Über die Freiheit: Ein Essay 9783787318100, 3787318100

In diesem Essay von 1859, seinem Hauptwerk, streitet John Stuart Mill für das Recht jedes einzelnen, seine Überzeugungen

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German Pages 170 [186] Year 2009

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Über die Freiheit: Ein Essay
 9783787318100, 3787318100

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JOH N ST UA RT MI LL

Über die Freiheit

Auf der Grundlage der Übersetzung von Else Wentscher neu herausgegeben von horst d. brandt

FELIX MEINER VERLAG HA MBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 583

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1810-0

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2009. Alle Rechte vorbehal-

ten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 – 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff . Printed in Germany.

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John Stuart Mills Plädoyer für die Freiheit. Von Horst D. Brandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Editorische Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii

joh n st ua rt m i ll Über die Freiheit i. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ii. Von der Freiheit des Denkens und der Rede . . . . .

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iii. Über die Freiheit des Einzelnen als eine der Grundlagen der Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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iv. Über die Begrenzung der Macht der Gesellschaft über den Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 v. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Daten zu Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

JOHN STUA RT MILLS PLÄ DOYER FÜR DIE FR EIHEIT

Mills Essay On Liberty ist kein philosophischer Traktat – und dennoch ein großer Text unter den Texten der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Und dies nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch unter dem Aspekt seiner Bedeutung für den Diskurs über den Wert der Freiheit des Einzelnen überhaupt. Ein philosophischer Traktat ist er schon darum nicht, weil er gar nicht antritt mit dem Anspruch, den Begriff von Freiheit, den er im Titel führt, näher zu untersuchen, schlüssig zu defi nieren und eindeutig zu etablieren. Die Frage, ob Frei heit möglich sei oder nicht, und wenn ja, in welchem Sinne und in welchem Umfang, stellt sich für Mill nicht: Er setzt es als gegeben und unumstritten voraus, daß der Einzelne die Möglichkeit und ein ursprüngliches Interesse daran hat, frei zu denken und selbstbestimmt zu handeln, d. i. seine Dinge aus eigener Bestimmung und eigenem Antrieb zu beordnen, solange und soweit niemand berechtigt ist, ihn aus guten Gründen daran zu hindern. Ihm genügt der Rekurs auf diesen eher vage umrissenen Begriff von Freiheit, weil sein großes Thema keine nähere Bestimmung des Begriff s verlangt: Denn Freiheit steht hier allein für das Recht des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft aller, bzw. für die Rechtstellung der Person innerhalb der zivilisierten Gesellschaft, d. i. der historisch gewachsenen und ausgebildeten geregelten Formen des Mit- und Gegeneinanders der Mitglieder der Gemeinschaft aller. Und weil das so ist, hat der Essay eine in Struktur und Auf bau eher ungewöhnliche Gestalt: Hier steht der erste Abschnitt, von Mill als ›Einleitung‹ übertitelt, nicht für die

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Exposition der Fragestellung, die dann in den anschließenden Teilen des Essays erörtert wird; sondern: Mill kommt in diesem ersten Abschnitt seines Essays sofort auf den Punkt und präsentiert seine These und Forderung, nach der das Freiheitsrecht des Einzelnen Vorrang habe vor allen Einschränkungen seitens der herrschenden Regierung und seitens der gerade en vogue seienden öffentlichen Meinung: »Das Ziel dieses Essays ist es, ein sehr einfaches Prinzip in Geltung zu setzen, das allein und ausschließlich (absolutely) das Eingreifen der Gesellschaft in die Angelegenheiten des Einzelnen rechtfertigt […] Dieser Grundsatz lautet: Der einzige Grund, aus dem es der Gemeinschaft aller (mankind) gestattet ist, einzeln oder vereint, eines ihrer Mitglieder in der Freiheit seines Tuns zu beschränken, ist der Selbstschutz.« (S. 16) In den nachfolgenden Abschnitten II bis IV seines Essays geht es Mill nicht darum, diese Eingangsthese zu begründen, sondern allein darum, sie gegen mögliche Einwände zu verteidigen. Geordnet nach drei Gesichtspunkten werden anhand von Fallbeispielen Argumente vorgetragen und zurückgewiesen, die der Eingangsthese entgegengehalten werden könnten, nach der die Freiheitsrechte des Individuums nur in den Fällen beschnitten werden dürfen, in denen die Ausübung der freien Handlung des Einzelnen anderen Schaden zufügt; und im Abschnitt V des Essays zieht Mill dann die Folgerungen daraus für eine richtige Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, wiederum nicht allgemein, sondern bezogen auf konkrete Einzelfragen und deren rechtlicher Beordnung in einer bestehenden Gesellschaft bzw. einem historisch gewachsenen Rechtsstaat. In einem Satz: Mills Essay beschreibt eine absteigende Kurve – er exponiert gleich zu Anfang seine These, der er Gültigkeit zuschreibt, und führt dann in den folgenden Teilen die Gründe an, aus denen die möglichen Einwände gegen diese These nicht

