährigen Kurses an der Universität vorgeschrieben worden, was den Anlaß zur Wiederbesetzung des durch den Abgang von Papius vakanten Lehrstuhls bildete. 1859 wurde Karl Friedrich Roth, der aus einem fränkischen Forst­ haus bei Wassertrüdingen stammte, als o. Professor der Forstwissenschaft, des Forstrechts und der Forstpolizei berufen. Er hatte in Erlangen, Heidel­ berg und München Jurisprudenz und im letzten Jahr auch Forstwissenschaft studiert, sich dann aber zum Forstberuf entschlossen und war u. a. Forstkom­ missär im Forsteinrichtungsbureau des Finanzministeriums und 9 Jahre Forstmeister in Weiden gewesen. Bei seinem Eintritt in die staatswirtschaft­ liche Fakultät wurde ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Roth las eine Encyclopädie der Forstwissenschaft, über Forstrecht und Forstpolizei und Staatsforstwirtschaftslehre. Schon 1841 hatte Roth eine Theorie der Forst­ gesetzgebung und Forstverwaltung veröffentlicht, 1863 erschien sein Hand­ buch des Forstrechts und der Forstpolizei. Von bleibendem Wert ist aber vor allem seine 1863 erschienene „Geschichte des Forst- und Jagdwesens in Deutschland“, in dem ein umfangreiches Urkundenmaterial verarbeitet ist. Noch in seinem 70. Lebensjahr hat Roth sich in einer Denkschrift gegen über­ triebene Auswirkungen der Bodenreinertragslehre gewandt und für höhere Umtriebszeiten eingesetzt. 1878 erfolgte wiederum eine Neuordnung des Forststudiums in Bayern: Nun wurde bestimmt, daß die Kandidaten im Anschluß an ein zweijähriges Studium in Aschaffenburg zwei weitere Jahre an der Universität zu stu­ 10*

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dieren hatten. Für die Reform des forstlichen Unterrichts hatte sich vor allem August Ganghofer eingesetzt, der seit 1875 die neugegründete Ab­ teilung für forstliches Versuchswesen und forstliche Statistik im Finanz­ ministerium leitete und 1881 als Ministerialrat Chef der bayerischen Staats­ forstverwaltung wurde. Entgegen dem Regierungsentwurf hatte ein Land­ tagsbeschluß mit 78 gegen 75 Stimmen entschieden, daß die Centralforst­ lehranstalt in Aschaffenburg fortbestehen sollte. Die Neuregelung war zwar keineswegs glücklich, sondern ein auf die Dauer unhaltbarer Kompromiß, führte aber dazu, daß der Forstwissenschaft nun an der Universität München eine gute Entwicklungsmöglichkeit geboten wurde. Diese Entwicklung wurde eingeleitet durch die Errichtung von fünf weite­ ren Lehrstühlen für Forstwissenschaft, auf die durch eine am 21. April 1878 von König Ludwig II. unterzeichnete Urkunde Karl Gayer, Ernst Ebermayer, Gustav Heyer, Franz von Baur und Robert Hartig zu ordentlichen Professoren in der Staatswirtschaftlichen Fakultät berufen wurden. Die Berufenen waren alle hervorragende Vertreter ihrer Fächer, die zudem alle schon auf eine längere akademische Tätigkeit zurückblicken konnten.

Johann Karl Gayer, 1822 in Speyer als Sohn des dortigen Kreisarchivars geboren, war früh Doppelwaise geworden und hatte sich mit einem be­ scheidenen Erbteil nach München begeben, um sich auf der polytechnischen Schule als Arkitekt auszubilden, er hat daneben Mathematik und Natur­ wissenschaften betrieben. Da seine Mittel zur Vervollständigung der Stu­ dien nicht ausreichten, mußte er sein Lieblingsfach aufgeben und trat in die forstliche Praxis ein, wo ihm zu Anfang schwierige dienstliche Aufgaben zugemutet wurden.

Nach verschiedenen Tätigkeiten in der Forsteinrichtung, als Revierförster und am Regierungsforstbureau in Speyer wurde Gayer 1855 eine Professur an der Forstlehranstalt Aschaffenburg angeboten, nachdem er 1847 einen Ruf nach Karlsruhe abgelehnt hatte. In Aschaffenburg hat Gayer 23 Jahre gewirkt, hier erschien 1863 sein Handbuch der Forstbenutzung, das in weni­ gen Jahren 4 Auflagen erreichte. Bei Antritt seines Münchner Lehramtes war er bereits 56 Jahre. In München erschien sein berühmtes, klassisches Werk „Der Waldbau“, das eine völlig neue Epoche der Waldbehandlung ein­ geleitet hat, 1886 seine Schrift über den gemischten Wald. Gayer forderte vor allem die Begründung des waldbaulichen Wirkens auf naturgesetzlichem Denken, die Beschränkung reiner Nadelholzbestände, Schaffung standorts­ gerechter Mischbestände unter ausreichender Erhaltung von Laubholz und natürliche Verjüngung. Gayers Lehren wurden nicht nur die Grundlage für die Wirtschaftsregeln für die bayerischen Staatswaldungen, sondern haben

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den gesamten europäischen Waldbau entscheidend beeinflußt, sein Waldbau wurde ins Französische und Holländische übersetzt. Gayer hat mehr wie jeder andere zum Ruhm der Münchner forstwissenschaftlichen Schule bei­ getragen. 1889 wurde er zum Rektor der Universität gewählt und war Ehrenmitglied ausländischer wissenschaftlicher Vereinigungen. Er las bis zu seinem 70. Lebensjahr, hat aber noch im Ruhestand eine Anzahl von Aufsätzen veröffentlicht. Nach einer 60jährigen praktischen und wissen­ schaftlichen Tätigkeit ist er 1907 gestorben.

Gustav Heyer war im Zeitpunkt seiner Berufung Direktor der Preußi­ schen Forstakademie in Münden. Er war 1826 als Sohn des bekannten Gießener Professors der Forstwissenschaft Karl Justus Heyer geboren. Nach verschiedenen forstlichen Tätigkeiten war er 1857 ordentlicher Professor in Gießen geworden. Seine ersten Arbeiten waren baumphysiologischen und ertragskundlichen Problemen gewidmet, 1856 veröffentlichte er ein Buch über forstliche Bodenkunde und Klimatologie. Die für Heyers wissenschaftliche Arbeitsrichtung kennzeichnendsten Werke sind seine „Anleitung zur Wald­ wertrechnung“, das „Handbuch der Forstlichen Statik“ und die „Methoden der forstlichen Rentabilitätsrechnung“. Er war einer der bedeutendsten Vertreter der Bodenreinertragslehre und hat sich um die Ausbildung klaren rechnerischen Denkens in den Forstbetrieben große Verdienste erworben (Köstler 1953). Seinem Wirken in München hat schon 1883 ein Herzschlag ein Ende gesetzt. Ernst Ebermayer kam wie Gayer von der Centralforstlehranstalt Aschaf­ fenburg. Er entstammte einem ländlichen Pfarrhaus in Rehlingen bei Pappenheim, studierte in München Naturwissenschaften, legte das pharma­ zeutische Staatsexamen ab, war Assistent bei Professor v. Kobell an der mineralogischen Staatssammlung und Schüler von J. v. Liebig und erhielt nach der Lehramtsprüfung für technische Unterrichtsanstalten eine Lehr­ stelle an der Landwirtschafts- und Gewerbeschule Nördlingen, wurde 1858 Rektor und Lehrer für Chemie und Naturgeschichte an der königlichen Gewerbeschule zu Landau in der Pfalz. Im gleichen Jahr wurde er auf den neu errichteten Lehrstuhl für Chemie, Mineralogie und landwirtschaftliche Encyclopädie in Aschaffenburg berufen, 1878 wurde er ordentlicher Pro­ fessor für Agrikulturchemie und Bodenkunde einschließlich Meteorologie und Klimatologie in München. Ebermayers groß angelegte Forschungsarbeiten zielten darauf ab, den Einfluß des Waldes auf die klimatischen Verhältnisse eines Landes ziffern­ mäßig zu erfassen. Mit der von ihm veranlaßten Einrichtung von Meß­ stationen zur Erfassung des Waldklimas war er der eigentliche Begründer

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der forstlichen Meteorologie. Insbesondere haben ihn Grundwasserpro ­ bleme, die Waldstreufrage und die hygienische Bedeutung des Waldes be­ schäftigt. Aber auch Standortprobleme, insbesondere die Humusfrage und die Stoffwechselvorgänge im Waldboden sowie Bodenerkrankungen, waren Gegenstand seiner Forschungen. Zwei bedeutende Bücher: „Die physiolo­ gischen Einwirkungen des Waldes auf Luft und Boden“ und „Die gesamte Lehre von der Waldstreu“ waren bereits in der Aschaffenburger Zeit er­ schienen. 1882 kam die „Physiologische Chemie der Pflanzen“ heraus, noch wenige Jahre vor seinem 1908 erfolgten Tod veröffentlichte Ebermayer seine Untersuchungen über den Einfluß des Waldes auf den Grundwasserstand. Franz Adolf Gregor von Baur war als Sohn eines großherzoglichen hessi­ schen Oberförsters in Lindenfels im Odenwald geboren. Nach dem Studium der Forstwirtschaft in Gießen war er mehrere Jahre mit Forsteinrichtungsund Vermessungsarbeiten beschäftigt, bis er, erst 25jährig, aufgefordert wurde, die Professur für die forstmathematischen Fächer an der neuerrichte­ ten Forstlehranstalt in Weißwasser in Böhmen zu übernehmen. Hier ent­ stand u. a. sein Lehrbuch der niederen Geodäsie und seine sehr verbreitete Holzmeßkunde. Beide Bücher wurden mehrfach wieder aufgelegt. Wieder in die Heimat zurückgekehrt, war Baur 4 Jahre Oberförster in Mitteldick bei Frankfurt; ein Ruf an die land- und forstwirtschaftliche Akademie Hohen­ heim leitete eine reiche wissenschaftliche Tätigkeit ein, vor allem regte Baur das forstliche Versuchswesen an und gründete die forstliche Versuchs­ anstalt in Württemberg, veröffentlichte ertragskundliche Untersuchungen über Fichte und Rotbuche und hat die ersten modernen Ertragstafeln ge­ schaffen. Er redigierte die „Monatsschrift für das Forstwesen“, die mit geändertem Titel als „Forstwissenschaftliches Centralblatt“ zum Publika­ tionsorgan der Forstlichen Versuchsanstalt in München wurde und bis heute geblieben ist.

Auch in München war Baur unermüdlich in der Lehre, im Versuchswesen und schriftstellerisch tätig. Er veröffentlichte u. a. das „Handbuch der Wald­ wertrechnung“ und 1890 Formzahlen und Massentafeln für die Fichte. Daß er Modeströmungen nicht unterlag, zeigt seine ablehnende Haltung gegen die Bodenreinertragslehre, die er energisch bekämpft hat. 1895/96 war Baur Rektor der Universität. Zu Beginn des Jahres 1897 erlag er einem Schlaganfall. Mit 39 Jahren war Robert Hartig der jüngste der 1878 Berufenen. Er war der Enkel des forstlichen Klassikers und preußischen Oberlandforstmeisters Georg Ludwig Hartig, Sohn des Botanikers Theodor Hartig und entstammte

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einer alten und berühmten Forstfamilie. Er war nach Abschluß seiner Stu­ dien zunächst im Braunschweigischen Forstdienst, hatte dann an der Uni­ versität Marburg promoviert und wurde, erst 28jährig, mit der Vertretung von Professor Ratzeburg an der Forstakademie Eberswalde beauftragt. Er las dort 2 Jahre als Dozent der organischen Naturwissenschaften über Zoologie und Botanik, 1871 wurde er Professor für Botanik und Abteilungs­ vorstand im Forstlichen Versuchswesen Preußens. Hartig war ein Forscher von großer Vielseitigkeit, hervorragender Beobachtungsgabe und unge­ wöhnlichem Können. Hartigs Hauptarbeitsgebiet war die Pflanzenpatho­ logie; sein berühmtes Buch über Baumkrankheiten erschien 1882. Eine größere Anzahl grundlegender und überaus aufschlußreicher Forschungs­ arbeiten betrifft Probleme der biologischen Holzkunde. Über Anatomie und Physiologie der Holzpflanzen hat Hartig ebenfalls ein Lehrbuch geschrieben. Er starb bereits 1901 im Alter von 62 Jahren.

Mit nunmehr '6 forstwissenschaftlichen Ordinariaten gegenüber 2 staats­ wirtschaftlichen Lehrstühlen hatte die Fakultät nicht nur einen bedeut­ samen Zuwachs erhalten, sondern auch ihren Charakter erheblich gewan­ delt. Forstwissenschaft war praktisch zum Hauptstudium geworden, Kameralwissenschaft bzw. Nationalökonomie ein Nebenstudium. In den ersten 4 Semestern von 1878 bis 1880 waren durchschnittlich 110 Studierende der Forstwissenschaft, aber nur 8 Hörer der kameralistischen Studienrichtung eingeschrieben.

Während bisher für Forschungszwecke, namentlich bei den naturwissen­ schaftlichen Fächern, nur ganz unzureichende Einrichtungen bestanden, erhielt nach 1878 auch die Forschung ihren gebührenden Raum. Es war vor allem der Initiative Ganghofers zu verdanken, daß 1878 aus Mitteln der Bayerischen Staatsforstverwaltung eine forstliche Versuchs­ anstalt ins Leben gerufen wurde mit zunächst 3 Abteilungen, einer chemischbodenkundlichen und forstlich-meteorologischen, einer forstbotanischen und einer forstlichen. Im Garten unmittelbar südlich der Universität wurde das Gebäude der Forstlichen Versuchsanstalt mit Hörsälen, Arbeits- und Samm­ lungsräumen errichtet, das, wiewohl im zweiten Weltkrieg nicht uner­ heblich beschädigt und für modernen Forschungsbetrieb kaum mehr geeig­ net, bis heute die Heimstätte von zwei forstnaturwissenschaftlichen Insti­ tuten geblieben ist. Für jede Abteilung wurde einer der Professoren der Staatswirtschaftlichen Fakultät als Vorstand bestellt. Von der botanischen Abteilung wurden zunächst auch die forstzoologischen Arbeiten mitbesorgt, was dadurch ermöglicht wurde, daß der Vorstand, Professor Robert Hartig, ein vorzüglicher Entomologe war. Die große und ständig wachsende Be-

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deutung der Forstzoologie machte es aber bald notwendig, aus der botanisch­ zoologischen eine eigene Zoologische Abteilung abzu trennen, die 1896 zum selbständigen Institut erhoben wurde. Leiter war August Pauly, der, 1859 in München geboren, Naturwissenschaften studiert hatte und sich nach sei­ ner Promotion in der philosophischen Fakultät für Zoologie habilitiert hatte. Pauly hat u. a. eine entomologische und Wirbeltiersammlung angelegt, die um die Jahrhundertwende eine der besten Europas war. 1896 wurde Pauly zum ao. Professor ernannt. Das für die Forstliche Versuchsanstalt bestimmte Gebäude erwies sich bald als zu eng. 1899 wurde deshalb in unmittelbarer Nähe, an der Amalien­ straße, ein Neubau errichtet, in dem die bisher in der Universität befindliche bodenkundlich-meteorologische Abteilung, sowie die forstliche Abteilung untergebracht wurden. Die letztere erhielt ab 1900 die Bezeichnung forst­ technische Abteilung und umfaßte die drei Lehrstühle für forstliche Pro­ duktionslehre, für Forstpolitik und für forstliche Betriebslehre. In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts waren neben 2 forstnatur­ wissenschaftlichen und 3 „forsttechnischen“ Professuren nur zwei staats­ wirtschaftliche Lehrstühle (Riehl und Helferich) vorhanden. Da die Land­ wirtschaft, wie die zeitweilig vertretene Bierbrauerei und die Technologie an die Technische Hochschule übergegangen waren, lag das Schwergewicht ganz eindeutig auf dem forstwissenschaftlichen Unterricht. Die überwie­ gende Mehrheit der Studierenden waren Forstkandidaten. Im übrigen be­ stand keine scharfe Trennung zwischen den Fachrichtungen, so hatte Helfe­ rich sich auch mit forstbetriebswirtschaftlichen Problemen, H. Riehl mit der Bedeutung des Waldes für das Volksleben beschäftigt. Kennzeichnend für die damals noch vorhandene Geschlossenheit der Fakultät ist der Umstand, daß als Nachfolger K. Roths, der bis 1884 Forstrecht und Forstpolizei ver­ treten hatte, der Nationalökonom Julius L. Lehr berufen wurde, der sowohl forstwissenschaftliche wie nationalökonomische Fächer übernahm. Lehr stammte aus Schotten in Oberhessen, wo er 1845 geboren wurde, hatte in Gießen Staats- und Cameralwissenschaften studiert, wurde 1868 Lehrer an der Forstakademie in Münden und anschließend Professor für Volkswirtschaft an der technischen Hochschule in Karlsruhe. In München vertrat er Forstgeschichte, Forstpolitik und Forstverwaltung, Statistik und Nationalökonomie, u. a. las er über Handel und Handelspolitik, Transport­ mittel in ihren Beziehungen zu Staats- und Volkswirtschaft, d. h. Verkehrs­ politik, über Sozialismus und Kommunismus. Lehrs Forschungsgebiet lag vor allem im Bereich der Statistik und theoretischen Nationalökonomie, mit stark mathematischer Grundlegung. Er gilt als einer der Hauptvertreter der

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mathematischen Methode in der Nationalökonomie. Lehrs Hauptwerk „Grundbegriffe und Grundlagen der Volkswirtschaft“ (1. Band des Handund Lehrbuchs der Staatswissenschaften) erschien 1893. Andere seiner zahl­ reichen Schriften betrafen statistische Fragen, Forstpolitik und Waldwert­ rechnung. Nahezu gleichzeitig mit dem forstpolitischen Lehrstuhl war infolge des frühen Todes von Gustav Heyer, der nur 57 Jahre alt geworden war, auch dessen Lehrstuhl wieder zu besetzen. Als Nachfolger wurde 1884 Rudolf Weber (geb. 1842 in Memmingen) bestellt. Weber war noch in Aschaffenburg Schüler und Assistent Ebermayers gewesen, war damit auch auf natur­ wissenschaftlichem Gebiet gründlich geschult. Er las über Forsteinrichtung, Geodäsie, Nivellieren und Wegebau, nach v. Baurs Tod übernahm er auch noch Holzmeßkunde. In seinem Lehrbuch der Forsteinrichtung, das 1891 erschien, ist der umfangreichste Abschnitt der Lehre vom Holzzuwachs ge­ widmet; er bringt hier erstmalig eine zusammenfassende Darstellung des gesamten ertragskundlichen Wissensstandes. Neuartig und richtungweisend ist ferner Webers Vorschlag, die Volumenerträge der Holzarten in Gewichts­ mengen Holztrockensubstanz umzurechnen, wodurch ein wesentlich richti­ geres Bild der tatsächlichen StoffProduktion durch verschiedenartige Wald­ bestockungen gewonnen wird. Bereits von einer schweren Krankheit ge­ zeichnet hat Weber noch bis zum Ende des Sommersemesters 1905 seine Lehraufgabe wahrgenommen und starb noch im gleichen Jahre.

6. Die Wirtschaftswissenschaften im frühen 20. Jahrhundert Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erhielt die volkswirtschaft­ liche Richtung eine bedeutende Erweiterung durch die Berufung von Lujo Brentano, die auf Wunsch der Fakultät zur planmäßigen Verstärkung des Nationalökonomischen Studiums erfolgte. Brentano war bayerischer Franke aus Aschaffenburg, hatte bei J. v. Helferich mit einer Dissertation über Heinrich von Thünens Lohn- und Preistheorie promoviert und sich 1871 in Berlin mit einem Buch über die Arbeitergilden der Gegenwart habilitiert, in der Folgezeit war er Professor in Breslau, Straßburg, Wien und Leipzig gewesen, bis er 1891 als Nachfolger Helferichs nach München berufen wurde. Brentano gehörte der historischen Schule der Nationalökonomie an und wird als „der umfassendste und geistreichste Vertreter des oppositionellen Wirt­ schaftsliberalismus im Bismarckschen Reich“ bezeichnet (Hdw.). Brentano vertrat eine ungehemmte Verflechtung Deutschlands in die Weltwirtschaft und einen radikalen Agrarliberalismus. Dazu kam eine starke Betonung der

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Sozialpolitik. Als akademischer Lehrer hatte Brentano ungewöhnliche Er­ folge. Seine glänzenden Vorlesungen behandelten nicht nur allgemeine Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik, sondern in erheblichem Umfang Wirtschaftsgeschichte seit dem Untergang des römischen Reiches. Zahlreiche Schriften befaßten sich namentlich mit handelspolitischen Prob­ lemen, in seinen späteren Jahren aber zunehmend mit Wirtschaftsgeschichte, wie eine Schrift über die byzantinische Volkswirtschaft (1917), über das Wirtschaftsleben der antiken Welt (1929). Ein vierbändiges Werk behandelte die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands (1927/29). Für seine Rektoratsrede wählte er das Thema Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte. Brentanos letzte Veröffentlichung kurz vor seinem Tod im Jahr 1931 trägt den Titel: „Mein Leben im Kampf um die soziale Entwick­ lung Deutschlands.“

Zugleich mit Brentano kam Walter Lotz, geb. 1865 in Gera, an die Univer­ sität München und wurde schon 1892 ordentlicher Professor für National­ ökonomie, Statistik und Finanzwissenschaft. Lotz war in Leipzig Schüler von Roscher, in Straßburg von Brentano und Knapp gewesen, hatte sich in Leipzig, wo er Brentanos Assistent war, habilitiert. Lotz war, stark von Roscher beeinflußt, ein typischer Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie und, wie Brentano, Anhänger des ökonomischen Liberalismus. Seine wissenschaftlichen Interessen waren außerordentlich weitgespannt und gingen vor allem auch in historische Richtung. Noch in seinen letzten Veröffentlichungen hat Lotz über Wirtschaftsgeschichtliche Gegenstände, wie die öffentlichen Finanzen Athens und Spartas in klassi­ scher Zeit (1934), sowie die Staatsfinanzen in den ersten Jahrhunderten des Kalifenreiches (1937) berichtet. Sein wissenschaftliches Hauptwerk ist jedoch seine Finanzwissenschaft (1917, 2. Aufl. 1931), die ein Standardwerk der finanzwissenschaftlichen Forschung und Lehre darstellt. Im Sommersemester 1892 war von Brentano und Lotz das Staatswirt­ schaftliche Seminar gegründet worden, an dem insgesamt 34 Studierende teilnahmen. Da das Seminar nur einen sehr bescheidenen Jahresetat von 500 - 1000 Mark und keinerlei Hilfskräfte besaß, mußten die Seminarleiter sogar die Aufgabe der Katalogisierung der Bücher selbst besorgen. Erst 1909 wurde die Stelle eines Seminaraufsehers geschaffen, dem diese Ar­ beiten zugewiesen werden konnten. Mit Brentano und Lotz hatte am Ende des vorigen Jahrhunderts die jüngere historische Schule eindeutig die Führung. Hinzu kam, daß Riehl sich in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit vorwiegend der Kultur­ geschichte zugewandt hatte. Als Riehls Lehrstuhl 1897 wieder zu besetzen

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war, beantragte die Fakultät die Umwandlung seiner Professur in einen Lehrstuhl für „Kultur- und Wirtschaftsgeschichte“. Entgegen den Vor­ schlägen der Fakultät war jedoch Kultusminister von Landmann der Auf­ fassung, daß die Wirtschaftsgeschichte durch Brentano und Lotz ausrei­ chend vertreten sei und bestimmte diesen Lehrstuhl für das Fach Statistik. Der Ruf erging an den hervorragenden Statistiker und ehemaligen Unter­ staatssekretär Georg von Mayr. Mayr stammte aus Würzburg, wo sein Vater Universitätsprofessor für Mathematik war; schon während seiner Studien­ zeit, die er im Maximilianeum verbrachte, hatte er zwei Nationalökonomisch ­ statistische Studien veröffentlicht. Vor seiner Berufung lagen Jahre viel­ seitiger und sehr erfolgreicher Tätigkeit im Bayerischen Statistischen Büro, in das er bereits 1864 eingetreten war und dessen Leitung er nach dem Tod v. Hermanns im Jahre 1869 übernahm und ein Jahrzehnt lang beibehielt, in der politischen Verwaltung als Unterstaatssekretär in Straßburg in der Abteilung Finanzverwaltung, bei parlamentarischer Arbeit im Reichstag und als Privatdozent und Honorarprofessor in Straßburg.

Auch in seiner wissenschaftlichen Arbeitsrichtung war Georg von Mayr überaus vielseitig. Er war besonders an der Theorie und Systematik der Staatswissenschaften interessiert — seine Encyklopädie „Begriff und Glie­ derung der Staatswissenschaften“ erreichte mehrere Auflagen —, hat sich aber nicht minder auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft und Steuerlehre betätigt. Kleinere Schriften behandelten Wirtschaftsprobleme der Kriegs­ wirtschaft und wirtschaftsethische Fragen. Vor allem war Mayr aber füh­ rend auf dem Gebiet der Statistik, die er zu einer selbständigen Gesell­ schaftswissenschaft ausgebildet hat. Sein Hauptwerk „Statistik und Gesell­ schaftslehre“ bemüht sich um ein gesamtes System der wissenschaftlichen Statistik; in den Aufnahme- und Aufbereitungsverfahren hat er entschei­ dende Verbesserungen eingeführt. In seinen Vorlesungen behandelte v. Mayr Allgemeine und spezielle Volkswirtschaft, Finanzwissenschaft und Statistik, ferner das System der gesamten Sozialpolitik. Erstmals hat er auch die Arbeitswissenschaft in einer Vorlesung behandelt, ein Gebiet, das erst ein halbes Jahrhundert später im Rahmen der forstwissenschaftlichen Fach­ vorlesungen wieder auf gegriffen wurde. Schon bei Übernahme seiner Professur errichtete v. Mayr ein Statistisches Seminar, dem später ein Seminar für Versicherungswissenschaft angeglie­ dert wurde.

Im Jahr 1920 wurde v. Mayr emeritiert, hat jedoch seine Vorlesungstätig­ keit fast in vollem Umfang bis zum Ende des Sommersemesters 1925 bei­ behalten.

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In der gesamten Arbeitsrichtung der Fakultät nahm die Sozialpolitik zu Beginn des Jahrhunderts einen hervorragenden Platz ein. Starkes sozial­ politisches und soziologisches Interesse ist aus dem Vorlesungsprogramm wie aus zahlreichen Schriften G. v. Mayrs ersichtlich. Außerdem wurde das Fach Sozialpolitik durch den Honorarprofessor Karl Wasserrab vertreten. Wasserrab, der aus Österreichisch-Schlesien stammte (er wurde 1851 in Troppau geboren), hat sich an der Münchner Staatswirtschaffliehen Fakultät habilitiert und war mehrere Jahre ordentlicher Professor für Nationalökono­ mie an der Universität Freiburg in der Schweiz gewesen. Von 1899 bis in die ersten Kriegsjahre wirkte er als Honorarprofessor wieder in München. Er las über Grundlegung der Sozialpolitik, Soziale Frage und neuere Ge­ schichte der sozialen Theorieen, mehrfach aber auch über „Soziologie und soziale Frage“. Auch seine Veröffentlichungen waren weitgehend sozial­ wissenschaftlichen Fragen gewidmet. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges war es gelungen, als Nachfolger Brentanos Max Weber zu gewinnen. Weber war 1865 in Erfurt geboren, beim Antritt seines Lehramtes in München also 55jährig. Er hatte seine Ausbil­ dung als Jurist begonnen und in Berlin den juristischen Doktorgrad erwor­ ben mit einer Dissertation „Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“, die auf dem Grenzgebiet zwischen Rechts- und Wirtschafts­ geschichte lag. 1890/91 entstand im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik seine umfangreiche Arbeit über die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, womit Weber auf nationalökonomisches Gebiet vorstieß. Wie­ wohl Weber sich in Berlin für römisches, deutsches und Handelsrecht habili­ tiert hatte, wurde ihm 1894 ein nationalökonomischer Lehrstuhl in Freiburg angeboten, der seiner Neigung für Kultur- und Ideengeschichte und seinem starken politischen und sozialpolitischen Interesse mehr entsprach als das formal-juristische Denken. Schon 2V2 Jahre später erhielt er einen Ruf nach Heidelberg, mußte freilich seine reiche Vorlesungstätigkeit über theoretische und praktische Nationalökonomie, Agrarpolitik und Arbeiterfrage aus ge­ sundheitlichen Gründen schon bald abbrechen. 1903 war Webers berühmte Schrift über „Die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus“ erschienen, der später weitere religionssoziologische Untersuchungen folg­ ten. Auch eine 1908 entstandene Arbeit über Agrarverhältnisse des Alter­ tums hatte weitgehend soziologischen Charakter. Sein wissenschaftliches Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ ist erst nach seinem Tod erschie­ nen. Im Sommersemester 1918 hatte Weber probeweise ein Ordinariat in Wien übernommen, sich dann unter der Bedingung für München entschie­ den, daß er hier im wesentlichen soziologische Vorlesungen halten werde.

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Weber begann seine Vorlesungstätigkeit im überfüllten Hörsaal im Sommer­ semester 1919, zudem durch die politischen Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit, die er leidenschaftlich verfolgte, stark beansprucht und seelisch belastet. In diesem ersten Münchner Sommer hielt er auch die beiden Reden „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“, von denen namentlich die letzte, im Druck zu einer größeren Abhandlung angewachsen, seither nichts an Aktualität verloren hat. Im Wintersemester 1919/20 las Weber auf Drängen der Studenten einen Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vor etwa 600 Zuhörern. Zu seinen für das folgende Sommersemester angekündigten Vorlesungen über Sozialismus und über Staatslehre hatten sich 600 bzw. 400 Hörer eingeschrieben, schon beim Beginn der Vorlesungen war das Auditorium überfüllt, da sich neben den einge­ schriebenen Studierenden zahlreiche Gäste eingefunden hatten. Die Vor­ lesungen wurden nicht zu Ende geführt, da Weber am 14. Juni 1920 einer Lungenentzündung erlag. Sein früher Tod bedeutete für die Fakultät einen unersetzlichen Verlust. Durch die Emeritierung Georg v. Mayrs und den Tod Max Webers waren zwei nationalökonomische Lehrstühle zu gleicher Zeit vakant geworden. Als Nachfolger Max Webers wurde 1921 Otto von Zwiedineck-Südenhorst, auf den Mayrschen Lehrstuhl im gleichen Jahr Adolf Weber berufen.

Otto von Zwiedineck hatte in seiner Heimatstadt Graz, wo er 1871 ge­ boren wurde, sowie in Heidelberg und Leipzig studiert und sich 1901 bei Philippowich in Wien habilitiert. Vor seiner Berufung nach München war er 10 Jahre an der Technischen Hochschule Karlsruhe (1912/13 als Rektor) und kurze Zeit an der Universität Breslau gewesen. In München hat Zwie­ dineck bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1938 Nationalökonomie, Finanz­ wissenschaft, Statistik und Versicherungsökonomie vertreten. Nach 1945 hat er seine Lehrtätigkeit nochmals für mehrere Jahre aufgenommen. Wiewohl schwer leidend war er fast bis zu seinem Tod im Jahre 1957 forschend und lehrend tätig. Wenn Zwiedineck auch von der neueren historischen Schule ausging, gehörte er doch selbst keiner Schule an und hat sich auch gegen­ über der österreichischen Grenznutzenschule kritisch verhalten. Er legte Wert auf „kausal-dynamische Forschung“ gegenüber dem neueren Funk­ tionalismus. Eine Reihe seiner Veröffentlichungen befaßten sich mit der Preistheorie, wobei die Frage nach der Entstehung des Preises im Mittel­ punkt stand. Durch die Betonung des Einkommens als Geldwertbestim­ mungsgrund hat er den Weg zu einer Einkommenstheorie des Geldes eröff­ net. Weitere theoretische Arbeiten betrafen den Begriff des Kapitals; 1930 erschien „Kapital und Kapitalismus“, 1931 die Schrift „Was macht ein Zeit­

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alter kapitalistisch“?, 1932 die „Allgemeine Volkswirtschaftslehre“. Neben seinen theoretischen Arbeiten hat Zwiedineck sich ständig mit sozialpoliti­ schen Fragen beschäftigt, schon seine ersten Veröffentlichungen waren Lohnproblemen und dem Arbeiterschütz gewidmet; seine „Sozialpolitik“ (1911) gilt als eine der ersten wissenschaftlichen Konzeptionen auf diesem Gebiet. Auch mit wirtschaftsgeschichtlichen Fragen hat er sich mehrfach auseinandergesetzt, so 1932 in einem Aufsatz über theoretische Begriffs­ bildung und Wirtschaftsgeschichte, 1949 über „Kollektivismus und Kapital­ wirtschaft in der Vor- und Frühgeschichte“ und über „Wirtschaftsethik des Spätmittelalters“. Seine letzte Vorlesung hatte Bevölkerungsbewegung und Völkerschicksale zum Gegenstand. Otto von Zwiedineck war als Forscher von größter Individualität, ein eindruckvoller und lebendiger akademischer Lehrer, der großes Ansehen genoß.

Der im gleichen Jahr wie Zwiedineck berufene, nur wenige Jahre jüngere Adolf Weber war 1876 in Mechernich (Eifel) geboren, hatte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studiert, wobei ihn besonders Heinrich Dietzel und Adolf Wagner beeinflußt hatten, und in beiden Disziplinen den Doktor­ grad erworben. Er hatte sich 1903 in Bonn für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft habilitiert, wurde 1908 an die Handelshochschule Köln und 1914 als Nachfolger von Julius Wolff nach Breslau berufen; ein weiterer Ruf führte ihn für 3 Jahre nach Frankfurt. In seiner wissenschaftlichen Arbeitsrichtung baute Weber auf den Grund­ lehren der klassischen Nationalökonomie auf, war aber auch deutlich von Marshall und Cassel beeinflußt. Seiner liberalen Grundauffassung entsprach die Überzeugung, daß die Wirtschaft bei freier Marktpreisbildung am besten funktioniere und deshalb staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt bleiben sollten. Der nationalsozialistischen Planwirtschaft stand er daher kritisch gegenüber. Seine ersten Arbeiten insbesondere das 1902 erschienene Werk „Depositenbanken und Spekulationsbanken“, in dem das deutsche Bankwesen mit dem englichen verglichen wurde, befaßten sich mit monetä­ ren Problemen, ebenso wie sein sehr bekanntes Lehrbuch „Geld, Banken, Börsen“ (1939). Zu brennenden volkswirtschaftlichen und weltwirtschaft­ lichen Problemen, vor allem auch zu Fragen des Außenhandels, hat Weber immer wieder Stellung genommen. Auch die Sozialpolitik hat Weber zeit­ lebens beschäftigt. In seiner Schrift „Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit“ wird nachgewiesen, daß eine nachhaltige Steigerung des Real­ lohns nur erreichbar ist, wenn die Produktivität der Arbeit steigt. Außen­ handelsfragen hat er in seiner „Weltwirtschaft“ (1932), wie im vierten Band seiner „Volkswirtschaft“ behandelt. Weber war besonders aktiv in der

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Gründung verschiedener wissenschaftlicher Einrichtungen, so gründete er in Breslau das Osteuropa-Institut, in Frankfurt 1920 die Akademie der Arbeit, 1928 regte er die „Vereinigung der Sozial- und Wirtschaftswissen­ schaftlichen Hochschullehrer“ an, dann eine Volkswirtschaftliche Arbeits­ gemeinschaft für Bayern. Schließlich war er an der Gründung des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München (1948) maßgebend beteiligt. Als Hochschullehrer war Adolf Weber überaus erfolgreich. Seine Lehrbücher haben die nationalökonomische Ausbildung in Deutschland jahrzehntelang in erheblichem Maß beeinflußt.

Wiewohl seit der Jahrhundertwende das Fachgebiet Nationalökonomie zum Hauptstudium geworden und die Hörerzahl stark angewachsen war, waren bis zum ersten Weltkrieg nur drei ordentliche Lehrstühle für Volks­ wirtschaft einschließlich Statistik vorhanden. Wirtschaftsgeschichte war zwar seit langem, namentlich durch Riehl, Brentano, Lotz und Max Weber besonders gepflegt worden, doch fehlte für dieses Fach immer noch ein eigener Lehrstuhl. Diesem Mangel wurde erst 1920, und zwar durch private Initiative abgeholfen. Rudolf Leonhard, ein Schüler Brentanos, der als nicht­ beamteter Extraordinarius Wirtschaftsgeschichte vertreten hatte, bestimmte in seinem Nachlaß 150 000 Mark und seine Privatbibliothek für die Errich­ tung eines Lehrstuhls für Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeographie. So kam es zur Errichtung der „Leonhardschen Stiftungsprofessur“ und 1921 zum Ausbau eines Seminars für Wirtschaftsgeschichte. Auf den neuerrichte­ ten ao. Lehrstuhl wurde der Leipziger Extraordinarius Jakob Strieder, geb. 1871, berufen. Er übernahm nebenamtlich auch die Leitung des privaten Fuggerarchivs in Augsburg. Strieder hatte bereits 1914 die „Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen“ geschrieben. Mehrere seiner Publikationen, so die 1926 erschienene Biographie Jakob Fugger d. R. befaßten sich mit der Fuggergeschichte. Zu nennen ist ferner die Arbeit „Levantinische Handelsfahrten deutscher Kaufleute im 16. Jahrhundert“ (1919), „Alfred Krupp“ (1933) und „Zur Genesis des modernen Kapitalismus“ (1935). Das Seminar für Wirtschaftsgeschichte wurde unter Strieders Leitung eine Stätte intensiver Forschungstätigkeit. 1934 übernahm Fritz Terhalle den nationalökonomisch-finanzwissen­ schaftlichen Lehrstuhl von Walter Lotz. Terhalle war Westfale, 1889 in Vreden geboren, in seiner wissenschaftlichen Entwicklung vor allem von Eugen Schmalenbach und Adolf Weber beeinflußt. Seine akademische Lauf­ bahn hatte ihn über Jena nach Münster und Hamburg geführt. Erste Arbei­ ten waren der Währungs- und Preispolitik gewidmet; mit einer Schrift „Steuerlast und Steuerkraft“ (1921) hatte er sich seinem Hauptarbeitsgebiet,

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der Finanzwissenschaft zugewandt. Vor allem hat Terhalle die ökonomischen Auswirkungen der Ausgaben verfolgt und die wechselseitigen Beziehungen zwischen öffentlicher Finanzwirtschaft und Marktwirtschaft und die Bedeu­ tung der Finanzpolitik als Mittel der staatlichen Wirtschaftspolitik unter­ sucht. Terhalle rückt damit von der „Fiskalpolitik traditioneller Prägung“ ab und vollzieht den Übergang zur „Ordnungsfinanzierung “. Neben der Fi­ nanzwissenschaft einschließlich der Fragen des kommunalen Finanzwesens hat Terhalle auch wirtschaftspolitische Probleme, sowie betriebswirtschaft­ liche Fragen behandelt. Unter seinen Veröffentlichungen sind vor allem sein Lehrbuch der Finanzwissenschaft (1930) und die „Finanzwirtschaft des Staates und der Gemeinden“ (1947) zu erwähnen. Im Handbuch der Finanz­ wissenschaft schrieb er einen Beitrag der deutschen Finanzgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Unmittelbar nach dem Krieg hatte er sich für die Leitung des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen zur Verfügung gestellt. Längere Jahre präsidierte er dem Beirat beim Bundesministerium der Finanzen. 7. Die Forstwissenschaft bis zum zweiten Weltkrieg

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte die forstwissenschaftliche Lehre und Forschung durch die an der Staatswirtschaftlichen Fakultät wirkenden Fachvertreter eine bedeutende Ausstrahlung und welt­ weite Anerkennung gefunden. Schon in den ersten vier Semestern waren im Durchschnitt 110 Studierende der Forstwissenschaft eingeschrieben gegenüber nur acht Studierenden kameralistischer Richtung, damit machten die Forststudenten über 6 °/o der insgesamt rund 1750 Studenten der ganzen Universität aus (Köstler 1953). Auch in der Folgezeit haben bedeutende Forscherpersönlichkeiten und berühmte akademische Lehrer den Ruf der Münchner forstwissenschaftlichen Schule befestigt. Im Jahre 1910 wurde die Forstliche Hochschule, vormalige Forstlehranstalt Aschaffenburg auf­ gelöst und der forstwissenschaftliche Unterricht ganz an die Staatswirt­ schaftliche Fakultät verlegt. Im Vorlesungsverzeichnis für das Winter­ semester 1912/13 sind die beiden Fachrichtungen Staatswissenschaften und Forstwissenschaft erstmalig getrennt aufgeführt. 1913/14 findet sich sogar eine noch weitergehende Gliederung in I. Staatswissenschaften, II. Natur­ wissenschaften und III. Forstwissenschaften. Um die weitere Entwicklung in kurzen Strichen zu zeichnen, muß zunächst auf die naturwissenschaft­ lichen Grundlagenfächer eingegangen werden. Im Jahre 1900 wurde Ernst Ebermayer emeritiert, der in seinem Lehr- und Forschungsgebiet Agrikul­ turchemie und Bodenkunde, Meteorologie und Klimatologie vereinigt hatte,

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ein für heutige Vorstellungen unübersehbares Gebiet. 1900 wurde nun die Meteorologie abgetrennt, die bereits in Ingolstadt im Zusammenhang mit dem kameralistischen Unterricht vertreten war. Später wurde dann eine ordentliche Professur für Meteorologie in der naturwissenschaftlichen Fa­ kultät errichtet. Nach wie vor stellten aber die Forststudierenden einen Hauptanteil der Hörer.

Für das Fach Bodenkunde und Agrikulturchemie wurde Emil Ramann aus Eberswalde berufen. 1851 bei Arnstadt in Thüringen geboren, hatte er sich zunächst auf den Apothekerberuf vorbereitet, dann aber Chemie und Pflanzenphysiologie studiert, war als Assistent von Prof. Remele an das Chemische Institut der Forstakademie Eberswalde gekommen und hatte in Rostock promoviert. Ramann verbrachte zwei Jahrzehnte als Privatdozent, Dirigent der chemisch-physikalischen Abteilung des Versuchswesens und seit 1895 als Inhaber eines neugeschaffenen Lehrstuhls in Eberswalde bis er 1900 dem Ruf als Nachfolger Ebermayers nach München folgte. Schon während seiner Eberswalder Zeit hatte sich Ramann ein außerordentliches waldbauliches Verständnis erworben und den Schwerpunkt seiner For­ schungsarbeit auf die Untersuchung des Bodens im natürlichen Zustand verlegt. In München setzte er seine großangelegten Arbeitsreihen über Nähr­ stoffbedarf, Mineralstoffaufnahme und Rückwanderung aus den Blättern fort und hat zudem die Fortschritte der physikalischen Chemie und Kolloid­ chemie für bodenkundliche Fragestellungen ausgewertet. Ein Hauptanliegen war ihm die Bodenkunde von ihrer Abhängigkeit von Geologie und Agri­ kulturchemie zu befreien und zu einem eigenen Lehrfach auszubauen. Er wurde damit zum Begründer der Bodenlehre als selbständige Wissen­ schaft. Ramanns grundlegendes Buch über Bodenkunde, das in der ersten Auflage unter dem Titel „Forstliche Bodenkunde und Standortslehre“ 1893 erschien, hat seinen Weltruf begründet. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens hat Ramann vor allem der experimentellen bodenkundlichen Grundlagen­ forschung gewidmet. Ramanns Nachfolger Richard Lang (geb. 1882 in Esslingen) war von Haus aus Geologe, er hatte sich in Tübingen für Mineralogie und Geologie habilitiert, ging 1918 nach Halle, wo er über Verwitterung und Boden­ kunde las und seine beiden Hauptwerke „Verwitterung und Bodenbil­ dung“ (1920) und „Die forstliche Standortlehre“ verfaßte. Lang vertrat vor allem die petrographische Beschaffenheit des Bodens, hat sich aber während seiner Tätigkeit in München auch mit Humusproblemen und forst­ licher Düngung befaßt. Bei Reisen in tropische Länder hatte er die Boden­ typen dieser Klimabereiche studiert und ein Klassifikationssystem der Bö­ ii

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den in klimatischer Hinsicht entwickelt. Lang wirkte in München nur von 1927 bis 1935, da er, erst im 53. Lebensjahr stehend, einer Herzlähmung erlag. 1935 wurde Gustav Krauß auf den bodenkundlichen Lehrstuhl berufen. Krauß stammte aus Diebach bei Rothenburg o. d. T. (geb. 1888), hatte zu­ nächst den üblichen Ausbildungsweg der akademischen Forstwirte in Aschaffenburg und München durchlaufen und war nach schwerer Verwun­ dung im ersten Weltkrieg als Assistent zu Ramann gekommen. Unmittelbar nach seiner Habilitation im Jahr 1925 wurde Krauß der bodenkundliche Lehrstuhl der Forstlichen Hochschule Tharandt übertragen, wo er vor allem die Methoden der Standortsgliederung- und Kartierung entwickelt hat. Zu diesem Zweck hatte er Arbeitsgemeinschaften von Geologen, Bodenkund­ lern, Botanikern, Historikern und Forstwissenschaftlern ins Leben gerufen. Zur systematischen Bodenkunde hat Krauß u. a. durch die erstmalige Be­ schreibung und Deutung der gleichartigen Böden einen bedeutenden Bei­ trag geliefert. Bahnbrechend waren aber vor allem seine Arbeiten über regionale Standortserkundung.

Auf dem Lehrstuhl für Anatomie, Physiologie und Pathologie der Pflan­ zen folgte 1902 Robert Hartig sein früherer Assistent Carl Freiherr von Tubeuf. 1862 in Amorbach in Unterfranken geboren, hatte v. Tubeuf in Aschaffenburg und München Forstwissenschaft studiert, hatte sich 1888 habilitiert und war vor seiner Berufung auf den Hartigschen Lehrstuhl an der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft in BerlinDahlem tätig gewesen. Sein Arbeitsgebiet umfaßte die gesamte Pflanzen­ pathologie und Forstbotanik. Erfolgreiche Forschungsarbeiten betrafen u. a. Brandkrankheiten des Getreides und ihre Bekämpfung, die Schütte­ krankheit der Kiefer, die Blitzwirkung an Bäumen und die eingeschleppten Pflanzenkrankheiten. Weitere Untersuchungen befaßten sich mit Holzpilzen und Holzkonservierung, mit phanerogamen Parasiten, mit Mykorrhizen der Waldbäume und insbesondere auch mit Resistenzfragen gegen Insekten und Pilzkrankheiten. Große Verdienste erwarb sich v. Tubeuf auf dem Gebiet des Naturschutzes, so geht u. a. die Errichtung des schönsten deutschen Naturschutzgebietes am Königsee auf seine Anregung zurück.

Lag bei v. Tubeuf das Schwergewicht seiner Arbeiten auf pflanzenpatho­ logischem Gebiet, so ist sein Nachfolger Ernst Münch vor allem mit pflanzen­ physiologischen und forstgenetischen Untersuchungen hervorgetreten. Münch war bayerischer Pfälzer, 1876 in einem evangelischen Pfarrhaus in Ruchheim geboren. Er hatte wie seine Vorgänger zunächst die Laufbahn für den Höheren Forstdienst eingeschlagen, war noch Schüler Robert Hartigs und nach Abschluß seiner Ausbildung Assistent am forstbotanischen Institut

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bei v. Tubeuf. Hier waren seine grundlegenden Untersuchungen über Bläue­ pilze entstanden sowie eine Dissertation über die Krankheitsempfänglich­ keit der Holzpflanzen. Volle 16 Jahre war Münch dann in der forstwirt­ schaftlichen Praxis tätig; während des ersten Weltkrieges wurde er zur Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Berlin abge­ ordnet, um die kriegswirtschaftlich wichtige Frage der Harzgewinnung zu klären, 1921 wurde ihm der Lehrstuhl für Forstbotanik in Tharandt an­ geboten, wo u. a. seine aufsehenerregende Veröffentlichung über die Stoff­ bewegungen in der Pflanze (1930) entstand. 1933 erfolgte Münchs Berufung nach München. Auch aus der Münchner Zeit stammt eine große Anzahl grundlegender Veröffentlichungen, die sich u. a. auch mit den Standorts­ rassen der Waldbäume und Züchtungsproblemen befaßten. Die außerordentliche Professur, mit der die Leitung der zoologischen Abteilung der Forstlichen Versuchsanstalt verknüpft war, wurde erst 1916 unter Paulys Nachfolger Karl Escherich in einen ordentlichen Lehrstuhl umgewandelt. Escherich, 1871 in Schwandorf/Oberpfalz geboren, hatte zunächst Medizin studiert und diesen Ausbildungsgang mit dem medizi­ nischen Staatsexamen und der Promotion abgeschlossen. Erst dann wandte er sich der Zoologie zu, promovierte in Leipzig zum Dr. phil. und kam als Assistent Nüßlins in Karlsruhe erstmalig mit der Forstentomologie in Be­ rührung. Vor seiner Berufung nach München hat Escherich als Privatdozent in Rostock und Straßburg gewirkt und die zoologischen Lehrstühle in Tha­ randt — und kurze Zeit — auch in Karlsruhe innegehabt. Escherichs wissen­ schaftliches Lebenswerk ging von Insektensystematik und -morphologie aus und reicht über Termiten- und Ameisenkunde, Insektensymbiosen und Insektenpathologie, Forst- und Agrarentomologie bis zu chemischen Insek­ tenkampfstoffen und deren Anwendungsweisen. Ausgedehnte Forschungsund Studienreisen führten ihn in die verschiedensten Weltteile. Sein Haupt­ werk, das groß angelegte mehrbändige Handbuch der Forstinsekten Mittel­ europas, begründete seinen Ruf als führender Forstentomologe. Die moderne chemische Bekämpfungstechnik von Insektenmassenvermehrungen geht wesentlich auf Escherichs Anregungen zurück, doch hat er frühzeitig die Grenzen erkannt, die der chemischen Kampfmethode in der freien Natur gezogen sind und sich nachdrücklich für biologische Bekämpfungsverfahren eingesetzt. Er erblickte letztlich in einem Waldbau auf natürlicher Grund­ lage das wichtigste Mittel zur Aktivierung der Gegenkräfte und kommt damit zu derselben Einstellung, die mehr als ein Jahrhundert zuvor F. v. Schrank vertreten hatte und die vor allem auch der Waldbaulehre Gayers entsprach. ii*

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Karl Escherich war ein überaus lebendiger und eindrucksvoller akademi­ scher Lehrer. Das Münchner Institut wurde unter seiner Leitung ein Sam­ melplatz junger Entomologen aus aller Welt. , Unter den forstlichen Fachwissenschaften wurde die waldbauliche For­ schung und Lehre von Gayers Nachfolgern Heinrich Mayr und Ludwig Fabricius, die beide seine Schüler waren, durchaus in seinem Sinn, wenn auch mit wesentlich ausgeweiteter wissenschaftlicher Grundlegung weiter­ geführt. Heinrich Mayr (geb. 1854) entstammte einem bayerischen Forsthaus in Landsberg am Lech, hatte sich in üblicher Weise auf den Staatsforstverwal­ tungsdienst vorbereitet, erhielt seine ersten Anstellungen in den ober­ bayerischen Staatsrevieren Geisenfeld und Grafrath und kam 1882 als Assistent zu Robert Hartig an die Münchner Forstliche Versuchsanstalt. Er hatte in kurzer Zeit den staatswirtschaftlichen und anschließend mit einer botanisch-pathologischen Dissertation den philosophischen Doktorgrad er­ worben und sich für Botanik habilitiert. 1885 hatte er von der bayerischen Staatsforstverwaltung den schönen Auftrag erhalten, die für einen Anbau in Deutschland in Frage kommenden Baumarten Nordamerikas in ihrer Heimat zu studieren; er hat diese Studienreise aus eigenen Mitteln auf Japan, Java, Ceylon und Nordindien ausgedehnt. Wenig später wurde ihm eine Lehrstelle an der Akademie für Land- und Forstwirtschaft in Tokio an­ geboten, die er 3 Jahre lang wahrgenommen hat. 1893 wurde Mayr als Nach­ folger Gayers auf den Lehrstuhl für forstliche Produktionslehre berufen. Mayrs wissenschaftliche Bedeutung liegt vor allem auf dem Gebiet der Waldgeographie und Dendrologie, wobei er auf eigener Anschauung auf­ bauen konnte, 1902 hatte er noch Gelegenheit als Reisebegleiter des Bayeri­ schen Kronprinzen Rupprecht wenig durchforschte Teile Ostasiens kennen zu lernen. Von seinen Schriften sind sein 1906 erschienenes Werk „Fremd­ ländische Wald- und Parkbäume in Europa“ und sein „Waldbau auf natur­ gesetzlicher Grundlage“ die bedeutendsten. In dem bekannten Grafrather Versuchsgarten hat Mayr eine große Zahl exotischer Baumarten probeweise angebaut. Er erlag, erst 56jährig, auf dem Katheder einem Schlaganfall. Manche der von Mayr vertretenen Ideen, so der von ihm empfohlene Kleinbestandswald, wurde von der forstwirtschaftlichen Praxis mit Skepsis aufgenommen. Doch dürfte der verstärkte Anbau einiger exotischer Baum­ arten gerade durch seine Forschungsergebnisse mit ausgelöst worden sein. Ludwig Fabricius (geb. 1875 in Waldorf in Nassau) hatte sich schon wäh­ rend seiner Studienjahre in Marburg, Aschaffenburg und München eine breite naturwissenschaftliche Grundlage erworben. Unter der Leitung Ro­

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bert Hartigs hatte er seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten begonnen, später war er Assistent von C. v. Tubeuf und Max Endres und hat sich 1905 habilitiert. Vom Forstrevier Grafrath, dessen Leitung ihm übertragen war, wurde er 1911 nach Mayrs plötzlichem Tod als dessen Nachfolger berufen. In seiner Waldbaulehre baute Fabricius auf den von Gayer entwickelten Grundsätzen auf. Schon in seinen ersten Veröffentlichungen hatte er sich gegen die schematische Anwendung waldbaulicher Verfahren gewandt. Karl Gayer war in seiner Waldbaulehre vorwiegend von seinen, allerdings mit genialem Blick gemachten Beobachtungen ausgegangen. Fabricius hin­ gegen war bemüht, seine Aussagen durch möglichst exakte Versuchsanstel­ lungen zu untermauern und hat der naturwissenschaftlichen Methode des vergleichenden Versuchs speziell für waldbauliche Fragestellungen größtes Gewicht beigemessen. Im Forstrevier Grafrath, das als Lehr- und Versuchs­ revier zur Verfügung gestellt worden war, wurden zahlreiche Versuche und Lehrbeispiele verschiedener Waldbauverfahren angelegt. Darüber hinaus erstreckte sich die von Fabricius betriebene Versuchstätigkeit auf nahezu alle bayerischen Waldgebiete und sehr vielseitige Fragestellungen. Beson­ ders beschäftigten ihn Probleme des Forstsaatgutes und der Holzartenzüch­ tung. Diesem Aufgabenbereich hat Fabricius eine eigene Abteilung seines Instituts gewidmet, aus dem das heutige Institut für Forstsamenkunde und Forstpflanzenzüchtung hervorgegangen ist. Von vielen Publikationen ist die grundlegende Neubearbeitung des von Gayer begründeten Handbuches der Forstbenutzung die bei weitem umfangreichste.

Das von Fabricius vertretene Fachgebiet „Forstliche Produktionslehre“ umfaßte Waldbau, Forstbenutzung und Forstschutz, was allein vom Vor­ lesungsstoff her gesehen, eine kaum zu bewältigende Arbeitsbelastung dar­ stellte. So war es unumgänglich Teilgebiete abzutrennen und anderen, bzw. neu eingerichteten Lehrstühlen zuzuweisen, was jedoch erst nach dem Ende des zweiten Weltkrieges erfolgte. Auf dem Lehrstuhl für forstliche Betriebslehre folgte Rudolf Weber sein Schüler und Assistent Vinzenz Schupfer, der im unterfränkischen Retzbach am Main 1868 geboren ist. Neben einer ausgedehnten Lehrtätigkeit in den Fächern Geodäsie, Holzmeßkunde, Bestandsmassenermittlung mit Zuwachs­ lehre und Ertragskunde, sowie Forsteinrichtung hat Schüpfer einen wesent­ lichen Teil seiner Arbeitskraft der Vermögensverwaltung der Universität sowie dem Stipendienwesen gewidmet. 1928 wurde er zum Rektor der Universität gewählt. Aus Schöpfers wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist neben zahlreichen Aufsätzen, in denen er sich vielfach der geschichtlichen Methode bediente, sein Grundriß der Forstwissenschaft, der Abschnitt

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„Forsteinrichtung“ in Loreys Handbuch und „Die Entwicklung des Durch­ forstungsbetriebs in Theorie und Praxis seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhun­ derts“ hervorzuheben. Große Verdienste erwarb er sich um den Stiftungs­ wald der Universität, dessen Bewirtschaftung längere Jahre Karl Gayer und dann Max Endres geleitet hatte. Schüpfer hat volle 35 Jahre die Auf­ sicht über die Stiftungswaldungen wahrgenommen und konnte deren Wert durch günstige Ankäufe und sorgfältige Pflege bedeutend steigern.

Bei der Wiederbesetzung von Schüpfers Lehrstuhl im Jahr 1937 wurde der Notwendigkeit Rechnung getragen, die Waldertragskunde als wichtiges Forschungsgebiet stärker als bisher zu berücksichtigen. Der Umfang des Lehrgebietes wurde auf biologische Ertragskunde und Forsteinrichtung ein­ geschränkt, Geodäsie und Waldwegebau wurden Lehrbeauftragten zugeteilt. Karl Vanselow (geb. 1789 in Berching/Oberpfalz), der Schüpfers Nachfolge antrat, fand dadurch Gelegenheit zu besonders erfolgreicher ertragskundlicher Arbeit. Vor seiner Berufung nach München war Vanselow Ordinarius für Waldbau in Gießen und dann in Freiburg gewesen, und hatte u. a. 1931 ein Buch über Theorie und Praxis der natürlichen Verjüngung verfaßt. Seine „Einführung in die Zuwachs- und Ertragslehre“ erschien 1941. In zahlreichen Aufsätzen hat er zu den verschiedensten forstwirtschaftlichen Zeitproblemen Stellung genommen. Mit seinem Vorgänger teilte Vanselow das Interesse für Forstgeschichte und hat noch in seinen letzten Lebens­ jahren einige geschichtliche Untersuchungen veröffentlicht.

Auf dem Gebiet der forstlichen Wirtschaftslehre zeigen sich seit dem frühen 20. Jahrhundert umwälzende Neuerungen. Sie sind aufs engste ver­ knüpft mit dem Wirken der bedeutenden Münchner Fachvertreter Max Endres und Viktor Dieterich. Max Endres, der als Nachfolger Lehrs 1895 nach München kam, war in einem fränkischen Försterhaus zur Welt gekommen, hatte in Aschaffenburg und München studiert, den staatswirtschaftlichen Doktorgrad erworben und war als Assistent, Dozent und Ordinarius an der Technischen Hochschule Karlsruhe gewesen. Wie sein Lehrer Gustav Heyer, der die Grundlagen der Bodenreinertragslehre geschaffen hatte, trat Endres entschieden für die Reinertragslehre ein. Er war sich jedoch stets der Besonderheit der Wald­ wirtschaft bewußt, die neben ökonomischem Denken auch Natur Verbunden­ heit und innere Anteilnahme verlangt. In seinem Lehrbuch der Wald­ wertrechnung und forstlichen Statik (1895) werden die Grundlagen der Wirtschaftlichkeit im Forstbetrieb mit unübertrefflicher Klarheit erläu­ tert. Ein epochemachendes Werk war dann das Handbuch der Forst­

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Politik, das in erster Auflage 1905 erschien und als Nachschlagwerk bis heute unentbehrlich ist. Endres hat hier vor allem die Forststatistik, Forstgesetzgebung, Waldbesteuerung, Holzwirtschaft und Weltforstwirt­ schaft eingehend behandelt und die Entwicklung des Waldeigentums und der Landesforstgesetzgebung geschichtlich dargestellt. Die Wald­ benutzung vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war Gegenstand einer früheren Arbeit gewesen. Endres hat 35 Jahre lang in der Staatswirt­ schaftlichen Fakultät Forstpolitik, Forstverwaltung, Forstgeschichte, Wald­ wertrechnung und Statik, zeitweilig auch Jagdwirtschaft vertreten. Seinen Schülern hat er durch die gedankliche Klarheit, die Überzeugungskraft und den mitreißenden Schwung seiner Vorträge unauslöschliche Eindrücke hin­ terlassen. Als der führende Forstpolitiker seiner Zeit hat Endres u. a. dem Reichswirtschaftsrat, dem Reichsforstwirtschaftsrat, dem Reichseisenbahn­ rat und der ständigen Tarifkommission der deutschen Eisenbahnen angehört. 1907/08 war er Rektor der Universität.

Völlig anders geartet, aber nicht weniger bedeutend ist das wissenschaft­ liche Lebenswerk von Endres’ Nachfolger Viktor Dieterich. 1879 zu Neuen­ stadt a. d. Linde in Württemberg geboren, hat Dieterich nach Universitäts­ studium in Tübingen und Promotion in verschiedenen Verwendungen sowohl im Versuchswesen wie an der Forstdirektion, als Forstamtsvorstand und als Hochschullehrer in Tübingen und Freiburg, vor allem aber als Leiter der Württembergischen Forstlichen Versuchsanstalt sich einen außer­ ordentlichen fachlichen Überblick verschafft. Seine Berufung auf den Münchner Lehrstuhl erfolgte 1930. Dieterich hat neben einer fast unüber­ sehbaren Fülle von Aufsätzen und Vorträgen, die sich mit den verschieden­ artigsten forstlichen Tagesfragen befaßten und grundlegenden ertragskundlichen Forschungsarbeiten, auf seinem Hauptarbeitsgebiet, der forstlichen Wirtschaftslehre, zwei mehrbändige Werke verfaßt, die mit Recht als Mark­ steine der Forstwirtschaft bezeichnet wurden. In seiner forstlichen Betriebs­ wirtschaftslehre (1930) ging er entgegen der bisher üblichen statischen von einer grundsätzlich dynamischen Betrachtungsweise aus und leitete daraus eine Zielsetzungs- und Erfolgsrechnungslehre ab. In der „Forstwirtschafts­ politik“ (1933) hat Dieterich Wald und Waldwirtschaft in ihren vielfältigen Beziehungen zur menschlichen Gesellschaft dargestellt und damit in seiner Waldfunktionenlehre ein grundlegendes sozialwissenschaftliches Lehrge­ bäude geschaffen. Viktor Dieterich starb 1971, wenige Monate, nachdem seine letzte Veröffentlichung „Der Begriff ,Wirtschaft4 im forstlichen Sprach­ gebrauch, seine oft mißbräuchliche Verwendung, seine Besonderheit, be­ zogen auf Wald und Forstwesen“ erschienen war.

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8. Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg

Die Geschichte der Fakultät in der Nachkriegszeit ist durch eine bedeu­ tende Erweiterung der bisherigen Lehr- und Forschungsgebiete, durch die Eingliederung bzw. den Ausbau von Fachrichtungen, die bisher nur zeit­ weilig und in kleinem Umfang vertreten waren, wie der Betriebswirtschafts­ lehre, der Soziologie und Politischen Wissenschaft, durch die dadurch be­ dingte rasche Vermehrung der Lehrstühle, Institute und Seminare und einen sprunghaften Anstieg der Studentenzahlen gekennzeichnet.

Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs war die Ausstattung der Fakultät auf dem bescheidenen Stand von insgesamt 10 ordentlichen Lehrstühlen — 4 wirtschaftswissenschaftlichen und 6 forstwissenschaftlichen — stehen­ geblieben, wiewohl der Zudrang zum Studium der Volkswirtschaft bedeu­ tend zugenommen hatte und z. B. im Wintersemester 1937/38 bereits 177 Volkswirtschaftler 124 Forstleuten gegenüberstanden. Neben den Studieren­ den der Nationalökonomie und der Forstwissenschaft besuchten vor allem Juristen die nationalökonomischen Vorlesungen, die wegen der steigenden Hörerzahl teilweise schon im Auditorium maximum abgehalten werden mußten. Als Nachfolger von Otto v. Zwiedineck-Südenhorst war 1938 Eduard Lukas (geb. 1890 in Wiener-Neustadt) berufen worden, der zuvor Professor in Erlangen, Graz und Tübingen gewesen war. Er hatte 1923 über Spekulation und Wirklichkeit im ökonomischen Marxismus geschrieben und sich mit den Aufgaben der Arbeitslosenversicherung und produktiven Ar­ beiterfürsorge auseinandergesetzt (1926). 1928 erschien seine Schrift über Entwicklungsbedingungen und Aufgaben der modernen Wirtschaftstheorie. 1937 schrieb er über Aufgaben des Geldes, während der Kriegsjahre über Währungsfreiheit des deutschen Volkes. Seine Arbeit über Geld und Kredit erschien 1951. In seinen Vorlesungen behandelte Lukas vorwiegend Volks­ wirtschaftspolitik, aber auch die Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehr­ meinungen, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsethos, worüber er auch eine Abhandlung veröffentlicht hat. Er starb bereits 1953.

Eine dringend nötige Erweiterung der volkswirtschaftlichen Lehrstellen ergab sich 1947 durch die Überführung des ordentlichen Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre von der Technischen Hochschule an die Universität, womit auch das Technisch-wirtschaftliche Institut als nunmehr „Volkswirt­ schaftliches Institut“ der Fakultät zufiel. Der Inhaber des Lehrstuhls, Friedrich Lütge (geb. 1901 in Wernigerode am Harz), war von Leipzig 1947 nach München gekommen, sein Hauptarbeitsgebiet war neben Wohnungsund Siedlungswirtschaft, Geldtheorie und Sozialpolitik vor allem die Wirt­

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schaftsgeschichte. Auf sein umfangreiches wissenschaftliches Lebenswerk wird deshalb später im Rahmen der Wirtschaftsgeschichte eingegangen.

Als Nachfolger Adolf Webers wurde 1949 Bernhard Pfister, zuvor Pro­ fessor in Hamburg, nach München berufen, der bei Eucken in Freiburg pro­ moviert und sich habilitiert hatte. Pfister vertrat neben Volkswirtschafts­ lehre und Volkswirtschaftspolitik namentlich Sozial- und Verkehrspolitik. Sein wissenschaftliches Interesse richtete sich außerdem auf politische Wis­ senschaft — er war mehrere Jahre nebenamtlich Rektor der Münchner Hoch­ schule für Politik — und auf das Werk Max Webers. Nach dem frühen Tod von Eduard Lukas war es gelungen, mit Erich Preiser 1955 einen führenden Vertreter der Wirtschaftstheorie als Nach­ folger zu gewinnen. Preiser stammte aus Gera in Thüringen, hatte sich in Tübingen zunächst für Privatwirtschaftslehre habilitiert, doch wurde seine Venia bald auf Volkswirtschaftslehre ausgeweitet. In seinen Veröffent­ lichungen „Grundzüge der Konjunkturtheorie“ und in seiner „Gestalt und Gestaltung der Wirtschaft“ betitelten Einführung in die Wirtschaftswissen­ schaften (1934) verstand Preiser einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaft­ liche Gesichtspunkte besonders glücklich zu verbinden. In späteren Arbei­ ten befaßte er sich u. a. mit Investitionsproblemen, dem Kapitalbegriff und der Einkommensverteilung. Preisers Vorlesungen waren von so magneti­ scher Anziehungskraft, daß sie zeitweilig auf einen zweiten Hörsaal mit Lautsprecheranlage übertragen werden mußten. Sein früher Tod im Jahr 1967 war für die Fakultät ein schwerer Verlust.

In der Zwischenzeit hatte die Volkswirtschaftslehre durch die Schaffung weiterer Lehrstühle eine bedeutende Verstärkung erfahren. 1958 wurde Hans Möller von Frankfurt auf einen neuen Lehrstuhl „für Volkswirt­ schaftslehre mit besonderer Berücksichtigung der internationalen Wirt­ schaftsbeziehungen“ berufen. Eine weitere volkswirtschaftliche Professur, die vor allem die Versicherungswirtschaft berücksichtigen sollte, wurde 1961 geschaffen und Werner Mahr, zuvor Ordinarius in Mannheim, übertragen.

1959 war durch das Ausscheiden Fritz Terhalles auch der alte Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft wieder zu besetzen. Der Ruf erging an Horst Jecht (geb. 1901 in Görlitz), früher Professor in Berlin, Heidelberg und Münster. Mit Jecht hatte die Fakultät einen führenden Ver­ treter der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft gewonnen, dessen wis­ senschaftliche Interessen, wie seinerzeit die von Walter Lotz, sich auch stark der Wirtschaftsgeschichte zuwandten. Die wichtigsten unter seinen zahl­ reichen Veröffentlichungen betrafen Finanzpolitik und Steuerprobleme,

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wie „Wesen und Formen der Finanzwirtschaft“ (1928), „Probleme der Ein­ kommensteuerreform“ (1948), „Finanzpolitik und Kapitalbildung“ (1958), aber ebenso wirtschaftsgeschichtliche Gegenstände, z. B. „Studien zur ge­ sellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte“ (1926) „Wirtschafts­ geschichte und Wirtschaftsheorie“ (1928), „Der Wirtschaftsstil des Mittel­ alters“ (1933), „Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts“ und andere. Horst Jecht hat der Fakultät nur ein Jahr­ zehnt angehört, da er schon 1969 auf einer Vortragsreise tödlich ver­ unglückte.

Zwei zusätzliche Lehrstühle für volkswirtschaftliche Spezialgebiete, die 1958 errichtet wurden, hatten schon durch die Wahl der ersten Inhaber von Anfang an stark historischen Einschlag: Die Professur für Wirtschaft und Kultur Südosteuropas — sie erhielt später die Bezeichnung für Wirtschaft und Gesellschaft Südosteuropas — wurde Fritz Valjavec (geb. 1909 in Wien) übertragen. Mit Valjavec besaß die Fakultät nach langer Pause wie­ der einen Vertreter der Kulturgeschichte. Sein Hauptwerk war die Ge­ schichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa (1953 - 1958). Valjavec erlag jedoch schon 1961 einem Herzschlag, wenige Wochen bevor sein Buch über die Geschichte der abendländischen Aufklärung in Druck ging. Das Arbeitsgebiet seines Nachfolgers Hermann Gross (geb. 1903 in Kronstadt-Brasov) betrifft vor allem Weltwirtschaft und internationale Wirtschaftsbeziehungen, wie wirtschaftliche Probleme der Entwicklungs­ länder, namentlich in Ost- und Südosteuropa. Ein weiterer Lehrstuhl wurde für Gesellschaft und Politik (später Wirt­ schaft und Gesellschaft) Osteuropas geschaffen. Auch dem zuerst darauf er­ nannten Hans Koch (geb. 1894 in Lemberg), der als Theologe und Historiker vor allem über Kirchengeschichte, insbesondere Osteuropas, gearbeitet hatte, war nur eine kurze Tätigkeit beschieden.

1962 wurde Hans Raupach, zuvor in Wilhelmshaven, als Nachfolger Kochs berufen. Raupachs Hauptarbeitsgebiete sind Volkswirtschaftslehre und Agrarpolitik. Aus seinen neueren Veröffentlichungen ist u. a. „Die Agrar­ wirtschaft der Sowjetunion seit dem zweiten Weltkrieg“ (1953), „Industria­ lismus als Wirklichkeit und Wirtschaftsstufe“ (1954), „Standort und Krise der ostdeutschen Landwirtschaft“ (1953) und die „Geschichte der Sowjet­ wirtschaft“ (1964) hervorzuheben. 1971 wurde Raupach zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt.

Einen entscheidenden Wandel und eine bedeutende Ausweitung der Fa­ kultät bedeutete es, als 1948 die Ausbildung der Diplom-Kaufleute und Han­

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delslehrer von der Technischen Hochschule an die Universität verlegt und der Fakultät eingegliedert wurde. Ansätze für betriebswirtschaftlichen Unterricht finden sich zwar bereits im frühen 19. Jahrhundert, so in der Vorlesungstätigkeit v. Hermanns. Bis 1948 war jedoch die Betriebswirt­ schaftslehre nur durch ein planmäßiges Extraordinariat (Guido Fischer) und außerplanmäßige Professoren (Adolf Hertlein seit 1934) oder Privatdozen­ ten vertreten worden. 1948 kamen mit der Eingliederung ihrer Lehrstühle zunächst Karl Rößle und als a. o. Professorin Liesel Beckmann zur Fakultät. Karl Friedrich Rößle, 1893 in der Nähe Heidelbergs geboren, hatte sich an der Handelshochschule Mannheim habilitiert und war über Königsberg und Bonn 1938 an die TH München gekommen. Sein wissenschaftliches Inter­ esse galt besonders dem Mittel- und Kleinbetrieb, eine Reihe seiner umfang­ reiche Publikationen befassen sich mit der betriebswirtschaftlichen Durch­ dringung des Handwerks, so z. B. die Handwerkliche Betriebswirtschafts ­ lehre (1941), die zweibändige kaufmännische Führung des Handwerksbe­ triebes, das bayerische Handwerk (1950) und die Wirtschaftslehre des Hand­ werks (1964), Rößles Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (1948), die im wesentlichen dem Inhalt seiner Vorlesung entsprach, brachte es in wenigen Jahren auf 5 Auflagen. Das zweite betriebswirtschaftliche Ordinariat wurde 1950 mit Otto Hintner besetzt, der zuvor in Erlangen, Würzburg, Dresden und bis 1943 in Prag gewirkt hatte. Hintners Spezialgebiet war Bankbetriebslehre, Re­ visions- und Treuhandwesen, seine wichtigsten Publikationen betreffen die Praxis der Wirtschaftsprüfung, das Revisions- und Treuhandwesen sowie Geld-, Bank- und Börsenwesen. Er las jedoch auch Allgemeine Betriebs­ wirtschaftslehre.

Am Aufbau des betriebswirtschaftlichen Studiums war in besonderem Maße Liesel Beckmann beteiligt, die zusammen mit Rößle von der Tech­ nischen Hochschule übersiedelte und zunächst kommissarisch den zweiten betriebswirtschaftlichen Lehrstuhl vertrat, dann eine planmäßige ao. Pro­ fessur und seit 1953 ein Ordinariat innehatte. Frau Beckmann stand der Arbeitsrichtung Rößles nahe. Ihre Arbeit über die betriebswirtschaftliche Finanzierung (1949) war besonders auf die Klein- und Mittelbetriebe abgestellt. 1961 erschien ihre Schrift über Grün­ dungen, Umwandlungen, Fusionen, Sanierungen und ihre Industriebe­ triebswirtschaftslehre. In Vorlesungen und Übungen hat sie neben allge­ meiner und spezieller Betriebswirtschaftslehre vor allem betriebswirt­ schaftliche Finanzierung, Kredit- und Zahlungsverkehr, Wirtschaftsteil der

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Tageszeitungen, Buchhaltung und Kaufmännisches Rechnen behandelt. Sie erlag bereits 1965 einer heimtückischen Krankheit. Das Forschungs- und Lehrgebiet von Guido Fischer, der seit 1946 ein planmäßiges Extraordinariat, seit 1964 ein Ordinariat innehatte, betraf vor allem Betriebsführung, Marktwirtschaft, Mensch und Arbeit, Rechnungs­ wesen und Werbung. Schon im Wintersemester 1949/50 waren 746 Betriebswirte neben 603 Volkswirtschaftlern und 206 Forstleuten immatrikuliert, im folgenden Som­ mer bereits 988; die Hörerzahl stieg weiter und lag ein Jahrzehnt später bei mehr als 2500 Betriebswirten. Die Betriebswirtschaftslehre war damit zum ausgesprochenen Massenstudium geworden, eine Erweiterung der Lehrver­ anstaltungen und Vermehrung der Lehrstühle war dringend geboten. Wie­ wohl die wenigen Lehrkräfte durch die wachsenden Studentenzahlen bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht waren, erfolgte erst nach dem Tod Rößlers im Jahre 1957 mit der Berufung von Edmund Heinen und Robert Nieschlag eine Vermehrung der Lehrstühle. 1961 folgte ein weiterer Lehrstuhl, auf den Peter Scherpf berufen wurde. Die durch den Tod von Frau Beckmann freigewordene Professur übernahm 1965 Louis Perridon.

Mit der 1966 erfolgten Ernennung von Friedrich Hanssmann auf einen Lehrstuhl für Unternehmens- und Verfahrensforschung fand auch diese moderne Richtung der Betriebswirtschaftslehre ihre gebührende Berück­ sichtigung. Für die Fachrichtung der Diplomhandelslehrer brachte schließlich die Errichtung eines Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialpädagogik, auf den 1961 Alfons Dörschel und nach dessen Übersiedlung nach Köln 1966 Johannes Baumgardt berufen wurde, eine notwendige Ergänzung.

Für das Fach Statistik war nach der Emeritierung Georg v. Mayrs kein planmäßiger Lehrstuhl mehr vorhanden, es war zunächst mit einer der volkswirtschaftlichen Professuren vereinigt, auch die Leitung des Seminars für Statistik und Versicherungswissenschaft oblag einem Lehrstuhlinhaber für Nationalökonomie. Allerdings stand der Fakultät mit dem Honorar­ professor Friedrich Zahn, einem Schüler Brentanos, der Präsident des Sta­ tistischen Landesamtes war, ein hervorragender Fachmann zur Verfügung.

Eine neue Entwicklung wurde erst 1947 durch die Neugründung eines Lehrstuhls für Statistik und die Berufung Oskar Andersons eingeleitet. Anderson entstammte einer deutsch-baltischen, in Rußland ansässigen Fa­ milie, war 1887 in Minsk geboren und hatte an den Universitäten Kasan, Petersburg und an der Handelshochschule Kiew Mathematik, Physik, Na­

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tionalökonomie, Jura und mathematische Statistik studiert und sich in Kiew habilitiert. Durch die Revolution zur Emigration gezwungen, hatte er an den bulgarischen Universitäten Warna und Sofia gewirkt, bis er 1940 einen Ruf an die Universität Kiel annahm. Andersons Arbeitsgebiet lag vor allem im Bereich der mathematischen Statistik, Ökonometrik und statisti­ schen Wirtschaftsforschung. Bereits 1935 hatte er eine Einführung in die mathematische Statistik verfaßt, die auch in Rußland und Skandinavien Verbreitung fand.

1956 folgte Hans Kellerer, der im Seminar bereits längere Jahre mit An­ derson zusammengearbeitet hatte und die Statistik in ihrer Anwendung auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften entscheidend gefördert hat. Neben der Hauptvorlesung über Statistik las er zusätzlich Statistik und Unternehmensforschung (Operations Research) und Betriebstatistik. Nach 1964 konnte die Statistik durch Errichtung von zwei weiteren Lehr­ stühlen planmäßig ausgebaut werden. Einen neugeschaffenen Lehrstuhl für Spezialgebiete der Statistik mit der späteren Bezeichnung „für Ökonometrie und Statistik“ übernahm 1963 Eberhard Fels (geb. in Berlin 1924). Er hatte nach Studium und Promotion in München neun Jahre an amerikanischen Universitäten, zuletzt als Professor für Statistik und Sozialwissenschaften in Pittsburg, verbracht. Das Lehr- und Forschungsgebiet von E. Fels war vor allem Wirtschaftstheorie, Mathematische Logik und Grundlagenfor­ schung sowie ökonometrische Theorie. Er war zudem ein vorzüglicher Ken­ ner der sowjetischen statistischen und mathematisch-ökonomischen Fach­ richtungen. Seine weitgespannte Forschungstätigkeit fand ihren Nieder­ schlag in einer großen Zahl von Publikationen in deutscher und englischer Sprache. Fels kam schon 1970 durch einen Unglücksfall ums Leben.

Auf einen dritten statistischen Lehrstuhl (für Spezialgebiete der Statistik) wurde 19'69 Kurt Weichselberger, zuvor Rektor der Technischen Universität Berlin, berufen. Als Nachfolger Strieders für das Fach Wirtschaftsgeschichte und Wirt­ schaftsgeographie wurde 1936 vom Reichswissenschaftsministerium Ernst Kelter eingesetzt. Er hatte vorwiegend über mittelalterliches Zunftwesen und die wirtschaftlichen Ursachen des Bauernkrieges gearbeitet. Nach Kriegsende wurde die Professur ganz der Wirtschaftsgeographie überant­ wortet, die in der Folgezeit, zunächst durch die Berufung von Wilhelm Credner, eine eigenständige Entwicklung nahm. Credner war 1892 in Greifs­ wald geboren und hatte auf ausgedehnten Reisen vor allem Forschungen über Hinterindien und Ostasien durchgeführt. Mehrere Jahre war er Pro-

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lessor für Geographie an der Sun Yatsen Universität in Kanton gewesen und hatte seit 1932 den Lehrstuhl von Ratzel an der Technischen Hochschule in München übernommen. Credner hat vor allem die Landwirtschaftsgeo­ graphie gefördert und über Raumforschung und Raumplanung gearbeitet. Wenige Tage vor seinem Tod 1948 hatte Credner eine Berufung nach Hei­ delberg angenommen.

Von Erich Thiel, der seit 1948 als planmäßiger a. o. Professor, seit 1958 als Ordinarius die Wirtschaftsgeographie vertrat, wurde vor allem die Landes­ kunde der Sowjetunion und von Inner- und Ostasien gepflegt. Vorlesungs­ gegenstände waren die Geographie des Welthandels und Weltverkehrs, die Tropen als Rohstoffraum der Weltwirtschaft, die Sowjetunion als Wirt­ schaftsraum, Agrarräume der Erde und die Ernährung der Menschheit. Unter Karl Ruppert, der Thiel 1965 ablöste, rückten die Fragen der Raum­ ordnung und Landesplanung wieder stärker in den Vordergrund. Das Institut für Wirtschaftsgeschichte stand in der Nachkriegszeit unter der Leitung von Friedrich Lütge, der seit 1947 als Ordinarius für Volkswirt­ schaftslehre und Wirtschaftsgeschichte eine große Studentenzahl in die Na­ tionalökonomie einzuführen hatte und sich erst nach der Vermehrung der volkswirtschaftlichen Lehrstühle in seinen letzten Lebensjahren voll seinem Lieblingsfach widmen konnte. Er konnte trotzdem eine erstaunliche Anzahl umfangreicher wirtschaftsgeschichtlicher Arbeiten veröffentlichen. Durch Georg von Below beeinflußt, hatte Lütge schon 1934 ein Buch über die mitteldeutsche Grundherrschaft, 1937 ein weiteres über die Agrarverfassung des frühen Mittelalters herausgebracht. 1949 erschien seine Arbeit über die bayerische Grundherrschaft, 1952 die Deutsche Sozial- und Wirtschafts­ geschichte (dritte vermehrte Auflage 1966), 1963 die Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1969 die Geschichte der deutschen Agrarverfassung. In der Folgezeit konnte die Wirtschaftsgeschichte durch Schaffung einer weiteren Professur schwerpunktmäßig ausgebaut werden; damit konnte so­ wohl die historisch-archivalische Arbeitsrichtung mit der Berufung von Wolfgang Zorn wie auch die mehr nationalökonomische Richtung (Knut Borchard 1968) berücksichtigt werden. Als Sondergebiet der Wirtschafts­ geschichte war die Forstgeschichte, die bereits durch Karl Roth und Max Endres besonders gepflegt worden war, zwar nie durch einen eigenen Lehr­ stuhl vertreten, wurde aber durch Viktor Dieterich, Josef Nikolaus Köstler, Fritz Backmund und Karl Vanselow stark gefördert. Köstler hatte bereits als Dieterichs Assistent seine Geschichte des Waldes in Altbayern geschrie­ ben und später zahlreiche historische Untersuchungen angeregt.

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Merkwürdig ist, daß die Soziologie, die seit der Mitte des vorigen Jahr­ hunderts, namentlich bei Heinrich Riehl, aber auch bei Brentano und G. v. Mayr, Zwiedineck usw. eine wesentliche Rolle gespielt und in Max Weber einen der bedeutendsten Vertreter gefunden hatte, bis in die 50er Jahre mit keinem eigenen Lehrstuhl ausgestattet war. Sie fand allerdings in der Nach­ kriegszeit durch Alfred von Martin, der u. a. ein bekanntes Buch über die Soziologie der Renaissance geschrieben und in seinen Schriften Geist und Gesellschaft (1948), Ordnung und Freiheit (1956), Humanität als Problem der Gegenwart (1961), Soziologie (1957) sowohl zum engeren Fachgebiet, wie zu wichtigen Zeitproblemen Stellung genommen hatte und längere Zeit als einziger soziologische Vorlesungen hielt, einen maßgebenden Interpreten. Doch erst 1955 wurde auf Drängen der Fakultät ein Soziologischer Lehr­ stuhl errichtet, auf den Emerich Francis von der Notre Dame University of Indiana/USA berufen wurde. Es konnte nicht ausbleiben, daß nach dem Muster anderer in- und ausländischer Universitäten Soziologie zum selbstän­ digen Hauptstudium ausgebaut wurde. Dies machte die Errichtung weiterer Lehrstühle (1964 Karl Martin Bolte) notwendig. Daß Soziologie rasch zum Massenstudium wurde, lag nicht zuletzt an dem starken Zustrom von Studierenden anderer Fakultäten, insbesondere von Lehramtskandidaten aus der philosophischen Fakultät. Das soziologische Institut, das zunehmend mehr Raum beanspruchte, wurde schließlich in der Konradstraße in einem bis dahin vom Obersten Rechnungshof benutzten Gebäude untergebracht. Einem besonderen Anliegen der Fakultät, der Pflege des geistigen Erbes von Max Weber, konnte durch die Einrichtung eines Max-Weber-Archivs als Abteilung des soziologischen Instituts — jetzt Max Weber-Institut — ent­ sprochen werden, um die sich Johannes Winkelmann besonders verdient machte.

Als neues Fach kam 1958 ferner die politische Wissenschaft hinzu, zunächst mit einem Ordinariat, das Eric Voegelin (geb. 1901 in Köln) übernahm, zu­ vor Professor an der Alabama-University in USA. Die von Voegelin ent­ wickelte „Neue Wissenschaft der Politik“, die von Plato und Aristoteles aus­ gehend die Ordnung menschlicher Existenz in Gesellschaft und Geschichte zum Gegenstand hat, fand ihren Niederschlag in dem grundlegenden mehr­ bändigen Werk „Order and History.“

Ein zweiter Lehrstuhl (Hans Maier) wurde 1963, ein weiterer (Kurt Sontheimer) 1966 geschaffen. Das nach den standhaften Geschwistern Scholl be­ nannte Institut für Politische Wissenschaft, an dem sich noch zwei Seminare der Philosophischen Fakultät befinden, erhielt seine endgültigen Arbeits­

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räume in unmittelbarer Nachbarschaft mit der Hochschule für Politik in der Ludwigstraße.