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stichhaltig seien und auch dann nicht greifen, wenn man sie aus pragmatischen Gründen für angebracht hält. Diese Argumentationsstrategie konnte Mill nur wählen, weil er es strikt vermeidet, den von ihm vertretenen und eingeforderten Anspruch des Einzelnen auf das Recht frei zu denken und frei zu handeln mit einem Freiheitsbegriff zu verbinden, der positiv aufgeladen ist. So wird z. B. das Recht auf Eigentum und dessen Besitz von Mill nicht als ein positives Recht des Einzelnen festgeschrieben, daß von den Herrschenden oder der Gesellschaft stets zu respektieren sei; sondern er fordert nur, daß Eingriffe in die freie Verfügung des Individuums über sein Eigentum nur dann zulässig sind, wenn die Beschränkung erforderlich ist, um die Schädigung anderer oder die Gefährdung des Gemeinwohls abzuwenden. Mill geht es nicht um die Sicherung von Ansprüchen des Individuums, die dann in einem Kanon von positiven Freiheitsrechten inhaltlich werden könnten und sollten, sondern lediglich und konsequent, um die Abwehr von Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen, die aus pekuniären oder ideologischen Gründen von der Gesellschaft vorgenommen werden, ohne daß ihr durch die Unterlassung dieser Beschränkung ein nachweislicher Schaden entstünde. Der Freiheitsbegriff, den Mill hier vertritt, ist rein negativ bestimmt: Solange der Gesellschaft daraus kein Schaden entsteht, soll der Einzelne tun und lassen können, was immer er will – und sei es auch zu seinem eigenen Nachteil (z. B. wenn er aus Spielsucht all sein Hab und Gut verspielt). Zwar führt Mill zur Stützung seiner Forderung unter anderem an, daß der Gemeinschaft aller aus dem Respekt vor dieser Freiheit des Individuums, auch starken Trieben und ungewöhnlichen Neigungen zu folgen, größerer Nutzen entstehen kann als aus der Gängelung des Einzelnen, da nur so neue Entdekkungen und Erkenntnisse möglich werden können, die dann allen zu Gute kommen: »Darum tut die Gesellschaft ihre

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Pfl icht und dient ihren eigenen Interessen, wenn sie diese Naturen schützt, nicht aber, wenn sie den Stoff verwirft, aus dem Helden gemacht werden« (S. 85); aber dies führt er nur sekundär und hilfsweise an, um für die Anerkennung seines Kernarguments zu werben, das allein darauf zielt, das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen als erstes und grundlegendes Konstituens seiner Würde als Person herauszustellen. Zeitbedingt geht es Mill ganz vorrangig um die Abwehr ideologisch bedingter Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen in der Gestaltung seines individuellen Lebens und seiner Handlungen, insbesondere solcher, die aus überkommener Sitte oder aus theologischer Engstirnigkeit entweder von der herrschenden Öffentlichen Meinung oder von der etablierten herrschenden Macht vorgenommen werden; seine Forderung, die Freiheitsrechte des Einzelnen nicht ohne zureichenden Grund willkürlich zu beschränken, behält aber auch unter den gewandelten heutigen Bedingungen ihr Recht, unter denen nicht so sehr ideologische sondern mehr und mehr wissenschaftlich fundierte Argumente allgemeiner Art dafür ins Feld geführt werden, die Freiheitsrechte des Einzelnen unter Berufung auf das Wohlergehen aller zu beschränken. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Widmung, die John Stuart Mill seinem Essay voranstellt; denn hier erklärt er – und dies zu Zeiten, in denen der Rang der Frau in der Gesellschaft noch ganz darauf beschränkt war, allenfalls als züchtige Gattin ihres Ehemanns zu brillieren – mit emphatischem Nachdruck, daß er sein Werk ohne die ermunternde und kluge Inspiration seiner frühen Freundin und späteren Ehefrau Harriet Taylor nicht so hätte zustande bringen können, wie es ihm gelang – denn die Autorschaft an diesem Werk gebühre ihr zu gleichen Teilen wie ihm. Dieses Bekenntnis ist nicht Ausdruck einer sentimentalen Regung, die