Auch im Bereich der Forstwissenschaft ergaben sich in der Nachkriegs­ zeit neue Aufgaben und Forschungsschwerpunkte, die einen Ausbau der Forschungseinrichtungen sowie eine Vermehrung der Lehrstühle erforder­ lich machten.

In der Forstbotanik, die seit 1946 Bruno Huber (geb. 1899 in Hall/Tirol, gest. 1969 in München) vertrat, lag das Schwergewicht auf pflanzenphysio­ logischem Gebiet. Schon in seiner früheren Wirkungsstätte Tharandt hatte Huber ein Buch über den Wärmehaushalt der Pflanzen (1935) und eine Pflanzenphysiologie geschrieben. In München folgten seine Bücher „Die Saft­ ströme der Pflanzen“ (1956) und „Grundzüge der Pflanzenanatomie“. Bahn­ brechend waren Hubers Untersuchungen über den Gasstoffwechsel und den Stofftransport der Waldbäume, sowie seine auch für Kunst- und Früh­ geschichte wichtigen dendrochronologischen Arbeiten. Die Nachfolge Escherichs auf dem Lehrstuhl für angewandte Zoologie hatte 1941 Wilhelm Zwölfer (geb. 1897 in Bukarest, gest. 1969) angetreten. Bereits als Privat­ dozent hatte Zwölfer mit grundlegenden Untersuchungen über die Tempe­ ratur- und Luftfeuchteabhängigkeit wichtiger Schadinsekten eine neue expemirentell-ökologische Forschungsrichtung eingeschlagen. Spätere For­ schungen betrafen u. a. die Tannentrieblaus, die Bekämpfung von Borken­ käfern und — für die Fortentwicklung der biologischen Schädlingsbekämp­ fung besonders wesentlich — Zusammenhänge zwischen Waldbodendün­ gung und Schädlingsbefall. Den Lehrstuhl für Bodenkunde übernahm nach der Emeritierung von Gustav Krauß 1953 Willi Laatsch, zuvor Ordinarius an der Universität Kiel. Nach einer dringend nötigen Ergänzung bzw. Modernisierung der Instituts­ einrichtungen konnte von Laatsch und seinen Mitarbeitern die Bodenfor­ schung intensiviert und insbesondere auf das Gebiet der Pflanzenernäh­ rung ausgedehnt werden. Auch der Unterrichtsbetrieb erfuhr eine starke Belebung. Gegenstände der Forschung waren u. a. die Bildung und An­ reicherung von Humusstoffen, der Stickstoffhaushalt der Waldböden und Düngungsprobleme. Durch eingehende Untersuchungen über Wasser- und Nährstoffhaushalt mediterraner Standorte wurden für die Wiederauffor­ stung entwaldeter Gebiete vor allem in der Türkei und in Spanien wertvolle Grundlagen geschaffen. Das umfangreiche Lehr- und Forschungsgebiet der Forstlichen Produk­ tionslehre, das seit Gayers Zeiten 60 Jahre in einem Lehrstuhl vereinigt

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war, machte eine Aufgliederung dringend nötig. Die Schaffung eines eigenen Instituts für Samenkunde und Züchtungsfragen war schon von Fabricius in die Wege geleitet worden, 1955 folgte endlich auch ein Lehrstuhl für Saat­ gut, Genetik und Züchtung der Waldbäume, der dem Leiter des Instituts Ernst Rohmeder übertragen wurde. Dem Institut obliegt die amtliche Samen­ kontrolle; es wurde durch keimungsphysiologische und zytologische Grund­ lagenforschung und Züchtungsarbeiten rasch international bekannt. Auf den Waldbaulehrstuhl wurde 1946 unter Ausweitung des Lehrgebie­ tes auf Waldbau und Forsteinrichtung Josef Nikolaus Köstler berufen, der sich bei Dieterich in München habilitiert hatte, Ordinarius für Forstpolitik und forstliche Betriebswirtschaftslehre in Göttingen - Hannoversch Münden war und in Berlin die Internationale Forstzentrale aufgebaut und geleitet hatte. Köstler hat in seinem 1950 erschienenen bis heute führenden Lehr­ buch des Waldbaus, in seiner „Waldpflege“ (1953) und in einer großen Zahl von Aufsätzen die Gedanken Gayers weitergeführt und die Wege zu einem modernen freien Stil des Waldbaus gewiesen. Er hat die von Gayer begründete „Münchner Schule“ des Waldbaus erfolgreich ausgebaut. 1953 wurde Köstler zum Rektor der Universität gewählt.

Die Fächer Holzkunde und Forstbenutzung waren bereits 1941 einem eige­ nen Lehrstuhl zugewiesen und mit einem Institut der Forstlichen For­ schungsanstalt verbunden worden, das aus einer 1935 gegründeten Holz­ forschungsstelle entstanden war. Der Leiter Reinhard Trendelenburg (geb. 1907 in Freiburg) hatte mit seinem Buch „Das Holz als Rohstoff“ ein Stan­ dardwerk der biologischen Holzwissenschaft geschaffen. Wie viele seiner Gleichaltrigen wurde Trendelenburg ein Opfer des Ostfeldzuges, seine im Gang befindliche Berufung kam nicht mehr zur Ausführung. Als Nachfolger wurde 1948 Hubert von Pechmann berufen.

In der Waldertragskunde wurden von Vanselows Nachfolger Ernst Ass­ mann, der 1951 berufen wurde, neue Wege der Forschung im Sinne einer modernen Biometrie beschritten. Einem Ertragstafelwerk für Fichte folgte 1961 Assmanns „Waldertragskunde“, ein Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt, starke Beachtung gefunden hat. Die Nachfolge von Viktor Dieterich hatte 1952 Julius Speer, bisher Ordi­ narius in Freiburg, übernommen. Er hat sowohl die forstliche Betriebswirt­ schaftslehre maßgebend weiterentwickelt, wie zu forstpolitischen Proble­ men der Forstgesetzgebung, der Forstverwaltungsorganisation, zur Ein­ heitsbewertung forstwirtschaftlicher Betriebe und zur Waldbesteuerung in zahlreichen Veröffentlichungen Stellung genommen und sich dem Aufbau 12

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einer Forststatistik und der Aufstellung von Forst- und Holzbilanzen ge­ widmet. Speer war mehrere Jahre Rektor der Universität und wurde 1965 zum Präsidenten der deutschen Forschungsgemeinschaft gewählt. 1968 wurde der Lehrstuhl geteilt; auf das Ordinariat für Forstpolitik und Forstgeschichte wurde Richard Plochmann berufen. Mit dem Ansteigen der Lohnkosten, der zunehmenden Mechanisierung der Forstbetriebe und des Holztransports war es unumgänglich geworden, For­ schung und Unterricht auch auf dem technischen Sektor der Forstwissen­ schaft zu verstärken. Auf Antrag der Fakultät wurde deshalb im Jahre 1954 eine Professur für Walderschließung und Forstvermessung und gleichzeitig ein Institut der Forstlichen Forschungsanstalt geschaffen. Durch Fritz Back­ mund, der auf den neuen Lehrstuhl berufen wurde, ist die Erschließung von Gebirgswäldern und die Anwendung moderner und wirtschaftlicher Bau­ weisen im Waldstraßenbau wissenschaftlich untermauert und vorangetrie­ ben worden. Backmund war ferner maßgebend am Ausbau der Luftbildver­ messung für forstwirtschaftliche Zwecke beteiligt. Ein neuer Forschungsschwerpunkt wurde mit der Errichtung eines Ordi­ nariats für Holztechnologie und der Berufung von Franz Kollmann 1954 ge­ schaffen. Nach nicht geringen Anlaufschwierigkeiten konnte in der Winzererstraße ein holztechnologisches Institut aufgebaut werden, das nach einer grundlegenden Erweiterung, die 1970 zum Abschluß kam, als das zweifellos modernste Forschungsinstitut dieser Fachrichtung in der Bundes­ republik bezeichnet werden kann und heute Weltgeltung besitzt. Damit war die Technologie, die in der Frühzeit der Fakultät bereits intensiv betrieben worden, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aber dann an die Technische Hochschule abgewandert war, wenigstens mit einem Teilgebiet wieder in die Fakultät zurückgekehrt.

In nur zwei Jahrzehnten waren somit die in der Fakultät vorhandenen Fachrichtungen außerordentlich erweitert worden, die Zahl der ordentlichen Lehrstühle hatte sich verdreifacht. Der raschen Entwicklung der modernen Wirtschaft, Technik und Wissenschaft mußten die Forschungseinrichtungen wie die Studienpläne angepaßt werden. So waren die wenigen und kleinen Institute, wie sie noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts als gerade aus­ reichend gelten konnten, bis zum Jahr 1971 auf 43 Institute bzw. Seminare, darunter 11 forstwisenschaftliche Institute, angewachsen.

Das geräumige ehemalige Haus des Rechts konnte bei vollster Aus­ nutzung und nach Ausbau des Dachgeschosses nur einen Teil der Lehrstühle und Institute aufnehmen. Da die baulichen Maßnahmen mit dem Ausbau der

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Fachrichtungen nicht Schritt halten konnten, war es notwendig, eine An­ zahl von Instituten außerhalb, teils in angekauften, teils in angemieteten Gebäuden bzw. Räumen im Umkreis der Universität unterzubringen.

Durch die Vielzahl der Fachrichtungen war die alte Geschlossenheit der Fakultät zusehends gelockert, schon seit den 50er Jahren war es unumgäng­ lich geworden, den beiden Hauptabteilungen, der Wirtschaftswissenschaft­ lichen („Wiso“-) Abteilung und der Forstwissenschaftlichen Abteilung eine begrenzte Selbständigkeit insbesondere im Bereich der Studienpläne und Prüfungsordnungen einzuräumen.

Die geplante Verlegung der Forstlichen Forschungsanstalt aus der unmit­ telbaren Universitätsnähe an einen für moderne Waldforschung besser ge­ eigneten Standort war schließlich der Anlaß für eine Aufteilung der stark angewachsenen und schwer überschaubaren Fakultät in zwei Fakultäten, wie sie in ähnlicher Weise auch in der philosophischen und der naturwissen­ schaftlichen Fakultät erfolgt war. Einem dahingehenden Antrag wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus mit Erlaß vom 22. 7. 1971 entsprochen und damit eine Forstwissenschaftliche Fakultät be­ gründet. Die Geschichte einer über 200jährigen staatswirtschaftlichen Lehre und Forschung, deren Anfänge noch in die Zeit des aufgeklärten Absolutismus zurückreichen, ist zwangsläufig durch den Wechsel politischer und geistes­ geschichtlicher Umstände bedingt und spiegelt den Wandel der Lehrmei­ nungen wieder, die in den verschiedenen Zeitabschnitten bestimmend waren. Aus den vorstehenden Ausführungen ist aber zu entnehmen, wie zahlreiche Mitglieder der Fakultät die Entwicklung ihrer Fachgebiete entscheidend beeinflußt und sich führend in geistige und politische Auseinandersetzungen eingeschaltet haben.

Durch die Vielseitigkeit der in der Fakultät vereinigten Fächer war es bedingt, daß ihre Vertreter von recht verschiedenen Richtungen bzw. Beru­ fen herstammten und zuweilen erst auf Umwegen zu ihrem endgültigen Arbeitsgebiet gelangten. Die ersten bedeutenden Vertreter der Kameralwissenschaft wie auch der naturwissenschaftlichen Fächer waren vielfach von Haus aus Theologen. Der Austausch zwischen den geistlichen Stiften z. B. St. Emmeran in Regensburg und Polling, und der Universität zeigt das hohe wissenschaftliche Niveau der von den betreffenden Orden gepflegten nichttheologischen Wissenschaften. Auch H. W. Riehl war über Theologie, Kunstgeschichte und Journalistik zur Wirtschaftswissenschaft gekommen; Max Weber war ursprünglich Jurist, Ebermayer und Ramann hatten ihren 12*

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Berufsweg als Apotheker begonnen, der große Waldbauforscher Karl Gayer war verhinderter Architekt, der Zoologe Escherich zuerst Mediziner. Füh­ rende Naturwissenschaftler wie Robert Hartig, Ernst Münch, Carl von Tubeuf, Gustav Krauß waren ursprünglich Forstleute.

Die vorstehenden Ausführungen mußten sich, namentlich für die letzten Jahrzehnte, auf eine knappe Zusammenfassung und die Erwähnung der hauptamtlichen Lehrstuhlinhaber beschränken. Das damit gewonnene Bild ist unvollständig, da eine große, in neuerer Zeit ständig zunehmende Zahl von Honorarprofessoren, außerplanmäßiger Professoren und Lehrbeauf­ tragter das Angebot an Lehrveranstaltungen außerordentlich bereichert und in der Forschung originelle und weiterführende Wege eingeschlagen hat. Es finden sich darunter zahlreiche Männer, die in Staatsverwaltung und Wirtschaft führende Posten bekleideten und ihr hervorragendes Können der Ausbildung des akademischen Nachwuchses zur Verfügung stellten. Andererseits haben Mitglieder der Fakultät teils vorübergehend, teils län­ gere Zeit höchste Staatsämter geführt wie z. B. Staatsrat v. Hermann und Reichsrat v. Pözl. Mehrere Mitglieder der Fakultät, E. Jaffe, F. Terhalle, H. Maier stellten sich in besonders schwieriger Zeit als Staatsminister zur Verfügung. Die starke kulturelle Ausstrahlung, die zu allen Zeiten von der Fakultät ausging, würde einer besonderen Untersuchung und Würdigung bedürfen. Die Zusammenhänge sind so vielfältig, daß es nicht möglich ist, sie auch nur andeutungsweise zu streifen. Es sei nur etwa an die Tätigkeit Riehls als Di­ rektor des Bayerischen Nationalmuseums erinnert. Zu den Mitarbeitern Escherichs zählte u. a. als apl. Professor für Zoologie der bayerische Mund­ artdichter Max Dingler.

Auch auf die bedeutende Einwirkung von Inhabern staatswirtschaftlicher Lehrstühle auf die Leitung der Universität, wie ihr Wirken in der Ver­ mögensverwaltung kann nicht weiter eingegangen werden. Es sei nur ver­ merkt, daß der Neubau der Universität im frühen 20. Jahrhundert unter dem Rektorat von Max Endres entstand. Die ihm folgenden, aus der Fakul­ tät hervorgegangenen Rektoren V. Schüpfer, K. Escherich, J. N. Köstler, J. Speer zählten wie Endres sämtlich zur forstwissenschaftlichen Richtung. Ein Umstand, der wenigstens kurzer Erwähnung bedarf, ist die enge Ver­ flechtung mit anderen Fakultäten. In Ingolstadt war die Kameralwissenschaft teils in der juristischen, teils in der philosophischen Fakultät behei­ matet gewesen; auch später übernahmen Mitglieder anderer Fakultäten wichtige Vorlesungen, wie anderseits die Lehrveranstaltungen der Fakultät in erheblichem Umfang von Studierenden anderer Fachrichtungen insbeson­

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dere von Juristen besucht wurden und Fakultätsmitglieder sich auch ande­ ren Fakultäten bzw. Institutionen zur Verfügung stellten. So wurde der Lehrbetrieb der Hochschule für Politik weitgehend von der Fakultät bestrit­ ten. Da die in der Fakultät vorhandenen naturwissenschaftlichen Fach­ gebiete wie Bodenkunde, angewandte Zoologie und angewandte Botanik in der naturwissenschaftlichen Fakultät fehlen, zählten zu den Hörern und vor allem zu den Doktoranden dieser Fächer stets viele Naturwissenschaft­ ler. In den letzten Jahrzehnten kam die Masse der Soziologiestudenten aus der philosophischen Fakultät. Die politische Wissenschaft ist in beiden Fa­ kultäten mit mehreren Lehrstühlen vertreten, die ein gemeinschaftliches Institut haben. Beim Fach Holztechnologie besteht begreiflicherweise eine enge Beziehung zur Technischen Universität. Manche zeitweilig mit Vor­ rang in der Fakultät betriebenen Fächer sind im Laufe der Zeit abgewan­ dert, wie etwa Landwirtschaft, Technologie oder Meteorologie. Hier ist aller­ dings zu vermerken, daß ein Institut für Forstmeteorologie, das die bedeu­ tende Tradition Ebermayers in hervorragender Weise fortsetzen konnte, in der forstlichen Forschungsanstalt weiterbestand und durch die Ordinarien der naturwissenschaftlichen Fakultät Michael Schmauß, Rudolf Geiger und Fritz Möller betreut wurde. Ein von der Fakultät seit langem dringlich be­ antragter eigener Lehrstuhl für Forstmeteorologie harrt immer noch der Verwirklichung.

Die vorstehenden Ausführungen erheben keinen Anspruch auf Vollstän­ digkeit. Der Chronist hat es als seine Aufgabe betrachtet, vor allem die Ent­ stehungsgeschichte und die wesentlichen früheren Entwicklungsphasen auf­ zuzeichnen. Eine eingehende Erörterung der Wissenschaftsgeschichte wie des Lehrbetriebes ist nur für engere Fachgebiete möglich. Für die Wirtschafts­ geschichte hat W. Zorn (1968), für den forstwissenschaftlichen Unterricht J. N. Köstler (1963) eine genauere Darstellung geliefert, auf die hier ver­ wiesen werden darf.

Der Ausbau der verschiedenen Fachrichtungen in den letzten Jahrzehn­ ten, der sich noch in voller Entwicklung befindet, konnte nur skizzenhaft angedeutet werden. Dabei wurde grundsätzlich darauf verzichtet auf Ar­ beitsrichtung und Leistungen der noch aktiven Fakultätsmitglieder einzu­ gehen, deren Würdigung späteren Chronisten vorbehalten bleiben muß. Auch die Aufzeichnungen der älteren Geschichte wären ohne die hervor­ ragende Unterstützung, die der Verfasser dem Leiter des Universitäts­ archivs, Herrn Professor Dr. Johannes Spörl, und Frau Professor Dr. Laetitia Boehm verdankt, und ohne die bereitwillige Hilfe mehrerer Institute nicht möglich gewesen. Besonderer Dank gebührt ferner der Bibliothekarin der

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Forstlichen Forschungsanstalt, Frau I. Bülow, für ihre unermüdliche Hilfe bei der Literaturbeschaffung sowie der Fakultätssekretärin Frau C. Sedlmayer. Literaturhinw eise ADB, Allgemeine Deutsche Biographie. Leipzig. — Banse, K.: Karl Rößles wissenschaftliches Werk. In: Führungsprobleme personenbezogener Unterneh­ men. Stuttgart 1968. — Bauer, R. K.: In memoriam Oskar Anderson f. Ifo-Studien, 1960. — v. Baur, F.: Nekrolog des Dr. K. Roth, Forstw. Centralbl., Bd. 14, 1892. — Berndorf, W.: Internationales Soziologen-Lexikon, Stuttgart 1959. — Borchardt, K.: Friedrich Lütge. Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 184, 1970. — Borchardt, K.: Deutsches Handbuch der Politik. G. Olzog, München. — Dempf, A., Arendt, H., Engel-Janosi, F.: Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag. München 1962. — Doeberl, M.: Entwicklungsgeschichte Bayerns. 3. Aufl. 1928. — Fabricius, L.: Ernst Ebermayer f. Forstw. Centralbl., Bd. 31, 1939. — Fabricius, L.: Heinrich Mayrf. Forstw. Cen­ tralbl., Bd. 33, 1911. — Fürst, H.: Professor Dr. Franz von Baurf. Forstw. Cen­ tralbl., Bd. 19,1897. — Fürst, H.: Professor Dr. Rudolf Weber f. Forstw. Centralbl., Bd. 27,1905. — Handwörterbuch für Sozialwissenschaften. G. Fischer, Stuttgart. — Hess, R.: Lebensbilder hervoragender Forstmänner. Berlin 1885. — Hoffmann, L.: ökonomische Geschichte Bayerns unter Montgelas, 1799 -1817. Erlangen 1885. — Huber, M.: Ludwig I. von Bayern und die Ludwig-Maximilians-Universität in München (1826 -1832). Diss. München 1938. — Kluckhohn, A.: Der Freiherr von Ickstatt und das Unterrichtswesen in Bayern unter dem Kurfürsten Maximilian Josef. In: Vorträge und Aufsätze 1894. — Köstler, J. N.: Viktor Dieterich zum 70. Geburtstag. Forstw. Centralbl., Bd. 68, 1949. — Köstler, J. N.: Die Eingliederung der Forstwissenschaft in die Universität München. Allg. Forstzeitschrift 1953. — Kosch: Biographisches Staatshandbuch. München, Bem 1963. — Krauss, G.: E. Ramannf. Forstw. Centralbl., Bd. 48, 1926. — Lehr, J.: Gustab Heyer f. Allg. Forst- und Jagdztg., Bd. 59,1883. — Lendle, H.: Richard Lang f. Forstw. Centralbl., Bd. 57, 1935. — Lotz: Finanzwissenschaft. 2. Aufl., Tübingen 1931. — Jecht, H., Speer, J.: In memoriam Fritz Terhalle. Chronik der Ludwig-Maximilians-Uni­ versität, 1963. — Mantel, K.: Max Endres f. Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens als Beitrag zur Geschichte der Forstwissenschaft. Forstw. Centralbl., Bd. 63, 1941. — Mantel, W. und Rubner, K.: Dem Jubilar (K. Vanselow). Forstw. Centralbl., Bd. 68, 1949. — Mayr, H.: K. Geheimer Rat Dr. Johann Karl Gayer f. Forstw. Centralbl., Bd. 29, 1907. — v. Müller, K. A.: Die wissenschaftlichen An­ stalten der Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Chronik zur Jahrhun­ dertfeier. München 1926. — Münch, E.: Carl Freiherr von Tubeuf. Forstw. Cen­ tralbl., Bd. 64, 1942. — Neue Deutsche Biographie, Berlin. — Pfeifer, G.: Nachruf für Wilhelm Credner. Landshut 1950. — Prantl, K.: Geschichte der LudwigMaximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München, 2 Bände, München 1872. — Roscher, W.: Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland, 1874. — Roscher, W.: Das Projekt zur Errichtung einer Kameral-Hohenschule in München 1777. In: Forschungen zur Geschichte Bayerns 16, 1908. — Schnabel, F.: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 3. Bd., Erstauflage 1934. — Schneider, E.: Erich Preiser in memoriam. Weltwirtschaftl. Archiv, Bd. Ic, 1967. — v. Schrank, F.: Bemerkungen über das Kameralinstitut zu Ingolstadt, 1877. — Schuder, W.: Kürschners Deutscher Gelehrtenkalender. 10. Ausg., Berlin 1966. — Schüpfer, V.: Zur Geschichte des forstwissenschaftlichen Unterrichts in Bayern. München 1929. — Schüpfer, V.: Geschichte des Waldbesitzes der Universität München. Forstw.

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Centralbl., Bd. 52, 1930. — Schwenke, W.: Wilhelm Zwölfer f., Forstw. Centralbl., Bd. 86, 1967. — Sepp, B.: Wurzeln und Frühgeschichte der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München. Diss. München, 1966. — Staatslexikon, 6. Aufl., Freiburg 1961. — Stieda, W.: Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft. Abh. d. k. sächs. Ges. d. Wiss. 54, Phil. Hist. Klasse, 1906/07. — Weber, M.: Max Weber. Heidelberg 1950. — Zielenziger, K.: Die alten deutschen Kameralisten. Beiträge zur Geschichte der Nationalökonomie. Jena 1914. — Zorn, W.: Geschichte der Münchner Staatswirtschaftlichen Fakultät. Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 184,1970.

Die Medizinische Fakultät von 1472 bis zur Gegenwart Von Heinz Goerke

Ingolstadt 1472 -1800

Die Geschichte der Medizinischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität umfaßt den Zeitraum, in dem sich die abendländische Medizin aus jahrhundertealten Bindungen löste, unter dem Einfluß naturwissen­ schaftlichen Denkens zu neuen Kenntnissen und Erfahrungen kam und schließlich zunehmend wirksame Verfahren zur Krankheitserkennung und Krankenbehandlung entwickelt wurden. Diese Feststellung allein legt es nahe, Lehre und Lehrer der Medizin in Ingolstadt, Landshut und München nicht zuletzt auch in Beziehung zur Gesamtentwicklung zu sehen. War man den führenden Geistern der Zeit nahe, sind Anregungen und Erkenntnisse aus dieser Fakultät fruchtbar geworden, hat man und zu welcher Zeit diese Universität als Stätte ärztlicher Ausbildung besonders geschätzt — auch damit muß sich eine Fakultätschronik beschäftigen.

Infolge unglücklicher Umstände existieren nur wenige Vorarbeiten anderer und auch auf eigene Beschäftigung mit dem Gegenstand konnte nicht zurückgegriffen werden. Weder zur Fach- und Institutions- noch zur Personengeschichte dieser Fakultät liegen genügend Einzeluntersuchungen vor, insbesondere nicht für die letzten eineinhalb Jahrhunderte. Deshalb hat die Aufforderung zu diesem Festschriftbeitrag den Anstoß zu einer Reihe von Arbeiten gegeben, die das vorhandene Material erschließen sollen, damit in einigen Jahren eine auf einem breiteren Fundament aufgebaute zusammenfassende Darstellung der Fakultätsgeschichte vorgelegt werden kann. Einige wenige Ergebnisse dieser jüngsten Arbeiten konnten schon berücksichtigt werden. Als die erste bayerische Landesuniversität in Ingolstadt gegründet wurde, war die Medizin noch überall fest an die autoritäre Überlieferung gebunden. Die Lehren der großen antiken und arabischen Ärzte wurden in den von der Scholastik entwickelten Formen weitergegeben, auch wenn schon erste Anzeichen der Verwertung eigener Beobachtungen und selbständiger Er­ fahrungen aus der ärztlichen Praxis erkennbar sind. Die wenige Jahrzehnte

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vorher erfundene Technik des Buchdrucks mit beweglichen Lettern bot auch den Ärzten neue Möglichkeiten der Wissensvermittlung. Die Einfüh­ rung der Feuerwaffen stellte die Chirurgie, die an den Universitäten nur vereinzelt durch Lehrer vertreten war, vor bisher nicht gekannte Aufgaben. Gegen Ende des Gründungsjahrhunderts sind die ersten großen Massen­ erkrankungen an Syphilis in Europa aufgetreten, aber auch andere bisher nicht gekannte Seuchen, wie z. B. Fleckfieber und englischer Schweiß, zeigten verheerende Wirkungen. Ihren Schwerpunkt hatte die Medizin nach wie vor in Italien. Die Mehrzahl der relativ wenigen Ärzte, die es damals in Deutschland gab, hatte zumindest einen Teil der Ausbildung an italienischen Universitäten erhalten. Die Medizinische Fakultät bestand anfangs aus den Professoren Andreas R(i)eder(er), Ulrich Ellbogen, Johannes Trost und Nicolaus von Regensburg. Reder, Ellbogen und Trost trafen sich am 27. Juni 1472, einen Tag nach der feierlichen Einweihung der Universität, in der Wohnung des Rektors Wilhelm Kyrmann, Mitglied der Juristischen Fakultät, nachdem man Reder zum Dekan gewählt hatte, um die Fakultätssatzungen zu beschließen. Man folgte nicht, wie es die Theologen taten, dem Wiener Vorbild, sondern ging eigene Wege. Die Fakultät bekam als Entscheidungsgremium den Fakultäts­ rat, ein eigenes Siegel mit den Heiligen Cosmas und Damian und dem baye­ rischen Wappen, sowie das Recht auf eigene Kassenführung zuerkannt. Jedes Fakultätsmitglied hatte bei der Aufnahme einen Eid zu schwören, die Rangfolge wurde durch das Promotionsalter, bei an einem anderen Ort Promovierten vom Zeitpunkt des Eintritts in die Fakultät bestimmt. Der Dekan wurde semesterweise gewählt. Er hatte von seinem Vorgänger die Geschäfte zu übernehmen, die Kassenbuchführung zu bestätigen und ihm gegenüber den Diensteid abzulegen. Das Studium war auf die Erlangung akademischer Würden abgestellt und enthielt auch Bestimmungen über Pflichtdisputationen. Baccalaureus konnte man nur werden, wenn man drei Jahre lang Vorlesungen gehört und in dieser Zeit an zwei Disputationen als Respondent mitgewirkt hatte. Wer bereits in der Artistenfakultät den Grad eines Baccalaureus erworben hatte, erhielt ein halbes Jahr, wer in dieser Fakultät den Grad eines Lizentiaten oder Magisters bekommen hatte, ein ganzes Jahr erlassen. Der Student hatte den Nachweis über die Studienzeit durch Zeugnisse oder durch Zeugen zu erbringen, die unter Eid ihre Aus­ sagen machen mußten. Jeder Studierende war gezwungen, sich unter den Mitgliedern der Fakultät einen Professor auszuwählen, unter dessen Be­ treuung er gestellt wurde und der ihn auch der Fakultät zur Promotion Vor­ schlägen konnte. Für das Baccalaureatsexamen mußte der Kandidat meh­

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rere Textstellen aus den Werken des Hippokrates und des Avicenna aus dem Gedächtnis vortragen können. Um Lizentiat oder Doktor zu werden, hatte der Kandidat nach Erhalt der Baccalaureuswürde zwei Jahre lang Vor­ lesungen zu hören, allen Disputationen beizuwohnen und sich aktiv daran zu beteiligen, sofern er an der Reihe war. Darüber hinaus mußte der Be­ werber ein Jahr lang auf Anweisung des Dekans Vorlesungen gehalten haben, die weder dem Inhalt nach noch zeitlich mit denen der ordentlichen Professoren übereinstimmen durften. Außerdem hatte er in diesen zwei Jahren dreimal als Respondent bei Disputationen aufzutreten und sich nötigenfalls auch einer praktischen Prüfung zu unterziehen. Waren alle diese Leistungen erfolgreich erbracht worden, mußte der Kandidat vor der Fakultätsversammlung einen Eid ableisten, in dem er sich u. a. dazu ver­ pflichtete, noch ein Jahr lang unter Leitung eines Professors praktische Er­ fahrungen zu sammeln. Es folgte dann noch eine Prüfung in der theoreti­ schen und praktischen Medizin. Die Prüfungsgebühren für Lizentiaten und Doktoranden waren unterschiedlich hoch. Außerdem mußte der Prüfling jedem ordentlichen Mitglied der Fakultät ein rotes Barett und jedem Mit­ glied der Theologischen und Juristischen Fakultät ein gewöhnliches Barett sowie allen Universitätslehrern ein Paar Handschuhe schenken. Am folgen­ den Tag hatte der Kandidat ein Examen rigorosum abzulegen, wobei Fragen aus allen Gebieten der Medizin gestellt werden konnten. Anschließend er­ hielt der Bewerber aus der Hand des Vizekanzlers der Universität die Licentia. An die damit erteilte Genehmigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis waren bestimmte Bedingungen geknüpft, so die Verpflichtung, sich übler Nachrede gegenüber Kollegen zu enthalten, keine Patienten anderer Ärzte zu übernehmen, solange nicht dem vorbehandelnden Arzt gegenüber alle Verpflichtungen erfüllt waren, die Erklärung nicht mit Kurpfuschern zusammenarbeiten zu wollen, insbesondere nicht mit jüdischen. Lediglich dann, wenn chirurgische Maßnahmen notwendig waren, durfte mit Nicht­ ärzten in Verbindung getreten werden, allerdings auch dann nur, wenn sie christlicher Konfession waren. Die gesundheitspolizeilichen Rechte der Fakultät, die schon in den ersten Statuten festgelegt wurden, sind später erweitert worden. Die Bestimmung, daß kein Medizinstudent in der Stadt Ingolstadt oder im Umkreis von 6 Meilen ärztliche Praxis ausüben durfte, wurde im Jahre 1479 in der Form verschärft, daß eine Zulassung zur Promotion nur dann erfolgen konnte, wenn kein Verstoß gegen diese Bestimmung erfolgt war. Eine Ergänzung der Satzung wurde auch insofern vorgenommen, als den Studenten das Abhalten von Vorlesungen und die Tätigkeit als Assistent von Ärzten unter­

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sagt wurde. Dies war erst nach Bestehen des Baccalaureatsexamens gestat­ tet. Bereits im Jahre 1481 sah sich die Fakultät genötigt, gegen den über­ triebenen Aufwand bei Promotionsfeiern vorzugehen. Fortan durfte ein Baccalaureus nicht mehr als 16 und ein Licentiat nicht mehr als die doppelte Zahl von Gästen zu seinem Festmahl einladen.

Eine undatierte, spätestens aber wohl zu Anfang des 16. Jahrhunderts erlassene Promotionsordnung bestimmt den Ablauf der Doktorpromotion in allen Einzelheiten. Für die schriftliche Prüfung vor der Fakultät wurden Fragen aus dem Gebiet der theoretischen Medizin den Hippokratischen Schriften entnommen, während über die ärztliche Praxis nach den Werken der arabischen Autoren Rhazes und Avicenna geprüft wurde. Die feierliche Promotion erfolgte in gleicher Weise wie an anderen Universitäten. Es gab einen Promotor, der dem Doktoranden die Insignien der neuen Würde, Um­ hang, Barett und Doktorring, überreichte und ihn damit zum Doktor kreierte. Unter den Professoren der Fakultät in dieser frühen Zeit sind Johann Parreut, der durch die Veröffentlichung eines Kommentars zur aristoteli­ schen Logik hervorgetreten ist, und Wolfgang Peysser zu nennen, der 1521 im Auftrage der Fakultät eine Pestschrift verfaßt hat. Parreut, der 1495 an der Pest verstarb, hat einen Teil seiner Bibliothek der Universität vermacht. Peysser und der im Jahre 1504 berufene Georg Beham haben sich bereits 1507 für den Unterricht in der Anatomie und der Chirurgie eingesetzt und sich dafür verwandt, daß auch in Bayern durch herzogliche Anordnung die Leichen von Hingerichteten der Fakultät für Unterrichtszwecke zur Ver­ fügung gestellt werden sollten. Die Auswirkungen des Streits um die Lehre Luthers und des gerade in Ingolstadt von Johann Eck aufgestachelten Glaubensfanatismus für die Universität und wie wirksam man innerhalb des Lehrkörpers denunzierte und verketzerte, bekam auch die Medizinische Fakultät zu spüren. Leonhard Fuchs (1501 - 1566), berühmter Arzt und verdienstvoller Botaniker, hat aus diesen Gründen nur wenige Jahre in Ingolstadt wirken können. Fuchs stammte aus Wemding im Ries, hatte 1519 sein Studium an der Artisten­ fakultät in Ingolstadt aufgenommen, dort 1521 den Magistergrad erwor­ ben und war dann zum Medizinstudium über gewechselt. Nach Erlangung der Doktorwürde hatte er sich 1524 in München als Arzt niedergelassen und war zwei Jahre später als Professor nach Ingolstadt zurückgekehrt. Im Jahre 1528 ging er als Leibarzt an den Hof des Markgrafen Georg von Brandenburg nach Ansbach. Ende 1533 kam er erneut nach Ingolstadt und übernahm wieder sein Lehramt. Wenige Monate später jedoch wurde bereits eine Untersuchung eingeleitet, da er sich in einer

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Schrift mißbilligend über das Fasten geäußert hatte. Er vermochte die Verantwortung dem Drucker zuzuschieben, dennoch blieb er verdächtig, vor allem weil er in Ansbach Sympathien für die lutherische Lehre gezeigt hatte. Als ihm 1533 Vorlesungsverbot erteilt wurde, verließ Fuchs Ingol­ stadt und ging erneut nach Ansbach in leibärztlichen Dienst, um dann zwei Jahre später eine Professur an der Medizinischen Fakultät in Tübingen zu übernehmen. Dort war er bis zu seinem Tode als ein wegen seiner glänzen­ den Vorlesungen beliebter und durch seine Schriften weithin anerkannter Gelehrter tätig. Sein botanisches Hauptwerk „De historia stirpium“ (1542), in der deutschen Fassung als „New Kreuterbuch“ (1543) erschienen, gehört zu den klassischen Schriften des Faches. Als Arzt ist er bereits in Ingolstadt im Sinne der Renaissance für Hippokrates und Galen eingetreten und hat sich mit Nachdruck gegen den bis dahin beherrschenden Einfluß der arabi­ schen Autoren gewandt. Auch nach seinem Weggang wurde die gleiche Auffassung von Johann Peurle (Ammonius Agricola, gest. 1570), der 1531 aus der Artistischen in die Medizinische Fakultät übergetreten war, ver­ treten. In den erneuerten Universitätssatzungen von 1555 finden sich für die Medizin Bestimmungen, die eine Bestätigung früherer Pflichten und Rechte darstellen, aber auch solche, die Rückschlüsse auf die Unterrichtsverhältnisse zulassen. Die Professoren wurden verpflichtet, die theoretische und prak­ tische Medizin unter Beschränkung auf Wichtiges zu lesen, Disputationen abzuhalten und den Medizinstudenten den Besuch der philosophischen Disputationen zu empfehlen. Der anatomische Unterricht sollte möglichst oft durch Demonstrationen an Leichen, der praktische Unterricht durch gemeinsam mit den Professoren vorgenommene Krankenbesuche ergänzt werden. Den Professoren wurde die Herstellung von Arzneimitteln in ihrem Hause untersagt. Die Fakultät war verpflichtet, die Stadtapotheke zu visi­ tieren und erhielt das Recht, bei Vorliegen grober Mißstände einen neuen Apotheker zu bestellen.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde in Ingolstadt noch immer an den alten arabischen und griechischen Autoren festgehalten. Die Fakultät hat sich sogar in offizieller Stellungnahme gegen die Lehren des Paracelsus und seiner Anhänger ausgesprochen. Der Unterricht wurde von drei Professoren abgehalten, die Ausbildungszeit betrug drei bis vier Jahre. Der Studienplan sah vor, daß der erste Professor drei Jahre lang über Krankheitslehre und Therapie nach den Schriften des Hippokrates, des Galen, des Mesue und Alexander von Tralles vorzulesen hatte. Der zweite Professor las im ersten Jahr Physiologie nach Galen und Avicenna, in den

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folgenden Jahren behandelte er nosologische Schriften des Galen, Pharma­ kologie nach Dioskurides und Chirurgie aufgrund des Kommentars von Guido Guidi (gest. 1569) zu den Werken des Hippokrates und des Galen. Der dritte Professor las hauptsächlich über Diätetik, und zwar gleichfalls nach Hippokrates und Galen. Mehrmals im Jahr fanden öffentliche Dispu­ tationen statt, die als besondere akademische Festakte die gesamte Fakultät einen ganzen Tag vereinten. Wir wissen auch, daß der anatomische Unter­ richt nicht nur an menschlichen Leichen, sondern auch an Tierleichen er­ folgte. Für osteologische Studien stand ein menschliches Skelett zur Ver­ fügung. Auch Kräuterkunde, womit man am besten den damaligen botani­ schen Unterricht kennzeichnen kann, wurde in Vorlesungen und auf Exkur­ sionen gelehrt. Es stand für diesen Zweck auch ein Herbarium zur Ver­ fügung, das wahrscheinlich von Leonhard Fuchs angelegt worden war.

Unter den Professoren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die in der Medizinischen Fakultät lehrten, sind nur wenige literarisch hervorgetre­ ten. Dazu gehörte Cyriacus Lutz (gest. 1599), der in Ingolstadt studiert und dort 1571 eine Professur bekommen hatte. Im Jahre 1574 bekleidete er das Rektoramt. Durch seine Inanspruchnahme als prinzlicher Leibarzt und durch Reisen ist er seinen Unterrichtspflichten nicht so nachgekommen, wie man es von ihm erwartete. Er soll in 28 Jahren der Zugehörigkeit zur Fakultät lediglich acht Jahre lang Vorlesungen gehalten haben. Auf einer Reise in den Orient geriet Lutz 1595 in türkische Gefangenschaft, hatte als Arzt erhebliche Vorteile gegenüber seinen Mitgefangenen und konnte sogar in dieser Zeit das Manuskript seiner Schrift „De medicina philosophica“ verfassen, die nach seiner Befreiung und Heimkehr nach Ingolstadt 1595 gedruckt worden ist. In seinen zahlreichen schon früher erschienenen Schrif­ ten war Lutz bereits als überzeugter Paracelsist aufgetreten. Ebenfalls durch literarische Tätigkeit ist der in England geborene Edmund Hollyng (Holling, 1554 - 1612), der 1588 aus der Philosophischen in die Medi­ zinische Fakultät übertrat, über seine Universität hinaus bekannt geworden. Von 1598 bis 1603 war er sogar einziger Lehrer der Medizin in Ingolstadt. Zu den bedeutenderen Lehrern der Fakultät gehörte in dieser Zeit Philipp Menzel (1546-1613), der 1568 Professor der Poesie in Ingolstadt wurde, wo er seit 1560 studiert hatte. 1571 ist er zum ersten Poeta laureatus der Universität gekrönt worden. Nach einem Aufenthalt in Italien und dem Studium der Medizin in Bologna, wo er die medizinische Doktorwürde erwarb, kehrte er nach Ingolstadt zurück und wurde 1573 Professor in der Medizinischen Fakultät. Er hat dieses Lehramt 39 Jahre lang ausgeübt. Im Jahre 1603 wurde sein Sohn Albert Menzel (gest. 1632) sein Nachfolger,

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auch er war wie Hollyng zeitweilig einziger Professor der Fakultät. Er ver­ vollständigte das von seinem Vater begonnene Herbarium und gab eine Flora Ingolstadts heraus (1618). Dieser jüngere Menzel, der gleichzeitig Leibarzt des Herzogs Wolfgang von Bayern war, hat auch kleinere klinisch­ therapeutische Schriften und einige Dissertationen veröffentlicht.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschloß die Medizinische Fakultät eine Änderung ihrer Promotionsordnung. In Zukunft konnte der Promotor nicht mehr vom Kandidaten selbst gewählt werden, sondern alle Ordinarien mußten dieses Amt turnusgemäß übernehmen. Im Jahre 1611 stimmte der Herzog einem neuen Unterrichtsplan für die Fakultät zu, in dem wieder ein dreijähriges Studium der Medizin vorgesehen war. Im ersten Studienjahr las der Professor der theoretischen Medizin aus Avicenna und Galen, im zweiten und dritten Jahr behandelte er die Aphorismen und die Prognostik des Hippokrates. Der Lehrstuhlinhaber für praktische Medizin hatte im ersten Jahr aus den Schriften Galens über die Fieber, den Puls und den Urin, in den folgenden Jahren aus anderen Werken des gleichen Autors vorzutra­ gen. Ein dritter Lehrer der Medizinischen Fakultät las über Anatomie und Chirurgie sowie Materia medica und war verpflichtet, mit den Studenten botanische Exkursionen vorzunehmen. Nicht nur die Tatsache, daß mit der von der Fakultät abgenommenen Lizentiatenprüfung nach wie vor das Recht zur Ausübung der Praxis ver­ bunden war, auch in anderer Hinsicht spielte die Fakultät eine maßgebliche Rolle im öffentlichen Gesundheitswesen. Sie hatte Gutachten gegen Kur­ pfuscher zu erstatten und mußte immer wieder gegen Studenten einschrei­ ten, die trotz des Verbotes ärztliche Praxis in Ingolstadt und Umgebung ausübten. Die Lehrer der Fakultät wurden aber auch bei Änderung der Medizinalgesetzgebung hinzugezogen. Die Apothekerordnung von 1646 ist beispielsweise unter Mitwirkung von Ingolstädter Professoren entstanden. Es entsprach durchaus den Verhältnissen der Zeit, daß immer wieder von Professoren aber auch von Studenten eine Verbesserung des anatomischen Unterrichts gefordert wurde. Daß es damit in Ingolstadt nicht gut bestellt war, bestätigt ein Senatsbeschluß aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, wo­ nach die Durchführung der Sektion einer menschlichen Leiche einmal im Jahr als nicht zuviel bezeichnet und angeordnet wurde, daß dabei Studenten aller Fakultäten zugelassen werden sollten. Lediglich dann, wenn die Geni­ talregion abgehandelt wurde, durften nur Medizinstudenten anwesend sein. Dem Einfluß des Dreißigjährigen Krieges, der sich überall an den Univer­ sitäten Mitteleuropas ausgewirkt hat, ist es zuzuschreiben, daß die Zahl

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der Medizinstudenten in Ingolstadt erheblich zurückging. So gab es 1629 nur 9 Medizinstudenten, wenige Jahre später nur noch zwei (1647) und schließlich einen einzigen. Die kurfürstliche Regierung wollte demzufolge das Gehalt eines der Professoren einziehen, wogegen sich die Universität erfolgreich mit dem Einwand wehrte, daß man den Professoren nicht die Schuld am Fehlen der Studenten zuschieben könne. Im Jahre 1648 besserten sich die Verhältnisse wieder und man konnte 16, bald darauf 20 Studenten aufweisen. Da die Medizinische von allen Fakultäten die geringste Studen­ tenzahl aufwies, hat man sich um die Mitte des Jahrhunderts etwas groß­ zügig im Hinblick auf die vorherige Ableistung des philosophischen Grund­ studiums verhalten und Studenten ohne Nachweis dieser Vorbildung auf­ genommen, was zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Philosophischen Fakultät führte. Auch Zeichen der Geringschätzung der von der Fakultät vermittelten Ausbildung, wie z. B. die Forderung, daß auch in Ingolstadt promovierte Mediziner in München zur Erlangung der Praxiserlaubnis noch eine besondere Prüfung ablegen mußten, veranlaßte eine Beschwerde bei der Kurfürstin (1652). Nachdem das Kollegium der Leibärzte ein Gutachten abgegeben hatte, wurde das Gesuch der Fakultät mit der Begründung abge­ wiesen, daß auch bei den Medizinern ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis wie bei den Juristen bestehe und man bei diesen ebenfalls zu­ sätzliche Prüfungen fordere, was unbeanstandet geblieben sei.

Im 16. und 17. Jahrhundert hat die Pest wiederholt nicht nur in das Leben der Universität eingegriffen, sondern auch die Fakultät vor kritische Auf­ gaben gestellt. Bei den Epidemien der Jahre 1521/22, 1539, 1545/47 und 1562/63 kam zeitweilig der Unterricht völlig zum Erliegen, mehrmals ver­ ließen auch die Professoren und Studenten Ingolstadt und setzten in Nach­ barstädten, wie beispielsweise 1562/63 in Kehlheim und Pfaffenhofen, den Universitätsbetrieb fort. Auch die Epidemien von 1625 und 1649 forderten von den Fakultätsmitgliedern zusammen mit dem Stadtphysikus gesund­ heitspolizeiliche Maßnahmen. Andere Seuchen spielten eine kaum geringere Rolle und niemand war seines Lebens sicher, so wurde Albert Menzel 1632 Opfer einer Typhusepidemie. Für den anatomischen Unterricht bedeutete es einen wesentlichen Fort­ schritt, daß im Jahre 1661 auf Anordnung des Kurfürsten dem seit 1656 als Professor der theoretischen Medizin in Ingolstadt tätigen Franz Ignaz Thiermair der Unterricht in der Anatomie als persönliche Aufgabe über­ tragen wurde. Vorher hatten die Fakultätsmitglieder diesen Unterricht, vor allem die anatomischen Demonstrationen, unter sich aufgeteilt. Thier­ mair, Sohn des Münchener Leibarztes Thomas Thiermair, hatte in Padua

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Medizin studiert und dort promoviert. Im Jahre 1664 wurde auch er als Leibarzt an den kurfürstlichen Hof nach München berufen. Der Unterricht in der Anatomie wurde nun auf Antrag der Fakultät Jakob Stelzlin (gest. 1677) übertragen. Damit hatte die Anatomie in Ingolstadt den Charakter eines selbständigen Faches erhalten. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß hier­ für Thiermair ein besonderes Verdienst zukommt. Er dürfte sich unter dem Eindruck der hohen, in Padua persönlich erlebten Blüte der Anatomie für diese neue Regelung eingesetzt haben. Ausschlaggebend wird bei seiner Berufung vermutlich der Einfluß seines Vaters gewesen sein, der Mitglied des Medizinalkollegiums war. Die erfolgreichen Anatomen nach Andreas Vesal, der selbst 1532 bis 1542 in Padua seine „Fabrica“ geschrieben hatte, mußten den jungen Thiermair von der Notwendigkeit eines selbständigen Lehrfaches Anatomie überzeugt haben. Stelzlin hat übrigens im Jahre 1665 auch die Anregung zur Erichtung eines „Kräutergartens“ gegeben. Die bei­ den anderen Fakultätsmitglieder haben diesen Vorschlag jedoch nicht unter­ stützt, vielmehr darauf hingewiesen, daß in Ingolstadt und Umgebung aus­ reichend Gelegenheit zu botanischen Studien in der Natur gegeben sei. Ob­ wohl der Senat der Universität Stelzlins Gesuch befürwortete, lehnte der Kurfürst die Errichtung eines botanischen Gartens ab.

Kennzeichnend für die Einstellung der Fakultät gegenüber neuen Lehren ist eine Äußerung aus dem Jahre 1675 als Antwort auf eine Anfrage aus Erfurt. Die dortige Fakultät wollte wissen, wie man sich einem Mitglied der Fakultät gegenüber verhalten solle, das für die Ansichten von de le Boe Sylvius (1614 - 1672) und gegen Daniel Sennert (1572 - 1637) auftrat. Auch wenn es nahezu unmöglich ist, die Hintergründe einer solchen Aus­ einandersetzung aufzuklären, so sprechen allein die Namen dafür, daß die Gegensätze zwischen iatrochemischer und iatrophysikalischer Denkweise der Fehde zugrunde gelegen haben. Die Ingolstädter Fakultät wandte sich sehr geschickt gegen jede einseitige Einstellung und empfahl einen vernünf­ tigen Mittelweg. Man müßte die alten Lehren erweitern und vervollkomm­ nen, dürfe sie aber nicht wie ein Evangelium behandeln. Die Satzungen der Ingolstädter Fakultät böten im übrigen genügend Möglichkeiten, außen­ seiterischen Tendenzen zu begegnen. Nachdem Franz Ignaz Thiermair 1664 als Leibarzt nach München berufen und Mitglied des Medizinalkollegiums geworden war, konnte er seine Vor­ stellungen von der notwendigen Verbesserung des medizinischen Unter­ richtes an höchster Stelle anbringen. In Gutachten, die er und sein Leibarzt­ kollege Raymund Maria Pistorini vorgelegt haben, sind beachtliche Vor­ schläge zur Verbesserung des medizinischen Unterrichtes an der Landes­ 13

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Universität enthalten. Der Unterricht in der theoretischen Medizin leidet nach der Auffassung von Thiermair unter dem Mangel an Leichen für anato­ mische Sektionen, noch schlechter sei es um die praktische Medizin bestellt, da man nicht wie in Italien oder Frankreich Hospitäler zur Verfügung habe, wo man praktische Übungen in der Puls- und Urinuntersuchung durchfüh­ ren könne und Gelegenheit zur Teilnahme an chirurgischen Operationen bestehe. Er hält eine medizinische Ausbildung von 4 Jahren für erforderlich und empfiehlt dringend die Errichtung eines Militärspitals, wo täglich durch den Spitalphysikus Visiten für Studenten und Vorlesungen über Chirurgie sowie Puls- und Urindiagnostik abgehalten werden sollten. Beide Leibärzte empfahlen besondere Strenge bei den Promotionen, zu denen nur zugelas­ sen werden sollte, wer den philosophischen Magistergrad erworben hatte. Dieser Hinweis zeigt, daß die alten Bestimmungen, auf deren Mißachtung schon einmal hingewiesen wurde, offenbar nach wie vor nicht mit nötiger Strenge eingehalten wurden. Diese Empfehlungen ließ die Kurfürstliche Regierung unbeachtet. Immerhin ist daraus zu ersehen, daß Thiermair, „Churfürstl. rath und leibmedicus, vor diesem professor med. zu Ingolstadt“, der sein Gutachten 1676 vorgelegt hat, die Bedürfnisse seiner früheren Fakultät richtig beurteilt hat. Sein klares Urteilsvermögen paßt gut dazu, daß man ihn als den wohl bedeutendsten bayerischen Arzt seiner Zeit bezeichnet hat. Dafür sprechen aber auch seine wissenschaftlichen Ver­ öffentlichungen, aus denen sein Bemühen ersichtlich ist, die neuen Ergeb­ nisse der anatomischen und physiologischen Forschung zusammen mit sei­ nen eigenen Erfahrungen am Krankenbett zu verwerten.

Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts besaß die Medizinische Fakultät kein eigenes Gebäude. Der Unterricht fand im Kollegienhaus, dem noch heute vorhandenen Gebäude der Hohen Schule statt. Welche Räume dort tatsäch­ lich der Medizinischen Fakultät zur Verfügung gestanden haben, weiß man nicht mit Sicherheit. Ein 1924 freigelegtes Wandgemälde, das die Heilung des Hippolyt durch Äskulap darstellt und aus dem Gründungsjahrhundert stammen dürfte, spricht dafür, daß es sich bei diesem Raum um einen Hör­ saal der Mediziner gehandelt hat. Allerdings könnten auch die übrigen Wände mit Darstellungen in Beziehung zu anderen Fakultäten geschmückt gewesen sein, die nicht erhalten geblieben sind, so daß auch die Verwendung als Aula oder für akademische Festakte in Betracht gezogen werden muß.

Im 16. Jahrhundert war in Ingolstadt ein Blatternhaus errichtet worden, das beispielsweise im Jahre 1559 mit 12 Patienten, darunter 9 Frauen belegt war. Daß dieses Blatternhaus von den Professoren der Medizin zur Demon­ stration von Kranken, wie dies in den Ausbildungsempfehlungen vorgesehen

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war, benutzt wurde, ist nicht überliefert. Es ist lediglich bekannt, daß die „Medica facultas“ in den Jahren 1599 und 1609 beim Stadtrat um Bereit­ stellung eines Raumes in diesem Haus für die Durchführung einer Sektion nachgesucht hat. In beiden Fällen handelte es sich um die Obduktion der Leichen von Verbrechern. Wegen der schlechten Unterbringung der Universität wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts der Abriß des alten Kollegienhauses und die Errich­ tung eines neuen Universitätsgebäudes geplant. Mit den Vorarbeiten wurde der Münchener Hofbaumeister Enrico Zuccali beauftragt, der unter Beteili­ gung der Professoren einen Gesamtplan ausarbeitete. Seine Pläne aus den Jahren 1694/95 und die von der Universität vorgelegten Raumforderungen sind erhalten. Für die Medizinische Fakultät war an die Schaffung eines Anatomischen Theaters für wenigstens 400 Personen und einen besonderen Hörsaal gedacht. Die Räume für die anatomische Demonstration und die Leichenaufbewahrung sollten unmittelbar über dem Flüßchen Schütter ge­ baut werden, um auf diese Weise Abfälle und Schmutz unbehindert weg­ schaffen zu können. Es hat offenbar nur daran gelegen, daß dieses große Bauvorhaben nicht finanziert werden konnte, alle Planungen waren tatsäch­ lich bis zur Baureife gediehen. Wäre dieser großartige Bau von Zuccali zur Ausführung gekommen, hätte man vermutlich später eine Verlegung der Universität aus Ingolstadt nicht so ohne weiteres in Erwägung gezogen.

Im Jahre 1720 nahm sich die Fakultät der Bibliotheksfrage an und be­ schloß den Aufbau einer eigenen medizinischen Bibliothek unabhängig von der Universitätsbibliothek und bemühte sich darum, dafür besondere Mittel zu bekommen. Als erste Zuwendung übersandte der Bischof von Eichstätt ein Exemplar des 1713 erschienenen berühmten Hortus Eystettensis, 1732 vermachte ein Straubinger Arzt 835 medizinische Schriften testamentarisch der Bibliothek. Schon wiederholt war gefordert worden, für Unterrichts­ zwecke einen Botanischen Garten anzulegen, bisher aber waren alle Bemü­ hungen erfolglos geblieben. 1710 teilte die Fakultät Rektor und Senat mit, daß es nun wirklich an der Zeit sei, für den Unterricht in der Botanik, Anatomie und Chemie diejenigen Voraussetzungen zu schaffen, die an anderen Universitäten bereits vorhanden seien. Die Professoren der Fakultät erboten sich, unentgeltlich die militärärztliche Tätigkeit in Ingolstadt aus­ zuüben, wenn die dafür angesetzten Gelder zur Umgestaltung des Gartens des Militärspitals in einen Botanischen Garten verwendet werden würden. Gegen diese Vorschläge erhob der Statthalter heftigen Einspruch, den er sogar damit begründete, daß es auch früher berühmte Ärzte gegeben habe, die ohne einen Botanischen Garten ausgekommen seien. Er behaup13*

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tete auch, daß Privatinteressen der Professoren mitspielen würden, diese im übrigen selbst Gärten besäßen, auf die sie zurückgreifen könnten.

Die Hofkammer und die Kriegskommissare äußerten sich dagegen befür­ wortend, dennoch konnte sich der Kurfürst nicht entschließen, den Garten des Militärspitals für den gewünschten Zweck zur Verfügung zu stellen. Immerhin scheint aber doch Verständnis für die Wünsche der Fakultät be­ standen zu haben, denn schließlich wurde sie um eine Äußerung darüber gebeten, ob sie nicht mit einem Teil dieses Gartens zufrieden sein könnte, man benötigte doch nur jeweils ein Exemplar der für den Unterricht wich­ tigen Pflanzen. In ihrer Antwort an den Kurfürsten wiesen die Professoren darauf hin, daß mehrere Tausend Pflanzen benötigt würden und sie benutz­ ten die Gelegenheit, um sich über den Statthalter von Ingolstadt zu beschwe­ ren, der sie als „Esel“ zu titulieren pflegte und ein Verhalten gegenüber der Universität zeige, durch das Studenten abgeschreckt werden würden. Die Hofkammer hielt den Garten des Militärspitals sogar für ausreichend groß, um dort auch ein Anatomiegebäude errichten zu können. Diese Auseinander­ setzungen zogen sich bis zum Jahre 1720 hin, ein greifbares Ergebnis wurde nicht erzielt.

Glücklicherweise bestand die Fakultät zu dieser Zeit aus Professoren, die nicht gewillt waren, die unzeitgemäßen Verhältnisse, unter denen sie arbeiten und unterrichten mußten, auf die Dauer hinzunehmen. Den Profes­ soren Johann Jacob Treyling (1680 - 1758), Johann Adam Morasch (1682 bis 1734) und Johann Baptist Neff (gest. 1737) gelang es, nicht nur einen „Hortum Botanico-Medicum“ anzulegen, sondern auch ein „Exercitien-Gebäude“ er­ richten zu lassen. Treyling, der im Jahre 1711 Professor für Anatomie und praktische Medizin geworden war, blieb der aristotelisch-scholastischen Tradition verbunden, geriet dennoch aber 1719 durch seine Stellungnahme für das kopernikanische System, das er als divina sapientia dignius neque sacris litteris adversum bezeichnete, in Konflikt mit der Theologischen Fakultät. Den Einsprüchen gegen seine Thesen begegnete er sehr geschickt mit einer Änderung der Formulierung ohne Zurücknahme des Inhalts. Treyling ist wiederholt Dekan und Rektor gewesen und hat sich in den 47 Jahren seiner Lehrtätigkeit in Ingolstadt große Verdienste um die Universität, besonders aber um die medizinische Ausbildung erworben. Sein Fakultätskollege Morasch war 1710 als Professor berufen worden, gleich­ zeitig war er Landschaftsphysikus und bischöflicher Leibarzt in Eichstätt. Als Vertreter einer mehr naturwissenschaftlich-iatrochemisch orientierten Richtung stand er deutlich im Gegensatz zu Treyling. Seine Einstellung machte ihn zu einem sehr aktiven Befürworter eigener Unterrichtseinrich­

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tungen der Medizinischen Fakultät. Im Jahre 1716 trat mit seinem Schüler Neff ein Mitglied in die Fakultät ein, das sich ebenfalls für die neuen Ideen einsetzte. Neff wurde 1730 kurfürstlicher Leibarzt und verließ Ingolstadt.

Um ihre Vorstellungen verwirklichen zu können, brauchte die Fakultät Geld, das man durch Spenden beizubringen versuchte. Professor Morasch war wohl aufgrund seiner einflußreichen Nebenämter derjenige, dem die Aufgabe zufiel, bei geistlichen und weltlichen Herren in Bayern und der Pfalz, in Augsburg und Regensburg vorzusprechen und materielle Unter­ stützung zu erbitten. Auf diese Weise bekam man fast 2000 fl. zusammen, weitere Zuschüsse flossen aus anderen Quellen, u. a. auch aus der Land­ schaftskasse. Im Jahre 1723 konnte die Fakultät stolz darauf hinweisen, daß sie von diesem Geld ein innerhalb der Stadtmauern, von der Universität gesehen auf der anderen Seite des Flüßchens Schütter gelegenes Grund­ stück für 1200 fl. hatte erwerben können. Man traute sich zu, die Kosten des Unterhalts für Garten und Gebäude dadurch zu decken, daß jeder Student fortan eine Einschreibgebühr von 3 fl. zahlen sollte bei gleichzeitigem Weg­ fall aller sonstigen Hörergelder. Die Baumaterialien wurden zur Lieferung durch das kurfürstliche Bauamt beantragt, die Arbeitslöhne meinte die Fakultät selbst aufbringen zu können. Der Kurfürst genehmigte auch die Bereitstellung von Baumaterialien bis zur Höhe von 800 fl. und am 27. April 1723 wurde der Grundstein für den Bau eines Gebäudes der Medizinischen Fakultät gelegt.

Noch im gleichen Jahr erschien eine „Historia Horti Botanici et Exercitiorum Publicorum Philosophico-Medicorum, quae in Alma, Perantiqua, Catholica et Electorali Universitate Ingolstadiensi recens erecta sunt a Facultate Academico-Medica“. Sie enthält auch die bekannte Abbildung des noch heute bestehenden Gebäudes, der Alten Anatomie in der Anatomie­ straße, den Stich von Simon Thaddeus Sondermeyr nach einem Gemälde von Michael Puechner. Er zeigt den geplanten, bei Erscheinen der Schrift aber sicher noch nicht erreichten Zustand. Diese Annahme ist berechtigt, wenn man die sich über ein Jahrzehnt hinziehenden Bemühungen der Fakultät berücksichtigt, den Bau fertigzustellen, der nicht nur lange Jahre unver­ putzt gestanden hat, sondern dessen Innenausstattung nur mühsam und unzureichend beschafft werden konnte. Die Zweckbestimmung der einzel­ nen Gebäudeteile und der Räume läßt sich aus der Bildlegende, den Be­ schreibungen im Text und aus anderen zeitgenössischen Berichten entneh­ men. Man erkennt daraus, daß alle für den Unterricht in der Medizin erfor­ derlichen Einrichtungen unter einem Dach zusammengefaßt worden waren.

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Der in der Straßenfront zweigeschossige Bau enthält im Mittelteil des Obergeschosses den großen Demonstrationssaal, in dem die Leichenöffnun­ gen vorgenommen wurden, der aber sicher auch anderen repräsentativen Veranstaltungen diente. Wir müssen uns vorstellen, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dort amphitheatralisch angeordnete Sitz- und Stehplätze eingebaut waren, wie dies von anderen anatomischen Theatern der Zeit im Original oder in bildlichen Darstellungen überliefert ist. Neben diesem größten und schönsten Raum des Hauses, den noch heute ein präch­ tiges Deckenfresko ziert, gab es beiderseits nach Höhe und Tiefe kleinere Räume, und zwar links das „Anatomische und Chirurgische Zimmer“, eben­ falls ein Unterrichtsraum, in dem wahrscheinlich aber auch Instrumente und Präparate aufbewahrt wurden. Rechts vom Mittelteil war das „Colle­ gium Experimentale Physicum“ untergebracht. Das flache herausragende Dach über dem Demonstrationssaal war als Plattform für astronomische Beobachtungen ausgebaut worden, der dort in der Mitte errichtete kleine Turm diente als „Observatorium oder Specula Astronomica“. Im End­ geschoß befand sich im Mittelteil, also in dem unter dem Demonstrations­ saal gelegenen Räumen, Platz zum Überwintern von Pflanzen, das „Hybernacalum“, rechts davon lag dann das „Laboratorium chymicum“, links die Gärtnerwohnung. Der Gartenseite war in ganzer Breite eine dem ver­ tieften Mittelteil entsprechend geschwungene, auf Säulen gestellte Galerie vorgesetzt, deren Brüstung mit Topfpflanzen bestellt wurde. Die an beiden Enden des Gebäudes rückseitig angesetzten eingeschossigen kurzen Seiten­ flügel enthielten nur die Treppenaufgänge zur Galerie. Die Abbildung dieses Gebäudes und der großen Anlage des botanischen Gartens auf dem Sondermeyrschen Stich beeindrucken noch heute. Noch mehr wirkten Bild und Beschreibung auf die Zeitgenossen, vor allem weckten sie das Interesse der Studenten an Ingolstadt. Es scheint das große Konzept der drei Professoren der Medizin Treyling, Morasch und Neff zu ihren Leb­ zeiten jedoch leider nur unvollständig verwirklicht worden zu sein. Die Leistung aber muß anerkannt werden, ein Gebäude für die Medizinische Fakultät geschaffen zu haben, in dem alle nach damals fortschrittlicher Auf­ fassung notwendigen Unterrichtsfächer angemessen berücksichtigt werden konnten. Die Vereinigung der naturwissenschaftlichen Fächer mit der Ana­ tomie und den klassischen Hörsälen bestätigt zugleich, daß man nun auch in Ingolstadt den Weg vom Kathederunterricht zum Experiment beschritt, auf dem die Medizin seit nahezu zwei Jahrhunderten deutliche Fortschritte gemacht hatte. Man war entschlossen, nicht länger hinter anderen Fakul­ täten zurückzustehen. Erst richtig würdigen wird man die Leistungen dieser

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drei Ingolstädter Mediziner, wenn man mit den Verhältnissen an anderen Orten vergleicht, wo ähnliche Vorhaben fast nur dort verwirklicht worden sind, wo absolute Herrscher, vielfach allerdings unter geschickter Beratung durch ihre Leibärzte und in erster Linie im Hinblick auf eine Verbesserung der militärärztlichen Ausbildung, ihren Willen durchzusetzen vermochten. In Ingolstadt waren die Verhältnisse viel ungünstiger, die Möglichkeiten beschränkt und die Entfernung zur Residenz mit allen Möglichkeiten der Einflußnahme zu groß.

Mit Sicherheit hat im Jahre 1724 der Rohbau des Gebäudes gestanden, nachdem der Kurfürst Baumaterialien schließlich bis zu einem Betrag von 1500 fl. zur Verfügung gestellte hatte und die Spenden insgesamt eine Höhe von 6000 fl. erreicht hatten. Im darauf folgenden Jahr fehlten aber immer noch Türen und Fenster sowie die Inneneinrichtung. Im nächsten Jahrzehnt hat die Fakultät alles getan, um ihre Schulden bei Bauunternehmern und Lieferanten abzudecken. Gesuche um Unterstützung beim Hof blieben erfolglos, private Spenden flossen nur in geringem Umfang. Nachteilig wirkte sich jetzt aus, daß man seinerzeit erklärt hatte, die Errichtung und Betreibung der neuen Anlagen aus eigenen Mitteln zu ermöglichen. Er­ schwert wurden die Bemühungen der Professoren auch noch dadurch, daß es zu einem offenen Streit zwischen Morasch und Treyling kam. Morasch als dienstälterer Professor hatte die Oberaufsicht über den Botanischen Garten und das Anatomiegebäude, er selbst und Treyling hatten aus eigenem Ver­ mögen erhebliche Geldbeträge vor allem für den Ankauf von Büchern und Instrumenten eingesetzt. Morasch war jedoch in seiner Rechnungslegung leichtfertig und erregte durch seine persönliche Lebensführung Anstoß, so daß es zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Gelehrten kam. Nach dem Tode von Morasch im Jahre 1734 wurde Treyling zu seinem Nachfolger bestellt. Er beantragte beim Kurfürsten 1736 unter Hinweis darauf, daß nicht nur Studenten der Medizin, sondern auch anderer Fakul­ täten und darüber hinaus junge Bader, Barbierer und Feldscherer bei den öffentlichen Demonstrationen im Anatomiegebäude anwesend seien, die Errichtung eines „Amphitheatrum Mobile“, das man bequem aufbauen und nach gehaltener Demonstration wieder entfernen könne. Man hatte ihm ohnehin 200 fl. für das „Exercitien“-Haus zur Verfügung gestellt, dafür aber benötigte er Sondermittel. Diese Mittel in Höhe von 21 fl. wurden ihm am 1. Februar 1736 aus der Hofkasse bewilligt, allerdings mit dem Hinweis darauf, daß man in Zukunft auch an den Bedarf der anderen Fakultäten denken müsse und er sich in künftigen Fällen nach anderen Geldgebern umsehen solle. Im Jahre 1737 starb Neff, der trotz seiner Leibarzttätigkeit

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in München (seit 1730) und Mannheim noch Einkünfte aus seiner Professur erhielt, seit 1735 sein Amt als Profesor in Ingolstadt aber wieder voll aus­ geübt hatte. Schon 1734 war nach dem Tode von Morasch als dritter Pro­ fessor Franz Anton Stehler (1705 - 1789) in die Fakultät berufen worden, der nun Ordinarius für Institutiones medicinae wurde. Den dritten Lehr­ stuhl erhielt zur gleichen Zeit Christoph Emanuel Hertel, Sohn von Michael Hertel (gest. 1711), der um die Wende zum 18. Jahrhundert als Professor der Medizin in Ingolstadt durch seine ausgleichende Haltung im Streit der wissenschaftlichen Meinungen vermittelt und dadurch Ansehen gewonnen hatte. Der jüngere Hertel hat für die gleiche Haltung um die Jahrhundert­ mitte Vorwürfe einstecken müssen, seine Emeritierung im Jahre 1754 scheint durchaus willkommen gewesen zu sein. Im Jahre 1748 wurde der Anatomie ein jährlicher Zuschuß von 30 - 40 fl. genehmigt und dafür gesorgt, daß mehr Leichen für Sektionen zugewiesen wurden. Stehler verließ im Jahre 1751 Ingolstadt, um Leibarzt des Kardinals Carl Theodor in Lüttich zu werden, wobei ihm ein Teil des Gehalts belassen werden mußte, was seinen Kollegen wenig zusagte. 1760 kehrte er nach Ingolstadt zurück, ungern wiedergesehen, da er schon vorher durch Ver­ leumdungen und häßliche Nachrede Streitigkeiten ausgelöst hatte, die nach seiner Rückkehr noch schlimmere Formen annahmen. Bei seinem Weggang in leibärztliche Dienste war Johann Leonhard Ohermayr (1721 - 1759) zum Professor der Anatomie berufen worden. Er stammte aus Wemding, hatte in Leyden, Göttingen, Paris und Heidelberg studiert und war dort einigen der großen Ärzte der Zeit begegnet. Zweifellos ist Obermayr zu den wichtigeren Ingolstädter Professoren der Medizin in diesem Jahrhundert zu rechnen. Durch seinen Bruder, der bei ihm als Prosektor tätig war, kam er allerdings in ernste Schwierigkeiten, als dieser eine Kindesleiche auf dem Friedhof ausgegraben hatte, um dem Mangel an Demonstrationsmaterial abzuhelfen. Dieses bei fanatischen Anatomen des 17. und 18. Jahrhunderts nicht seltene Vergehen ist damit auch für Ingolstadt belegt. Die Kollegen der Universität erhoben laute Anklage gegen Obermayr als dem verantwortlichen Anatomen, ebenso der Bischof von Eichstätt. Die schwierige Situation erfuhr eine glückliche Wendung dadurch, daß Obermayr als kurfürstlicher Leibarzt nach München berufen wurde, dort sogar ein anatomisches Theater erhielt, wo er Sektionen für solche Ärzte abhielt, die um Praxiserlaubnis nach­ gesucht hatten. Im Jahre 1754 kehrte er jedoch wieder nach Ingolstadt zu­ rück und hat bis zum Tode eine erfolgreiche Lehrtätigkeit ausgeübt. Er unterrichtete Anatomie und Physiologie, später auch Pathologie und ge­

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richtliche Medizin. Im gleichen Jahr, in dem Obermayr zurückkehrte, trat auch Anton Joseph Carl (1725 - 1799) als Professor der Chemie, Botanik und Arzneimittellehre in die Fakultät ein, der in späteren Jahren außerdem geburtshilflichen Unterricht erteilt hat. Unter seinen Veröffentlichungen finden sich auch Untersuchungen über oberbayerische Gesundbrunnen und ihre Wirkungen, ein Thema, das in dieser Zeit großes Interesse beanspruchte. Von besonderer Bedeutung war ein Erlaß des Kurfürsten vom Jahre 1752, in dem er wiederholten Gesuchen der Fakultät nachgab und entschied, daß fortan zur Promotion zum Doktor der Medizin der vorherige Erwerb des philosophischen Magistergrades nicht mehr Voraussetzung sein sollte. Von nachhaltigem Einfluß auf die weitere Entwicklung der Fakultät war Johann Anton von Wolter (1707 - 1787), der Erste Leibarzt des Kurfürsten. In einer umfangreichen Denkschrift hat er sich kritisch und kenntnisreich zu den Aufgaben und Pflichten der Ingolstädter Lehrer der Medizin ge­ äußert. Wolter war Schüler und begeisterter Verehrer von Hermann Boerhaave, was zum Verständnis seiner Empfehlungen vorausgeschickt werden muß. In seiner Eigenschaft als kurfürstlicher „Prothomedicus“ hat er im Sommer 1754 einschneidende Reformen vorgeschlagen. Wolter hatte fest­ gestellt, daß Absolventen der Ingolstädter Fakultät bei Prüfungen vor dem Collegium medicum in München häufig durchfielen und war den Gründen nachgegangen. Hertel pflegte, wie er feststellte, aus längst überholten Kom­ pendien einen „äkhlhafft gewordtenen Syncretismus“ vorzutragen, Trey­ ling ließ Krankheitsbeschreibungen aus den Texten alter Autoren lediglich abschreiben und auswendig lernen. „Vor gar wenigen Wochen geschah es, daß etlicher, so nichts besseres erlehrnet, nichtsdestoweniger ad gradum doctoratus promoviret worden, daß glauben mues, sye halten es mit dennen Baduanern: Sumus pecuniam et mittimus asinum in Patriam.“ Wolter kommt zu der Feststellung, daß man in der Medizinischen Fakultät einen „Umbsturz“ vollziehen müsse, sonst würden mehr und mehr Studenten ihre Ausbildung andernorts suchen. Er fordert, daß die Professoren nicht ihre Vorlesungen willkürlich abbrechen und auch nicht zu Konsilien mehrere Tage abwesend sein dürfen. Er stellt ein Studienprogramm auf, das erfüllt werden müsse, u. a. empfiehlt er die Durchführung von Operationskursen an Leichen. Drei Professoren hält Wolter für ausreichend, wenn sie sich nur fleißig ihren Aufgaben widmeten, je einer sollte die Anatomie, die Patho­ logie und die praktische (klinische) Medizin im Unterricht vertreten. Dem Anatomieprofessor sollten auch der Unterricht in der Physiologie sowie der Operationskurs, die Ausbildung in der Chemie, der pharmazeutischen Che­ mie sowie die botanischen Demonstrationen und die Aufsicht über den

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Botanischen Garten übertragen werden. Der Professor für Pathologie sollte gehalten sein, über Pathologie, Ätiologie, Semiotik und Therapie einschließ­ lich der Arzneimittellehre und Rezeptierkunde zu lesen. Schließlich sollte nach Wolters Meinung der dritte Lehrstuhlinhaber, der „Professor Praxios“, nach den Aphorismen Hermann Boerhaaves die praktische Medizin lehren, zweimal in der Woche die Studenten „in denen Casibus Forrensibus und Consultationibus clinicis exercirn“ und sie in der Spitaltätigkeit anleiten. Die Denkschrift fordert außerdem die öffentliche Ankündungsverpflichtung „durch einen getruckhten Zetl“ und die Aufgliederung des Unterrichts in einen Sommer- und einen Winterabschnitt. Kein Student, auch nicht „Landtskünder“, sollten vor Ablauf von drei Studienjahren zur Promotion zugelassen werden, auch nicht solche, die unregelmäßig an Vorlesungen teil­ genommen hatten. Wolter ging schließlich noch auf Einzelheiten der per­ sonellen Besetzung ein und schlug eine Neuverteilung der Besoldung vor sowie die Versetzung von Professor Hertel (Härtl) in ein Physikat, die Über­ tragung der Stelle des Arztes am „Garnisons Spital“ an den Professor für praktische Medizin und die des Stadtphysicus an den Professor für Patho­ logie. Unter Hinweis darauf, daß sich in Ingolstadt „ein gebautes Theatrum Anatomicum vorfündt, so mit villen andern umb die Wette streitet“ mit Räumen „zu dennen Chemischen Operationibus“ sowie ein Botanischer Garten, rät Wolter dringend, einen Inspektor für die Fakultät einzusetzen, der die Durchführung der empfohlenen organisatorischen und personellen Maßnahmen überwachen müßte.

Am 18. Oktober 1754 fand im Hause des Kurfürstlichen Geheimrats und Obersthofmeisters Maximilian Graf Preysing in München eine Sitzung der Hofräte und der Mitglieder des Medizinalkollegiums statt, in der beschlossen wurde, den Vorschlägen Wolters zu folgen. Die personellen Entscheidungen, die Richtlinien für die Gestaltung des Unterrichts und die Aufgliederung des Lehrstoffes wurden fast mit den gleichen Formulierungen, die sich in der Denkschrift finden, zum Beschluß erhoben. Am 14. November 1754 erhielt die Medizinische Fakultät aufgrund dieser Entscheidung eine „gnädigste In­ struction, die Medizinische Fakultät betretend“, gleichzeitig wurde Wolter zum Inspektor der Fakultät ernannt, d. h. als eine Art Kommissar zur Über­ wachung und Durchführung der Reformmaßnahmen eingesetzt.

Die „Instruktion“ bietet klare Anweisungen für die Gestaltung des Unter­ richts, der entsprechend dem Vorschlag Wolters sich auf die Schriften Boer­ haaves zu stützen hatte. Praktische Ausbildung am Krankenbett sollte durch Beteiligung der Studenten an Patientenbesuchen sichergestellt werden, die Dauer des Studiums wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Übertritt eines

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Professors in ein anderes Fach wurde untersagt, die Rangfolge der Profes­ soren nach dem Dienstalter verfügt, Selbstbeurlaubung der Professoren war nur noch bis höchstens 2 Tage zulässig, versäumte Unterrichtsstunden muß­ ten nachgeholt werden. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen waren schon bald spürbar. Wolter setzte sich zudem auch dafür ein, daß Mittel zum An­ kauf von Instrumenten für „experimenta physico-chemico“, die Unterhal­ tung des Botanischen Garten und des Anatomiegebäudes zur Verfügung gestellt wurden. Um den Unterricht in der Chemie auch durch praktische Übungen ergän­ zen zu können, wurde auf Vorschlag Wolters der Ingolstädter Stadtapothe­ ker Georg Ludwig Claudius Rousseau (1724 - 1794) 1760 als chemischer Demonstrator angestellt. Rousseau leitete seit 1751 die „Untere Apotheke“ und baute nun deren Laboratorium für Unterrichtszwecke aus. Ungeachtet langwieriger Auseinandersetzungen wegen dieses Lehrauftrages mit seinem Schwiegervater, dem Besitzer der Akademischen Apotheke, Johann Se­ bastian Cavallo, und den Professoren der Medizinischen Fakultät, setzte sich Rousseau, nicht zuletzt aufgrund der Anerkennung seiner Leistungen durch v. Wolter, durch. Im Jahre 1772 wurde er zum außerordentlichen Pro­ fessor mit Sitz und Stimme in der Fakultät berufen, 1776 erfolgte seine Ernennung zum Ordinarius, mehrfach war er Dekan der Medizinischen Fakultät und 1789/90 Rektor der Universität.

In den fünfziger und sechziger Jahren setzten sich die Mitglieder der Fakultät untereinander und mit den anderen Fakultäten heftig über den Ritus der Promotion auseinander. Schließlich gelang es, den Wunsch der Mediziner nach Abbau der Förmlichkeiten durchzusetzen und es wurde auch die Promotion in absentia unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen. Die Medizinische Fakultät hatte als erste 1755 den Druck einer Dissertation zugelassen, bei der auf dem Titelblatt „Universitas Ingolstadiensis“ ohne den Zusatz „catholica“ zu lesen war, und dafür einen Verweis hinnehmen müs­ sen. Sie setzte sich 1760 auch für die Promotion eines Protestanten ein und erhielt dafür, ungeachtet der vom Bischof von Eichstätt erhobenen Ein­ wände, die Zustimmung des Kurfürsten, wobei erneut die Befürwortung v. Wolters ausschlaggebend gewesen ist. Unter den Mitgliedern der Fakultät in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­ hunderts ragt der Nachfolger Obermayrs, der 1771 aus Trier berufene Hein­ rich Palmatius von Leveling (1742 - 1798) als hervorragender Lehrer, weithin geschätzter Arzt und durch eine reiche schriftstellerische Tätigkeit hervor. Leveling stammte aus Trier, hatte an der dortigen Universität, in der loth­ ringischen Moselstadt Pont-ä-Mousson und in Straßburg studiert, hier die

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medizinische Doktorwürde erworben und dann an seiner Heimatuniversität eine Professur erhalten. Unter seinen Veröffentlichungen befinden sich auch eine unter Verwendung der durch v. Wolter käuflich erworbenen Original­ holzschnittstöcke Vesals gedruckte „Anatomische Erklärung der Original­ figuren des Andr. Vesali“ (1781), außerdem Mitteilungen über eigene anato­ mische Beobachtungen und eine Schrift über Schädelfrakturen (1784), sowie eine „Medicinische Ortsbeschreibung von Ingolstadt“ (1797). Auch als Fakul­ tätshistoriograph hat sich Leveling durch eine „Historia chirurgico-anatomica facultatis medicae Ingolstadt, ab universitate condita usque ad a. 1788“ (1791) verdient gemacht. Die Leistungen Levelings fanden auch sichtbare Anerkennung dadurch, daß er das bis dahin höchste Professorengehalt be­ kam, das einem Mitglied der Medizinischen Fakultät zugestanden worden war, nämlich 1850 fl. jährlich. Er wurde darüber hinaus zum wirklichen Kurfürstlichen Hofrat ernannt und 1790 in den Adelsstand erhoben. Seine beiden Söhne sind ebenfalls ordentliche Professoren der Medizin in Ingol­ stadt geworden. Heinrich Maria von Leveling (176’6 - 1828) erhielt 1788 ein Extraordinariat, wurde 1791 Ordinarius und trat 1824 in den Ruhestand. Sein jüngerer Bruder Peter Theodor von Leveling (1767 - 1822) wurde 1798 Professor für Pathologie, medizinische Klinik und Literaturgeschichte. Nach der Übersiedlung der Universität nach Landshut blieb er nur noch wenige Jahre im Amt, 1805 ging er als Landgerichtsphysicus nach Göggingen bei Augsburg.

Im Jahre 1774 wurde in der „Churfürstlich-Baierische hoher und niederer Schulen-Ordnung, wie solche von Sr. Churfürstl. Durchlaucht unter dato den 9. Oct. dieses laufenden Jahres an die churfürstliche Universität zu Ingol­ stadt vorsehungsweis erlassen worden“ ein auf 3 Ausbildungsjahre be­ messener Studienplan für Medizinstudenten eingeführt. Danach gehörten in das 1. Studienjahr Botanik mit Exkursionen, Naturgeschichte, Chemie, anatomische Sektionen und Demonstrationen, Physiologie und Medizin­ geschichte, in das 2. Jahr Botanik, Chemie, anatomische Demonstrationen, Physiologie, Pathologie, Semiotik, Chirurgie, gerichtliche Medizin, Materia medica und Arzneiverordnungslehre und in das 3. Jahr Chirurgie, Materia medica, Arzneiverordnungslehre, praktische Vorlesungen und Kranken­ visiten. Bereits zwei Jahre später wurde die Liste der Fächer ergänzt durch Geburtshilfe mit Phantomkurs und Tierarzneikunde. Für fast alle Gebiete wurden Lehrbücher als verbindlich vorgeschrieben, z. B. für Chemie Boerhaaves Schriften, für Physiologie die Werke Albrecht v. Hallers, die Chirurgie sollte nach Johann Zacharias Platners „Institutiones chirurgiae“ (1745) ab­ gehandelt werden. Im Jahre 1776 wurden die Werke Carl v. Linnes und des

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Nicolas Joseph v. Jacquin für den Unterricht in der Botanik vorgeschrieben. Jeder Student der Medizin mußte ein zweijähriges Studium in der philo­ sophischen Fakultät nachweisen können. Die Professoren wurden verpflich­ tet, vom 1. November bis zum 24. August täglich 2 Stunden Vorlesung zu halten. Die Studenten sollten alle 3 Monate geprüft werden und zweimal jährlich öffentliche Disputationen stattfinden. Die Doktorprüfung, zu der eine gedruckte Dissertation vorgelegt werden mußte, hatte 5 Stunden zu dauern. Im Jahre 1784 wurde wiederum der Stoff des Lehrplanes ergänzt. Im ersten Ausbildungsjahr kamen als neue Fächer Diätetik und verglei­ chende Anatomie hinzu, im zweiten Jahr Verband- und Operationslehre, ein geburtshilflicher Kurs und Veterinär-Chirurgie, im dritten Jahr klinische Versuche und Veterinärkunde sowie fakultativ ökonomische Kräuterkunde. Wie sehr die Medizin nun auch für den Studenten systematisch aufgegliedert wurde, und welche Mühe man sich gab, um der Entwicklung an anderen Universitäten zu folgen, geben diese Lehrpläne deutlich zu erkennen. Sie bestätigen, daß man keineswegs rückständig war, was vor allem aus Ver­ gleichen mit den Vorlesungskatalogen anderer Universitäten ersichtlich wird. Die Lehrpläne wurden 1799 noch einmal angepaßt und nun die Gliede­ rung in Semester eingeführt. Als neue Unterrichtsfächer wurden jetzt „medicinische Encyclopädie und Methodologie“, der „physiologische Theil der Chemie“, Mineralogie, Zoologie, Anthropologie, pharmazeutische Waren­ kunde, Giftlehre, Pharmazie, Kritik der Dispensatorien, allgemeine Thera­ pie, spezielle Therapie, praktische Medizin und praktische Chirurgie auf­ genommen.

Der Botanische Garten ist 1777 und in den darauffolgenden Jahren von Grund auf umgestaltet, die Pflanzen sind nach dem Linneschen System und dem Vorbild des Wiener Hortus botanicus geordnet worden. Das Anatomiegebäude mußte 1784 gründlich überholt werden und man benutzte die Gelegenheit zur Errichtung eines Warmhauses für tropische Gewächse, das jedoch wegen der hohen Heizkosten nach einigen Jahren wieder aufgegeben werden mußte. Die Fakultät beschloß 1777, die Licentia nur noch in Verbindung mit der Doktorpromotion zu vergeben, was sicher in der Absicht geschah, diesem Akt mehr Gewicht zu verleihen, eine im Hinblick auf die vielerorts deutlichen Bestrebungen des Staates, das ärzt­ liche Prüfungswesen aus den Händen der Fakultäten zu nehmen, verständ­ liche Maßnahme. Landshut 1800 -1826 Schon im Jahre 1779 hatten sich Professoren der bayerischen Landes­ universität um eine Verlegung in eine andere Stadt bemüht. Anlaß dafür

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waren die beengten Verhältnisse in Ingolstadt und die häufigen Ausein­ andersetzungen zwischen den Studenten und den zahlreichen Soldaten der Festungsgarnison. Wesentlich scheint aber der Wunsch mitgesprochen zu haben, aus der aufklärungsfeindlichen Atmosphäre Ingolstadts herauszu­ kommen. So machte man sich damals auch schon Gedanken über die für die Unterbringung der Medizinischen Fakultät benötigten Räume und Einrich­ tungen, um gleiche Bedingungen zu haben, wie man sie aus Ingolstadt ge­ wohnt war. Überliefert ist dazu eine Stellungnahme des Anatomen Heinrich Palmatius von Leveling vom 22. Oktober 1779, aus der ersichtlich ist, daß er im Grunde wenig geneigt war, das schöne Gebäude in Ingolstadt aufzugeben, um das er von seinen Kollegen beneidet wurde. Für den Unterricht in seinem Fach hielt er vor allem einen großen Saal mit amphitheatralisch angeord­ neten Sitzplätzen für erforderlich. Außerdem forderte er genügend große Nebenräume für die Aufbewahrung von Leichen und der Präparatesamm­ lungen. Als im Zweiten Koalitionskrieg französische Truppen sich den bayerischen Grenzen näherten und damit die Lage für die Universität in der Festung Ingolstadt bedrohlich wurde, folgte der Kurfürst Maximilian IV. Joseph den erneuten Anträgen der Professorenschaft und ordnete die vorläufige Ver­ legung nach Landshut an. Am 21. April 1802 wurde sie dann für endgültig erklärt, wenige Wochen später erhielt die Universität ihren heutigen Namen „Ludwig-Maximilians-Universität“ (27. Mai 1802).

Erst nachdem die Verlegung definitiv geworden war, wurden auch Schritte unternommen, um für die Medizinische Fakultät geeignete Häuser zur Ver­ fügung zu stellen. Bis dahin waren die Verhältnisse sehr unbefriedigend gewesen. Die Anatomie hatte man in einem Gartenhaus des Dominikaner­ klosters untergebracht, in dem bisher der Klostergärtner gewohnt hatte. Der Anatom Professor Ignaz Niederhuber (geb. 1754) hat sich damals sehr über die mißlichen Verhältnisse beklagt, 1806 verließ er die Universität und ging als Landgerichtsarzt nach Eggenfelden.

Im Jahre 1802/03 bekam die Medizinische Fakultät andere Gebäude zuge­ wiesen. Die Anatomie wurde ebenso wie das Laboratorium Chymicum und die Hörsäle im Franziskanerkloster untergebracht, im dortigen Kloster­ garten ein medico-botanischer Garten angelegt. Über die Verhältnisse in der Anatomie wissen wir recht gut Bescheid. Sie verfügte über eine große Sammlung von Menschen- und Tierskeletten und verschiedenen Präparaten, auch solchen mit pathologischen Veränderungen. Man konnte pro Jahr im­ merhin bis zu 60 Leichen sezieren. Im Jahre 1803 wurde die Stelle eines Pro­ sektors für Anatomie geschaffen und man hat dessen Pflichten und Rechte in

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einer besonderen Dienstordnung festgelegt. Die Stelle erhielt Johann Anton Schmidmüller (1776 - 1809), der 1805 jedoch den ordentlichen Lehrstuhl für Geburtshilfe und Staatsarzneikunde sowie das Stadtphysikat bekam. Nach­ folger Niederhubers wurde Friedrich Tiedemann (1781 -18'61), der gleich­ zeitig auch Vorlesungen über zoologische, vergleichende Anatomie und Phy­ siologie gehalten hat. Dieser ausgezeichnete Gelehrte, der 1816 einem Ruf nach Heidelberg folgte, hat beträchtlich zum Ruf Landshuts als medizinische Ausbildungsstätte beigetragen. Bei seinem Weggang nahm er die von ihm aufgebaute persönliche Sammlung normaler und pathologischer Präparate mit, was seinem Nachfolger Martin Münz (1785 - 1848) erhebliche Schwierig­ keiten bereitete. Immer wieder ist über Mangel an Leichen geklagt worden, dem durch behördliche Maßnahmen, z. B. die Zuführungspflicht von Leichen verstorbener unehelich gezeugter Kinder und der im Heiligen-Geist-Spital sowie im Krankenhaus Verstorbener, abzuhelfen versucht wurde. Für den klinischen Unterricht in der Medizin und Chirurgie wurde das Liebsbundkrankenhaus zur Verfügung gestellt, das über 24 Betten ver­ fügte und 1802 mit der Berufung von Johann Andreas Röschlaub (1768 -1835) nach einigen Schwierigkeiten mit der Stadt in Betrieb genommen werden konnte. Allerdings hatte es dazu des persönlichen Eingreifens des Kur­ fürsten bedurft. Dieses Krankenhaus war mit einem „Klinischen Institut“ verbunden und hieß daher offiziell „Klinikum der Universität“. Sehr bald erwies sich dieses Haus jedoch, entgegen den Voraussagen der städtischen Behörden, als zu klein und wenige Jahre später (1805) wurde das Haus Nr. 42 in der Ländgasse als klinische Unterrichtsstätte ausgebaut. Besondere Ver­ dienste erwarben sich hierbei wiederum Röschlaub und Philipp Franz von Walther (1782 - 1849), der von 1804 bis 1818 den Lehrstuhl für Chirurgie in Landshut innehatte. Er leitete als Lokalbau-Inspektor den Umbau des Hau­ ses, wobei ihm die Erfahrungen aus seiner Zeit als Chirurg am Ludwigshospital in Bamberg zugute kamen. Das neue Klinikgebäude hatte vorher als Landschaftspräsidentenhaus gedient. Es handelte sich um einen quadra­ tischen Bau mit vier Flügeln um einen mit Arkaden umgebenen Innenhof, bei dem nur geringe Umbaumaßnahmen erforderlich waren. Walther hat in diesem Krankenhaus seine vielgerühmte operative Tätigkeit ausgeübt. Er hat selbst darüber in der Schrift „Über klinische Lehranstalten in städti­ schen Krankenhäusern“ (1846) berichtet: „In Landshut hatte ich eine vor­ treffliche Klinik zustande gebracht, in welcher die wichtigsten und sonst seltensten chirurgischen Operationen in der größten, das Bedürfnis des klinischen Unterrichts übersteigenden Anzahl alljährlich vorkamen, mehr als in den großen Hospitälern volkreicher Städte und ich hätte meine dortige

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operative Hospitalpraxis nicht gegen jene in irgend einem Krankenhause in Paris oder London vertauscht.“ Er weist auch darauf hin, daß dies die erste bedeutende chirurgische Klinik in einer kleinen deutschen Universitätsstadt gewesen ist und daß er damit die bisher vorhandenen Vorurteile hatte widerlegen können. Über die medizinische Klinik im gleichen Hause und das „Gebärhäuslein“ äußert er sich im gleichen Bericht ziemlich gering­ schätzig. In Johann Andreas Röschlaub, dem Leiter der Medizinischen Klinik, be­ saß die Fakultät einen Arzt, der den Strömungen der Zeit nicht nur gefolgt ist, sondern durch seine literarische Tätigkeit auch erheblichen Einfluß ge­ winnen konnte. Anfangs verfocht er mit Eifer seine auf den Grundsätzen des Brownianismus aufgebaute „Erregungstheorie “, die sich zuerst großer Zu­ stimmung erfreute, bald jedoch in Mißkredit kam, nicht zuletzt durch ihren Begründer selbst. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts neigte Röschlaub dann immer stärker der Naturphilosophie zu und wurde zum überzeugten Anhänger Schellings. Vermutlich ist es auch seinem Einfluß zu danken, daß Friedrich Wilhelm Schelling, der damals noch Professor in Jena war und 1803 nach Würzburg berufen wurde, gelegentlich des „Dankfestes“, das die Universität am 5. Juni 1802 aus Anlaß der endgültigen Bestätigung der Verlegung nach Landshut veranstaltete, die Ehrendoktorwürde der me­ dizinischen Fakultät erhielt. Noch in seiner Landshuter Zeit fand Roeschlaub, auch dies dokumentiert sich in seinen Schriften, schließlich zurück zur empirisch-rationalen Medizin. Er sagte sich los von der Gedankenwelt der Naturphilosophie und hat selbst seine „eigene Erregungstheorie“ unter die Irrlehren verwiesen. Aus gesundheitlichen Gründen trat er 1824 in den Ruhestand, wurde aber 1826, mit der Verlegung der Universität nach München, wieder zum Professor der Medizin berufen und blieb bis zum Tode im Amt. Die Geburtshilfe wurde in Landshut zuerst im Entbindungshaus in der Jägerstraße 594 ausgeübt, wo uneheliche und bedürftige Schwangere Auf­ nahme fanden. Die Anstalt wechselte dann mehrfach den Ort und kam 1809, als Johann Nepomuk Feiler (1768 - 1822) von Altdorf nach Landshut berufen wurde, in das Haus Nr. 209 in der Spiegelgasse. Dort konnten anfangs 7 bis 9 Frauen untergebracht werden, auch Räume für den Unterricht, insbeson­ dere für Übungen am Phantom sowie die Instrumentensammlung, standen zur Verfügung. Im Hause wohnte auch die Hebamme mit ihrer Familie. Bald fand diese Anstalt Zuspruch und man mußte die Bettenzahl auf 18 erhöhen. Finanziell scheint das Entbindungsinstitut wiederholt in ernste Schwierig­ keiten geraten zu sein, auch wenn einige Patienten für ihren Aufenthalt

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bezahlen, die Studenten Unterrichtsgebühren entrichten und öffentliche Zuschüsse gewährt werden mußten. Auch mit dem Gebäude konnte man auf die Dauer nicht zufrieden sein. Immerhin hat sich das Gebärhaus so gut ent­ wickelt, daß 1824/25 im Durchschnitt 12 Entbindungen im Monat vorgenom­ men worden sind. Nach der Übersiedlung der Fakultät nach München blieb die Einrichtung bestehen und diente fortan der Chirurgenschule als Aus­ bildungsstätte. Auch für die Medizinische Fakultät gilt für dieses Vierteljahrhundert in Landshut, wie auch für die übrige Universität, daß man sie als leistungs­ fähig anerkannte. Mehr als in den Jahrzehnten vorher kamen jetzt Studen­ ten aus dem deutschsprachigen und übrigen europäischen Ausland. Erstmals wird sichtbar, was die Lehrer der klinischen Medizin für den Ruf einer Medizinischen Fakultät bedeuten. Mit der Verlegung der Universität wurde im Herbst 1826 auch die Medizi­ nische Fakultät auf Anweisung König Ludwigs I. aufgehoben. Einige ihrer Mitglieder blieben in Landshut, ob aus freien Stücken oder infolge obrigkeit­ licher Weisung läßt sich nicht in allen Fällen eindeutig sicherstellen. Der bisherige Direktor der Medizinischen Klinik Joseph August Schultes (1773 1831) wurde zum Direktor der Chirurgischen Schule in Landshut ernannt. Auch der zwei Jahre vorher nach Landshut berufene Professor der Chirurgie Anton Eckl (1781 - 1830) sowie der Professor der Anatomie Martin Münz und der Professor der Geburtshilfe Johann Baptist Rainer (1790 - 1829) wurden dieser Anstalt zugeteilt. Münz ist allerdings zwei Jahre später an die Uni­ versität Würzburg übergetreten. München 1826 -1972: Kliniken und Institute

Der Zeitraum von 145 Jahren seit der Übersiedlung der Universität von Landshut nach München kann hier nur in besonders augenfälligen Ereig­ nissen in institutioneller und baulicher Beziehung und im Hinblick auf die Spezialisierung der Medizin dargestellt werden, wobei auch nur die nam­ hafteren Repräsentanten der Medizinischen Fakultät berücksichtigt werden können. Anfangs stand der Fakultät lediglich das für die Akademie der Wissen­ schaften 1824/25 von Leo von Klenze errichtete Anatomiegebäude in der Schillerstraße zur Verfügung und für den klinischen Unterricht das aus dem Spital der Barmherzigen Brüder aus dem Jahre 1751/54 hervorgegangene allgemeine Krankenhaus vor dem Sendlinger Tor, das als Städtisches Kran­ kenhaus links der Isar Mittelpunkt der klinischen Anstalten der Universität 14

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geworden ist. Das von Gärtner 1837/39 errichtete Gebäude an der Ziemssenstraße ist noch heute im wesentlichen erhalten. Im Jahre 1878 wurde an der Ecke zur Lindwurmstraße von Zenetti ein Flügel für das „Medizinisch-Kli­ nische Institut“ angebaut. 1853/55 entstand in der heutigen Pettenkoferstraße 12 das Physiologische Institut und 1853/56 in der Sonnenstraße 16 das Gebärhaus, das 1900 durch einen Anbau für die Hebammenschule ergänzt wurde, der heute der Hals-Naren-Ohrenklinik dient und von der Pettenkoferstraße 4 a zugänglich ist. In der Sonnenstraße 17 wurde 1863 das Reisingerianum erbaut, wo die 1843 geschaffene Poliklinik untergebracht wer­ den konnte. In der Schiller-/Ecke Nußbaumstraße ist 1874 das Pathologische Institut errichtet worden. Dieses Gebäude wurde 1928/30 durch einen Neu­ bau von Th. Kollmann an der Winckel- und Thalkirchener Straße ersetzt. Im Jahre 1879 entstand an der Pettenkofer-/Ecke Paul-Heyse-Straße das Hygienische Institut nach Plänen von Leinbach. Das Dr. v. Haunersche Kinderspital an der Lindwurm/Ecke Goethestraße ist 1880/82 von Zenetti erbaut worden. In jedem der folgenden Jahrzehnte sind dort bis in die zwan­ ziger Jahre dieses Jahrhunderts erhebliche Erweiterungs- und Umbauten vorgenommen worden und auch z. Z. wird ein großer Anbau durchgeführt. Nachdem im Gebäude des Allgemeinen Krankenhauses die Verhältnisse für die Ausübung der Chirurgie untragbar geworden waren, entschloß man sich 1891 zum Bau einer eigenen „Königlich-Chirurgischen Klinik“ auf dem jetzigen Gelände. Dort befand sich seit 1852 bereits ein Blatternhaus, das von 1866 bis 1899 als Verwalterhaus benutzt worden ist. Auch Bettenpavil­ lons waren auf dem Grundstück für insgesamt über 200 Kranke erbaut worden (1865, 1882, 1890). Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde ein Operationstrakt von Th. Kollmann angebaut, der 1920/21 nach den Vor­ stellungen Sauerbruchs verändert und ergänzt worden ist. Auf dem Grundstück Nußbaumstraße 28 entstand 1893 das Pharmakolo­ gische Institut, das 1930 durch Hinzunahme des alten Pathologie-Ge­ bäudes an der Ecke Schillerstraße ergänzt werden konnte, nachdem dafür der bereits erwähnte Neubau zur Verfügung stand.

Um die Jahrhundertwende entstand in der Pettenkoferstraße 14 als erster Neubau dieser Art in Deutschland das Gebäude des Zahnärztlichen Instituts, das 1908 durch einen Erweiterungsbau auf dem Grundstück Schillerstraße 26 vergrößert werden mußte. Weitere Zubauten erfolgten in den zwanziger Jahren, so daß schließlich 400 Studenten unterrichtet werden konnten. Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts wurde die Medizinische Fakultät durch drei große Klinikneubauten bereichert, die bis heute genutzt werden: die Psychiatrische Klinik (Max Littmann 1902/04), die Augenklinik (Ludwig

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von Stempel 1905/08) und das Poliklinikgebäude (Ludwig von Stempel, Beeckmann, Kollmann 1907/10). Nach Plänen von Max Littmann entstand 1905/08 an der Schiller-/Ecke Pettenkoferstraße der mächtige Gebäude­ komplex der Anatomischen Anstalt, in deren überkuppeltem Rundbau der große Präpariersaal untergebracht ist. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde in Harlaching von Ullmann die Orthopädische Klinik gebaut, die 1914/18 durch das „Kraußianum“, eine Stiftung des Arztes Dr. Gustav Krauß (1846 - 1910), erweitert werden konnte, das als erste Anstalt in Deutschland für die orthopädische Forschung bestimmt wurde. In den Jahren des Ersten Weltkriegs entstanden die heutige I. Frauen­ klinik in der Maistraße (Th. Kollmann, 1913/16), zuerst für 250 Betten, später auf 400 Betten erweitert, und die an der Lindwurmstraße gelegene, als städtische und Universitäts-Klinik erbaute Gynäkologische Klinik, die 1926 eine geburtshilfliche Abteilung erhielt und heute als II. Frauenklinik aus­ schließlich Universitätszwecken dient. Für den Dermatologen v. Zumbusch, dem bis dahin nur Räume in der Poliklinik zur Verfügung standen, wurde in der Frauenlobstraße 9 zusammen mit einer städtischen Abteilung eine eigene Klinik erbaut (1928). Für das Institut für Geschichte der Medizin, die Medizinische Lesehalle, und die Amtskasse steht seit 1929 das im Jahre 1910 von Emanuel v. Seidl erbaute Haus an der Goethe-/Ecke Lessingstraße zur Verfügung, dessen Erwerb für die Universität der damalige Rektor, der Psychiater Oswald Bumke, als die schönste Erinnerung an sein Rektorat be­ zeichnet hat.

Im Zweiten Weltkrieg wurden das Hygienische Institut, die Zahnklinik und die Alte Anatomie durch Luftangriffe total, die Medizinischen Kliniken, die Chirurgische Klinik, die Kinder- und die Augenklinik sowie die Institute für Physiologie und Pharmakologie ebenso wie das Pathologische Institut erheblich zerstört. Aber auch alle übrigen Gebäude wurden mehr oder weni­ ger stark beschädigt, so daß langwierige Wiederherstellungsmaßnahmen und vielfach auch Ersatzbauten notwendig wurden. Seit 1945 haben die beteilig­ ten Ministerien, Baubehörden und akademischen Gremien unter schwierig­ sten Umständen mitgewirkt, die Arbeitsfähigkeit der Fakultät wiederherzu­ stellen. Leider kann hier darauf nicht im einzelnen eingegangen werden. Einige der großen Vorhaben müssen aber erwähnt werden, da sie für die Gegenwart und Zukunft der Münchener Universitätsmedizin erhebliche Be­ deutung haben. In mehreren Bauabschnitten ist das 1895 von Max Littmann erbaute Ge­ bäude des früheren Zentral-Taubstummeninstituts in der Goethestraße 70 zur Verwendung als Zahnklinik umgebaut worden. Großzügig und zeit­ 14*

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gemäßen Anforderungen entsprechende Neubauten konnten für das Physio­ logische Institut (1949/51), das Physiologisch-chemische Institut (1954/57), das Hygiene-Institut („Max-von-Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizi­ nische Mikrobiologie“) auf dem Grundstück Pettenkoferstraße 9 a (1958/61) und das Pharmakologische Institut (19’63/69) errichtet werden. Durch zahl­ reiche Baumaßnahmen für die Kliniken, u. a. die Erstellung von Betten­ häusern für die Chirurgische (1958/62) und Medizinische Klinik (1957/62) und Ausbau von erhalten gebliebenen Gebäuden, wurde im möglichen Umfange versucht, den Bedürfnissen der modernen klinischen Medizin entsprechende Verhältnisse zu schaffen. Auch der 1942 für die Chirurgische Klinik errich­ tete Operationsbunker konnte einer neuen Verwendung für das Institut für experimentelle Chirurgie zugeführt werden. Die Augenklinik erhielt 1956 einen Anbau mit einem eigenen Hörsaal. Die auf dem Klinikgelände und in der Nähe vorhandenen Unterkünfte für Pflegekräfte wurden ausgebaut und auch neue Gebäude für diese Zwecke errichtet.

Bereits in den ersten Nachkriegsjähren war es fraglich, ob diese Maßnah­ men im Krankenhaus links der Isar und dessen Nachbarschaft Überbrückun­ gen oder Dauerlösungen sein würden. Anfangs schien es durchaus möglich zu sein, auf diesem Gelände neue Kliniken zu erbauen und schließlich alle Einrichtungen der Medizinischen Fakultät am bisherigen Standort schritt­ weise zu erneuern. Aus diesem Grunde wurden die noch im Besitz der Stadt München befindlichen Teile des Krankenhauses 1952 vom Freistaat Bayern erworben. Der Bedarf an klinischen und klinisch-theoretischen Unterrichts­ und Forschungseinrichtungen wuchs jedoch mit der Entstehung neuer Spe­ zialgebiete und Sonderaufgaben und durch die zunehmende Studentenzahl in einem solchen Ausmaß, daß berechtigte Zweifel aufkamen, ob das in der Altstadt vorhandene Gelände selbst bei bester Ausnutzung und moderner Bebauung ausreichen würde. Schon in den dreißiger Jahren hatten Pläne bestanden, die Universitätskliniken außerhalb der Stadt, etwa in der Nähe des Forstenrieder Parks, in Neubauten unterzubringen. Diese Überlegungen, wobei übrigens auch daran gedacht wurde, andere für die Medizinische Fakultät notwendige Institute gleichfalls aus der Innenstadt zu verlegen, wurden wiederaufgenommen. Im Jahre 1954 kam ein Wettbewerb zur Aus­ schreibung, in dem beide Standorte zur Auswahl gestellt wurden und für die Ansiedlung am Stadtrand ein Gelände westlich des Waldfriedhofs vor­ gesehen werden sollte. Das Ergebnis dieses Wettbewerbs sprach eindeutig für die Verlagerung der Kliniken aus der Innenstadt. Der Bayerische Ministerrat beschloß deshalb am 16. August 1955, neue Universitätskliniken am Stadtrand zu bauen. Als Standort wurde der Raum

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Großhadern gewählt, wo ein etwa 50 Hektar großes Gelände erworben werden konnte. Nach Entwürfen der Architektengemeinschaft Schwethelm, Schlempp und Eichberg entsteht dort ein über Zentraleinrichtungen inte­ griertes Klinikum, das den Erfordernissen der modernen spezialisierten Medizin entspricht und dabei zugleich eine enge räumliche und personelle Verknüpfung aller Einrichtungen für Krankenversorgung, Lehre und For­ schung aufweist. Die erste Ausbaustufe mit 1500 Betten dient für die Unter­ bringung der im Altstadtbereich vorhandenen Kliniken mit Ausnahme der Kinder-, Frauen-, Haut- und Psychiatrischen Klinik. Die Pathologie sowie die Hygiene und Mikrobiologie werden vorerst durch sogenannte Außen­ stellen vertreten sein, für jeden Klinikbereich auch Polikliniken zur Ver­ fügung stehen. Die Gesamtanlage ist für 2500 stationäre Patienten ausgelegt, wobei man von dem bislang vorhandenen Bettenbestand der Fakultät aus­ gegangen war. Mit der ersten Teilinbetriebnahme, bei der etwa 500 Betten für die nichtoperativen Kliniken und die für deren Funktion notwendigen Zentraleinrichtungen (u. a. Klinisch-chemisches Zentrallaboratorium, Rönt­ gendiagnostik) zur Verfügung stehen werden, ist für 1973/74 zu rechnen. Weitere 1000 Betten für die operativen Fächer werden zusammen mit den erforderlichen Spezialbereichen, wie z. B. einer zentralen Operationsabtei­ lung, im Jahre 1975 in Benutzung genommen werden können.

Damit haben sich die in den fünfziger Jahren aufgestellten Zeitpläne erheblich verschoben, eine Folge mancher Schwierigkeiten, die zu überwin­ den waren, bis im Oktober 1967 die Rohbauarbeiten für das Bettenhaus auf­ genommen werden konnten. Seitdem ist allerdings termingerecht und zügig gebaut worden. Es konnten sogar die für die Anpassung an die rasche Ent­ wicklung der Krankenhaustechnik und die im In- und Ausland gemachten Erfahrungen von der Fakultät geäußerten Wünsche von den verantwort­ lichen Ministerien und Baubehörden immer wieder berücksichtigt werden.

Bereits 19’67 wurden auf dem Gelände in Großhadern ein Medizinisches Institutsgebäude und eine Schwesternschule mit 180 Ausbildungsplätzen in Betrieb genommen. In Anbetracht der überall in Krankenhäusern und auch an Universitätskliniken bedrohlichen Personalnot im Krankenpflegedienst und anderen nichtärztlichen Berufen, wurde mit dem Bau von Personalwoh­ nungen für die Beschäftigten des Klinikums Großhadern begonnen. Einige dieser Neubauten sind bereits fertiggestellt und für Pflegekräfte der Alt­ stadtkliniken interimistisch zur Verfügung gestellt worden.

Da sich die Inbetriebnahme der neuen Kliniken in Großhadern über einen längeren Zeitraum erstreckt, die dort vorgesehenen Einrichtungen für Patho­ logie und Hygiene zunächst nicht den Erfordernissen des Unterrichts und der

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Forschung entsprechen, vier große Kliniken vorerst noch im Altstadtbereich verbleiben und auch die für den klinischen Unterricht benötigten sonstigen Einrichtungen wie z. B. ein Pharmakologisches Institut nicht zur Verfügung stehen werden, müssen für Lehrende und Lernende einige Schwierigkeiten auftreten. Die Unterrichtskapazität der Medizinischen Fakultät wird also nicht nennenswert verbessert werden können und auch die Relation zwischen Bettenzahl und auszubildenden Studenten nicht wesentlich günstiger sein, solange die vorerst nur im Altstadtbereich vorhandenen vier Kliniken einen Engpaß für die Ausbildung bilden. Diese Tatsachen haben die Fakultät 1971 veranlaßt, noch einmal grundsätzlich zu diesen Fragen Stellung zu nehmen und sich für eine Überprüfung des bisherigen Standpunktes auszusprechen. Auch wenn alle Möglichkeiten ausgenutzt werden, um den Studenten das Pendeln zwischen den klinischen Unterrichtsstätten in der Altstadt und in Großhadern in Zukunft zu erleichtern und auf ein erträgliches Maß zu redu­ zieren, können befriedigende Verhältnisse jedoch erst dann eintreten, wenn auch Großhadern zu einer vollständigen klinischen Ausbildungsstätte aus­ gebaut worden ist, d. h. die vier für den letzten Ausbauabschnitt vorgesehe­ nen Kliniken und die notwendigen klinisch-theoretischen Unterrichtseinrich­ tungen dort errichtet wurden. Andererseits bestehen in der Innenstadt hoch­ wertige klinische und klinisch-theoretische Institutionen, so daß hier die Möglichkeiten für eine vollständige klinische Ausbildung erhalten bleiben müßten. Die Fakultät hat deshalb vorgeschlagen, in Form eines General­ planes den Ausbau im Altstadtbereich und in Großhadern zu koordinieren, so daß auf längere Sicht zwei klinische Ausbildungsstätten entstehen, ohne daß schon heute irgendwelche Überlegungen notwendig sind, ob und welche Konsequenzen bezüglich der akademischen Organisation einmal zu ziehen sein werden. Diese Empfehlungen der Fakultät dürften realisierbar sein, nachdem frühere Bedenken wegen der zur Duplizierung der klinischen Universitätseinrichtungen erforderlichen Patientenzahlen durch den großen Bevölkerungszuwachs, den München in den letzten zwei Jahrzehnten auf­ zuweisen hat, entfallen sind. Gestalten und Ereignisse aus der Geschichte der einzelnen Disziplinen

Nachdem in großen Zügen die Entwicklung der wichtigsten Gebäude dar­ gestellt wurde, in denen sich das Leben der Medizinischen Fakultät in München abgespielt hat, in denen sie heute tätig ist und die ihr für die Zukunft zugedacht sind, sollen einige wichtige Ereignisse und Gestalten aus der Geschichte der einzelnen Fächer geschildert werden. Dabei können die einzelnen Gebiete weder nach ihrer Bedeutung für den Unterricht noch nach

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ihrer Stellung im Rahmen der gesamten Medizin, auch nicht unter Würdi­ gung einer überragenden Einzelpersönlichkeit und besonderer Schwerpunkt­ bildungen behandelt werden, sondern hier hat das Vorhandensein von Vor­ arbeiten sich spürbar auf die Berichterstattung auswirken müssen.

Anatomie Als die Universität nach München kam, gab es hier bereits eine anato­ mische Lehrstätte, deren Anfänge ins 18. Jahrhundert reichten, wo bereits eine Verbindung zur Ingolstädter Anatomie durch Obermayr bestanden hatte. Es hatte auch schon anatomischen Unterricht gegeben, und zwar durch die Lehrer für Chirurgie an der Chirurgenschule. Die Leichenzergliederun­ gen fanden anfangs im alten Militärspital statt, später im Herzogspital und dann im Spital der Barmherzigen Brüder, das seit 1813 Allgemeines Kran­ kenhaus war. Einer der großen deutschen Anatomen der Zeit, Samuel Thomas v, Sömmering (1755 - 1830) wurde 1805 als Mitglied der Akademie der Wissenschaften für München gewonnen. Er kam von Frankfurt/Main, wohin er 1820 jedoch wieder zurückgekehrt ist. Daß der ihm zugesagte Bau eines anatomischen Theaters nicht zustande gekommen war, dürfte für sei­ nen Weggang mitverantwortlich gewesen sein. Erst 1824/25 wurde an der damaligen Singstraße, der heutigen Schillerstraße, nach den Plänen Leo v. Klenzes das für die Akademie bestimmte Anatomiegebäude errichtet, in dem der 1823 aus Würzburg berufene Ignaz Döllinger (1770 - 1841) dann seine Tätigkeit aufnehmen konnte. Vielseitig als Lehrer und Forscher, war er Begründer einer bahnbrechenden Embryologenschule und zugleich ein tüchtiger Physiologe, aber auch der wohl führende Vertreter der ver­ gleichenden Anatomie in Deutschland. Nach seinem Tode erhielt sein frühe­ rer Prosektor Eugen Schneider (1795 - 1874) die Leitung des Anatomischen Instituts. Schneider war bereits 1832 zweiter Ordinarius für Anatomie ge­ worden und hatte Döllinger wiederholt bei Krankheiten vertreten müssen. Neben ihm war Anton Förg (1809 - 1859) seit 1844 als außerordentlicher Pro­ fessor und Prosektor tätig, der auch Vorlesungen über vergleichende und pathologische Anatomie gehalten hat. Er wurde 1948 zum Ordinarius ernannt, trat dann aber schon 1854 in den Ruhestand. Im Jahre 1853 wurde Karl Theodor Ernst v. Siebold (1804 - 1885) aus Erlangen als Nachfolger von Schneider berufen. Gleichzeitig gehörte er als Zoologe auch der philosophi­ schen Fakultät an, in die er später ganz übergewechselt ist.

In dieser Zeit lösten sich aus dem anatomischen Institut das zoologische, dann auch das physiologische und das pathologische Institut heraus undwur-

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den anfangs kleine aber doch selbständige Einrichtungen. Von besonderer Bedeutung dafür und somit auch für das Fach der Anatomie wurde die im Jahre 1855 erfolgte Bestellung von Theodor Ludwig Wilhelm Bischoff (1807 - 1882), der ein Jahr vorher aus Gießen berufen worden war, zum Vor­ stand des Instituts. Er war Sohn des Bonner Professors für Pharmakologie und Staatsarzneikunde Ernst Bischoff und Schwiegersohn des bedeutenden Anatomen und Physiologen Friedrich Tiedemann, der in der Landshuter Zeit der Fakultät angehört hatte. Bischoff begann nach seiner Amtsüber­ nahme zielbewußt und energisch, dieses Institut und den Mitarbeiterstab zeitgemäßen Anforderungen anzupassen. Siebold vertrat nunmehr nur noch die vergleichende Anatomie. Selbst widmete sich Bischoff vorwiegend phy­ siologischen Untersuchungen, vor allem des Stoffwechsels, womit er bereits in Gießen unter dem Einfluß Liebigs begonnen hatte. Im Jahre 18'63 überließ er den Unterricht in der Physiologie seinem Schüler Carl Voit (1831 - 1908), mit dem zusammen er 1860 „Die Gesetze der Ernährung des Fleischfressers“ veröffentlicht hatte. Bischoff hat sich später wieder entwicklungsgeschicht­ lichen Arbeiten und vor allem der Anthropologie zugewandt. Ihm und seinen Mitarbeitern ist es gelungen, in 25 Jahren die Sammlung anatomi­ scher Präparate auf das Zehnfache zu vermehren, wie ein Bericht aus dem Jahre 1879 bestätigt.

Nachdem Bischoff 1874 mit 71 Jahren emeritiert worden war, wurde 1880 mit Carl v. Kupffer (1829 - 1902) wiederum ein anerkannter Embryologe auf den Münchener Lehrstuhl berufen. Durch ihn erhielt das Institut aber auch ein leistungsfähiges und als Ausbildungsstätte schon bald beliebtes histologisches Laboratorium. Nikolaus Rüdinger (1832 - 1896), der auf müh­ samen Wegen vom richtigen Bader zum Professor der Anatomie aufgestie­ gen ist und als Prosektor bereits unter Bischoff vor allem die makroskopische Anatomie bearbeitet hatte, wurde 1881 zweiter Ordinarius und erhielt die Leitung der „deskriptiv-topographischen Abteilung“. Kupffer aber leitete fortan die histologisch-embryologische Abteilung. Damit wurde erstmals in Deutschland ein Anatomisches Institut in zwei Arbeitsbereiche unterteilt. Rüdinger, dessen Atlanten zur Anatomie des peripheren Nervensystems, des Gehörgangs und der Hirnnerven viel Beachtung gefunden haben und der sich für die Verwendung der Fotografie zur Sicherung anatomischer Befunde eingesetzt hat, verstarb 1896. Seinen Lehrstuhl erhielt Johannes Rückert (1854 - 1923), der bei ihm Prosektor gewesen, sich 1882 habilitiert und seit 1890 Professor für Anatomie an der tierärztlichen Hochschule ge­ wesen war. Rückert ist vor allem durch Untersuchungen zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte und zur Vererbungszytologie hervorgetreten. Sein

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augenfälligstes Verdienst war jedoch die Errichtung und Inbetriebnahme des neuen anatomischen Institutsgebäudes (1908). Namhafte Anatomen sind aus diesem Institut als seine Schüler hervorgegangen und auf Lehrstühle berufen worden, so 1918 Albert Hasselwander nach Erlangen, Hermann Stieve nach Halle und Robert Heiss im Jahre 1923 nach Königsberg. Nach der Emeritierung von Kupffer erhielt der bisherige Prosektor Sieg­ fried Mollier (1866 - 1954) den Lehrstuhl für Histologie und Embryologie, 1923 wurde er Vorstand der Anatomischen Anstalt. Seine Arbeiten befaßten sich mit der Extremitätenentwicklung bei Wirbeltieren, vergleichenden Untersuchungen über die Blutbildung bei Menschen und Wirbeltieren und über die Muskelfunktion sowie der Entwicklung der Gallengänge und der Lebergefäße. Nach seiner Emeritierung wurde Walther Vogt (1888 - 1941) im Jahre 1935 sein Nachfolger als Vorstand der Anatomischen Anstalt. Er war bereits von 1924 bis 1930 Vorstand der Abteilung für Histologie und Embryo­ logie und dann Ordinarius für Entwicklungsgeschichte an der Universität Zürich gewesen. Von Vogt stammen entwicklungsgeschichtliche Unter­ suchungen, entwicklungsmechanische Arbeiten und Situsstudien an der menschlichen Bauchhöhle. Den Lehrstuhl für Histologie und Embryologie bekleidete von 1936 bis 1942 Adolf Dabelow (geb. 1899), der 1946 nach Mainz berufen wurde. Nach Walther Vogt erhielt 1942 Max Clara (1899 - 1966) die Leitung der Anatomischen Anstalt, der seit 1935 Lehrstuhlinhaber an der Universität Leipzig gewesen war. Sein Lehrbuch der Entwicklungsge­ schichte, seine Monographien über das Nervensystem des Menschen und über die arteriovenösen Anastomosen haben mehrere Auflagen erlebt und viel Beifall gefunden. 1950 ging Clara als Gastprofessor an die Universität Istanbul.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Robert Heiss (1884 - 1957) als Vor­ stand des I. Anatomischen Instituts und ordentlicher Professor für makro­ skopische Anatomie nach München zurück (1947). Nach seiner Emeritierung war er noch bis 1954 im Amt, dann wurde Benno Romeis (1888 - 1971) Direktor der Anstalt. Heiss hat sich vor allem mit der Embryonalentwick­ lung der Lungen und den Öffnungs- und Schließmechanismen der Harnblase beschäftigt. Romeis, der sich 1918 in München habilitiert hatte, war bereits seit 1944 ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Histologie und experimentelle Biologie an der Anatomischen Anstalt gewesen. Er hatte mit seinen Untersuchungen über den Einfluß von Wirbeltierhormonen auf die Entwicklung wirbelloser Tiere in den zwanziger Jahren wichtige Bei­ träge zur Theorie der Organentwicklung geleistet. Beachtenswert sind auch seine Arbeiten zur mikroskopischen Färbe- und Untersuchungstechnik. Nach

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der Emeritierung von Benno Romeis 1959 wurde Rudolf Bachmann Leiter des Instituts für Histologie und experimentelle Biologie, der sich 1942 in Leipzig habilitiert hatte und seit 1952 Ordinarius in Göttingen gewesen war.

Seit 1947 war Titus Ritter von Lanz (1897 - 1967) Inhaber des Ordinariats für Anatomie und Direktor des II. Anatomischen Instituts. Seine Personal­ bibliographie bestätigt seine vielseitigen Interessen im Fach. Die ange­ wandte Anatomie, insbesondere der Gelenke und Extremitäten, hat ihn vor allem in den fünfziger Jahren beschäftigt. Vor dem Kriege hatte er sich dagegen mit Untersuchungen über die Entwicklung und Funktion der Keim­ drüsen sowie zellbiochemischen Studien befaßt. Sein Nachfolger wurde 1967 der jetzige Direktor des Anatomischen Instituts Hans Frick (geb. 1921), der aus Frankfurt/Main berufen wurde, wo er bereits seit 1963 einen ordent­ lichen Lehrstuhl innegehabt hatte. Physiologie und Physiologische Chemie

Der erste Vertreter der Physiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität, unter dem auch die Abspaltung von der Anatomie einsetzte, war Emil Harless (1820 - 1862). Er hatte sich 1848 in München habilitiert, war ein Jahr später Extraordinarius und 1857 Ordinarius geworden. Vorwiegend hat er sich mit der Physiologie der Nerven und Muskeln beschäftigt. Nach Harless wurde 1863 Karl v. Voit (1831 - 1908), Mitarbeiter von Bischoff, ordentlicher Professor für Physiologie und Vorstand des Physiologischen Instituts. Voit hatte auf Anregung Bischoffs, der mit Liebig freundschaftlich verbunden war und sich selbst für eine Beschäftigung mit chemisch-physiologischen Fragen für zu alt hielt, schon früh seine Ausbildung im chemischen Labora­ torium ergänzt. So hatte er in München bei Pettenkofer gearbeitet und war auch ein Jahr bei Wöhler in Göttingen gewesen. 1854 war Voit mit einer Arbeit „Beiträge zum Kreislauf des Stickstoffs im tierischen Organismus“ promoviert worden, zwei Jahre später war er Assistent an der Physiologi­ schen Abteilung des Anatomischen Instituts geworden, 1857 die Habilitation für Physiologie erfolgt. Enge Beziehungen fand Voit auch zu Justus v. Liebig (1803 - 1873), besonders nachdem dieser 1852 den Lehrstuhl für Chemie in München übernommen hatte. Die von ihm gegründete „Voitsche Schule“ hat die in seinen ersten Ar­ beiten eingeschlagene Richtung beibehalten. Zuverlässige Methoden zur Be­ stimmung von Stoffwechselbilanzen wurden erarbeitet. Zusammen mit Max v. Pettenkofer entstand die Münchener Stoffwechselapparatur und eine

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Anlage zur Messung der Wärmeabgabe beim Menschen. Voits Forschungen haben Niederschlag in zahlreichen Veröffentlichungen gefunden, so u. a. in „Untersuchungen über den Einfluß des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskelbewegung auf den Stoffwechsel“ (1860), „Über die Unterschiede der animalischen und vegetabilischen Nahrung“ (1869), „Untersuchungen der Kost in einigen öffentlichen Anstalten“ (1877) und dem „Handbuch der Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung“ (1881). Die aus seinen und seiner Schüler Arbeiten abgeleiteten Grundsätze der Ernäh­ rung, die sich auch auf Erhebungen unter der Münchener Bevölkerung stützten, sind als „Voitsches Kostmass“ zum Begriff geworden. Unter den Schülern Karl v. Voits finden sich die Namen hervorragender deutscher Stoffwechselphysiologen: Max Rubner (1854 - 1932), später Hygieniker in Marburg und Berlin und seit 1908 Inhaber des Lehrstuhls für Physiologie in Berlin; Erwin Voit (1852 - 1932), ein Stiefbruder Karl Voits, später Professor an der Tierärztlichen Hochschule in München, aber auch die Internisten Friedrich v. Müller (1858 - 1941) und Heinrich v. Hoesslin (1878 - 1955), deren Mitarbeit im Institut von Voit Anlaß dafür war, die neuen Erkenntnisse in der Klinik nutzbar zu machen. Auch Otto Frank (1865 - 1944), der 1908 Nach­ folger Voits wurde, war sein Schüler gewesen. Frank hatte 1889 nach Be­ endigung des Medizinstudiums ein zweijähriges Studium der Chemie und Physik angeschlossen, bevor er 1891 zu Carl Ludwig nach Leipzig ging, um zu promovieren. Drei Jahre später kam Frank als Assistent zu Voit nach München und habilitierte sich 1895 mit einer Schrift „Zur Dynamik des Herzmuskels“. Auch Frank hat eine besondere Arbeitsrichtung verfolgt, die mathematisch-physikalische Erforschung des Kreislaufsystems. Er hat eine Reihe von Meß- und Registrierinstrumenten als Voraussetzung für seine Untersuchungen selbst konstruiert. 1905 erhielt Frank den Lehrstuhl für Physiologie in Gießen, wo er drei Jahre bis zum Tode seines Lehrers Voit blieb. In den folgenden Jahren in München sind dann seine Arbeiten über die elastischen Eigenschaften der Gefäße, zur Pulswellentheorie und sein Verfahren zur Bestimmung des Schlagvolumens beim Menschen entstanden. Insgesamt konnte Frank sein Forschungsgebiet mit einer seltenen Voll­ kommenheit bearbeiten. Zu seinen Schülern gehören Philipp Broemser (1886 - 1940) und Richard Wagner (1893 - 1970), die nacheinander seine Nach­ folger wurden, sowie u. a. Emil v. Skramlik (geb. 1886), der 1927 Ordinarius in Jena und 1950 an der Humboldt-Universität in Berlin wurde.

In einer Genealogie der Münchener Physiologie und Physiologischen Che­ mie muß auch Max. v. Pettenkofer, ungeachtet seines späteren und im Nach­ ruhm ganz auf die Hygiene ausgerichteten Wirkens, hier gebührend erwähnt

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werden. Die Schwierigkeiten einer Abgrenzung von Fächern und die sich daraus ergebende Notwendigkeit eines Wechsels von Fachgebieten gerade in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts braucht kaum begründet zu werden. Physiologie und Hygiene, Physiologische Chemie und Physiologie, aber auch die klinische Chemie überdeckten sich weitgehend bei denen, die diese Gebiete wissenschaftlich bearbeiteten. Pettenkofer, auf dessen Lauf­ bahn im übrigen hier nicht näher eingegangen werden soll, hatte 1843 bei Scherer in Würzburg und 1844 bei Liebig in Gießen seine schon in München während des Studiums und der Tätigkeit in der Hofapotheke erworbenen Chemiekenntnisse auf den Wissensstand der Zeit gebracht. Die Beschäftigung mit der physiologischen Chemie nahm ihn über Jahre hinweg fast ausschließ­ lich in Anspruch. Sie brachte ihm sogar eine außerordentliche Professur für medizinische Chemie in der Medizinischen Fakultät ein (1847), die 1852 in ein Ordinariat verwandelt wurde. Sein Verhältnis zu den Kliniken und seine Stellung als Lehrer geht aus einem Brief an Liebig aus dem Jahre 1849 hervor: „Meine Obliegenheit ist, sogenannte physiologische und patholo­ gische Chemie zu lesen und für die Kliniken die wohlbekannten trostlosen Angaben über Harn, Blut usw. zu machen.“ Zu dieser Zeit hatte jedoch bereits Pettenkofers Interesse eine neue Richtung erhalten, vielleicht we­ niger aus Unzufriedenheit mit den bisherigen Aufgaben als dadurch, daß ihm diesbezügliche Auftragsarbeiten zugefallen waren.

Philipp Broemser hatte sich 1918 bei Voit für Physiologie habilitiert und war 1925 als Ordinarius nach Basel berufen worden, von dort 1930 nach Heidelberg gegangen. Nach der Emeritierung Franks (1934) kehrte er nach München zurück und wurde sein Nachfolger. Er hat über Registriermetho­ den gearbeitet, sowie Kreislauf- und Nervenleitungsstudien angestellt. Von ihm stammen u. a. eine „Einführung in die Physik“ (1925), und die mono­ graphischen Veröffentlichungen „Nervenleitungsgeschwindigkeit. Ermüd­ barkeit und elektrotonische Erregbarkeitsänderungen der Nerven“ (1929) sowie „Anwendung mathematischer Methoden auf dem Gebiet der physiolo­ gischen Methodik“ (1930).

Nach Broemsers frühem Tode wurde der Lehrstuhl Richard Wagner über­ tragen, der ihn von 1941 bis 1965 innegehabt hat. Er konnte nach dem Kriege den in der Pettenkoferstraße 12 errichteten Institutsneubau 1949/51 be­ ziehen, der 1965 noch durch Hörsaal und Kursräume erweitert worden ist. Wagner hatte übrigens, bevor er nach München zurückkehrte, bereits an vier Universitäten sein Fach vertreten. Im Jahre 1929 hatte er den Lehrstuhl in Graz erhalten, 1932 den in Erlangen, zwei Jahre später war er nach Breslau berufen worden und 1938 nach Innsbruck. Schon früh hatte sich Richard

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Wagner mit dem Problem der Steuerung biologischer Prozesse beschäftigt und die „Rückkopplung als Ordnungsprinzip“ erkannt und dieser Ansicht zur Anerkennung verhülfen. Darüber hinaus stammen von ihm zahlreiche Arbeiten zur Kreislaufphysiologic und Muskelkoordination. Wagner gehörte seit 1940 der Leopoldina und seit 1948 der Bayerischen Akademie der Wissen­ schaften an, deren Präsident er von 1952 bis 1956 gewesen ist. Nach seiner Emeritierung übernahm Kurt Kramer (geb. 1906) die Nachfolge. Er hatte sich 1940 in Berlin habililiert, war 1944 Ordinarius in Marburg, 1955 in Göttingen gewesen. Ein zweiter Lehrstuhl wurde 1969 mit Klaus Thurau (geb. 1928) besetzt. Das Fach Physiologische Chemie ist seit 1920 nominell in München ver­ treten, zuerst durch Amandus Hahn (1889 - 1952), der seit 1920 als Privat­ dozent und seit 1924 als außerplanmäßiger Professor tätig war. 1942 wurde ein planmäßiges Extraordinariat für ihn geschaffen, 1946 erfolgte dann die Anhebung zum ordentlichen Lehrstuhl. Nach dem Tode Hahns erhielt das Fach dadurch einen besonderen Auftrieb, daß es gelang, Adolf Butenandt aus Tü­ bingen für München zu gewinnen. Butenandt war seit 1936 Direktor des Kai­ ser-Wilhelm-, später Max-Planck-Instituts für Biochemie in Berlin, dann von 1944 bis 1956 in Tübingen und seit 1952 gleichzeitig Lehrstuhlinhaber für Physiologische Chemie an der Universität Tübingen gewesen. Seine Über­ siedlung nach München erfolgte sowohl als Fachvertreter wie als Direktor des Max-Planck-Instituts für Biochemie. Dies war der Grund dafür, daß der Neubau, der in den Jahren 1954 bis 1957 für 8 Mill. DM errichtet wurde, beiden Instituten dient. Im Jahre 1953 gab Butenandt die Leitung des Insti­ tuts für Physiologische Chemie ab, behielt aber die des Max-Planck-Instituts für Biochemie sowie das ihm 1960 übertragene Amt des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft (bis 1971). Das jetzige Institut für Physiologische Chemie und Physikalische Biochemie steht seit 1963 unter Leitung von Theodor Bücher (geb. 1914), der aus Marburg berufen worden war, wo er das Fach bereits seit 1953 als Ordinarius vertreten hatte. Im Jahre 1967 konnten zwei weitere Lehrstühle mit Hans Georg Zachau (geb. 1930) und Martin Klingenberg (geb. 1928) besetzt werden. Pathologie

Die pathologische Anatomie reicht mit ihren Wurzeln in den Bereich der normalen Anatomie, vielfach auch hinsichtlich der Institute. Dort wurden die ersten pathologischen Befunde erhoben und veröffentlicht. Die soge­ nannten klinischen Sektionen, die seit dem 18. Jahrhundert immer nach­

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drücklicher gefordert wurden, lagen allerdings meist in den Händen von Krankenhausärzten, häufig also der behandelnden Ärzte selbst, die sich über die Todesursache unterrichten und die morphologischen Grundlagen des beobachteten Krankheitsgeschehens kennenlernen wollten.

In München gab es seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dafür die Universitätsprosektoren, die im Allgemeinen Krankenhaus die Leichenöffnungen ausführten. Zuerst arbeitete in dieser Eigenschaft ein Döllingerschüler, der Anatom Anton Förg, der auch Vorlesungen über patho­ logische Anatomie gehalten hat. Von 1848 bis 1854 war Carl Thiersch (1822 - 1895) Universitätsprosektor. Er war für Chirurgie habilitiert und ging 1854 als Ordinarius und Klinikdirektor nach Erlangen, 1867 nach Leipzig. Thiersch, einer der bedeutendsten Chirurgen des vorigen Jahrhunderts, ist in erster Linie durch die von ihm angegebene Technik der Hauttransplantation und plastische Operationsverfahren bekannt geworden. Als Thiersch München verließ, wurde Ludwig (v.) Buhl (1816 - 1880) Universitätsprosektor. Er hatte sich 1847 in München für physikalische Diagnostik, pathologische Anatomie und Mikroskopie habilitiert und war 1850 außerordentlicher Professor geworden. Im Jahre 1859 wurde er erster Ordinarius der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie an der Universität München, zehn Jahre nachdem in Würzburg der erste ordent­ liche Lehrstuhl des Faches in Deutschland mit Rudolf Virchow besetzt wor­ den war. Buhl war nicht nur ein tüchtiger Pathologe, sondern erfreute sich auch als Arzt großer Beliebtheit. Seinen Bemühungen ist die Errichtung eines eigenen Instituts zu verdanken, das für 165 000 fl. erbaut und 1875 eröffnet wurde. Es enthielt einen eigenen Hörsaal mit 150 Plätzen und u. a. einen Mikroskopiersaal mit 50 Plätzen. Es wurden Buhl auch bereits drei Assistentenstellen zur Verfügung gestellt, von denen eine mit Ernst Schwe­ ninger (1850 - 1924) besetzt war, dem späteren Leibarzt Bismarcks. Auch Hermann Tappeiner, der erster Lehrstuhlinhaber für Pharmakologie an der Münchener Universität geworden ist, gehörte zu den ersten Assistenten des Pathologischen Instituts. Buhl hat neben dem Unterricht in der pathologischen Anatomie auch Perkussions- und Auskultationskurse abgehalten. Unter seinen Arbeiten stehen die 1872 erschienene Monographie „Lungenentzündung, Tuberkulose und Schwindsucht“ und die „Mitteilungen aus dem Pathologischen Institut Mün­ chen“ (1877) im Vordergrund. Zusammen mit Pettenkofer und Voit hat er die „Zeitschrift für Biologie“ herausgegeben, in der er, ebenso wie in seinen Instituts-Mitteilungen, auch selbst eine Reihe von pathologisch­

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anatomischen Einzelbeobachtungen veröffentlicht hat. Nach dem Tode Buhls wurde Otto (v.) Bollinger (1843 - 1909) sein Nachfolger. Er hatte sich 1870 in München habilitiert und war nach Rückkehr aus dem Deutsch-Französischen Krieg Professor für pathologische Anatomie, Histologie und Physiologie an der Tierarzneischule in Zürich gewesen. 1874 war er als Ordinarius an die Tierarzneischule in München berufen worden. Bollinger hat dem Institut weitere Arbeitsgebiete erschlossen, u. a. bakteriologische Kurse eingeführt. Dafür wurde jeweils ein Assitenzarzt besonders ausgebildet. Inhaber dieser Stelle war u. a. auch Eugen Enderlen (1863 - 1940), der später Ordinarius der Chirurgie in Würzburg und Heidelberg wurde. Mehrere Assistenten des Münchener Pathologischen Instituts aus Bollingers Zeit haben Spitzen­ stellungen im Fach der pathologischen Anatomie erreicht, so u. a. Hans Schmaus (1862 - 1905), Siegfried Oberndorfer (1876 - 1944), Hermann Dürck (1869 - 1941), Robert Rössle (1876 - 1949) und Werner Hueck, der später selbst die Leitung des Instituts erhielt. Bollinger hat sich auch außerhalb der Universität für öffentliche Aufgaben zur Verfügung gestellt und war u. a. Mitglied des Obermedizinalausschusses und des Reichsgesundheitsrats. Unter seinen wissenschaftlichen Veröffent­ lichungen sind seine Studien über die Aktionomykose, deren Ursache er erkannt und beschrieben hat (1877), die Schrift „Über idiopathische Herz­ vergrößerung“ (1893), in der er Befunde mitgeteilt hat, die als „Münchener Bierherz“ in Ärztekreisen sehr populär wurden und sein „Atlas und Grund­ riß der pathologischen Anatomie“ (2 Bde., 1896/97) besonders hervorzuheben.

Als Kommissarischer Leiter stand der Prosektor Robert Rössle dem Insti­ tut vor, bis Max Borst (1869 - 1946) dem Ruf als neuer Lehrstuhlinhaber folgen konnte. Borst stammte aus Würzburg, war dort Assistent bei dem Virchowschüler Eduard Rindfleisch (1836 - 1908) gewesen und hatte sich 1897 auch an seiner Heimatuniversität habilitiert. Bereits in seiner Würz­ burger Zeit war seine bekannte zweibändige „Lehre von den Geschwülsten“ (1920) entstanden. Im Jahre 1904 wurde Borst ordentliches Mitglied des Lehrkörpers der Akademie für praktische Medizin in Köln und erhielt die Leitung der Prosektur im Bürgerspital. Er habilitierte sich an die Bonner medizinische Fakultät um, aus deren Kreis vier ordentliche Professoren gleichzeitig Lehrer an der Akademie mit dem gleichen Status wie Borst geworden waren. Die Kölner Akademie wurde im Herbst 1904 eröffnet und diente der Ableistung des praktischen Jahres für Mediziner mit abgeleg­ tem Staatsexamen, der allgemeinen ärztlichen Fortbildung, einer hoch­ qualifizierten Fachausbildung und dazu, die Krankenanstalten Kölns der medizinischen Forschung dienstbar zu machen. Im Jahre 1905 war Borst

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dann schon als Ordinarius nach Göttingen und 1907 als Nachfolger seines Lehrers Rindfleisch nach Würzburg berufen worden. Neben Arbeiten zur allgemeinen Pathologie hat Borst während seines ganzen Forscherlebens das in seiner ersten großen monographischen Ver­ öffentlichung behandelte Thema des Geschwulstwachstums weiterverfolgt. Bereits 1906 schrieb er „Das Wesen und die Ursachen der Geschwülste“. Im Lehrbuch von Aschoff hat er in acht Auflagen bis 1936 das Geschwulstkapitel bearbeitet, 1926 erschien die zusammen mit Hans Königsdorffer bearbeitete „Allgemeine Pathologie der malignen Geschwülste“. Seine „Pathologisch­ anatomischen Erfahrungen über Kriegsverletzungen“ (1917) stellen den literarischen Niederschlag von Borsts Tätigkeit als erster beratender Patho­ loge der bayerischen Armee dar. Seit 1915 hat er in dieser Stellung eine Fülle von wertvollen Präparaten aus Feldprosekturen zusammengebracht.

Als Borst 1921 einen Ruf an die Universität Leipzig ablehnte, wurde ihm der Neubau des Pathologischen Instituts zugestanden. Infolge der Wirt­ schaftslage, vor allem der Inflation und ihrer Nachwirkungen, konnte der Baubeginn jedoch erst im Jahre 1928 erfolgen. Borst hat über das neue Institut in einer kleinen, zusammen mit dem Architekten Th. Kollmann herausgegebenen Schrift ausführlich berichtet (1932). Am 17. Mai 1930 wurde die Tätigkeit in dem neuen, zweckmäßig eingerichteten und hervorragend ausgestatteten Gebäude aufgenommen. Bei dem schweren Luftangriff auf die Münchener Innenstadt am 7. Ja­ nuar 1945 wurde dieses Institut, das bis dahin nur geringe Schäden erlitten hatte, schwer getroffen und war dann zum größten Teil nicht mehr benutz­ bar. Der Wiederaufbau begann im Sommer 1945, und bereits im Frühjahr 1946 konnten im theoretischen Hörsaal wieder Vorlesungen stattfinden. Den vollen Wiederaufbau seines Instituts aber hat Borst nicht mehr erleben dürfen. Am 19. Oktober 1946 kam er bei einem Autounfall bei Murnau ums Leben.

Als Werner Hueck (1882 - 1962) im Herbst 1948 die Nachfolge antrat, war das Institut wieder baulich weitgehend in Ordnung, auch die Innenarbeiten standen vor dem Abschluß. Hueck hatte sich 1912 unter Borst in München habilitiert, war 1919 dem Ruf auf den Lehrstuhl in Rostock gefolgt und 1921 Nachfolger Marchands in Leipzig geworden. Huecks wissenschaftliches Werk ist weitgehend morphologisch ausgerichtet und deckt ein breites Feld. So hat er u. a. Arbeiten zur Histologie der Milz, über den Schneeberger Lungen­ krebs, über Pigmente (1952), Mammakarzinome und die Genese rheumati­ scher Erkrankungen veröffentlicht. Seine „Morphologische Pathologie“ er­ schien 1937 (3. Aufl. 1953, span. 1944).

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Unter dem Direktorat von Hueck konnten schließlich alle Kriegsschäden im Institut beseitigt werden, auch die Abgrenzung vom Gerichtsmedizini­ schen Institut wurde bis auf einige auch weiterhin gemeinsam benutzte Räume vollzogen. 1956 wurde Hueck emeritiert, im gleichen Jahr Walter Büngeler (geb. 1900) berufen. Büngeler hatte sich 1929 in Frankfurt bei Bernhard Fischer-Wasels habili­ tiert, war 1934 nach Danzig gegangen, wo 1935 die Staatliche Akademie für praktische Medizin eröffnet worden war, an der er sein Fach vertreten hatte. Von 1936 bis 1942 war er Leiter der Pathologischen Abteilung des Lepra-Forschungsinstituts in Sao Paulo (Brasilien) und Professor an der Escola Paulista de Medicina gewesen und hatte dann den Lehrstuhl in Kiel bekommen. In München gelang es Büngeler, das Institut weiter auszubauen. Schon bald wurde eine Abteilung für experimentelle Pathologie eingerichtet, 1957 eine für Elektronenmikroskopie. Diese Abteilung untersteht seit 1961 Fritz Miller (geb. 1913) als außerordentlichem Professor, im Jahre 1967 wurde er zum Ordinarius ernannt. Eine Abteilung für Neuropathologie kam 1965 hinzu, deren Leitung Otto Stochdorph (geb. 1914) erhielt, der be­ reits seit 1961 als Universitätsdozent am Institut tätig war. Stochdroph ver­ tritt die Neuropathologie seit 1965 als außerordenlicher Professor, seit 1969 als Ordinarius. Das wissenschaftliche Werk von Büngeler weist bei großer Vielseitigkeit einige besondere Schwerpunkte auf, wie Blutkrankheiten, maligne Ge­ schwülste und Geschwulstwachstum, Entzündung und Infektion, schließlich neben der Lepra die Tropenkrankheiten und die Tuberkulose. Außer einigen Monographien zeugen davon Beiträge zu Sammelwerken und eine große Zahl von Zeitschriftenpublikationen.

Seitdem Walter Büngeler 1969 emeritiert wurde, ist Max Eder (geb. 1926) Direktor des Instituts und Inhaber des Lehrstuhls. Er ist aus dem Institut hervorgegangen, hat sich 1956 in München habilitiert und war 1966 als Ordinarius nach Köln berufen worden.

Rechtsmedizin Auch die forensische Medizin, im 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts auch unter der Bezeichnung Staatsarzneikunde, ist bereits in Ingolstadt und Landshut Unterrichtsgegenstand gewesen. Bereits im Wintersemester 1801 wurde eine Vorlesung über Gerichtsmedizin für Jura- und Medizinstudenten gehalten. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ist Unterricht in gericht­ licher Medizin von mehreren, sogar bis zu sechs Mitgliedern des Lehrkörpers 15

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der Medizinischen Fakultät gehalten worden. Schließlich waren es aber vor allem Ernst Buchner (1812 - 1872), Aloys Martin (1818 -1891) und Anton Kranz. Buchner, der 1869 außerordentlicher Professor für gerichtliche Medi­ zin wurde, ist als Verfasser eines „Lehrbuchs der gerichtlichen Medizin für Ärzte und Juristen“ (1867, 2. Aufl. 1872) hervorgetreten. Martin war Stadt­ gerichtsarzt, wurde 1860 Honorarprofessor und 1876 außerordentlicher Pro­ fessor. Von ihm stammen der „Hauptbericht“ (1857) über die Choleraepide­ mie von 1854 und das zweibändige Werk „Das Civil-Medicinalwesen im Königreich Bayern“ (1883/84). Anton Kranz war Landgerichtsarzt in Mün­ chen und wurde später Honorarprofessor.

Seit Wintersemester 1884/85 hielt der 1880 für Chirurgie habililierte Otto Messerer (1853 - 1932) Vorlesungen über Gerichtsmedizin. Seine Sammlung von Skeletteilen, an denen er Knochenbruchexperimente durchgeführt hatte, bildeten den Grundstock der Sammlung gerichtsmedizinischer Präparate des späteren Instituts. Nachdem Messerer 1887 Landgerichtsarzt in München geworden war, konnte er aus den bei gerichtlichen Sektionen angefallenen Materialien die Sammlung wesentlich bereichern. Als er 1891 zum plan­ mäßigen Extraordinarius für gerichtliche Medizin ernannt wurde, überließ er seine gesamten Präparate der Universität. Im Jahre 1898 wurde Messerer Kreismedizinalrat von Oberbayern und gab nun sein Lehramt auf, als Honorarprofessor blieb er jedoch der Fakultät verbunden. Sein Nachfolger als Landgerichtsarzt wurde Moritz Hofmann (1842 - 1910), der dieses Amt bereits in Nürnberg bekleidet hatte. Er wurde im Jahre 1900 Extraordina­ rius für das Fach. Seine Vorlesungen hielt er im Hygienischen, die Sektions­ übungen im Pathologischen Institut. Als Hofmann 1909 aus Gesundheits­ gründen seine Ämter niederlegte, wurde auf Vorschlag der Fakultät Max Richter (1867 - 1932) aus Wien berufen.

Richter war lange Jahre Assistent am Gerichtlich-medizinischen Institut der Universität Wien gewesen und verfügte aus dieser Tätigkeit über große praktische Erfahrungen. Er hatte sich 1901 für gerichtliche Medizin habili­ tiert und war 1907 außerordentlicher Professor geworden. Für seine Be­ rufung nach München hatte sich vor allem der Hygieniker Max v. Gruber eingesetzt. Richter bekam eigene Institutsräume im Gebäude der Alten Anatomie zugewiesen, die dort durch Fertigstellung des Neubaus zur Ver­ fügung gestellt werden konnten. Dem Entgegenkommen seines Lehrers, des Vorstands des Wiener Instituts Alexander Kolisko (1857 - 1918), verdankte Richter die Überlassung zahlreicher Präparate für die Sammlung des neuen Instituts. Richter wurde bei seiner Berufung auch bereits eine Assistentenund eine Institutsdienerstelle bewilligt.

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Im Jahre 1914 legte Richter sein Amt nieder und eröffnete eine ärztliche Praxis. Das planmäßige Extraordinariat erhielt im gleichen Jahr Hermann Merkel (1873 - 1957), der sich 1903 in Erlangen als Assistent am Pathologi­ schen Institut für pathologische Anatomie und gerichtliche Medizin habili­ tiert hatte. Er hatte 1909 den Titel eines außerordentlichen Professors und 1912 ein planmäßiges Extraordinariat erhalten. Seine Amtsübernahme in München veranlaßte eine weitere Vergrößerung des Instituts im gleichen Gebäude. Merkel, der 1933 zum ordentlichen Professor ernannt worden war, blieb über seine Emeritierung hinaus bis 1945 im Amt. Nach der totalen Zerstörung des Instituts im Zweiten Weltkrieg mußte bei der Wiederbesetzung des Lehrstuhls auch eine neue Institutsunterkunft bereitgestellt werden. Dies wurde im Zuge des Wiederaufbaus des Patholo­ gischen Instituts 1946/47 möglich, wobei das Gerichtsmedizinische Institut Räume im Nordteil des Gebäudes erhielt. 1947 konnte Wolfgang Laves (geb. 1899), der seit 1934 Extraordinarius in Graz gewesen war, die Leitung des Instituts übernehmen unter Ernennung zum Ordinarius. Nach seiner Emeri­ tierung im Jahre 1967 wurde der jetzige Lehrstuhlinhaber Wolfgang Spann (geb. 1921) berufen. Er steht seit 1969 dem Institut vor, das jetzt die Be­ zeichnung „für Rechtsmedizin“ führt. Spann hatte sich 1956 in München für das Fach habilitiert und 1966 den Lehrstuhl in Freiburg erhalten.

Hygiene und Mikrobiologie

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts setzte sich die Auffassung durch, daß man nicht allein mit den Maßnahmen der sogenannten „medicinischen Policey“, also durch administratives und organisatorisches Vorgehen die Aufgaben der öffentlichen und privaten Gesundheitsfürsorge lösen könne, sondern sich vielmehr neuer naturwissenschaftlicher und technischer Metho­ den bedienen müsse. Max (v.) Pettenkofer (1818-1901) in München kommt das Verdienst zu, diesen Weg zielbewußt und erfolgreich beschritten und die Fundamente einer modernen naturwissenschaftlichen Hygiene gelegt zu haben. So ist die Entwicklung des Fachs Hygiene ganz allgemein, erst recht aber in lokalhistorischer Betrachtung mit seinem Namen und seinem wissen­ schaftlichen Werk untrennbar verbunden. Bereits als Professor der medizi­ nischen Chemie hat Pettenkofer Vorlesungen über „Medizinische Polizei“, „Medizinalpolizei mit Berücksichtigung der physikalischen und chemischen Grundlagen der Gesundheitspflege“ und „Physikalische und chemische; Grundsätze der Diätetik als Teil der Medizinalpolizei“ gehalten. Die Cholera15*

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epidemie von 1854 veranlaßte ihn, der seit 1849 bereits dem Obermedizinal­ ausschuß angehörte, zu eingehenden Untersuchungen über die Verbreitung dieser Seuche, an der er übrigens als einer der ersten in München erkrankte. Aufgrund sorgfältiger Erhebungen über Lage und Beschaffenheit der Häu­ ser, in denen Erkrankungen aufgetreten waren, kam er zu der Auffassung, nicht in der allgemeinen Verschmutzung, sondern in der Verunreinigung von Böden bestimmter Beschaffenheit die wesentliche Ursache für das epide­ mische Auftreten zu sehen. Dem Krankheitsstoff selbst schrieb er chemische Natur zu, eine für ihn als Chemiker naheliegende Meinung. In seinen „Unter­ suchungen und Beobachtungen über die Verbreitungsart der Cholera“ (1855), im „Hauptbericht über die Choleraepidemie von 1854 in Bayern“ (1857) sind seine Feststellungen und Ansichten niedergelegt. Die Cholerafrage hat ihn auch später nicht ruhen lassen, wie seine Arbeiten „Zum gegenwärtigen Stand der Cholerafrage“ (1867), „Boden und Grundwasser in ihren Beziehun­ gen zu Cholera und Typhus“ (1869) und „Verbreitungsart der Cholera in Indien“ (1871) bestätigen, aber auch Pettenkofers Ernennung zum Vorsitzen­ den der Cholerakommission des Deutschen Reiches (1873) und seine Teil­ nahme als deutscher Delegierter an der Cholerakonferenz in Wien, schließ­ lich die bekannten Auseinandersetzungen zwischen seiner lokalistischen Auffassung mit der kontagionistischen der Bakteriologen um Robert Koch, die bis zu dem berühmten Selbstversuch mit einer frischen Cholerabazillen­ kultur führten.

Im Jahre 1861 legte Pettenkofer eine „Denkschrift über die ungenügenden Zustände der Medicinalpolicey“ vor, die jedoch ohne Auswirkungen blieb. Drei Jahre später gelang es ihm durch persönliche Intervention bei König Ludwig II., die Einrichtung von Lehrstühlen für Hygiene zu erreichen. 1865 wurde er selbst in München Ordinarius des neuen Fachs, jedoch erst 1872, nachdem er einen Ruf an die Wiener Universität erhalten hatte, wurde ihm auch ein eigenes Institut für sein Verbleiben in München zugestanden. Es wurde 1879 eingeweiht und war bald die auch von Ausländern hochge­ schätzte Aubildungsstätte für die neue Experimentalhygiene. Pettenkofer hat sein Institut 1882 in der Schrift „Das hygienische Institut“ eingehend geschildert.

Zusammen mit seinen Schülern, von denen viele wirksam am Aufbau des Faches mitgearbeitet haben, hat Pettenkofer die Einflüsse der Umwelt, die Bedeutung von Wohnung und Klima, Beleuchtung, Heizung, Wasser, Boden und Luft, Nahrungsstoffen und Abfällen für die menschliche Gesundheit untersucht. Die Hygiene im Sinne Pettenkofers sollte exakte Grundlagen für vorbeugende und gesundheitspolitische Maßnahmen bieten. Sie ist von

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den Vertretern dieser Wissenschaft, Zeitgenossen und Nachfahren, zu dem entwickelt worden, was heute in den populären Begriff „Umweltschutz“ umzumünzen versucht wird.

Die mit der Hygiene seit den achtziger Jahren verbundene Mikrobiologie, damals die Bakteriologie Robert Kochs, hielt in München durch Vorlesun­ gen von Hans Buchner (1850 - 1902) Einzug, der erstmals im Sommersemester 1881 die „Ätiologie der Infektionskrankheiten auf Grundlage der neueren Ergebnisse der Pilzforschung, mit mikroskopischen Demonstrationen der wichtigsten Spaltpilzformen“ behandelt hat. Diese Unterrichtsveranstal­ tung mußte im Physiologischen Institut abgehalten werden. Pettenkofer hat neben Enttäuschungen, die bei einem Wissenschaftler in Zeiten stürmischer Entwicklung nicht ausbleiben, Erfolg und Anerkennung in reichstem Maße erfahren. Als Rektor der Universität (1864/65), durch Verleihung des erblichen Adels (1883) und des Titels Exzellenz, die Wahl zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften (1890 - 99), als Ehrenpräsident des Internationalen Hygienekongresses (1891), zahlreiche Ehrendoktorate und hohe Orden wurde der Schöpfer der modernen Hygiene geehrt und ihm Dank bekundet. Daß sein Leben durch eigene Hand erlosch, war bestürzend für seine Freunde und die Zeitgenossen.

Als Max v. Pettenkofer emeritiert worden war (1894), wurde Hans Buch­ ner sein Nachfolger. Der gebürtige Münchener war 1873 nach der Approba­ tion als Arzt in das Sanitätskorps der Bayerischen Armee eingetreten und bis zur Berufung auf das Ordinariat aktiver Militärarzt gewesen. Im Jahre 1880 hatte er sich in München habilitiert und war 1892 Extraordinarius ge­ worden. Buchner war Schüler und überzeugter Anhänger des Botanikers Carl Wilhelm (v.) Naegeli (1817 -1891), der seit 1857 das Fach in München vertrat. Naegeli und mit ihm Buchner standen mit ihren Ansichten im Ge­ gensatz zu Robert Koch. 1877 hatte Naegeli in der Schrift „Die niederen Pilze in ihren Beziehungen zu den Infectionskrankheiten und der Gesund­ heitspflege“ den Standpunkt vertreten, daß „Spaltpilze nicht als Species“ angesehen werden dürften und ihre besonderen Formen und Eigenschaften lediglich auf Anpassung oder Schädigung durch „Krankheits- oder Zerset­ zungsstoffe“ zurückzuführen seien. Buchner hat diese These in seiner im gleichen Jahr erschienenen Arbeit „Die Naegelische Theorie der Infections­ krankheiten in ihren Beziehungen zur medicinischen Erfahrung“ gestützt. Der „Kreisphysikus Dr. Koch in Wollstein“ hat ebenfalls 1877 in Form einer Besprechung beider Schriften dazu Stellung genommen und Naegelis An­ sichten verworfen.

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Auch andere Veröffentlichungen Buchners stehen in Beziehung zu Naegelis Lehren, so die Arbeit über „Die experimentelle Erzeugung des Milzbrandcontagiums aus den Heupilzen“ (1880). Später hat er sich u. a. mit Studien über die natürliche Resistenz gegen Infektionskrankheiten beschäf­ tigt. 1889 beschrieb er die Alexine, die mit dem von Paul Ehrlich beschrie­ benen Komplement identisch sind.

Nach Buchners Tod wurde Max (v.) Gruber (1853 - 1927) auf den Lehr­ stuhl berufen. Gruber stammte aus Wien und war dort bereits als Student auch am Chemischen Institut tätig gewesen. Seine Ausbildung als Hygieni­ ker hatte er in München erfahren, wo er bei Pettenkofer, Voit und Naegeli Assistent gewesen war. Anschließend hatte er bei Carl Ludwig (1816 - 1895) in Leipzig gearbeitet, um in den beispielhaften Laboratorien des dortigen Physiologischen Instituts seine experimentellen Kenntnisse zu erweitern. In Wien hatte sich Gruber 1882 für Hygiene habilitiert, war 1887 Ordinarius in Graz, vier Jahre später in Wien geworden. Gruber hat in München bis 1925 dem Institut vorgestanden, emeritiert wirkte er als Präsident der Aka­ demie der Wissenschaften bis zum Tode. Das wissenschaftliche Werk Grubers umfaßt alle Gebiete der Bakteriologie und der Immunologie sowie der Hygiene. Als Mitentdecker der spezifischen Agglutination lebt sein Name fort in der „Gruber-Widalschen Reaktion“ (1896). Auf dem Gebiet der Sozial­ hygiene ist er durch Beiträge zur Wohnungs- und Siedlungsreform hervor­ getreten, hat sich mit der Schul- und Sexualhygiene sowie Fragen der Ver­ erbung und Rassenhygiene befaßt. Gruber war außerdem auch als Biograph bedeutender Vertreter seines Faches, wie Pasteur (1896) und Pettenkofer (1904) tätig. Nachfolger Max v. Grubers wurde Karl Kisskalt (1875 - 1962). Er hatte seine Ausbildung in den Jahren von 1899 bis 1912 als Assistent und Abtei­ lungsleiter an den Hygienischen Instituten in Würzburg, Gießen und Berlin erhalten und sich 1906 bei Carl Flügge in Berlin habilitiert. 1912 war er Ordinarius in Königsberg, 1917 in Kiel und 1924 in Bonn geworden. Er hat dem Münchner Institut ein Viertel] ahrhundert vorgestanden und von 1944 bis zu seinem Ausscheiden nach der totalen Zerstörung des Gebäudes unter schwierigsten Verhältnissen den Betrieb weitergeführt. Von seinen zahl­ reichen Arbeiten hat sein „Praktikum der Bakteriologie“ (1. Aufl. 1907) nicht nur zahlreiche deutsche Auflagen, sondern auch mehrere Übersetzungen erlebt. Was Kisskalt als Forscher und Lehrer bedeutet hat, zeigen aber vor allem seine „Einführung in die Medizinalstatistik“ (1919) und seine viel beachtete Methodenlehre medizinischer Forschung, die 1942 unter dem Titel „Theorie und Praxis der Medizinischen Forschung“ erschienen ist. Auch

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dabei kamen ihm seine ausgezeichneten historischen Kenntnisse zugute. Von ihm stammt übrigens gleichfalls eine besonders gelungene Biographie seines Lehrstuhlvorgängers Pettenkofer (1948).

Lehrstuhl und Institutsleitung gingen 1950 in die Hände von Hugo Braun (1881 - 1963) über, der aus Istanbul nach Deutschland zurückkehrte. Braun, der aus Prag stammte, hatte sich 191'6 in Frankfurt habilitiert und war dort 1918 Extraordinarius mit einem Lehrauftrag für Immunitätslehre und Ab­ teilungsvorstand am Hygiene-Institut gewesen. 1933 war er in die Türkei emigriert. Unter seinen Veröffentlichungen sind „Die Methoden der tier­ experimentellen Wundinfektionen“ (1927) und die „Methoden zur Unter­ suchung des Verwendungsstoffwechsels pathogener Bakterien“ (1930) wich­ tig, seinen Namen trägt die Braun-Huslersche Reaktion (1912). Braun hat sieben Jahre lang unter größter Beschränkung den Institutsbetrieb weiter­ geführt.

Erst seinem Nachfolger Hermann Eyer (geb. 1906), der 1957 dem Ruf nach München Folge leistete, wurden die Mittel für den Neubau des Instituts­ gebäudes zur Verfügung gestellt, das seit seiner feierlichen Eröffnung am 7. Juli 1961 den Namen Pettenkofers trägt. Eyer hatte sich 1936 in Erlangen habilitiert und war seit 1946 Ordinarius und Institutsdirektor an der Uni­ versität Bonn gewesen. Pharmakologie

Im Jahre 1871 erfolgte in München die erste Habilitation für das Fach Pharmakologie. Hermann v. Boeck (1843 - 1885) hatte aus diesem Anlaß die Ergebnisse seiner „Untersuchungen über die Zersetzung des Eiweißes im Tierkörper unter dem Einfluß von Morphium, Chinin und arseniger Säure“ vorgelegt. Er hatte in München studiert, war 1868 Assistent bei Lindwurm in der Abteilung für Hautkrankheiten geworden und ein Jahr später mit einer Arbeit über die Anwendung von Quecksilber und Jod in der Medizin und deren Einfluß auf die Eiweißkörper des Menschen zum Doktor der Medizin promoviert worden. Nach einer Studienreise nach Berlin und Wien ließ sich Boeck 1870 in München nieder. Neben seiner Praxis widmete er sich pharmakologischen Studien, nach der Erlangung der Venia legendi übte er eine erfolgreiche Lehrtätigkeit aus. Zusammen mit J. Bauer hat er 1874 über den Gasaustausch bei Tieren nach Verabreichung von Morphium, Chinin, Alkohol und Digitalis geschrieben. In Ziemssens Handbuch ist sein Beitrag über Vergiftungen durch pflanzliche Wirkstoffe erschienen. Im Jahre 1876 wurde Boeck zum Extraordinarius ernannt, eine Planstelle an der Uni­ versität hat er allerdings nicht bekommen, nach wie vor blieb die ärztliche

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Praxis seine Existenzgrundlage. Ein chronisches Leberleiden, das bereits viele Jahre lang seine Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt hatte, setzte seinem Leben ein frühes Ende. Dem zweiten Vertreter des Faches wurde eine eigene Institution mit einem Ordinariat zugestanden. Hermann Tappeiner Edler von Tappein (1847 -1927) war in Meran als Sohn des bekannten Anthropologen Franz Tappeiner (1816 - 1902), der 1874 in den Adelsstand erhoben worden war, zur Welt gekommen. Er hatte in Innsbruck, Göttingen, Leipzig, Heidelberg und Tü­ bingen studiert, in Leipzig 1872 die Doktorwürde erhalten. Fünf Jahre später habilitierte er sich in München für medizinische Chemie. Tappeiner wurde 1879 Professor für Physiologie an der Münchener Tierarzneischule, 1884 Extraordinarius für medizinische Chemie an der Universität und 1893 ordentlicher Professor für Pharmakologie sowie Leiter des neu errichteten Instituts für experimentelle Pharmakologie in der Nußbaumstraße. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen auf den Gebieten der Physiologie und Pharmakologie haben die Arbeiten über die Wirkung der Muzilaginosa, die Wasser- und Zuckerresorption im Magen, das Verhalten des Fluor­ natriums im Organismus und die Abführmittel besondere Beachtung ge­ funden. Durch gemeinsam mit seinen Mitarbeitern (u. a. Oscar Raab) durch­ geführte Untersuchungen über die Sensibilisierung von Zellen gegen sicht­ bare Strahlen durch bestimmte Stoffe wurde die Lehre von der Fotodynamik begründet. Große Verbreitung erlangte seine „Anleitung zu chemisch­ diagnostischen Untersuchungen am Krankenbette“ (1885, 11. Aufl. 1920, auch engl. und franz. Übers.) sowie sein „Lehrbuch der Arzneiverordnungs­ lehre“ (1890, 15. Aufl. 1920). Im Handbuch der biologischen Arbeitsmetho­ den erschien 1923 Tappeiners Beitrag „Methoden beim Arbeiten mit sensi­ bilisierenden fluoreszierenden Stoffen“. Im Alter von 72 Jahren wurde Hermann v. Tappeiner 1923 emeritiert. Sein Nachfolger wurde Walther Straub (1874 - 1944), unter dem das Mün­ chener pharmakologische Institut eine führende Stellung im deutschen Sprachgebiet erlangte. Straub war in Augsburg geboren, hatte in München, Straßburg und Tübingen studiert und 1898 in München promoviert. Als Assistent am Leipziger pharmakologischen Institut, das seit 1884 unter der Leitung von Rudolf Boehm (1844 - 192'6) stand, habilitierte er sich im Jahre 1900. Bereits vier Jahre später erhielt er das Extraordinariat in Marburg, 1905 den ordentlichen Lehrstuhl in Würzburg. Im Jahre 1907 folgte er dem Ruf nach Freiburg und kam 1923 schließlich nach München.

Straub hat durch seine Arbeiten über die Wirkung der Digitalisglykoside, wobei er sich des mit seinem Namen verknüpften Froschpräparats bediente,

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und Untersuchungen über die Wirkung von Laxantien am freigelegten Darm des Versuchstieres wertvolle Beispiele für die klinisch-praktische Nutz­ anwendung der pharmakologischen Forschung geliefert. Damit hat er ganz erheblich zur Anerkennung des Faches in der breiten Ärzteschaft beigetra­ gen. Der Nutzen seiner Untersuchungen für die pharmazeutische Industrie verschaffte ihm auch in diesen Kreisen Einfluß. So erlangte Straub eine bis dahin für einen Vertreter eines medizinisch-theoretischen Faches unge­ wöhnliche Prominenz. Straub ist sich dieser Stellung bewußt gewesen und hat sie sowohl für das Fach als auch sein Institut und nicht zuletzt zur Be­ hauptung in den Jahren nach 1933 erfolgreich ausgenutzt. Ausgezeichnete Mitarbeiter kamen in diesen Jahren an das Münchener Institut, u. a. auch der spätere Nachfolger im Amt August Wilhelm Forst (geb. 1890). Die lapidaren Worte, mit denen Straub selbst 1926 in der Jahrhundert­ chronik („Die wissenschaftlichen Anstalten der Ludwig-Maximilians-Uni ­ versität zu München“) die Situation der Pharmakologie in München geschil­ dert hat, insbesondere seine Meinung über das Institutsgebäude, sind auf­ schlußreich. „Die solide Bauart verhinderte eine das Niederreißen recht­ fertigende Abnützung, die Einengung des Grundstücks durch nachträglich entstandene Mietshäuser in der nächsten Umgebung ließ die inzwischen nötig gewordene Erweiterung nicht zu, der unübersichtliche Bauplan ist für die Benützer des Hauses eine Quelle ständigen Verdrusses.“ Positiv ver­ merken konnte er lediglich, daß das Institut bei seinem Amtsantritt mit elektrischen Beleuchtungsanlagen ausgestattet worden war. Die dringend benötigten Räume bekam das Institut 1930 in dem benach­ barten Gebäude, in dem bis dahin das Pathologische Institut untergebracht war. Beide Häuser wurden durch die „Straubsche Brücke“ miteinander ver­ bunden. Aber auch die weitgehende Zerstörung der Institutsgebäude im Zweiten Weltkrieg hat Straub noch erleben müssen.

Im Jahre 1946 trat August Wilhelm Forst die Nachfolge an. Er hatte sich nach dem Studium der Medizin und der Chemie als Assistent von Straub 1928 in München habilitiert. Seine Untersuchungen über den Entgiftungs­ mechanismus der Blausäure, zur Pharmakologie des zentralen und vegeta­ tiven Nervensystems und in jüngster Zeit sein großer Handbuchbeitrag über den Abbau von Arzneimitteln (1966) kennzeichnen die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Forst hat den im ehemaligen Pathologiegebäude befindlichen Institutsteil in den noch erhaltenen Grundmauern wieder aufbauen lassen und damit die Wiederaufnahme von Unterricht und Forschung ermöglicht. Auch nach

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seiner Emeritierung hat er sich nicht von der wissenschaftlichen Arbeit zurückgezogen und nach wie vor einen Arbeitsplatz im Institut beibehalten. Im Jahre 1961 folgte Manfred Kiese (geb. 1910) dem Ruf auf den Münche­ ner Lehrstuhl. Er hatte sich in Berlin bei Wolfgang Heubner 1940 habilitiert, war in den ersten Nachkriegsjähren an der Universität Kiel tätig gewesen bis er 1950 dem Ruf auf das Marburger Ordinariat folgte. 1956 hatte Kiese dann den Lehrstuhl in Tübingen übernommen. Mit seiner Berufung nach München war der Neubau des Instituts verbunden, das an alter Stelle nach moderner Konzeption errichtet worden ist. Nach insgesamt sechsjähriger Bauzeit stehen seit 1969 sowohl das neue Institutsgebäude zur Verfügung als auch ein Hörsaalneubau mit 420 Plätzen und das ausgebaute Kellerge­ schoß des Altbaues, der mit dem neuen Institutsgebäude funktionell ver­ bunden wurde.