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ihn – ein Jahr nach dem Tod seiner Frau – bewogen hat, ihr den Essay On Liberty zu widmen, sondern es ist – auch bezeugt durch seine posthum publizierte Autobiography – eine aufrichtige Erklärung: Harriet Taylor war nicht nur seine ihn ermunternde Freundin und Gattin, sondern die kompetente und in den Inhalten zielgebende zweite Kraft in all seinen Werken und Taten. Nicht ihr zuliebe oder in trauerndem Gedenken an die früh verlorene Gattin brachte Mill 1867 einen – gescheiterten – Antrag zur Stärkung der Rechte der Frauen im Parlament zu Westminster ein, und nicht aus sentimentalen Gründen publizierte er als seine letzte Schrift zu Lebzeiten 1869 den 1861 verfaßten Traktat The Subjection of Women, eine Streitschrift zur Durchsetzung der rechtlichen Gleichstellung der Frau – sondern aus der Einsicht, daß die von ihm geforderte Anerkennung der Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber den Forderungen der Gesellschaft natürlich auch die Anerkennung der Freiheitsrechte der Frauen, deren Recht auf Selbstbestimmung impliziert. Einmal abgesehen davon, daß Mill im Abschnitt V. seines Essays als einen Fall der von ihm eingeforderten Freiheitsrechte des Individuums ausdrücklich das Recht beider Partner einer Ehegemeinschaft auf Einforderung der Scheidung reklamiert, wenn die wechselseitigen Gefühle nicht mehr so sind, wie sie sein sollten – eine zur damaligen Zeit geradezu umstürzende Forderung, die er dann allerdings zugleich insoweit besonnen einschränkt, daß der oder die Scheidungswillige in seiner oder ihrer Entscheidung an die Verpfl ichtungen gebunden bleibt, die ihm oder ihr aus der Verantwortung für das Wohlergehen der gemeinsamen Kinder entstanden ist – , nimmt er mit der Voranstellung der Widmung, in der er seiner Frau – gegen alle Usancen der Zeit – explizit das Verdienst zuspricht, sein Werk zu gleichen Teilen mitgestaltet zu haben, in entschiedener und freier Weise all das vorweg, was er in seinem Essay On Liberty dann anschließend einfordert:

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Denn kühner als durch das Lob der Freundin und Gattin, die ihn zu dem Besten bewegt habe, das er in seinen Schriften vollbrachte, konnte Mill in einer Zeit, in der der Stellung und dem Rang einer Frau in der Gesellschaft nur ein beiläufiger und untergeordneter Wert zugewiesen wurde, seiner Forderung, daß die Freiheit des Einzelnen von den Herrschenden und von der Gemeinschaft aller respektiert und garantiert werden müsse, keinen Ausdruck verleihen! All denen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – dazu berufen sahen und noch sehen, den Einfluß von Harriet Taylor auf die Ausgestaltung des Werks von John Stuart Mill »kleinzuschreiben«, weil sich keine Aufzeichnungen oder Briefe von ihrer Hand haben fi nden lassen, die diesen Einfluß auch dokumentarisch belegen, ist entgegenzuhalten, daß sie sich auf der falschen Ebene bewegen. John Robson, der Herausgeber der Collected Works von John Stuart Mill, hat die die Bedeutung, die Mill seiner Ehefrau zumaß und um deretwillen er ihr mit der dem Essay On Liberty vorangestellten Widmung ein Denkmal setzte, richtig gesehen und in seiner Schrift The Improvement of Mankind (Toronto 1968) in die einfachen Worte gefaßt: »[I]n what we have of her writings, Harriet constantly has her eye on the future, even when criticizing the present; she was a woman of dreams and aspirations, and she must constantly have breathed into Mill a hopeful and expansive view of human possibilities«.