Geschichte der Medizin Medizinhistorische Vorlesungen sind bereits in den Lehrplänen der Ingolstädter Zeit nachweisbar. In München hat der Leiter der Inneren Poli­ klinik Richard May (1863 - 1936) seit 1911 ein planmäßiges Extraordinariat für Innere Medizin und Geschichte der Medizin bekleidet. Nach ihm hat Hermann Kerschensteiner (1873 - 1937), auch er war Internist und seit 1908 in leitender Stellung am Krankenhaus Schwabing tätig, der sich als Mün­ chener Krankenhaushistoriker hervorgetan hat, Vorlesungen über Ge­ schichte der Medizin gehalten. Erst durch Martin Müller (1878 - 1960) ist ein eigenes Institut entstanden. Er hatte sich 1929 in München für Geschichte der Medizin habilitiert und war seitdem erfolgreich im Unterricht tätig. Im Jahre 1939 wurde ihm ein planmäßiges Extraordinariat übertragen. Friedrich v. Müllers freundschaftlichem Beistand verdankte er die Mittel zum Aufbau eines Instituts im Hause Lessingstraße 2, Teil des Gebäudes, in dem bereits die Medizinische Lesehalle untergebracht war. Eine Schenkung des Herausgeberkollegiums der Münchener Medizinischen Wochenschrift bot den finanziellen Grundstock für die Neugründung. Eifrig war Müller be­ müht, die Bibliothek durch Schenkungen und Nachlässe zu erweitern. So kamen wertvolle Stücke aus dem Besitz Friedrich v. Müllers, Leo v. Zum­ buschs und Hermann Kerschensteiners in den Besitz des Instituts. Martin Müllers wissenschaftliches Interesse war vielseitig. Sein allgemeinverständ­ licher Überblick über die Entwicklung der Medizin „Wege der Heilkunst“ (1937, 2. Aufl. 1948) und der von ihm bearbeitete Registerband zur SudhoffAusgabe der Schriften des Paracelsus (1960), dessen Erscheinen er nicht

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mehr erlebt hat, geben aufschlußreichen Einblick in seine Arbeitsweise und seine Einstellung zum Arztberuf. Martin Müller wurde 1953 emeritiert, im gleichen Jahr Werner Leib­ brand (geb. 1896) aus Erlangen berufen. Leibbrand, der aus der praktischen Psychiatrie kommt und diesem Fach auch in seiner wissenschaftshistorischen Arbeit vorwiegend verbunden geblieben ist, war seit 1945 Direktor der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt gewesen und 1946 Honorarprofessor für Geschichte der Medizin geworden. In München wurde er 1958 zum persön­ lichen Ordinarius ernannt. Nach seiner Emeritierung blieb er kommissa­ rischer Vorstand des Instituts bis Gernot Rath (1919 - 1967) Ende November 1966 den Lehrstuhl übernahm, der mit seiner Berufung zum planmäßigen Ordinariat erhoben worden war. Rath hatte sich 1956 in Bonn habilitiert, war 1959 und 1960 Gastprofessor in Madison/Wisconsin gewesen, 1961 hatte er den ordentlichen Lehrstuhl in Göttingen übernommen und dort ein Institut aufgebaut. Nur zehn Monate hat Rath in München tätig sein dür­ fen, unerwartet verstarb er nach einem Krankenlager von wenigen Tagen an einer akuten Leukämie.

Wiederum übernahm Werner Leibbrand kommissarisch die Institutslei­ tung und die Unterrichtsverpflichtungen, bis Ende 1969 Heinz Goerke (geb. 1917) die Nachfolge antreten konnte. Er hatte seit 1962 den ordentlichen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin innegehabt und das dortige Institut aufgebaut. Die mit seiner Berufung verbundene Stellenvermehrung war Anlaß zu einer Vergrößerung des Instituts, die durch Anmietung von Räumen in der Pettenkoferstraße 35 ermöglicht worden ist. Chirurgie Seit Verlegung der Universität nach München sind in diesem Fach bis in die Gegenwart Namen als Inhaber des Lehrstuhles und als Klinikdirektoren zu verzeichnen, die mit bedeutenden Fortschritten der operativen Medizin verknüpft sind. Bereits seit 1813 war Andreas Koch (1775 - 1846) als chir­ urgischer Oberarzt im Allgemeinen Krankenhaus tätig, 1824 war er ärzt­ licher Direktor des Krankenhauses geworden. Mit dem Übergang der Klini­ ken des Allgemeinen Krankenhauses in die Nutzung der nach München ver­ legten Fakultät wurde Koch, der bereits Professor der Chirurgie an der Landärztlichen Schule gewesen war, in gleicher Eigenschaft in den Dienst der Universität übernommen. Koch hatte an der Universität in Landshut studiert und dort 1801 promoviert. Schon weniger als ein Jahr nach der Übersiedlung der Universität wurde Koch aus dem Dienst entlassen, ein

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Vorgang der zu ernsten Konflikten zwischen der Regierung und dem Mün­ chener Magistrat führte. Sein Nachfolger wurde Philipp Wilhelm (1798 1840), der sehr wahrscheinlich an der Amtsenthebung Kochs nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte. Wilhelm stammte aus Würzburg, hatte dort studiert und 1820 die Doktorwürde erworben. Nach längeren Auslandsaufenthalten, u. a. in Paris und Kopenhagen, hatte er sich 1822 in Würzburg habilitiert und war zwei Jahre später neben Koch Professor der Chirurgie an der Land­ ärztlichen Schule in München geworden. Aber auch Wilhelm, der als tüch­ tiger Operateur gerühmt wurde, war nur drei Jahre im Amt.

Nun wurde Philipp Franz v. Walther berufen, der bereits in der Lands­ huter Zeit von 1804 bis 1818 der Universität angehört und 1811 auch das Rektoramt bekleidet hatte. Walther war dann dem Ruf nach Bonn gefolgt und hatte dort als Lehrer, praktischer Chirurg und durch seine Veröffent­ lichungen viel Anerkennung gefunden. Er zählte zu den großen Chirurgen seiner Zeit und hatte auch über die Grenzen Deutschlands einen guten Namen. Seine Tätigkeit in München stand leider unter keinem guten Stern, unbefriedigend waren die Arbeitsbedingungen, die Zahl der Patienten und damit der Umfang der operativen Tätigkeit war gering. Auf jeden Fall war Philipp Franz v. Walther neben Ignaz Döllinger das hervorragendste Mit­ glied der Medizinischen Fakultät dieser Zeit. Seine Vorlesungen und sein klinischer Unterricht waren so berühmt, daß Studenten nur deswegen nach München kamen. Die ungünstigen Bedingungen, die das Krankenhaus hin­ sichtlich der Ausübung chirurgischer Tätigkeit bot, veranlaßten ihn schließ­ lich, die Leitung der Klinik aufzugeben (1836) und nur noch theoretische Vorlesungen zu halten. Mit Nachdruck hat sich Walther für die Gleichstellung der medizinischen und der chirurgischen Ausbildung eingesetzt, wofür seine 1841 erschienene Schrift „Über das Verhältnis der Medizin zur Chirurgie und die Duplizität im ärztlichen Stande“ Zeugnis ablegt. Walther blieb bis zum Tode in Mün­ chen ansässig, verehrt und gefeiert von seinen Kollegen und das nicht nur wegen seiner Leistungen als Chirurg. Er war gebildeter Arzt im besten Sinne und ein nüchtern denkender Vertreter der ärztlichen Berufsinteres­ sen. Nach seinem Rücktritt übernahm Philipp Wilhelm erneut die Leitung der Klinik bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1840. Nur etwas weniger als zwei Jahre war dann Georg Friedrich Louis Stromeyer (1804 - 1876) Leiter der Klinik und Inhaber des Lehrstuhls. Die Un­ gunst der Verhältnisse, der sich v. Walther hatte entziehen müssen, veran­ laßte auch seinen baldigen Übertritt an eine andere Universität. Seine „Er­ innerungen eines deutschen Arztes“ (1875) vermitteln die Eindrücke und

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Erlebnisse auch aus seiner Münchener Zeit. Stromeyer war in Hannover geboren, hatte in Göttingen und Berlin studiert, dort promoviert (1826) und schließlich sein Staatsexamen 1827 in Hannover bestanden. Seit 1829 war er Lehrer an der Chirurgischen Schule in Hannover gewesen und hatte 1838 den Lehrstuhl für Chirurgie in Erlangen erhalten. König Ludwig I. ver­ setzte Stromeyer aufgrund persönlicher Entscheidung von Erlangen nach München. Als sein Nachfolger in Erlangen sollte Bernhard Langenbeck, der später Dieffenbachs Berliner Lehrstuhl erhielt, berufen werden. Stromeyer sollte im Auftrag des Königs mit ihm verhandeln. Langenbeck war mit den Bedingungen einverstanden und wartete schließlich nur noch auf seine An­ stellung. In der Zwischenzeit hatte Ludwig I. aus familiärer Gefälligkeit je­ doch den Lehrstuhl bereits an Johann Ferdinand Heyfelder (1798 - 1869) vergeben. Daß man Langenbeck und damit ihn selbst in dieser Weise be­ handelt hatte, traf Stromeyer schwer und machte es ihm unmöglich auf Dauer in München zu verbleiben. Mit den Verhältnissen in der Klinik war Stromeyer durchaus zufrieden, lediglich der Operationssaal mußte auf sei­ nen Wunsch durch den Einbau neuer Fenster verbessert werden. Als Stro­ meyer im September 1842 Rufe nach Tübingen und Freiburg erhielt, fiel es ihm leicht eine Entscheidung zu treffen. Er nahm den Ruf nach Freiburg an, wo er bis 1848 gewirkt hat, ging dann als Nachfolger Bernhard Langenbecks nach Kiel und wurde gleichzeitig Generalstabsarzt der SchleswigHolsteinischen Armee. 1854 ist er dann als Generalstabsarzt der Hannover­ schen Armee in seine Vaterstadt zurückgekehrt.

Der Nachfolger Stromeyers auf dem Münchener Lehrstuhl, Johann Forster, hat nur 11 Monate diesen Posten bekleidet. Bereits am 11. Oktober 1843 wurde er als Professor in den Ruhestand und kurz danach als Gerichts­ arzt nach Freising versetzt. Er war vor seiner Berufung nach München an der Medizinischen Klinik der Wundärzteschule in Landshut tätig gewesen, über seine sonstigen Lebensumstände und seine wissenschaftliche Tätigkeit ist nicht viel überliefert.

Die rasche Versetzung von Forster in den Ruhestand diente offenbar dazu, den Lehrstuhl für Franz Christoph (v.) Rothmund (1801 - 1891) freizumachen, der wie Stromeyer seine Ernennung dem direkten Eingreifen des Königs verdankte. Rothmund war 20 Jahre lang in eigener Praxis und als Gerichts­ arzt in Franken tätig gewesen. Durch einen Zufall war Ludwig I. auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn nach München versetzt. Rothmund war ein hervorragender Operateur, der sich großer Beliebtheit bei seinen Patien­ ten erfreute. Literarisch hat er wenig hinterlassen. Einem besonderen Um­ stand jedoch verdankt er einen Ehrenplatz in der Münchener Fachgeschichte.

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Rothmund hat wahrscheinlich als erster deutscher Chirurg an Tieren Ver­ suche mit Äther unternommen und das Mittel auch am Menschen auspro­ biert. Dies ist am 23. Januar 1847 im Allgemeinen Krankenhaus in München geschehen. Am folgenden Tage hat Johann Ferdinand Heyfelder in Erlangen als erster deutscher Chirurg eine Operation in Äthernarkose ausgeführt, einen Tag später entfernte Rothmund in München bei einer 24jährigen Patientin in Äthernarkose Konkremente aus einer Halsfistel. Der regel­ mäßigen Verwendung des Äthers und später des Chloroforms an der Klinik ebenso wie dem operativen Geschick Rothmunds ist es zuzuschreiben, daß die Zahl der Operationen erheblich zunahm. Während noch unter Stromeyer im Jahre zwischen 60 und 70 Operationen vorgenommen worden waren, stieg nun die Zahl von 108 im Jahre 1843/44 auf 486 im Jahre 1851/52. Auch die allgemeinen Verhältnisse im Krankenhaus besserten sich erheb­ lich, so daß auch die Operationsmortalität schon wenige Jahre nachdem Roth­ mund die Leitung der Klinik übernommen hatte, erheblich zurückging. Die wenigen statistischen Angaben aus der chirurgischen Abteilung des Allge­ meinen Krankenhauses geben doch einen plastischen Eindruck von der tief­ greifenden Veränderung in der operativen Medizin nach Einführung der Schmerzausschaltung durch die Äther- und Chloroformnarkose. Begeisterte Äußerungen von Chirurgen bestätigen, daß für sie eine neue Zeit angebro­ chen war. Auch aus Rothmunds für die Zeitverhältnisse ziemlich nüchternen Berichten ist volle Genugtuung über die Entwicklung zu entnehmen, an der er selbst aktiv beteiligt war. Im Jahre 1859 wurde die Klinik geteilt und Johann Nepomuk (von) Nußbaum (1829 - 1890) der zweite Lehrstuhl über­ tragen. Die Augenheilkunde wurde 1863 mit der Ernennung von Rothmunds Sohn August, der sich bereits 1854 für das Fach habilitiert hatte, zum Ordi­ narius aus der Klinik herausgelöst. Im Jahre 1871 wurde Rothmund emeri­ tiert und beide chirurgische Abteilungen wieder in der Hand des verblei­ benden Ordinarius vereinigt. So wie das Lebenswerk von Franz Christoph v. Rothmund geprägt ist durch die Einführung der Narkose, war Johann Nepomuk v. Nußbaum ein erfolgreicher Verfechter der antiseptischen Wundbehandlung nach Lister. Nußbaum war geborener Münchner, hatte 1853 bereits durch seine Disser­ tation über Versuche zur Bildung künstlicher Hornhaut bei Kaninchen durch Implantation von Glasplättchen aufhorchen lassen. Nach Studienaufenthal­ ten in Paris, Würzburg und Berlin, wobei er mit Civiale, Nelaton, Virchow, Textor und Bernhard v. Langenbeck in Verbindung gekommen war, habili­ tierte er sich 1857 in München. Auch seine Habilitationsschrift war wiederum der Frage des künstlichen Hornhautersatzes gewidmet. Als er 1859 einen

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Ruf als Professor der Chirurgie nach Zürich erhielt, wurde in München eine zweite chirurgische Abteilung geschaffen und die Ernennung zum Ordina­ rius vollzogen. Nußbaum war ein besonders beliebter und vielfach ge­ feierter akademischer Lehrer, einer der populärsten Ärzte Münchens, lite­ rarisch überaus produktiv und originell in Gedanken und Formulierungen. In Edinburgh hatte er bei Lister die Handhabung des antiseptischen Ver­ fahrens kennengelernt und in seiner Klinik eingeführt. In einem Brief an Langenbeck hat er auf die eindrucksvollen Auswirkungen der antiseptischen Wundbehandlung in seiner Klinik hingewiesen. Seitdem man „strenge gelistert“ hatte, sei keine Pyämie, kein Hospitalbrand oder Rotlauf mehr auf­ getreten. Nach einem Studienbesuch bei Spencer Wells in London hat Nuß­ baum nach dessen Technik auch in München Ovariotomien ausgeführt. Der 500ste Eingriff dieser Art wurde Anlaß zu einem Fest, an das eine frühe Zeichnung Franz v. Stucks erinnert, die Nußbaum und seinen Assistenten Bratsch am Operationstisch zeigt. Der durch die Ovarialzyste prall aufge­ triebene Patientenleib trägt die Zahl 500, Nußbaum setzt gerade mit einem riesigen Messer zum Hautschnitt an.

An den Kriegen 1866 und 1870/71 hat Nußbaum als beratender Chirurg zuletzt im Range eines Generalarztes teilgenommen. Unter seinen Schriften hat eine Monographie über die Technik der antiseptischen Wundbehand­ lung, die 1878 in erster Auflage erschien, zur Verbreitung des „Listerns“ im deutschen Sprachraum wirksam beigetragen. Wie sich das Milieu der chirurgischen Krankenabteilung verändert hatte, davon gab Nußbaum 1878 unter dem Titel „Sonst und Jetzt“ in den Annalen der Münchener Krankenanstalten einen anschaulichen Bericht. Bis dahin herrschte in den Krankensälen ein „häßlicher, nach Jauche riechender Dunst“, jetzt „atmet man geruchlose frische Luft“; früher sahen die Kranken „bleich und traurig aus, Schmerz lag auf vielen Gesichtern geschrieben“, nun­ mehr haben die Kranken „gute Gesichtsfarbe und sind heiter, niemand hört man jammern, obwohl das Morphiumfläschchen nahezu arbeitslos ist“. Nach dem Übergang zur aseptischen Wundbehandlung, die Nußbaum in seiner Klinik nicht mehr miterlebt hat, waren dann weitere Fortschritte in den operativen Techniken, allerdings keine so auffälligen Gegensätze zu früheren Zuständen nachweisbar. Nußbaum war ein fanatischer Pflichten­ mensch und nur seinen Aufgaben in der Klinik und als Universitätslehrer verpflichtet, in den letzten Jahren seines Lebens jedoch ein schwerkranker Mann. Seit der Mitte der sechziger Jahre hatte er zur Behandlung chroni­ scher Kopfschmerzen, die nach einer Hirnhautentzündung zurückgeblieben waren, zum Morphium gegriffen. Von der Unschädlichkeit dieses Mittels

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überzeugt, wurde er schließlich zum Morphinisten. Schwerhörigkeit und eine pathologische Knochenbrüchigkeit stellten sich in den siebziger Jahren ein. Auch wenn Nußbaum dann doch noch auf einem Bein stehend operiert hat, so verschlechterte sich sein Zustand schließlich bis zur völligen Arbeits­ unfähigkeit und er wurde im sechzigsten Lebensjahr in den Ruhestand ver­ setzt. Wenige Monate später ist er verstorben. In dankbarer Erinnerung an den Ehrenbürger der Stadt München beschloß der Magistrat die bisherige Krankenhausstraße in Nußbaumstraße umzutaufen. Fast drei Jahrzehnte wie Nußbaum war auch Ottmar (von) Angerer (1850 1918) als Leiter der Chirurgischen Klinik im Amt. Angerer hatte in Würz­ burg studiert, 1873 dort promoviert und war dann zuerst Assistent bei Wenzel (v.) Linhart und anschließend seinem Nachfolger Ernst v. Bergmann in Würzburg gewesen. Nach der Habilitation (1879) erhielt er die Leitung der Poliklinik. Im Jahre 1885 wurde er als Extraordinarius Vorstand der Chir­ urgischen Poliklinik in München und 1890 Nachfolger Nußbaums. Angerer verdanken wir eine eingehende Beschreibung der neuerbauten Chirurgi­ schen Klinik, die seit 1875 wiederholt von Ziemssen und Nußbaum gefordert, in den Jahren 1889 bis 1891 errichtet worden war. Die von ihm beschriebene „neue chirurgische Klinik in München“ (1892) erreichte schließlich eine Bet­ tenzahl von 400, verfügte über zeitgemäße Sterilisationseinrichtungen, Ope­ rationssäle und andere technische Anlagen, u. a. wurden alle Klinikgebäude mit elektrischem Strom versorgt.

Als zu Jahresbeginn 1896 die Nachricht von der Entdeckung der Röntgen­ strahlen bekannt wurde, beauftragte Angerer seinen Assistenten Rudolf Grashey (1876 - 1950) mit der Erprobung des neuen Verfahrens. Bereits im April 1896 konnte unter Angerers Präsidium im Ärztlichen Verein über die Ergebnisse der ersten Röntgenuntersuchungen in München berichtet wer­ den. Die anfänglich bescheidene apparative Einrichtung mußte im Jahre 1900 zu einem eigenen „Röntgenlaboratorium“ erweitert werden, zumal in­ zwischen bereits die Apparate verbessert und die Zahl der Aufnahmen er­ heblich größer geworden war. Angerer, der 1913 der 42. Tagung der Deut­ schen Gesellschaft der Chirurgie präsidiert hatte, war wähend des Ersten Weltkrieges noch als Chirurg im Feldeinsatz. Seine Emeritierung (1918) überlebte er nur kurze Zeit. Als Nachfolger v. Angerers wurde Ferdinand Sauerbruch (1875 - 1951) berufen, der bereits zu den führenden Chirurgen gehörte. Sauerbruch war 1903 in die Breslauer Chirurgische Universitätsklinik bei Johann v. Mikulicz-Radecki (1850 - 1905) eingetreten, wo er sich bereits zwei Jahre später habilitiert hatte. Im Jahre 1904 veröffentlichte er die Ergebnisse der

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Untersuchungen mit seiner „pneumatischen Kammer“, die ersten Versuche, den Thoraxraum für operative Eingriffe zugänglich zu machen. Im Jahre 1910 hatte der 35jährige Ferdinand Sauerbruch das Ordinariat in Zürich als Nachfolger von Rudolf Ulrich Krönlein übernommen. Mit seiner Berufung nach München wurde er als letzter in Bayern zum Geheimen Hofrat er­ nannt. Als der „Geheimrat Sauerbruch“ erlangte er eine Popularität wie wohl kein anderer Arzt in Deutschland in der ersten Hälfte dieses Jahr­ hunderts. Kurz nach der Übernahme des Münchener Lehrstuhls ging mit der Revolution der Erste Weltkrieg zu Ende, die alte staatliche Ordnung löste sich auf. Es folgten Jahre der Unsicherheit, des Hungers und wirtschaftliche Not. Dennoch aber verfaßte Sauerbruch in den ersten Nachkriegs- und Inflationsjähren den zweiten Band der „Chirurgie der Brustorgane“, in dem die Chirurgie des Herzens und der großen Gefäße sowie der Mediastinalorgane abgehandelt ist. Mit diesem Werk hat sich Sauerbruch sein literari­ sches Denkmal gesetzt. Was Sauerbruch für die Münchener Fakultät bedeutet hat, trat zutage, als er sich 1928 entschloß, den Ruf in die Reichshauptstadt anzunehmen. Der allgemeinen Ansicht der Münchener gab Kerschensteiner Ausdruck, indem er darauf hinwies, daß man sich einfach nicht vorstellen konnte, „daß jemand eine andere Stadt vorzieht und noch dazu Berlin“. Als Sauerbruch die Münchener Klinik verließ, hatte sie einen internatio­ nalen Ruf allerersten Ranges. In der Baugeschichte des Hauses ist sein Name verbunden mit der Errichtung des Westflügels, der 1922 in Betrieb ge­ nommen werden konnte. Damit bekam die Klinik u. a. zwei große Opera­ tionssäle mit Nebenräumen, einschließlich der berühmten Unterdruckkam­ mer, eine experimentell-chirurgische Abteilung mit Tierlaboratorien und eine orthopädische Werkstatt. Daß diese zuletzt genannten Einrichtungen hier untergebracht wurden, kennzeichnet sowohl die Interessenschwer­ punkte Sauerbruchs als auch die neuen Tendenzen im Fach. Im Frühjahr 1928 übernahm mit Erich Lexer (1867 - 1937) ein Schüler Ernst von Bergmanns die Leitung der Klinik. Lexer hatte von 1892 bis 1905 bei ihm an der Berliner chirurgischen Klinik gearbeitet, sich dort 1898 habi­ litiert und dann mehrere Lehrstühle innegehabt (Königsberg 1905, Jena 1910 und Freiburg 1919). Lexer hatte durch seine Forschungen auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie und deren Anwendung in der Praxis be­ reits Anerkennung im In- und Ausland gefunden. Ihren literarischen Nie­ derschlag haben seine und die Arbeiten seiner Schüler vor allem in den Monographien „Die freien Transplantationen“ (1919 - 1924), „Wiederherstel­ lungschirurgie“ (1919) und deren erweiterte zweibändige Fassung „Die ge­ samte Wiederherstellungschirurgie “ (1931) gefunden. Lexers „Lehrbuch der Allgemeinen Chirurgie“, das 1903 in erster Auflage erschienen ist, erlebte 16

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eine außergewöhnliche Verbreitung und war bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges eines der deutschsprachigen Standardwerke der Chirurgie. Es ist 1930 in 20. Auflage herausgekommen. Lexers Schriften bestätigen übri­ gens auf jeder Seite die liebevolle Sorgfalt, die er immer wieder auf die Gestaltung des Textes verwendet hat. Seine Aufsätze und Bücher sind da­ her wirkliche Meisterwerke im Stil und beste Vorbilder eines gepflegten Gebrauchs der Sprache auch im wissenschaftlichen Buch. Unter Lexer wurde die Kapazität der Klinik noch mehr vergrößert, die Bettenzahl überstieg 500 und 200 ambulante Patienten wurden täglich ver­ sorgt, 25 Ärzte standen ihm als Klinikdirektor zur Seite. Lexer war ein be­ geisterter Lehrer und viele Ärzte der nun älteren Generation erinnern sich lebhaft an ihn, der zugleich auch ein aktiver Freund der Künste, ein glän­ zender Kongreßdebatter und Vortragender war. Seine recht derbe Ursprüng­ lichkeit überdeckte oft viel Liebenswürdigkeit und Güte. Kurz vor seinem 70. Geburtstag hat Lexer um seine Emeritierung nachgesucht. Mit Georg Magnus (1883 - 1942) kam nach Lexer ein vor allem als Unfall­ chirurg namhafter Kliniker nach München. Magnus hatte sich 1913 bei Guleke in Marburg habilitiert und 1925 die Leitung der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Bergmannsheil übernommen. Im Jahre 1933 war er unter zeitbedingten Umständen auf den Lehrstuhl in Berlin in der Ziegel­ straße berufen worden. Wegen ihres Alters und des Bauzustandes war diese Klinik nach dem Ausscheiden von August Bier geschlossen worden; nur die Poliklinik arbeitete noch. Magnus nahm den Klinikbetrieb wieder auf, blieb aber nur wenige Jahre in Berlin. Hier und später in München lag das Schwergewicht seiner wissenschaftlichen Arbeit unverändert bei der Unfall­ heilkunde und versorgungsrechtlichen Begutachtungsfragen. In den letzten Jahren schon von Krankheit gezeichnet, starb er 1943 an einem Hirntumor. Im gleichen Jahr folgte Karl Emil Frey (geb. 1888), seit 1931 in Düsseldorf Ordinarius und Klinikdirektor, dem Ruf nach München. Frey hatte in Mün­ chen und Kiel studiert, war im Dezember 1918 Assistent bei Sauerbruch geworden und hatte sich 1924 in München habilitiert. Als Sauerbruchs Ober­ arzt ging er mit nach Berlin. Von ihm stammen wichtige Beiträge zur Thoraxchirurgie. Seine „Chirurgie des Herzens“ (1939, 2. Aufl. 1956), „Die Operationen an der Lunge und Brustwand“ (1954) und „Die bösartigen Lungengeschwülste“ (1958) sind z. T. gemeinsam mit seinen Mitarbeitern verfaßt worden. Sie kennzeichnen die fortschreitende Entwicklung dieses wichtigen Teilbereichs der Chirurgie und seine Mitwirkung daran. Aber auch biochemische Arbeiten, die zur Entdeckung des Kallikreins (1924) und zur Einführung des Trypsininaktivators Trasylol in die Therapie (1953) geführt

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haben, sind mit seinem Namen verbunden und zeigen, daß sich forschende Chirurgen zunehmend Methoden bedienten, die der Medizin erst seit kurzem zur Verfügung standen. In Düsseldorf hatte Frey bereits die Auswirkungen des Luftkrieges auf die Bevölkerung und die Schwierigkeiten der Weiter­ führung von Großstadtkliniken miterlebt. Er veranlaßte deshalb die Schaf­ fung einer Ausweichklinik im Tegernseer Schloß, eine Maßnahme, deren Berechtigung schon bald bestätigt wurde. Die immer häufigeren Bomben­ angriffe auf München und schweren Schäden zwangen schließlich zur Ver­ legung der Klinik nach Tegernsee. Lediglich in dem 1942 erbauten Opera­ tionsbunker und in Keller räumen der Kliniken wurde noch ein Notbetrieb aufrechterhalten. Nach Kriegsende setzte sich Frey energisch für den Wie­ deraufbau der Klinik ein. Leider wurde seinen Vorschlägen für eine räum­ liche Erweiterung nicht gefolgt. Schließlich konnte Frey im Sommer 1949 den Vorlesungsbetrieb im wiedererstandenen Hörsaal aufnehmen. Im Herbst 1958 folgte Rudolf Zenker (geb. 1903) nach der Emeritierung von Frey dem Ruf nach München. Zenker, geborener Münchener, hatte sich 1938 bei Martin Kirschner in Heidelberg habilitiert und war seit 1951 Ordi­ narius in Marburg. Bereits dort hatte er Herzoperationen unter Verwen­ dung eines extrakorporalen Kreislaufs durchgeführt. Die Münchener Klinik ist unter ihm zu einem Zentrum moderner Herzchirurgie ausgebaut worden. Dafür mußten die räumlichen und einrichtungsmäßigen Voraussetzungen ge­ schaffen werden. Dazu gehörte nicht nur der Neubau des Bettenhauses an der Schillerstraße, in dem die Abteilung für Herz- und Lungenchirurgie und die Intensivpflegeeinheit untergebracht wurden, auch in den vorhandenen Klinikgebäuden sind durch Umbau und Erweiterungsmaßnahmen u. a. eine Wachstation, eine Blutbank, Transplantationseinheit, Bettenzentrale, und nicht zuletzt das Institut für Klinische Chemie untergebracht worden. Dieses Institut steht unter der Leitung von Eugen Werle (geb. 1902), der seit 1966 ein Ordinariat innehat. Der ehemalige Operationsbunker konnte für Zwecke des Instituts für Experimentelle Forschung ausgebaut werden, dem Walter Brendel (geb. 1922) vorsteht, seit 1967 Extraordinarius und 1969 Ordinarius. Ein weiterer Lehrstuhl erwuchs aus dem Verband der Klinik für die Anaesthesiologie. Rüdiger Beer (geb. 1925) erhielt 19’67 die außerordentliche und 1970 ordentliche Professur für dieses Fach. Der besonderen Entwicklung der Herzchirurgie wurde nicht nur durch die Schaffung einer eigenen Abtei­ lung innerhalb der Klinik entsprochen, sondern auch durch Errichtung eines ordentlichen Lehrstuhls, den Werner Klinner (geb. 1923) seit 1971 bekleidet.

Im Jubiläumsjahr laufen die Bemühungen um die Besetzung des Lehr­ stuhls in Nachfolge des emeritierten Rudolf Zenker. Seine Verdienste um 16*

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die Chirurgische Klinik verbinden sich mit vieljährigem zielbewußten Ein­ treten für die Errichtung des Klinikums in Großhadern. Orthopädie Die Entwicklung einer von der Chirurgie unabhängigen Orthopädie in München ist ausschließliches Verdienst von Fritz Lange (1864 - 1952). Lange hatte in München studiert, hier 1892 promoviert, war dann in Rostock Assi­ stent bei Madelung gewesen, mit dem er 1894 nach Straßburg ging. Im folgenden Jahr entschied er sich für die Orthopädie und arbeitete ein halbes Jahr bei Adolf Lorenz in Wien. Am 1. Januar 1896 nahm er dann in München seine Tätigkeit auf, wo ihm v. Angerer in der Chirurgischen Klinik einen Kellerraum zur Verfügung stellte. Hier eröffnete Fritz Lange sein „Ortho­ pädisches Ambulatorium täglich von 3-4 Uhr“. Aufgrund einer bereits in Rostock angefertigten rein chirurgischen Arbeit konnte er sich schon wenige Monate später habilitieren. Das Ambulatorium, in dem 1897 insge­ samt 260 Kranke behandelt worden waren, wurde 1900 von über 1000 Patien­ ten aufgesucht. Ohne Assistenten und nach wie vor in einem Raum, ohne eigenen Etat und die Möglichkeit, Kranke stationär zu behandeln, war da­ mit die Situation unhaltbar geworden. Lange schloß deshalb das Ambula­ torium im gleichen Jahr.

Seine große Privatpraxis mit ausgedehnter operativer Tätigkeit im Kran­ kenhaus des Roten Kreuzes konnte ihn allerdings nicht ausschließlich be­ friedigen. Nur in der Errichtung einer staatlichen Klinik sah er die Möglich­ keit, wirklich erfolgreich orthopädisch tätig zu sein, konsequent steuerte er auf dieses Ziel zu. Im Jahre 1903 konnte das Ambulatorium unter besseren Bedingungen seinen Betrieb wieder aufnehmen, gleichzeitig wurde Fritz Lange zum Extraordinarius ernannt. Nachdem der Landtag 1906 den Bau einer Orthopädischen Klinik bewilligt hatte, gestützt von einer über alle Parteien hinweg breiten Zustimmung, schien Lange der Verwirklichung seines Planes nicht mehr fern zu sein. In den folgenden Jahren eingetretene Schwierigkeiten konnten überwunden werden, nachdem er einen Ruf nach Berlin erhalten hatte. Lange blieb in München, wurde persönlicher Ordi­ narius und erhielt endgültig die Mittel zum Bau der Klinik. Als 1910 das neue Poliklinikgebäude in der Pettenkoferstraße in Betrieb genommen wurde, standen auch dort für ihn und seine Mitarbeiter Räume für die Ambulanz und eine kleine Bettenstation zur Verfügung. Mit der Eröffnung der Klinik in der Harlachinger Straße am 1. Dezember 1913, die anfangs über 70 Betten verfügte und unter Langes fachlicher Be-

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ratung erbaut worden war, besaß München die erste staatliche Anstalt für Orthopädie in Deutschland. Aus Stiftungsmitteln wurde das Kraussianum als besonderes Gebäude mit Krankenzimmern und einer Forschungsabtei ­ lung errichtet und dadurch die Leistungsfähigkeit der Klinik erheblich er­ weitert. Während des Ersten Weltkrieges fand die Klinik als Lazarett Ver­ wendung, seit November 1914 unter Langes Leitung. Unter Einbeziehung des Kraussianums und Ausnutzung aller geeigneten Räume für die Unter­ bringung von Kranken standen in der Klinik schließlich 250 Betten zur Ver­ fügung.

Lange hat die Klinik bis 1937 geleitet, dann mußte er sie an Karl Bragard (geb. 1890) abgeben. Mit seinen Lebenserinnerungen „Ein Leben für die Orthopädie“ (1959) hat er einen guten Beitrag sowohl zur Lokalgeschichte des Faches als auch zu dessen neuerer Geschichte geleistet. Das wis­ senschaftliche Lebenswerk Langes kann in diesem Zusammenhang nicht in Einzelheiten gewürdigt werden. Es steht fest, daß er in kaum zu übertreffen­ der Weise sein Fach durch die Einführung neuer apparativer und operativer Methoden bereichert hat und der neidlos anerkannte erfolgreiche Interessen­ vertreter seiner engeren Fachkollegen gewesen ist. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen in Buchform hat sein „Lehrbuch der Orthopädie“ (1. Aufl. 1914) große Verbreitung gefunden, sein Alterswerk „Sprache des menschlichen Antlitzes“ (1. Aufl. 1937, 2. 1939, 3. 1940, 4. 1952) gehört zu den wenigen modernen Arbeiten über die Physiognomik. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde mit Georg Hohmann (1880 - 1970) einer der bedeutenden Schüler Fritz Langes auf den Münche­ ner Lehrstuhl berufen. Er war 1903 sein Assistent geworden und hatte sich 1918 in München habilitiert. Im Jahre 1930 war Hohmann Ordinarius in Frankfurt/Main geworden, nach Kriegsende hatte er dort das Amt des ersten Rektors bekleidet. Als solcher hatte er am 1. Februar 1946 die Universität wieder eröffnen können. Da die Orthopädische Klinik jedoch völlig zerstört war, nahm Hohmann den Ruf nach München an. Auch hier wurde er zum Rektor gewählt und konnte den Festakt der Wiedereröffnung auch der Ludwig-Maximilians-Universität vollziehen. Seine in Frankfurt und Mün­ chen aus diesem Anlaß gehaltenen Reden sind Dokumente einer Zeit der Unsicherheit aber auch größter Hoffnungen im akademischen Leben. Nach Hohmanns Emeritierung wurde 1954 Max Lange (geb. 1899), Neffe und Schüler von Fritz Lange, berufen, der bis dahin die Leitung des Versor­ gungskrankenhauses in Bad Tölz innegehabt hatte. Aus der Münchener Schule stammt auch der jetzige Lehrstuhlinhaber Alfred Nikolaus Witt (geb. 1914), der sich 1950 habilitiert und 1954 das Ordinariat an der Freien

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Universität Berlin und die Leitung der Orthopädischen Klinik- und Poli­ klinik im Oskar-Helene-Heim erhalten hatte. Im Jahre 1968 folgte Witt dem Ruf nach München.

Urologie

Ferdinand May (geb. 1898), der von 1931 bis 1938 als Urologe in München praktiziert hatte und dann Chefarzt des Urologischen Krankenhauses der Stadt München in der Thalkirchner Straße geworden war, habilitierte sich 1950 in der Medizinischen Fakultät mit einer Arbeit über „Die Geschwulst­ bildung des Blasenhalses“. Im Jahre 1958 wurde mit Errichtung eines plan­ mäßigen Extraordinariats und Bereitstellung der Städtischen Klinik für Zwecke der Fakultät die Urologie zum selbständigen Universitätsfach. Bei der Berufung des jetzigen Lehrstuhlinhabers Egbert Schmiedt (geb. 1920) ist ein ordentlicher Lehrstuhl geschaffen worden (1968), die poliklinische Tätigkeit wird in Räumen der Chirurgischen Klinik in der Nußbaumstraße ausgeübt.

Neurochirurgie Für die Neurochirurgie hatte bis 1962 eine eigene Abteilung in der Chir­ urgischen Klinik bestanden unter der Leitung von Eduard Weber (1910 1962), der seit 1956 für das Fach habilitiert war und eine Oberarztstelle be­ kleidete. Ende 1964 konnte das neugeschaffene Ordinariat mit Frank Marguth (geb. 1921) besetzt werden, der sich 1960 in Köln habilitiert hatte. Es gelang ihm eine eigene Klinik mit 65 Betten in dem gepachteten Gebäude Beethovenplatz 2/3 einzurichten, in dem vorher die Privatklinik Dr. v. Sicherer als Belegkrankenhaus betrieben worden war. Die neue Klinik wurde auch mit einer zeitgemäßen Bedürfnissen entsprechenden Wach- und Intensivpflegestation ausgestattet. Im Januar 1965 konnten die ersten Pa­ tienten und damit ein Teilbetrieb aufgenommen werden. Wenige Monate später war die Klinik voll in Betrieb. Augenheilkunde Der erste Vertreter des Faches an der Ludwig-Maximilians-Universität läßt sich bereits in der Landshuter Zeit nachweisen. Philipp Franz v. Walther betrieb dort eine „Klinische Augenkrankenanstalt“, die auch als „Augenkranken-Institut“ bezeichnet wurde und offenbar mit seiner Chirurgischen Klinik zusammenhing. Walther, der 1819 Landshut verlassen hatte und nach Bonn gegangen war, kehrte 11 Jahre später in die Fakultät, nun nach

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München zurück. Bis zu seinem Rücktritt als Klinikleiter im Oktober 1836 hat er hier wohl nur noch in sehr bescheidenem Umfang praktisch augen­ ärztlich tätig sein können. Seine Erfahrungen aber fanden reichen literari­ schen Niederschlag. Der 3. und 4. Band seines „Systems der Chirurgie“ ent­ hält „Die Lehre von den Augenkrankheiten“ (1848). In dem von ihm zusam­ men mit Carl Ferdinand v. Graefe herausgegebenen „Journal für Chirurgie und Augenheilkunde“ hat er auch selbst eine Reihe kasuistischer Beiträge veröffentlicht. In Landshut hatte Franz Reisinger (1787 - 1855) nach Walther die Professur für Chirurgie und Augenheilkunde 1819 erhalten. Sein Name ist durch eine Stiftung in Höhe von fast 300 000 fl., die für die Errichtung der Poliklinik verwendet worden ist, mit der Universität München eng ver­ bunden geblieben. Ein von ihm eingeführtes Doppelhäkchen ging in das ophthalmologische Instrumentarium ein. Sein Operationsphantom des Auges, das er bereits 1814 in seiner Göttinger Dissertation beschrieben hat, fand viel Beifall und Anwendung. Aber auch einige seiner Veröffent­ lichungen in den 1828 erschienenen „Baierischen Annalen für Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe“ beanspruchen Interesse, nicht zuletzt seine Empfehlung der Keratoplastik unter Verwendung einer gesunden Tierhornhaut. Unter den Münchener Nachfolgern v. Walthers war Georg Friedrich Louis Stromeyer wohl derjenige Chirurg, der besondere Beziehungen zur Ophthalmologie gehabt hat. Er empfahl 1838 erstmals die Muskeldurch­ trennung zur Schielbehandlung, nachdem er Versuche an Leichen angestellt hatte. Stromeyer war nicht lange in München (1841/42). Er hat hier ein Iridektom beschrieben in einer Schrift mit dem Titel: „Das Korektom, ein neues Instrument für die künstliche Pupillen-Bildung und für die Extraction des angewachsenen Stares von Dr. Louis Stromeyer, Professor in München, früher in Hannover und Erlangen“ (1842).

Auch Franz Christoph v. Rothmund hat noch als Chirurg die Augenheil­ kunde vertreten, Vorlesungen darüber gehalten und Augenoperations-Kurse durchgeführt. Sein Sohn August von Rothmund (1830 - 1906) habilitierte sich 1854 mit einer Arbeit „Über künstliche Pupillenbildung“ für Augenheil­ kunde und wurde damit der erste Lehrer des Faches in München, 1859 erhielt er ein Extraordinariat.

Im Jahre 1854 hat er die Leitung der 1822 von Wilhelm August Joseph Schlagintweit (1792 - 1854) gegründeten Privat-Augenheilanstalt übernom­ men, die über 15 Betten verfügte. Unter August von Rothmund, der auf seinen Studienreisen auch mit den Begründern der modernen Ophthal­ mologie Eduard v. Jäger in Wien, Ferdinand v. Arlt in Prag und Albrecht

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v. Graefe in Berlin in persönliche Verbindung getreten war, erlebte diese Klinik einen beachtlichen Aufschwung. Die Zahl der Betten stieg auf 60 und allein im Jahre 1857/58 sind dort 97 Staroperationen und 41 „Pupillen-Bildungen“ vorgenommen worden.

Bis zum Jahre 1879 verblieb diese Klinik im Hause Mathildenstraße 8. Hier fand auch der erste klinische Unterricht statt, allerdings in sehr be­ engten Räumen und unter ungünstigen Lichtverhältnissen. Für August v. Rothmund, der 1863 zum Ordinarius ernannt worden war, wurde schließlich die von ihm hartnäckig geforderte eigene Universitätsklinik geschaffen. Im Frühjahr 1879 wurde das bisherige Wilhelmsgymnasium in der Herzogspitalstraße 18, das leider in der dichtbebauten Innenstadt lag, zur Augen­ klinik umgebaut. Nicht nur die Lage war ungünstig, immerhin überwogen die Vorzüge der staatlichen Klinik gegenüber einem Privatunternehmen, so daß Rothmund auch bereit war, einige Nachteile in Kauf zu nehmen. Aus dieser Klinik sind wertvolle Arbeiten hervorgegangen. Daß pathologisch­ histologische Forschungen im Vordergrund gestanden haben, entsprach der medizinischen Blickrichtung dieser Zeit. Nachdem v. Rothmund im Alter von 70 Jahren 1900 in den Ruhestand ge­ treten war, wurde sein langjähriger Mitarbeiter Oskar Eversbusch (1853 1912), der sich 1882 habilitiert und seit 1886 als Ordinarius in Erlangen ge­ wirkt hatte, sein Nachfolger. Seine Arbeiten zur vergleichenden mikroskopi­ schen Anatomie des Auges haben ebenso wie seine operativ-technischen Beiträge Bedeutung gehabt, auch wenn er im Grunde den praktischen Auf­ gaben mehr als der wissenschaftlichen Tätigkeit zugetan war. Nur etwas über 3 Jahre konnte Eversbusch an der von ihm am 18. Januar 1909 eröff­ neten neuerbauten Klinik tätig sein. Carl v. Heß (1863 - 1923), der nun nach München an die als schönste und besteingerichtetste Augenklinik über Deutschland hinaus bekannte Klinik in der Mathildenstraße berufen wurde, war bereits ein international anerkannter Gelehrter. Er hatte sich 1891 in Leipzig habilitiert, war 1896 Ordinarius in Marburg, vier Jahre später in Würzburg geworden. Seinen wichtigsten sinnesphysiologischen Arbeiten „Die Anomalien der Refraktion und Akkomodation des Auges“ (1903) und „Pathologie und Therapie des Linsensystems“ (1905) folgten in der Mün­ chener Zeit Untersuchungen über die Farbenblindheit beim Menschen. Nach dem Tode von Heß übernahm Karl Wessely (1874 - 1953) die Leitung der Klinik, der vorher den Lehrstuhl in Würzburg innegehabt hatte. Er hat sich mit Untersuchungen über den intraokularen Flüssigkeitsaustausch und den Augenhintergrund, die Pathogenese des Glaukoms und der Netzhaut­ ablösung befaßt. Die Klinik wurde weiter vergrößert und ausgebaut, u. a.

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bereits in den frühen zwanziger Jahren eine eigene Röntgenabteilung ein­ gerichtet.

Nachdem Wessely 1935 ausscheiden mußte, wurde Wilhelm Meisner (1881 1956) neuer Lehrstuhlinhaber. Er war seit 1924 Ordinarius in Greifswald gewesen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigen sich vor allem mit den tuberkulösen Erkrankungen des Auges und der Pathologie der Tränen­ organe. 1945 konnte Karl Wessely wieder Lehramt und Klinikleitung über­ nehmen. Nach seinem Tode wurde 1953 Wilhelm Rohrschneider (1895 - 1966) Direktor der Klinik. Er war Schüler von Emil Krückmann und hatte von 1937 bis 1945 den Lehrstuhl in Königsberg und seit 1948 den in Münster innegehabt. Von ihm stammen Untersuchungen über den Fettstoff wechsel des Auges, die Strahlenwirkung am Sehorgan und das Trachom. Rohr­ schneider leitete nach seiner Emeritierung 1964 die Klinik noch zwei Jahre und erst nach weiteren zwei Jahren übernahm Otto-Erich Lund (geb. 1925) die Leitung der Klinik. Er hatte sich 1962 in Bonn habilitiert und zuletzt an der Augenklinik des Klinikums Essen gearbeitet. Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Das seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus verschiedenen Zweigen und abhängig von der Entwicklung besonderer instrumenteller Hilfsmittel, vor allem endoskopischer Geräte, entstandene Fachgebiet hat sich langsam entwickelt. Wenn auch bereits in den ersten Jahren in München Vorlesungen über Ohrenheilkunde nachgewiesen werden konnten, so hat sich doch erst im Jahre 1849 Martell Frank (1810 - 1886) für Ohrenheilkunde habilitiert. Frank war praktischer Arzt in München, später Bezirks- und Polizeiarzt und hat sich in dieser Eigenschaft besondere Verdienste bei der Bekämpfung der Cholera erworben. Sein Bericht über „Die Cholera-Epidemie in München in dem Jahre 1873/74, nach amtlichen Quellen dargestellt“ (1875) ist ebenso wie seine 1870 erschienene Schrift „Über die GesundheitsVerhältnisse Mün­ chens“ auch lokalhistorisch interessant. Aus dem Fachgebiet veröffentlichte Frank 1845 eine „Praktische Anleitung zur Erkenntnis und Behandlung der Ohren-Krankheiten “. Die erste Habilitation für Laryngologie erfolgte in München 1867, Max-Joseph Oertel (1835 - 1897) erhielt aufgrund seiner Ar­ beit „Über Gewächse im Kehlkopf und deren Operation auf endolaryngealem Wege“ die Venia legendi. Oertel erwies sich als erfolgreicher Lehrer, dessen Kurse in der laryngologischen Technik sich in ganz Süddeutschland großer Beliebtheit erfreuten. Sein Name ist in der Medizin jedoch aus anderem Anlaß zu einem Begriff geworden. Die nach ihm benannten Oertelschen Terrainkuren, ein wohlabgewogenes Regime zur Übungsbehandlung

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bei Herzkranken, gehen auf sein eigenes Krankheitserlebnis zurück. Die physischen Belastungen der großen Praxis führten bei Oertel, bei dem seit der Kindheit eine Kyphoskoliose bestand, frühzeitig zur Herzinsuffizienz. Dies veranlaßte ihn zu systematischen Studien, die viel Aufsehen erregten. In Ziemssens „Handbuch der allgemeinen Therapie“ veröffentlichte er unter dem Titel „Therapie der Kreislaufstörungen, Kraftabnahme des Herz­ muskels, ungenügender Compensation bei Herzfehlern, Fettherz und Fett­ sucht, Veränderungen im Lungenkreislauf“ (1884) die Ergebnisse seiner Un­ tersuchungen. Diese und andere Arbeiten Oertels zum gleichen Thema stehen selbstverständlich in Zusammenhang mit den Untersuchungen von Pettenkofer und Voit über Stoffwechsel und Ernährung. Der Anstoß, den die physikalisch-diätetische Therapie durch Oertel erhielt, hat sich nachhaltig bis in die Gegenwart ausgewirkt. 1876 ist Oertel zum ord. Professor für Laryngologie ernannt worden und hat bis zum Tode sein Amt versehen. Die Laryngologie erhielt nach ihm in Philipp Scheck (1845 - 1905), der aus der Würzburger Schule von Heinrich Bamberger und Carl Gerhardt kam, einen bereits erfahrenen Fachvertreter. Er hatte sich 1873 für RhinoLaryngologie habilitiert und war 1890 a. o. Professor für allgemeine und physikalische Therapie geworden. Als Schech die Nachfolge Oertels antrat, ging sein Extraordinariat an Hermann Rieder. Seit 1879 hielt Schech seine Kurse und Vorlesungen in den Räumen der medizinischen Poliklinik, wo ihm jedoch lediglich ein Raum zur Verfügung stand. 1898 wurde die laryngologische Poliklinik aus der medizinischen herausgelöst, erhielt einen eigenen Haushalt, anfangs in Höhe von jährlich 1000 Mark, 1902 wurde auch eine jährlich mit 500 Mark dotierte Assistentenstelle bewilligt. Die von Schech veröffentlichten Arbeiten beziehen sich ausschließlich auf sein Fachgebiet, wie z. B. „Die Erkrankungen der Nebenhöhle der Nase und ihre Behand­ lung“ (1883), „Die Tuberkulose des Kehlkopfs und ihre Behandlung“ (1883) und „Die Krankheiten des Kehlkopfs und der Luftröhre“. Die Münchener Ohrenheilkunde erhielt 1877 in Friedrich von Bezold (1842 - 1908) einen weit über die Grenzen des deutschen Sprachbereichs anerkannten Fachvertreter. Er hatte in München, Würzburg und Erlangen studiert, Prag, Wien und Berlin besucht und sich 1868 in München als prak­ tischer Arzt niedergelassen. Bei Einrichtung des medizinisch-klinischen In­ stituts im Krankenhaus 1. d. Isar wurde ein Ambulatorium für Ohrenkranke geschaffen, das Bezold unterstellt wurde, der sich ein Jahr vorher habili­ tiert hatte. 1886 wurde er, nachdem er einen Ruf nach Jena abgelehnt hatte, zum a. o. Professor ernannt. Erst 1902 wurde das „otiatrische Ambulatorium“ durch eine klinische Abteilung ergänzt, im sog. Nußbaumpavillon wurden

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Bezold zwei Zimmer mit jeweils 4 Betten zur Verfügung gestellt. Bezold hat durch seine Arbeiten zur Hörphysiologie, über Hörprüfungsmethoden, die Erkrankungen des Warzenfortsatzes, die Theorie der Mittelohreiterun­ gen, die Facialisparese u. a. ebenso wie durch seine operative Tätigkeit er­ heblich zu dem wachsenden Ansehen (seines Faches beigetragen. Im Jahre seines Todes erfolgte die Ernennung zum persönlichen Ordinarius. Neben dem Ambulatorium im medizinisch-klinischen Institut gab es seit 1885 auch in der Chirurgischen Poliklinik im Reisingerianum eine Ambulanz für Ohrenkranke, die anfangs zusammen mit der für Hautkranke und auch von dem gleichen Arzt abgehalten wurde. Rudolf Haug (1860 - 1909), dem diese Aufgabe zugefallen war, spezialisierte sich aber bald ganz auf die Otologie, konnte sich 1889 mit einer Schrift „Über die Organisationsfähigkeit der Schalenhaut des Hühnereies und ihre Verwendbarkeit bei Transplan­ tationen“ habilitieren, 1910 wurde er a. o. Professor und Vorstand der otiatrischen Poliklinik. Im Jahre 1902 wurde diese Poliklinik auch haushalts­ mäßig selbständig, nachdem sie bereits 1894 eigene Räume erhalten hatte. Unter Haugs Veröffentlichungen befinden sich zwei bemerkenswerte Ab­ handlungen: „Die Grundzüge der hygienischen Prophylaxe der Ohrenent­ zündungen“ (1895) und die auch in französischer Übersetzung erschienene „Hygiene des Ohres im gesunden und kranken Zustande“ (1902).

Als Nachfolger wurde Bernhard Heine (1864 - 1928) berufen, der sich 1903 als Oberarzt bei J. C. A. Lucae an der Universitätsklinik für Ohrenkrank­ heiten in Berlin habilitiert hatte und 1906 Extraordinarius in Königsberg ge­ worden war. Als er 1909 nach München kam, wurde ihm die Leitung der „Otriatrischen Klinik“ und der Ohrenpoliklinik übertragen. Erst 1921 bekam er eine eigene Klinik im Gebäude der ehemaligen Hebammenschule, ein Jahr später wurde sein Lehrstuhl zum planmäßigen Ordinariat erhoben. Heine, der seine allgemeine chirurgische Grundausbildung an der v. Bergmannschen Klinik in Berlin bekommen hatte, war nicht nur ein ausgezeich­ neter Operateur, sondern auch ein gewissenhafter klinischer Forscher und Lehrer. Sein Hauptwerk „Operationen am Ohr“ (1903) ist in mehreren Auf­ lagen und Übersetzungen erschienen. Nachfolger Schechs in der Leitung der laryngologischen Poliklinik wurde Hans Neumayer (1865 - 1938), der sich 1895 in München für Laryngologie habilitiert hatte. Er wurde im gleichen Jahr wie Heine zum Ordinarius er­ nannt (1922), so daß nun beide Fachrichtungen gleichberechtigt in Klinik, Unterricht und Prüfungen vertreten waren. Im neuen Poliklinikgebäude erhielt Neumayer 16 Räume, darunter auch einen Kurssaal, der gemeinsam mit der otriatischen Poliklinik benutzt wurde. Bei Ausbruch des Ersten

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Weltkrieges wurde die Poliklinik als Lazarett eingesetzt und Neumayer er­ hielt eine Spezialstation für Verletzungender oberen Luftwege.

Die Vereinigung der Otologie mit der Rhino-Laryngologie erfolgte 1934 nach der Emeritierung von Neumayer. 1930 war nach fast zweijähriger Vakanz des Lehrstuhles Wilhelm Brünings (1876 - 1958) als Nachfolger Hei­ nes berufen worden. Nach dem Studium der Naturwissenschaften und der Medizin hatte Brünings sich 1907 in Zürich für Physiologie, 1909 in Freiburg für Laryngologie und schließlich in Jena für Otologie habilitiert. Seit 1921 war er bereits Ordinarius für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Greifswald, seit 1926 in Jena, in beiden Fällen als Nachfolger von Karl Wittmaack ge­ wesen. Brünings, der sich bereits als Assistent mit der technischen Weiter­ entwicklung des Instrumentariums beschäftigt hatte, erwarb sich vor allem um den Ausbau der Bronchoskopie Verdienste. Seine beiden Monographien „Technische Grundlagen zur Endoskopie der Luft- und Speisewege“ (1909) und „Die direkte Laryngoskopie und Oesophygoskopie“ (1910) gehören zu den klassischen Werken über endoskopische Diagnostik. Nach der Emeritierung Brünings wurde 1952 Alexander Herrmann (geb. 1900) nach München berufen. Er hatte sich 1928 in Gießen habilitiert, war 1939 Ordinarius in Greifswald und 1946 in Mainz gewesen. Als glänzender Tumorchirurg im Kopf-Halsbereich hat Herrmann der Klinik sein beson­ deres Gepräge gegeben. Die 1968 erschienene Monographie „Gefahren bei Operationen an Hals, Ohr und Gesicht“ bestätigt seine großen Erfahrungen. Auch ihm blieb es wie seinem Vorgänger Brünings versagt, den in Aussicht gestellten Klinikneubau zu beziehen. Erst sein Nachfolger, Hans Heinz Nau­ mann (geb. 1919), bereitet dieses Ereignis vor. Er ist 1970 dem Rufe in die bayerische Landeshauptstadt gefolgt, nachdem er seit 1962 den Lehrstuhl seines Faches in Berlin, zuerst am Krankenhaus Westend und seit 1969 am Klinikum Steglitz innegehabt hatte.

Frauenkrankheiten Die Geschichte der Geburtshilfe und Gynäkologie in München ist weit­ gehend die der beiden Frauenkliniken, die heute an der Münchener Uni­ versität bestehen. Die Entstehung der I. Frauenklinik ist durch ihre Verbin­ dung mit der Hebammenschule zugleich auch eng verknüpft mit der Früh­ geschichte der Geburtshilfe in der bayerischen Landeshauptstadt. Mit gutem Recht haben alle Historiographen die Gebärstube des Heiligen-Geist-Spitals als die Vorläuferin der Hebammenschule bezeichnet, deren Wurzeln damit bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen. Im Jahre 1755 wurde vom Kurfürsten

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die Anstellung von Hebammenlehrern verfügt, 1777 der eigentliche Schul­ betrieb durch Einführung von dreimonatigen Ausbildungskursen für Heb­ ammen begründet. Bereits 5 Jahre später ist der Unterricht auch auf Ärzte und Wundärzte ausgedehnt worden, dafür wurden zwei Professoren ange­ stellt. Im Jahre 1802 ist die Schule in das ehemalige Kinderhaus vor dem Sendlinger Tor verlegt worden, wo von 1809 bis 1816 jedoch kein Unterricht abgehalten worden ist. 1819 wurde die Gebär anstatt zusammen mit der Hebammenschule in das Allgemeine Krankenhaus verlegt. Hier verblieb sie bis zum Jahre 1832.

In dieser Zeit begann die Benutzung als Universitätsklinik. Erster Lehrer des Faches war Johann Baptist (v.) Weissbrod (1778 - 1865), der schon vorher an der Landärztlichen Schule den Lehrstuhl für Geburtshilfe und gericht­ liche Medizin innegehabt hatte und gleichzeitig auch Kreismedizinalrat war. Bis zu seinem 80. Lebensjahr (1858) war er als akademischer Lehrer tätig. Neben Weissbrod, der für den Unterricht der Medizinstudenten in erster Linie verantwortlich war, ist Johann Nepomuk Berger (gest. 1847) a. o. Pro­ fessor für Geburtshilfe und zugleich Direktor der Hebammenschule gewesen. Sein Nachfolger Anselm Martin (geb. 1807), der bis 1859 Direktor war, be­ kleidete gleichfalls ein Extraordinariat. Das Nebeneinander von Geburts­ hilflicher Klinik und Hebammenschule brachte mancherlei Schwierigkeiten mit sich, vor allem durch die wechselnden Unterstellungsverhältnisse und die doppelte Trägerschaft von Stadt und Staat. Von 1832 bis 1853 wurden die Hebammenschule und die Geburtshilfliche Klinik notdürftig im ehe­ maligen Choleraspital in der Sonnenstraße untergebracht, da sie aus dem Verband des Allgemeinen Krankenhauses ausscheiden mußten. Dies stand in Zusammenhang mit der dort erfolgten Übernahme der Pflege durch den Orden der Barmherzigen Schwestern. Die Herausnahme der Geburtshilf­ lichen Abteilung war Bedingung für die Arbeitsaufnahme des Ordens. Acht Jahrzehnte später hat derselbe Orden die Pflege in der gleichen Frauen­ klinik übernommen, wie Döderlein dann in seinem historischen Rückblick bei Eröffnung der neuen Klinik 1916 befriedigt feststellen konnte. Die unerfreulichen Verhältnisse, unter denen in den folgenden Jahren ge­ arbeitet werden mußte, besserten sich erst mit dem Einzug in einen Neubau, das sogenannte „Rote Haus“ in der Sonnenstraße. Es konnte 1857 bezogen werden. Der damalige Direktor der Hebammenanstalt Anselm Martin hat „Die neue Gebäranstalt in München“ in Buchform beschrieben. Mit den baulichen Vorkehrungen, wie z. B. zur funktionellen Trennung der Ge­ bäudeteile und einer aufwendigen Belüftungsanlage, galt die Anstalt als mustergültig und man glaubte alle erdenklichen Vorkehrungen gegen das

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Kindbettfieber getroffen zu haben. Leider zeigte sich bald, daß es damit nicht getan war. Große Sorgen machten auch die hohen Kosten des Unter­ halts der Klinik und es wurde sogar ernsthaft erwogen sie ganz zu schließen und in dem Haus eine Schule unterzubringen.

Als Anselm Martin 1859 in den Ruhestand trat, wurde Karl (v.) Hecker (1827 - 1882) sein Nachfolger. Er war in Berlin geboren und Sohn von Justus Friedrich Karl Hecker (1795 - 1850), dem ersten deutschen Ordinarius für Medizingeschichte und Begründer der historisch-geographischen Pathologie. Hecker hatte sich nach vielseitiger Ausbildung u. a. bei Dietrich Wilhelm Heinrich Busch (1788 - 1858) im Jahre 1853 habilitiert und war 1858 Ordi­ narius in Marburg geworden. Ein Jahr später kam er bereits nach München. Während Heckers Amtszeit erfuhr die Frauenheilkunde durch die Einfüh­ rung der Antisepsis und damit wirksamere Maßnahmen gegen das Kind­ bettfieber und die Entwicklung der operativen Gynäkologie eine erhebliche Erweiterung. An der Münchener Klinik ist er den zeitgemäßen Bestrebun­ gen gefolgt. Die neuen Aufgaben verursachten aber auch neuen Raum­ bedarf, der in dem vorhandenen Gebäude nicht befriedigt werden konnte. Hecker, einer der erfahrensten Geburtshelfer seiner Zeit hat u. a. „Beobach­ tungen und Untersuchungen aus der Gebäranstalt München, umfassend den Zeitraum von 1859 - 1879“ veröffentlicht, worin er über 17 000 Entbindungen berichtet hat. Im Jahre 1874/75 ist er Rektor der Universität gewesen. Nach Heckers frühem Tod wurde Franz (v.) Winckel (1837 - 1911) berufen, der wie sein Vorgänger aus der Berliner Universitäts-Entbindungsanstalt her­ vorgegangen und schon von 1864 bis 1872 Lehrstuhlinhaber für Gynäkologie und gerichtliche Medizin in Rostock und anschließend Direktor der Königl. Entbindungsanstalt in Dresden gewesen war. Winckel wurde bei seiner Be­ rufung die Übernahme der Klinik und der Hebammenschule durch den Staat versprochen, die dann auch 1884 gegen Zahlung einer Entschädigung von 500 000,— Mark erfolgt ist. Damit verbunden war auch die Schaffung einer einheitlichen Leitung für beide Einrichtungen. Immerhin dauerte es noch bis zum Jahre 1900 ehe auch ein Neubau an der Pettenkoferstraße für die Hebammenschule errichtet werden konnte. Der Zusammenhang mit dem Ge­ bäude in der Sonnenstraße blieb erhalten, so daß die gemeinsamen Auf­ gaben wahrgenommen werden konnten. Bei diesem Neubau handelt es sich um das heute von der Hals-Nasen-Ohren-Klinik genutzte Gebäude. Unter den zahlreichen Schriften v. Winckels haben sein „Lehrbuch der Frauen­ krankheiten“ (1. Auflage 1886) und sein „Lehrbuch der Hebammenkunst“ (1. Aufl. 1875) große Verbreitung gefunden. Er war auch Herausgeber eines „Handbuch der Geburtshilfe“ (3 Bde., 1903 - 1907).

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Nach Winckels Emeritierung im Jahre 1907 erhielt Albert Döderlein (1860 - 1941) den Lehrstuhl. Er hat 27 Jahre lang der Klinik und der Hebam­ menschule vorgestanden und ganz wesentlich zum Ruf des Faches über München hinaus beigetragen. Döderlein stammte aus Augsburg, hatte sich 1887 bei Paul Zweifel (1848 - 1921) habilitiert, 1897 den Lehrstuhl in Gro­ ningen und noch im gleichen Jahr den in Tübingen bekommen. Er ließ die Räume des Neubaus als operative Abteilung ausbauen und die Schule in das „Rote Haus“ zurückverlegen. Im Jahre 1912 wurde das in der Sonnenstraße benachbart gelegene Reisingerianum durch Inbetriebnahme des Poliklinik­ neubaus frei und der Klinik zur Verfügung gestellt. Nun konnte die Heb­ ammenschule dort untergebracht werden, die jedoch bei Beginn des Ersten Weltkrieges ihren Betrieb einstellen mußte, um ein Vereinslazarett aufzu­ nehmen. Im Jahre 1910 gelang es Döderlein schließlich, den schon von seinen Vorgängern immer wieder geforderten Klinikneubau durchzusetzen. Die Geschichte und die baulich-räumliche Gliederung der Klinik, die Arbeits­ organisation und die Einrichtung hat er selbst beschrieben (1917). Mit einem Aufwand von 5 Mill. Mark war in vierjähriger Bauzeit eine Anstalt ent­ standen, die allen Anforderungen entsprach und weltweites Interesse auf sich gezogen hat. Die geburtshilfliche und die gynäkologische Abteilung konnten 1916 eröffnet werden, die Hebammenschule wurde aber auch im Neubau noch bis 1919 als Lazarett beansprucht. Das frühere Klinikgebäude in der Sonnenstraße, das „Rote Haus“, wurde später zum Postscheckamt umgebaut und dient noch heute diesem Zweck.

Döderlein hat in seiner Habilitationsschrift „Spaltpilze in den Lochien des Uterus und der Vagina gesunder und kranker Wöchnerinnen“ (1887) erstmals darauf hingewiesen, daß die Scheidenkeime bei Gesunden Schutz­ funktionen haben, eine Feststellung, die zur Korrektur der damals ein­ seitigen Betrachtung der Bakterien als pathogene Erreger beigetragen hat. Das von ihm beschriebene Lactobacterium acidophilum ist in Verbindung mit seinem Namen in die Literatur eingegangen. Bedeutungsvoll waren seine Arbeiten über die geburtshilfliche Asepsis und den extraperitonealen Kaiserschnitt, sowie seine Beiträge zur operativen Behandlung der gynäko­ logischen Geschwülste. Obwohl selbst ein hervorragender Operateur, hat sich Döderlein später nachdrücklich für die Strahlentherapie eingesetzt. Ein ungewöhnlicher Bucherfolg wurde sein „Leitfaden für den geburtshilf­ lichen Operationskurs“, der erstmals 1893 erschien, viele Auflagen erlebt hat und mehreren Ärztegenerationen ein lebenslanges Vademecum ge­ wesen ist. Unter Döderlein wurde die Münchener I. Frauenklinik zu einer von ausländischen Ärzten bevorzugten Ausbildungsstätte, was sich wie-

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derum auf den internationalen Ruf der Anstalt und ihres Leiters ausge­ wirkt hat.

Als Döderlein mit 74 Jahren die Leitung der Klinik abgab, folgte auf ihn Heinrich Eymer (1883 - 1965). Eymer war Schüler von Carl Menge (1864 1945) in Heidelberg, wo er sich 1917 habilitiert hatte. Ein viermonatiger Studienaufenthalt bei Heinrich Ernst Albers-Schönberg (1865 - 1921) am Krankenhaus St. Georg in Hamburg war bestimmend für seine Arbeits­ richtung als Gynäkologe geworden. Auf Anregung von Albers-Schönberg hat er die Strahleneinwirkung auf die Ovarien untersucht. Schon früh fand er die Prinzipien der röntgenologischen Beckenmessung, 1912 hat er über die Entzündungsbestrahlung berichtet. Im Jahre 1913 erschien seine Mono­ graphie „Die Röntgenstrahlen in Gynäkologie und Geburtshilfe“. Von ihm stammt auch die als „Heidelberger Methode“ bekannt gewordene gynäko­ logische Bestrahlungstechnik. Von 1924 bis 1930 war Eymer Ordinarius in Innsbruck und ging dann als Nachfolger von Carl Menge zurück nach Hei­ delberg. Er hat selbst bestätigt, daß ihn nach München die „herrliche Klinik und die stattlichen Radiumbestände“ und nach einem so bedeutenden Manne wie Döderlein das Lehramt übernehmen zu können gelockt haben. Unter Eymer wurde u. a. die bereits erheblich veraltete Röntgenabteilung moder­ nisiert. Auf dem Gebiet der gynäkologischen Strahlentherapie entwickelte sich die Klinik zu einem der großen Zentren. Das letzte Jahrzehnt seiner Tätigkeit stand unter den Zeichen von Krieg und Nachkrieg, insbesondere der Behebung der Schäden, der Aufrechterhaltung des Klinikbetriebes und des Wiederaufbaus.

Im Jahre 1954 wurde Werner Bickenbach (geb. 1900) Nachfolger des emeri­ tierten Heinrich Eymer. Bickenbach hatte sich 1929 in Bonn habilitiert und war 1943 Ordinarius in Münster, 1950 in Tübingen geworden. In klarer Er­ kenntnis des Wertes der Strahlentherapie für die Gynäkologie hat er sich tatkräftig für den weiteren Ausbau dieser Klinikabteilung eingesetzt. Der Einbau der Hochvoltbestrahlungsanlagen und weitere durchgreifende Modernisierungsmaßnahmen sind unter seinem Direktorat veranlaßt und begonnen worden. Dadurch gehört die Klinik nicht nur nach den Patienten­ zahlen sondern auch ausstattungsmäßig zu den führenden Zentren der gynäkologischen Geschwulstbehandlung. Durch Bickenbachs eigene Unter­ suchungen auf dem Gebiet der Perinatologie wurde die Klinik als eine der ersten in Deutschland auf diesem Teilgebiet praktisch und wissenschaftlich aktiv. Auch für die Zytologie wurden gute Arbeitsmöglichkeiten geschaffen. In den ersten Jahren seiner Münchener Tätigkeit mußte sich Bickenbach noch um die Beseitigung der letzten Kriegsfolgen und der dadurch veran­

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laßten Notlösungen bemühen. Unter seinen Veröffentlichungen gehören sein „Hebammenlehrbuch“ (1962) und das zusammen mit H. Martius herausge­ gebene „Lehrbuch der Geburtshilfe“ (1913) sowie die mit G. K. Döring ge­ meinsam verfaßte „Die Sterilität der Frau“ (1959, 1964) zur wichtigen neue­ ren Literatur des Faches. Jetziger Lehrstuhlinhaber ist seit 1970 Josef Zander (geb. 1918), vorher seit 1964 Ordinarius und Direktor der Frauenklinik in Heidelberg. Er ist aus der Kölner Klinik von Carl Kaufmann hervorgegangen und durch Veröf­ fentlichungen auf dem Gebiet der Endokrinologie bekannt geworden.

Die II. Frauenklinik ist 1884 als Gynäkologische Abteilung auf Anregung und mit Unterstützung von Nußbaum durch Josef Amann (1832 - 1906) mit 12 Betten im Allgemeinen Krankenhaus 1. d. I. begründet worden. Josef Amann, der seine gynäkologische Ausbildung bei Simpson in London, später bei Scanzoni in Würzburg erhalten und durch Studienaufenthalte in Berlin, Paris, Wien und Prag erweitert hatte, konnte sich 1861 in München habili­ tieren. 1868 gelang es ihm, die Einrichtung einer gynäkologischen Poliklinik im Reisingerianum durchzusetzen. Als die Chirurgische Klinik 1891 ihren Neubau erhielt, bekam auch die II. Gynäkologische Abteilung dort Unter­ kunft. Nachdem Josef Amann 1898 die Leitung der Klinik abgegeben hatte, wurde sein Sohn Josef Albert Amann (1866 - 1919) mit der Klinikleitung betraut und 1906 zum planmäßigen Extraordinarius ernannt. Amann jun. hat sich sowohl als tüchtiger Operateur wie auch durch seine pathologisch­ histologischen Untersuchungen Verdienste erworben. Er gehört zu den Be­ gründern der gynäkologischen Urologie und hat über erste Erfahrungen mit der Ureterenchirurgie berichtet. Seine zähen Bemühungen vermochten die Beschlüsse zum Neubau einer Gynäkologischen Universitätsklinik und einer städtischen Gynäkologischen Abteilung herbeizuführen und durchzu­ setzen. Im Herbst 1917 konnte die neue Klinik eröffnet werden.

Schon bei der Planung des Neubaus war die Einrichtung einer geburts­ hilflichen Station in Erwägung gezogen worden, so daß Amanns Nachfolger Franz Weber (1877 - 1933) die Erweiterung zu einer vollständigen Frauen­ klinik 1926 genehmigt bekam. Die neue Klinik mit 200 Betten verfügte auch über eine eigene Strahlenabteilung, physikalisch-therapeutische Einrich­ tungen und die notwendigen Unterrichtsräume. Weber war aus der I. Frauenklinik hervorgegangen und hatte sich unter Döderlein 1911 für Ge­ burtshilfe und Gynäkologie habilitiert. Mit seiner Ernennung zum Direktor der Klinik wurde er planmäßiger Extraordinarius. Seine Beiträge zum „Handbuch der Geburtshilfe“ behandeln die „mehrfache Schwangerschaft“, die Extrauteringravidität und die operative Behandlung des Puerperal17

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fiebers sowie die Mastitiden. Nach seinem Tode folgte ihm Otto Eisenreich (1881 - 1947), vorher Oberarzt bei Döderlein, der sich 1914 habilitiert hatte und 1920 a. o. Professor geworden war. Er wurde 1936 persönlicher Ordina­ rius. Der jetzige Direktor der II. Frauenklinik Richard Fikentscher (geb. 1903), von 1939 bis 1946 Oberarzt dieser Klinik, hat den Wiederaufbau und den erneuten Ausbau der Klinik geleitet (1950 planmäßiger Extraordina­ rius, 1959 persönlicher und 1962 planmäßiger Ordinarius). Das Schwerge­ wicht seiner wissenschaftlichen Arbeit liegt auf dem Gebiet der Fertilität und Sterilität.

Haut- und Geschlechtskrankheiten Die Geschichte des Faches und der Klinik beginnt in München mit der Errichtung einer Abteilung für Syphilitische und Krätzekranke am Allge­ meinen Krankenhaus im Jahre 1831. Johann Narr (1802 - 1869) hatte 1826 in Würzburg promoviert und sich 1828 in München habilitiert. Narr wurde bereits 1832 als Nachfolger Schönleins nach Würzburg berufen. Die Klinik übernahm Franz Seraph Horner (1798 - 1865), der 1834 Honorarprofessor wurde. Als er 1859 aus Gesundheitsgründen die klinische Tätigkeit auf­ geben mußte, wurde Lindwurm sein Nachfolger. Lindwurm wurde 1863 erster ordentlicher Professor des Faches. Nach seinem Weggang (1869) hatte die Klinik zuerst keinen Leiter, dann wurde Karl Posselt (1837 - 1916), der für Chirurgie habilitiert war, damit betraut. Die Abteilung wurde allerdings als III. Medizinische Abteilung bezeichnet. Erst im Jahre 1902 wurde sie wie­ der ausschließlich für die Dermatologie bestimmt. Posselt wurde 1886 Extra­ ordinarius. Sein Nachfolger Leo von Zumbusch (1874 - 1940), der seit 1913 Leiter der seit 1886 bestehenden dermatologischen Poliklinik war, wurde 1922 Ordinarius. Die Klinik war im Erdgeschoß des Allgemeinen Kranken­ hauses bescheiden untergebracht. Für Zumbusch wurde 1928 ein neues Klinikgebäude in der Frauenlobstraße in Verbindung mit der Städtischen Krankenabteilung in der Thalkirchener Straße gebaut, das bis zur Gegen­ wart nach Beseitigung der Kriegsschäden und einigen baulichen Verände­ rungen in Benutzung ist. Zumbusch, als Sohn des bekannten Bildhauers Caspar v. Zumbusch in Wien geboren, hatte sich 1906 in Wien für Derma­ tologie habilitiert. Im Jahre 1913 kam er als Extraordinarius nach München. Seine „Therapie der Hautkrankheiten “ (1908), „Atlas der Syphilis“ (1922) und „Atlas der Hautkrankheiten“ (1923 - 1925) zeugen von seiner reichen Erfahrung und großem didaktischen Geschick. Sein Nachfolger wurde nach seiner Emeritierung (1935), die durch politische Intrigen ausgelöst und von üblen Verunglimpfungen begleitet war, Julius Karl Mayr (1888 - 1965), bis dahin Oberarzt der Klinik. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Lehrstuhl

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erst 1950 wieder besetzt worden. Alfred Marchionini (1899 - 1965), der sich 1928 in Freiburg habilitiert und von 1938 bis 1948 in der Emigration in der Türkei gelebt hatte, zuletzt 1945 als Ordentlicher Professor und Direktor der Universitätshautklinik in Istanbul und 1948 dem Ruf nach Hamburg gefolgt war, erhielt die Leitung der Klinik. Als bedeutender Arzt, akademischer Lehrer und anerkannter Forscher hat Marchionini der Klinik mächtigen Auftrieb gegeben und darüber hinaus für die Fakultät und als Rektor der Universität segensreich gewirkt. Besondere Anerkennung fanden seine Be­ mühungen, für die deutsche Wissenschaft, vor allem die Medizin, wieder die internationalen Verbindungen anzuknüpfen. Sein Tod wurde weit über München hinaus besonders schmerzlich empfunden. Die Leitung der Klinik liegt sei 1966 in den Händen von Otto Braun-Falco (geb. 1922), der vorher seit 1961 den Marburger Lehrstuhl inngehabt hat.

Innere Medizin Was heute unter „Innerer Medizin“ verstanden wird und in den mit dem traditionellen Namen „Medizinische Klinik“ belegten Krankenhauseinrich­ tungen ausgeübt wird, war im Anfang des hier erörterten Zeitabschnitts in noch viel stärkerem Umfang als heute das wirkliche Kernstück der Medizin. Hier lernte man den weitaus größten Teil dessen, was der Arzt zur Berufs­ ausübung wissen mußte und erlebte dabei die Heilkunde als noch eine ge­ schlossene Einheit. Dies gilt mit Sicherheit für die ersten Jahrzehnte der Münchener Medizinischen Fakultät. Anfangs bestand nur eine Aufgaben­ teilung in Unterricht und Praxis mit den Chirurgen, denen noch lange der Geruch des Erfüllungsgehilfen anhing. Erst seit der Mitte des Jahrhunderts kam es anfangs zögernd, dann gegen die Jahrhundertwende zu in nicht mehr zu übersehender Weise zur Abspaltung von Fachgebieten. Auch die­ jenigen Lehrstühle, Kliniken und Institute, über die hier neben der „Inneren Medizin“ berichtet wird, sind infolge dieser Spezialisierungstendenz ent­ standen. Die Bestrebungen zur Verselbständigung haben oftmals aus menschlichen Gründen zu einer stärkeren Abtrennung geführt als allein aus sachlichen Gründen erforderlich gewesen wäre. Dies ist nur zum Teil dadurch ausgeglichen worden, daß gerade in München bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts weitblickende Repräsentanten einer gesamten Medizin als Leiter der Medizinischen Kliniken gewirkt haben. An ihnen ist nicht etwa eine Entwicklung vorbeigegangen, auch wenn mancher Zeitge­ nosse es gelegentlich so hat sehen wollen, sie haben vielmehr eine Medizin erhalten wollen, wie sie den Bedürfnissen und Erwartungen des Kranken entspricht. In den letzten Jahrzehnten sind in der Forschung am Kranken­ 17*

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bett und in den Laboratorien der Medizinischen Kliniken, aber auch in der Krankenversorgung Bestrebungen zur Subspezialisierung der Inneren Me­ dizin zu erkennen. Von einer Auflösung der einheitlichen Aufgabenbereiche kann jedoch nicht gesprochen werden. Es zeigen sich, je näher man der Gegenwart kommt, eher schon wieder Tendenzen zu einer engeren Ver­ flechtung. Dabei spielen allerdings nicht nur medizinisch-wissenschaftliche und ärztlich-praktische sondern auch betriebswirtschaftliche Überlegungen mit.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren die städtischen und die Unter­ richtskliniken im Allgemeinen Krankenhaus so aufgeteilt, daß für Unter­ richtszwecke 16 Krankensäle im Erdgeschoß verwendet wurden, wobei den beiden medizinischen Kliniken und den chirurgischen Kliniken je 4 Säle zur Verfügung standen. In den oberen Sälen waren die städtischen Abteilungen untergebracht, für den Unterricht wichtige Kranke wurden jeweils in die unteren Säle überführt. Diese strenge Trennung blieb sogar noch aufrecht­ erhalten, nachdem im Jahre 1874 Hörsäle erbaut worden waren und die Kranken dort vorgestellt wurden. Aber auch die Unterweisung am Kranken­ bett mußte wegen der Zunahme der Studentenzahl nun zusätzlich noch in den oberen Krankensälen der städtischen Abteilungen stattfinden. Auch wenn die Trennung der Inneren Medizin in zwei Kliniken ledig­ lich in organisatorischer Hinsicht, kaum jedoch für die eigentliche Entwick­ lung und Wandlung des Faches an der Fakultät von Bedeutung ist, so wird in dieser Darstellung der Übersichtlichkeit wegen doch dieser Gliederung gefolgt. Es überrascht nicht, daß die Münchener Medizin in den ersten Jahr­ zehnten unter dem Einfluß der Naturphilosophie gestanden hat. Schellings Zugehörigkeit zur Universität und die starke Persönlichkeit von Johann Nepomuk (v.) Ringseis (1785 - 1880), der sich in der Landshuter Zeit Rösch­ laub angeschlossen hatte, haben dafür eine entscheidende Rolle gespielt. Die Mehrzahl der Münchener Professoren der Medizin gehörte allerdings zu den „empirisierenden Schellingianern“, daneben gab es Vertreter der alten Humoralpathologie im Sinne Stolls, auch der Brownianusmus hatte seine Anhänger. Sein früher Tod hat Ernest (v.) Grossi (1782 - 1829), der wie Carl (v.) Loe (1786 - 1838) zur naturhistorischen Richtung gehörte, daran gehin­ dert, sich für die Neuorientierung der Klinik einzusetzen und z. B. die Per­ kussion und Auskultation einzuführen. So aber fand die Münchener Fakultät den Anschluß nicht, da Franz Xaver (v.) Gietl (1829 - 1885) sich einer natur­ wissenschaftlich orientierten Medizin verschloß, was noch mehr für Ringseis gelten konnte. Übrigens hat Ringseis noch bis 1836 seine Vorlesungen in lateinischer Sprache gehalten, auch Loe tat dies versuchsweise. Die Studen-

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ten waren jedoch außerstande, diesem Unterricht zu folgen und beide be­ nutzten fortan die deutsche Sprache. Daß der sonst modern eingestellte Grossi noch den größten Teil seiner Schriften in lateinischer Sprache drucken ließ, war der Grund für die ungenügende Resonanz seines Wirkens. Die Homöopathie hat in München auch einen akademischen Vertreter in Johann Josef Roth (1804 - 1859) gefunden, der von 1830 bis 1841 die Lehre Hahne­ manns in Vorlesungen behandelt hat. Wie auch andernorts versuchten ein­ flußreiche Regierungsmitglieder die Bemühungen um Schaffung einer be­ sonderen klinischen Abteilung für das homöopathische Heilverfahren zu fördern, Loe vereitelte jedoch energisch alle derartigen Versuche. Die ersten drei Leiter der I. Medizinischen Klinik Grossi, Loe und Gietl sind damit auch bereits gewürdigt worden. Grossi leitete die Klinik bis zu seinem Tode im Jahre 1820, dann folgte Loe bis 1838. Loe vertrat als Lehrer aber nicht die „Innere Medizin“ sondern die Psychiatrie und die Kinderheil­ kunde und dürfte in seiner Klinik auch bevorzugt solche Patienten aufge­ nommen haben. Gietl war Assistent bei Grossi und Walter gewesen und 1834 Leibarzt des Kronprinzen Maximilian geworden. Kurze Zeit leitete er nach Walthers Rücktritt die Chirurgische Klinik und wurde dann Direktor der I. Medizinischen Klinik. Er leitete sie bis zu seinem im Alter von fast 82 Jah­ ren erfolgten Tod.