EDITORISCHE BEM ERKUNG

Die vorliegende Ausgabe von John Stuart Mills Essay On Liberty in deutscher Übersetzung bietet den Text in einer durchgängig revidierten und überarbeiteten Fassung der 1928 von Else Wentscher erstmals als Band 202 der Philosophischen Bibliothek vorgelegten Übertragung, die unter den Aspekten der Prägnanz in der Erfassung der Inhalte und der sprachlichen Eleganz in der Wiedergabe der Argumentation des Originals im Deutschen noch heute derart überzeugend daherkommt, daß ich mich als Herausgeber der Neuausgabe darauf beschränken konnte, nur gelegentlich veraltete Ausdrücke zu eliminieren und – dies allerdings häufiger – mißverständliche oder leicht verunglückte Passagen neu zu fassen, in denen Else Wentscher in ihrem Bemühen, die Leichtigkeit und Eleganz des Originals zu treffen, hie und da dann doch daneben gegriffen hatte. Grundlage für die Revision der Übersetzung war die Edition des englischen Textes von On Liberty durch R. Wollheim, in: John Stuart Mill, Three Essays, Oxford 1975, die den Text nach der Erstausgabe von 1859 reproduziert. Einschübe in [ ] Klammern kennzeichnen ergänzende Einfügungen des Herausgebers, Einschübe in ( ) Klammern geben in einigen Fällen, in denen dies hilfreich sein mag, den englischen Begriff für den in der deutschen Übersetzung gebrachten Ausdruck oder die Übersetzung einer lateinischen Wendung, die Mill in seinem Text anführt. Dem Text von Mill vorangestellt ist in dieser Ausgabe das aus Humboldts Schrift »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« entlehnte Motto, das Else Wentscher in ihrer Ausgabe von 1928 nicht angeführt hatte.

John Stuart Mill Über die Freiheit

In Liebe und voller Trauer ihr zum Gedächtnis, die mich zu dem Besten, was ich schrieb, inspirierte, ja es zum Teil erst hervorbrachte – der Freundin und Gattin, deren hoher Sinn für den Wert der Wahrheit und des Rechts meine strengste Anregung und deren Anerkennung mein höchster Lohn war – ihr widme ich dieses Buch. Wie bei allen Schriften, die ich in all den zurückliegenden Jahren publiziert habe, verdankt sich auch die Autorschaft dieses Buches zu gleichen Teilen ihr und mir; jedoch so, wie es jetzt vorliegt, hat es den unschätzbaren Vorteil, von ihr gegengelesen zu werden, in nur unabgeschlossenem Maße erhalten; einige der Partien von besonderer Bedeutung, die für eine nochmalige sorgsame Nachprüfung von ihrer Hand vorgesehen waren, können darauf nun nicht mehr hoffen. Wäre ich nur in der Lage, der Welt auch nur zur Hälfte die großen Ideen und noblen Empfindungen zu vermitteln, die nun mit ihr in ihrem Grabe ruhen, so würde ich der Menschheit eine weit größere Wohltat erweisen als nur die, die sich jemals aus all dem ergeben kann, was ich nun noch schreiben werde, ohne die Anregung und die Hilfe ihrer großen und unübertroffenen Weisheit.

Nach dem ganzen vorigen Raisonnement [meiner Schrift] kommt schlechterdings Alles auf die Ausbildung des Menschen in der höchsten Mannig faltigkeit an. Wilhelm von Humboldt

I. Einleitung Gegenstand dieses Essays ist nicht die sogenannte ›Freiheit des Willens‹, die gemeinhin der mißverstandenen Doktrin von der ›Determiniertheit‹ all unserer Handlungen (Philosophical Necessity) auf ungeratene Weise entgegengesetzt wird; sondern die ›Freiheit des Einzelnen‹ als Person (Civil Liberty), oder genauer seine ›Freiheit als Mitglied der Gesellschaft‹ (Social Liberty): Gegenstand ist also die Frage nach dem Umfang (nature) und den Grenzen (limits) der Macht (power), die von der Gesellschaft (society) legitim über den Einzelnen (individual) ausgeübt werden darf. Eine Frage, die bisher selten aufgeworfen und auch kaum jemals unter allgemeingültigen Aspekten erörtert worden ist, die aber auf untergründige Weise die tatsächlichen (practical) gesellschaftlichen Kontroversen unserer Zeit grundlegend prägt und sich allen Anzeichen nach schon bald als die Überlebensfrage für die Gestaltung der Zukunft erweisen wird. Dabei ist sie so weit davon entfernt, neu zu sein, daß sie in gewissem Sinne die Menschheit schon von den ältesten Zeiten an in zwei Lager geteilt hat. Aber in dem fortgeschrittenen Stadium, in das die zivilisierten Teile der Menschheit jetzt eingetreten sind, stellt sie sich unter neuen Bedingungen dar und verlangt eine andere und gründlichere Behandlung. Der Konfl ikt zwischen Freiheit [des Einzelnen] und [autoritärer] Herrschaft ist der bemerkenswerteste Zug in den Perioden der Geschichte, die wir am besten kennen, vor allem in der Geschichte Griechenlands, Roms und Eng lands. Aber in alten Zeiten bestand dieser Konfl ikt zwischen den Untertanen oder einigen Klassen von Untertanen und der