Nachfolger Gietls wurde Hugo (v.) Ziemssen (1829 - 1902), der schon seit 1874 als Leiter der II. Medizinischen Klinik der Fakultät angehört hatte. Sein Einfluß auf die Entwicklung der inneren Klinik, des Krankenhauses 1. d. Isar und die Fakultät war so nachhaltig, daß etwas mehr über seine Person und sein Lebenswerk gesagt werden muß. Ziemssen war in Greifswald geboren und hatte dort, in Berlin und in Würzburg Medizin studiert. In Würzburg war er Privatassistent bei Virchow gewesen, der ihm den Weg zur natur­ wissenschaftlichen Medizin gewiesen hat. Nach der Promotion und dem Staatsexamen, das Ziemssen 1854 in Berlin abgelegt hatte, ging er an die Medizinische Poliklinik in Greifswald. Bereits nach zwei Jahren habilitierte er sich mit einer Schrift über „Die Elektrizität der Medizin“, die in erwei­ terter Form insgesamt 6 Auflagen erlebt hat und grundlegende Bedeutung für die Anwendung des elektrischen Stroms zur Diagnostik und Therapie neurologischer Erkrankungen bekommen hat. Im Jahre 1863 wurde Ziems­ sen als Nachfolger Kussmauls nach Erlangen berufen, wo er literarisch außerordentlich fruchtbare Jahre verbrachte. Er begründete zusammen mit Albert Zenker (1825 - 1898) das „Deutsche Archiv für klinische Medizin“, und begann mit der Arbeit an seinem „Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie“, das in 17 Bänden von 1875 bis 1885 erschien, und später fast

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ganz auch in einer 2. und 3. Auflage herausgekommen ist. Das große An­ sehen, das Ziemssen in dieser Zeit gewonnen hatte, wurde dadurch bestätigt, daß er in den 11 Jahren seines dortigen Aufenthaltes acht Rufe an andere Universitäten erhielt. Er stand bereits in Verhandlungen mit Breslau, als durch den frühen Tod Josef v. Lindwurms im Jahre 1874 der Münchener Lehrstuhl und die Leitung der II. Medizinischen Klinik frei wurden. Ziems­ sen wurde als Nachfolger berufen und hat 28 Jahre lang in Bayerns Haupt­ stadt bis zu seinem Tode gewirkt. Anläßlich der Eröffnung des auf seine Anregung erbauten Klinischen Instituts hat er ein Bekenntnis abgelegt zur klinisch-experimentellen For­ schung und zum Vorrang der methodischen Schulung des angehenden Arz­ tes. „Meines Dafürhaltens ist das Experiment eine für alle Sparten des medizinisch-naturwissenschaftlichen Gebietes gleich unentbehrliche Me­ thode des Forschens, der Weg, zum Wissen und zur Wahrheit zu gelangen. Ob das Experiment am Menschen oder am Tiere angestellt wird, ob physi­ kalische oder chemische Hilfsmittel dabei zur Anwendung kommen — das ist im Prinzip irrelevant, wenn nur die notwendigen Prämissen für eine präzise Fragestellung gegeben sind.“ Als Lehrer war sich Ziemssen darüber klar geworden, daß der Zuwachs an Wissen und Methoden, der in den letzten Jahrzehnten erzielt worden war, auch Einfluß auf den Unterricht haben müsse: „ ... man darf die Anforderungen nicht unterschätzen, welche künf­ tighin an den medizinischen und speziell an den klinischen Unterricht ge­ stellt werden müssen. Es läßt sich nicht verkennen, daß wir an einem Wendepunkt des klinischen Unterrichtes angekommen sind und uns ent­ schließen müssen, einen guten Teil der alten Methoden des klinischen Unterrichts über Bord zu werfen. ... Nicht auf das vollendete Wissen, sondern auf die richtige physiologische Methode des Untersuchens und Be­ obachtens kommt es an und diese Methode soll und kann der Student auf der Universität erlernen, nicht bloß in theoretischer sondern auch in prak­ tischer Beziehung.“ Ziemssen hat sich in München auch, z. T. im Zusam­ menwirken mit Pettenkofer, erfolgreich den Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens gewidmet. Auf seine Anregung wurden am Münchener Stadtrand Rekonvaleszentenheime, Sanatorien und Volksheilstätten errich­ tet, wodurch die bayerische Hauptstadt beispielgebend für viele andere Städte wurde. Als Direktor des Allgemeinen Krankenhauses hat er den Bau der Chirurgischen Klinik gefordert und tatkräftig unterstützt. Er hat auch die „physikalisch-therapeutische Abteilung“ ins Leben gerufen, die unter seinem Schüler Hermann Rieder (1858 - 1932) Weltruf erlangte. Auf Ver­ anlassung Ziemssens hat Rieder hier sei 1898 auch röntgendiagnostisch ge­

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arbeitet und seit 1904 das nach ihm benannte Verfahren der Kontrastmittel­ untersuchung des Magen-Darmkanals entwickelt. Nachfolger Ziemssens wurde im Jahre 1902 Josef (v.) Bauer (1845 - 1912), der ihm bereits als Leiter der II. Medizinischen Klinik gefolgt war. Bauer war Schüler Lindwurms, hatte sich in München 1873 habilitiert und war durch Ziemssens Befürwortung 1876 Extraordinarius geworden. Im Unter­ richt mußte er die physikalische Diagnostik und die klinische Propädeutik vertreten. Ziemssen hatte die Teilung der Kliniken in eine für den Anfänger gedachte propädeutische und eine für den fortgeschrittenen Studenten mehr therapeutisch orientierte als zweckmäßig angesehen. Als Bauer dann die Leitung der II. Klinik erhalten hatte, wurde der propädeutische Charakter im Unterricht beibehalten.

Die Geschichte der II. Medizinischen Klinik im 19. Jahrhundert wurde in den ersten Jahrzehnten durch Ringeis bestimmt, der die Leitung bis 1852 behielt. Infolge seiner Beziehungen zum Königshaus und der in Personal­ union ausgeübten Stellung des Medizinalreferenten im Innenministerium hat er in der Universität und für die Fakultät eine gewichtige Rolle gespielt. Seine im „System der Medizin“ (1841) und bei verschiedenen Anlässen wie­ derholten Versuche, die Medizin auf die Grundlage der Offenbarungslehre zu stellen, Krankheit als Folge von Sünde und Gebete als zweckmäßige Heil­ maßnahmen zu erklären, fand wenig Anklang bei jüngeren Ärzten, die immer stärker der naturwissenschaftlichen Richtung zuneigten. Seine Aus­ einandersetzungen mit Schönlein, Wunderlich und Virchow u. a. blieben deshalb fruchtlos und sein kämpferisches Auftreten hat der Fakultät nur den Makel der Rückständigkeit eingebracht.

Erst sein Nachfolger Karl (v.) Pfeufer (1806 - 1869) vermochte der Klinik eine zeitgemäße Richtung zu geben. Pfeufer stammte aus Bamberg, hatte in Erlangen und Würzburg studiert und war Assistent bei Lukas Schönlein gewesen. Auf Veranlassung der bayerischen Regierung hatte er im Herbst 1831 Norddeutschland zum Studium der Choleraepidemie bereist. Seit 1833 war Pfeufer in München als Arzt tätig gewesen, seit 1837 als Landgerichts­ arzt in der Vorstadt Au. Im Jahre 1840 war er als Nachfolger Schönleins Professor der Medizin in Zürich geworden. Hier hatte er zusammen mit Jakob Henle (1809 - 1885) die „Zeitschrift für rationelle Medizin“ begründet, die in insgesamt 25 Jahrgängen erschienen ist. 1844 folgte Pfeufer dem Ruf nach Heidelberg, zwölf Jahre später kam er nach München, wo er gleich­ zeitig Medizinalreferent im Innenministerium wurde. Als solcher hat er so­ wohl auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung, wie auch durch den Erlaß wichtiger Medizinalverordnungen erfolgreich gewirkt. Aufgrund seiner

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Fürsprache ist auch der Hygienelehrstuhl für Pettenkofer geschaffen wor­ den. Nur wenige Jahre stand die Klinik anschließend unter der Leitung von Josef (v.) Lindwurm. Lindwurm stammte aus Würzburg, hatte dort studiert und 1849 promoviert. Studienaufenthalte in Wien, Paris, Edinburgh und Dublin brachten ihn in Verbindung mit namhaften Klinikern, vor allem mit William Stokes (1804 - 1878) in Dublin, dessen „Diseases of the heart and the aorta“ Lindwurm 1854 ins Deutsche übersetzt hat. Lindwurm habili­ tierte sich in München mit einer Arbeit „Der Typhus in Irland“ (1853) und wurde Extraordinarius. 1863 bekam er den Lehrstuhl für Haut- und Ge­ schlechtskrankheiten. Als er Nachfolger Pfeufers wurde, ist dieser Lehrstuhl aufgehoben worden. Lindwurm erfreute sich als Arzt und Lehrer großer Beliebtheit. Sein medizinisches Denken war durch den Aufenthalt in Eng­ land deutlich beeinflußt. In den Jahren von 1874 bis 1902 stand die Klinik unter der Leitung von Ziemssen und Bauer, über deren Leben und Werk schon in Zusammenhang mit der I. Medizinischen Klinik berichtet worden ist. Als Josef v. Bauer 1902 die Leitung der I. Klinik übernahm, wurde mit Friedrich (v.) Müller (1858- 1941) ein Kliniker nach München berufen, der 32 Jahre lang für die Fakultät die Bedeutung behielt wie sie Ziemssen im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts gehabt hatte.

Nur wenige deutsche Kliniker haben so wie Friedrich v. Müller schulbildend gewirkt. Er genoß größtes internationales Ansehen und hat für die Fakultät und die Universität weitblickende Entscheidungen getroffen. Friedrich v. Müller stammte aus Augsburg, hatte zuerst in München Natur­ wissenschaften studiert und dann Medizin. Nach einigen Semestern in Würz­ burg beendete er das Studium in München. 1882 wurde er Assistent bei Carl Gerhardt in Würzburg, mit dem er 1885 nach Berlin an die II. Medi­ zinische Klinik der Charite ging. In Berlin hat sich Müller 1888 habilitiert. Bereits ein Jahr später wurde er Extraordinarius für klinische Propädeutik und Laryngologie in Bonn. Die Hintergründe dieses Wechsels hat Friedrich v. Müller in seinen „Lebenserinnerungen“ mitgeteilt, die übrigens für seine Studienzeit und die Jahre als Klinikdirektor in München auch eine frucht­ bare und anschauliche Quelle zur Fakultätsgeschichte darstellen. Schon im folgenden Jahr erhielt Müller einen Ruf nach Breslau auf ein planmäßiges Extraordinariat für Laryngologie, wofür jedoch kein wirklicher Bedarf be­ stand, so daß er als Polikliniker für innere Medizin tätig wurde. 1892 erhielt er dann den ordentlichen Lehrstuhl für innere Medizin und die Leitung der Poliklinik in Marburg und wurde 1899 nach Basel berufen. Drei Jahre später ist er dann nach München gekommen.

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Außer seinen physiologisch-chemischen Untersuchungen hat Müller viel für »den Ausbau der physikalischen Diagnostik getan und über eine Reihe von klinischen Fragen gearbeitet, u. a. über die Basedowsche Krankheit und die Nephritis, über Ernährungsfragen und Erkrankungen der Atmungs­ organe. Sein bekanntestes Buch, das in seinem Todesjahr in 50. Auflage er­ schien und unter seinem Namen und dem seines Konassistenten Otto Seifert noch heute erscheint, ist das „Taschenbuch der medizinisch-klinischen Dia­ gnostik“. Unter seinen Schülern findet man die Namen bedeutender deut­ scher Internisten wie v. Domarus, Edens, Martini, Brogsitter, Lauter, Thann­ hauser und v. Kress. Von imponierender Größe ist der Einfluß, den er als Lehrer auf Generationen von Ärzten ausgeübt hat, die durch ihn in ärztlich­ klinisches Denken und Handeln eingeführt wurden, bei ihm diagnostische Sachlichkeit sowie die geistige Disziplin und aufrichtige Wahrheitsliebe in der wissenschaftlichen Arbeit gelernt haben. Die Leitung der II. Medizinischen Klinik erhielt 1934 nach der Emeritie­ rung Friedrich von Müllers, die den Zeitumständen entsprechend mit offe­ nen und versteckten Anwürfen gegen seine Person verknüpft war, der Kieler Ordinarius Alfred Schittenhelm (1874 - 1954). Schittenhelm hatte sich 1904 in Göttingen habilitiert. Er war dann zu Friedrich Kraus als Assistent an die Berliner Charite gegangen und hatte 1907 den a. o. Lehrstuhl für klinische Propädeutik und Geschichte der Medizin in Erlangen, 1912 den Lehrstuhl für innere Medizin in Königsberg und schließlich 1916 das Ordi­ nariat in Kiel erhalten. Schittenhelm, der vor allem durch seine Stoff­ wechselforschungen, seine Arbeiten zur Klinik der Infektionskrankheiten, über Blutkrankheiten und zur medizinischen Klimatologie bekannt ge­ worden ist, verlor 1945 den Lehrstuhl. Im darauf folgenden Jahr wurde Gustav v. Bergmann (1878 - 1955) sein Nachfolger, der bis dahin die Leitung der II. Medizinischen Klinik der Berliner Charite inngehabt hatte. Mit ihm kam einer der führenden deutschen Kliniker nach München, der noch sieben Jahre lang in schwerer Zeit als Klinikdirektor und akademischer Lehrer in München tätig sein konnte. Ihm folgte Gustav Bodechtel (geb. 1899), der sich 1932 in Erlangen habilitiert hatte, dann bei Schittenhelm in München ge­ arbeitet hatte, 1936 Oberarzt der neurologischen Universitätsklinik in Ham­ burg-Eppendorf, von 1938 bis 1940 Chefarzt der Inneren Abteilung des Krankenhauses in Dortmund gewesen und 1940 Ordinarius an der Medi­ zinischen Akademie in Düsseldorf geworden war. Seiner Arbeitsrichtung entsprechend hat er mit seinen Mitarbeitern auch in München den Grenz­ gebieten zur Neurologie besondere Beachtung geschenkt. Der jetzige Lehr­ stuhlinhaber und Direktor der II. Medizinischen Klinik Eberhard Buchborn

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(geb. 1921) ist 1971 dem Ruf nach München gefolgt, wo er sich 1958 habili­ tiert hatte. Buchborn war 1966 auf den zweiten Lehrstuhl für innere Medi­ zin an der Universität Köln berufen worden. Nach dem Tode von Josef v. Bauer wurde Ernst (v.) Romberg (1865 - 1933) Leiter der I. Medizinischen Klinik. Romberg war von 1889 bis 1900 Assistent bei Curschmann in Leipzig gewesen, hatte sich dort 1891 habilitiert und war dann über das poliklinische Extraordinariat und Ordinariat in Mar­ burg 1904 auf den Tübinger Lehrstuhl gekommen. Romberg war führend als Kreislaufforscher und Pulmologe. Sein „Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der Blutgefäße“ (1906) mußte mehrfach aufgelegt werden. Zu seinen Schülern gehörte u. a. Wolfgang Veil (1884 - 1946), der spätere Jenen­ ser Ordinarius.

Auf Romberg folgte Wilhelm Stepp (1882 - 1964), der aus Nürnberg stammte, 1907 in München promoviert und dann in Straßburg unter Hoff­ meister in der Physiologischen Chemie gearbeitet hatte. In seiner 1911 in Giessen vorgelegten Habilitationsschrift hatte er das Vorhandensein der­ jenigen Stoffe in der Nahrung von Versuchstieren nachgewiesen, die später die Bezeichnung Vitamine erhalten haben. Stepp war 1922 Direktor der Poliklinik in Gießen, zwei Jahre später Ordinarius und Direktor der Medi­ zinischen Klinik in Jena geworden. 1926 wurde er Nachfolger von Minkowski in Breslau und 1934 übernahm er die Leitung der I. Medizinischen Klinik in München. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs blieb er im Amt, wurde 1947 mit der kommissarischen Leitung der Würzburger Klinik beauftragt und 1948 emeritiert. Problemen der Ernährung war sein wissenschaftliches Werk gewidmet, in erster Linie der Bedeutung der Vitamine.

Mit Konrad Bingold (1886 - 1955) bekam die Klinik im Jahre 1947 wieder einen neuen Direktor. Bingold hatte sich 1920 in Hamburg habilitiert und vor allem durch Untersuchungen über die Blutfarbstoffchemie sowie über die innere Sekretion hervorgetan. Jetzt liegt die Leitung der Klinik seit 1956 in den Händen von Herbert Schwiegk (geb. 1906), der sich 1936 in Berlin an der Klinik Gustav v. Bergmanns habilitiert hatte und seit 1952 Inhaber des poliklinischen Lehrstuhls in Marburg gewesen war. Die Medizinische Poliklinik verdankt ihre Entstehung der Initiative von Karl Schneemann (1812 - 1850), der für die Abhaltung der Sprechstunden seine Privatwohnung zur Verfügung stellte. Durch Königlichen Erlaß wurde 1843 diese Poliklinik Universitätseinrichtung. Schneemann, der 1848 eine ordentliche Professur erhalten hatte, starb im Alter von 38 Jahren an einer Tuberkulose. Unter Franz Seitz (1811 - 1892), dem 1852 der Lehrstuhl über­ tragen wurde, erhielt die Poliklinik eigene Räume, 1863 kam sie in das

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Reisingerianum. Gleichzeitig erfolgte die Aufgliederung nach Fächern in eine medizinische, pädiatrische und chirurgische Poliklinik. Die Medi­ zinische Poliklinik stand von 1892 bis 1902 unter der Leitung von Friedrich Moritz (1861 - 1938), ihm folgte Fritz Voigt (1863 - 1944), der 1903 nach Er­ langen ging. Richard May (1863 - 1936) leitete die Poliklinik dann bis 1934. Seit Moritz gab es für den Leiter wieder nur Extraordinariate. Der 1934 be­ rufene Heinz Kürten (1891 - 1966) wurde 1935 persönlicher Ordinarius. Nach dem Zweiten Weltkrieg (1947) steht Walter Seitz (geb. 1905), seit 1959 als persönlicher und seit 1962 als planmäßiger Ordinarius der Medizinischen Poliklinik vor.

Kinderheilkunde An der Universität München ist die Pädiatrie eng verknüpft mit einer privaten Gründung, dem Dr. v. Haunerschen Kinderspital, und der Poli­ klinik im Reisingerianum. Beide Einrichtungen haben ihre eigene Ge­ schichte und waren nur für einen kurzen Zeitraum durch Personalunion miteinander verbunden. Aus diesem Grunde sollen sie auch hier getrennt behandelt werden.

Am 1. August 1846 eröffnete der damals 35jährige Dr. August Hauner (1811 - 1884) in einer Mietwohnung in der Sonnenstraße 27 eine klinische Behandlungsstätte für Kinder mit 6 Betten. Hauner, der in München und in Wien studiert, 1835 an der Münchener Universität promoviert hatte, nahm sich das St. Annen-Hospital für Kinder in Wien als Vorbild. 1845 hatte er bei Ludwig I. um die Genehmigung zur Gründung einer eigenen Heilanstalt für Kinder bis zum 6. Lebensjahr nachgesucht und sich bereit erklärt, selbst 1000 fl. als Gründungskapital zur Verfügung zu stellen. Um sein Hospital betreiben zu können, benötigte Hauner aber auch die Hilfe von privaten Geldgebern. Nachdem die Königin Therese das Protektorat über die neue Klinik übernommen hatte, setzte der Zufluß von Spenden ein und Hauner konnte die Klinik eröffnen. Anfänglich gab es sogar Schwie­ rigkeiten, die vorhandenen sechs Betten zu belegen, dennoch konnten im ersten Jahr bereits 102 Kinder stationär behandelt werden. 1848 habilitierte sich Hauner an der Universität München für das Fach Kinderheilkunde. Inzwischen waren weitere Spenden u. a. auch 7000 Gulden von König Lud­ wig I. eingegangen, so daß 1849 das Haus Jägerstraße 9 gekauft und das Spital nach dort verlegt werden konnte. Auch wenn dem Spital manche Ver­ günstigungen, u. a. freier Bezug von Medikamenten aus der Hofapotheke, gewährt wurden, so blieben doch große finanzielle Schwierigkeiten. Hauner versuchte deshalb, die Stadt München für die Übernahme der Klinik zu ge-

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winnen. Diesem Gesuch wurde jedoch nicht entsprochen, immerhin ge­ währte der Magistrat einen jährlichen Zuschuß von 200 fl. Seit 1850 sind in der Jägerstraße von Hauner, der 1853 zum Honorarprofessor ernannt wurde, auch Vorlesungen für 7 bis 8 Studenten abgehalten worden. Besonders gern haben auch jüngere Ärzte hier die Gelegenheit zum Hospitieren benutzt. Im Jahre 1853 hat der Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul die Pflege im Haunerschen Spital übernommen und bis zur Gegenwart beibehalten.

In den fünfziger Jahren bemühte sich Hauner um Mittel zur Errichtung eines Neubaus, ein nur geringer Zuschuß ermöglichte jedoch lediglich, das Haus in der Jägerstraße durch einen Anbau zu vergrößern. Erst 1865/66 erhielt das Kinderspital, das ungeachtet der Zuschüsse der öffentlichen Hand in erster Linie durch seinen Fördererverein getragen wurde, die Anerken­ nung als Rechtsperson. Welche Bedeutung die Klinik schon damals für Mün­ chen und Oberbayern gehabt hat, geht aus der Zahl der behandelten Kinder hervor. Bis 1860 stiegt die Zahl der stationären Patienten auf 315, erreichte also das Dreifache innerhalb von IV2 Jahrzehnten, die Zahl der ambulanten Patienten stieg auf das Zehnfache. Aus den Jahresberichten geht hervor, daß v. Hauner, der 1858 geadelt worden war, die Aufgabe des Hospitals nicht nur in der Behandlung Kranker sah, sondern bereits klar erkannt hatte, daß durch Aufklärung der Mütter und der Betreuerinnen über die Pflege und Ernährung der Kinder eine wirksame Vorbeugung erreicht werden müßte. Die Bemühungen Hauners um eine Erweiterung des Spitals und die Er­ richtung eines Neubaus führten schließlich dazu, daß die Stadt ihm in der Goethestraße nahe dem allgemeinen Krankenhaus unentgeltlich einen Bau­ platz überließ. Gleichzeitig wurde der Jahreszuschuß der Stadt München auf 1000 fl. angeho'ben. 1880 konnte schließlich mit dem Bau des neuen Klinikgebäudes begonnen werden, nachdem eine zu Gunsten des Baufonds durchgeführte Lotterie einen Gewinn von 300 000 Mark erbracht hatte. Das von Baurat Zenetti errichtete Gebäude wurde 1882 übergeben, der bereits schwerkranke Hauner konnte noch die Eröffnungsrede halten. Bereits zwei Jahre später starb er. Nun übernahm sein Schwiegersohn Alfred v. Halm, der ihn bereits während seiner Krankheit vertreten hatte, die Leitung des Hauses. Für Zwecke der Universität stand die Klinik jedoch nach dem Tode Hauners nicht mehr zur Verfügung. Diese neue Klinik hatte jetzt eine solche Größe, daß sie aus Mitteln des Spitalvereins nicht mehr getragen werden konnte. Im Jahre 1886 kam es zur Übertragung in die Trägerschaft von Stadt und Staat. Dabei wurde in

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der Schenkungsurkunde festgelegt, daß der Name „v. Haunersches Kinder­ spital“ und die Betreuung durch die Barmherzigen Schwestern beibehalten werden sollten. Unter Ernennung von Heinrich (v.) Ranke zum Direktor der damit geschaffenen „Universitätskinderklinik im Dr. v. Haunerschen Kin­ derspital“ begann ein neuer Abschnitt in der Pädiatriegeschichte Münchens. Ranke, ein Neffe des Historikers Leopold v. Ranke, hatte sich 1859 in München habilitiert und war seit 1866 Leiter der Kinderpoliklinik gewesen. Im Jahre 1863 war er zum Honorarprofessor, 1874 zum a. o. Professor für Kinderheilkunde ernannt worden. Ranke hatte vor seiner Niederlassung in München und von 1853 bis 1858 als Arzt am Deutschen Hospital in London gearbeitet und war während des Krimkrieges an Kriegsspitälern in Smyrna und auf der Krim tätig gewesen. Seine Beschäftigung mit der Kinderheil­ kunde hatte dann in London begonnen. Um die private Wohltätigkeit auch weiterhin in den Dienst der Klinik zu stellen, gründete Ranke 1888 den „Verein zur Unterstützung des Dr. v. Haunerschen Kinderspitals“, dessen Mittel zu besonderen Anschaffungen für die Klinik verwendet wurden, die aus Etatmitteln nicht möglich gewesen wären. Darüber hinaus aber dienten auch sie zur Förderung der ambulanten Behandlung kranker Kinder, wo­ für auch eine eigene Poliklinik errichtet wurde. 1891 konnte eine eigene Säuglingsabteilung gebaut werden. Außerdem sind unter Ranke eine Baracke für infektionskranke Kinder und ein Diphtheriepavillon hinzuge­ kommen. Die Bettenzahl erhöhte sich von 80 im Jahre 1887 auf 146, die Zahl der Studenten im gleichen Zeitraum von 12 auf 50, die der stationär behandelten Kinder von 637 auf 1518, der Assistenzärzte von 1 auf 4, das Schwestern- und Dienstpersonal wurde verdoppelt.

Heinrich v. Ranke hat in den fünfziger Jahren Ergebnisse physiologisch­ chemischer Untersuchungen, u. a. über die Harnsäureausscheidung beim Menschen (1858) veröffentlicht. In den 70er Jahren unterstützte er nach­ drücklich Pettenkofer bei dessen Bemühungen um eine Sanierung der Stadt München und gehörte der „Kommission zur Entscheidung der Münchener Kanalisationsfrage“ an. Aus dem eigentlichen Gebiet der Kinderheilkunde sind in erster Linie zu nennen seine Arbeiten über die Behandlung diph­ theriekranker Kinder mit Tracheotomie und Intubation, sowie seine Unter­ suchungen über die Spina bifida (1878), die Wirkung des Tuberkulins und die Diagnose des chronischen Hydrocephalus. Darüber hinaus war Ranke auch an der Geschichte Bayerns, insbesondere der Vor- und Frühgeschichte interessiert, und auch auf diesen Gebieten publizistisch tätig.

In Meinhard Pfaundler v. Hadermur (1872 - 1947) erhielt die Universi­ tätskinderklinik nach v. Rankes Emeritierung einen Direktor, der bereits

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seit 1902 Vorstand der Grazer Kinderklinik gewesen war. Seine kinderärzt­ liche Ausbildung hatte er bei Theodor Escherich in Graz und bei Franz Hof­ meister in Straßburg erhalten. Meinhard v. Pfaundler, der 33 Jahre lang die Klinik geleitet hat, machte sie zu einer der führenden deutschen Kinder­ kliniken. In mehreren Abschnitten wurden Erweiterungen durchgeführt, die mit größeren Bauvorhaben verknüpft waren. Pfaundler, der 1912 Rufe nach Leipzig und Straßburg abgelehnt hatte, wurde daraufhin persönlicher Ordinarius. Im Jahre 1919 wurde er zum planmäßigen ordentlichen Pro­ fessor ernannt. Als 1925 alle durch Krieg und Nachkrieg verzögerten und erschwerten Baumaßnahmen zum Abschluß gekommen waren, verfügte die Kinderklinik über 200 Betten, gute Laboratorien, eine leistungsfähige Röntgenabteilung und eine Milchküche, eine besondere Beobachtungsabtei­ lung sowie Spezialstationen für verschiedene Infektionskrankheiten, eine chirurgische Abteilung, einen eigenen Hörsaal, Tierställe, eine Bibliothek und ausreichend Ambulanzräume. Es waren auch zwei Mütterberatungs­ stellen angegliedert worden. Pfaundlers wissenschaftlich-literarisches Werk fällt in eine Zeit, in der auf allen Gebieten der Kinderheilkunde mehr Fortschritte und neue Er­ kenntnisse erzielt worden sind als jemals vorher. Er selbst, einer der großen Pädiater im deutschen Sprachgebiet, hat dazu ganz wesentlich beigetragen. Große Beachtung fanden seine Untersuchungen über die Diathesen im Kin­ desalter sowie über Konstitution und Konstitutionsanomalien, aber auch seine Veröffentlichungen über die „perinatale Sterblichkeit“, die er als neuen Begriff 1932 in die Literatur eingeführt hat. Zusammen mit Arthur Schloßmann hat Pfaundler das „Handbuch der Kinderheilkunde“ heraus­ gegeben, gemeinsam mit Friedrich v. Müller »die „Ergebnisse der inneren Medizin- und Kinderheilkunde“. Er gehörte auch zu den Gründern der „Zeitschrift für Kinderheilkunde“ (1911). Großer Beliebtheit bei Studenten und Ärzten erfreute sich seine zusammen mit Franz Lust bearbeitete „Diagnostik und Therapie der Kinderkrankheiten“, die in vielen Auflagen herausgekommen ist. Die von ihm 1911 verfaßte Schrift „Die k. Universi­ täts-Kinderklinik im Dr. v. Haunerschen Kinderspital zu München“ enthält eine ausführliche Bau- und Funktionsbeschreibung und zeigt deutlich, welche ärztlichen Forderungen an eine Spezialklinik bereits verwirklicht werden konnten.

Meinhard v. Pfaundler, der Ende April 1939 sein Amt als Klinikdirektor übergeben hatte, mußte bei Kriegsbeginn nochmals für einige Monate die Leitung der Klinik übernehmen bis sein Nachfolger Alfred Wiskott (geb. 1898) aus Marburg dem Ruf nach München folgen konnte. Wiskott war unter

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v. Pfaundler Assistent der Klinik gewesen, hatte sich 1932 in München habi­ litiert und war 1938 Ordinarius in Marburg geworden. Über die Jahre seiner Tätigkeit an der Münchener Kinderklinik hat er selbst 1971 einen ausführ­ lichen Bericht vorgelegt. Die Übernahme der Klinik stand unter dem Zei­ chen des Krieges, Personalprobleme und Maßnahmen des Luftschutzes be­ reiteten ernste Sorge. Im Jahre 1943 mußten große Teile der Klinik nach Ohlstadt bei Murnau verlegt werden, aber noch lag der Schwerpunkt der klinischen Tätigkeit in der Stadt. Im Juni 1944 wurde aber die Klinik durch Spreng- und Brandbomben so schwer getroffen, daß lediglich noch die Auf­ nahmestationen, die Ambulanz und für dringende Fälle die Operations­ abteilung ihren Betrieb aufrechterhalten konnten. Der Schwerpunkt der klinischen Arbeit, auch der kinderchirurgischen Tätigkeit verlagerte sich damit nach Ohlstadt. Bei Kriegsende war die Klinik zur Hälfte zerstört und neue Schwierigkeiten traten hinzu. Im Dezember 1945 wurde Wiskott auf Anordnung der Militärregierung seines Amtes enthoben und Gerhard Weber (geb. 1898) übernahm kommissarisch die Klinikleitung. Mit Jahresbeginn 1948 wurde Wiskott wieder in sein Amt eingesetzt. Nun konnten auch die größeren Wiederaufbaumaßnahmen in Angriff genommen werden. Der sog. „erweiterte Wiederaufbau“ ging in mehreren Bauabschnitten vor sich, der erste wurde 1957 zum Abschluß gebracht. Im Jahre 1959 konnte der Hörsaal-Trakt an der Goethestraße gerichtet und 1961 in Betrieb genommen werden. Damit stand der Klinik wieder ein eigener Hörsaal mit 250 Plätzen zur Verfügung. Gleichzeitig damit konnten die Säuglingsstationen, die Frühgeborenenabteilung und eine Reihe weiterer Bettenstationen in neuen Räumen zweckmäßig untergebracht werden. Bis zum Jahre 1966 stieg die Bettenzahl dann wieder auf 250. Auch die Kinderchirurgische Abteilung bekam wieder ihre eigenen Räume. Nunmehr konnte die Ausweichstelle in Ohlstadt aufgelöst werden. Nach Wiskotts Emeritierung wurde Klaus Betke (geb. 1914) aus Tübingen sein Nachfolger. Betke hatte sich 1953 in Freiburg habilitiert und war 1962 auf den Tübinger Lehrstuhl berufen worden.

Zu besonderer Bedeutung gelangte in München die Kinderchirurgie, die seit 1886 im Rahmen der Universitätskinderklinik durch selbständige Ober­ ärzte vertreten war, darunter durch Ottmar v. Angerer, den späiteren Ordi­ narius für Chirurgie, in den Jahren 1886 bis 1891 und Wilhelm Herzog in der Zeit von 1892 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Herzog erhielt im Jahre 1910 ein planmäßiges Extraordinariat, das jedoch unter seinem Nachfolger in eine a. o. Professur für allgemeine Chirurgie umgewandelt wurde. Nach­ folger Herzogs war praktisch bereits mit dessen Einberufung zum Kriegs­

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dienst im Jahre 1914 Richard Drachter geworden. Dieser habilitierte sich 1917 und erhielt 1922 eine Oberarztstelle. Erst 1959 wurde Anton Ober­ niedermayer (geb. 1899), der sich 1935 unter Lexer für Chirurgie habilitiert und 1936 die Leitung der Kinderchirurgischen Abteilung erhalten hatte, zum Extraordinarius für Chirurgie ernannt. 1966 wurde Oberniedermayer persönlicher Ordinarius. Mit der Berufung (1969) seines Nachfolgers Walde­ mar Hecker (geb. 1922) erfolgte die Erhebung zu einem planmäßigen Ordi­ nariat unter Umbenennung der Chirurgischen Abteilung in „Kinderchirurgische Klinik“. Hecker hatte sich 1962 in Berlin für Chirurgie habilitiert und war zuletzt Oberarzt und Abteilungsvorsteher an der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg gewesen. Neben dem v. Haunerschen Kinderspital hat die Kinderpoliklinik der Universität für die Betreuung kranker Kinder und den Pädiatrischen Unterricht große Bedeutung gehabt. Auch sie ist aus einer Privateinrich­ tung hervorgegangen, der 1818 von Dr. Reiner begründeten „Besuchs­ anstalt für kranke Kinder und Augenkranke“. Seit 1830 wurden dort auch Ohrenkranke behandelt und die Stadt half mit einem jährlichen Zuschuß. Von 1837, nach dem Tode des Gründers Reiner bis zum Jahre 1856 leitete Dr. Wimmer die Anstalt. Dann wurde Alfred Vogel (1829 - 1890) die Lei­ tung der „Reinerschen Privatheilanstalt“ übertragen. Vogel war von 1851 bis 1853 Assistent am Haunerschen Kinderspital, dann zwei Jahre an der II. Medizinischen Klinik gewesen, darauf zu Hauner zurückgekehrt und hatte sich 1855 für Kinderheilkunde habilitiert. Vogel und Wimmer, in deren Einrichtung im Jahre 1860 insgesamt über 2000 Kinder behandelt wurden, konnten infolge der großen Inanspruchnahme nicht mehr länger in den Räu­ men am Obstmarkt verbleiben. Sie verlegten deshalb die Sprechstunden in ihre Wohnungen. Als 1863 das Reisingerianum eröffnet wurde, erhielt Vogel die Leitung der Pädiatrischen Abteilung und überführte gleichzeitig die kinderärztlichen Sprechstunden der „Reinerschen Privatanstalt“ aus seiner Wohnung in der Neuhäusergasse in das Haus Sonnenstraße 17. Da­ mit wurde die „Reinersche Privatanstalt“ zur „Pädiatrischen Poliklinik im Reisingerianum“.

Im Jahre 1860 erschien Vogels „Lehrbuch der Kinderkrankheiten“, das große Beachtung und Verbreitung fand. 1866 erhielt Vogel einen Ruf auf den Lehrstuhl der Speziellen Pathologie und Therapie an der Universität Dorpat und wurde Leiter der dortigen Medizinischen Klinik. Nachfolger Vogels in der Leitung der Poliklinik wurde Heinrich Ranke bis zur Über­ nahme der Leitung der Universitätskinderklinik im Jahre 1886. Dann be­ kam der „Kais. russ. wirkl. Staatsrat“ Vogel, der inzwischen aus Dorpat

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nach München zurückgekehrt war, wieder die Leitung der Poliklinik, die er bis zu seinem Tode im Jahre 1890 behalten hat. Ihm folgte Karl Seitz (1858 -1942), der im Jahre 1902 zum planmäßigen a. o. Professor ernannt wurde. Seitz war Assistent der Medizinischen Poliklinik gewesen und hatte sich 1886 mit einer unter Pettenkofer angefertigten Arbeit über „Bakterio­ logische Studien zur Typhusaetiologie“ habilitiert. Als im Jahre 1910 die Poliklinik aus der Sonnenstraße in den Neubau in der Pettenkoferstraße umzog, erhielt die Pädiatrische Poliklinik neben umfangreichen Ambulanz­ räumen auch eine Station mit 10 Betten. Nach der Emeritierung von Karl Seitz im Jahre 1928 lehnte das Unterrichtsministerium wegen der schwieri­ gen Wirtschaftslage die Bestellung eines Nachfolgers ab. Um die Einrichtung als solche zu erhalten, übernahm Pfaundler auch die Leitung der Pädiatri­ schen Poliklinik. Erst 1947 wurde mit der Berufung von Gerhard Weber (geb. 1898) auf das Extraordinariat für Medizinische Poliklinik unter gleich­ zeitiger Ernennung zum persönlichen Ordinarius die Selbständigkeit der Pädiatrischen Poliklinik wiederhergestellt. Weber hatte sich 1936 in Mün­ chen habilitiert und war von 1939 bis 1947 Leiter der Bayerischen Landes­ impfanstalt gewesen. Unter seiner Leitung wurde ein Ausbau mit einer Modernisierung der Klinik durchgeführt und deren Bettenzahl auf 45 er­ höht. 1964 ist der Lehrstuhl zu einem planmäßigen Ordinariat erhoben worden. Nach Webers Emeritierung wurde 1968 Heinz Spieß (geb. 1920) be­ rufen, der sich 1951 in Göttingen habilitiert hatte und dort zuletzt leitender Oberarzt der Kinderklinik gewesen war.

Psychiatrie und Neurologie Die Geschichte der Psychiatrie und Neurologie in München darzustellen, bietet allein schon wegen des reichlichen biographischen Materials keine Schwierigkeiten, eher schon die Notwendigkeit, darüber in gebotener Kürze zu berichten. Den beiden Autobiographien von Oswald Bumke und Kurt Kolle verdanken wir vor allem viele Einzelheiten aus der Entwicklung des Faches und der Klinik. Mit der Berufung von Karl August (v.) Solbrig (1809 - 1872) im Jahre 1861 als Direktor der Kreisirrenanstalt für Oberbayern nach München und seiner Ernennung zum Honorarprofessor beginnt die Entwicklung des Faches im Rahmen der Fakultät. Solbrig hatte seit 1846 die Leitung der Kreisirren­ anstalt in Erlangen innegehabt und war schon seit 1855 an der Planung der neuen Münchener Kreisirrenanstalt beteiligt worden. Im Jahre 18'64 erhielt er einen Ruf nach Berlin, dessen Ablehnung Anlaß für die Schaffung des ordentlichen Lehrstuhls wurde. Solbrig, der mit Nachdruck die Einbeziehung 18

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der Psychiatrie in die ärztliche Ausbildung und als Prüfungsfach in das Staatsexamen gefordert hatte, war selbst ein begeisterter Lehrer. Die Jahres­ berichte aus seiner Anstalt bestätigen seine Fähigkeiten als Kliniker. Nicht mehr verwirklicht wurde sein Plan, ein auf seine Vorlesungen gestütztes Lehrbuch der Psychiatrie zu schreiben. Unter seinen Arbeiten sind die Mono­ graphie „Verbrechen und Wahnsinn“ (1867) sowie die als Zeitschriftenauf­ sätze erschienenen „Geisteskrankheiten bei Basedow“ und „Muskeltonus und psychische Erkrankungen“ erwähnenswert. Nach Solbrigs Tod wurde Bernhard (v.) Gudden (1824 - 1886) als Leiter der Kreisirrenanstalt und ordentlicher Professer berufen. Guddens Name ist weit über seine fachliche Tätigkeit durch den gemeinsamen Tod mit dem von ihm betreuten König Ludwig II. bekannt geworden. Gudden war seit 1849 Assistent an der „Irrenanstalt“ Siegburg und von 1851 bis 1855 an der Heilanstalt Illenau gewesen. Dann wurde er Direktor der neuen Anstalt Werneck in Unterfranken, die in einer aus der ersten Hälfte des 18. Jahr­ hunderts stammenden, von Balthasar Neumann erbauten ehemals fürst­ bischöflichen Schloßanlage untergebracht wurde. Es gelang ihm, dieses Ge­ bäude zu einer zeitgemäßen Irrenanstalt auszubauen. Seine Tätigkeit in Werneck brachte Gudden soviel Anerkennung ein, daß er 1869 einen Ruf nach Zürich erhielt, dem er auch Folge leistete. 1872 aber bewarb er sich um die Stelle des Direktors der Kreisirrenanstalt München. Schon bald hatte sich Gudden hier mit einem Kreis tüchtiger junger Mitarbeiter umgeben, deren Namen dem Kenner des Fachgebiets ihre späteren Erfolge als Psychia­ ter bestätigen. Neben Guddens späteren Nachfolgern Anton Bumm und Emil Kraepelin gehörte auch August Forel zu dieser Gruppe von Ärzten, die vor allem hirnanatomische Forschungen betrieben haben. Nach dem tragischen Tod Guddens, der den Umständen entsprechend be­ trächtliches Aufsehen erregt hatte, wurde Hubert Grashey (1839 - 1914) nach München berufen. Vorher war er Ordinarius in Würzburg und Direktor der Psychiatrischen Klinik im Julius-Spital gewesen. Er hatte zusammen mit Hubrich und Hagen das von Gudden ausgearbeitete Gutachten mitunter­ zeichnet, in dem Ludwig II. für regierungsunfähig erklärt worden war. Als nach dem Tod Josef v. Kerschensteiners (1831 - 1896) Grashey auf dessen Stelle als Referent des Medizinalwesens im Innenministerium gefolgt war, wurde ein weiterer Schüler Guddens, Anton Bumm (1849 - 1903) sein Nach­ folger sowohl als Direktor der Kreisirrenanstalt wie als Professor der Psychiatrie. Bumm war vorher Direktor der Kreisirrenanstalt in Deggen­ dorf und seit 1888 in Erlangen gewesen. Von ihm stammen eine Reihe hirn­ anatomischer Arbeiten sowie mehrere psychiatriegeschichtliche Unter­ suchungen.

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Anton Bumm kommt das Verdienst zu, als Sachverständiger tatkräftig bei der Planung des Neubaus der Psychiatrischen Universitätsklinik mitgewirkt zu haben. Ihre Fertigstellung hat er jedoch nicht mehr erlebt. Bereits 1901 legte er seinen Posten als Direktor der Kreisirrenanstalt nieder, behielt je­ doch die Professur. Damit wurde auch die Personalunion zwischen der Kreis­ irrenanstalt und dem Lehrstuhl aufgelöst. Der neue Ordinarius Emil Kraepelin (1856 - 1926) bezog die neue Klinik an der Nußbaumstraße, die anfangs über 110 Betten verfügte. Kraepelin hatte sich 1822 in Leipzig habilitiert. Er war dann kurze Zeit an der schlesischen Heilanstalt Leubus (1884) und an der Heil- und Pflegeanstalt in Dresden (1885) tätig gewesen, ehe er 1886 Professor der Psychiatrie in Dorpat gewor­ den war. Vier Jahre später war er nach Heidelberg berufen worden. Bereits in der Leipziger Zeit war sein kleines „Compendium der Psychiatrie“ (1883) entstanden, aus dem sein Lehrbuch hervorgegangen ist, das 1927 in 9. Auf­ lage zusammen mit J. Lange erschienen und sowohl ins Englische als auch ins Russische übersetzt worden ist. Kraepelin hat in kaum vorstellbarer per­ sönlicher Kleinarbeit durch sorgfältigste Symptomvergleiche Abgrenzun­ gen der psychiatrischen Krankheitsbilder geschaffen und seinem Fach da­ mit ein verwertbares Krankheitssystem geliefert. Sein mit naturwissen­ schaftlicher Nüchternheit angestrebtes Ziel, Krankheitseinheiten möglichst scharf voneinander abzugrenzen, kennzeichnet den durch ihn geprägten Zeit­ abschnitt des Faches. Kräftige Gegenströmungen entstanden, die wiederum selbst zu neuen Erkenntnissen geführt haben. Der nüchterne und ganz natur­ wissenschaftlich orientierte Kraepelin, dessen scharfe Ablehnung von Alko­ hol und Nikotin auch ein Ausdruck der Strenge war, die er gegen sich selbst angewandt hat, war bei aller persönlichen Unzugänglichkeit doch ein er­ folgreicher Organisator. Seine besondere Vorliebe für die Laboratoriums­ forschung und die Auswertung klinischer Beobachtungen ließen ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg die Gründung einer unabhängigen Forschungs­ einrichtung für Psychiatrie betreiben. Im Jahre 1917 konnte er schließlich eine Forschungsanstalt für Psychiatrie eröffnen, die zuerst provisorisch in Räumen der Klinik untergebracht werden mußte. Dies war die Keimzelle der später von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und heute von der MaxPlanck-Gesellschaft getragenen Deutschen Forschungsanstalt für Psy­ chiatrie. Die Nachfolge Kraepelins fiel an Oswald Bumke (1877 - 1950), der vorher bereits drei Ordinariate bekleidet hatte (Rostock 1914, Breslau 1916, Leipzig 1921). Bumke fand eine hervorragend organisierte Klinik vor. Allerdings führten die wirtschaftliche Situation der Inflationszeit und einige Schwie­ rigkeiten, die durch das Verbleiben der nach wie vor unter der Leitung von 18*

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Kraepelin stehenden Forschungsanstalt für Psychiatrie in den Räumen der Klinik entstanden, dazu, daß er erst 1924 seine Tätigkeit in München auf­ nehmen konnte. Bumke erweiterte die Klinik durch eine zweigeschossige Aufstockung des Ostflügels, um auch neurologische Patienten in einer be­ sonderen Abteilung unterbringen zu können. Die Zahl der Betten der jetzt als „Psychiatrische und Nervenklinik“ bezeichneten Anstalt stieg damit auf 200. Bumke hat auch die Neurologie in Vorlesungen vertreten. Seinem Wesen nach unterschied er sich sehr von seinem Vorgänger. Gewandt und in akademischen Angelegenheiten erfahren hat er das Amt des Rektors be­ kleidet (1928/29), war Vorsitzender des Hochschulverbandes und in zahl­ reichen anderen Ehrenämtern tätig. Auch als Herausgeber des Handbuchs der Geisteskrankheiten und Mitherausgeber des Handbuchs der Neurologie sowie durch sein Lehrbuch der Geisteskrankheiten hat Bumke nachhaltigen Einfluß auf Fachkollegen, Studenten und viele junge Ärzte nehmen können. In der Öffentlichkeit ist er, allerdings noch in seiner Leipziger Zeit, bekannt geworden, als er mit anderen namhaften Ärzten zur Behandlung Lenins nach Moskau berufen wurde (1923). Daß Bumke 1945 aufgrund denunzie­ render Äußerungen aus dem Amt entfernt wurde, war allen, die ihn per­ sönlich gekannt und von seiner Einstellung zum Nationalsozialismus ge­ wußt hatten, unverständlich. Zum Nachfolger wurde Georg Sterz (1878 1959) ausgewählt, der in Breslau einmal bei Bumke Oberarzt gewesen war. Sterz hatte sich 1911 in Bonn habilitiert, war 1921 Ordinarius in Marburg und 1925 in Kiel geworden. Nach seiner Emeritierung (1951) wurde Kurt Kolle (geb. 1898) nach München berufen. Seine psychiatrische Ausbildung hatte er an der Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg in Mecklenburg (1923), als Assistent bei Berger in Jena (1924 - 1926) und in Kiel bei Stertz bekom­ men. Hier hatte sich Kolle 1928 habilitiert. Aus politischen Gründen war seine akademische Laufbahn 1933 beendet. Die Gründe dafür hat Kolle in seinen autobiographischen Aufzeichnungen geschildert. Unterbrochen durch Jahre des Kriegsdienstes als Beratender Psychiater war er von 1934 bis 1952 in Frankfurt am Main als Nervenarzt niedergelassen. Im Spätherbst 1952 hat Kolle die Leitung der Klinik übernommen. Dem vielseitigen akademi­ schen Lehrer und Direktor dieser großen Klinik blieb aber nicht nur Zeit für fruchtbare literarische Tätigkeit auf seinem Fachgebiet, er folgte auch seiner Neigung zur Medizingeschichte und hat bemerkenswerte wissen­ schaftshistorische Veröffentlichungen herausgebracht, dazu mehrere zur engeren Psychiatriegeschichte. Im Jahre 1966 wurde Kolle emeritiert. Nach Jahren des Interregnums übernahm Hanns Hippius (geb. 1925) den psychiatrischen Lehrstuhl und die Leitung der Klinik. Er hatte sich 1963 an der Freien Universität Berlin

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habilitiert und war dort 1968 Ordinarius geworden. Mit seiner Berufung wurde ein eigener Lehrstuhl für Neurologie geschaffen, den Adolf Schrader (geb. 1915) erhielt. Schrader hatte sich 1954 in München für innere Medizin habilitiert und war zuletzt Chefarzt der II. Medizinischen Abteilung des Krankenhauses München-Harlaching gewesen. Radiologie

Für das Fachgebiet Radiologie ist eine Übersicht über die Entwicklung an der Universität München dadurch erschwert, daß in verschiedenen klini­ schen Einrichtungen getrennte Anlagen aufgestellt und unter gesonderte ärztliche Verantwortung gestellt wurden. Einige dieser Arbeitsplätze sind bereits kurz erwähnt worden. Im Rieder-Institut wurde die Verbindung von Radiologie und physikalischer Therapie bis in die Gegenwart beibehal­ ten und erst im Jubiläumsjahr laufen die Berufungsverhandlungen für den getrennten Lehrstuhl für physikalische Therapie. Mit der Berufung von Hans von Braunbehrens (geb. 1901) wurde 1954 das bisherige Extraordina­ riat für Physikalische Therapie und Röntgenologie in ein persönliches, spä­ ter in ein planmäßiges Ordinariat umgewandelt. Auch der Vorgänger von Braunbehrens Gottfried Boehm (1879 - 1952) war bereits persönlicher Ordi­ narius für beide Fächer. Der jetzige Lehrstuhlinhaber für Medizinische Strahlenkunde Josef Lissner (geb. 1923) war vor seiner Berufung nach Mün­ chen an der Frankfurter Strahlenklinik tätig, wo er sich 1960 habilitiert hatte. Es müssen aber auch noch zwei namhafte Röntgenologen erwähnt werden, die an der Chirurgischen Klinik als Röntgendiagnostiker gewirkt haben. Unter dem Direktorat von Angerer war Rudolf Grashey (1876 - 1950) in München tätig, der später Ordinarius in Köln wurde und unter Sauerbruch Henri Chaoul (1887 - 1964), der aus Zürich mitgekommen war und seinem Chef nach Berlin folgte, wo er 1939 einen ordentlichen Lehrstuhl erhielt. Grashey ist in die Geschichte der Radiologie eingegangen durch seinen „Atlas typischer Röntgenbilder vom normalen Menschen“ (1905), Chaoul durch seine Arbeiten über die Schichtuntersuchung und die mit seinem Namen verbundene Nahbestrahlung. Seit 1959 gehört zur Fakultät auch ein Institut für Strahlenbiologie, zuerst mit einem a. o. Lehrstuhl, seit 1963 mit einem Ordinariat. Inhaber dieses Lehrstuhl ist Otto Hug (geb. 1913). Vor der Besetzung steht der neugeschaf­ fene Lehrstuhl für Medizinische Statistik und Dokumentation. Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Seit 1856 war die Zahnheilkunde an der Universität in München durch Honorarprofessoren und Privatdozenten vertreten. Der Hofzahnarzt Guido

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(v.) Koch, seit 1858 Hofzahnarzt, wirkte bis 1881 als akademischer Lehrer. Der Chirurg Ferdinand Klaussner (1857 - 1931) hat die Zahnheilkunde um 1890 vertreten, dann folgte Ludwig Adolf Weil, auch er war Hofzahnarzt. Der Privatdozent Ludwig von Stubenrauch hat von 1896 bis 1900 über Zahn­ heilkunde gelesen. Von bayerischen Zahnärzten ging die Anregung aus, so wie in Leipzig, Berlin (1848) und Breslau (1886) auch in München ein zahnärztliches Uni­ versitätsinstitut zu errichten. Im Jahre 1898 stimmte der Landtag Vorschlag und Plänen zu. Gleichzeitig wurde Jacob Berten (1855 - 1934), der sich 1895 in Würzburg habilitiert und bereits 12 Jahre lang dort ein privates Institut betrieben hatte, auf ein Extraordinariat berufen und zum Institutsvorstand bestellt. Im Jahre 1928 wurde er persönlicher Ordinarius, ein Jahr später emeritiert. Bereits im Jahre 1907 standen 170 Studenten am Institut in der Ausbildung, 1910 waren es schon 210. Obwohl man bereits bei der Grün­ dung mit einer verstärkten Inanspruchnahme gerechnet hatte, war damit jedoch trotz der Benutzung von Baracken ein Erweiterungsbau erfor­ derlich. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte ein erheblicher Zustrom zum Studium der Zahnmedizin ein und im Wintersemester 1920/21 waren 448 Stu­ denten am Institut eingeschrieben. Die Konservierende Abteilung leitete bis 1922 Otto Walkhoff, der dann den Lehrstuhl in Würzburg erhielt. Sein Nachfolger wurde Peter Paul Kranz (1884 - 1957), der nach der Emeritierung von Berten Institutsdirektor wurde. Im Jahre 1935 ist die Anhebung zum Ordinariat erfolgt. Kranz hat die Zerstörung des alten Instituts miterleben müssen, aber auch die Schaffung eines neuen Instituts, das durch Ausbau eines weitgehend zerstörten Gebäudes in der Goethestraße entstanden ist, fiel zum größten Teil noch in seine Amtszeit. Nach seiner Emeritierung (1953) wurde der jetzige Direktor Josef Heiss (geb. 1908) berufen. Heiss hatte sich 1942 in München habilitiert, war 1952 Ordinarius in Greifswald, ein Jahr später in Jena und 1954 in München geworden. Neue Ordinariate wur­ den besetzt für Prothetik 1968 mit Ewald Kraft (geb. 1922), für Zahnerhal­ tungskunde mit Eberhard Sonnabend (geb. 1923) und im gleichen Jahr für Kieferorthopädie mit Felix Ascher (geb. 1907), der bereits seit 1954 ein Extraordinariat an der Klinik innegehabt hatte.

Dieser Überblick über die Entwicklung der Medizinischen Fakultät, der auf weite Strecken gerade in den letzten 100 Jahren eine Fülle von Namen aufweisen mußte, darunter viele von gutem Klang, zeigt welche Bedeutung die Münchener Kliniken und medizinischen Institute nicht nur für Bayern und Deutschland sondern auch weit darüber hinaus bekommen haben. Seit Jahrzehnten erfreut sich die Münchener Medizinische Fakultät bei Studen-

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ten aller Semester größter Beliebtheit, bei den akademischen Lehrern gilt sie als besonders erstrebenswert. Mit der Inbetriebnahme des neuen Klini­ kums Großhadern wird auch äußerlich der Schritt in das sechste Jahrhun­ dert der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität getan werden. Wer dieses größte Bauvorhaben der Medizinischen Fakultät und darüber hinaus der gesamten Universität in den 500 Jahren ihres Bestehens näher betrachtet, wird darin leicht auch ein Symbol für den Anbruch einer neuen Zeit sehen wollen, in der die entscheidende Rolle apparativ-technischer Hilfsmittel für den Arzt das Bild beherrscht. Zweifellos hat die medizinische Technik einen Stand erreicht, der bei einem solchen Neubauprojekt beson­ ders augenfällig wird. Man darf aber nicht übersehen, daß es sich hierbei um einen kontinuierlich ablaufenden Prozeß handelt, der seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Parallele zu den Verhältnissen in ande­ ren Lebensbereichen zu beobachten ist. Welche Bedeutung aber der Aus­ bildung des Arztes und seiner Mitarbeiter zukommt, bestätigen die Aus­ wirkungen der neuen Approbationsordnung für Ärzte, die 1971 in Kraft getreten ist und die eine erhebliche Ausweitung der ärztlichen Ausbildung mit sich bringt, die auch die Schaffung neuer akademischer Institutionen notwendig macht. Literatur (Auswahl)

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Chronik der Tierärztlichen Fakultät Von Joachim Boessneck

Gründung der Tierarzneischule (1790) Die Angliederung der tierärztlichen Ausbildungsstätte in München als Tierärztliche Fakultät an die Universität München erfolgte zwar erst im Jahre 1914, aber als Lehrstätte in München ist sie älter als die Universität. Auf Antrag des Ministers Generalleutnant Graf Rumford verfügte Kurfürst Karl Theodor durch Reskript der Kurpfalzbayerischen Oberlandesregie­ rung vom 26. März 1790 die Gründung einer „förmlichen ThierarztneySchule (Ecole veterinaire)“.

Diese Gründung war keine Pioniertat. Sie folgte einem Zug der Zeit. Im 18. Jahrhundert erwuchsen im Rahmen der Aufklärungsbewegung Ver­ nunft und Utilitarismus zu den beherrschenden Antriebskräften. Wenn als spezielle Ursachen, die zur Gründung von Veterinär schulen führten, das Bedürfnis der Armeen, tüchtige Roßärzte zu haben, und die Bekämpfung der verheerenden Viehseuchen, die Europa durchzogen und die Viehbe­ stände ganzer Länder und damit deren Wohlstand gefährdeten, genannt werden, so hätten die gleichen Notwendigkeiten auch in den Jahrhunderten vorher bestanden. Es gab auch schon vereinzelt hervorragende Roßärzte und stets wurden Versuche unternommen, die Seuchen einzudämmen. Das Bewußtsein einer staatlichen agrar- und in diesem Rahmen viehwirtschaft­ lichen Planung fehlte aber in jener Zeit noch und entwickelte sich erst unter der Geistesbewegung der Aufklärung und dem Aufblühen wissenschaft­ lichen Fortschrittsdenkens im 18. Jahrhundert. Als dann in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die Notwendigkeit der Gründung von Tier­ arzneischulen von Ärzten, Roßärzten und Stallmeistern erkannt wurde, verzögerte sich die Verwirklichung dieser Idee wegen der damit verbun­ denen Kosten. Der Durchbruch gelang dem Hippiater Claude Bourgelat. Er konnte 1762 in seiner Vaterstadt Lyon eine Tierarzneischule eröffnen, mit dem Ziel, Tierärzte für alle Haustiere auszubilden. Die Erfolge der Schule veranlaßten die französische Regierung auch in Alfort bei Paris eine derartige Lehranstalt einzurichten (1766), mit deren Leitung gleichfalls Bourgelat betraut wurde. Vom ersten Jahr ihres Bestehens an besuchten

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diese Schulen außer Einheimischen zahlreiche Ausländer, die nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer Unterricht in Tierheilkunde erteilten. Sie veranlaßten die Errichtung von Lehrstühlen für Veterinärkunde und die Gründung tierärztlicher Ausbildungsstätten in rascher Folge.

Diesem Trend folgend errichtete im Jahre 1781 auch die Universität Ingolstadt auf Antrag der Landschaft von Pfalzbayern an der Medizini­ schen Fakultät einen Lehrstuhl für Veterinärkunde. Unsere Alma mater eilt damit in der tierärztlichen Tradition ihrer späteren Fakultät doch noch einen Schritt voraus. Den genannten Lehrstuhl übernahm Anton Will. Nachdem er im August 1781 in Ingolstadt die medizinische Doktorwürde erlangt hatte, wurde er noch im gleichen Jahr — 25jährig — zum Professor der Tierarzneikunde an dieser Universität ernannt. Um sich für diesen Beruf speziell auszubilden, begab sich Will für die nächsten 3 Jahre an Tierarzneischulen, und zwar in erster Linie nach Alfort. Danach nahm er seine Lehrtätigkeit in Ingolstadt auf. Sein Lehrfach hatten neben den Medizinern auch die Juristen zu fre­ quentieren, heißt es in seinem Nekrolog. 1786 wurde Will mit dem Titel eines Medizinalrats als oberster Tierarzt von Pfalzbayern nach München berufen und ihm das Referat über die Viehseuchen sowie deren Behandlung über­ tragen. Seine strengen Verordnungen entsprechen in einigen Punkten be­ reits den Grundsätzen moderner Seuchenbekämpfung. Bei der Unwissen­ heit der Landbevölkerung und derjenigen, die sich damals mit der Behand­ lung von Tierkrankheiten beschäftigten, machte es jedoch größte Schwie­ rigkeiten, vernünftige Maßregeln zur Tilgung der Seuchen durchzusetzen. Dem „obersten Tierarzt“ standen keine „unteren Tierärzte“ zur Verfügung. Will betrieb deshalb die Errichtung einer Tierarzneischule in München und verdient, ihr eigentlicher Schöpfer genannt zu werden. Der Kreis schließt sich, indem die Regierung ihn zum ersten Professor der 1790 gegründeten Schule berief. Er behielt seine anderen Dienstpflichten bei und war auch noch bis 1800 Fakultätsmitglied an der bayerischen Landesuniversität. Die Ziele der Schule, die zu vereinen später Schwierigkeiten machen sollte, sind aus dem Gründungsedikt herauszulesen. Aus den Worten der Präam­ bel „... um den einbrechenden Viehseuchen zu steuern, hiedurch aber die Viehzucht zu bessern und den Ackerbau zu befördern ...“ geht die erste Absicht hervor, die zweite und dritte aus verschiedenen Punkten des Reskripts, vor allem aus Punkt 5: „... damit sämtliche Churfürstl. Lande und Erbstaaten in der Folge mit geschickten Thierärzten, sowie auch die Cavallerie-Regimenter mit guten Huf- und Kurierschmieden versehen werden.“ Punkt 8 legt schließlich fest: „Damit aber auch den studierenden

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Zöglingen Gelegenheit verschafft werde, ihre erlernte theoretische Wissen­ schaft gleich praktisch auf den kranken Körper des Thieres anzuwenden, und zu gleicher Zeit die hiesige Stadt und die nahe gelegenen Ortschaften von dieser Einrichtung mehreren Nutzen ziehen können, so wird Jedermann erlaubt sein, kranke Pferde, Hornvieh, Schaafe, Schweine u.s.w. in diese Thierarzneyschule zu überbringen, wo selbe ... gegen sehr leidentliche Nahrungs-, Medizin- und Wartungskosten ... ordentlich behandelt und ver­ pflegt werden.“

Der Lehrkurs wurde auf 3 Jahre festgesetzt. Als Heimstatt bekam die Schule die sogenannte „Jesuiterwasch“ in der damals noch selbständigen Gemeinde Schwabing zugewiesen. Das Gelände hatte früher den Jesuiten, später dem Malteserorden gehört und „zum Unterhalt einer kleinen Oekonomie mit Viehbestand, zur Reinigung der Wäsche und bei seiner einstigen Entfernung von den Grenzen der Stadt als zeitweiliger ländlicher Erholungsort für seine Besitzer gedient“. Es ist bis heute das Stammgelände der Tierärztlichen Fakultät geblieben. Die hinter der Einfassungsmauer des Grundstücks beginnende Auen­ wildnis hat sich zum Englischen Garten gewandelt, dessen Anlage der viel­ seitige Graf Rumford gerade ein Jahr vor der Eröffnung der Tierarznei­ schule entwarf. Das Dorf Schwabing hatte damals 500, die Landeshauptstadt selbst keine 40 000 Einwohner. Vom Schwabinger Tor (bei der Theatiner Kirche) aus durchzog die Schwabinger Landstraße einen öden Wiesenplan, „auf dem im Abendsonnenschein die Rehe und Hirsche zum Äsen aus­ treten“, schreibt Karl Spengler, und der seinen Namen „Schönfeld“ nicht verdiente. Im Zuge des Ausbaus der Schwabinger Landstraße zur Ludwigstraße, eines Boulevard, der sich lange Zeit im Nichts verlor, fand auch unsere Alma mater 1840 ihr neues Unterkommen. Das Geviert des Univer­ sitätsplatzes umrahmte dann die im Münchener Volksmund „Glaube, Hoff­ nung und Liebe“ genannte Trias: das Georgianum, die Universität und das Erziehungsinstitut für Töchter höherer Stände, das Max-Josef-Stift. Wenn so auch die Lehrstätte für die Tierärzte nur zufällig ganz in der Nähe der Universität liegt, durch die kurze Veterinärstraße räumlich mit ihr ver­ bunden, kam diese Nachbarschaft später, als die tierärztliche Ausbildungs­ stätte Hochschule und Fakultät wurde, ihren Studenten allenthalben zugute.

Um mit dem Unterricht beginnen zu können, wurden die vorhandenen alten Ökonomiegebäude den Bedürfnissen der Schule „soviel als möglich“ angepaßt. Das bisherige Wohnhaus für Dienstpersonal und Wäscher nahm das eigentliche Schulhaus auf. Der Kuh- und Schweinestall sowie eine

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Dreschtenne wurden zum Tierspital „mit 8 Abteilungen und 37 Pferde­ ständen“ umgewandelt. Als Anatomiegebäude diente ein Wagenschuppen und im ehemaligen Waschhaus fand die Lehrschmiede ihr Unterkommen (Abb. 1).

Abb. 1: Die Tierarzneischule Anfang des 19. Jahrhunderts 1 Unterrichts- und Verwaltungsgebäude. Ansicht von Norden. Im Hintergrund das heute noch stehende, ehemalige Eingangstor von der Hofseite aus gesehen — 2 Stallgebäude oder Tierspital. Ansicht von Nordwesten — 3 Anatomie. Ansicht von Westen — 4 und 5 Lehr­ schmiede und Holzschuppen. Ansicht von Süden

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Tierarzneischule (1790 -1810)

Der Lehrplan, der nach den ersten Erfahrungen „von der Höchsten Stelle anno 1792 gnädigst ratifiziert“ wurde, untergliederte die dreijährige Aus­ bildung wie noch heute in jährlich 2 Semester (siehe umseitige Übersicht).

Will wurde an sich all diesen Aufgaben gerecht, wenn er auch seine litera­ rische Tätigkeit weitgehend auf die Viehseuchen beschränkte: „ ... er war ein sehr geübter Diagnostiker und vortrefflicher Therapeut. So ausgezeich­ net er ... als Mediziner war, so tüchtig war er auch als Operateur, wozu ihm auch seine gerühmten anatomischen Kenntnisse zu Hilfe kamen. Nicht weni­ ger gerühmt werden seine Kenntnisse über das Exterieur des Pferdes und seine gründlichen Kenntnisse in der theoretischen und praktischen Huf­ beschlagkunde. Er besaß gründliche Kenntnisse in der Zucht, Wart und Pflege (Biotik) unserer Haustiere, sowie in der Landwirtschaft, wie er auch zu den Stiftern des landwirtschaftlichen Vereins in Bayern zählt.“ Zu seiner Unterstützung wurden Will ab 1791 ein Pharmazeut, der schon im folgenden Jahr zum zweiten Professor aufrückte, und ein Schmiedelehrer, ab 1800 ein Prosektor und Repetitor beigegeben. Aus verschiedenen Gründen gedieh jedoch die Anstalt in den ersten 20 Jahren nicht recht, obwohl „selbst Personen des ersten Adels die Vor­ lesungen besuchten und dadurch das Vorurteil und die Abneigung des großen Haufens thätig bekämpfen halfen“. Nur wenige Personen „aus den niedersten Kreisen“ wendeten sich dem Studium der Tierheilkunde zu. Laut Gründungs-Reskript konnten unentgeltlich 16 Zöglinge, 8 vom Zivil- und 8 vom Militärstand, aufgenommen werden und 16 weitere „ohne Rücksicht des Standes gegen Entgelt“. Will berichtete aber 1801, „daß sich in diesem Jahre nur acht Personen zur Aufnahme meldeten, unter welchen sich nur zwei befanden, welche des Lesens und Schreibens kundig waren“. Bei ständidem Wechsel des zweiten Professors und des Prosektors, bei wochen- und monatelanger Abwesenheit des leitenden Professors zur Bekämpfung ein­ brechender Viehseuchen und bei Überbelastung des ganzen Personals der Schule infolge Überbelegung mit Patienten durch Kriegswirren und eine acht Monate lange französische Besatzung in München ist es begreiflich, daß Analphabeten in dreijährigem Unterricht an der Tierarzneischule nicht zu den gewünschten „einsichtsvollen, brauchbaren Tierärzten“ herangebildet werden konnten, selbst wenn den Eleven mehr als genug an Patienten zum Lernen zur Verfügung standen. Um die unbefriedigende Sachlage zu überwinden und den Wirkungskreis der Schule zu erweitern, versuchte ein „Allerhöchstes Reskript“ im Februar

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1800, auch Land- und Wundärzte zum Studium der Tierarzneikunde zu be­ stimmen: „Landphysici, Chirurgi und Schmiede können und sollen neben ihren übrigen Beschäftigungen sich vorzüglich auch der Thierarzneikunde widmen, Landphysici und Chirurgi erhalten hiedurch die schönste Gelegen­ heit, sich um ihre Mitbürger und um den Nationalwohlstand verdient zu machen, zu gleicher Zeit aber auch eine Gelegenheit, ihre Nahrungsquellen sich immer mehr zu erweitern ...“ Die bisherige militärische Verfassung der Anstalt wurde aufgehoben, und die Schule nicht mehr wie bisher dem Hof­ kriegsrat, sondern der General-Landes-Direktion unterstellt. Auch mit die­ ser Maßnahme erhoffte man sich einen besseren Besuch der Lehranstalt aus dem Zivilstand.

Diese Reformbemühung erwies sich als unzureichend, denn die Ärzte und Wundärzte widerstrebten, sich zu Tierärzten bilden und zur Ausübung der Tierarzneikunde bestimmen zu lassen. Eine gründliche Neuorganisation der Schule und des bayerischen Veterinärwesens war unumgänglich und wurde in den nächsten Jahren vorbereitet.

Central-Veterinär-Schule (1810 -1851)

Mit dem „Organischen Edikt“ vom 1. Februar 1810 unter der Regierung des Königs Maximilian Josef, veranlaßt vom Bayerischen Ministerpräsiden­ ten Graf von Montgelas, erfolgte diese Neuorganisation von Grund auf. Die Schule wird zur „Central-Veterinärschule für das ganze Königreich“ bestimmt. In 32 Paragraphen werden Zweck und Aufbau der Schule fest­ gelegt, die Stellung des Lehrpersonals geregelt, ein neuer Lehrplan auf­ gestellt, die Einteilung der Gebäude getroffen, die Hörer gemäß ihrem Bildungsstand in Klassen eingeteilt, ihre Auswahl, Aufnahme, Prüfungen und Zeugnisse festgelegt, die „oekonomische und polizeiliche Einrichtung“ der Schule und die Obliegenheiten und Rechte der Tierärzte geordnet.

Bei der Einteilung der Hörer in drei Klassen sollten

,,a) die Aerzte, welche sich zur Anstellung als Gerichtsärzte qualifizieren wollen, die erste Klasse, b) die zu eigentlichen Thierärzten sich bildenden Eleven die zweite Klasse und

c) die Huf- oder Kurschmiede die dritte Klasse“

ausmachen.

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Will bereitete für die Hörer der ersten Klasse gemäß § 15 des Organischen Edikts einen Veterinärkurs von 3- bis 4wöchentlicher Dauer „über Seuchen­ lehre, chirurgische Operationen, Sektionsmethoden, Tierkrankheiten mit Benützung der Klinik-Patienten“ vor, aber der Besuch dieser Veranstaltun­ gen durch die Mediziner blieb derart zurückhaltend, daß von dieser ersten Klasse der Hörer nicht mehr gesprochen werden muß. Hufbeschlagschmiede wurden demgegenüber in der Folgezeit in großer Zahl unterrichtet und approbiert. Jährlich fanden zwei Kurse statt. Die besten dieser approbierten Schmiede konnten in die zweite Klasse der Hörer auf­ genommen werden und sich zu „eigentlichen Thierärzten“ ausbilden lassen. Obwohl für die Veterinär-Eleven zur Aufnahme als Schulbildung an sich bereits über die Primärschule (Volksschule) hinaus die „Realklasse der Secundärschule“ gefordert wurde, blieben noch lange Zeit die gelernten Schmiede bei der Aufnahme als Veterinär-Eleven bevorzugt, denn die ge­ forderte Schulbildung konnte auch von kaum einem der anderen Anwärter vorgewiesen werden. Das änderte sich erst im zweiten Viertel des Jahr­ hunderts, als die Vorurteile gegen den Tierärztestand bereits abnahmen und sich der Schulunterricht an und für sich besserte. Auch besser vorgebildete Schüler der neu eingeführten Mittel- und Gewerbeschulen wendeten sich nun dem Studium der Tiermedizin zu.

Für die zweite, die eigentliche Klasse der Hörer der Central-VeterinärSchule, blieb die Ausbildungszeit von 3 Jahren bestehen. Der Lehrstoff wurde erweitert. Folgendes war vorzutragen: ,,a) das für die Lehre der Veterinärwissenschaft Unentbehrliche aus der allgemeinen Naturlehre, der Experimentalphysik, Chemie und Botanik; b) allgemeine Naturgeschichte;

c) besondere Naturgeschichte der Hausthiere; d) Diätetik der Hausthiere;

e) Zootomie der Hausthiere nach allen Theilen mit der dazu gehörigen Physiologie; f) Exterieur, oder die Lehre von den Verhältnissen und der Zustimmung der äussern Theile eines gesunden Thieres, ihren Verschiedenheiten nach den Rasen und dergleichen mit vorzüglicher Hinsicht auf die Pferde, das Hornvieh und die Schafe; g) die Lehre über Viehzucht und Gestütskunde;

h) die Thierarzneimittel-Lehre und Rezeptirkunde; 19

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i) die generelle Krankheitslehre der Thiere, das ist Nosologie in Verbin­ dung mit Therapie und Semiotik;

k) die spezielle Krankheitslehre mit dem klinischen Unterrichte im ThierSpitale;

1) die theoretische und praktische Thier-Wundarzeikunde mit der Opera­ tionslehre und Thier-Geburtshilfe;

m) die gerichtliche Thierarzneikunde; n) die Lehre von den Viehseuchen und die Geschichte derselben;

o) die Grundsätze der Hufbeschlagkunde mit der Uebung an todten und lebenden Hufen, besonders zur Verfertigung der künstlichen Kur­ eisen.“

Die Veterinär-Eleven wohnten in der Anstalt. „Armuth und vorzüglich empfehlende Eigenschaften qualifiziren zur Gratis-Aufnahme, nach welcher die Eleven mit allem Erforderlichen ganz unentgeltlich verpflegt werden.“ Ein Drittel der Schüler mußte keine Kosten zahlen, ein Drittel die halben, der Rest die vollen Kosten. Die Höchstzahl war ohne die vom Militär abge­ stellten auf '60 Schüler festgelegt, so daß jährlich 20 Schüler eintreten konn­ ten. Außer Prüfungen während der Semester fanden nach je 2 Semestern öffentliche Jahresprüfungen und am Schluß der Ausbildung eine schriftliche und öffentliche mündliche Finalprüfung statt.

Die Eleven lebten in strengster Internatsordnung unter einfachsten Be­ dingungen: „Die Wohnräumlichkeiten, welche nach dem Organischen Edikte von 1810 besonders einzurichten gewesen wären, bestanden bis 1851 in zwei Schlafzimmern, erst im Mansardenraum des sogenannten Schulgebäudes, später unter dem Dach des Stallgebäudes, und in einem Versammlungszim­ mer, das das einzige Lehr- und Studierzimmer, Aufenthalts- und Speise­ zimmer am Abend u.s.w. gewesen ist. Die Schlafzimmer hatten erst soge­ nannte zweischläfrige, später einschläfrige Betten nach militärischer Art; jede Waschvorrichtung fehlte daselbst.“ Nach der Schulordnung versorgten die Veterinärschüler die kranken Tiere in therapeutischer Hinsicht ganz. „Sie hatten alle ihnen zugeteilten Patienten zu füttern, zu tränken, zu reinigen. Die Eleven hatten die Stall­ wache Tag und Nacht zu leisten und die volle Reinhaltung der Ställe dabei zu besorgen.“ Der Hausknecht mußte nur den gehäuften Kot abfahren. „Die

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Eleven hatten abwechslungsweise sogenannten Küchendienst, hiebei für Feuerung und stetes Bereithalten von heissem Wasser, dann für Herrichtung aller unter Anwendung von Feuer zuzubereitender Medikamente, und schliesslich für Reinhaltung der Küche selbstthätig zu sorgen. Ebenso hatten die Eleven sogenannten Anatomiedienst und hiemit die Reinmachung der Sektionslokalität nach Sektionen, die Reinigung aller beim Präparieren und den Vorträgen benützten Räume, Tische, Gerätschaften und Instrumente u.s.w. zu besorgen.“

In der „Geschichte der K. B. Zentral-Tierarzneischule München 1790 bis 1890“ von C. Hahn, dem Direktor der Schule von 1884 - 1899, und dem da­ maligen Sekretär der Anstalt F. Viandt heißt es weiter: „Mancher der Eleven hat nach dreijährigem Aufenthalt an der Zentral-Veterinärschule als Tier­ arzt absolviert und München verlassen, ohne diese Stadt und noch weniger deren Kunstschätze kennen zu lernen.“ „In Hinsicht des Wissenschaftlichen und Polizeilichen“ unterstellte das Organische Edikt die Schule dem Ministerium des Innern, „in Hinsicht des Oekonomischen“ dem Ministerium der Finanzen. Zum Chef der Anstalt wurde der Oberststallmeister Freiherr von Kesling ernannt, dem bereits das erwähnte kurfürstliche Reskript von 1800 die Oberaufsicht eingeräumt hatte zu dem Zweck, das Institut „seiner Bestimmung mit geübter Hand näher zu führen“. Er hat an der Neuorganisation der Schule von 1810 großen Anteil. Nach dem Tod des Freiherrn von Kesling im Januar 1843 wurde der Vor­ stand des Oberststallmeisterstabes, Baron von Freyberg, bis 1851 sein Nach­ folger. Will blieb bis zu seinem Tod im September 1821 erster dirigierender Professor der Schule. Die Stadt München ehrt das Andenken des Begründers unserer tierärztlichen Ausbildungsstätte, indem sie einer Straße im Norden der Stadt seinen Namen gab.

Der planmäßige Lehrkörper bestand seit 1810 aus 3 o.ö. Professoren und einem Schmiedelehrer, zusätzlich ab 1827 einem Prosektor und ab 1844 einem Repetitor. „Assistenten hatten die Professoren für Anatomie, Arzneimittel­ lehre, des klinischen Unterrichts und der Schmiedelehrer je einen aus der Reihe der absolvierten Tierärzte, zumeist aber aus der Reihe der Eleven des dritten Kurses.“

Als zweiter Professor wurde 1810 Dr. phil. Bernhard Laubender an die Central-Veterinär-Schule berufen, dessen umfassende Literaturkenntnis und vielseitige veterinär-schriftstellerische Tätigkeit ihn als wissenschaftlich­ tierärztlichen Lehrer besonders herausstellten. Er schrieb Werke über Vieh­ seuchen, Veterinärpolizei und polizeigerichtliche Tierarzneikunde, lehrte 19*

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diese und andere Fächer und hatte sich vor seiner Berufung nach München vor allem durch das vierbändige Theoretisch-praktische Handbuch der Thierheilkunde als Kenner der veterinärmedizinischen Materie ausgewiesen, darüber hinaus auch Werke medizinischen und landwirtschaftlichen Inhalts verfaßt. Nach nur öjährigem Wirken an der Schule erlag Laubender 1815 im Alter von 51 Jahren einem Schlaganfall. Damit erhielt derjenige die Möglichkeit aufzurücken, der sich nach Will als Hauptförderer der Münchener Veterinär-Schule in ihrer ersten Entwick­ lungsperiode hervortat: Dr. Conrad Ludwig Schwab. Er hatte in den Jahren um die Jahrhundertwende hier an der Schule seine Ausbildung als Tierarzt erhalten, war dann Assistent für Anatomie und seit 1803 Prosektor, seit 1806 auch Repetitor. Nach der Einrichtung einer dritten Professorenstelle im Jahre 1810 konnte Schwab in diese Stelle einrücken, 1815 stieg er zum zweiten Professor auf und nach dem Tode Wills zum ersten dirigierenden Professor. 1851 ließ er sich, fast 71jährig, in den Ruhestand versetzen, wobei ihm „Titel, Funktionszeichen und Gesamtgehalt“ belassen wurden. Er starb 1859. Schwab vertiefte seine tierärztliche Ausbildung durch Besuche in den Veterinärschulen von Wien, Berlin, Dresden und Alfort während des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts. 1809 promovierte er an unserer Universität, die damals in Landshut untergebracht war, zum Dr. med. In seiner viel­ jährigen Lehrtätigkeit war er veranlaßt, nahezu alle Unterrichtsfächer der Veterinärwissenschaft zu lehren. Eine Reihe von Lehrbüchern zeugen von dieser vielseitigen Verpflichtung. Die meisten davon erlebten mehrere Auf­ lagen, zwölf allein der Katechnismus der Hufbeschlagkunst, der auch in die meisten europäischen Sprachen übersetzt wurde. In seinem Nachruf durch Georg Nicklas, der ab 1852 Dozent und von 1859 bis zu seinem Tode im Jahre 1865 Professor an der Zentral-Tierarzneischule war, heißt es, was die Schule „im Laufe der Zeit geworden ist, hat sie ihm fast ganz allein zu verdanken“. Die Neuorganisation durch das Organische Edikt und die hervorragenden Lehrer sorgten für den erheblichen Aufschwung der Schule in den Jahren nach 1810. Es versteht sich unter dem seit der Aufklärung herrschenden Fortschrittsdenken von selbst, daß mit der Zeit der allgemeine Fortschritt außerhalb der Veterinärschulen und die Vertiefung und Differenzierung der Veterinärwissenschaft selbst zu einer erneuten Reorganisation der Tier­ arzneischulen drängten. Das Organische Edikt von 1810 wurde unter dem Eindruck der Schrift „Über den Zweck und die Organisation der Thierarznei­ schulen“ verfaßt, die L. Bojanus 1805 herausgegeben hatte. Nach dieser Auf­ fassung, die sich damals weithin durchsetzte, sollten die Tierarzneischulen keine wissenschaftlichen Hochschulen (Akademien) sein, „sondern Bildungs­

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anstalten einer niedrigeren Instanz ... Sollen ... die Thierarzneischulen praktische Thierärzte bilden, so ist ihr Zweck nicht der, wissenschaftliche Thierärzte zu bilden.... Man soll es sich frei gestehen, daß man einen bloßen Empiriker, einen thierarzneikundlichen Handwerker, und weiter nichts bil­ den will... Der Schüler tritt in die Thierarzneischule ohne alle Berührung mit der Wissenschaft. Das Ziel seiner Thätigkeit ist eine endliche Größe der Kunstfertigkeit. ... Seine Kenntnisse mögen sich auf die, zu Führung seines bürgerlichen Gewerbes, und zu Unterstützung seines Gedächtnisses noth­ wendige Fertigkeit im Lesen und Schreiben beschränken. Anderer Vor­ kenntnisse bedarf er nicht... Er sey einheimisch in dem Kreise, in den er treten soll, damit er gerne darin verweile und willig thue, was seines Amtes ist“. Bojanus war übrigens Arzt, Dr. med., hatte dann in Alfort Tiermedizin studiert und folgte 1804 einem Ruf nach Wilna als Professor der Veterinär­ medizin. Er erlebte die Verhältnisse der ersten Phase der tierärztlichen Lehrstätten, in der „in diesen Anstalten, für die Fortschritte des thierarznei­ kundlichen Wissens selbst, nur sehr wenig geschehen ist“.

So ist es durchaus verständlich, wenn es damals nur wenige voraus­ schauende Naturwissenschaftler und Ärzte gab, die die Tiermedizin derart in den Verband der Naturwissenschaft und Medizin integrieren wollten, daß sie die Tierärzteschulen als Fakultäten der Universität einzugliedern wünsch­ ten, wie in Berlin schon 1810 Alexander von Humboldt. Doch es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die sich entwickelnden Naturwissenschaften, Medizin und Tiermedizin, für die Überwindung des herrschenden Stand­ punktes sorgten.

In Bayern begannen ernsthafte Reformbestrebungen Anfang der 40er Jahre. Zum Wegbereiter einer erneuten Reorganisation wurde Martin Kreutzer, „ein Mann, der von flammendem Eifer beseelt war, die tierärzt­ liche Sache vorwärts zu bringen, überall reformatorisch und schöpferisch anpackte“, schreibt R. Schmaltz (1936). Kreutzer erhielt nach dem Tode von J. Mundigl — „der Medizin und Chirurgie Doktor, ordentl. öffentl. Professor an der königl. baier. Zentral-Veterinär-Schule und praktischem Arzte“, seit 1815 Lehrer an der Schule und 1847 im 65. Lebensjahr gestorben —, im Februar 1848 die dritte Professur an der Central-Vetenrinär-Schule. Er kannte die Zustände an der Schule, denn er hatte von 1827 - 1830 hier stu­ diert. Seither war alles beim alten geblieben, und so kämpfte er von Anfang an energisch um „die Aufstellung eines vierten Professors für die natur­ wissenschaftlichen Fächer, höhere Vorbildung der aufzunehmenden Schü­ ler, vierjährige Studienzeit, Aufhebung des Internates, Neuanlage und Ver­ vollkommnung der Sammlungen, Errichtung eines pharmazeutischen Labo-

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ratoriums, einer ambulatorischen oder Poliklinik, überhaupt Reorganisation der Schule nach dem Muster der gleichen Anstalten zu Berlin und Brüssel“. Seine Bemühungen stießen aber bei seinen Mitprofessoren auf Unverständ­ nis, so daß gegensätzliche Gutachten an das Ministerium gereicht wurden. Die gänzlich divergierenden Grundansichten der Professoren führten zu unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen dem dirigierenden Professor Schwab und dem zweiten Professor Plank einerseits sowie Kreut­ zer andererseits. Der zu stürmisch vorgehende Kreutzer wurde „wegen fort­ gesetzter Unverträglichkeit mit seinen Amtsgenossen von der Stelle eines dritten Professors der Central-Veterinär-Schule enthoben“. Er zog nach Er­ langen, wo er „mehr als gewöhnliche Achtung selbst unter den Universitäts­ lehrern genoß“ und zum Dr. med. promoviert wurde. 1855, 45jährig, er­ krankte er schwer, wurde schwermütig, verfiel in Wahnsinn und beging schließlich Selbstmord. „Der Beerdigung wohnten sämtliche Universitäts­ professoren und die Studierenden, sowie viele andere Personen an.“ Die außerordentlichen Fähigkeiten lassen seine zahlreichen Bücher erkennen und das von ihm herausgegebene Centralarchiv, später Centralzeitung für die gesamte Veterinärmedizin.

Aber auch der 70jährige Schwab suchte nach diesem Zerwürfnis zwischen den Professoren um seine Entpflichtung nach und der sich „allen Bestrebun­ gen um Verbesserung des Unterrichts, um Reorganisation der Schule und um Hebung des Veterinärwesens feindlich entgegen“ stellende Professor Dr. med. Joseph Plank wurde 1852 im Alter von 70 Jahren pensioniert, nach­ dem er sich „bei seinem hohen Alter in die neuen Verhältnisse“ nicht fügen konnte, die das neuerliche, unumgängliche Reorganisationsedikt mit sich brachte. Plank war seit 1821 als Lehrer an der Schule. Ein Urteil über ihn lautete: „Er ist fleissig und pünktlich in Erfüllung seiner Amtspflichten, dabei ein sehr gelehrter Mann, aber kein praktischer Tierarzt.“

Zentral-Tierarzneischule (1852 -1890) Kreutzers Reformbestrebungen erwiesen sich als vollberechtigt. Die mei­ sten seiner Vorschläge sind bereits in dem Reorganisationsedikt vom Mai 1852 berücksichtigt worden. Diese Verordnung in der Zeit König Maximilians II. hatte Verbesserungen im Unterrichtswesen zum Ziel. Neue Lehrgegenstände an der jetzt in Zentral-Tierarzneischule umbenannten Anstalt sind pathologische Anato­ mie, ambulatorische Klinik (Poliklinik) sowie „Reiten, Fahren und körper­ liche Übungen“. Im übrigen wurde der „Unterricht viel intensiver mit besse­

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rer Ausnützung der Zeit“. Mit der Einrichtung eines „Züchtungsstalls für den Unterricht in der Tierveredlung und zur praktischen Geburtshilfe“ sollte den Eleven „soviel als möglich, praktischer Unterricht in der Geburts­ hilfe zu Teil werden“. Die grundsätzlich wichtigsten Fortschritte sind aber darin zu sehen, daß von den Schülern eine wesentlich höhere Vorbildung gefordert wurde und daß es nur mehr eine Klasse tierärztlicher Hörer gab. Als Ausweis einer „gehörigen Vorbildung“ ist das Gymnasialabsolutorium oder das Absolutorium einer vollständigen Landwirtschafts- und Gewerbe­ schule vorzulegen. Absolvierte Gymnasialschüler haben darüber hinaus zur Ermittlung der nötigen Vorkenntnisse in den Naturwissenschaften an der Schule eine eigene Prüfung zu bestehen und die Gewerbeschüler neben dem Absolutorium dieser Schule auch die Jahreszeugnisse der I. und II. Klasse der Lateinschule vorzulegen. Die meisten der Eleven traten in der Folgezeit mit dem Absolutorium einer vollständigen Landwirtschafts- und Gewerbe­ schule in die Zentral-Tierarzneischule ein. Folge der höheren Vorbildung der Schüler war ihre größere Reife und Mündigkeit, die notwendig eine Auflockerung des Internats nach sich zog, bis es ganz aufgehoben wurde. Ab 1869/70 hatten nur mehr je zwei der Schü­ ler eines jeden der 3 Kurse abwechselnd 8 Tage lang im Institut zu wohnen, damit sie bei außerordentlichen Anlässen dienstbereit zur Verfügung stan­ den. Die Schule wurde dem Handelsministerium unterstellt, und als dieses zum Jahresende 1871 aufgelöst wurde, dem Kultusministerium. Zum Direktor der Zentral-Tierarzneischule ernannte die Regierung nach der „unter dem Ausdruck der wohlgefälligen Anerkennung seines uneigen­ nützigen Wirkens und seiner ersprießlichen Leistungen Allerhöchst“ ge­ nehmigten Enthebung des Baron von Freyberg im Oktober 1851 den Univer­ sitätsprofessor Dr. med. Karl Fraas, zunächst interimistisch und ab 1852 definitiv. Fraas kann „als unbestreitbares Verdienst angerechnet werden, daß er einen richtigen naturwissenschaftlichen Unterricht als Grundlage für das eigentliche Fachstudium einführte, daß er den Unterricht überhaupt wissenschaftlicher gestaltete und stets zu Forschungen anregte“. Er leistete Hervorragendes in der Landwirtschaftswissenschaft und war bestrebt, eine enge Verbindung der Tierheilkunde mit der Landwirtschaft herzustellen.

Die Tierärzte im Lande empfanden es aber als Zurücksetzung, daß nicht ein Tierarzt Direktor der Tierarzneischule ist. Ihr Wunsch erfüllte sich 1867, als sich Fraas in den Ruhestand versetzen ließ und Wilhelm Probstmayr zu seinem Nachfolger ernannt wurde. Er hatte 1843, mit 20 Jahren, die Ab­

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solutionsprüfung an der Münchener Veterinärschule bestanden, war prak­ tischer Tierarzt und später Regimentsveterinär gewesen, ehe er 1867 zum Direktor der Tierarzneischule in München und 1872 zugleich als Landes­ tierarzt berufen wurde. „Den Bestrebungen der Tierärzte auf Verbesserung ihrer Stellung, den Verbesserungen der Tierarzneischulen selbst wandte er eine rege Aufmerksamkeit zu.“

Die bayerischen Tierärzte, ständig darum bemüht, das Ansehen ihres Be­ rufes zu erhöhen — denn noch immer waren die alten Vorurteile nicht gänz­ lich ausgeräumt —, reichten 1863 an den König eine Petition ein, als Vor­ bildung für das Studium der Tierheilkunde das Absolutorium eines huma­ nistischen oder Realgymnasiums einzuführen. Die Diskussion darüber und über den weiteren Ausbau der Tierarzneischule riß nicht mehr ab. Volle und wirksame Unterstützung erhielten die Tierärzte und ihre Ausbildungsstätte in einem „Bericht über den Stand der Königlichen Zentral-Tierarznei­ schule“ im Jahre 1870 durch den Physiologen Professor Dr. med. Karl von Voit, der in diesem und in anderen Jahren an dieser Schule die Funktion eines „ministeriellen Prüfungskommissärs“ ausübte. In dem Bericht heißt es unter anderem: „Das Studium der Tierheilkunde muß auf wissenschaft­ licher Basis begründet werden, denn die Tierheilkunde ist so weit vor­ gerückt, daß sie ein Zweig der Naturwissenschaft geworden ist... ein Tier­ arzt ohne die Kenntnisse, die ihm die Wissenschaft bietet, ist in unseren Tagen kein Tierarzt mehr, sondern ein Pfuscher oder ein Handlanger für etliche Verrichtungen.... Die allgemeine Einführung der Reife für die Hoch­ schule ... ist für den Tierarzt ebenso erforderlich, wie für den Mediziner, Ingenieur, Architekten, Forstbeamten etc.“ Die Lehrkräfte müssen denen einer Hochschule entsprechen. Der zukünftige Lehrer soll einen bestimmten Zweig der Veterinärmedizin ergreifen. Demnach sei die Einrichtung von Fachprofessuren angezeigt. Auf Grund dieses Berichtes wurde eine Reorganisation der Schule in dem fortschrittlichen Sinne vorbereitet. Sie konnte aber nicht mehr durchgeführt werden, weil 1872 zur Vereinheitlichung der Ausbildungsbedingungen im ganzen Reich auch in Bayern die Gewerbeordnung des vormaligen nord­ deutschen Bundes von 1869 Gültigkeit erhielt. Vorbedingung für die Auf­ nahme an der Zentral-Tierarzneischule bildete jetzt der „Nachweis der Reife für die erste Gymnasialklasse eines bayerischen Gymnasiums oder den ersten Kurs eines bayerischen Realgymnasiums oder einer im übrigen Deutschland dieser entsprechenden Klasse“. 1878 erließ der Reichskanzler neue Vorschriften. Sie verlangten als Vorbildung die „Reife für die Prima eines Gymnasiums oder einer Realschule erster Ordnung, bei welcher das

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Latein obligatorischer Unterrichtsgegenstand ist, oder einer durch die zu­ ständige Zentralbehörde als gleichstehend anerkannten höheren Lehran­ stalt“. Die Mindeststudienzeit betrug seit der Vereinheitlichung von 1872 7 Semester bis zum Examensbeginn.

Die Reorganisation von 1872 hob auch das 1858 durch eine königliche Ver­ ordnung eingeführte sogenannte praktische Jahr für die Absolventen der Tierarzneischule wieder auf. War bis 1858 der Absolvent der Schule auf Grund seines Absolutoriums berechtigt gewesen, tierärztliche Praxis auszu­ üben, mußte er in den Jahren von nun an bis 1872 „wenigstens ein volles Jahr hindurch bei einem amtlich hiefür autorisierten Tierarzte praktische Unterweisung genossen“ und danach noch eine praktische Prüfung bestanden haben, um zur Ausübung der tierärztlichen Praxis zugelassen zu werden. Für die Münchener tierärztliche Schule bedeutete die Reorganisation von 1872 einen Rückschritt, gemessen an dem, was schon damals hätte erreicht werden können, wenn sich die Vorschläge K. v. Voits hätten verwirklichen lassen. Im Zivilveterinärwesen aber fand im gleichen Jahr eine längst über­ fällige Bevormundung ihr Ende. Die Ziviltierärzte wurden von den Gerichts­ ärzten emanzipiert. Sie erhielten die Begutachtung und Ausführung der veterinärpolizeilichen Maßregeln zur Unterdrückung der Viehseuchen über­ tragen und erreichten die fachmännische Vertretung bei den Kreisregierun­ gen und im Staatsministerium.

Im Jahre nach der Reorganisation von 1852 lehrten einschließlich des Direktors 4 Professoren, ein Dozent und der Schmiedelehrer an der Münche­ ner Tierarzneischule. Die Zahl der Lehrkräfte stieg weiter an und 1874 wird bereits eine weitgehende Einteilung in Fachprofessuren erreicht. Die Fächer waren damals folgendermaßen aufgeteilt: Direktor Probstmayr: Seuchenlehre mit Klinik des Seuchenstalles, polizei­ liche und gerichtliche Tierheilkunde, Tierproduktionslehre mit Gestüts­ kunde,

Professor Carl Hahn: Chirurgie, Verband- und Operationslehre, Operations­ kursus, chirurgische Klinik, ambulatorische Klinik, Professor Ludwig Franck: Anatomie mit Histologie, Physiologie, Geburts­ hilfe, Professor Johann Feser: Chemie, Arzneimittellehre, allgemeine Therapie, pharmazeutische Übungen,

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Professor Franz Friedberger: Spezielle Pathologie und Therapie, medizi­ nische Klinik, Exterieur, Professor Dr. med. Otto Bollinger: Allgemeine Pathologie, pathologische Anatomie mit Sektionen, pathologisch-histologischer Kursus, Geschichte der Tierheilkunde, Professor Konrad Schreiber: Theoretischer und praktischer Hufbeschlag. Schreiber war von 1840 - 1882 Schmiedelehrer an der Schule und führte seit 1868 den Professorentitel,

Dozent Dr. phil. Carl Otto Harz: Physik, Botanik und Zoologie, Bezirks-Tierarzt Josef Röbl: Fleischbeschau,

Assistent Georg Röckl: Diätetik. In diesen Jahren gelang der Schule endgültig der Aufschwung von einer schlichten Ausbildungsstätte zu einer Stätte von Lehre und Forschung von hohem Rang, deren wissenschaftliche Leistungen der Ausbildung ihrer Schüler wie dem Ansehen des tierärztlichen Standes zugute kamen. Für den Anschluß an den Wissensstand der Medizin sorgten nicht zuletzt Human­ mediziner, die an der Schule wirkten, zunächst vor allem der Pathologe Bollinger, der in erster Linie durch seine Arbeiten über Tierseuchen inter­ national bekannt wurde. Der gebürtige Rheinpfälzer war 1874, 31jährig, von der Tierarzneischule Zürich an die Münchener Tierarzneischule und gleich­ zeitig an die Universität München berufen worden. Als „einen schweren Ver­ lust“ bezeichnet es die Chronik unserer Schule, daß Bollinger schon 1880 aus dem Lehrkörper der Schule wieder ausschied, als er an der Medizinischen Fakultät der Universität zum Ordinarius aufrückte. Der bedeutende Ge­ lehrte starb als „Rektor magnificus der Universität München, Geheimer Rat, Professor Ritter von Bollinger im Alter von 66 Jahren“ im August 1909. Zusammen mit Franck gründete und redigierte er die „Deutsche Zeitschrift für Tiermedizin und vergleichende Pathologie“, die sich zu einer angesehe­ nen Fachzeitschrift entwickelte.

Franck verdient in der Geschichte unserer Münchener tierärztlichen Aus­ bildungsstätte einen Ehrenplatz. Er wurde 1864, 30jährig, an die Schule be­ rufen, an der er 1854 zum Tierarzt approbiert worden war, und nach dem Tode Probstmayrs zu ihrem Direktor bestimmt. Obwohl seit diesem Wechsel im Direktorat der jeweilige Direktor nur mehr für die Dauer von 3 Jahren ernannt wird, blieb Franck bis zu seinem frühen Tode im April 1884 in dieser Position. Der Nachruf, den Bollinger ihm schrieb, läßt bis heute den hoch­ geschätzten Menschen und hervorragenden Gelehrten erkennen. Seine zahl­

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reichen Publikationen und größeren Werke, die „fast alle Gebiete des tier­ ärztlichen Wissens“ umfassen, dokumentieren „seine staunenswerte Viel­ seitigkeit“, wie sie „andererseits durch den Reichtum an neuen Beobachtun­ gen und Ideen zum großen Teil als bahnbrechende Leistungen zu bezeichnen sind“. Sein „Handbuch der Anatomie der Haustiere“ wird als „ein Kleinod der veterinärmedizinischen Literatur“ bezeichnet. Es erscheint auch in fran­ zösischer, italienischer und russischer Übersetzung. Francks Schüler Paul Martin führt es nach der erheblich erweiterten und verbesserten 2. Auflage von 1883 zu weiteren Auflagen. Mit seinem „Handbuch der Thierärztlichen Geburtshilfe“ reformiert er dieses Fach auf anatomisch-physiologischer Grundlage. Es kennzeichnet Francks bescheidenes, neidloses Wesen, daß er, obwohl selbst ein angesehener Gelehrter, um seine theoretischen Kenntnisse zu vervollkommnen, bis zu seinem Tode bei zahlreichen bedeutenden Univer­ sitätsprofessoren Vorlesungen hörte. 1880 verlieh ihm die medizinische Fa­ kultät der Universität München die Ehrendoktorwürde.

Als Franck 1877 die Direktion der Schule übernahm, wurden zu seiner Entlastung die Physiologie, die Histologie und die Embryologie aus dem Rahmen der Anatomie herausgelöst. Die Physiologie, mit der Diätetik in einem Lehrstuhl vereinigt, entwickelte sich von nun an zu einem eigen­ ständigen Grundlagenfach. Auch Histologie und Embryologie erreichten in den 80er Jahren durch Robert Bonnet einen hohen Stand in Forschung und Lehre. Dr. med. Bonnet war seit 1877 Prosektor an der Tierarzneischule und Privatdozent an der Universität München und seit 1881 Professor an der Tierarzneischule, der Nachfolger Bollingers, dessen Hauptfächer er mit über­ tragen erhielt. Nach Francks Tod übernahm er zusätzlich die Vorlesungen in Anatomie, folgte aber 1889 einem Ruf an die Universität Würzburg.

Von 1879 an hörten die Schüler der Tierarzneischule die Vorlesungen in Physik und Chemie an der Technischen Hochschule München. Seit 1879/80 ist die Ophthalmologie ein neuer Unterrichtsgegenstand. Der Lehrplan in den 80er Jahren ist nachstehend zusammengestellt: Lehrplan der K. Zentral-Tierarzneischule in München I. Semester (Winter). Physik I ) T > an der technischen Hochschule. Chemie I J Allgemeine Zoologie. Botanik I. Anatomie der Haustiere I. Repetitorium der Chemie.

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II. Semester (Sommer). Chemie III . , > an der technischen Hochschule. Physik II J Botanik II mit Exkursionen. Zoologie. Histologie und Embryologie. Physiologie I. Chemisches Laboratorium I. Histologische Übungen. Repetitorium der Chemie. Anatomie II. Beschirrungs- und Bekleidungskunde der Arbeitstiere.

III. Semester (Winter). Physiologie II mit physiologischen Demonstrationen. Exterieur. Tierzuchtlehre und Gestütskunde. Zootomische Übungen. Chemische Übungen II. Theorie des Beschlages gesunder Hufe. Pharmazeutische Übungen I.

IV. Semester (Sommer). Allgemeine Pathologie, allgemeine pathologische Anatomie. Allgemeine Therapie. Arzneimittellehre mit Toxikologie I. Rezeptierkunde. Allgemeine Chirurgie und Akiurgie. Operationsübungen I. Übungen am Hufe. Pharmazeutische Übungen II. Interne und externe Klinik. V. Semester (Winter). Spezielle pathologische Anatomie. Spezielle Pathologie und Therapie I. Spezielle Chirurgie. Operationsübungen II. Kliniken. Arzneimittellehre nebst Toxikologie II. Ophthalmologie etc.

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VI. Semester (Sommer).

Diätetik. Geburtshilfe nebst Übungen am Phantom. Geschichte der Tierarzneikunde. Seuchenlehre. Kliniken. Ambulatorische Klinik. Spezielle Pathologie und Therapie II. Ophthalmologie mit Übungen. Sektionen, pathologisch-histologische und bakteriologische Übungen. VII. Semester (Winter). Gerichtliche Tierarzneikunde. Kliniken. Ambulatorische Klinik. Sektionen und Repetitionen. Übungen im Anfertigen schriftlicher Gutachten. Veterinärpolizei. Animale Viktualienbeschau. Theorie des Beschlages kranker Hufe nebst praktischen Demonstrationen.

Nach dem 3. Semester konnte die Prüfung in den naturwissenschaftlichen und den vorklinischen Fächern abgelegt werden, drei Semester nach dieser Prüfung, aber frühestens nach insgesamt 7 Semestern die tierärztliche Prüfung. Mit der Direktion der Schule war 1884 Hahn, das älteste Mitglied des Lehrerkollegiums, betraut worden. Er trat, nachdem er von 1851 - 1854 hier studiert hatte, 1860 wieder als Prosektor in die Schule ein, wurde 1862 zum Professor ernannt und ist in den vielen Jahren als Lehrer an der Schule „durch viele Sparten hindurch gegangen“. In die Zeit seines Direktorats fällt das 100jährige Jubiläum der Schule. Hahn gab aus diesem Anlaß eine Fest­ schrift heraus, in der die Geschichte der ersten 100 Jahre unserer Bildungs­ stätte ausführlich dargelegt wird. Auf diese Schrift beziehen sich die nicht erläuterten Zitate.

Anläßlich der 100-Jahrfeier am 28. 7. 1890 wird die Königliche ZentralThierarzneischule zur „Königlichen Thierärztlichen Hochschule“ erhoben. Tierärztliche Hochschule (1890 - 1914) Die Festlichkeiten zum 100jährigen Bestehen der Schule dauerten 3 Tage. Der Festakt am 28. Juli mittags und das Festbankett für 200 Personen am

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Spätnachmittag des gleichen Tages fanden im „schönsten und reich ausgestattetsten“ Saal der Stadt München statt, im restaurierten und „herrlich geschmückten“ alten Rathaussaal. Am nächsten Tag folgte im gleichen Saal „die mit der Centenarfeier der Centralthierarzneischule in München ver­ bundene Wander Versammlung bayerischer Thierärzte“, veranstaltet im Na­ men der acht tierärztlichen Kreisvereine Bayerns, und abends ein Fest­ kommers der Studierenden der Veterinärmedizin „in dem zu diesem Zwecke prächtig decorirten Saale des katholischen Casino, dessen Säulen mit grünen Laubgewinden umrankt, während die Gallerien mit den Wappen und Fah­ nen der Corporationen und mit Guirlanden geschmückt waren“. Ein geselli­ ger Ausflug zum Starnberger See mit einer Dampfer-Rundfahrt, an der 300 Personen teilnahmen, von Starnberg über Leoni, Ammerland, Seeshaupt nach Tutzing und anschließendem Tanz im Kellerhain bei Tutzing folgte am 3. Tag der Festlichkeiten. „Nur zu bald stellte sich der Zugscommissär zur gefälligen Anfrage ein, zu bald tönte das Trompetensignal zum Aufbruche. Im geschlossenen Zuge mit Lampions bewegte sich die Gesellschaft zum Bahnhofe Tutzing und um 10 Uhr setzte sich der sie aufnehmende Extrazug zur Rückfahrt in Bewegung.“ Hahns Verdienste um die Schule fanden Anerkennung, indem er „aus Anlass der Centenarfeier dieser Schule den Titel eines ,Königlichen Hofrathes' verliehen bekam“.

Der von 1866 - 1870 als Prosektor und seit 1870 als Professor an der Schule tätige Friedberger erhielt mit der Verleihung des Ehrendoktors durch die Medizinische Fakultät der Universität München eine hochverdiente Aus­ zeichnung. Er hat an der Tierarzneischule die modernen klinischen Unter­ richtsmethoden eingeführt. Die literarischen wissenschaftlichen Leistungen dieses unübertrefflichen Lehrers gipfeln in zwei umfangreichen „klassi­ schen“ Lehrbüchern, die er zusammen mit seinem ehemaligen Assistenten und späteren Professor und Dr. med. Eugen Fröhner verfaßte, dem „Lehr­ buch der speziellen Pathologie und Therapie der Haustiere“ und dem „Lehr­ buch der klinischen Untersuchungsmethoden“. Wegen ständig zunehmenden Trigeminusneuralgien mußte sich Friedberger Ende 1892, 53jährig, vorzeitig in den Ruhestand versetzen lassen. Er starb im Dezember 1902. Zu Beginn des Wintersemesters 1891/92 konnten die Lehrstühle für Phy­ siologie und für Pharmakologie in ein für ihre Unterbringung neu erstelltes Gebäude einziehen. Worum sich Dr. med. Hermann Tappeiner vergeblich bemüht hatte, als er von 1879 bis 1887 Professor für Physiologie und Diätetik an der Tierarzneischule war, ehe er an die Medizinische Fakultät der Uni­

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versität München berufen wurde, verwirklichte sich für seinen 1888 be­ rufenen Nachfolger Dr. med. Erwin Voit, den um 19 Jahre jüngeren Stief­ bruder des berühmten Karl von Voit, schon nach wenigen Jahren: Die In­ betriebnahme eines Instituts für Physiologie. Vorläufer des Pharmakologischen Instituts war die von Feser 1875 ein­ gerichtete „Therapeutische Versuchsstation“, die erste Institution dieser Art an einer tierärztlichen Bildungsstätte. Vom Herbst 1865 - 1867 Dozent und seit 1867 Professor an der Tierarzneischule, deren Mängel er von seiner Schülerzeit her kannte — er hatte zusammen mit Friedberger von 1857 - 1860 hier studiert —, mußte Feser recht verschiedenartige Fächer lesen, so noch 1889/90 die Kombination „Tierzuchtlehre und Gestütskunde, Geburtshilfe, Arzneimittellehre, allgemeine Therapie“. 1891 war es endlich so weit, daß im Zuge der Einrichtung von Fachprofessuren die Mittel für eine eigene Pro­ fessur für Geburtshilfe, Tierzucht und Exterieur genehmigt wurden. Nach der Berufung des Professors an der landwirtschaftlichen Zentralschule Weihenstephan Michael Albrecht, der 1864 an der Münchener Tierarznei­ schule das tierärztliche Studium abgeschlossen hatte, im Oktober 1892 auf diese Professur wurde Feser endlich entlastet. Es war ihm aber nur mehr wenige Jahre vergönnt, an seinem Pharmakologischen Institut zu wirken, denn schon 1896, im Alter von nur 55 Jahren, erlag er einem Lungenleiden, das er sich in den Kriegen von 1866 und 1870/71 zugezogen hatte. H. von Obernberg würdigt Feser in einer Geschichte des Pharmakologischen In­ stituts (1965) folgendermaßen: „Feser.. .war ein Mann von überragender und vielseitiger Bedeutung. Besondere Verdienste erwarb er sich um die Förderung des tierärztlichen Standes. So geht die Gründung des Deutschen Veterinärrates am 13. April 1874 auf ihn zurück. Sein unerschrockenes und unermüdliches Eintreten für eine notwendige Reform des tierärztlichen Unterrichts war letztlich erfolgreich. Auf wissenschaftlichem Gebiete sind seine Arbeiten in der landwirtschaftlichen Tierzucht und im Molkereiwesen hervorzuheben ... Sein Hauptarbeitsgebiet blieb aber bis zu seinem Tode die pharmakologische Forschung. Bahnbrechend waren seine Studien über den Milzbrand in der Seuchenstation Lenggries, seine Untersuchungen über die pharmakologische Wirksamkeit des Apomorphins, der Salizylsäure, des Pilocarpins, Physostigmins, Eseridins und des Strychnins. Seine Versuche über den Wert des Tuberculinum Kochii als Diagnosticum bei der Rinder­ tuberkulose gaben Anlaß zur Einführung des Tuberculins bei der Bekämp­ fung und Erkennung der Tuberkulose in Deutschland.“ Seit Ende der zwan­ ziger Jahre trägt eine Straße in Milbertshofen den Namen Fesers.

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Für die Studenten der Tiermedizin brachte die Erhebung ihrer Lehrstätte zur Hochschule den Gewinn, von nun an Vorlesungen an der Universität be­ legen zu dürfen.

Die Professoren der Tierärztlichen Hochschule wurden durch eine Order des Prinzregenten Luitpold vom 1. Juli 1892 an in ordentliche und außer­ ordentliche Professoren eingeteilt — eine Rangordnung, die man rückblikkend nicht als glücklich bezeichnen kann — und beide den Universitäts­ professoren in Rang und Uniform gleichgestellt. In dieser Gleichstellung eilten die Münchener Professoren denen der anderen tierärztlichen Hoch­ schulen weit voraus. Zu ordentlichen Professoren stiegen die vier dienst­ ältesten Lehrer auf: Hahn, Feser, Dr. Friedberger und Dr. Harz. 1893 kam Albrecht hinzu. Als außerordentliche Professoren wurden eingereiht der Pathologe Theodor Kitt, der Physiologe Dr. Erwin Voit und der Anatom Dr. Johannes Rückert. Sie rückten in den nächsten drei Jahren zu ordentlichen Professoren auf. Der Humanmediziner Rückert, 1890 als Nachfolger von Bonnet an die Hochschule berufen, wechselte 1897 an die Anatomie der Medizinischen Fakultät der Universität München über. 1899 ließ sich Hahn mit 70 Jahren in den Ruhestand versetzen. Bei diesem Anlaß wurde ihm „in wohlgefälliger Anerkennung seiner langjährigen, mit Treue und Eifer geleisteten vorzüglichen Dienste der Titel eines ,König­ lichen Geheimen Hofrathes* gebührenfrei verliehen“. Er verstarb 1901. Die Nachfolge als Direktor der Hochschule erhielt Albrecht übertragen.

Zur Jahrhundertwende bestand der Lehrkörper der Hochschule aus fol­ genden Herren: Dr. phil. Karl Otto Harz, ordentlicher Professor für Botanik und Pharma­ kognosie, Michael Albrecht, ordentlicher Professor für Geburtshilfe, Tierzucht und Exterieur, Dr. med. h. c. Theodor Kitt, ordentlicher Professor für allgemeine Patho­ logie, pathologische Anatomie und Seuchenlehre,

Dr. med. Erwin Voit, ordentlicher Professor für Physiologie und Diätetik, Dr. med. et phil. Josef Brandl, ordentlicher Professor für Pharmakologie und Pharmazie. Er war 1897 als Nachfolger Fesers berufen worden.

Dr. phil. Wilhelm Schlampp, außerordentlicher Professor für spezielle Patho­ logie und Therapie und Vorstand der Medizinischen Klinik. Schlampp hatte in den Jahren um 1880 an der Münchener Tierarzneischule studiert,

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als Assistent 1885 das Kokain in die tierärztliche Augenheilkunde einge­ führt, seit 1886 das Fach Augenheilkunde vorgetragen und war ab 1893 als außerordentlicher Professor und ab 1902 als ordentlicher Professor der Nachfolger Friedbergers. Nach 25jähriger Lehrtätigkeit an der Schule ließ sich der ausgezeichnete Lehrer und Verfasser grundlegender Schriften in der Augenheilkunde, über therapeutische Technik u. a. 1911 wegen stän­ diger Krankheit in den Ruhestand versetzen. Er starb 1913 52jährig.

Dr. phil. Anton Stoß, außerordentlicher Professor für Anatomie, Histologie und Entwicklungsgeschichte, Dr. phil. Bruno Hofer, außerordentlicher Professor für Fischkunde und Zoologie, Vorstand der Königlichen Bayerischen Biologischen Versuchs­ station für Fischerei. Der Privatdozent an der Universität München, Hofer, erhielt 1896 einen Lehrauftrag für Fischkunde und rückte 1898 zum außer­ ordentlichen und 1904 zum ordentlichen Professor auf. Die Bayerische Biologische Versuchsstation für Fischerei erhielt diese Bezeichnung zum 1. 1. 1900 und ging aus der von Hofer 1897 gegründeten Biologischen Ver­ suchsstation des Deutschen Fischereivereins zur Erforschung der Fisch­ krankheiten hervor. Die Station wurde mit dem Zoologischen Institut der Tierärztlichen Hochschule räumlich vereinigt.

Friedrich Gutenäcker, Professor und Lehrer für Hufbeschlag und Hufkrank­ heiten, Vorstand der Lehrschmiede. 1882 als Nachfolger Schreibers als Schmiedelehrer an die Tierarzneischule berufen, an der er von 1869 - 1872 studiert hatte, erhielt Gutenäcker 1898 den Professorentitel. Seine Haupt­ werke „Die Lehre vom Hufbeschlag“ und „Die Hufkrankheiten des Pfer­ des“ sind von grundlegender fachlicher Bedeutung. Gutenäcker starb 1906 mit noch nicht 54 Jahren. Jakob Magin, der Direktor des Städtischen Schlacht- und Viehhofes hatte vom Wintersemester 1895/9'6 bis 1904 den Lehrauftrag für „animalische Viktualienbeschau“ inne.

Im März 1900 trat Josef Imminger als ordentlicher Professor für Chirurgie und Vorstand der Chirurgischen Klinik in den Lehrkörper der Schule ein, an der er 1874 seine Approbation als Tierarzt erhalten hatte. Dieser hervor­ ragende Operateur und Praktiker brachte seine Klinik in kurzer Zeit zu hohem Ansehen. Mayr, sein Nachfolger, schreibt über ihn: „Imminger be­ deutet einen Markstein in der Entwicklung der tierärztlichen Chirurgie. Es entsprach seinem Wesen als tierärztlicher Praktiker durch und durch, daß er stets die eigene praktische Erfahrung vor aller Bücherweisheit sprechen lassen wollte.“ Die Scheu der Landwirte vor dem Operieren verstand er 20

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derart zu bezwingen, daß sie sagten: „Wenn er der Kuh den Kopf herunter­ schneidet, so setzt er ihn ihr auch wieder auf.“ Schmaltz (1936 S. 202) berich­ tet andrerseits: „Obwohl er als gar zu derbes Original bekannt war, hatte man doch auf einige Anpassung an die akademische Form gerechnet, die aber so wenig eintrat, daß auch die Studenten sich durch manches verletzt fühlten ...“ Imminger verstarb schon 1908 mit 54 Jahren.

Erfreulich für die Hochschule ist der Bau ganzer Gebäudekomplexe um und kurz nach der Jahrhundertwende. In den Jahren 1896 - 1900 wurde das an der Königinstraße gelegene, an der Südwestecke des Terrains der tier­ ärztlichen Anstalten beginnende 150 m lange Hauptgebäude der Kliniken errichtet. Vom Südbau bis in das anstoßende Erdgeschoß des Mittelbaus reichte die Chirurgische Klinik. Den Nordbau und den anstoßenden Teil des Erdgeschosses des Mittelgebäudes nahm die Medizinische Klinik ein. Die Räume im Erdgeschoß des Mittelteils dienten dabei jeweils als poliklinische Abteilungen. Auch der Lehrstuhl für Geburtshilfe und Tierzucht erhielt in dem Mittelbau mehrere Räume. Weiterhin zog die damals 5 500 Werke und 13 000 Bände umfassende Hochschulbibliothek von ihrem bisherigen Stand­ ort im Anatomiegebäude in den neuen Mittelbau des Klinikkomplexes um und konnte endlich zweckentsprechend aufgestellt werden. Schließlich be­ kamen die Lehrstühle für Zoologie mit der Biologischen Versuchsstation und für Botanik Räume in den Obergeschossen des großen Mittelgebäudes.

Nach Vollendung des ausgedehnten Hauptgebäudes wurde 1901/02 im Nordosten des Hochschulgeländes die Klinik für kleine Haustiere errichtet und gleichzeitig sowie unmittelbar anschließend auf Initiative Gutenäckers und nach dessen Vorstellungen das Lehrgebäude des Instituts für Hufkünde und Hufkrankheiten und der Staatlichen Lehrschmiede, die nicht zum Ver­ band der Hochschule gehörte. Dieser Bau schloß sich, abgesetzt, an der Königinstraße an das Gebäude der Medizinischen Klinik an.

Diese dringlichsten Bauten waren damals mit einem Kostenaufwand von weit mehr als einer Million Mark errichtet worden. Nach dem Rückschlag in den Bemühungen um die Einführung des Abiturs als Voraussetzung für das tiermedizinische Studium durch die ungenügende Reorganisation von 1872 gaben die bayerischen Tierärzte nicht auf. Auf ihrer Wander Versammlung von 1890 stellten sie erneut fest, daß als angemessene Vorbildung für Tierärzte nur die Universitätsreife gelten kann. Bis zum Jahre 1900 hat dann die Tierärztliche Hochschule in zwei Berichten die Not­ wendigkeit betont, das Gymnasialabsolutorium als Vorbedindung zum Stu­ dium der Tiermedizin einzuführen. Die als Voraussetzung zum Studium aus­ reichende unvollständige Gymnasialbildung wirkte sich als ein negativer

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Auslesefaktor aus. 53 % der zugelassenen Schüler ergriffen den tierärzt­ lichen Beruf, weil sie das Gymnasialstudium aufzugeben gezwungen waren. In den Jahren 1895 - 1898 erreichte nur ein Viertel der Studierenden die Approbation, und im Jahre 1899 waren es gar nur 17 %. Ein anderer Teil brächte viel länger als vorgeschrieben sei auf der Hochschule zu. In den Jahren 1895 - 1898 mußten von 100 Kandidaten, welche die Approbation er­ hielten, 37 7 Semester, 28 9 Semester, 35 11 und mehr Semester an der Hochschule zubringen. 65% hätten von der Abkürzung des Gymnasial­ studiums keinen Nutzen gehabt, weil sie viel länger an der Tierärztlichen Hochschule bleiben mußten. Die Grundlage zur Erreichung der Maturität als Studienvoraussetzung für unser Fach bildete schließlich ein Ende 1899 ge­ haltenes, eindringliches Referat des damaligen Landestierzuchtinspektors Dr. Leonhard Vogel, dem späteren Professor an der Tierärztlichen Fakultät. Im bayerischen Landwirtschaftsrat referierte er über die Eingabe des deut­ schen Veterinärrates, in welcher die Notwendigkeit der Universitätsreife für Tierärzte dargelegt wurde, mit dem Erfolg, daß er durch den Prinzen Ludwig von Bayern vollste Unterstützung bekam: Er sei mit der Forderung des Gymnasialabsolutoriums vollkommen einverstanden, er gehe sogar noch weiter und halte die direkte Anfügung der Tierärztlichen Hochschule als Fakultät an die Universität für höchst wünschenswert. Der Antrag des Refe­ renten wurde einstimmig zum Beschluß erhoben. Nach weiteren Befürwor­ tungen des Anliegens in verschiedenen Instanzen stellte Bayern 1901 beim Bundesrat einen entsprechenden Antrag. Im Juli 1902 wurde dann durch Bundesratsbeschluß als Vorbildung zum Studium der Veterinärmedizin vom 1. April 1903 beginnend das Reifezeugnis eines Gymnasiums, Realgymnasi­ ums oder einer Oberrealschule oder einer durch die zuständige Zentral­ behörde als gleichstehend anerkannten höheren Lehranstalt festgesetzt. Im gleichen Jahr beginnt die Zulassung von Damen zu Vorlesungen an der Münchener Tierärztlichen Hochschule: „Durch Ministerialentschließung vom 20. Dezember 1903 wurde verfügt, daß weibliche Studierende, welche den Nachweis über ordnungsgemäße Immatrikulation an der Universität liefern, zum Besuche der Vorlesungen an der Tierärztlichen Hochschule gleich den männlichen Universitätsstudierenden zuzulassen sind, daß aber im übrigen für die Zulassung von Damen als Hörerinnen an letzterwähnter Hochschule jeweils ministerielle Genehmigung vorbehalten bleibt, welche nur in besonderen Fällen, in denen ein spezielles Interesse an dem Besuche einzelner Vorlesungen nachgewiesen wird, erfolgt.“

Die Universitätsreife als Voraussetzung zum tierärztlichen Studium öff­ nete den Weg zum Promotionsrecht. Der Ursprung des tierärztlichen Doktor20*

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titels liegt allerdings damals bereits weit zurück. Sein Schöpfer ist der Pro­ fessor Dr. med. Johann David Busch, der ab 1788 an der Universität Marburg ein Tierarznei-Institut betrieb und seit 1811 an dieser Universität Doktoren der Tierheilkunde promovierte. 1827 verlieh die Universität Marburg an­ läßlich ihrer Dreihundertjahrfeier auch den ersten Ehrendoktor der Veteri­ närmedizin. Mit dem Tode Buschs im Jahre 1833 ging aber dieses Tierarznei­ institut wieder ein. Mittlerweile begann 1832 die Medizinische Fakultät der Universität Gießen Tierärzte zum Doctor in arte veterinaria (und ähnlich) zu promovieren. Da in Gießen bei der Promotion von Tierärzten ausnahmslos dieselbe Schulbildung wie von den Ärzten, d.h. das Abiturientenexamen, ge­ fordert wurde, aber im vorigen Jahrhundert nur wenige Tierärzte das Reife­ zeugnis als Vorbildung mitbrachten, erfolgten in den 68 Jahren bis 1900 in Gießen nur 64 Promotionen von Tierärzten. Eine Reihe von Tierärzten ohne Universitätsreife konnte außerdem zum Dr. phil. promovieren, weil die Philosophischen Fakultäten zu Dispensen vom Abiturientenexamen bereit waren. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts erhielten deutsche Tierärzte eine neue Möglichkeit, auch ohne Reifezeugnis zu promovieren. Die beiden Schweizer Tierarzneischulen hatten als erste die Angliederung als Veterinär­ medizinische Fakultäten an die Universität erreicht — Bern 1900, Zürich 1901 — und das Recht zur Erteilung des entsprechenden Doktorgrades er­ halten. Die Möglichkeit des Dispenses vom Reifezeugnis bestand, und eine größere Zahl deutscher Tierärzte promovierte daraufhin in der Schweiz. Einige bekamen den Dr. med. vet. honoris causa verliehen, so Albrecht durch die Veterinärmedizinische Fakultät Bern. In Deutschland stieß die Einführung des Promotionsrechts für die tier­ ärztlichen Hochschulen auf kleinliche Widerstände, die erst bis 1910 über­ wunden werden konnten. Die Münchener Tierärztliche Hochschule erhielt schließlich als erste das selbständige Promotionsrecht und setzte auch das Prädikat Dr. med. vet. durch. Die übrigen deutschen Staaten mußten diesem Beispiel folgen. Von dem gewährten Recht zur Promotion machte das Professorenkolle­ gium Ende 1910 zum ersten Mal Gebrauch und verlieh dem Prinzen Ludwig von Bayern, dem späteren König Ludwig III., als dem „eifrigen Förderer der tierärztlichen Wissenschaft, dem erfahrenen und vorbildlich wirkenden Tier­ züchter, dem hochherzigen Gönner der Tierärztlichen Hochschule“ die Würde eines Ehrendoktors. Seitdem kamen bis Frühjahr 1972 neben mindestens 2720 im Prüfungsverfahren erworbenen Doktorgraden 52 Verleihungen von Ehrendoktortiteln hinzu. Als bisher einzige Frau enthält die Liste der Ehren­ doktoren Professor Dr. phil. Marianne Plehn. Sie erhielt die Auszeichnung

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1929 „in Würdigung ihrer für Wissenschaft und Praxis bedeutsamen Ver­ dienste um die Begründung und um den Ausbau der Pathologie der niederen Tiere, insbesondere der Fische“. Annähernd 1950 Tierärzte legten nach dem zweiten Weltkrieg die Doktorprüfung ab. Noch vor der Erteilung des Promotionsrechts, im Frühjahr 1910, erhielt die Hochschule eine Habilitationsordnung und damit die Möglichkeit, die Lehrkräfte aus sich heraus zu ergänzen. 1911 wurde das Direktorat durch ein ebensowenig wählbares Rektorat mit dreijähriger Amtsdauer ersetzt. Direktor Albrecht lehnte die Ernennung zum Rektor ab, in der Hoffnung, für die Hochschule eine fortschrittliche Rektoratsverfassung zu erreichen. Es blieb aber bei der bloßen Titelände­ rung. Erster und einziger Rektor wurde E. Voit.

Am 1. April 1913 brachte die längst geforderte neue Prüfungsordnung das 8. Semester. Die tierärztliche Vorprüfung unterteilte sich in den natur­ wissenschaftlichen Abschnitt nach dem dritten Semester und den anato­ misch-physiologischen Abschnitt nach einem weiteren Halbjahr.

Der letzte der Lehrer, die schon in dem Verzeichnis der Lehrkräfte von 1874 aufgeführt sind, der Botaniker Harz, starb im Dezember 1906 im Alter von 64 Jahren. Er trat 1874 als Dozent in den Lehrkörper der ZentralTierarzneischule ein und stieg 1880 zum Professor auf. Den größten wissen­ schaftlichen Erfolg von seinen zahlreichen Veröffentlichungen erwarb das 1885 erschienene „Handbuch der Samenkunde“. Erwähnt sei auch als Bei­ spiel aus seinem zweiten Hauptforschungsbereich, der Pilzforschung, die Entdeckung des Actinomyces bovis. Das wissenschaftliche Ansehen verdankt die Tierärztliche Hochschule München in erster Linie dem Pathologen Kitt. Er wurde 1879 an der ZentralTierarzneischule approbiert, war 1880/81 hier Assistent, dann bis 1884 Pro­ sektor, wurde anschließend zum Dozenten und 1886 zum Professor für Allge­ meine Pathologie, pathologische Anatomie, Seuchenlehre und Geschichte der Tierheilkunde ernannt. Kitt übernahm damit die Fächerkombination seines berühmten Lehrers Bollinger, aber auch die namhaften Persönlichkeiten Franck und Bonnet führten ihn in die Wissenschaft ein. Sein Institut war im wesentlichen zusammen mit der Anatomie in einem Gebäude aus dem Jahre 1863 im Norden des Geländes der Tierärztlichen Hochschule unter­ gebracht. An den beengten Raumverhältnissen und der bescheidenen Ein­ richtung änderte sich wenig, doch Kitt soll sich mit den Worten getröstet haben: Die Größe eines Instituts steht im umgekehrten Verhältnis zu seinen Leistungen. H. Sedlmeier, der allerseits verehrte Pathologe, der die Kandi-

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daten der Tiermedizin an unserer Münchener Fakultät in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in Pathologie ausgebildet hat, berichtet über seinen Lehrer: „Ein Augenleiden zwang Kitt, sich 1907 in den Ruhestand versetzen zu lassen. Aber schon ein Jahr später nahm er seinen alten Lehrstuhl wieder ein, allerdings nur als sein eigener Stellvertreter, wie er sich selbst gerne ironisch zu bezeichnen pflegte. Als Honorarprofessor“ — seit 1914 — „ver­ blieb er dann in dieser Stellung bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1932 ... am 10. Oktober 1941 schloß er die Augen für immer“, im Alter von 83 Jahren. Kitt gelangen „aufsehenerregende Arbeiten über Milzbrand, Rauschbrand und sonstige Gasödeme ... Als Bakteriologe und Immunbiologe verstand er auch praktische Folgerungen aus seinen Arbeiten zu ziehen. So wurde unter seiner Leitung und in seinem Institut in München der gesamte Rausch­ brandschutzimpfstoff für die Länder Bayern und Österreich hergestellt“. Seine Lehrbücher für Pathologie und Pathologische Anatomie sind welt­ bekannt geworden. Sie erschienen in mehreren Auflagen, ebenso die um­ fangreiche „Bakterienkunde und bakteriologische Mikroskopie“. Aus den zahlreichen Ehrungen für Kitt seien die drei Ehrendoktorate herausgestellt: Der Dr. med. h. c. der Universität München (1897) und die Drs. med. vet. h. c. der Tierärztlichen Hochschulen Berlin und Budapest. O. S eifried, sein Nach­ folger, meinte: „Soviel steht aber fest, daß Kitt neben Fröhner als der frucht­ barste und erfolgreichste unter den tierärztlichen Autoren gelten darf.“

Zur Erinnerung an diese große Persönlichkeit stiftete 1957 die Münchener Tierärztliche Gesellschaft die „Theodor-Kitt-Ehrenplakette“, die sie im Ein­ vernehmen mit der Tierärztlichen Fakultät an Persönlichkeiten verleiht, die sich um die tierärztliche Wissenschaft in besonderem Maße verdient gemacht haben. Wie schließlich Westhues (1964) berichtet, räumte ihm, „der die Lehre der vergleichenden Pathologie in der ganzen Welt maßgeblich vertrat und der Fakultät Ruhm erwarb bis auf diesen Tag, ... die Universität beim Wiederaufbau nach dem letzten Kriege einen Platz in der Reihe ihrer Heroen im Umgang des Universitätshauptgebäudes ein, zur sichtbaren dauernden Ehre unserer Fakultät“. Nach dem hochschulmäßigen Ausbau der Tierärztlichen Hochschule konnte nun ihrer Angliederung an die Universität ernsthaft nähergetreten werden. In einer Feier der Tierärztlichen Hochschule aus Anlaß des 90. Geburtstags des Prinzregenten Luitpold (1911) erklärte Hofer: Wunsch und gleichsam das Endziel dieser Hochschule sei, als vollgültige Fakultät der Universität ein­ mal angegliedert zu werden. Im März 1913 stellte dann die Hochschule in einem Gutachten die Überzeugung heraus, eine weitere gedeihliche Ent­ wicklung der Anstalt könne nur durch einen Anschluß an die Universität

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erreicht werden. Der schon erwähnte Anatom Rückert half an der Universi­ tät die Wege für die Angliederung ebnen und durch ihn sprach sich die Medizinische Fakultät dafür aus, daß die Tierärztliche Hochschule als selb­ ständige Fakultät in die Universität aufgenommen werde. Am 1. Dezember 1913 stimmte der Akademische Senat der Universität München für diese Angliederung. Das Kultusministerium zog die notwendigen Maßnahmen zügig durch und am 1. Oktober 1914, in den ersten Tagen des ersten Welt­ krieges, war der Anschluß erreicht.

Damit war in Deutschland die Münchener Tierärztliche Lehrstätte die erste selbständige Fakultät einer Universität geworden und auch alle an­ deren Anliegen, die der Erlanger Universitätsprofessor Dr. Geiger 1906 als Abgeordneter im Bayerischen Landtag für die Münchener Tierärztliche Aus­ bildungsstätte zur Sprache gebracht hatte, waren in der Zwischenzeit in Er­ füllung gegangen. Tierärztliche Fakultät (seit 1914)

In der Reihenfolge der Fakultäten erhielt die Tierärztliche Fakultät den Platz nach der Medizinischen Fakultät. Sie wurde damit die fünfte Fakultät; die Philosophische Fakultät trat an die sechste Stelle. Die Amtstracht der Mitglieder der neuen Fakultät wurde angeglichen, als Farbe für Talar und Barett braun gewählt. Die neue Fakultät wählte wie die anderen Fakultäten einen Dekan, und zwar für das erste Jahr E, Voit, und zwei Senatoren in den akademischen Senat, Voit und Hofer. a) Erster Abschnitt (1914 - 1939) Bei der Angliederung der Tierärztlichen Fakultät hatte ihr Lehrkörper die folgende Zusammensetzung:

Dr. med. vet. h. c. Michael Albrecht, ordentlicher Professor für Geburtshilfe, Tierzucht und Exterieur, Dr. med. Erwin Voit, ordentlicher Professor für Physiologie und Diätetik,

Dr. med. et phil. Josef Brandl, ordentlicher Professor für Pharmakologie und Pharmazie, Dr. phil. Bruno Hofer, ordentlicher Professor für Zoologie und Fischkunde, Vorstand der Bayerischen Biologischen Versuchsstation für Fischerei,

Dr. phil. Karl Giesenhagen, ordentlicher Professor für Botanik und Pharma­ kognosie, Dr. phil. Anton Stoß, ordentlicher Professor für Anatomie, Histologie und Entwicklungsgeschichte,

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Dr. med. vet. Josef Mayr, ordentlicher Professor für Chirurgie, Augenheil­ kunde und Geschichte der Tierheilkunde,

Dr. phil. Franz Schmitt, ordentlicher Professor für spezielle Pathologie und Therapie, Dr. med. h. c. Dr. med. vet. h. c. Theodor Kitt, ordentlicher Professor a. D. für allgemeine Pathologie, pathologische Anatomie und Seuchenlehre, Dr. phil. Gustav von Vaerst, (tit.) ordentlicher Professor für die Ambulato­ rische Klinik, gerichtliche und polizeiliche Tierheilkunde, Dr. phil. Erwin Moser, außerordentlicher Professor für Hufkrankheiten und Theorie des Hufbeschlags. Die auch von Moser geleitete Lehrschmiede wurde bei der Angliederung der Hochschule an die Universität abgetrennt und der Regierung von Oberbayern zugewiesen. Dr. med. vet. Max Müller, Privatdozent für Pathologie und Fleischhygiene.

Außerhalb des Lehrkörpers stand der Dozent für animalische Fleisch­ beschau, der Städtische Obertierarzt Ferdinand Molter. Er übernahm diesen Lehrauftrag 1904 und wurde Ende des Sommersemesters 1921 davon ent­ bunden. 1919 verlieh ihm die Tierärztliche Fakultät den Dr. med. vet. honoris causa.

Im Jahre 1917 verstarb der ehemalige Direktor der Tierärztlichen Hoch­ schule, der Geheime Hofrat Albrecht. In seinem Nachruf wird daran erin­ nert: „Die Hochachtung und das Vertrauen, welches sich Albrecht in den Fakultätskreisen der Universität München erworben hatte, haben in hohem Maße zur Angliederung der von ihm vertretenen Hochschule an die Univer­ sität beigetragen/4

Sein 1919 berufener Nachfolger Dr. phil. Leonhard Vogel regte bei seiner Berufung im Ministerium an, das gemeinsame Institut für Geburtshilfe und Tierzucht in ein Institut für Geburtshilfe und ein Institut für Tierzucht auf­ zuteilen. Die Leitung des Instituts für Geburtshilfe mit Lehrauftrag für polizeiliche Tierheilkunde übernahm Hofrat von Vaerst. Seither sind die „Geburtshilfe“ und die Ambulatorische Klinik in einer Hand. Mit Vogel tritt wieder ein ehemaliger Absolvent der Münchener Tier­ arzneischule in den Lehrkörper ein. Er hat sein Studium 1885 abgeschlossen, stieg zum Landesinspektor für Tierzucht im Staatsministerium des Innern, zum Chef des Bayerischen Veterinärwesens (Landestierarzt) und 1910 als erster Tierarzt Bayerns zum Ministerialrat auf. Seit 1913 war er Professor für Tierzucht und Gesundheitslehre an der landwirtschaftlichen Abteilung der Tierärztlichen Hochschule München, von wo er an unsere Fakultät be­ rufen wurde. Nach seiner 1933 erfolgten Emeritierung vertrat er den Lehr­

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Stuhl und leitete das Institut für Tierzucht noch bis zum Wintersemester 1935/36. Der Geheime Hofrat Dr. phil. Dr. med. vet. h. c. Vogel starb 1942 im Alter von 79 Jahren. Schon vor seiner Berufung an die Fakultät hatte er sich um die Einführung der Universitätsreife als Voraussetzung zum tier­ ärztlichen Studium, die Gleichstellung der Bezirkstierärzte mit den Amts­ ärzten und um das Promotionsrecht zum Dr. med. vet. verdient gemacht. H. Bauer, sein mittelbarer Nachfolger urteilt: „Vogel ist einer der bedeu­ tendsten deutschen Tierärzte, die sich nicht nur durch ihre Lehrtätigkeit in der Tierzucht hohen Verdienst erwarben, sondern vor allen Dingen durch ihr praktisches Wissen und Handeln der Landestierzucht Unschätzbares hinterlassen haben. Er konzipierte das Bayerische Tierzuchtgesetz von 1909, das für die übrigen deutschen Länder beispielgebend wurde und schuf die Grundbestimmungen für das Tierschau- und Prämiierungswesen. Vogel hat die Veterinärpolizeiliche Anstalt Schleißheim, die heutige Bayerische Landesanstalt für Tierseuchenbekämpfung, gegründet.“ 1921 genehmigte der Landtag die Errichtung einer ordentlichen Professur für Hygiene an der Tierärztlichen Fakultät. Damit erreichten Bestrebun­ gen ihr Ziel, die schon auf die Anfangszeit der Amtszeit Kitts zurückgehen. Den letzten Anstoß, den Unterricht in der Tierhygiene auszubauen, gab die neue tierärztliche Prüfungsordnung von 1913. Sie führte das Fach „Tier­ hygiene“ als eigenes Prüfungsfach ein. Die Fakultät erteilte daraufhin 1914 an Dr. med. Karl Süpfle, Privatdozent an der Medizinischen Fakultät, einen dementsprechenden Lehrauftrag. Süpfle übernahm auch 1922 die neuge­ schaffene ordentliche Professur. Bedingt durch die Inflation mußte der ursprüngliche Gedanke, ein eigenständiges Gebäude für das Institut zu er­ richten, fallengelassen werden. Immerhin ließ es sich durchführen, das Mittelgebäude der Kliniken an der Königinstraße aufzustocken. Seit 1923 bis nach dem zweiten Weltkriege war das Tierhygienische Institut in diesem Oberstock untergebracht (Abb. 2).

Größere Bauvorhaben ließen sich von nun an bis nach dem Zusammen­ bruch im zweiten Weltkrieg nicht mehr verwirklichen. In der Chirurgischen Klinik wurden 1931, als Westhues die Leitung übernahm, ein moderner Operationssaal mit Behandlungsraum, Laboratorien und ein Samm­ lungsraum eingerichtet. Mit Hilfe der Rockefellerstiftung war es 1935 möglich, in der Chirurgischen Klinik eine Röntgenstation zu schaffen. Ein Neubau wäre vor allem für die Pathologie notwendig gewesen. Davon hätte auch die mit ihr im gleichen Gebäude untergebrachte Anatomie Nutzen ge­ habt. Bei der Neubesetzung des Lehrstuhls für Pathologie im Jahre 1932 konnte Seifried aber lediglich Umbauten und den Bau eines Stallgebäudes,

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Abb. 2: Die Tierärztliche Fakultät in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ansicht von Südwesten 1 - 2 (1896 - 1900) Chirurgische Klinik — 2 Tierzucht, Zoologie, Botanik (bis 1928), Hygiene (3. Obergeschoß seit 1923), Bibliothek — 2 - 3 (1896 - 1900) Medizinische Klinik — 4 (1902) Huf­ kunde, Hufbeschlagschule — 5 (1865) Anatomie, Pathologie — 6 (1902) Geburtshilfe, Klinik für Kleine Haustiere — 7 (1891/92) Physiologie, Pharmakologie — 8 Verwaltung

das 1934 in Benutzung genommen wurde, erreichen. In der Anatomie wur­ den der Hörsaal und der Präpariersaal instandgesetzt. 1937 erreichte S eifried im Zuge einer Rufabwendungsverhandlung die Baugenehmigung für den Neubau des Instituts für Tierpathologie im Gelände der Hofbaum­ schule auf der gegenüberliegenden Seite des Eisbachs. Das Institut war bereits voll ausgeplant, die Baugelder waren im Haushalt verankert. Der Plan einer Verlegung der Fakultät verzögerte jedoch den Baubeginn, der Kriegsausbruch vereitelte ihn. Mit der Inbetriebnahme des Instituts für Tierhygiene erreichte die Auf­ gliederung in Fachprofessuren, Institute und Kliniken bis Jahre nach dem Neuaufbau nach dem zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt.

Von dem Erreichten wurde sogar ein Institut wieder aufgegeben. Als der Geheime Regierungsrat Giesenhagen 1928 starb, ließ man das Botanische Institut auflösen. Bis heute hat die Fakultät den Lehrstuhl für Botanik nicht wieder beantragt. Die Vorlesungen werden seit 1929 im Lehrauftrag gehal-

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ten. Giesenhagen war, als er mit 68 Jahren starb, 21 Jahre lang Ordinarius an der Münchener Tierärztlichen Lehrstätte gewesen. Sein Institut im Mit­ telbau an der Königinstraße bestand nur aus drei Zimmern. Der angesehene Forscher und Lehrer war aber gleichzeitig — unter besseren räumlichen Bedingungen — Vorstand des Botanischen Instituts der Technischen Hoch­ schule. Sein Lehrbuch der Botanik kam wenige Tage vor seinem Tode in der 10. Auflage heraus, nachdem die erste Auflage 1895 erschienen war. Die Räume des bisherigen Botanischen Instituts gewann das Zoologi­ sche Institut hinzu. Es stand seit dem Jahreswechsel 1917/18 unter der Leitung des ordentlichen Professors Dr. phil. Reinhard Demoll, nachdem Hofer 1916 54jährig verstorben war. Demoll übernahm auch die Bayerische Biologische Versuchsstation für Fischerei und die von Hofer 1913 gegründete Bayerische Teichwirtschaftliche Versuchsstation Wielenbach. Mit dem Zoologen Demoll kam „ein Mann von hohen Talenten des Geistes und des Herzens, der eine einigende Kraft besaß und sich die Zuneigung und Anerkennung der ganzen Universität erwarb“ (Westhues 1964) an die Fa­ kultät. 1931/32 stellte die Tierärztliche Fakultät mit ihm ihren ersten Rek­ tor der Ludwig-Maximilians-Universität. Die Versuchsstation für Fischerei baute er zu einer vielseitigen Arbeitsstätte für Gewässerforschung aus. Ihre Umbenennung in Bayerische Biologische Versuchsanstalt im Jahre 1930 versteht sich aus der umfassenden Problematik. Demoll gehört zu den großen Warnern vor einer schrankenlosen Ausbeutung der Natur und ihrer Kräfte. Sein Buch „Ketten für Prometheus“ bzw. „Bändigt den Menschen“ (2. und 3. Auflage) hat er uns als Menetekel hinterlassen.

Den Lehrstuhl für Anatomie, Histologie und Entwick­ lungsgeschichte hatte seit 1897, als Nachfolger Rückerts, Professor Dr. phil. Anton Stoß inne. Seine Approbation als Tierarzt erwarb er 1881 an der Zentral-Tierarzneischule in München, bis 1884 war er hier Assistent und von da an unter Bonnet und Rückert bis zu seiner Berufung Prosektor. Er wurde zunächst zum außerordentlichen Professor ernannt, 1908 zum Ordi­ narius. Stoß war wie früher sein Lehrer Franck gleichzeitig seit 1895 auch Lehrer für Anatomie und Entwicklungsgeschichte an der landwirtschaft­ lichen Abteilung der Technischen Hochschule München und außerdem bis 1923 Dozent für Künstleranatomie an der Akademie der bildenden Künste. Er vertrat die bemerkenswerte Auffassung, daß im Dozentenberuf die Pflichten des Lehrers jenen des Forschers voranzustellen seien. Seine Lei­ stungen als Lehrer und Forscher erkannte die Tierärztliche Fakultät der Universität Gießen mit der Verleihung des Dr. med. vet. h. c. im Jahre 1928, zu seinem 70. Geburtstag, an. Stoß ließ sich 1933 emeritieren, leitete

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aber das Institut noch bis 1934. Er blickte damals auf eine 50jährige Lehr­ tätigkeit zurück. Geheimrat Stoß starb 1948 90jährig. Bis zur Schließung der Fakultät im 2. Weltkrieg trat Dr. med. vet. Anton Otto Stoß als Ordinarius und Vorstand des Instituts an die Stelle seines Vaters. Vorher hatte er von 1923 an den außerordenlichen Lehrstuhl für Geburtshilfe inne gehabt und die Ambulatorische Klinik geleitet. 1930 erhielt er die Amtsbezeichnung und die akademischen Rechte eines ordentlichen Professors. Den Lehrstuhl und das Institut für Physiologie übergab der Geheime Regierungsrat E. Voit 1926 an den aus Hannover kommenden ordentlichen Professor Dr. med. vet. Johannes Pächtner. Voit hatte 38 Jahre an der Münchener Tierärztlichen Ausbildungsstätte gelehrt. Er starb 1932 im 80. Lebensjahr. Das Arbeitsgebiet seines Instituts betraf die Stoffwechsel­ physiologie. Besondere Auszeichnungen für ihn bedeuteten die Mitglied­ schaften in der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher und der mathemathisch-physikalischen Klasse der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Mit dem Wechsel von Voit zu Pächtner endet die Aera der Humanmediziner auf dem Lehrstuhl für Phy­ siologie und des besonderen Gewichts der Humanmediziner bzw. Nichttier­ ärzte an der Tierärztlichen Lehrstätte. Hauptgegenstand der Forschung bleiben ernährungsphysiologische Probleme. Pächtner nahm sein Ordina­ riat bis zur Schließung der Fakultät im Kriege wahr.

Die Leitung des Instituts und des Ordinariats für Tierzucht über­ nahm nach Vogel 193’6 Professor Dr. med. vet. Fritz Stockklausner, vorher seit 1921 Direktor der Bayerischen Landesanstalt für Tierzucht in Grub. Unter seiner Leitung wurde im Institut vor allem über Fragen der Konsti­ tution, der Fruchtbarkeit und der Milchleistung gearbeitet. „Wie kaum bei einem Fachgelehrten war in ihm eine glückliche Synthese der praktischen und wissenschaftlichen Tierzucht gegeben“, schreibt H. Bauer (1959). Auch Stockklausners Wirken an der Fakultät endete mit dem Kriege. Nachdem er seine Professur an der Tierärztlichen Fakultät 1945 nicht wieder einneh­ men konnte, erhielt er 1949 die ordentliche Professur für Tierzucht an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule München in Weihenstephan. Als Privatdozent lehrte am Institut für Tierzucht seit 1932 Dr. med. vet. Walter Koch, nachdem er sich als Assistent Vogels für das Fach Tierzucht habilitiert hatte. Er wurde 1942 zum außerplanmäßigen Professor ernannt.

Nachdem er das Pharmakologische Institut über ein Vierteljahrhundert geleitet hatte, ging Geheimrat Brandl 1923 in den Ruhestand. Er

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trat stets mit ganzer Kraft für die Erhaltung des Dispensierrechts der Tier­ ärzte ein und konnte den drohenden Entzug gegen den Widerstand der Apothekerschaft verhindern. Brandl verstarb 1925 nach Erreichung des 70. Lebensjahres. Das freigewordene Ordinariat für Pharmakologie über­ nahm zum Wintersemester 1923/24 der bisherige außerplanmäßige Professor für Pharmakologie und Toxikologie an der Medizinischen Fakultät der Uni­ versität München Dr. med. Albert Jodlbauer. Als er 1936 die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hatte, wurde er emeritiert, leitete aber das Institut noch bis zur Ernennung eines Nachfolgers. Anläßlich seines 70. Geburtstags erhielt der Emeritus Jodlbauer in Anerkennung seiner Verdienste um die Tierärzteschaft von seiner Fakultät den Dr. med. vet. honoris causa ver­ liehen. Der beliebte Lehrer verunglückte 1945 bei einer Rettungsaktion in den Bergen tödlich. Den Lehrstuhl für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie übernahm zum ersten Mal ein Tierarzt, Professor Dr. med. vet. Karl Hilz. Er approbierte 1910 in München, war ab 1912 Assistent bei Brandl, habilitierte sich 1926 unter Jodlbauer für Pharmakologie und Dispensier­ kunde und wurde 1933 zum außerplanmäßigen Professor für diese Fächer mit Lehrauftrag für Geschichte der Tierheilkunde ernannt. Diesen Lehr­ auftrag, der ihm besondere Freude machte, behielt er auch nach seiner Be­ rufung zum Ordinarius und Vorstand des Pharmakologischen Instituts im Jahre 1938 bei. Hilz blieb während des zweiten Weltkrieges neben dem dama­ ligen Dekan Ernst als einziger Professor im Amt. Nachdem ein tierärztlicher Lehrbetrieb nicht mehr möglich war, hatte er eine Ausbildung veterinär­ medizinisch-technischer Assistentinnen aufgebaut. Gleich nach Kriegsschluß begannen seine unermüdlichen und erfolgreichen Bemühungen um den Wiederaufbau der Fakultät.

Als Süpfle 1927 einem Ruf an die Technische Hochschule Dresden folgte, übernahm das Ordinariat für Hygiene im Herbst 1927 der bisherige Direktor der Veterinärpolizeilichen Anstalt Schleißheim Professor Dr. med. vet. Wilhelm Ernst, ein Schüler von Kitt. Als unter dem nationalsozialisti­ schen Regime der Fakultät wie auch der Universität das Recht auf Selbst­ verwaltung weitgehend genommen war, wurde der Dekan nicht mehr von den Professoren der Fakultät gewählt, sondern von der Regierung bestellt. Sie setzte 1935 Ernst als Dekan ein, der diese Funktion bis zum Kriegsende behielt und darüber hinaus in den Jahren 1936 - 1941 Prorektor der Univer­ sität war. Er gehörte zu den drei Professoren, die bei Schließung des Lehr­ betriebs zu Kriegsbeginn nicht eingezogen wurden. Der nach dem Krieg zurückgezogen in Schleißheim lebende Ernst starb am Jahresende 1951 im Alter von 72 Jahren. Die veterinärmedizinische Forschung verdankt ihm

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große Leistungen in der Entwicklung der Milchhygiene, der Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche und der Organisation der Tierseuchenbe­ kämpfung.

1937 habilitierte sich der Assistent am Tierhygienischen Institut und spä­ tere Pathologe Dr. med. vet. Hans Sedlmeier für Hygiene, Bakteriologie, Fleischbeschau und Milchhygiene. Er war ein Schüler von Kitt. 1943 bekam er den Titel eines außerplanmäßigen Professors verliehen.

Im letzten Jahr vor seiner Emeritierung erhielt der sich seit 1908 selbst vertretende ehemalige Ordinarius Kitt — an den Leistungen dieses großen Gelehrten gemessen, ein ausgesuchtes ministerialbürokratisches Schildbür­ gerstück — die Amtsbezeichnung und die akademischen Rechte eines ordent­ lichen Professors verliehen. Er bekam also nie mehr die ordentliche Pro­ fessur selbst zurück, und damit die höheren Bezüge. Zu seinem Nachfolger wurde der außerordentliche Professor für allgemeine Pathologie, pathologische Anatomie und Histologie Dr. med. vet. Oskar Seifried berufen. Er hatte in München studiert, dann in Rostock an der Humanpathologie gearbeitet, sich in Gießen habilitiert und war zuletzt Associate Member des Rockefeller Instituts für Medizinische Forschung in Princeton, USA, gewesen. Sedlmeier schreibt über ihn: „Oskar Seifried war ein Forscher ersten Ranges. Der wissenschaftlichen Arbeit gehörte sein Herz, in ihr fand er die Erfüllung seiner Lebensaufgabe. Im Zenit seines Schaffens, am 13. Dezember 1947, im Alter von 51 Jahren dahingerafft, hat er uns eine ungewöhnliche Zahl wissenschaftlicher Arbeiten geschenkt“, die in besonders fruchtbarer Weise die Pathologische Anatomie in den Dienst der Seuchenlehre stellten. Frau I. Gylstorff ergänzte (brieflich): Seine „Hauptarbeitsgebiete waren die Viruskrankheiten und die Mangel­ krankheiten der Haustiere. Sein Lehrbuch für Histopathologie wurde auch ins Spanische übersetzt. Er schrieb das erste Buch über Vitaminmangel­ krankheiten der Haustiere.“ Seifrieds hervorragende wissenschaftliche Lei­ stungen fanden Anerkennung mit seiner Wahl zum Mitglied der „Leopol­ dina“. Unter Seifried habilitierte sich 1937 Dr. med. vet. Eduard Heidegger für pathologische Anatomie und insbesondere für Parasitologie. Das Ordinariat für spezielle Pathologie und Therapie und die Leitung der Medizinischen Tierklinik übernahm 1912, als Nachfolger von Schlampp, Professor Dr. phil. Franz Schmitt. Er hatte von 1887 - 1891 an der Tierärztlichen Hochschule Stuttgart Veterinärmedizin studiert und 1901 als Assistent am Zoologischen Institut der Universität

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Würzburg zum Dr. phil. promoviert. Zur Zeit seiner Berufung nach München war er Direktor des Gesundheitsamtes der Landwirtschaftskammer für Pommern in Zülchow-Stettin. „Seine Liebe zu den Tieren machte es, daß er auch bei den Besitzern von Patienten sehr beliebt war und daß sich deshalb von Jahr zu Jahr der Zulauf zur Klinik steigerte“, schreibt sein langjähriger Assistent Dr. med. vet. Rudolf Stetter, der sich 1927 für innere Medizin habi­ litierte und 1933 zum außerplanmäßigen Professor ernannt wurde, im Nach­ ruf für den 1928 mit 60 Jahren verstorbenen Geheimen Regierungsrat Schmitt. Seine Nachfolge einschließlich des Faches Gerichtliche Tierheil­ kunde, die Schmitt seit dem Kriege, als von Vaerst im Felde stand, mit gelesen hatte, übernahm von 1930 bis 1946, mit Unterbrechung im Kriege, der ordentliche Professor in Gießen seit 1927 Dr. med. vet. Johannes Nörr. Ihm verlieh die Universität Sofia, an der er 1925 die neugegründete veteri­ närmedizinische Fakultät mit eingerichtet hatte, 1939 „wegen hoher wissen­ schaftlicher Verdienste“ den Dr. med. vet. honoris causa. In seinen zahl­ reichen wissenschaftlichen Arbeiten „kommt sein überaus vielseitiges Inter­ esse nicht nur an veterinärmedizinischen Fragen, sondern auch an deren Grenzgebieten, besonders nach der humanmedizinischen Seite, zum Aus­ druck“. Nörr ist begeisterter Humanist. Während seiner Tätigkeit an der Universität Leipzig las er in den Jahren 1923 - 1925 „Einführung in die lateinische und griechische Sprache für die Veterinärmediziner“. 1922 verstarb von Vaerst, der seit 1908 mit dem Titel und Rang eines ordentlichen Professors an der Münchener Tierärztlichen Ausbildungsstätte wirkte, im 63. Lebensjahr nach langer Krankheit, die er sich im Kriege zugezogen hatte. Das freigewordene Extraordinariat für Geburtshilfe und Ambulatorische Klinik wurde 1923 dem Privatdozenten Dr. A. O. Stoß übertragen, unter seiner gleichzeitigen Ernennung zum außer­ ordentlichen Professor. Er gab diese Professur 1935, als er die Anatomie übernahm, an Dr. med. vet. Richard Abelein ab, der sie bis zur Schließung der Fakultät im Kriege inne hatte. Abelein, der von 1910 - 1914 an der Tier­ ärztlichen Hochschule München studiert hatte, wendete als Praktiker be­ reits in den zwanziger Jahren sein besonderes Augenmerk der Sterilitäts­ bekämpfung beim Rind zu. Seine Berufung an die Universität München verdankt er seinen wissenschaftlichen Untersuchungen, die er als vielbe­ schäftigter Praktiker durchführte. Zur Vorstandschaft der Chirurgischen Tierklinik rückte 1908 nach dem Tode Immingers Mayr auf. Er hatte nach seinem tierärztlichen Studium in München 1894 die Approbation erhalten. 1902 übernahm er zunächst die neu geschaffene außerordentliche Professur für Ambulatorische

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Klinik, gerichtliche und polizeiliche Tierheilkunde, außerdem den Lehr­ auftrag für die Geschichte der Tierheilkunde und die Leitung der Klinik für kleine Haustiere, 1908 dann die ordentliche Professur für Chirurgie mit Augenheilkunde und weiterhin Geschichte der Tierheilkunde. Als der Ge­ heime Regierungsrat Mayr 1930 62jährig starb, verlor die Fakultät einen hervorragenden Lehrer und Forscher, der in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten weiterlebt, und die Münchener Tierärztliche Wochenschrift ihren Schriftleiter seit 1919. Mayrs Nachfolge trat 1931 der außerordentliche Pro­ fessor in Gießen Dr. med. vet. Melchior Westhues an. Dieser dominierenden Persönlichkeit verdankt die Fakultät ihren Wiederaufbau und ihre Neu­ organisation nach der Zerstörung im Kriege entscheidend. Westhues schil­ dert die Verhältnisse an der Klinik in den dreißiger Jahren mit folgenden Worten: „In diesen Jahren der aufkommenden Hitler-Herrschaft herrschte in der Klinik durchweg ein gedrücktes Leben, das sich ohne geistigen Kon­ nex mit der Universität vollzog und auch in der fortwährenden gewissen Angst vor den ewig unruhigen und unberechenbaren Studenten ablief ... Es sei jedoch anerkannt, daß die Studenten damals in der Klinik keinerlei Ausbruch versucht haben. Wir haben uns schon verstanden. — Alles Leben in der Klinik zog sich in jenen Jahren auf den engsten Personenkreis und Arbeitsbereich zurück, und die Verbindungen nach außen starben ab. Aus dieser Zeit stammen die entscheidenden Untersuchungen über die Podotrochlitislahmheit des Pferdes sowie über den Hufkrebs.“ Außerdem machte sich Westhues, der sich vielseitig in der Pathologie und an der Chirurgischen Klinik der Humanmedizin ausgebildet hatte, um den Ausbau der Tierärzt­ lichen Röntgenologie und der Anaesthesie bei Tieren verdient. Den Lehrauftrag für Hufkrankheiten und Theorie des Huf­ beschlags bekam 1906, nach dem Tode Gutenackers, der Prosektor Dr. phil. Erwin Moser erteilt. 1908 stieg er zum außerordentlichen Professor auf und 1931 fanden seine besonderen Leistungen in seinem Fach durch die Verleihung der Amtsbezeichnung und der akademischen Rechte eines ordentlichen Professors Anerkennung. Moser starb 61 jährig 1937. Mit der Vertretung des Lehrstuhls wurde Landwirtschaftsrat Dr. med. vet. Hans Jöchle betraut. 1939 rückte er zum außerordentlichen Professor auf. Einige Jahre nach dem Kriege kam das Aufgabengebiet des Instituts für Hufkünde in den Zuständigkeitsbereich der Chirurgischen Tierklinik. Jöchle wurde 1948 zum Leiter der Staatlichen Hufbeschlagschule bestellt, die im Gelände der Fakultät untergebracht war.

Bei dem im Lehrkörper von 1914 aufgeführten Privatdozenten Müller handelt es sich um den ersten Habilitanden der Münchener Tierärztlichen

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Hochschule. Er war Leiter des Schlachthoflaboratoriums München. Seine Habilitation erfolgte 1912. Er erhielt die Zulassung als Privatdozent für Tierpathologie, spezielle Fleischygiene und bakteriologische Fleischbeschau an der Tierärztlichen Lehrstätte in München erteilt und 1916 den Titel eines außerordentlichen Professors. 1934 wurde Müller Honorarprofessor. Er starb 1945.

Mit der Funktion eines Lehrers für Fleischhygiene, Fleischkunde und Fleischbeschau wurde ab Wintersemeter 1922/23 auch der spätere Direktor des Schlacht- und Viehhofes in Augsburg Dr. med. vet. Georg Stroh betraut. 1933 erfolgte seine Ernennung zum Honorarprofessor. Wissenschaftlich be­ faßte sich Stroh bevorzugt mit Fragen, die das Wild und dessen Krankhei­ ten betreffen. Auch der Direktor der Veterinärpolizeilichen Anstalt Schleißheim Dr. med. vet. Alfred Beck wurde 1936 Honorarprofessor, nachdem er einen Lehrauftrag für Impfstoff herstellung und Impfstoffverwertung erhal­ ten hatte.

Für die polizeiliche Tierheilkunde übernahm vom Winter­ semester 1937/38 an der damalige Oberregierungsrat Dr. med. vet. Wilhelm Pschorr einen Lehrauftrag. Nach dem Krieg wird er der Begründer des Instituts für Staatsveterinärmedizin und Geschichte der Tiermedizin.

Der Unterrichtsstoff war im letzten Jahr vor dem Kriege wie folgt ein­ geteilt: Wintersemester 1938/39 1. Botanik: Prof. Dr. Sandt: Futter- und Giftpflanzen......................................

2. Zoologie: Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Demoll: Zoologie II. Teil: Wirbel­ tiere, allgemeine Biologie und Vererbung...................................... Fischkunde (die Fische Mitteleuropas, Fischzucht)........................ 3. Anatomie: Prof. Dr. Anton Otto Stoß: Anatomie der Haustiere II................ Histologie............................................................................................ Embryologie ..................................................................................... Angewandte Anatomie....................................................................... Vorweisungen in der Histologie........................................................ Anatomische Präparierübungen .....................................................

4. Physiologie und Diätetik: Prof. Dr. Pächtner: Physiologie II.................................................... Diätetik................................................................................................ Physiologische Übungen ...................................................... 21

1 Stunde

4 Stunden 1 Stunde

5 2 2 1 2 8

Stunden Stunden Stunden Stunde Stunden Stunden

5 Stunden 1 Stunde 6 Stunden

322

Joachim Boessneck

5. Tierzucht: Prof. Dr. Stockklausner: Spezielle Tierzucht............................. 5 Tierzüchterische Aussprache ............................................................ Fütterungslehre .................................................................................. Kurs über Fütterungslehre............................................................... Privatdozent Dr. Koch: Erbkrankheiten der Haustiere................ 6. Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie: Prof. Dr. S eifried: Spezielle pathologische Anatomie der Haus­ tiere .................................................................................................... Zerlegungs- und Protokollierübungen nach Anfall......... täglich Vorweisungen und Feststellungsübungen in der pathologischen Anatomie ............................................................................................ Privatdozent Dr. Heidegger: Parasitäre Krankheiten und ihre Be­ kämpfung (Parasitenkunde) ............................................................

Stunden 1 Stunde 2 Stunden 2 Stunden 1 Stunde

5 Stunden 1 Stunde

2 Stunden 2 Stunden

7. Gesundheitslehre, Bakteriologie, Fleischbeschau und Milchhygiene: Prof. Dr. Ernst: Besondere Mikrobiologie und besondere Seuchen­ lehre .................................................................................................... 3 Stunden Milchkunde, Milchhygiene und Milchwirtschaft........................... 2 Stunden Mikrobiologischer Kurs (Arbeiten mit Seuchenerregern)............. 4 Stunden Prof. Dr. Stroh: Lehrgang und Übungen in der Schlachtvieh- und Fleischbeschau .................................................................................. 4 Stunden Prof. Dr. Beck: Impfstoffe und ihre Verwendung........................ 1 Stunde Privatdozent Dr. Sedlmeier: Von Tieren stammende Lebensmittel und ihre Haltbarmachung ............................................................... 1 Stunde 8. Pharmakologie: Prof. Dr. Hilz: Arzneiverordnungslehre.................................... 1 Stunde Übungen im Anfertigen von Arzneien............................................. 2 Stunden 9. Innere Medizin: Prof. Dr. Nörr: Innere Tierkrankheiten und ihre Behandlung .... 3 Stunden Medizinische Klinik .......................................................................... 4 Stunden Medizinische Poliklinik ................................................................... 1 Stunde Prof. Dr. Abelein: Behandlung von Außenfällen täglich in Grup­ pen vor- oder nachmittags nach besonderer Ankündigung. 10. Chirurgie: Prof. Dr. Westhues: Spezielle Chirurgie................................... 5 Stunden Chirurgische Klinik .......................................................................... 4 Stunden Chirurgische Poliklinik ................................................................... 1 Stunde Operationsübungen .......................................................................... 4 Stunden 11. Huf künde und Beschirrungslehre: Prof. Dr. Jöchle: Huf-, Klauen- und Beschlagskunde............. 2 Stunden Beurteilungsübungen in der gesamten Hufkunde........................ 1 Stunde

12. Augenheilkunde: Prof. Dr. Westhues: Augenkrankheiten.................................. 1 Stunde Augenuntersuchungskurs ............................................................... 1 Stunde 13. Geburtshilfe: Prof. Dr. Abelein: Geburtshilfliche Tierklinik........................ 4 Stunden Übungen in der Geburtshilfe............................................................ 2 Stunden

Chronik der Tierärztlichen Fakultät

14. Geschichte der Tierheilkunde: Prof. Dr. Hilz: Geschichte der Tierheilkunde..................................

323 1 Stunde

15. Staatstierheilkunde: Prof. Dr. Nörr: Gerichtliche Tierheilkunde mit Übungen............. 3 Stunden Oberregierungsrat Dr. Pschorr: Übungen in der Veterinärpolizei 1 Stunde Die Stellung des Tierarztes in Volk und Staat (Berufskunde) .... 1 Stunde

Sommersemester 1939 1. Botanik: Prof. Dr. Sandt: Pharmakognosie.....................................................

1 Stunde

2. Zoologie: Geheimer Regierungsrat Prof. Dr. Demoll: Zoologie I. Teil (Bau und Lebenserscheinungen der Tiere) ............................................. 4 Stunden 3. Chemie: Prof. Dr. Hilz: Chemische Übungen................................................. abteilungs­ weise 4. Anatomie, Histologie und Entwicklungsgeschichte: Prof. Dr. Anton Otto Stoß: Anatomie der Haustiere 1................... 5 Stunden Mikroskopische Übungen................................................................... abteilungs­ weise 5. Physiologie und Diätetik: Prof. Dr. Pächtner: Physiologie 1....................................................... 5 Stunden Angewandte Physiologie................................................................... 1 Stunde Physiologische Übungen ................................................................... abteilungs­ weise 6. Tierzucht: Prof. Dr. Stockklausner: Allgemeine Tierzucht einschließlich der öffentlichen Maßnahmen zur Tierzuchtförderung........................ 4 Stunden Fütterungskurs .................................................................................. 1 Stunde Kurs für praktisch-züchterische Beurteilung der Haustiere .... 2 Stunden Tierzüchterische Lehrausfiüge ........................................................ nach An­ kündigung Privatdozent Dr. Koch: Kleintierzucht .......................................... 2 Stunden 7. Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie: Prof. Dr. S eifried: Allgemeine Pathologie und pathologische Ana­ tomie .................................................................................................... 5 Stunden Pathologisch-histologischer Kurs..................................................... 2 Stunden Zerlegungs- und Protokollierübungen .......................................... 1gruppenPathologisch-anatomische Vorweisungen ...................................... | weise Privatdozent Dr. Heidegger: Parasitologische Übungen................ 2 Stunden 8. Hygiene, Fleischbeschau und Milchhygiene: Prof. Dr. Ernst: Allgemeine Mikrobiologie und allgemeine Seuchenlehre ..................................................................................... 2 Stunden Gesundheitslehre (mit Übungen) ..................................................... 2 Stunden Übungen in der Milchuntersuchung................................................. 1 Stunde Prof. Dr. Stroh: Schlachtvieh- und Fleischbeschau........................ 3 Stunden Tierärztliche Lebensmittelkunde ..................................................... 3 Stunden Prof. Dr. Beck: Impfstoffe und ihre Verwendung II. Teil............. 1 Stunde 21*

324

Joachim Boessneck Privatdozent Dr. Sedlmeier: Von Tieren stammende Lebensmittel und ihre Haltbarmachung ............................................................... 2 Stunden

9. Pharmakologie: Prof. Dr. Hilz: Pharmakologie und Toxikologie ......................

5 Stunden

10. Innere Medizin: Prof. Dr. Nörr: Spezielle Pathologie und Therapie der Klauenund Kleintiere..................................................................................... 5 Stunden Allgemeine Therapie.......................................................................... 1 Stunde Medizinische Klinik .......................................................................... 4 Stunden Medizinische Poliklinik ................................................................... 1 Stunde Prof. Dr. Abelein: Behandlung von Außenfällen ... nach besonderer Ankün­ digung gruppenweise 11. Chirurgie: Prof. Dr. Westhues: Allgemeine Chirurgie............................... 4 Stunden Operations- und Betäubungslehre ................................................. 2 Stunden Tierärztliche Röntgenologie (Praktikum) ...................................... 1 Stunde Einführung in die chirurgisch-klinische Untersuchung................ 1 Stunde Chirurgische Klinik .......................................................................... 4 Stunden Klinische Behandlung 12. Huf künde und Beschirrungslehre: Prof. Dr. Jöchle: Huf- und Klauenkrankheiten........................ 1 Stunde Beschirrungskunde .......................................................................... 1 Stunde Übungen in der Huf- und Klauenbeschlagskunde........................ 1 Stunde 13. Geburtshilfe: Prof. Dr. Abelein: Geburtshilfe Klinik...................................... 4 Stunden Geburtshilfe......................................................................................... 3 Stunden Zuchtkrankheiten .............................................................................. 1 Stunde Geburtshilfliche Vorschule............................................................... 2 Stunden Übungen in der Trächtigkeitsdiagnose und in der Unfruchtbar­ keitsbekämpfung .............................................................................. 2 Stunden 14. Staatstierheilkunde: Oberregierungsrat Dr. Pschorr: Veterinärpolizei.................... 2 Stunden

Bei Ausbruch des Krieges im September 1939 bestand offenbar die Mei­ nung, die Tierärztliche Fakultät der Universität München sei entbehrlich. Sie wurde als einzige Fakultät der Universität München geschlossen, und zwar „nicht durch Verwaltungsakt oder Gesetz“, „durch das Vorgehen der Militärveterinärverwaltung wurde der Fakultät das Wasser abgegraben“, berichtet Westhues. Trotz intensiver Bemühungen war es auch nicht mög­ lich, während des Krieges ihre Wiedereröffnung zu erreichen. Da fast alle Professoren und die Assistenten der Fakultät im Wehrdienst standen, konnte nur mehr der Klinikbetrieb der Medizinischen Klinik und der Unter­ suchungsbetrieb des Instituts für Tierpathologie notdürftig aufrechterhalten werden. In den letzten beiden Kriegsjähren wurden dann die Gebäude der Fakultät bombenvernichtet oder bombenbeschädigt. Westhues faßt die

Chronik der Tierärztlichen Fakultät

325

Situation folgendermaßen zusammen: „Die Institute für Anatomie, Patho­ logie, Physiologie, Pharmakologie, Zoologie, Tierzucht und Hygiene sind vollkommen vernichtet, kaum daß von der Anatomie noch einige Knochen zum Studium und von der Pathologie noch einige Sammlungspräparate übrig geblieben sind. Die Kliniken und das Institut für Hufkunde sind nur teilweise zerstört, und zwar in der Chirurgischen Klinik die Röntgenabtei­ lung und die Hälfte der Stallräume; in der Medizinischen Klinik der größere Teil der Stallräume, alle Laboratorien und sonstigen Arbeitsräume. In der Geburtshilflichen Klinik sind alle Stallräume für die großen Haustiere ver­ loren gegangen und im Institut für Hufkunde sind Sammlung und Hörsaal ausgebrannt. Außerdem sind alle zentralen Einrichtungen der Fakultät, wie Bibliothek und Verwaltungsgebäude, vollständig verloren.“

b) Zweiter Abschnitt (ab 1945) Die aus dem Krieg zurückkehrenden Mitglieder des Kollegiums fanden in der am wenigsten bombenbeschädigten Chirurgischen Klinik die Möglich­ keit eines Wiederanfangs. Westhues stellte die Räumlichkeiten seiner Klinik zur Verfügung, damit in ihr die vorklinischen Fächer wahrgenommen werden konnten. Er selbst zog in das „Wehrkreis-Pferdelazarett“ auf dem Ober­ wiesenfeld, das im wesentlichen unversehrt erhalten geblieben war, und übernahm es in eigener Regie unter dem Namen „Münchener Tierklinik“. Er berichtet: „Das vollzog sich freilich nicht auf Grund einer obrigkeitlichen Anordnung. Damals befanden wir uns im Besatzungszustand, und manches war durchaus ungeordnet.“ Um die Sicherstellung des Geländes auf dem Oberwiesenfeld für die Fakultät hat sich damals nicht zuletzt Frau Dr. med. vet. I. Sassenhoff verdient gemacht, die im seit 1. 2. 1945 notdürftig dort mit untergebrachten Institut für Tierpathologie arbeitete. Sie war es auch, die mit der Hilfe des Leiters des städtischen Veterinärwesens, Veterinär­ direktor Dr. med. vet. Chr. Häutle, bei der Militärregierung die Anbringung von „Off Limits“-Verbotsschildern für das Klinikgelände erreichte.

Die Militärregierung bestätigte außer Westhues die Professoren Hilz und Demoll als Ordinarien und Institutsdirektoren. Demoll wurde auf Grund seiner reichen Erfahrungen 1945 an das Bayerische Kultusministerium be­ rufen, um den Wiederaufbau der bayerischen Universitäten in die Wege zu leiten. Setfrieä konnte den Wiederaufbau seiner Fakultät nicht mehr miterleben. Er starb im Dezember 1947 am Herzschlag. „Die Ungunst der Nachkriegszeit zerbrach sein Herz.“ Hilz zog in den Bau der Chirurgischen Klinik an der Königinstraße. Die Militärregierung lud ihm die Bürde des

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Dekans auf, die er bis 1949 trug. Als Dekan erreichte er bei der Besatzungs­ macht, daß die Fakultät im Wintersemester 1946/47 ihren Lehrbetrieb wie­ der aufnehmen konnte. Die Vorlesungen begannen am 18. November 1946, vorerst aber nur für die vorklinischen Semester. Demoll las die Zoologie, Hilz übernahm die Physiologie, Westhues die Anatomie. Die naturwissen­ schaftlichen Grundfächer zu hören, war auch schon vorher an der Natur­ wissenschaftlichen Fakultät möglich gewesen. Die Vorlesungen in Physio­ logie fanden in dem notdürftig als Hörsaal hergerichteten ehemaligen Operationssaal der Chirurgischen Tierklinik statt. Über den Vorlesungs­ betrieb in der Anatomie schreibt Westhues: „Die Vorlesungen und Präpa­ rierübungen in der Anatomie nahmen nun, als die ersten Studenten herein­ strömten, auf dem Oberwiesenfeld einen großen Raum ein. Die Hallengarage am Ende des Klinikplatzes auf dem Oberwiesenfeld wurde als „Theatrum anatomicum“ hergerichtet. Die Tische und Hocker und anderes wurden mit Hilfe des Holzes errichtet, das durch den Verkauf des großen Fahrradstän­ ders mobil gemacht worden war, denn jedes Holzscheit war damals fast uner­ schwinglich. In jenen Jahren hat wohl jeder kennengelernt, was man wirk­ lich nötig hat. Insofern sind fast alle Zeitgenossen gleich gewesen. Die Er­ innerung an unsere anatomischen Semester auf dem Oberwiesenfeld, mit den blakenden Öfen im Präparierraum, in dem trotzdem die Präparate ge­ froren waren, und manches Brikett heimlich in die Kollegmappe der Stu­ denten verschwand, wo alles menschlich zuging und ein jeder ein Einsehen in die Bedürfnisse des anderen hatte, ist für das spätere Leben aller jungen Teilnehmer lebenswichtig geworden.“

Die Sorge der Fakultät galt sofort der Gewinnung zusätzlicher Lehrkräfte. Anfang 1947 erfolgte die erste Neubesetzung einer ordentlichen Professur. Der Staatsrat im Bayerischen Landwirtschaftsministerium Dr. med. vet. Dr. rer. pol. Wilhelm Niklas übernahm die ordentliche Professur für Tier­ zucht. Ihm verdankt die Fakultät, daß schon 1948 der Dachstuhl über dem großen Mittelgebäude an der Königinstraße wieder errichtet werden konnte, indem er das Holz für diesen Aufbau beschaffte, und nachdem er 1949 zum Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten nach Bonn berufen worden war, vermittelte Niklas der Fakultät einen Millionen­ betrag für ihren Wiederaufbau. Die Fakultät dankte ihm diese Verdienste um ihren Neuaufbau 1951 mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Von den reichen anderen Ehrungen, die Niklas erhielt und schätzte, sei nur noch das Großkreuz des Bundesverdienstordens erwähnt. Was die Vorlesungen betrifft, ließ sich Niklas ab 1948 von Prof. Dr. agr. Wilhelm Zorn vertreten, der von 1920 - 1945 Ordinarius für Tierzucht in Breslau und nach dem Kriege

Chronik der Tierärztlichen Fakultät

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bis 1955 Direktor der Bayerischen Landesanstalt für Tierzucht in Grub bei München war. 1950 verlieh ihm die Tierärztliche Fakultät München den Dr. med. vet. h. c. Den Dr. agr. h. c. erhielt dieser führende Vertreter der modernen Tierzuchtlehre und -forschung und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Züchtungskunde 1964 von der Landwirtschaftlichen Fakul­ tät in Weihenstephan verliehen. Er war auch Träger des großen Verdienst­ kreuzes des Bundesverdienstordens. Im November 1968 starb er im Alter von 84 Jahren. Zur treibenden Kraft beim Wiederaufbau der Forschung am Institut für Tierzucht wurde seit 1948 der 1947 aus russischer Kriegs­ gefangenschaft zurückgekehrte apl. Professor Dr. Walter Koch. 1955 über­ nahm der vielseitige und geistreiche Lehrer den ordentlichen Lehrstuhl für Tierzucht an der Freien Universität Berlin. Westhues ließ sich im Anatomieunterricht vom Sommersemester 1947 an von Dr. med. vet. Arturs Vitums ablösen, der einen Lehrauftrag für Ana­ tomie, Histologie und Embryologie bekam. Vitums war vorher Professor für Anatomie in Riga gewesen und ist heute als Anatom in Pullman, Washington, tätig. Nach dem Sommersemester 1948 wurde dieser Lehrstuhl wieder plan­ mäßig besetzt, und zwar mit Dr. med. vet. Walther Baier, einem Schüler und früheren Mitarbeiter von A. Stoß sen. Da Baier neben der Anatomie gleich­ zeitig die Fächer Gynäkologie, Geburtshilfe und die Ambulatorische Klinik vertrat, las zu seiner Entlastung zunächst weiterhin Vitums Anatomie, ab 1949 dann der Altmeister der Anatomie Professor Dr. Eberhard Ackerknecht, der bis Kriegsende als ordentlicher Professor für Anatomie in Leipzig ge­ lehrt hatte und im Herbst 1951 einem Ruf an die Freie Universität Berlin folgte. Eine Honorarprofessur für Schlachtvieh- und Fleischbeschau erhielt 1947 der Präsident der Bayerischen Tierärztekammer, Veterinärdirektor a. D. Dr. med. vet. Hans Kuppelmayer. Der allerseits hochgeschätzte Lehrer las bis 1951. Er starb 1952 im 74. Lebensjahr. Die Fächer Hufkrankheiten, Hufbeschlag und Beschirrungskunde las mit der Wiedereröffnung des Lehrbetriebes in Vertretung der außerordentlichen Professur für diese Fächer der Landwirtschaftsrat Dr. med. vet. Eugen Mennel. Er wurde 1948 zum Honorarprofessor ernannt. Mit der kommissarischen Leitung der Medizinischen Tierklinik wurde 1947 der frühere Assistent und Dozent an dieser Klinik, apl. Professor Dr. Rudolf Stetter, betraut. Er war von 1934 - 1940 Vorstand des Pathologischen Instituts der Landwirtschaftlichen Hochschule in Ankara gewesen. Nach dem Kriege galt seine ganze Arbeit dem Wiederaufbau der Klinik. Der be­ scheidene, gütige Lehrer in der Inneren Medizin für die erste Nachkriegs­

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welle der Studenten starb nach längerem schmerzhaften Leiden 1950 mit noch nicht einmal 60 Jahren.

Die kommissarische Leitung des Tierhygiene-Instituts, das zu dieser Zeit erst wieder aufzubauen war, übernahm 1947 Professor Dr. Michael Rolle, der seit 1939 ordentlicher Professor für Mikrobiologie und Tierseuchenlehre an der Universität Riga gewesen war.

Als kommissarischer Leiter des Instituts für Tierpathologie wurde nach Seif rieds Tod 1948 der apl. Professor Dr. Hans Sedlmeier eingesetzt. 1948 erhielt auch der im gleichen Jahr in den Ruhestand tretende Leiter des Bayerischen Veterinärwesens im Staatsministerium des Innern, Ministe­ rialrat Dr. Wilhelm Pschorr, eine Honorarprofessur an der Tierärztlichen Fakultät mit dem Lehrauftrag für Staatstierheilkunde und Geschichte der Tiermedizin. Die Verdienste dieses tatkräftigen, vorbildlichen Mannes fan­ den volle Anerkennung, so 1953 mit der Verleihung des Bundesverdienst­ kreuzes. Schließlich konnte im Wintersemester 1949/50 Hilz endlich die Physiologie wieder abgeben, die zu lehren er dankenswerterweise nach dem Kriege übernommen hatte, damit der vorklinische Unterricht eröffnet werden konnte. Der ordentliche Professor für Tierernährungslehre an der Universi­ tät Kiel Dr. med. vet. Dr. rer. nat. Johannes Brüggemann nahm den Ruf auf den Lehrstuhl für Physiologie, Physiologische Chemie und Ernährungs­ physiologie an.

Als sich die Tierärztliche Fakultät zur 160-Jahrfeier des Bestehens der Münchener Tierärztlichen Lehrstätte rüstete, die im November 1950 in der festlich geschmückten großen Aula der Universität stattfand, war der Wiederaufbau des Lehrbetriebs im wesentlichen abgeschlossen. In den Jahren bis zur 175-Jahrfeier folgte dann der Wiederaufbau der Gebäude der Institute und Kliniken und die Teilung zahlreicher Lehrstühle, um der fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung der Wissenschaft ge­ recht zu werden. Auf der 160-Jahrfeier beglückwünschte der Rektor der Universität, der bekannte Physiker Professor Dr. Walther Gerlach, die Tier­ ärztliche Fakultät in einer geistvollen Ansprache und verkündete die Ver­ leihung des Ehrenbürgerrechts der Universität an die Professoren Kuppelmayer und Pschorr. Der Wiederaufbau der Tierärztlichen Fakultät im traditionellen Gelände am Englischen Garten war nach dem Krieg keineswegs eine selbstverständ­ liche Sache, denn der verfügbare Raum erwies sich bereits seit Jahrzehnten als zu klein. Da es Anfang des Jahrhunderts noch nicht möglich war, das

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Terrain der Hofbaumschule, die im Norden an die Tierärztliche Hochschule angrenzte, zu erwerben, kamen Pläne auf, die Tierärztliche Lehrstätte an die Peripherie zu verlegen, und sie nahmen Gestalt an. Eichhorn berichtet in seiner Dissertation darüber: „Als Platz war ein Baugrund am Schwabinger Krankenhaus ausersehen worden. Es war ein großes Gelände und auch für spätere Erweiterungsbauten ausdehnungsfähig. Das Bayerische Staats­ ministerium für Unterricht und Kultus hatte die Verlegung der Tierärzt­ lichen Hochschule schon beschlossen und die Mittel für den Ankauf des Geländes bereits in das Budget der neuen Finanzperiode eingesetzt. Da brach der erste Weltkrieg aus und machte alles zunichte ... Das Bedürfnis eines Neubaues der tierärztlichen Institute und Kliniken“ blieb auch weiterhin „anerkannt und in den dreißiger Jahren war die Angelegenheit wieder so­ weit gediehen, daß ein Bauprogramm aufgestellt werden konnte. Die Pläne, die zu einem großzügigen Neubau aller Kliniken und Institute geführt hät­ ten, wurden 1937 eingereicht und als solche genehmigt... Jedoch die leidige Platzfrage konnte lange nicht geklärt werden.“ Westhues teilt das Ergebnis der Bemühungen mit: „In den Jahren 1936 - 1938 fand eine endgültige Durchplanung einer neu zu bauenden Fakultät zwischen München und Frei­ mann statt, neben den Sportplätzen der Universität, nahe dem Aumeister am Rande des Schwabinger Baches. Das damals hierfür vorgesehene Ge­ lände war etwa 5 ha groß und erschien als sehr gut.“ Der nächste Weltkrieg machte auch dieses Vorhaben zunichte.

Nach dem zweiten Weltkrieg entschied über die Wiedererrichtung der Fakultät an der alten Stelle, daß es nun gelang, das Gelände der ehemaligen Hofbaumschule hinzuzugewinnen. Maßgeblich für diesen Beschluß war der Gedanke, die Fakultät in unmittelbarer Nachbarschaft der großen Alma mater zu belassen. Westhues führt aus: „Nichts war damals stärker als der Gedanke an die wesentlichen Dinge im Leben der Studenten und auch des werdenden Tierarztes. Und bei aller Wichtigkeit der fachlichen Anforderun­ gen erschienen die allgemeinen Geisteswissenschaften, die auf der Universi­ tät gepflegt werden, als besonders wichtig, und vielleicht ist es auch wirklich richtig gewesen, mit unseren heranwachsenden Jungakademikern ganz nahe bei der Alma mater zu bleiben, wenngleich die räumliche Beengung auf dem alten Platz ohne weiteres erkennbar war. Wenn in absehbarer Zeit eine kostspielige Gesamtverlegung der ganzen Fakultät nötig wird, soll man mit dem Vorwurf einer kurzsichtigen Planung in den Nachkriegs jähren zurück­ haltend sein. Denn ohne dieses vorläufig kleine, aber erreichbare Ziel wäre die Fakultät auf viele weitere Jahre nicht vorhanden gewesen und somit leicht aus der Geschichte endgültig ausgeschieden.“

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Anfang der fünfziger Jahre, vor der Errichtung der großen Neubauten, waren alle Institute und Kliniken notdürftig wieder untergebracht: Die Physiologie hatte sich im alten Gebäude der Chirurgie eingerichtet. Sie übernahm das Gebäude endgültig und ließ es ausbauen. In zwei Moosburger Baracken (s. u.) auf dem Gelände der ehemaligen Hofbaumschule hauste die Pharmakologie. Der große Mittelbau nahm das Dekanat, die Fakultäts­ bibliothek, Staatsveterinärmedizin und Geschichte der Tiermedizin, Tier­ zucht, Zoologie und Parasitologie im Verein mit der Biologischen Versuchs­ anstalt sowie die Tierhygiene auf. In dem anschließenden Klinikbau war die Geburtshilfe untergebracht, die Poliklinik der Inneren Medizin im Kli­ nikgebäude für kleine Haustiere. Das Haus für den Hufbeschlag und die Hufkünde nahm zusätzlich die Nahrungsmittelkunde auf. Für die Pathologie wurden 1950 4 ehemalige Gefangenen-Baracken aus dem Lager Moosburg aufgestellt. Anatomie, Chirurgie und Teile anderer Institute und Kliniken bewohnten Räume auf dem Oberwiesenfeld, das noch heute Versuchstier­ stallungen und Labors mehrerer Institute und Kliniken der Fakultät be­ herbergen muß, weil der Raum des Stammgeländes nicht ausreicht.

1953 konnte mit dem ersten wirklichen Neubau der Fakultät begonnen werden, dem imponierenden Klinikum auf dem Gelände der ehemaligen Hofbaumschule. Als erste zog 1955 die Medizinische Klinik ein. Auf deren 5. Flur ist das Pharmakologische Institut untergebracht, dessen Bereich sich 1957 auf den gleichen Flur über der Chirurgischen Tierklinik erweiterte. Vor dem Südende des Klinikbaus, zur Königinstraße vorspringend, wurde 1956/57 die Fakultätsbibliothek errichtet, bedauerlicherweise von vornherein zu klein konzipiert. 1958 bezogen die Kliniken für Geburtshilfe und für Chirurgie ihre Neubauten. Der nächste Großbau diente der endgültigen Unterbringung der Tierhygiene und der Pathologie. Die Errichtung dieses Neubaus verdankt die Fakultät ihrem damaligen Mikrobiologen, Professor Dr. med. vet. Adolf Meyn. Die Institute konnten 1960 eingeweiht werden. Das im Mittelgebäude an der Königinstraße freigewordene 3. Obergeschoß über­ nahm das Institut für Tierzucht, die beiden, durch den Auszug freigeworde­ nen Räume der Fakultätsbibliothek das Dekanat. An die Stelle des Nord­ flügels des alten Klinikgroßbaus trat der Neubau der Anatomie, der im Herbst 1962 bezogen wurde (Abb. 3). Der gemeinsame Neubau für das Zoologisch-Parasitologische Institut und die Bayerische Biologische Ver­ suchsanstalt, der ganz in der Nähe des eigentlichen Fakultätsgeländes Kaulbachstraße 37 errichtet wurde, konnte im Frühjahr 1963 eingeweiht werden (Abb. 4). In die im Mittelgebäude freigewordenen Räume der Zoologie sind die Fakultätsapotheke und die Zentrale des Instituts für Palaeoanatomie,

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Abb. 3: Die Tierärztliche Fakultät um 1970. Ansicht von Süden 1 Institute für Physiologie — 2 Dekanat, Fakultätsapotheke, Institut für Tierzucht, Vererbungs- und Konstitutionsforschung, Institut für Palaeoanatomie, Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin — 3 Institute für Tieranatomie — 4 Institut für Nahrungs­ mittelkunde — 5 Fakultätsbibliothek — 6 Gynäkologische und Ambulatorische Tierklinik — 7 Chirurgische Tierklinik, Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie — 8 Medizinische Tierklinik, Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie — 9 Dienstwohnungen — 10 Pförtner — 11 Versuchsstallungen des Instituts für Physiologie und des Pharmakologischen Instituts — 12 Institut für Mikrobiologie und Infektions­ krankheiten der Tiere, Institut für Tierhygiene — 13 Institute für Tierpathologie — 14 Ver­ waltung, Institut für Nahrungsmittelkunde, Institut für Palaeoanatomie

Abb. 4: Der Neubau des Zoologisch-Parasitologischen Instituts und der Bayerischen Biologischen Versuchsanstalt an der Kauibachstraße. Im Vordergrund links der Hörsaaltrakt. Ansicht von Nordwesten

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Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin eingezogen. 1969/70 ist schließlich noch der Bau des Instituts für Vergleichende Tropen­ medizin Ecke Leopold-/Georgenstraße erstellt worden (Abb. 5). Sein Er­ bauer, Professor Dr. med. Albert Herrlich, krönte damit sein Lebenswerk.

Abb. 5: Die Institute für Tropenmedizin der Universität München Ecke Leopold-Georgenstraße. Ansicht von Nordosten

Obwohl mit den neu erstellten Instituts- und Klinikbauten die Fakultät zu einer modernen tierärztlichen Ausbildungs- und Forschungsstätte geworden ist, macht die schnelle Entwicklung der Tiermedizin die Verlegung der Fakultät in ein größeres, ausbaufähigeres Gelände unumgänglich. Das Hin und Her um den Ort des künftigen Aufbaus der Fakultät hält noch an. Seit 1956 verfügt sie in Oberschleißheim über ein Lehr- und Versuchsgut. Sie hofft, auf einen Teil des Grund und Bodens dieses Gutes verlegt zu werden.

Die Lehrfächer und Lehrstühle entwickelten und differenzierten sich vor allem Anfang der sechziger Jahre explosiv, seit die erste Nachkriegsgenera­ tion der Studenten zu fertigen Lehrkräften herangereift ist und auf Selb­ ständigkeit drängt. Mit dem Aufbau von Abteilungen und der Vermehrung der Assistentenstellen um ein Mehrfaches konnte die Forschung vertieft und auf eine breitere Basis gestellt werden als je zuvor. Der tierärztlichen Wissen­ schaft werden neue Gebiete erschlossen. Den vielseitigen Aufbau begünstigte die wirtschaftliche Blüte, und dementsprechend stagnierte er mit der Regres­ sion von 1966. Er setzte danach verlangsamt wieder ein. Das Neue, was geschaffen wurde, wird derzeit unterbaut.

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Das Zoologische Institut leitete bis 1954 zusammen mit der Bayeri­ schen Biologischen Versuchsanstalt der Geheime Regierungsrat Professor Dr. phil. Reinhard Demoll. Er übernahm auch die Vorlesungen in Parasi­ tologie mit, und seit 1951 heißt das Institut offiziell Zoologisch-Para­ sitologisches Institut. Während seines langen beruflichen Wirkens bekam der souveräne Demoll zahlreiche Ämter und Ehrenämter übertragen. Als größte Auszeichnungen dürfen wohl die Verleihungen von drei Ehrendoktoren er­ wähnt werden, des Dr. med. vet. h. c. durch seine Fakultät im Jahre 1948, des Dr. ing. h. c. durch die Technische Hochschule Karlsruhe, seine frühere Wirkungsstätte, im Jahre 1950 und des Dr. med. h. c. durch die Medizinische Fakultät der Universität München im Jahre 1953, sowie die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik 1954. Seit seinem 75. Geburts­ tag, Ende 1957, führt die Bayerische Biologische Versuchsanstalt die Ehren­ bezeichnung Demoll-Hofer-Institut, seit 1961, dem Jahr nach seinem Tode, trägt eine Straße im Stadtteil Gern seinen Namen. Die Nachfolge Demolls trat 1954 sein langjähriger Mitarbeiter, Professor Dr. phil. Hans Liebmann, an. Er war vorher seit 1940 Privatdozent an der Naturwissenschaftlichen Fakultät und seit 1951 außerplanmäßiger Professor an der Tierärztlichen Fakultät der Universität München. Mit seiner Amtseinführung kam die bis­ herige Teichwirtschaftliche Versuchsanstalt in Wielenbach als Teichwirt­ schaftliche Abteilung zur Bayerischen Biologischen Versuchsanstalt. Im Jahre 1956 gründete Liebmann als weitere Station das Abwasserversuchs­ feld Großlappen bei München. Der Aufgabenbereich der von Liebmann geleiteten Institute nimmt mit der dringend notwendigen Intensivierung des Umweltschutzes weiter und weiter zu. Seine Fakultät zeichnete 1968 Lieb­ manns Verdienste um die Veterinärwissenschaft mit der Verleihung des Dr. med. vet. h. c. aus. Den Unterricht in Pharmakognosie für die Studenten der Tier­ medizin übernahm 1948 im Lehrauftrag der apl. Professor und Konservator am Botanischen Garten, Dr. phil. Friedrich Markgraf, und 1954 dankens­ werterweise der Vorstand des Instituts für pharmazeutische Arzeimittellehre in der Naturwissenschaftlichen Fakultät unserer Alma mater, Pro­ fessor Dr. phil. Ludwig Hörhammer. Seit 1956 liest er auch die Botanik für die Studierenden der Tierärztlichen Fakultät. Dieser hochangesehene Gast der Fakultät wurde in der Zwischenzeit für seine hervorragenden For­ schungen in seinem Fachgebiet mit einem Ehrenprofessorentitel und dem Dr. med. honoris causa ausgezeichnet.

Nach dem Weggang Ackerknechts begann im Winter 1951/52 Professor Dr. med. vet. Hugo Grau die Vorlesungen in Anatomie zu halten. Er

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war seit Kriegsende Direktor der Bayerischen Landesanstalt für Tier­ seuchenbekämpfung in Schleißheim, aber bereits vor dem Kriege von 1935 bis 1938 Ordinarius für Veterinärmedizin in Teheran gewesen. Grau rückte dann Anfang 1953 voll in das Ordinariat für Anatomie, Histologie und Ent­ wicklungsgeschichte ein, nachdem Baier 1952 ganz auf den Lehrstuhl für Geburtshilfe und Gynäkologie sowie die Leitung dieses Instituts und der Ambulatorischen Klinik überwechseln konnte, die er vorher kommissarisch innegehabt hatte. Grau ging sofort daran, das Tieranatomische Institut zügig auszubauen und verschaffte ihm ein hohes Ansehen. Die internationale An­ erkennung des erfolgreichen Forschers, „gemessenen und beweglichen Gei­ stes“ (Baier 1964), gipfelt in seiner Wahl zum Präsidenten der Weltvereini­ gung der Veterinäranatomen auf dem Welttierärztekongreß in Hannover 1963. Heute ist er Ehrenpärsident dieser Vereinigung. Der Neubau der Anatomie ist seinem Willen und seinem Organisationstalent zu verdanken. Vor seiner Entpflichtung sorgte er für die Teilung des Lehrstuhls, die der Umfang des Fachgebiets in Lehre und Forschung erforderte. Auf eigenen Wunsch ließ sich Grau bereits im Alter von 65 Jahren im Herbst 1965 emeritieren. 1969 verlieh ihm die Universität Turin den Dr. med. vet. h. c. Der Lehrstuhl für Histologie und Embryologie ging 1964 auf seinen Schüler Prof. Dr. med. vet. Peter Walter über, der von 1969 bis 1971 Rektor der Münchener Universität war. Den Lehrstuhl für Makro­ skopische Anatomie übernahm 1967 Professor Dr. med. vet. Bernd Vollmerhaus, der aus Gießen nach München kam. Aus der Anatomie zur Zeit Graus spaltete sich außerdem die P a 1 a e o a n a t o m i e ab (s. u.). Auch der Lehrstuhl für Physiologie wurde auf Betreiben des In­ stitutsvorstands Brüggemann hin geteilt. Der erfolgreiche Begründer einer wissenschaftlichen Schule, der mit 12 Habilitationen an seinem Institut im Professorenkolegium mit großem Abstand vorangeht, und dessen habili­ tierte Mitarbeiter schnell wegberufen werden, setzte seinen Schüler Profes­ sor Dr. agr. Dr. med. vet. Jürgen Tiews auf den Lehrstuhl für Ernäh­ rungsphysiologie neben sich. Als international hochangesehener Fachmann erfuhr Brüggemann zahlreiche Ehrungen und hohe Auszeich­ nungen, darunter 1967 die Verleihung des Dr. agr. h. c. von der Hochschule für Bodenkultur in Wien und 1968 die Verleihung des Dr. med. vet. h. c. durch die Tierärztliche Hochschule Wien. 68jährig gab Niklas 1955 den Lehrstuhl für Tierzucht zur Wieder­ besetzung frei. Der Bundesminister a. D. starb 1957 im 70. Lebensjahr an den Folgen eines kurz vorher erlittenen Autounfalls. Das 1956 von Profes­ sor Dr. phil. Dr. med. vet. Heinrich Bauer übernommene Institut für Tier-

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zücht wurde 1959 in Institut für Tierzucht, Vererbungs- und Konstitutions­ forschung umbenannt. Aus dem Tierzuchtfachgebiet ist dann der Lehrstuhl für Haustiergenetik abgespalten und Anfang 1966 mit dem Mitarbeiter Bauers, Privatdozent Dr. agr. Dr. med. vet. Frederik Bakels, besetzt worden. Das Institut für Haustiergenetik ist in Oberschleißheim untergebracht. Bauer, der sich 1967 mit 65 Jahren emeritieren ließ, setzte sich stets für eine enge Zusammenarbeit von Landwirtschaft und Tiermedizin ein. Seine Pro­ fessur übernahm im Frühjahr 1970 der Ministerialrat Dr. agr. Horst Kräusslich, der vom Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an die Fakultät wechselte. Von 1959 bis zu seinem Tode im Oktober 1964 trug der Ministerialdirektor des gleichen Ministeriums Dr. agr. habil. Ludwig Dürrwächter den Titel eines Honorarprofessors für Tier­ zucht an der Tierärztlichen Fakultät.

Aus der von Sedlmeier zunächst kommissarisch vertretenen Patho­ logie und dessen anderen Lehrfächern entwickelten sich im Laufe der Jahre eine ganze Anzahl von Lehrstühlen. Zunächst differenzierten sich die beiden Hauptfachrichtungen Tierpathologie und Tierärztliche Nahrungs­ mittelkunde. An Sedlmeier erging Anfang 1951 der Ruf auf den damaligen außerordentlichen Lehrstuhl für Tierärztliche Nahrungsmittelkunde, aber schon im darauffolgenden Jahr erhielt er die ordentliche Professur für Pathologie. Die Tierärztliche Nahrungsmittelkunde einschließlich Milch­ kunde und Fleischhygiene und die Leitung des 1952 etablierten Instituts für Nahrungsmittelkunde vertrat er noch bis 1959 kommissarisch. Einen Teil der Vorlesungen nahm ihm dankenswerterweise Veterinärdirektor a. D. Dr. Christian Häutle im Lehrauftrag ab. 1959 übernahm dann Sedlmeiers Schüler Privatdozent Dr. med. vet. Ludwig Kotter diesen Lehrstuhl und das Institut für Nahrungsmittelkunde kommissarisch und 1960 als Ordi­ narius. Den Lehrstuhl für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie hatte Sedlmeier bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1968 und darüber hinaus vertretungsweise noch bis Anfang 1970 inne. Eine Woche, nachdem diesem „allseits geachteten und ob seiner hohen menschlichen Eigenschaften allseits beliebten Kollegen (Grau 1960), „der zu jenen Männern zählt, die der Münchener Fakultät nach dem Kriege ihr Profil gezeichnet haben“ (Dahme 1965), von der Tierärztlichen Fakultät der Universität Gießen der Ehren­ doktor verliehen wurde, schloß er unerwartet für immer die Augen. Aus dem großen Gebiet der Pathologie zog Sedlmeier die Onkologie und Neuropatho­ logie heraus, und auf diesen neu geschaffenen Lehrstuhl wurde 1965 sein Schüler Professor Dr. med. vet. Erwin Dahme berufen. Als 1970 der aus

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Gießen kommende Professor Dr. med. vet. Joachim von Sandersleben die Nachfolge Sedlmeiers antrat, erhielten die beiden Pathologielehrstühle die Bezeichnung „für Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie“ und „für Allgemeine Pathologie und Neuropathologie“.

Als Leiter des Kleintiergesundheitsdienstes Bayern e. V. förderte Sedlmeier vor allem den Geflügelsektor. Den Geflügelgesundheitsdienst hat 1936 Frau Dr. med. vet. Irmgard Sassenhoff, die langjährige Mitarbeiterin Sei­ frieds, gegründet und aufgebaut. Von 1945 bis zu ihrer Berufung nach Hannover im Jahre 1960 war sie dessen Leiterin. Sie habilierte sich bei Sedlmeier, übernahm als Frau Gylstorff 1960 den Lehrstuhl für Hygiene und Geflügelkrankheiten an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und kehrte 1965 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Geflügelkunde an die Münchener Tierärztliche Fakultät zurück. Das von Frau Gylstorff geleitete Institut für Krankheiten des Haus- und Wildgeflügels ist in Schleißheim etabliert. Das Institut für Nahrungsmittelkunde baute Kotter energievoll zu einer Großinstitution auf, in deren Rahmen derzeit zwei neue Lehrstühle, nämlich für Milchkunde und für Schlachthofbetriebslehre, im Entstehen be­ griffen sind. 1964 wählte die Gesellschaft für Ernährungsbiologie Kotter zu ihrem Präsidenten. Von 1965 - 1967 war er Rektor der Universität München. Seit 1970 ist Kotter Vorsitzender des Münchener Hochschulkreises der Katholischen Akademie in Bayern. 1972 verlieh ihm die Tierärztliche Fakul­ tät der Universität Utrecht den Dr. honoris causa.

Auf den Lehrstuhl für Hygiene und Technologie der Milch wurde inzwischen zum Wintersemester 1971/72 Prof. Dr. med. vet. Gerhard Terplan aus Hannover nach München zurückberufen. Bis 1955 leistete Rolle als kommissarischer Leiter des Tierhygieni­ schen Instituts Pionierarbeit bei dessen Wiederaufbau. Sein Nachfolger seit 1955, Professor Dr. med. vet. Adolf Meyn, sorgte dafür, daß der verehrte Lehrer und Förderer der Nachkriegsstudenten, der alles für andere, nichts für sich selbst tat, in gerechter Würdigung seiner Verdienste 1957 im Rang eines ordentlichen Professors emeritiert wurde. „Es ist nicht nur sein um­ fassendes Wissen, sondern auch sein vornehmer Charakter, der nicht gespielt und maskenhaft wirkt, vielmehr echt ist. Rolle ist ein Mann mit Herzens­ bildung und Herzensgüte, ein Mensch, wie er uns im Leben nur selten be­ gegnet“, begründet W. Hausmann (1967) seine und unser aller Zuneigung zu ihm. Nur 6V2 Jahre war es Meyn vergönnt, an der Fakultät zu wirken. Schon im Mai 1962 wurde er unerwartet, erst 64jährig, aus dem Leben ge­ rissen. Meyn, der in den letzten beiden Jahren vor dem zweiten Weltkrieg

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Vorstand des Tierhygienischen Instituts der Universität Leipzig war, wid­ mete nach dem Krieg einen großen Teil seiner Arbeit der Bekämpfung der Rindertuberkulose und der Rinderbrucellose und hatte Erfolg. „Charakte­ ristisch für ihn war sein Wille zur Klarheit, der Sinn für das Rechte, die auf­ rechte Haltung und — bei aller Toleranz und Bescheidenheit — der Einsatz für seine persönliche Überzeugung. In seiner Güte und Selbstlosigkeit war Professor Meyn ein leuchtendes Vorbild“, schreibt der Ende 1956 an der Tier­ ärztlichen Fakultät zum Honorarprofessor für Tierseuchenlehre ernannte damalige Direktor der Bayerischen Landesanstalt für Tierseuchenbekämp­ fung in Schleißheim Dr. med. vet. Hans Schellner. Nach Meyns Tod sprang Rolle noch einmal als kommissarischer Leiter ein, bis April 1963 der leitende Direktor der Bundesforschungsanstalt für Virus­ krankheiten der Tiere, Tübingen, Professor Dr. med. vet. Anton Mayr den Lehrstuhl für Mikrobiologie und Seuchenlehre und die Lei­ tung des Instituts für Mikrobiologie und Infektionskrankheiten der Tiere übernahm. Die Umbenennung des Lehrstuhl und der Institutsbezeichnung erfolgte im Hinblick auf die Abtrennung eines Lehrstuhls für Tierhygiene im engeren Sinne, den im nächsten Frühjahr der Rolle-Schüler Professor Dr. med. vet. Johann Kalich übernahm. Mayr, auch ein Nachkriegs­ student der Münchener Tierärztlichen Fakultät, übernahm im Herbst 1964 offiziell als zusätzliche Aufgabe die wissenschaftliche Leitung des Insti­ tuts für Blutgruppen- und Resistenzforschung der Tierzuchtforschung e. V. München. 1970 wurde er zum Mitglied der „Leopoldina“ in Halle/Saale ge­ wählt. Als der rechtlich und idealistisch denkende Pschorr im 75. Lebensjahr im Frühjahr 1958 nach einem erfüllten Leben starb, ging die Staatsveteri­ närmedizin in den Aufgabenbereich des Lehrstuhls für Hygiene, Seuchenlehre und Mikrobiologie über und kam bei der Teilung des Instituts für Tierhygiene nach Meyns Tod unter der Bezeichnung „Staatliche Tier­ seuchenbekämpfung “ in den Verband der Mikrobiologie und Seuchenlehre. Seit 1964 im Lehrauftrag und seit Ende 1965 als Honorarprofessor, liest Pschorrs Nachfolger im Innenministerium, Ministerialrat Dr. med. vet. Joseph Ringseisen, das Fach Angewandte Staatliche Tierseuchenbekämp­ fung. Auch dessen Nachfolger, Ministerialrat Dr. med. vet. Adolf Wolff, ist seit 1971 Honorarprofessor an der Fakultät. Er liest internationales Tier­ seuchenrecht. Nachdem der allseits hochgeachtete Pschorr mit 65 Jahren als Ministerial­ rat in den Ruhestand getreten war, hatte er sich als Honorarprofessor ein neues, erfüllendes Tätigkeitsfeld ausgebaut. Zielbewußt betrieb er die Grün­ dung des Instituts für Staatsveterinärmedizin und Geschichte der 22

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Tiermedizin, das er dann von 1950 bis zu seinem Tode leitete. Danach verschwand zwar die Staatsveterinärmedizin wieder aus dem Institutstitel und -verband, das Institut selber blieb aber bestehen, zunächst von 1959 bis 1964 als Institut für Geschichte der Tiermedizin unter der kommissari­ schen Leitung von Privatdozent Dr. med. vet. Joachim Boessneck, seit Be­ ginn des Jahres 1965 im Verband mit der Palaeoanatomie und Domestikationsforschung unter Boessnecks definitiver Leitung. Dieses kulturgeschichtlich geprägte Ordinariat fehlt anderen tierärztlichen Lehrstätten. Sein Ausbau erfuhr Anerkennung, indem der Vorstand des Instituts 1972 zum ordentlichen Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde.

Aus der Thematik der Fächergruppe Meyns erwuchs auch die Errichtung eines Lehrstuhls für Vergleichende Tropenmedizin an der Fakultät. Er wurde 1964 mit Professor Dr. med. Albert Herrlich, dem Vor­ stand der Bayerischen Landesimpfanstalt und des Instituts für Infektionsund Tropenmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität München, besetzt. Noch ehe der Neubau für die beiden Tropeninstitute Ecke Leopold-/ Georgenstraße ganz fertiggestellt werden konnte, starb Herrlich im Mai 1970. Seine Verdienste fanden mit der Verleihung des großen Verdienstkreuzes zum Verdienstorden der Bundesrepublik würdige Anerkennung. Der schlichte, humorvolle und wohlwollende Hilz übergab die Pharma­ kologie Ende 1954 an Professor Dr. med. Karl Zipf. Hilz starb bald darauf Mitte Februar 1955 kurz nach Vollendung seines 70. Lebensjahres. Zipf war vor seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie unserer Fakultät von 1934 bis Kriegsende Ordinarius in Königs­ berg gewesen. Seit 1953 las er als Honorarprofessor an der Medizinischen Fakultät Arbeitsmedizin und behielt diesen Lehrauftrag neben seiner Pro­ fessur an der Tierärztlichen Fakultät bei. Unter Zipf entstand in kurzer Zeit „eine neue Lehr- und Forschungsstätte mit moderner apparativer Einrich­ tung, guter personeller Besetzung und hinreichenden Sachmitteln“, berich­ tet sein Mitarbeiter und Schüler und Mitarbeiter von Hilz Dr. med. vet. Hubert von Obernberg, der bis 1970 die Fakultätsapotheke leitete. Die Verdienste Zipfs um den Ausbau der Fakultät und um die Tiermedizin an sich würdigte seine Fakultät 1961 mit der Verleihung des Dr. med. vet. honoris causa. Seit seiner Emeritierung im Frühjahr 1963 leitete dieser unermüdliche, schaffenskräftige Mann noch bis 1970, als er 75 Jahre alt war, das Institut kommissarisch. Nach dem Tode S tetters sprang als kommissarischer Vorstand der Klinik für Innere Medizin der emeritierte Ordinarius der Universität Wien

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Professor Dr. med. vet. David Wirth ein. Dieser glänzende Diagnostiker und ausgezeichnete Methodiker, der Begründer und Altmeister der Hämatologie der Haustiere, erhielt anläßlich der 160-Jahrfeier der Münchener Tierärzt­ lichen Lehrstätte die Ehrendoktorwürde von der Fakultät verliehen, eben­ so in Hannover bei der 175-Jahrfeier der Tierärztlichen Hochschule. Die Wiederbesetzung des Lehrstuhls für spezielle Pathologie und Therapie, gerichtliche Tierheilkunde und für Innere Medizin erfolgte 1955 mit Professor Dr. med. vet. Konrad Ullrich. Er war vorher seit 1946 ordentlicher Professor und Direktor der Klinik für kleine Haustiere an der Humboldt-Universität und seit 1951 an der Freien Universität Berlin gewesen. Auch in München blieb Ullrich seinem klini­ schen und wissenschaftlichen Arbeitsgebiet, den Krankheiten des Hundes, treu. Angewandte Pharmakologie und Pharmakodynamik, Labordiagno­ stik, Dermatologie, Zoo-, Wildtier- und Vogelkrankheiten sowie Tierschutz wurden neben den klassischen klinischen Untersuchungsmethoden zu wich­ tigen Arbeitsgebieten der Klinik. Dem vielseitig anregenden Lehrer verlieh 1968 die Tierärztliche Hochschule Hannover die Würde eines Ehrendoktors.

In der Chirurgie wirkte Westhues, bis er im Frühjahr 1966 mit 70 Jahren durch Professor Dr. med. vet. Horst Schebitz abgelöst wurde. Westhues, das markanteste Mitglied der Fakultät, hatte 1955/56 als erster Tierarzt das Amt des Rektors der Universität München inne. Als Baureferent der Universität ab 1956 trieb er den Wiederaufbau voran. Von 1958 - 1963 vertrat er die Belange der Universität als Mitglied im Bayerischen Senat. Drei tierärztliche Lehrstätten verliehen dieser großen Persönlichkeit die Ehrendoktorwürde: Zürich 1967, Thessaloniki 1967 und Wien 1968. Im November 1971 ging Westhues unvermittelt, nach einem an seiner Tierärzt­ lichen Fakultät verbrachten Abend, von uns. Westhues' Nachfolger war schon mit jungen Jahren Klinikvorstand in Halle an der Saale und in Leipzig ge­ wesen, hatte nach seinem Wiederanfang im Westen eine Zeitlang in Kairo gelehrt und schließlich die Pferdeklinik der Tierärztlichen Hochschule Hannover übernommen. Nach der Übernahme der Chirurgischen Klinik durch Schebitz beendete das Institut für Huf - und Klauenkunde sein Dasein. Nachdem Mennel bis einschließlich Wintersemester 1950/51 die Vorlesungen und Übungen gehalten hatte, übernahm sie Westhues. Seit 1952 ist dann auch das Institut im Vorlesungsverzeichnis wieder ausgewiesen und führte noch bis 1968 ein Schattendasein. Als 1952 die Geburtshilfe und Gynäkologie zum Ordinariat erhoben wurde, übernahm Baier diese Professur und die definitive Leitung 22*

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der Gynäkologischen und Ambulatorischen Tierklinik. Der mit einer eleganten Diktion begabte Kliniker ist Mitglied zahlreicher Gre­ mien. Seit 1970 ist er Präsident der Bayerischen Tierärztekammer. Die Tier­ ärztliche Fakultät der Freien Universität Berlin verlieh ihm Ende 1967 den Ehrendoktorgrad. Im Verband seiner Klinik gab er der Abteilung für Andrologie und Künstliche Besamung Selbständigkeit und ließ 1963 seinen Schüler Professor Dr. med. vet. Werner Leidl auf diesen neu geschaffenen Lehrstuhl berufen. Schwerpunkte der Forschung an der Gynäkologischen Klinik bilden auch die Euter- und die Jungtierkrank­ heiten.

In Zahlen drückt sich die im Laufe der letzten 20 Jahre erfolgte Entwick­ lung der Tierärztlichen Fakultät folgendermaßen aus: 1950 10- 11 Institute bzw. Kliniken, 6 aktive Ordinarien, 4 außerplanmäßige Professoren als Kommissarische Institutsleiter, 3 Honorarprofessoren, 1 weiterer außerplanmäßiger Professor, 3 Lehrbeauftragte.

1970 19 Institute bzw. Kliniken, 17 aktive Ordinarien, 1 Ordinarius als Gast der Fakultät, 1 aktiver Extraordinarius, 2 Honorarprofessoren, 7 außerplan­ mäßige Professoren, 23 Privatdozenten, 16 Lehrbeauftragte.

Das tierärztliche Studium hat nun eine Normaldauer von 5 Jahren ein­ schließlich der Examina. Nicht nur die tierärztliche Vorprüfung zerfällt in zwei Teile — das Vorphysikum und das Physikum —, auch die Tierärztliche Prüfung ist jetzt in drei Abschnitte unterteilt, die normalerweise nach dem 6., 8. und 9. Semester abgelegt werden. Da auch eine zusätzliche praktische Ausbildung während der Ferien in einer Tierklinik, an einem Schlachthof und in der kurativen Praxis eines Tierarztes Voraussetzung für die Zulas­ sung zum 3. Teil der Tierärztlichen Prüfung ist, hat das Studium viel von seiner Freiheit und Ungezwungenheit verloren.

Als Diskrepanz stehen sich demnach gegenüber: Das zunehmend um­ fassendere Lehrangebot einerseits — der fachschulhaft straffe, bis in die Ferien hinein kurs- und prüfungsgespickte Aufbau des Studiums anderer­ seits. Und somit bedrängt uns mehr denn je die Frage, der Westhues in sei­ nem Festvortrag anläßlich des 50jährigen Jubiläums unserer Fakultät nach­ gegangen ist, ob die Fakultät außer einer Fachausbildung „auch dem Bil­ dungsauftrag der Universität zu entsprechen imstande und bereit ist, was aber ihre Legitimation als Fakultät erst ausmacht. Es handelt sich darum, daß sich der Student an der Universität nicht nur zu einem gut funktionie­ renden, kenntnisreichen Fachmann, sondern zu einem geistigen Menschen bilden soll... — Der Student eignet sich in seinem Fachstudium eine reiche Menge von Fachwissen an, das ihn fähig machen soll, seinen Beruf zu er­

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füllen, Bedeutung im Volksleben zu erlangen und große materielle Werte zu schaffen, den Wohlstand zu erhöhen. Aber das persönliche Glück, das jeder Mensch erlebt, erringt er mit seinem Kennen und Können nicht. Das Glücks­ empfinden hängt vielmehr davon ab, ob der Mensch sich frei machen kann von seinen triebhaften Bedürfnissen, ob er dahin gelangt, über und hinter allem Nutzbaren, technisch Bestimmten, allen geistigen Fertigkeiten den Sinn der Dinge, den Kosmos der Welt zu begreifen; daß er so eine freie Per­ sönlichkeit werde, fähig der freien Entscheidung. Ob dieses Glück durch das Universitätsstudium zu erreichen ist, das ist die Frage. Sie ist von vielen berufenen Seiten verneint oder bejaht oder im Zweifel gelassen worden“. Wenn aber das fachschulhaft angelegte Studium die Chance eines Testes der Frage für jeden Einzelnen nimmt — und nur jeder Einzelne kann die Frage für sich zu beantworten versuchen —, dann hat die Universität ihren Sinn verloren. Ehrenpromotionen an der Tierärztlichen Fakultät der Universität München 2.12.1910 S. K. H. Prinz Ludwig von Bayern 17. 7.1918 Dr. Eugen von Knilling, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus 17. 7.1918 Prof. Georg von Mayr, Unterstaatssekretär z. D. 17. 7.1918 Ferdinand von Pracher, Regierungspräsident von Niederbayern 17. 7.1918 Prof. Dr. Johannes Rückert, München 23. 5.1919 Ferdinand Mölter, Städtischer Obertierarzt, München 23. 5.1919 Ferdinand Opel, Direktor des Städtischen Schlacht- und Viehhofes München 19. 3.1920 Prof. Dr. Karl Arnold, Hannover 26. 1.1923 Mathias Lautenschläger, Fabrikbesitzer, Berlin 16. 1.1924 Dr. Ferdinand von Englert, Präsident der Bayerischen Versicherungs­ kammer 16. 1.1924 Dr. Theodor Pfülf, Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium des Innern 27.11.1926 Prof. Dr. Robert von Ostertag, Ministerialrat, Berlin 10. 3.1927 August Fehsenmeier, Referent für Veterinärwesen und Tierzucht im Badischen Ministerium des Innern 4. 5.1927 Dr. Alfred Kühle, Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industriel­ lenverbandes, München 7. 1.1928 Heinrich Wirschinger, Ministerialrat im Bayerischen Staatsministe­ rium des Innern 11. 3.1928 Prof. Dr. Eugen Fröhner, Geheimer Regierungsrat, Berlin 1. 2.1929 Prof. Dr. Marianne Plehn, München 27. 4.1941 Prof. Dr. Albert Jodlbauer, München 1. 1.1948 Prof. Dr. Reinhard Demoll, München 1. 1.1948 Hans Gutbrod, Oberveterinärrat und Tierzuchtdirektor a. D. 6.12.1949 Prof. Dr. Wilhelm Pfeiffer, Gießen 29.11.1950 Prof. Dr. Drs. h. c. Adolf Butenandt, München

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Prof. Wilhelm Schofield, Quelph Prof. Dr. Erich Silbersiepe, Berlin Prof. Dr. David Wirth, Wien Prof. Dr. Wilhelm Zorn, München Dr. Ernst Laur, Brugg Prof. Dr. Dr. Wilhelm Niklas, Bundesminister für Ernährung, Land­ wirtschaft und Forsten Eugen Kauffmann, Langenargen Prof. Dr. Dr. h. c. Georg Hohmann, München Franz Elsen, Direktor der Bayerischen Staatsbank, München Prof. Dr. Werner Kirsch, Stuttgart-Hohenheim Prof. Dr. Richard Prigge, Frankfurt/Main Erwin Rentschler, Laupheim Heinrich Lübke, Bundespräsident Prof. Dr. Karl Zipf, München Prof. Dr. Clement Bressou, Alfort Prof. Dr. Frank Kral, Lima S. K. H. Herzog Albrecht von Bayern Edmund Forschbach, Ministerialdirigent, Bonn Prof. Dr. Dr. August Wilhelm Forst, München Prof. Dr. Curt Hailauer, Bem Dr. Karl Eibl, Oberregierungsveterinärrat, Neustadt/Aisch Dr. Walter Kraak, Bielefeld Prof. Dr. Rene Willems, Brüssel Prof. Dr. Dr. h. c. Joseph Fortner, Berlin Prof. Dr. Dr. Otto Überreiter, Wien Prof. Dr. Dr. Michael Karl Zacherl, Wien Prof. Dr. Hans Liebmann, München Prof. Dr. Karl Ammann, Zürich Prof. Dr. Pincus Philip Levine, Ithaca Prof. Dr. Walter Renk, Berlin

Literaturverzeichnis Baier, W.: Professor Dr. Hugo Grau, München, zum 65. Geburtstag. Tierärztl. Umschau 19, 160, 1964. — Bauer, H.: Prof. Dr. F. Stockklausner 70 Jahre alt. Tierärztl. Umschau 14, 245 f., 1959. — Bojanus, L.: Über den Zweck und die Organisation der Thierarzneischulen. Frankfurt/Main 1805. — Dahme, E.: Prof. Dr. Hans Sedlmeier zum 65. Geburtstag. Berlin, und München. Tierärztl. Wochenschr. 78, 221 f., 1965. — Eichbaum, F.: Grundriss der Geschichte der Thierheilkunde. Berlin 1885. — Eichhorn, E.: Beiträge zur Geschichte der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Diss. München 1951. — Gratzl, E.: Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. D. Wirth zum 70. Geburtstag. Wiener Tierärztl. Monatsschr. 42, 735 -741, 1955. — Grau, H.: Prof. Dr. H. Sedlmeier - München 60 Jahre alt. Tierärztl. Umschau 15, 192 f., 1960. — Hahn, C. und F. Viandt: Ge­ schichte der K.B. Zentral-Tierarzneischule München 1790 bis 1890. München 1890. — Hausmann, W.: Prof. Dr. Michael Rolle zum 75. Geburtstag. Tierärztl. Umschau 22, 115 f., 1967. — Jahresberichte der K. Central-Veterinär-Schule, der Central-Thier­ arznei-Schule bzw. der K. Tierärztlichen Hochschule in München von 1810/11 bis 1913/14. — Jakob, H.: 100 Jahre Promotion zum Doktor der Veterinärmedizin an der hessischen Landesuniversität in Gießen. Berl. Tierärztl. Wochenschr. 48, 325 - 330, 1932. — Mayr, J.: Gedenkfeier der Verlegung der Ludwig-Maximilians-

Chronik der Tierärztlichen Fakultät

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Universität von Landshut nach München vor einhundert Jahren am 26. und 27. November 1926. München. Tierärztl. Wochenschr. 77, 45 - 50, 1926. — Nusshag, W.: Die alten Tierärzteschulen. Tierärztl. Umschau 13, 221 -226, 1958. — Obern­ berg, H. v.: Zur Vorgeschichte des Pharmakologischen Institutes der Tierärztlichen Fakultät München. Berlin und München. Tierärztl. Wochenschr. 78, 10 - 14,1965. — Pschorr, W.: Zur Entwicklungsgeschichte der Tierärztlichen Fakultät der Universi­ tät München. Berlin, und München. Tierärztl. Wochenschr. 63, 198 - 202, 1950. — Schellner, H.: Prof. Dr. A. Meyn - München f. Tierärztl. Umschau 17, 214 f., 1962. — Schmaltz, R.: Aus dem bayerischen Landtage. Berl. Tierärztl. Wochenschr. 1906, 576 - 579, 1906. — Schmaltz, R.: Entwicklungsgeschichte des tierärztlichen Berufes und Standes in Deutschland. Berlin 1936. — Schrader, G. W. und E. Hering: Biographisch-literarisches Lexikon der Tierärzte aller Zeiten und Länder. Stutt­ gart 1863. — Sedlmeier, H.: Theodor Kitt — Ein Lebensbild. Bayer. Tierärzteblatt 9, 3-6, 1958. — Seifried, O.: Theodor Kitt zum 75. Geburtstag. München. Tierärztl. Wochenschr. 84, 495 - 497, 1933. — Spengler, K.: Münchner Straßenbummel. Mün­ chen 1960. — Stetter, R.: Geheimrat Dr. Franz Michael Schmitt f. München. Tierärztl. Wochenschr. 79. 632 f., 1928. — 175 Jahre Tierärztliche Ausbildungs­ stätte in München. München 1965. — Die Lage der Tierärztlichen Fakultät in München. Bericht über die Planungssitzung der Tierärztlichen Fakultät in Mün­ chen am 3. März 1949. — Tierärztl. Umschau 1 ff., 1946 ff. — Wagner, O.: Johannes Nörr 65 Jahre alt. Tierärztl. Umschau 6, 222 f., 1951. — Weber, E.: Busch, der Schöpfer des tierärztlichen Doktortitels. Berlin, und München. Tierärztl. Wochen­ schr. 1942, 273-275, 1942. — Westhues, M.: Festvortrag. 50-Jahr-Feier der Tier­ ärztlichen Fakultät der Universität München, 6 -10, München 1964. Bayer. Tier­ ärzteblatt 15, 247 - 253,1964. — Wiedemann, U.: Staatlich angeordnete Maßnahmen zur Tierseuchenbekämpfung in Bayern im 18. Jahrhundert. Diss. München 1969. München 1970.

Für die Durchsicht des Manuskripts und Hinweise zur neueren Geschichte der Fakultät aus ihrem eigenen Erleben des Geschehens hat der Verfasser Frau Professor Dr. Irmgard Gylstorff zu danken. Dem Prodekan der Tierärztlichen Fakultät, Herrn Professor Dr. B. Vollmerhaus, dankt der Verfasser herzlich für seine großzügige Unterstützung bei der Planung und Herstellung der Abbildungen. Frau Li Körner, der wiss. Zeichnerin am Insti­ tut für Makroskopische Anatomie der Tiere, dankt er ebenso für die Ausführung der Zeichnungen.

Bilder aus der naturwissenschaftlichen Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München Von Helmuth Gericke unter Mitarbeit von Armin Hermann, Brigitte Hoppe Otto Krätz, Felix Schmeidler, Karl-Ludwig Weiner, Hellfried Uebele

Einleitung Als die Universität 1826 nach München verlegt wurde, gehörten die Natur­ wissenschaften zur philosophischen Fakultät, und das Studium in dieser Fakultät diente der Vorbereitung auf das Studium in den anderen Fakul­ täten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Fächer der philosophischen Fakultät zu eigenständigen Wissenschaften, insbesondere haben auch die Naturwissenschaften erheblich an Umfang und Spezialisierung zugenom­ men. 1865 wurde eine Gliederung der philosophischen Fakultät in zwei Sek­ tionen notwendig, 1937 wurde aus der zweiten Sektion eine eigene Fakultät. Am 1. März 1971 wurde die naturwissenschaftliche Fakultät in fünf Fakul­ täten aufgeteilt mit den Bezeichnungen: Fakultät für Mathematik (11 Lehrstühle) Fakultät für Physik (19 Lehrstühle) Fakultät für Chemie und Pharmazie (14 Lehrstühle) Fakultät für Biologie (9 Lehrstühle) Fakultät für Geowissenschaften (8 Lehrstühle).

Die Geschichte der Naturwissenschaftlichen Fakultät ist also sehr kurz. Anders ist es natürlich mit der Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität. Jedoch sei die — übertriebene — Behauptung gewagt, daß die Naturwissenschaften eigentlich erst im 19. Jahrhundert zu selbständigen Disziplinen auf wissenschaftlichem Niveau an der Universität geworden sind. Das soll im folgenden etwas erläutert werden. Die Universitäten hatten in früheren Jahrhunderten vor allem die Auf­ gabe, Theologen, Juristen und Ärzte auszubilden, ihnen das notwendige wissenschaftliche Rüstzeug für ihren Beruf zu vermitteln. Die Naturwissen­ schaften spielten dabei zunächst die Rolle eines Teiles der Allgemeinbildung,

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die im Rahmen der philosophischen bzw. artistischen Fakultäten vermittelt wurde. Was damals gelehrt wurde, kann man ungefähr aus der Margarita philosophica von Gregor Reisch (1500) ersehen. Der Lehrplan geht, vermittelt durch Boetius und Cassiodorus, bis auf den Lehrplan pythagoreischer Schulen zurück. Auf das Trivium (Grammatik — der lateinischen, evtl, der griechi­ schen und hebräischen Sprache —, Logik, Rhetorik) folgte das Quadrivium der mathematischen Fächer Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. In der Arithmetik wurden neben pythagoreischer Zahlentheorie (Arithmetica speculativa) die elementaren Rechenoperationen gelehrt (Arithmetica practica), in der Musik kam es auf die Zahlenverhältnisse an, durch die harmonische Intervalle bestimmt sind, die Geometrie erstreckte sich auf die Planimetrie Euklids und etwas Flächen- und Raummessung, in der Astrono­ mie genügten die einfachsten Grundlagen der Planetenbewegung.

Die Naturlehre, bei Reisch unter dem Titel De origine rerum naturalium, stützte sich auf Aristoteles, Plinius und die Schöpfungsgeschichte der Bibel und deren Erklärung in den Hexahemera der Kirchenväter. Behandelt wur­ den die Lehre von den Elementen nach Aristoteles, und auf dieser Grundlage u. a. auch Naturvorgänge wie Gewitter, Hagel, Erdbeben.

Kenntnisse über Pflanzen, Tiere und Mineralien, deren Pflege seit der Antike (Dioskurides, Galen) der Arzneimittellehre oblag, wurden bis ins 19. Jahrhundert hinein im Rahmen der medizinischen Fakultät vermittelt. In dieser wurde außer Materia medica seit dem Ausgang des 18. Jahrhun­ derts auch vergleichende Anatomie gelehrt. Die Forschung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften entwickelte sich weitgehend unabhängig von der Lehre an den Universitäten. Als Pflege­ stätten der Forschung entstanden seit dem 17. Jahrhundert Akademien. In Florenz wurde 1657 die Accademia del cimento gestiftet, die allerdings nur zehn Jahre bestand. 1660 entstand die Royal Society in London, 1666 die Academie des Sciences in Paris, 1700 die Kgl. Preußische Akademie, 1758 die Kgl. Bayerische Akademie der Wissenschaften. Der Grundsatz der Einheit von Forschung und Lehre trat erst im 18. Jahrhundert gelegentlich auf, so z. B. bei der Gründung der Universität Göttingen 1737, bei der gleichzeitig eine Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften ins Leben gerufen wurde. Als allgemeiner Grundsatz wurde er erst im 19. Jahrhundert verwirklicht.

Die Mathematik beschritt mit der Algebra der Italiener des 16. Jahrhun­ derts, der Buchstabenrechnung Vietes (1591), der analytischen Geometrie von Fermat und Descartes (1637) und der Infinitesimalrechnung von Newton (etwa seit 16’65) und Leibniz (seit 1675) neue Wege.

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In der Astronomie hatte Kopernikus wohl den eindrucksvollsten Wandel des Weltbildes verursacht. Es ging dabei nicht nur um eine neue mathe­ matische Erfassung der Planetenbewegungen, sondern um eine physika­ lische Deutung der Himmelserscheinungen. Die Erfindung des Fernrohrs ermöglichte tiefere Einblicke in die Sternenwelt, unter anderem die Ent­ deckung der Jupitermonde, deren Beobachtung später zur ersten Messung der Lichtgeschwindigkeit führte.

Im 18. Jahrhundert wurden unter Benutzung der Infinitesimalrechnung die entscheidenden Methoden der Himmelsmechanik ausgearbeitet. Ab unge­ fähr 1800 wandte sich die Forschung auch den Himmelskörpern außerhalb des Sonnensystems zu; dabei wurden von Bessel, W. Struve, Argeiander u. a. die Methoden der Messung der Örter und Bewegungen der Sterne erheblich verbessert, während die Beobachtungen von W. Herschel die Grundlage für die Untersuchung der Sterne und Sternsysteme legte. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an entwickelte sich die Astrophysik als eigener Zweig der Astronomie. In der Physik entwickelte sich seit Gilbert (De magnete 1600) und Galilei eine neue Einstellung zum Experiment. Zwar beruhte die Physik des Aristoteles auch auf Beobachtungen, und auch quantitative Experimente sind gelegentlich schon früher gemacht worden; aber im allgemeinen galt das Experiment als ein unzulässiger Eingriff, als eine Vergewaltigung der Natur; erst seit Galilei wurde es zum legitimen Mittel der Naturerkenntnis. Dadurch wurde es möglich, viel genauere Grundlagen für die Theorien zu bekommen, gerade auch für deduktive Theorien, die aus wenigen Grundtat­ sachen — die aber jetzt exakt gesichert werden konnten — die übrigen Er­ scheinungen abzuleiten suchten. Newtons Mechanik (Philosophiae naturalis principia mathematica 1687) wurde zum Vorbild auch für die übrigen Ge­ biete der Physik, deren Theorien sich im 18. Jahrhundert entfalteten.

In der Chemie wurden im 17. Jahrhundert die alten Begriffe der aristote­ lischen Elemente und andere Vorstellungen wie etwa die Prinzipien (Sal, Sulphur, Mercurius) des Paracelsus durch einen Elementbegriff er­ setzt, der sich auf die chemische Einfachheit der Elemente gründete und eine noch unbestimmte Vielzahl der Elemente zuließ. Zugleich schrieb R. Boyle, indem er experimentell gewonnene Ergebnisse als Grundlagen der Theorienbildung betrachtete, der experimentellen Erfahrung eine erhöhte erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Dadurch wurde der Aufbau der mo­ dernen Wissenschaft ermöglicht.

Unter dem Einfluß der Chemie entwickelte sich die chemische Mineralogie. Deren Ergebnisse legte A. G. Werner 1798 seinem System zugrunde, aus dem

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sich die moderne Mineralsystematik auf kristallchemischer Grundlage ent­ wickelte. Die beschreibende und messende Kristallographie begründete N. Stensen 1668. Die ersten Theorien über die physikalische Struktur der Kristalle vom Ende des 18. Jahrhunderts (T. Bergmann, R. J. Haüy) wurden erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitergeführt. Die biologischen Wissenschaften ordneten die seit dem 15. Jahrhundert stark vermehrten floristischen und faunistischen Einzelkenntnisse, die in naturgetreu illustrierten Kräuter- und Tierbüchern beschrieben worden waren, zu durch die zeitgenössische Logik beeinflußten Systemen (Methodus, Synopsis plantarum et animalium). Diese Forschungsrichtung wurde durch John Ray (ab 1682) und Linne (ab 1735) vollendet, die beide zugleich Ansätze zu der späteren natürlichen Systematik brachten.

Neue Bereiche der Natur erschloß das nach 1600 erfundene Mikroskop: Einzeller entdeckte A. v. Leeuwenhoek, Histologie, Entwicklungsphysiologie niederer Tiere und die Embryologie höherer Tiere wurden gefördert, die Pflanzenanatomie wurde erstmals systematisch bearbeitet (um 1665). Solche mikroskopischen Untersuchungen lieferten Belege für die im 18. Jahr­ hundert vielfach erörterten Entwicklungstheorien der Präformation und Epigenese. Aus Ergebnissen der Mikroskopie wurden spezielle theoretische Folgerungen im 19. Jahrhundert mit der Zellentheorie der Organismen abge­ leitet, die eine der wichtigsten Grundlagen der modernen Biologie wurde.

Als eine weitere ihrer Voraussetzungen kam seit dem 17. Jahrhundert, unterstützt durch die Naturphilosophie von Descartes u. a. die mechanistische Auffassung des Organismus zum Tragen. Sie ermöglichte die Einführung des Experiments und die Anwendung physikalischer Meßinstrumente. Mit der als erstes eingeleiteten Erforschung von Stoffwechselvorgängen (Gasstoff­ wechsel durch Boyle, Hales, Priestley, Ingenhousz, Lavoisier; tierische Ver­ dauung durch Reaumur und Spallanzani) gingen chemische Analysen der Körpersubstanzen einher. Die bis um 1800 gewonnenen Ansätze wurden im 19. Jahrhundert auf allen Gebieten ausgebaut und führten zu einer Auf­ spaltung der Biologie in Spezialfächer, die auf Austausch ihrer Ergebnisse angewiesen waren, um die biologischen Erkenntnisse zu erweitern. Teilweise im Zusammenhang mit der Astronomie entwickelte sich die Geographie. Die traditionelle Wissenschaft (Ptolemaios, Strabo) wurde durch das weitreichende wissenschaftliche Programm von B. Varenius von 1650 abgelöst, der die Allgemeine Geographie (Geographia generalis) von der Speziellen trennte und die Bearbeitung einer vergleichenden Länder­ kunde und einer systematischen Regionalanalyse vorschlug. Die Verwirk­ lichung dieser Pläne gelang erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, zu dessen

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Beginn A. v. Humboldt eine eigene physische Geographie entwickelte, die moderne Landeskunde und die Pflanzengeographie begründete. Die historisch-anthropogeographisch ausgerichtete Geographie pflegte C. Ritter. In den sechziger Jahren wurde die Geomorphologie eingeführt. Seit derselben Zeit mußte man sich mit dem Einfluß der darwinistischen Evolutionstheorie auseinandersetzen.

Erste umfassende Theorien in der Geologie entstanden im 18. Jahrhundert: nach J. Hutton 1785 eröffneten A. G. Werner 1787 und sein Schüler L. v. Buch die Diskussionen um „Neptunismus“ oder „Plutonismus-Vulkanismus“ als Gebirgsbildungstheorien. Durch verstärkte regionale Untersuchungen über Natur und Lagerung der Gesteine, Ausbildung und Folge der Formationen wurden grundlegende Erfahrungen für die geologischen Wissenschaften ge­ sammelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts förderte vor allem Cuvier die Paläontologie, ihm folgte A. Brongniart als Paläobotaniker. Die aktualistische Betrachtungsweise und Methode setzten C. E. A. von Hoff und C. Lyell in der Geologie durch, letzterer übertrug sie auch auf die Geschichte des Lebens. Für Paläontologie und Geologie eröffnete die Deszendenztheorie von Darwin neue wissenschaftliche Wege. Was wir hier mehr angedeutet als geschildert haben, nämlich daß. die Naturwissenschaften auf allen ihren Gebieten einen gewaltigen Neuaufbruch erlebten, ist natürlich längst bekannt. Aber alle diese Neuerungen drangen nur sehr langsam in den Universitätsunterricht ein, der damit zugleich eine neue Zielsetzung erhielt. In der Zeit der Aufklärung trat der Gesichtspunkt des Nutzens stärker in den Vordergrund, z. B. war man bestrebt, die aristote­ lische Physik durch nützlichere Gegenstände zu ersetzen. Neben die reine Mathematik trat eine angewandte, in der u. a. Architectura civilis et militaris und Wasserbaukunst gelehrt wurde. Diese angewandte Mathematik griff damit auf das Gebiet der Physik über; die Grenze war lange Zeit fließend. Im Rahmen der „Cameralwissenschaften “ wurde u. a. Technologie und Vermessungskunde gelehrt.

Mit der wissenschaftlichen Bearbeitung der Forst- und Landwirtschaft begann man auch die zugehörigen botanischen und zoologischen Gebiete systematisch zu pflegen.

Die in der Renaissance an den Fürstenhöfen in Verbindung mit den Kunst­ kammern entstandenen Raritätenkabinette bildeten die Anfänge der natur­ wissenschaftlichen Sammlungen. Im Zusammenhang mit den Akademie­ gründungen gelangten diese Kabinette unter die Obhut von Fachwissen­

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schaftlern und wurden als „Attribute“ der Akademien zu wissenschaftlichen Staatssammlungen. Schließlich traten sie in enge Verbindung mit den Uni­ versitäten (Personalunion zwischen Lehrstuhlinhaber und Sammlungskon­ servator). Diese Verbindung von Akademie und Universität war ja auch ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Universitätsverlegung von Landshut nach München. Selbständige Wissenschaften wurden die Naturwissenschaften an den Universitäten erst, als die Philosophische Fakultät die Übermittlung der vor­ bereitenden Allgemeinbildung ganz an die höheren Schulen abgab und selbst die Aufgabe übernahm, die Lehrer für diese Schulen auszubilden. Das geschah in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nun standen im Zeichen des Neuhumanismus die philologischen Fächer an der Schule weitaus im Vordergrund; der Bedarf an mathematisch und naturwissenschaftlich geschulten Lehrern war sehr gering, stieg aber mit der Entwicklung und Wertschätzung der Technik und der des Realschul­ wesens. Dadurch wurde erst der Resonanzboden geschaffen, der es ermög­ lichte, den Grundsatz der Einheit von Forschung und Lehre im naturwissen­ schaftlichen Universitätsunterricht durchzuführen. Es hat wenig Sinn, den künftigen Theologen oder Richter oder Arzt an moderne naturwissenschaft­ liche Forschung heranführen zu wollen, wenn für ihn der naturwissenschaft­ liche Unterricht nur ein Teil der meist nur zwangsweise aufgenommenen Allgemeinbildung ist. Wohl aber hat es Sinn, dem Lehrer, der diese Allge­ meinbildung vermitteln soll, nicht nur den neuesten Stand der Wissenschaft mitzuteilen, sondern ihn in den Geist der Forschung einzuführen und mög­ lichst selbst an der Vermehrung der Kenntnisse aktiv mitwirken zu lassen, und das nicht nur während des Studiums, sondern auch später neben dem Berufsleben. Tatsächlich sind auf vielen Gebieten der Mathematik und Na­ turwissenschaften wichtige Fortschritte durch Lehrer an höheren Schulen erzielt worden. Als Beipiele seien für die Mathematik Hermann Graßmann und Karl Weierstraß genannt, für die Physik Georg Simon Ohm, für die Biologie Gregor Mendel. Die Geowissenschaften erhielten durch die Sammel­ tätigkeit von Lehrern, die dann meist genaue Kenner ihres Heimatgebietes waren, viel wertvolles Material. In der Chemie scheinen die verhältnismäßig hohen Kosten für eigene Experimente hinderlich gewesen zu sein. — Zu­ gleich wurde damit erstrebt und erreicht, daß auch der Unterricht an den höheren Schulen ein wissenschaftlicher Unterricht wurde.

Diese recht oberflächliche Skizze sollte andeuten, in welcher Situation sich die Naturwissenschaften zu selbständigen wissenschaftlichen Disziplinen an den Universitäten entwickelt haben. Das geschah — ich wiederhole: an den

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Universitäten — im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Die Einrichtung von Laboratorien, Instituten und Seminaren ist eines der Zeichen dieser Ent­ wicklung, an deren Ende die Loslösung der Naturwissenschaftlichen Fakul­ tät aus der Philosophischen Fakultät steht.

Aus diesem Grunde haben wir uns auf die Zeit seit dem Umzug der Uni­ versität von Landshut nach München beschränkt, zumal die vorangegangene Zeit in anderen Arbeiten behandelt ist. Wir haben ferner keine geschlossene Darstellung der naturwissenschaftlichen Fächer versucht, sondern wollen in Einzeldarstellungen beispielhaft einen Einblick in einige wichtige Punkte der Entwicklung geben. Der Gang der Entwicklung wird durch Einzelpersön­ lichkeiten bestimmt. Wir haben uns bemüht, solche Persönlichkeiten auszu­ wählen und in ihrem Leben und Wirken zu schildern, die an der wissen­ schaftlichen Arbeit der Fakultät seit 1826 wesentlichen Anteil und den Charakter der naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre in München mitgeprägt haben.

Die Entwicklung der biologischen Fächer an der Universität München im 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Unterrichts Von Brigitte Hoppe Die Naturwissenschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts ist als Fortsetzung der vorangehenden zu verstehen, in der über Pflanzen und Tiere seit dem 15. und 16. Jahrhundert immer mehr einzelne Beobachtungen gesammelt wurden, die nach Erfindung des Mikroskops um 1600 um solche aus vorher unzugänglichen Bereichen vermehrt wurden, in der seit dem 17. Jahrhundert nach dem Vorbild der Physik das Experiment ebenfalls zur Erforschung von Lebensvorgängen angewandt wurde, und in der Bemühungen um ein Ver­ ständnis der Einzelerkenntnisse zu verschiedenartigen Systematisierungs­ versuchen führten (Entwicklungstheorien seit Leibniz, „StufenleiterSysteme der Lebewesen). Seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts vollzog sich allmählich eine Wandlung im Inhalt und in der Organisation der Wissenschaft. Auf allen biologischen Gebieten wuchsen die Tatsachenkennt­ nisse in vorher nicht gekanntem Maße, neue Fragestellungen und neue Ge­ biete wie etwa die Zytologie wurden erschlossen, neue Forschungsmetho­ den wurden eingeführt. Seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bemühte man sich besonders darum, chemische und physikalische Methoden und Er­ kenntnisse bei der Erforschung von Lebensvorgängen zu berücksichtigen; denn nur auf diese Weise wurde das mechanistische Modell des Organismus der Erfahrung zugänglich. Da die Fragestellungen sich auf immer enger um­ grenzte Spezialprobleme richteten, stieg die Anzahl der Forscher und der Spezialdisziplinen, apparative und literarische Hilfsmittel wurden für die Naturforschung unentbehrlich. Die Folgen für die Organisation der For­ schung und mit deren Ansiedelung an den Universitäten für die Struktur dieser waren unausbleiblich. Hinzu kam, daß sich die Aufgaben der Lehre an den Universitäten wandelten. Ihr Ziel blieb nicht mehr nur die Vermittelung von in praktischen Berufen verwertbarem Wissen, welches in Botanik und Zoologie in der Kenntnis einzelner Pflanzen und Tiere bestand, die dem Arzt und Apotheker Drogen lieferten, und mit denen der Forstwirtschaftler und der Betreuer des Naturalienkabinetts einer der zahlreichen Residenzen um­ gehen mußte. Im späteren 19. Jahrhundert mußte nicht nur der wissen­

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schaftliche Nachwuchs an die Bearbeitung der Vielzahl der drängenden Fragen herangeführt, sondern mußten auch Lehrer für höhere Schulen aus­ gebildet werden. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, wurde die Weiter­ gabe neuer Erkenntnisse und Methoden der Forschung notwendig, was wiederum nur mittels veränderter Lehrmethoden möglich war. Während anfangs noch Demonstrationen durch den Lehrer genügten, mußten bald Praktika für die Studierenden eingeführt werden. Daher mußten die Uni­ versitäten ihre Anstalten nach vielen Richtungen erweitern: die naturkund­ lichen Sammlungen, die botanischen Gärten und die Bibliotheken mußten ausgebaut, Laboratorien und Institute mußten errichtet werden. Im Gefüge der Organisation der Hochschulen bekamen die erweiterten naturkundlichen Fächer ein wachsendes Eigengewicht, das zur Errichtung selbständiger Lehr­ stühle für die sich aufpaltenden Gebiete führte, und das die Verlegung aus der medizinischen in die philosophische Fakultät, danach eine Abgrenzung als Sektion innerhalb derselben und schließlich als selbständige naturwissen­ schaftliche Fakultät, in deren Rahmen auch Botanik und Zoologie außer deren forstwirtschaftlichen Richtungen ihren Platz fanden, zur Folge hatte. Die kurz entworfenen allgemeinen Entwicklungslinien zeichnen sich auch in der Geschichte der biologischen Fächer an der Universität München ab. Ihre besonderen Ausprägungen sollen an einigen kennzeichnenden Stellen genauer untersucht werden und zu der allgemeinen Geschichte der biologi­ schen Wissenschaften und soweit möglich zur Geschichte dieser Disziplinen an anderen deutschsprachigen Universitäten in Beziehung gesetzt werden. Da Leben und Werke der früheren Münchener Vertreter der Botanik und Zoologie verschiedentlich gewürdigt wurden, soll hier das Augenmerk vornehmlich auf ihr Wirken an der hiesigen Universität gerichtet sein. Be­ sonders ihre Lehrtätigkeit und ihre dazu in Beziehung stehenden Forschun­ gen sollen im Vordergrund der Betrachtung stehen, da die Geschichte der wissenschaftlichen Anstalten in der Chronik zur Jahrhundertfeier 1926 und an anderen Stellen (K. v. Frisch 1935, A. Schreiber und J. Poelt 1964) aus­ führlich behandelt wurde.

Wenn wir die historische Entwicklung der biologischen Fachgebiete an der Universität München im 19. Jahrhundert überblicken, heben sich ein­ zelne Perioden gegeneinander ab, während derer bestimmte Betrachtungs­ weisen der belebten Natur und entsprechende wissenschaftliche Frage­ stellungen in Forschung und Lehre vorwalteten, die sowohl von der allge­ meinen Entfaltung der Biologie als auch von den besonderen Münchener Verhältnissen abhängig waren. Unterschiedlich geprägte Abschnitte und wissenschaftliche Richtungen lösten einander ab, liefen nebeneinander her 23*

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oder überschnitten sich zeitweilig. Indem sie hier nacheinander dargestellt werden, tritt die chronologische Abfolge hinter der wissenschaftlichen Ent­ wicklung zurück. Diese verlief in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezüglich der Fächer weitgehend parallel, während sich danach die Wege der Münchener Botanik und Zoologie trennten. Die Zoologie blieb längere Zeit wissenschaftlich und organisatorisch entsprechend ihrer Bindung an die medizinische Fakultät ihrer Tradition verhaftet. Dagegen drangen in die Botanik wie im allgemeinen so auch in München früher neue wissenschaft­ liche Auffassungen ein, die sich ebenfalls in ihrer Organisation äußerten.

Zoologie und Botanik als Systemkunde

Während der ersten Jahrzehnte des Bestehens der Universität in München bis um 1855 standen Zoologie und Botanik, die der philosophischen Fakultät angehörten, im Zeichen der im Anschluß an Linne ausgebildeten Systematik, wie sie gleichzeitig meist durch dieselben Vertreter an den von Anfang an mit der Universität eng verbundenen Staatssammlungen betrieben wurde. Die Kenntnis und Unterscheidung möglichst vieler einzelner Pflanzen- und Tierformen und ihre systematische Einordnung auf Grund von als kenn­ zeichnend erachteten makroskopischen Körperteile waren das wissenschaft­ liche Ziel, das zu derselben Zeit gleichermaßen an anderen Universitäten verfolgt wurde. Daß der als außerordentlicher Professor 1826 - 32 Zoologie lehrende Johann Georg Wagler (1800 - 32), zugleich Adjunkt an der zoo­ logischen Sammlung, in seiner als „Allgemeine Zoologie“ angekündigten Vorlesung (WS 1826/27, 1829/30) Specieskunde betrieb, bezeugte der damals in München studierende Botaniker Alexander Braun. Dieser kennzeichnete den Inhalt der „Amphibiologie“ (SS 1828), die das Hauptforschungsgebiet Waglers war, der den Namen „Amphibium“ prägte, als entsprechend: „Er schreibt ein systema avium und systema amphibiorum, die eigentlich spe­ cies avium und amphibiorum heißen müßten“ (A. Braun in: C. Mettenius, 1882, S. 114; vgl. die Werke Waglers von 1830 und 1831).

Gleichzeitig las als Ordinarius Gotthilf Heinrich Schubert (1780 - 1860) im Rahmen seiner allgemeinen Naturgeschichte über systematische Zoologie und außerdem in eigenen Vorlesungen über spezielle Tiergruppen wie die vier höheren Tierklassen (Säugetiere, Vögel, Amphibien, Fische) und ske­ lettlose, ungegliederte Tiere (SS 1827), unter denen er „Weich- und Schaalenthiere“, „Würmer“, „Pflanzen- und Infusionsthiere“ verstand. Mit der noch zu ergänzenden Klasse der Insekten, denen als „ungeflügelte Insekten“, wie Schubert selbst feststellte, „gar sehr verschiedene Thierarten“ angeglie-

Abb. 1: Karl Friedrich Schimper: Vorträge über die Pflanzen, geh. in München im WS 1831/32, Nachschrift mit Unterstreichungen und Ergänzungen von der Hand L. Radlkofers. Auf der wiedergegebenen Seite stehen als von Schimper in die Morphologie eingeführte Begriffe Divergenz, Convergenz, Wickel als Infloreszenz­ verzweigungstypus (Bibliothek Bot. Inst. Univ. München)

Abb. 2: Karl Friedrich Schimper: Titelseite der Vorlesungs­ nachschrift „Ueber Classification und Schöpfung des Thier­ reichs und die damit im Zusammenhänge stehenden geolo­ gischen Erscheinungen“, vorgetr. in München im WS 1835/36 (Schimper-Archiv, Karlsruhe)

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Abb. 8: Richard Hertwig: Porträt, stehend, um 1925 (Zoolog. Sammlung des Bayer. Staates)

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arbeitete, der Handschrift ein ausführliches Verzeichnis ihres Inhalts bei­ legte. Teile desselben wurden durch seinen Unterricht, in dem er „morpho­ logische Demonstrationen“ durchführte, wie durch den seiner Kollegen auch an der Universität München weitergegeben.

Zur weiteren Vorlesungstätigkeit von Karl Friedrich Schimper sei ange­ merkt, daß er außer botanischen geologische und zoologisch-paläontologische Vorträge hielt. In solchen stellte er in München die Klassifikation des Tier­ reichs nach Cuvier mit eigenen Ergänzungen bereits vor G. H. Schubert dar, wie eine Vorlesungsnachschrift vom WS 1834/35 (Hschr. in der UB Heidel­ berg; 1883 auch gedruckt) und eine neu aufgefundene Nachschrift vom WS 1835/36 „Ueber Classification und Schöpfung des Thierreichs und die damit im Zusammenhang stehenden geologischen Erscheinungen“ (SchimperArchiv) kundtun. In derselben Periode wurzelte geistig auch die durch Carl Theodor Ernst von Siebold (1804 - 85) in München vertretene Zoologie. Die nämlichen wissenschaftlichen Bestrebungen der vergleichenden, eine Verallgemeine­ rung auf Grund sorgfältiger Einzelstudien suchenden Naturbetrachtung verbanden ihn seit ihrem gemeinsamen Wirken an der Universität Freiburg mit Alexander Braun und ließen ihn mit diesem die Begründung einer „Zeit­ schrift für wissenschaftliche Botanik und Zoologie“ planen (vgl. Alexander Braun in: C. Mettenius, 1882, S. 383 - 400). Durch deren Programm sollten die Zoologen dazu angeregt werden, daß sie „mehr als bisher geschehen, der Naturgeschichte, der Anatomie und Physiologie der Tiere ihre Bestrebun­ gen zuwenden möchten, da das bloße Systematisieren, das Aufstellen von neuen Gattungen und Species doch allein nicht die Wissenschaft der Zoolo­ gie ausmacht“ (Siebold am 2. 2. 1851 in Breslau, zit. nach H. Körner, 1967, S. 307). Hierdurch wurde dasselbe wissenschaftliche Ziel bezeichnet, das Treviranus, Döllinger und früher Blumenbach verfolgten, welch letzterem Siebold entscheidende Anregungen für seine zoologischen Forschungen ver­ dankte. Seine Arbeiten der dreißiger bis fünfziger Jahre über den Generations­ wechsel von parasitären Würmern (erste zusammenfassende Darstellung des Phänomens 1842 von J. J. S. Steenstrup) und über die Parthenogenesis bei Insekten (1856, 1871) schlugen sich in Spezialvorlesungen nieder; „Ueber Zeugung des Menschen und der Thiere“ las er mehrmals vom WS 1854/55 bis zum WS 1857/58, und im WS 1856/57 sprach er „Ueber Parasiten des Men­ schen und der Thiere“. Seine Forschungen berücksichtigte Siebold auch in seinen Hauptvorlesungen (Nachschriften von Ludwig v. Ammon in der Bibliothek des Deutschen Museums, WS 1869/70 und SS 1870 Zoologie I, II 24

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und Vergl. Anat.). In seiner „Zoologie“ behandelte er zu Beginn die Dar­ winsche Theorie der Entstehung der Arten, die er als „herrliche Reform“ (an Haeckel am 14. 2. 1874) grundsätzlich anerkannte, an der er jedoch wie viele Zeitgenossen rügte, daß „der Zufall eine zu wichtige Rolle bei der Entstehung der Thier- und Pflanzenart“ spiele. Der folgende allgemeine Teil nahm im Verhältnis zum gesamten Text ungefähr den gleichen Raum ein wie in den Lehrbüchern seines Vorgängers (Schubert 1836/37) und seines Nachfolgers (R. Hertwig 1891/92). Im Rahmen der allgemeinen Entwicklungs­ physiologie legte er die durch ihn nachgewiesene Parthenogenesis an Schmetterlingen (Psychiden) und Bienen dar, wobei er nicht versäumte, die früheren Beobachtungen von J. Dzierzon und dessen Züchtungsmethode der beweglichen Rahmen in einem Kasten zu würdigen. Bis zu seiner Zeit als „Urzeugung“ gedeutete Fälle der Entstehung von niederen Tieren ver­ suchte Siebold parthenogenetisch oder durch „Keime“ oder „Eier“, die „viele Jahre latent bleiben können“, zu erklären. Die früher angenommene „Ur­ zeugung“ von Parasiten führte ihn zur Besprechung seines weiteren For­ schungsgebietes, des Generationswechsels der Saug- und Bandwürmer. Die vorher als Vertreter verschiedener Ordnungen aufgefaßten, durch Siebold als Finne und geschlechtsreifer Bandwurm erkannten Entwicklungsstadien, deren Körpermerkmale der Hörer andeutungsweise zeichnete, wurden im speziellen Teil den Cestodes zugeordnet. In der traditionellen Frage des Unterschiedes von Tier und Pflanze (vgl. G. H. Schubert, 1837, S. 1 - 5) schloß sich Siebold unter Aufgabe der aristotelischen Auffassung besonders bezüg­ lich der Bewegungsfähigkeit und der chemischen und physiologischen Eigen­ schaften der als übereinstimmend erkannten pflanzlichen und tierischen Grundsubstanz, des Protoplasmas, neueren Arbeiten an (u. a. F. Unger, Die Pflanze im Momente der Thierwerdung, 1843; W. Kühne, Lehrb. der physio­ logischen Chemie, 1868), nach denen die „Gränze noch nicht gefunden wurde“. Eine kurze Darstellung der Organsysteme leitete zum speziellen Teil der Zoologie über, dem das durch Siebold verbesserte System von Cuvier zugrunde lag (als selbständige Gruppen Vermes und Protozoa ab­ getrennt, letztere als Einzeller charakterisiert). Als Ergänzung dieses Teils der Vorlesung empfahl Siebold eingangs das von A. F. A. Wiegmann (auf der ersten Seite der Nachschrift in „Wiechmann“ entstellt) und J. F. Ruthe begründete „Handbuch der Zoologie“ in der 2. Auflage von F. W. Troschel von 1843, das nach dem ursprünglichen Cuvierschen System eingeteilt war und eine nur achtseitige allgemeine Einleitung enthielt. Während dagegen Siebold vor allem den allgemeinen Teil seiner „Zoologie“ erweitert hatte, stellte er in seiner „Vergleichenden Anatomie“ außer dem um zwei auf

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sechs Typen erweiterten Cuvierschen System kaum eigene Ergebnisse dar, da die durch ihn zusammenfassend bearbeiteten Wirbellosen (Lehrbuch 1848) nur in einer kurzen Übersicht behandelt wurden. Die wichtigsten Tatsachen der Zellenlehre teilte er zu Beginn und solche der Gewebelehre bei den einzelnen Organen mit, die beide in der allgemeinen Zoologie un­ berücksichtigt geblieben waren.

Indem Siebold weder Probleme dieser Gebiete noch neuere Fragen seines Hauptarbeitsgebietes, der Entwicklungsphysiologie, in Angriff nahm, mußte er, der sich um die Mitte des Jahrhunderts mit seinen Kollegen A. Kölliker (Würzburg), F. Leydig (Tübingen, Bonn), R. Leuckart (Gießen, Leipzig) und C. Gegenbaur (Jena, Heidelberg) um eine Erneuerung der Zoologie be­ müht hatte, danach allmählich seine Forschungsziele und -methoden durch neue verdrängt sehen. Daher schrieb er 1880 an Haeckel, der wie er z. B. „Schnittserien“ verachtete: „Ich beobachte die lebenden Tiere in ihrem Tun und Treiben, nicht bloß ihre Querschnitte, und erwarte mit Geduld die Resultate, die mir die von mir mittelst Versuchen auf die Probe gestellten Tiere (N. B. ohne Tierquälerei!) liefern. Wenn dann diese Resultate meinen Erwartungen entsprechen, ist natürlich meine Freude groß. Freilich gehört dazu Zeit und Geduld“ (München, 16. 2. 1880, zitiert nach H. Körner, 1967, S. 335 f.).

Den hierin angesprochenen Wandel der Fragestellungen kennzeichnete Richard Hertwig in einem Rückblick auf die Entwicklung der Zoologie an deutschen Universitäten 1893 als entscheidend: „Immer seltener werden Männer wie Leydig, C. Th. v. Siebold, bei denen die Freude am Naturbeobachten im Vordergrund steht, ... Viel mehr überwiegt die planmäßige Forschung, welche von einer bestimmten Fragestellung ausgeht, um sich das zur Beantwortung geeignete Object zu suchen.“ (R. Hertwig in: Die deutschen Universitäten, hrsg. v. W. Lexis, Bd. 2,1893, S. 100.)

Diese mit der Erweiterung und Spezialisierung der Zoologie einher­ gehende wissenschaftliche Veränderung bedingte eine organisatorische an den Universitäten, die Verlegung der allgemeinen Zoologie, die vorher meist im Rahmen der vergleichenden Anatomie und Physiologie betrieben wurde, von der medizinischen auf selbständige Lehrstühle in der philoso­ phischen Fakultät (als eine der letzten Universitäten errichtete Jena 1865 eine ordentliche Professur für Haeckel, vgl. G. Uschmann, 1959, S. 50). In München, wo in der philosophischen Fakultät neben der durch Schubert besetzten (1826 - 53) ordentlichen Professur für Naturgeschichte eine solche für Zoologie seit 1836 durch den Systematiker J. A. Wagner vertreten wurde, schlug sich diese allgemeine Entwicklung in der Laufbahn Siebolds nieder. Er hatte seiner Ausbildung gemäß zuvor in Erlangen, Freiburg und Bres­ 24*

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lau vergleichende Anatomie, Zoologie und Physiologie in der medizinischen Fakultät vertreten und wurde zunächst auch in dieselbe in München als Professor für Physiologie und vergleichende Anatomie berufen, als welcher er seine Vorlesungen im SS 1853 aufnahm. Die ihm im September 1853 außerdem als Nachfolger Schuberts übertragene Professur in der philoso­ phischen Fakultät übernahm er im Sommer 1854. Zoologie las er erstmals im WS 1854/55 unter Ankündigung in der medizinischen Fakultät, während sein Name erstmals im SS 1857 im Vorlesungsverzeichnis auch unter der philosophischen Fakultät mit der Verweisung auf die medizinische aufgeführt wurde und seine Zoologie erstmals im WS 1958/59 ausdrücklich ebenfalls in der philosophischen Fakultät angekündigt wurde. Mit der Übernahme der Leitung der zoologisch-zootomischen Staatssammlung 1854, für deren Ordnung und Erweiterung er sich tatkräftig einsetzte, erhielt Siebold die zu dieser Zeit teilweise andernorts aufgegebene Pflege der syste­ matischen Zoologie an der Universität aufrecht. Diese Verbindung der Ämter bliebt unter seinem Nachfolger erhalten, während die vollständige Verlegung der Zoologie und vergleichende Anatomie an die philosophische Fakultät durch ihn vollzogen wurde. Zoologie als Experimentalwissenschaft Der durch Siebold als Nachfolger ins Auge gefaßte, aber durch die Kol­ legen abgelehnte Haeckel, der das Münchener Amt ebenfalls für erstrebens­ wert hielt, ehe er nach zehnjährigen Bemühungen 1883 in Jena ein eigenes zoologisches Institut beziehen konnte, schrieb seinem nach Siebolds Tod (7. April 1885) von Bonn nach München berufenen Schüler Richard Hertwig am 24. Juni 1885: „Lieber Freund und Kollege! Über Ihren ausführlichen Brief und besonders über die sehr befriedigenden Nachrichten über Ihre schöne Stellung in München habe ich mich sehr gefreut. Ich sehe niemand lieber als S i e — meinen besten Schüler! — in der wich­ tigen und dankbaren Stellung, die durch Siebold zu so hohen Ehren gekommen ist, und deren Erlangung vor 10 und 15 Jahren das Ziel meines Ehrgeizes war. München schien mir damals in jeder Beziehung so sympathisch und begehrens­ wert, daß ich es jeder anderen Universität vorgezogen hätte!“ (zitiert nach V. Franz, 1943, S. 47).

Obwohl die äußeren Verhältnisse für die zoologische Arbeit an der Uni­ versität München nicht günstig waren, da mangels eines eigenen Gebäudes (Siebold hatte in dem durch ihn 1854 gegründeten physiologischen Institut gelehrt) das zoologische Institut in immer enger werdenden Räumen der alten Akademie untergebracht war, zog mit Richard Hertwig die moderne

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experimentelle Zoologie in Forschung und Lehre an der Universität ein. Während seines vierzigjährigen Wirkens vermochte er hier die vielgerühmte, damals bedeutendste Stätte und Schule der Zoologie zu errichten. Die For­ schungsarbeit des „Instituts“ begann mit Theodor Boveri Anfang Mai 1885. Die zunächst „übliche kleine Anzahl“ von wissenschaftlichen Mitarbeitern stieg um 1900 - 1914 zeitweilig bis auf 35 an, unter ihnen auch viele auslän­ dische Zoologen, wie der ehemalige Assistent R. B. Goldschmidt (1959, S. 87 - 97) berichtete, die durch den wissenschaftlichen Ruf Hertwigs an­ gezogen wurden. Dieser, der durch die zusammen mit seinem Bruder Oscar in den 70er Jahren durchgeführten Arbeiten besonders mit der Aufklärung des Befruchtungsvorganges an Seeigeln verknüpft ist, wurde vielfach durch seine Schüler im einzelnen gewürdigt (vgl. bes. K. v. Frisch, Gedächtnisrede, 1938). Hier soll nur auf sein eigenes Hauptarbeitsgebiet hingewiesen wer­ den, das ihn bis an sein Lebensende gefangen hielt, die Protozoenforschung; denn seine dabei entwickelte neuartige Auffassung über die Bedeutung eines bestimmten Massenverhältnisses zwischen Zellkern und Plasma (KernPlasma-Relation) für die normale und pathologische Zellentwicklung be­ schäftigte auch manche der zu ihm strömenden jungen Zoologen. Die durch Hertwig entdeckte künstliche Entwicklung der Eizelle durch chemische Reize und seine ihn jahrelang beschäftigenden Versuche der künstlichen Ge­ schlechtsbestimmung bei Fröschen, welch letztere ihm nicht die erhofften Ergebnisse brachten, regten bedeutsame Arbeiten über Entwicklungsphy­ siologie und Sexualität an.

Als wichtige Neuerung im Unterricht führte Hertwig ein zoologisches Praktikum ein, das er stets selbst betreute, und an dem außer HauptfachZoologen auch Lehramtskandidaten und Ärzte teilnahmen. Er hielt es seit seinem ersten Münchener Semester im Winter 1885/86 zweimal wöchentlich zweistündig ab. Derartige Praktiken bestanden an anderen Universitäten bereits, z. B. in Jena unter Haeckel und in Heidelberg unter Otto Bütschli. R. Hertwig führte in seinem Praktikum mit besonderem Eifer Ergebnisse seiner Forschungen vor. Die mit dem „Befruchtungstag“ verbundenen wochenlangen Vorbereitungen und Aufregungen — der Befruchtungsvorgang bei Seeigeln wurde an frischem, eigens vom Mittelmeer herbeigeschaff­ tem Material demonstriert — schilderte R. B. Goldschmidt humorvoll (1959, S. 76 f.), und der ehemalige Assistent O. Koehler beschrieb die gerade im „Kleinen zoologischen Praktikum“ stark hervortretende Lehrfreudigkeit Hertwigs (in: Die Naturwissenschaften 8,1920, S. 780 - 782). Seine didaktischen Fähigkeiten fanden in seinem „Lehrbuch der Zoologie“ Niederschlag, das aus seinen Hauptvorlesungen über allgemeine und spe-

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zielte Zoologie und über vergleichende Anatomie hervorging (außerdem trug Hertwig im SS 1887 und SS 1889 über sein früheres Arbeitsgebiet, Publikationen 1878,1879, „Vergleichende Entwicklungsgeschichte“ vor), und das von 1891/92 bis 1931 fünfzehn Auflagen erlebte. Durch einen Vergleich der ersten Auflage dieses Lehrbuchs mit den Vorlesungen von Siebold lassen sich durch Hertwig eingeführte Veränderungen des Lehrstoffs ermitteln, während die einzelnen Auflagen, von denen die erste mit der fünften von 1900 und der zweitletzten, noch während der Amtszeit von Hertwig entstan­ denen von 1924 verglichen werden soll, die Aufnahme neuer Forschungs­ ergebnisse bekunden. Die durch Hertwig behandelten Gebiete stimmten größ­ tenteils mit den durch Siebold berücksichtigten überein, sie waren indessen um Einzelheiten stark erweitert und um einige Problemkreise ergänzt wor­ den. Bis zur 14. Auflage kamen wesentliche Teile der Physiologie, der Zytologie und als neues Gebiet die Genetik hinzu. Eingangs und wie Siebold stellenweise innerhalb des Textes wies Hertwig auf die Geschichte der Zoologie hin, wobei er ebenfalls die Darwinsche Theorie als „einen dauern­ den Grundpfeiler der zoologischen Forschung“ ausführlich darlegte. Wäh­ rend 1891 der Haeckel-Schüler noch kämpferisch den „Sieg“ des Deszen­ denzprinzips durch den Darwinismus betonte (S. 43), sprach er 1900 ruhiger und sicher von der „Herrschaft“ desselben (S. 46). Die in der allgemeinen Zoologie durch Hertwig gegebene Darstellung der allgemeinen Anatomie war wesentlich umfangreicher als die durch Siebold vorgetragene Übersicht über die Organsysteme. Außer einer solchen, die Hertwig nach 1900 um ein­ zelne Abschnitte ergänzte (über Hautbildungen, 1924, S. 91 f.; über die seit den 80er Jahren erarbeitete „Entwicklungsmechanik“ von W. Roux, 1924, S. 90), widmete er ein bis 1900 (S. 51 - 59, S. 5’6 f. z. B. das Centrosom und dessen 1887 durch E. van Beneden und T. Boveri beobachtete Teilung und die Mitose beschrieben) vollständig überarbeitetes Kapitel den Grundlagen der Zytologie und eines der Gewebelehre. Im Zusammenhang mit der „all­ gemeinen Entwicklungsgeschichte“ erörterte auch Hertwig die alte Frage der „Urzeugung“ (1891/92, S. 106 - 108; 51900, S. 115 f.; 141924, S. 126 f.), da deren Diskussion durch den Darwinismus von neuem belebt worden war, wie er zutreffend anführte, zugleich jedoch in der Fragestellung verlagert wurde. Während die Vorstellung einer spontanen Entstehung niedriger Organismen in der Gegenwart durch die Versuche von Pasteur in den 60er Jahren end­ gültig abgetan worden war, wurde die Hypothese einer ersten Entstehung von lebender Substanz aus unbelebter Materie durch die Abstammungs­ lehre als ein „logisches Postulat“ vertreten. Die inzwischen vollständig anerkannte Fortpflanzungsweise der Parthenogenesis und den Generations-

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wechsel stellte Hertwig viel kürzer dar, als ihr Erforscher Siebold es getan hatte. Hertwig indessen widmete den z. T. durch ihn und seinen Bruder Oscar erarbeiteten neueren Forschungsergebnissen der „allgemeinen Er­ scheinungen der geschlechtlichen Fortpflanzung“ (Reifung der Geschlechts­ zellen, Befruchtung, Furchung, Keimblätterbildung) ein umfangreiches, in späteren Auflagen erweitertes Kapitel, in welchem er nach 1900 unter dem Abschnitt „Befruchtung“ auf neun Seiten die Vererbungslehre behandelte (141924, S. 136 - 145), während er vorher nur den Begriff der Vererbung erläutert hatte (1891/92, S. 117; 51900, S. 125 f.). Hierin ging er auf den Mendelismus ein und erwähnte die „Idioplasma“-Theorie von C. W. Nägeli und die „Determinantenlehre“ von A. Weismann. Nach Mitteilung neuerer, durch den Darwinismus geförderter Untersuchungen über „Beziehungen der Tiere zueinander“ wie Stock- und Staatenbildung, Parasitismus und Symbiose (1891/92, S. 128 - 134) prüfte Hertwig die durch frühere Biologen im Anschluß an Aristoteles (Hertwig führte den englischen Humanisten E. Wotton und Linne auf) genannten Unterscheidungsmerkmale von Tier und Pflanze, die er als unzureichend zur Festlegung einer scharfen „Grenze zwischen Tier- und Pflanzenreich“ erachtete (1891/92, S. 134 - 136). Schließ­ lich führte Hertwig einen Überblick über die seit Beginn des 19. Jahrhun­ derts erarbeiteten Ergebnisse der Tiergeographie ein, indem er die in der ersten umfassenderen Darstellung von A. R. Wallace 1876 unterschiedenen Regionen aufzählte (1891/92, S. 136 - 140). Dieses Kapitel ergänzte Hertwig um eine Übersicht über die „zeitliche Verbreitung der Tiere“ und besonders um paläontologische Einzelheiten (51900, S. 14'6-151; 141924, S. 163 - 169). Solche fügte er ebenfalls an vielen Stellen des speziellen Teiles seiner Zoologie ein, in dem er z. B. der „Paläontologie der Ungulaten“ (1891/92, S. 566; ergänzt 51900, S. 593) und der um die Jahrhundertwende aufblühen­ den der Primaten (51900, S. 601 f.; verdoppelt 141924, S. 634) eigene Ab­ schnitte widmete. Das auf den traditionellen Stämmen aufgebaute System, auf dessen fragwürdige Anordnungen Hertwig z. T. selbst hinwies (1891/92, S. 14; 51900, S. 15), wurde in späteren Auflagen vielfach überarbeitet. Teil­ weise aus seinen eigenen und aus seiner Schüler Forschungen entsprangen bis 1924 Erweiterungen der Kenntnisse über die Fortpflanzung der Proto­ zoen (vgl. 1891/92, S. 143 f.; 51900, S. 154 f.; 141924, S. 172 - 174); auf die Bedeutung der seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in großer Anzahl ent­ deckten Krankheitserreger dieser systematischen Gruppe wurde 1924 (S. 175) hingewiesen. Bis zu den Grenzgebieten der Zoologie wurden also ständig neue Tatsachen aufgenommen, wobei die das Lehrbuch auszeich­ nende einprägsame, übersichtliche Anordnung des Stoffes gewahrt blieb.

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Einen Einblick in Hertwigs durch die Lehrtätigkeit bestimmten Semester­ alltag vermittelt ein Brief an den Forschungsreisenden G. Merzbacher, den er am 21. November 1906 eigenhändig schrieb (Bayer. Staatsbibliothek Mün­ chen, Merzbacheriana II). „Hochverehrter Herr Doctor! Mir that es herzlich Leid, daß Sie mich zweimal verfehlt haben. Am Morgen war ich sehr in Anspruch genommen, da mein II. Assistent krank war. Des Nach­ mittags war ich im Institut, aber unten in der Unterrichtssammlung mit der Vorbereitung meines Collegs beschäftigt. Um nun zu verhüten, daß Sie nicht zum dritten Mal vergeblich kommen theile ich Ihnen mit, daß ich morgen von 9 - V2II im Institut bin. Von 11-1 Uhr ist Doctor Examen und zwar bei Goebel im botanischen Institut. Nachmittags muß eine Demonstration im Colleg vorbereitet werden. Am Freitag früh habe ich bisher noch keine Abhaltung, wohl aber Samstag früh durch die Rectoratsfeier Mit den besten Grüßen Ihr hochachtungsvoll ergebener R. Hertwig.“

Die Beziehung zu Merzbacher erwuchs aus einem weiteren Pflichtenkreis Hertwigs, aus der Leitung der zoologischen Staatssammlung, die dadurch wie durch die räumliche Verbindung mit dem zoologischen Institut in der alten Akademie in enger Beziehung zur Universität stand. Daß er die Be­ treuung des Museums nicht nur aus Pflichtbewußtsein ernst nahm, sondern ebenso wie diejenige seines Instituts aus wissenschaftlichem Interesse und persönlicher Begeisterung für die Sache, bezeugen weitere, teilweise recht umfangreiche Briefe an Merzbacher, in denen seine Haltung deutlich und unmittelbar zutage tritt (Bayer. Staatsbibliothek München, Merzbache­ riana II). Ihr Inhalt vermag das bisherige Bild von R. Hertwig als Museums­ direktor und zugleich das von der damaligen Lage der systematischen Zoologie zu ergänzen. Als umfassend ausgebildeter Zoologe verfügte Hert­ wig über gründliche systematische Kenntnisse, die der Schüler Haeckels aber im Gegensatz zu seinen älteren Kollegen in den neuerkannten umfas­ senden Zusammenhang der Deszendenzlehre einzuordnen wußte. Ihre Er­ forschung und Darstellung bestimmte den Inhalt einer Wunschliste, die er dem sich zu einer Expedition rüstenden Merzbacher am 12. Mai 1907 mit­ teilte. „Hochverehrter Herr Professor! Herr Dr. Leisewitz [seit 1902 Assistent an der zoolog. Sammlung] theilt mir mit, daß Sie möglicherweise in ein Gebiet gelangen werden, bis zu dem die Wildpferde (Equus Przeswalski [eigentlich: przewalskii]) vordringen. Dasselbe spielt bei allen Erörterungen über die Abstammung der Pferde eine sehr wichtige Rolle. Für unser Münchener Museum würde daher der Besitz eines solchen von der größten Bedeutung sein. Wenn es Ihnen oder Snr. Kgl. Hoheit dem Prinzen möglich sein

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sollte, ein Wildpferd zu erlegen, so möchte ich dringend darum bitten. Voraus­ sichtlich werden die seltenen Objecte in der nächsten Zeit immer schwieriger zu erhalten sein.

Des weiteren bittet Hertwig um echte Moschustiere: Wollen Sie auch Rockinger auf die Hautparasiten der Thiere aufmerksam machen. Auf Steinböcken und Wildschafen leben Lausfliegen (Pupiparae). Ein Specialist, der die Gruppe behandelt, meint daß die Pupiparen der Steinböcke und Wildschafe Central-Asiens ein ganz besonderes Interesse böten. Wahrschein­ lich ständen sie den Urformen der Gruppe am nächsten.“

Ferner legt Hertwig nahe, die wenig erforschte „Höhenthierwelt“ zu beach­ ten, und schließt mit Wünschen und Grüßen.

Von Hertwigs Sorgen um die finanzielle Ausstattung des Museums kündet ein Schreiben vom 21. November 1907 (S. 2 f.): „Die Ansprüche an die Sammlung wachsen enorm, die Mittel nicht. Zum Glück hat der Minister ... sich persönlich davon überzeugt, in welch schwieriger Situation sich unsere Sammlung befindet und hat alle unsere Forderungen in den Etat eingesetzt: einen neuen Custos für Ornithologie, einen neuen Assisten­ ten und einen neuen Diener, ferner jährlich 3000 Mk für Hilfsarbeiter; dazu ein Extraordinarium für Schränke, Gläser etc. über 90 000 Mk, davon 2/a für die kom­ mende Finanzperiode, 1/3 für die übernächste. Wenn die Kammer dies Geforderte bewilligt, können wir endlich einmal aufathmen.“

Am Ende desselben Briefes (S. 11 f.) kommt zum Ausdruck, daß sogar ausstellungstechnische Fragen Hertwig bewegten, und daß er sich um Neu­ bauten bemühte, statt derer jedoch in den Jahren ab 1908 nur weitere Räume in der alten Akademie den Sammlungen zur Verfügung gestellt wurden. 1907 schrieb Hertwig: „Als I. Vorsitzender der deutschen zoologischen Gesellschaft habe ich kürzlich die Einweihung des neuen Senckenbergischen Museums in Frankfurt mitgemacht und habe die Gelegenheit benutzt nun auch das Darmstädter Museum zu besich­ tigen. Dabei ist mir aufgefallen wie wichtig es für Schausammlungen ist, die Be­ leuchtung so einzurichten, daß das Licht direct in die Schränke fällt und der Besucher in einem mäßig beleuchteten Raum steht. Was in Darmstadt nur in beschränkter Weise durchgeführt ist, können wir in München in großem Maß­ stab ausführen, wenn wir nur Neubauten bekommen. Ich habe in einem heute abgehenden Bericht den ersten Vorstoß nach dieser Richtung gemacht.“

Die wissenschaftliche Pflege der speziellen Zoologie, die um die Jahr­ hundertwende durch Einbeziehung ökologischer Probleme neu belebt wurde, woran ihr Münchener Vertreter Franz Doflein maßgeblichen Anteil hatte, lag Hertwig nicht nur im Hinblick auf die Sammlung, sondern auch als Grundlage für die Ausbildung der Lehramtsanwärter am Herzen; denn für den Biologieunterricht an höheren Schulen, dessen damalige Lage der heutigen nur allzusehr glich, setzte er sich tatkräftig ein (vgl. Carl Zimmer,

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in: Die Naturwissenschaften 8, 1920, S. 778 - 780). Daher förderte er ihre Vertretung auch an der Universität, die der langjährige Betreuer der Samm­ lung Franz Doflein (habilitiert 1903) bis 1912 wahrnahm. Ihm folgten Carl Zimmer bis 1923 und der vorher in Straßburg tätige Ludwig Doederlein. Nachdem R. Hertwig, dem noch bis zum 3. 10. 1937 in geistiger Frische zu leben vergönnt war, in den Ruhestand getreten war, wurde sein Schüler Karl von Frisch 1925 sein Nachfolger. Ihm gelang es, der Münchener Zoologie mit dem eigenen Institut, wie sie nach dem Jenenser Vorbild andernorts (z. B. Erlangen, Freiburg, Heidelberg) in kleinerem Maßstab um 1890 er­ richtet worden waren, 1935 die notwendige äußere Grundlage zu ihrem weiteren Gedeihen zu schaffen. Botanik in Verbindung mit Physik und Chemie

Ein in seiner historischen Stellung als Mittler zwischen älteren biologi­ schen Forschungsrichtungen und den die neuere experimentelle Wissen­ schaft begründenden Forschungen Richard Hertwig vergleichbarer, ihn in seiner noch tiefer im 19. Jahrhundert wurzelnden wissenschaftlichen Viel­ seitigkeit übertreffender Biologe prägte die Münchener Botanik in der zwei­ ten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Carl Wilhelm Nägeli (1817 - 91). Für die Berufung des Züricher Botanikers, der nach systematischen Arbeiten über höhere Pflanzen (Cirsien, Hieracien) und Kryptogamen (besonders Algen) durch pflanzenanatomische und zytologische Untersuchungen hervorgetre­ ten war und der danach der mechanistischen Naturauffassung folgend, wie sie u. a. E. du Bois-Reymond und die mit Nägeli korrespondierenden A. Fick und J. Sachs vertraten, seine physiologischen Studien mit physika­ lischen und chemischen Fragestellungen zu verbinden trachtete, hatte sich Justus v. Liebig persönlich eingesetzt (Brief an Nägeli über Berufungs­ bedingungen vom 4. Februar 1857, Privatbesitz). Auch der Vorgänger Mar­ tius, der trotz seiner anders gerichteten eigenen Forschungen an den Ar­ beiten des jüngeren Kollegen, etwa in entwicklungsphysiologischen Fragen, Anteil zu nehmen wünschte, um „aus Ihrem Munde Perlen zu sammeln“, wie er am 12. März 1857 an Nägeli schrieb (Brief in Privatbesitz), begrüßte ihn mit warmen Worten. Er legte Nägeli vor allem ein Werk ans Herz, das er selbst mit wissenschaftlichem Weitblick geplant hatte, dessen Vollendung ihm aber durch den Bau des „Glaspalastes“ vereitelt wurde: die Errichtung eines pflanzenphysiologischen Instituts, wie sie nach dem Vorbild der seit den 40er Jahren eingerichteten medizinisch-physiologischen, zunächst haupt­ sächlich der Forschung dienenden Institute (z. B. unter Purkinje in Breslau) und nach dem Beispiel von Schleidens vor allem für den Unterricht benütz-

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ten physiologischen Institut in Jena (1845 gegr., nachdem 1843 ein physiolo­ gisches Praktikum eingeführt worden war) auch andernorts gegründet wur­ den, den Bau von Gewächshäusern, die Erweiterung des botanischen Gar­ tens. Martius, der die Verdienste Nägelis auch anläßlich der Empfehlung zur Aufnahme in die Akademie am 27. Juni 1859 würdigte (Sitzungsprotokoll der math.-physikal. Klasse, Beilagen, Jahrg. 1859), schrieb am 8. April 1857 an Nägeli (Brief in Privatbesitz): „Hochgeehrter Herr und Freund! Da ich, nach der Nachricht in der Allgem. Zeit., für gewiß annehmen darf, daß Sie mein Nachfolger im Amte sind, so kann ich es mir nicht versagen, Ihnen aus­ zusprechen, wie sehr ich dazu dem Institute u. mir selbst freudig Glück wünsche. Nachdem es so lange Zeit gleichsam verwaißt war, wird das Auge u. die Hand des Vorstandes Wunden heilen, die mir, seit 1814 an ihm thätig, sehr nahe ge­ gangen waren. Der Einbau des Industrie-Gebäudes, welcher die Katastrophe her­ beigeführt hat, bringt nun die Nothwendigkeit mit sich, nach einem großen Maß­ stabe und mit reicheren Mitteln als sie mir zu Gebote standen, umzugestalten, neuzuschaffen. Wenn Sie auch bei diesem Geschäfte nur noch auf die Ruinen dessen stoßen, was ich mit Zuccarini gethan, erworben, geordnet hatte, so werde ich doch die Genugthuung haben, daß Sie in dem Garten, so wie er war und noch in dem von mir 1852 herausgegebenen „Wegweiser“ beschrieben vorhanden ist, ein organisches Ganze erkennen, — auf einer lebendigen Anschauung vom gesammten Pflanzenreiche ruhend, nach Boden, Klima, ökonomischen Mitteln möglichst reich u. vielseitig ausgestattet u. besorgt — mit jener Neigung erworben u. gepflegt, die man seinen eigenen Schöpfungen widmet. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß ich mit herzlicher Theilnahme alle Erfahrungen Ihnen zu Gebote stellen werden, die ich während eines so langen Zeitraums sowohl für die Einrichtung des Geschäftsbetriebes, als über die Pflege u. Förderung des Einzelsten gemacht habe; u. ich finde für den Rest der Tage, die mir etwa noch beschieden seyn mögen, eine süße Befriedigung in dem Gedan­ ken, daß Sie mit Vertrauen u. Neigung auch mir in literarischem Verkehr u. geisti­ gem Austausch nahe treten werden. Gerne anticipire ich hierin ein angenehmes Mittel, um die bitteren Erfahrungen bei einem Unternehmen zu vergessen, das man in der Kammer der Abgeordneten ein Werk der Eilfertigkeit und Eitelkeit genannt hat. Ich beabsichtige in diesem Frühsommer noch eine Reise nach Paris im Interesse der Flora Bras.filiensis], des einzigen Werkes für dessen Weiterführung ich mich jetzt noch bestimmt halten muß. Wenn aber Sie oder Ihre liebenswürdige Frau Gemahlin in irgend Etwas hier meine oder meiner Familie Dienste beanspruchen wollen, so dürfen Sie überzeugt seyn, daß wir Ihnen nach meinem Wahlspruche „Candide et fortiter“ zu Diensten seyn werden. Gott mit uns! Ihr aufrichtig ergebener Fr. Martius München d. 8. Apr. 1857.“

Nägeli, der zum 1. September 1857 zum ordentlichen Professor und Kon­ servator des botanischen Gartens (nach dem Tod Sendtners 1859 wurde ihm auch die Leitung des Herbariums übertragen) ernannt worden war (Per­ sonalakte, Univ.Arch, Stand 1937, E, Abt. II, Fase. Nr. 492), siedelte im

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Oktober 1857 nach München über. Hier begann zusammen mit dem Züricher Schüler Simon Schwendener, der als Privatassistent vormittags für Nägeli, nachmittags für sich arbeitete, nach dessen Worten „die regelmässige Arbeit am Mikroskop, und zwar zunächst in der Privatwohnung Nägelis, da ein botanisches Institut noch nicht bestand“. Zur Vorbereitung von dessen Pla­ nung wurden Nägeli am 30. April 1858 zur Besichtigung auswärtiger bota­ nischer Gewächshäuser 1200 fl. zur Verfügung gestellt und Diensturlaub für das SS 1858 bewilligt (Pers. Akte S. 21). In dem am 12. April 1858 be­ ginnenden Semester nahm Nägeli zunächst seine Unterrichtstätigkeit auf, indem er über „Cryptogamen“ las, „Microscopische Demonstrationen über Anatomie und Physiologie der Pflanzen“ abhielt und „Anleitung zu microscopischen Untersuchungen“ gab, also sowohl sein eigenes an früheren Wirkungsstätten durchgeführtes, als auch das in München durch Sendtner und Radlkofer ein- und z. T. weitergeführte Programm, das hauptsächlich auf mikroskopischen Studien beruhte, fortsetzte. Am Ende des Semesters, am 28. Juli 1858, trat Nägeli seine Dienstreise an, die ihn zur Besichtigung der botanischen Anstalten anderer Universitäten nach Erlangen, Leipzig, Halle, Breslau, Berlin und zu einem längeren Aufenthalt nach Petersburg und Moskau und auf der Rückreise über Königsberg, Berlin, Leipzig, Gotha nach Gießen, Karlsruhe und Tübingen führte, von wo er am 8. November nach München zurückkehrte (Reisetagebuch und Briefe an seine Familie in Privatbesitz). Um Neujahr 1858/59 schloß sich ein Aufenthalt in Paris an. Innerhalb der danach 1860 - 67 errichteten Neubauten konnte Nägeli 1862 das pflanzenphysiologische Institut beziehen, das neben dem Garten sein eigentliches Arbeitsreich wurde, während die Betreuung der Sammlungen und der systematischen Botanik, ungeachtet Nägelis fortgesetzter, auch systematischer Algen- und Hieracien-Studien, und die botanische Ausbil­ dung der Pharmazeuten weitgehend Radlkofer überlassen wurde. Die neu geschaffenen Arbeitsmittel boten Praktikanten und einer wachsenden An­ zahl wissenschaftlicher Mitarbeiter eine Grundlage für ihre Studien.

Die während der Amtszeit Nägelis habilitierten Privatdozenten über­ nahmen zeitweilig, mit der Verschlechterung von Nägelis Gesundheits­ zustand in den 80er Jahren in verstärktem Maße, einen Teil der Haupt­ vorlesungen und -Übungen und trugen außerdem über besondere Themen vor. Über diese, in denen sich teilweise wissenschaftliche Entwicklungen der Botanik widerspiegeln, soll ein nach Sachgebieten geordneter Überblick gegeben werden, da die früheren botanischen Vorlesungen an der Universi­ tät München im Gegensatz zu den zoologischen (vgl. H. Balss in: Die wiss. Anstalten der LMU zu München, hrsg. v. K. A. v. Müller, 1926, S. 300 - 315)

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bisher nicht gewürdigt wurden. Ohne über spezielle Probleme vorzutragen (einzig im SS 1859 las er „Ueber die Verpflanzung der Gewächse“), trug be­ reits vor der Zeit Nägelis bis zu Beginn unseres Jahrhunderts Ludwig Radlkofer (1863 ordentlicher Professor) seit dem SS 1857 ein gut Teil des Pflicht­ unterrichts. Er las über „Pflanzenanatomie und Physiologie“ (WS 1857/58), „Allgemeine Botanik“ (WS 1864/65), „Medicinisch-pharmaceutische Botanik“ (WS 1861/62, vgl. SS 1857), gab mikroskopische Demonstrationen zu diesen Gegenständen (SS 1857, WS 1857/58, WS 1859/60) und „zur Morphologie der Gewächse“ (SS 1860), hielt pharmakognostische Kurse ab („Anleitung zur mikroskopischen Untersuchung der Droguen“, WS 1859/60) und ein „mi­ kroskopisches Practicum“ (WS 1864/65) — am Sonntagvormittag! — und veranstaltete Exkursionen (SS 1859) und Bestimmungsübungen (SS 1861). Unter seiner „Leitung mikroskopischer und systematischer Arbeiten im botanischen Laboratorium der Universität“ (WS 1875/76) entstanden Bei­ träge zu seinem Hauptforschungsgebiet. Forschungen von Privatdozenten führten zu Vorträgen über Teilgebiete der Botanik. Gruppen niederer Pflan­ zen, die erst seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts eingehend bearbeitet wurden, wurden durch fast alle jüngeren Dozenten behandelt. Über Krypto­ gamen im allgemeinen sprachen Simon Schwendener (SS 1861 bis SS 1862), Paul Günther Lorentz (SS 1865), Adolf Engler (WS 1873/74 und WS 1875/76), Hermann Dingler (SS 1884) und Albert Peter (WS 1884/85 u. ö.). Außerdem trug der Lichenologe Schwendener über Algen und Flechten vor (SS 1865 u. ö.), über Laubmoose ihr Bearbeiter Lorentz (SS 1865), über Pilze Engler (WS 1872/73) und über dieselben im Zusammenhang mit Pflanzenpathologie Heinrich Mayr (WS 1885/86 und 1886/87). Mit der Morphologie der Blüten­ pflanzen und dem natürlichen Pflanzensystem behandelte August Wilhelm Eichler (SS 1866 bis WS 1870/71) seine Hauptarbeitsgebiete. Der Pflanzengeo­ graphie widmeten Lorentz (SS 1866) und Engler (WS 1873/74) spezielle Vor­ lesungen. Die in der 2. Hälfte des Jahrhunderts allmählich ausgebaute Ökologie brachten Peter im SS 1886 als „Biologie der Pflanzen“ und Dingler im SS 1889 als „Biologie unserer einheimischen Gewächse“ zur Sprache. Als durch Nägeli sowie durch Radlkofer geförderte Gebiete wurden Anatomie und „Entwicklungsgeschichte“ in Kollegien und Kursen durch Engler (SS 1873 und 1878, WS 1876/77), Peter (SS 1885), Weiss (WS 1886/87 u. ö.) und Mayr (SS 1885 u. ö.) gelehrt. Die nach diesen Gebieten in der 2. Hälfte des Jahrhunderts unter Einbeziehung physikalischer und chemischer Methoden und Erkenntnisse stark erweiterte Pflanzenphysiologie, der Nägeli neue Be­ reiche erschloß-(Theorien über den submikroskopischen Aufbau von Zell­ membran und Stärkekörnern, über die Gärung und über den Stoffwechsel

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niederer Pilze), wurde durch seine jüngeren Schüler Mayr (SS 1885) und besonders Dingler (SS 1885 u. ö.) im Unterricht zur Geltung gebracht. In Dinglers Vorlesungstitel „Physik der Pflanze“ (SS 1888 und WS 1888/89) kam zum Ausdruck, daß er die durch Nägeli vertretene mechanistische Inter­ pretation physiologischer Erscheinungen weitergab. Seit dem WS 1886/87 lehrte der Schüler von Nägeli und Liebig, von Carl Ludwig und Hermann Kolbe in Leipzig, Oscar Loew (1886 für pflanzenphysiologische Chemie habi­ litiert), „pflanzenphysiologische Chemie“, auch „Pflanzenchemie vergleichend mit Tierchemie“ (SS 1888), welche Gebiete früher Liebig dargelegt hatte. In einer Spezialvorlesung schlug sich das seit Beginn des Jahrhunderts erstar­ kende historischeBewußtsein nieder: Lorentz trug während seiner gesamten Lehrtätigkeit in München (SS 1865 bis SS 1870) an zwei Wochenstunden „Geschichte der Botanik“ vor. Vorlesungen über durch ihn bearbeitete Teilgebiete hielt auch Nägeli. Im SS 1862 trug er über Algen vor, die er selbst seit den 40er Jahren erforschte, und über deren Entwicklungsphysiologie bis um 1860 grundlegende Er­ kenntnisse gewonnen worden waren. Eigene Forschungsergebnisse über „Die niederen Pilze in ihren Beziehungen zu den Infectionskrankheiten und der Gesundheitspflege“ (1877), durch welche sich Nägeli in den Augen keines Geringeren als Max Pettenkofers zu den Begründern der Bakteriologie, Pasteur und Robert Koch, gesellte (Brief in: K. Kisskalt, Max. v. Petten­ kofer, Stuttgart 1948, Abb. 11), legte er im WS 1877/78 dar („über niedere Pilze und deren Wirkungen“ und ließ er nach der Ankündigung vom SS 1884 in seinem Institut ergänzen. In demselben und in folgenden Semestern be­ handelte der Schüler Nägelis, der Mediziner und spätere Professor der Hygiene Hans Buchner „Die Lehre von den niederen Pilzen, mit besonderer Rücksicht auf hygienische Fragen“ in der medizinischen Fakultät. Ebenfalls im SS 1884 referierte Nägeli über „Die Abstammungslehre des Pflanzen­ reiches“, die er in seinem in demselben Jahr erschienenen umfangreichen Buch darstellte. Von den folgenden Semestern an kündigte Nägeli, der aus Gesundheitsrücksichten im WS 1880/81 vollständig und im SS 1882 und SS 1885 teilweise von seinen VorlesungsVerpflichtungen entbunden wurde, nur die Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten im Institut an, die noch zu verschiedenen Veröffentlichungen führten, bis er am 13. 6. 1889 entpflichtet wurde (vgl. Pers.Akte, S. 30, 32, 37, 39, 41, 47). Als Hauptkollegien hielt Nägeli jeweils im Wintersemester (seit 1858/59) ein solches über „Allgemeine Botanik“, das durch mikroskopische Demon­ strationen ergänzt wurde, die im WS 1877/78 Engler für ihn übernahm, und jeweils im Sommersemester (erstmals 1859) eine Vorlesung über syste­

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matische Botanik und Pharmakognosie, auch „Specielle und medicinischpharmaceutische Botanik“ genannt. Über den Inhalt dieser Vorlesungen unterrichtet eine in der Bibliothek des Deutschen Museums aufbewahrte Nachschrift von Ludwig v. Ammon vom WS 1869/70 und vom SS 1870. Über die Hälfte des Manuskripts nimmt der allgemeine Teil ein, an den sich ein ausführliches Kapitel über die Grundlagen der Systematik und schließlich die „Specielle medicin. Botanik“ anschließen. Von den durch Nägeli als Dar­ stellungen der allgemeinen Botanik empfohlenen Lehrbüchern, das kürzere des Professors an der „polytechnischen Schule“ in Karlsruhe, Moritz Seubert (1853, 51870), und das von Julius Sachs (1868, 21870), soll das durch Nägeli hervorgehobene von Sachs an einzelnen Stellen mit Nägelis Ausführungen verglichen werden. Insgesamt folgte Nägeli einer völlig eigenen Disposition, in der an vielen Stellen seine Forschungen zutage traten.

Solche stellte er bereits im ersten größeren Kapitel, von der „Morphologie der Zelle und den Pflanzenstoffen“, dar, dem er einen Überblick über die systematische Einteilung des Pflanzenreiches und jeweils für Vertreter der Hauptgruppen eine „Analyse des einzelnen Individuums“ mit seinen Kör­ perteilen vorausschickte. In der Zytologie zählte er u. a. als Beispiele für Zellbildungsweisen Typen des durch ihn an Algen untersuchten Scheitel­ zellenwachstums auf und beschrieb unter den organisierten Zellbestand­ teilen verschiedene Formen von den bei Algen vorkommenden Chloro­ plasten, über deren innere Struktur er, außer daß sich eine äußerste farblose Schicht sichtbar machen ließe, ebensowenig aussagen konnte wie Sachs (21870, S. 40, 45 - 49). Auch der Formwechsel des Zellkerns war damals noch nicht bekannt (vgl. Sachs, S. 45). Die Stärkekörner, denen Nägeli 1858 erst­ mals eine Monographie gewidmet hatte, der auch Sachs (S. 54 - 60) folgte, behandelte er ausführlich. Dementsprechend umfangreich war der Abschnitt über Struktur und Wachstum der Zellmembran, die Nägeli in derselben und in weiteren Arbeiten untersucht hatte, die ebenfalls Sachs als bahnbrechend zugrunde legte (S. 19 - 38). Dadurch erklärten beide nach Nägelis einseitiger Behauptung ihr Wachstum als allein durch Intussuszeption zustandekommend. Ausführlicher und zugleich einprägsamer als bei Sachs (vgl. S. 40, 43 f.) stellte Nägeli die ihn wiederholt beschäftigenden (1855, 1860) Erscheinungen von Bewegungen innerer Zellteile des Protoplasmas, dessen Eigenschaften und Struktur im übrigen noch fast unbekannt waren, und der ganzen Zelle zusammen, deren Entdeckung im 19. Jahrhundert außer für die Aufklärung der physikalischen Eigenschaften des Zellinhalts für die Charakterisierung der Pflanze überhaupt aufschlußreich erschien, da man bis dahin im Gefolge von Aristoteles der Pflanze im Gegensatz zum Tier jegliche Bewegungs­

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fähigkeit abgesprochen hatte. Die Ernährung der beweglichen Spermatozoiden, von denen Nägeli diejenigen der Farne entdeckt hatte (1844), leitete über zur Besprechung der „Fortpflanzung der Zelle“. Deren verschiedene Formen stellte Nägeli eindeutiger, auch im Sinne der beibehaltenen Inter­ pretationen, dar als Sachs, der in seinem entsprechenden Abschnitt über die „Entstehung der Zellen“ nur kurz auf Beziehungen zur sexuellen Reproduk­ tion hinwies (S. 8-19), die er in einem Kapitel über Sexualität behandelte (S. 633 - 653), während Nägeli durch ihre Aufführung in diesem Zusammen­ hang die Bedeutung der Übergangsstufe der Isogamie einsichtig machte. Als Art der vegetativen Vermehrung nannte Nägeli die Zweiteilung, die eben­ falls zur Zellvermehrung beim Wachstum dient, und bei deren Beschreibung er hervorhob, daß der Teilung des Protoplasten stets eine Kernteilung vor­ ausgeht, während Sachs nur von einer „Neugestaltung ... um ein neues Bil­ dungscentrum“ (S. 8) sprach. Nachdem Nägeli die Zellsprossung von Hefe­ pilzen und die Bildung von Zoosporen durch Austritt des gesamten Proto­ plasten aus der Zellhülle (Zeichnung von Oedogonium beigefügt) erwähnt hatte, beschrieb er als freie Zellbildung die Ascosporenbildung bei Ascomyceten. Bei der Darstellung der sexuellen Reproduktion durch Vereinigung zweier „Elemente“ unterschied Nägeli die Kopulation von „gleichwerthigen“, gleichgestalteten Gameten bei Conjugaten und die Vereinigung von „ungleichwerthigen“ Zellen, Eizelle und Spermatozoid (Oogamie, z. B. bei Vaucheria erstmals durch N. Pringsheim 1855 beschrieben). Von der erstmals 1884 durch E. Strasburger beobachteten Verschmelzung der Kerne pflanz­ licher Geschlechtszellen konnten beide Botaniker noch nicht berichten. Während zu dieser Zeit in der Zytologie wohl grundlegende Probleme — nicht zuletzt durch Nägeli — angeschnitten, aber noch kaum beantwortet worden waren, war bereits ein großer Teil der Gewebelehre erarbeitet wor­ den. Auch zu diesem Gebiet hatten Nägeli und Schüler von ihm wie C. Cra­ mer, H. Leitgeb und L. Kny wichtige Beiträge geleistet, mit denen sich Sachs auseinandersetzte (S. 66, 90, 95, 101, 104, 120, 125). Dieser beschrieb z. B. nur allgemein „unechte“ Gewebe von Thallophyten (S. 65 f.), während Nägeli den auch heute verwendeten Begriff „Filzgewebe“ aufführte. Außer den verschiedenen Arten von Dauergewebe, von Grundgewebe („Parenchym“) über Abschluß-, Leit-, Festigungs-, Ausscheidungsgewebe bis zu Interzellu­ laren und der Durchlüftung dienenden Bildungen, behandelte er Beispiele von Bildungsgewebe. Nach der Darstellung der Anatomie von Sproß („Sten­ gel“), Wurzel und Blatt der wichtigsten Vertreter (Klassen) von Kormophyten folgte ihre Morphologie. Anschließend wurden die verschiedenen Fort­ pflanzungsweisen in den hauptsächlichsten systematischen Gruppen dar-

Abb. 9: Richard H ertw ig: B rief an den M ünchener Forschungsreisenden G. M erzbacher vom 12. Mai 1907, S. 1 und 4: B itte um O bjekte fü r das M ünchener M useum (Bayer. Staatsbibliothek)

Z oologische 5 a /*\/*\lung

Abb. 10: Karl Goebel: Porträt, sitzend, München 1913 (Bibliothek Deutsches Museum)

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gelegt. In diesem Zusammenhang wurden Blütenbau, Frucht- und Samen­ bildung der „Phanerogamen“ beschrieben, wobei die Entwicklungsphysio­ logie berücksichtigt wurde. Das folgende Kapitel war den „Bewegungen der Pflanzentheile“ gewidmet, von denen die wichtigsten ihrer Erscheinung nach bekannt waren. Dennoch erwähnte Sachs einige derselben nur beiläufig (vgl. S. 619, 622), wohingegen die Darstellung Nägelis der heute gebräuchlichen entsprach.

In seiner Physiologie, unter der er als „Pflanzenphysik und -chemie“ Stoffwechselphysiologie verstand, während er Erscheinungen des Form­ wechsels z. T. in der Anatomie (Wachstum, Entwicklungsphysiologie), z. T. in einem Kapitel über die Abstammungslehre (Vererbung) behandelte, ver­ folgte Nägeli ebenfalls einen eigenen Plan. Zunächst führte er die in Pflanzen vorkommenden Stoffe auf (ehern. Elemente, Wasser, Salze, Säuren, Kohle­ hydrate, Fette, äther. öle, Glykoside, Bitterstoffe, Alkaloide, Farbstoffe, Proteine, Fermente u. a.), deren Chemie noch wenig bekannt war, danach wurden grundlegende physikalische Vorgänge des Stoffaustauschs und -transports (Diffusion, Osmose) und Wirkungen äußerer Einflüsse, Wärme, Licht, Schwerkraft, besprochen. Anschließend legte Nägeli in Analogie zur Gliederung der Morphologie die „Physiologie der Zelle“ und „Physiologie der Gewebe und der ganzen Organe“ dar, worin er als deren Funktionen oder Verrichtungen Aufnahme, „Verarbeitung“ und Abgabe von Stoffen behan­ delte. Nach „Secretion und Excretion“ und deren Organen betrachtete er schließlich regelmäßige Veränderungen der „Wanderung der Stoffe“ und ihrer Organe (z. B. abhängig von den Jahreszeiten). Ingesamt waren ent­ sprechend dem Stand der „Hilfswissenschaften“ physikalische Tatsachen besser bekannt als chemische. Durch seine Untersuchungen über die Eigen­ schaften der Stärkekörner und Zellmembranen, über die Ernährung niederer Pilze, über Kapillarität und durch seine Micellartheorie konnte Nägeli auch in der Physiologie eigene Ergebnisse darbieten. Solche trug er schließlich in dem umfangreichen Kapitel über „Die Lehre von der Art und dem Pflanzenreiche“ vor, worin er seine durch Annahme einer inneren Vervollkommnungstendenz der Organismen modifizierte (1865, vgl. 1884) Deszendenztheorie und seine Theorie der Bastardierung und Vererbung abhandelte. Seine damals neuesten bekannten theoretischen Ab­ handlungen zum Thema (1865, 1866), in denen er nicht nur aus den züchte­ rischen Ergebnissen seiner Vorgänger J. G. Kölreuter, C. F. Gärtner und M. Wichura unzutreffende „Erbschaftsformeln“ abgeleitet hatte, sondern auch auf grundlegende Probleme, offene Fragen und Lösungsmethoden auf dem Gebiet der Bastardierung hingewiesen hatte, legte auch Sachs zugrunde 25

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(S. 648 - 652). Abweichend von diesem brachte Nägeli als weitere die Evolu­ tionstheorie stützende Tatsachen solche der Paläontologie zur Sprache. Außerdem stellte er die durch Darwins Theorie zu neuer Bedeutung gelangte Pflanzengeographie dar.

Die „Specielie medicin. Botanik“ brachte nur die Namen von offizineilen Pflanzen, ohne etwa Indikationen zu nennen oder gar ausschließlich Arznei­ pflanzen zu berücksichtigen. Die Systematik war vielmehr das Anliegen Nägelis, der z. B. unter den niederen Pflanzen die von ihm bearbeiteten Algen und Pilze eingehend besprach und durch Demonstrationen, die sich in Zeichnungen des Schülers niederschlugen, veranschaulichte. Die Berück­ sichtigung neuester Forschungsergebnisse in dem Abriß der Systematik ließ Nägeli Umgruppierungen einführen. Er behandelte die Characeen, die früher (vgl. G. W. Bischoff, Lehrb. der Botanik Bd. 2, Thl. 2, 1839, S. 354) und noch durch Sachs (S. 269 - 282) als spezielle Abteilung aufgefaßt wurden, unter den Algen, indem er sich ebenfalls auf eigene Untersuchungen stützte. Der vielseitige Forscher Nägeli gestaltete seine Hauptvorlesungen nach eigenem Plan dem Stand der Wissenschaft entsprechend, wobei er weder seine eigenen Forschungen noch um 1870 besonders aktuelle Probleme der Physiologie übermäßig betonte, sondern — hierin Sachs übertreffend — alle Teilgebiete der Botanik gleichmäßig berücksichtigte. Dadurch gelangte er zu einer ebenfalls überlieferten Leistungen gerecht werdende Darstellung, welche die Pflanze mit ihren gesamten Lebensbedingungen zu erfassen trach­ tete und sich dadurch zugleich zukünftigen wissenschaftlichen Erweiterun­ gen offen hielt, so daß Nägelis Ausführungen in vielem heutiger LehrbuchDarstellung mehr entsprechen als die von Sachs. Diesen übertraf ferner der Didaktiker Nägeli, der den Lehrstoff nach Möglichkeit vom sachlich und begrifflich Einfacheren zum Zusammengesetzteren und Schwierigeren fort­ schreitend anordnete.

Während Nägeli seine Lehrtätigkeit seit 1884 allmählich aufgab, blieb er trotz körperlicher Beschwerden forschend tätig. Wissenschaftliche Auffas­ sungen des Forschers bestimmten schließlich seine Auseinandersetzung mit der Nachfolgerfrage, die nach Vollendung seines 70. Lebensjahres aufgewor­ fen wurde. Nägeli sah in der Weiterführung der experimentellen, auf Physik und Chemie sich stützenden physiologischen Forschung, der er durch manche seiner Arbeiten den Weg bereitet hatte, die zukünftige wissenschaftliche Aufgabe — die Systematik wurde nach wie vor durch Radlkofer vertreten. Da Nägeli außer an Sachs, Pfeffer, die den Ruf ablehnten, und seinen Schü­ ler Dingler an einen seiner ältesten Schüler dachte, mit dem er persönlich und brieflich freundschaftlich verbunden war, korrespondierte er mit diesem

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auch über die Berufungsangelegenheit. Simon Schwendener, inzwischen Professor der Botanik in Berlin, schrieb am 22. Februar 1888 an Nägeli (Brief in Privatbesitz): „Betreffend die Besetzung der bot. Professur in München will ich nicht ver­ hehlen, daß wenn mir vor 10 Jahren in Tübingen die Alternative München oder Berlin gestellt worden wäre, ich M. gewählt haben würde. Nun bin ich aber so ziemlich an Berlin gewöhnt, und da ich thatsächlich keinen Grund habe, mich über irgend Jemand zu beklagen, so könnten es höchstens die mit der Stellung ver­ bundenen allzu vielen geschäftlichen Dinge sein (Sitzungen, Prüfungen, Begut­ achtung von Dissertationen etc.), die vielleicht den Gedanken zu erregen ver­ möchten, in diesem Betreff auf etwelche Erleichterung bedacht zu sein. Solche sind übrigens auch hier nicht ganz unmöglich — und ob es in M. viel besser würde, wer weiß. Von meiner Persönlichkeit abgesehen, könnte, sofern die Herren Dingler oder Prantl nicht durchdringen, vielleicht Leitgeb in Frage kommen. Zieht man einen jüngeren und wohlfeileren vor, so würde ich meinen Schüler Haberlandt emp­ fehlen. Uebrigens weiß ich nicht, ob etwa Sachs nach der Residenz strebt — dann würden natürlich alle andern Vorschläge ins Wasser fallen. Auch Hartig hegt möglicher Weise stille Hoffnungen. Die ganze Lage ist also noch ziemlich un­ bestimmt und muß sich erst klären, bevor eine ernste Combination möglich ist.“

Von einem Fortschritt des Auswahlvorgangs berichtete Nägeli in einem Brief vom 5. Mai 1888, dessen Entwurf erhalten blieb (in Privatbesitz): „Verehrter Freund u. College Nachdem endlich uns. Berufungsangelegenheit in Gang gekommen ist, will ich Ihnen doch sagen wie es damit steht. In neuerer Zeit sind nativistische Tenden­ zen bei uns [gestrichen: leider] wieder sehr vorherrschend, und wenn die Facultät nicht mit einem ganz hervorragenden Manne durchzudringen vermag, so wird ohne Zweifel Prantl berufen. An Sachs mag Niemand im Ernst denken. Sie selber sind uns wohl unerreichbar, ebenso vielleicht Pfeffer. Von Strasburger rieth ich ab. Da ich die Facultätssitzungen nicht besuchen kann, so habe ich ein schriftliches Gutachten abgegeben. Die Mehrheit (Zittel, Baeyer etc.) wird sich jedenfalls um eine gute Wahl bemühen, [über Dingler an dieser Stelle eingefügt:] Von Dingler ist keine Rede; er allein hat früher, gegen meinen Rath, an alle Thüren ange­ klopft u. sich als den geeignetsten Candidaten proklamirt. Jetzt sagt [er], er wisse nicht wie er dazu gekommen sei, er müsse einen Strich gehabt haben. Ich habe auch Haberlandt genannt, obgleich für ihn hier zur Zeit nichts erreichbar ist. Doch that ich mein Möglichstes, um ihn in Graz gegen eine unqualifizirbare Intrigue in Schutz zu nehmen und ich zweifle nicht, daß er dort die Stelle des unglücklichen Leitgeb erhalten wird. Hoffentlich bleiben Sie in Berlin vor Strasburger verschont, der dort jedoch einen Stein im Brett zu haben scheint.“

Nägelis Ablehnung von Strasburger, der damals einer der hervorragen­ den Vertreter seines Faches war und der durch seine bedeutenden zytologi­ schen Arbeiten auf demselben Gebiet wie Nägeli tätig war, aber manche Fragen anders beantwortete (er nahm z. B. Appositions- anstatt Intussuszeptionswachstum der Zellwände an), kam einer Verteidigung seiner wissen25*

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schaftlichen Thesen gleich. Doch nicht mehr Nägelis Urteil gab bei der end­ gültigen Entscheidung den Ausschlag, sondern das von Sachs, das auch Radl­ kofer unterstützte. Dieser legte es auch 1892 in einem Gutachten über den nach dem Tod Nägelis (10. Mai 1891) im Herbst 1891 berufenen Karl Goebel (1855 - 1932), Schüler von Hofmeister, De Bary und Sachs, zu dessen Auf­ nahme in die Akademie nieder (Archiv Bayer. Akad. Wiss., PA Goebel). Hierin würdigte er u. a. die entwickelungsphysiologische und vergleichend morphologische Probleme experimentell untersuchenden Arbeiten Goebels mit den „ihm eigenen Gedanken und Erklärungsversuchen“. Als ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchungen und der ökologischen Studien des For­ schungsreisenden Goebel ließen ihn seine wissenschaftlichen Erfahrungen alsbald eine Erweiterung und Erneuerung der botanischen Anstalten Mün­ chens planen. Mit der Aufgabe der alten Anlagen und ihrer Neugestaltung in Nymphenburg (1908 - 14) wurde auch im Wandel der Hilfsmittel die wissenschaftliche Stellung Goebels offenkundig. Als vielseitig ausgebildeter und forschender Botaniker hatte er nach Fragestellung und Methodik ver­ schiedene im 19. Jahrhundert aufgeworfene Probleme weiter geführt, frühere Lösungen kritisch zu erneuern gesucht und teilweise vollendet. Er schloß einerseits eine Tradition ab und gab sie andererseits an die Zukunft weiter, da er als Hochschullehrer auf vielen Gebieten anzuregen vermochte.

Schrifttum (Auswahl) Die wissenschaftlichen Anstalten der Ludwig-Maximilians-Universität zu Mün­ chen, hg. v. K. A. v. Müller, München 1926. — Baltzer, F.: Theodor Boveri, Stutt­ gart 1962 (= Große Naturforscher, Bd. 25). — Bergdolt, E.: Karl von Goebel. Ein deutsches Forscherleben in Briefen aus sechs Jahrzehnten 1870 - 1932. Berlin (1941). — Cramer, C.: Leben und Wirken von Carl Wilhelm von Nägeli. Zürich 1896. — Doflein, F. u. a.: Richard Hertwig zum siebzigsten Geburtstag, 23. Sep­ tember 1920. In: Die Naturwissenschaften 8 (1920), S. 767 - 782. — Franz, V.: Der Meister und die Meisterschüler. Haeckel und die Hertwig’s in ihrem Briefwechsel. In: Ernst Haeckel. Sein Leben, Denken und Wirken Bd. 1, hg. v. Victor Franz, Jena 1943, S. 9 - 73. Frisch, K. v.: Richard Hertwig. Gedächtnisrede geh. am 15. Juni 1938. München 1938. — Frisch, K. v.: Zoologie. In: Geist und Gestalt Bd. 2. Mün­ chen 1959, S. 248 - 255. — Frisch, K. v. und Th. Kollmann: Der Neubau des zoolo­ gischen Instituts der Universität München. München 1935. — Gegenbaur, C.: Erlebtes und Erstrebtes. Leipzig 1901. — Goldschmidt, R. B.: Erlebnisse und Be­ gegnungen, dt. Übers, von „Portraits from Memory“, Hamburg und Berlin (1959). — Hertwig, R.: Gedächtnisrede auf Carl Theodor v. Siebold, geh. am 29. März 1886. München 1886. — Hoppe, B.: Deutscher Idealismus und Naturforschung. Werdegang und Werk von Alexander Braun (1805 bis 1877). In: Technikgeschichte 36 (1969), S. 111 - 132. — Körner, H.: Die Würzburger Siebold. Leipzig 1967 (= Le­ bensdarstellungen dt. Naturforscher, Nr. 13) (hg. v. d. Akad. d. Naturforscher Leopoldina dch. Rudolph Zaunick). — Mägdefrau, K.: Karl Friedrich Schimper. In: Beitr. naturk. Forsch. Südw.-Dtl. 27 (1968), S. 3-20. — Merxmüller, H.: Carl

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Friedrich Philipp von Martius. In: Sitzungsberr. Bayer. Akademie Wiss., math.naturwiss. Kl. (1968), S. 79 -96. — Mettenius, C.: Alexander Braun’s Leben nach seinem handschriftlichen Nachlaß. Berlin 1882. — Prantl, C.: Geschichte der Lud­ wig-Maximilians-Universität, Bd. 1-2, München 1872. — Renner, O.: Botanik. In: Geist und Gestalt Bd. 2, München 1959, S. 256 - 269. — Schreiber, A. und J. Poelt: Die botanischen Staatsanstalten in München und die Erforschung der Alpenflora. In: Jahrb. Ver. Schutze Alpenpflanzen u. -tiere 29 (1964), S. 2 - 26. — Schwendener, S.: Carl Wilhelm von Nägeli. Nachruf. Berlin 1892 (= Sonder­ abdruck aus Berr. dt. botan. Gesellsch. 9, 1891, Generalversammlungsheft). — Die deutschen Universitäten, für die Universitätsausstellung in Chicago 1893 hrsg. v. W. Lexis, Bd. 2, Berlin 1893, S. 73 - 111. — Uschmann, G.: Geschichte der Zoolo­ gie und der zoologischen Anstalten in Jena 1779 - 1919. Jena 1959. — Weissenberg, R.: Oscar Hertwig, Leipzig 1959 (= Lebensdarstellungen deutscher Naturforscher, Nr. 7).

Philipp Ludwig von Seidel und Gustav Bauer zwei Erneuerer der Mathematik in München Von Helmuth Gericke und Hellfried Uebele

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat sich in der Mathematik an den deutschen Universitäten ein großer Umschwung vollzogen. Wie die philoso­ phische Fakultät, die vorher zu einem Studium generale vor Beginn des „Brotstudiums“ diente, nunmehr selbständige Aufgaben insbesondere für die Ausbildung der Lehrer an höheren Schulen erhielt, so ist in diesem Rahmen auch die Lehre der Mathematik von einem Unterricht elementarer Methoden, wie sie etwa in der Geodäsie gebraucht werden, zu einer Ein­ führung in die mathematische Wissenschaft geworden.

Die Einheit von Forschung und Lehre wurde wohl zuerst bei der Grün­ dung der Universität Göttingen (1737) konzipiert, wo die Professoren zu­ gleich Mitglieder der wissenschaftlichen Gesellschaft waren, aber es hat über ein Jahrhundert gedauert, bis sie in der Mathematik alle deutschen Univer­ sitäten durchdrungen hat. Es ist dabei zunächst nicht selbstverständlich, daß der Universitätsprofessor, auch wenn er Forscher ist, die Ergebnisse seiner Forschung in seinen Vorlesungen vorträgt. Der Hauptimpuls ging von Dirichlet in Berlin (später Göttingen) und insbesondere Jacobi in Königs­ berg aus, die ihre Schüler für neueste Forschungen zu begeistern wußten; diese haben dann die neue Art, Mathematik zu lehren, in Deutschland ver­ breitet. Nach München gelangte die moderne Richtung durch Seidel und Bauer. Beide haben 1840 bei Dirichlet in Berlin studiert, dann ging Seidel nach Königsberg zu Jacobi und Bessel, Bauer nach Paris, wo Liouville, Sturm, Poncelet, Lacroix und andere lehrten. Seidel habilitierte sich 1846 in Mün­ chen und wirkte dort bis 189'6, Bauer habilitierte sich 1857, wurde 1900 emeritiert und starb 1906. Beide haben also ein halbes Jahrhundert lang die Mathematik an der Universität München bestimmt. Das Leben von Philipp Ludwig Seidel ist von F. Lindemann in einer Ge­ dächtnisrede am 27. März 1897 vor der Bayerischen Akademie geschildert worden. Dem Abdruck dieser Rede (München 1898) sind zahlreiche Briefe von Seidel und anderes Material beigefügt, aus dem sich ein lebendiges Bild

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der Persönlichkeit dieses Mannes ergibt. Sein Weg ist der geradlinige Weg eines Fachwissenschaftlers, ohne Umwege und wie es scheint auch ohne wesentliche Erschütterungen oder Störungen. Er ist am 24. Oktober 1821 geboren. Sein Vater war damals Postverwalter in Zweibrücken, wurde von dort nach Nördlingen versetzt und kam 1836 als Grenzpostmeister nach Hof. Am Gymnasium in Hof wurde Seidel „durch den belebenden Vortrag“ des Prof. Schnürlein, der bei Gauß studiert hatte, zum Studium der Mathematik angeregt. Schnürlein hat Seidel nach Ab­ schluß des Gymnasiums noch ein halbes Jahr Privatunterricht erteilt, und Seidel ist stets dankbar gewesen für diese gediegene Vorbereitung, die ihm an der Universität sehr zustatten kam.

1839 ging Seidel nach Berlin, wo er bei Dirichlet und dem Astronomen Encke hörte. Er genoß den Vorzug, in das Privat-Seminar von Dirichlet auf­ genommen zu werden. Seminare wurden zu jener Zeit erst gegründet und waren gelegentlich mit Prämien für die Teilnehmer verbunden. In Seidels Nachlaß befindet sich neben einer Reihe von Vorlesungsausarbeitungen auch ein Heft „Aufgaben aus Dirichlets math. Seminar. Berlin, Wintersemester 1840/1“. Diese Aufgaben behandeln Einzelfragen aus dem Gebiet der Ketten­ brüche, der P-Funktion, der elliptischen Integrale, der Konvergenz von Reihen, der Wahrscheinlichkeitsrechnung der algebraischen Geometrie. Ein Beispiel: Aus einem Sade mit n numerierten Zetteln werden die Zettel zufallsmäßig herausgezogen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß beim k-ten Zug der Zettel mit der Nummer k gezogen wird? Ferner finden sich in dem Heft Notizen zu einem Vortrag: „Fundamentalsatz der Algebra nach Cauchy. “ Seidel hat diese Einrichtung eines mathematischen Seminars später in München eingeführt. In Berlin wurde er von Encke auch zu astronomischen Rechnungen herangezogen; die dafür erhaltene Bezahlung war ein wichtiger Beitrag zur Finanzierung seines Studiums.

Auf Anregung seiner Berliner Lehrer und bestärkt von einem durch­ reisenden Studenten ging Seidel 1842 nach Königsberg zu Jacobi und Bessel. Gleichzeitig ging Heine nach Königsberg, der später Professor in Halle war und u. a. durch sein Handbuch der Kugelfunktionen bekannt geworden ist. Beide waren sehr stolz darauf, daß Jacobi eigens für sie privatissime über Störungen in den Bewegungen der Himmelskörper las. Seidel schreibt am 19. November 1842 an seinen Vater: „Daß Jacobi diese Vorlesung liest, geschieht eigentlich nur uns Berlinern zu Ehren. Er pflegt nämlich gewöhnlich weniger sublime Gegenstände zu

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nehmen, damit sich mehr Zuhörer finden, dann aber etwas nachlässig in den Vorlesungen zu sein, weil der Gegenstand für ihn selbst kein großes Interesse hat. Auch für dies Semester hatte er eine unbedeutende Vor­ lesung angekündigt, aber als er auf der Rückreise von Paris durch Berlin kam, sprach Prof. Dirichlet mit ihm unsertwegen, und sagte ihm, er schickte ihm jetzt seine zwei besten Zuhörer, und da müsse er auch etwas ordentliches lesen. So giebt uns denn Jacobi jetzt seine eigenen neuesten Untersuchungen über die Mechanik des Himmels zum Besten, wobei er außer uns nur noch zwei Zuhörer hat, wovon der eine ebenfalls ein frühe­ rer Schüler von Dirichlet. Den andern, eigentlich Königsbergischen Stu­ denten, welche die Vorlesung hören wollten, riet er selbst davon ab, indem er ihnen zu verstehen gab, daß sie es nicht verstehen würden, worüber sie sich höchlich beleidigt fühlen“ (Lindemann, S. 31/32).

Weiter unten schreibt er: „Auf das Niveau der Königsberger Studenten habe ich mich noch in nichts herabgelassen; ich gehe nach wie vor in Hut und Handschuhen, mache den Professoren meine Besuche im Frack, rauche nicht, und trage keinerlei Bart“ (Lindemann, S. 33).

Am 20. Februar 1843: „Ich gewöhne mich nun auch in Königsberg immer mehr ein und fange an, mich heimischer hier zu fühlen. Mit meinen Commilitonen stehe ich auf dem besten Fuß; zum Beweis dessen sind meine Collegienhefte fast be­ ständig in fremden Händen, auch werde ich häufig auf meinem Zimmer besucht, um über dies oder jenes Auskunft zu geben“ (Lindemann, S. 39). Ein Seminar war in Königsberg 1834 von F. Neumann, Jacobi und dem Privatdozenten Sohncke eingerichtet worden. Es bestand aus einer mathe­ matischen (unter Jacobi) und einer mathematisch-physikalischen Abteilung (unter Neumann); außerdem lehrte Sohncke elementarere Übungen. Jacobi leitete die Arbeiten in der Weise, daß er

„in kurzen Vorträgen an einen den Mitgliedern geläufigen Zusammenhang anknüpfte, und von da zu einer besonderen Aufgabe hinleitete, mit deren Lösung die Mitglieder sich die Woche über zu beschäftigen hatten. Ihre Arbeiten wurden im Laufe der Woche dem Dirigenten abgegeben und am nächsten Sonnabend von demselben beurtheilt, worauf zu einer neuen Aufgabe übergegangen wurde“ (Lindemann, S. 50).

Seidel hat in diesem Seminar auch eine Prämie erhalten. An dem Seminar von Bessel hat er ebenfalls teilgenommen. In dem Aufgabenheft stehen mit

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roter Tinte von Bessel eingeschriebene Bemerkungen. Bei einer Zahlenrech­ nung zum Beispiel, in der Seidel u. a. die Zahl 57013,12396 erhalten hat, steht am Rand: „Ich habe 57013,109 gefunden. Welches ist das Rechte?“ Seidel schreibt darunter: 57013,103445. Am Schluß einer anderen Aufgabe be­ merkte Bessel: „Ob Herr Seidel vielleicht durch Einführung anderer Be­ zeichnungen, so wie auch durch äußere Veränderung der Anordnung, die Übersicht vermehren will, muß ich ihm überlassen. B.“

Als Jacobi 1843 erkrankte, ging Seidel nach München. Von Bessel war er an Steinheil empfohlen worden, der damals mit der Regulierung des bayeri­ schen Maßes und Gewichtes beauftragt war. Seidel hat hier als Gehilfe mit­ gewirkt, ferner mit dem von Steinheil erfundenen Photometer Helligkeits­ untersuchungen an Fixsternen und Planeten durchgeführt. Gauß hat sich in einem Brief vom 22. Dezember 1852 sehr anerkennend über Seidels Ergeb­ nisse geäußert; J. H. v. Mädler bezeichnet Seidels Arbeiten in seiner ,Ge­ schichte der Himmelskunde‘ (Braunschweig 1873), S. 248, als „ersten wahr­ haften Anfang einer gründlichen praktischen Photometrie“.

Am 24. Januar 1846 promovierte Seidel mit einer Arbeit „Über die beste Form der Spiegel in Teleskopen“ und habilitierte sich ein halbes Jahr später mit „Untersuchungen über die Konvergenz und Divergenz der Ketten­ brüche“. Am 19. November 1847 konnte Seidel seinen Eltern mitteilen, daß er „mit dem letzten Montag außerordentlicher Professor mit einem Gesammtgehalte von 800 Gulden“ ist. Er schreibt: „So haben all unsere Verhältnisse eine rasche und erfreuliche Wendung genommen und ich bin endlich im Stande, Euch, theure Eltern, den innig gefühlten Dank für Alles, was Ihr mit eigner Aufopferung und mit ähn­ licher von Seiten der lieben Schwestern, für mich gethan habt, freudig auszusprechen und ohne den so lange nötigen bedauernden Zusatz, daß diese Opfer noch fortdauern müssen (Lindemann, S. 62/63). Die Wirksamkeit Seidels ist am Vorlesungsverzeichnis der Universität deutlich zu sehen. Vorher behandelten die mathematischen Vorlesungen hauptsächlich Geometrie und Trigonometrie, praktische Geometrie und Ni­ vellieren, Anwendung der Mathematik auf das Forstwesen, Analysis des Endlichen und Unendlichen, analytische Geometrie. Seidel las u. a. im

S.S. 1847 Lehre von den Reihen als Einleitung in die Analysis. W.S. 47/48 Algebra.

S.S. 48

Differential- und Elemente der Integral-Rechnung.

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Helmuth Gericke und Hellfried Uebele

W.S. 48/49 Analytische Dioptrik.

S.S. 49

Elemente der Differential- und Integral-Rechnung I.

W.S. 49/50 Elemente der Differential- und Integral-Rechnung II, Theorie der Kettenbrüche.

S.S. 50

Theorie der Kettenbrüche.

W.S. 50/51 Sphärische Astronomie.

S.S. 51

Elemente der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Am 28. Februar 1848 schreibt Seidel nach Hause (Lindemann, S. 63/64):

„ ... Überhaupt ist jetzt für die Universität und ihre Angehörigen eine gute Zeit, theils weil sie durch die letzten Geschichten oben auf gekommen ist, theils weil das Rectorat in den thätigen und dermalen einflußreichen Händen Thiersch’s liegt. Diese Conjunctur haben auch Steinheil und ich zu benutzen beschlossen, und den Plan zu einem mathematisch-physikalilischen Seminar entworfen, welches wir unter unserer gemeinschaftlichen Leitung einrichten wollen, indem wir nämlich Studenten Gelenheit ge­ ben würden, unter unserer Leitung und Anführung wissenschaftliche, zunächst besonders astronomische, Arbeiten auszuführen, mit welchen auch der Wissenschaft ein Dienst geschehe, und zu denen uns nichts fehlt, als die nöthigen Hände mit etwas Kopf und eine jährliche Summe von einigen hundert Gulden vom Staat, um das, was von Instrumenten etc. nöthig wäre und nicht vorhanden ist, anzuschaffen.“ (Bei der hier von Seidel angesprochenen „Conjunctur“ wird man an die Revolution mit der nachfolgenden Abdankung Ludwigs I. und der Thron­ besteigung von Max II. denken und besonders an des letzteren wissenschaft­ liche Neigungen.) Gegründet wurde ein solches Seminar unter der Leitung Seidels und des Physikers Jolly aber erst 1856, nachdem Seidel 1855 ordentlicher Professor geworden war. Seit 1871 gehörte auch Bauer zum Vorstand. Akten über Prämienverleihungen an Seminarteilnehmer liegen uns aus den Jahren 1881 - 1904 vor. Da erscheinen u. a. folgende Namen: Ernst Anding, Julius Bauschinger, Hermann Brunn, Karl Doehlemann, Wilhelm Kutta, Edmund Landau, Alfred Loewy, Oskar Perron, Johannes Stark, Eduard von Weber, Heinrich Wieleitner. Seidels wissenschaftliche Arbeiten galten insbesondere der Dioptrik, in der Mathematik den Fragen der Konvergenz. Er untersuchte z. B. das Kon­ vergenzverhalten von x?x"' wobei er diesen Ausdruck rekursiv erklärt: Xq = x/.xn + 1 = X

je

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Eine der wichtigsten mathematischen Leistungen Seidels ist die Ent­ deckung der ungleichmäßigen Konvergenz. Sie erscheint in einer „Note über eine Eigenschaft der Reihen, welche discontinuirlichen Functionen darstel­ len“, 1847* in dem „Theorem: Hat man eine convergirende Reihe, welche eine discontinuirliche Function einer Größe von x darstellt, von der ihre einzelnen Glieder continuirliche Functionen sind, so muß man in der un­ mittelbaren Umgebung der Stelle, wo die Function springt, Werthe von x angeben können, für welche die Reihe beliebig langsam konvergirt“. Ihren festen Platz innerhalb der Analysis erhält die von Seidel be­ merkte Tatsache erst später durch Weierstraß.

Als Buhl und Pettenkofer den Zusammenhang von Typhus-Epidemien mit der Höhe des Grundwasserspiegels feststellten, machte Seidel die zugehöri­ gen wahrscheinlichkeitstheoretischen Rechnungen. Für einen Zeitraum von 9 Jahren, also 108 Monaten, verglich er die Typhushäufigkeit mit der Grund­ wasserhöhe; dabei fand er für 73,5 der 108 Monate ein Zusammentreffen von unterdurchschnittlichem Grundwasserstand mit überdurchschnittlicher Typhus-Morbilität oder von überdurchschnittlichem Grundwasserstand mit unterdurchschnittlicher Typhus-Morbilität. Die Wahrscheinlichkeit für ein zufälliges Auftreten dieses Sachverhalts berechnete er als 1: 36 000 (Zeit­ schrift für Biologie Bd. 1,1865, S. 221 - 236). Als Beispiel für seine Arbeiten zur Optik sei noch das Thema eines 1880 gehaltenen, aber erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Vortrags genannt: „Bedingungen möglichst präziser Abbildung eines Objekts von endlicher scheinbarer Größe durch einen dioptrischen Apparat“ (Sitzungsberichte der Bayer. Akad. d. Wiss. Bd. 28,1898). Seidel wurde 1851 zum außerordentlichen, 1861 zum ordentlichen Mit­ glied der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt und 1871 als Nachfolger Steinheils zum Konservator der mathematisch-physika­ lischen Sammlung des Staates ernannt. Neben anderen Auszeichnungen wurde ihm am 30. Dezember 1882 der ,Civil-Verdienst-Orden der Bayeri­ schen Krone4 verliehen, mit dem Charakter eines Ritters, womit der per­ sönliche Adel verbunden war.

Da Seidel unverheiratet geblieben war, lebte er anfangs mit seiner Mutter und zwei Schwestern zusammen, deren ältere ihn bis zu ihrem Tode 1889 mit großer Hingabe umsorgte. In den letzten Lebensjahren hat ein schweres Augenleiden seine Arbeiten behindert; die letzte Vorlesung, sphärische Astronomie, erscheint 1892 im Vorlesungsverzeichnis. Er starb am 13. August 1896.

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Helmuth Gericke und Hellfried Uebele

Über Gustav Bauer und seinen Lebenslauf orientiert ein Nachruf von A. Voß (Jahresbericht der DMV Bd. 16, 1907, S. 54 - 75), über die Studienzeit sein „Fest-Vortrag zum XVI. Stiftungs-Feste des Mathematischen Vereins: Erinnerungen aus meinen Studienjahren, insbesondere mit Rücksicht auf die Entwickelung der Mathematik in jener Zeit“ (München 1893). Gustav Bauer wurde am 18. November 1820 als Sohn eines Kaufmanns in Augsburg geboren. Dort besuchte er das Gymnasium St. Anna und danach ein Jahr lang die neu eingerichtete polytechnische Schule. Über das Weitere erzählt er: „Ich war im Sommer 1839 nach Erlangen gezogen, um dort das sogenannte philosophische Jahr zu absolvieren. Damals waren nämlich die acht philo­ sophischen Collegien, welche jeder Studierende nach unsern Statuten zu hören hat, nicht der freien Auswahl des Studierenden überlassen, sondern vorgeschrieben und in das erste Universitätsjahr zusammengedrängt. Man hatte aus diesen Fächern ein mündliches Examen zu bestehen, bevor man zu dem Berufsfach zugelassen wurde. Leider hatte Herr v. Staudt in dem Semester, das ich in Erlangen zubrachte, seine Vorlesungen ausgesetzt. ... Wer demnach Lust in sich verspürte, die mathematischen Studien höher zu treiben, wandte sich damals vorzugsweise nach Berlin oder noch weiter nach Königsberg, wo ein Kranz berühmter Lehrer vereinigt war: Jacobi, Richelot, F. Neumann, der berühmte Lehrer der mathematischen Physik und der Astronom Bessel“ (Bauer, S. 7).

Bauer ging jedoch zunächst „Familienverhältnisse halber“ nach Wien, wo er bei Ettinghausen Physik und bei J. J. Littrow Astronomie hörte, dann erst nach Berlin. „Mein Hauptinteresse konzentrierte sich natürlich auf die Vorlesungen von Dirichlet, der über partielle Differentialgleichungen, angewandt auf die Fourier’sche Theorie der Wärme, über bestimmte Integrale und Zahlen­ theorie las.... Man möchte glauben, daß dieser bedeutendste Lehrer einen großen Zuhörerkreis um sich versammelte; dies war jedoch keineswegs der Fall. Wir waren zu sechs, darunter Professor v. Seidel und Heine, später Professor zu Halle“ (Bauer, S. 8). Im Sommer 1841 war in München ein „theoretisches Examen für Mathe­ matik“ ausgeschrieben, was damals nur alle drei Jahre stattfand. Bauer meldete sich und bestand es mit dem „Prädikate ausgezeichneter Befähigung“. 1842 promovierte er in Erlangen mit einer Arbeit aus der Thermodynamik und ging dann noch für ein Semester nach Paris, wo ihn vor allen Dingen die Vorlesungen Liouvilles anzogen.

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Da eine günstige Stellung in München nicht in Aussicht stand, nahm Bauer eine Erzieherstelle beim Fürsten Ghika in Rumänien an. 1853 kehrte er nach München zurück, wo seine drei Zöglinge die höheren Gymnasialklassen absolvieren sollten. 1857 konnte er sich in München habilitieren. Es war für ihn von entscheidender Bedeutung, daß er in der für die meisten Mathe­ matiker fruchtbarsten Lebenszeit von wissenschaftlichem Kontakt völlig abgeschlossen war. Vielleicht hat er gerade in dieser Zeit seine pädagogischen Fähigkeiten und menschlichen Eigenschaften entwickelt, die für sein Wirken als akademischer Lehrer bestimmend waren. 1865 wurde er außerordent­ licher, 1869 ordentlicher Professor, 1871 Mitvorstand des mathematischen Seminars, im gleichen Jahr Mitglied der Königlich Bayerischen Akademie. 1862 heiratete er Amalie von Schlichtegroll; aus dieser Ehe sind zwei Töchter und ein Sohn hervorgegangen.

Durch Dirichlet und Liouville war Bauer im Zusammenhang mit Pro­ blemen der Wärmeleitung in die Potentialtheorie und in die Kugelfunktio­ nen eingeführt worden. Diesem Problemkreis gelten seine schon genannte Dissertation, seine Habilitationsschrift „Von den Integralen gewisser Diffe­ rentialgleichungen, welche in der Theorie der Anziehung vorkommen“ und eine Reihe weiterer Arbeiten. In andere Gebiete hat er sich selbständig ein­ gearbeitet, so in moderne geometrische Methoden, von denen er auch in dem erwähnten Festvortrag spricht. Er nennt dort Plücker, Sylvester, Hesse sowie Steiner und Chasles. Er selbst hat eine Reihe von schönen Einzelergebnissen erzielt, die vielleicht mit seiner Vorlesungstätigkeit im Zusammenhang stehen. Von besonderer Bedeutung war Bauers Lehrtätigkeit. Während Bauer in seinen Vorlesungen neben Fragen der Wärmeleitung und Kugel­ funktionen vor allem Algebra und Geometrie behandelte, las Seidel über Analysis, Wahrscheinlichkeits- und Fehlerrechnung, Optik und Astronomie; die Funktionentheorie war erst später durch A. Pringsheim (seit 1878) ver­ treten. Eine solche Zuordnung der Vorlesungsgebiete und der Professoren in der Mathematik ist für München neu; früher kam es häufig vor, daß drei, ja sogar vier Dozenten zur gleichen Zeit über denselben Gegenstand lasen.

Die damals moderne Algebra muß sich Bauer ebenfalls selbständig ange­ eignet haben.

„Das gegenwärtig wichtigste Hilfsmittel in der Theorie der Gleichungen, die Substitutionentheorie, von Cauchy und Galois gegründet, war