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Regierung. Unter Freiheit verstand man: Schutz vor der Tyrannei seitens der politischen Herrscher. Im [antiken] Griechenland standen die Herrscher (außer in einigen republikanisch verfassten Staaten) in einem antagonistischen Gegensatz zu dem Volk, das sie beherrschten. Die Regierung bestand aus einem Herrscher, einem herrschenden Stamm oder einer herrschenden Kaste, die ihre Autorität durch Eroberung oder Erbschaft erhalten hatten, jedoch nicht durch die Einwilligung der Beherrschten, und die dieser Herrschaft Unterworfenen wagten nicht, ja dachten vielleicht nicht einmal daran, ihnen die Herrschaft streitig zu machen, sosehr sie auch gegen deren tyrannische Ausübung Vorkehrungen treffen mochten. Die Macht der Herrscher wurde als notwendig, aber als höchst gefährlich angesehen, als eine Waffe, von der die Herrscher gegen ihre Untertanen nicht weniger als gegen äußere Feinde Gebrauch zu machen suchten. Um zu verhüten, daß unzählige Geier über die schwächeren Glieder der Gemeinschaft herfielen, war es nötig, daß ein Raubtier stärker als die übrigen und beauftragt war, jene niederzuhalten. Aber da der König der Geier nicht weniger darauf aus war, über die Herde herzufallen, als die kleineren Geier, war es unerläßlich, beständig auf der Hut zu sein, um sich gegen dessen Schnabel und Klauen zu wehren. Darum war es das Ziel aller Patrioten, der Gewalt, die der Herrscher über die Gemeinschaft ausüben durfte, Grenzen zu setzen; und in dieser Begrenzung [seiner Macht] sahen sie die [Errichtung der] Freiheit. Auf zwei Wegen wurde versucht, sie zu errichten. Erstens durch die Festschreibung bestimmter Privilegien des Einzelnen (immunities), ›politische Freiheiten‹ oder ›Rechte‹ genannt, deren Verletzung durch den Herr scher als Verstoß gegen seine Verpfl ichtung betrachtet wurde, gegen den, sollte er ihn dennoch begehen, der Widerstand einzelner oder ein allgemei ner Aufstand gerechtfertigt wäre. Ein zweiter, allerdings zumeist erst später be-

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schrittener Weg war die Errichtung verfassungsmäßiger Schranken, durch die die Zustimmung der Gemeinschaft oder einer gewissen Körperschaft, von der man annahm, sie repräsentiere ihre Interessen, zur not wendigen Bedingung [für die Durchführung] der wichtigeren Regierungsakte der herrschenden Macht gemacht wurde. Zur Akzeptanz des ersten dieser beiden Schritte zur Begrenzung ihrer Macht, wurden die Herrscher der meisten europäischen Staaten mehr oder weniger gezwungen. Anders war es mit der zweiten Bestimmung. Sie zu etablieren und, wenn sie in gewissem Grade schon erreicht war, sie zu vervollkommnen, wurde überall zum Haupt interesse der Freunde der Freiheit. Und solange die Mensch heit sich damit begnügte, einen Feind durch den anderen zu bekämpfen und von einem Herrn regiert zu werden, unter der Bedingung, daß sie gegen seine Willkürherr schaft mehr oder weniger geschützt sei, ging ihr Ehrgeiz darüber nicht hinaus. Es kam jedoch im Fortschritt der Menschheit eine Zeit, wo die Menschen es nicht mehr für naturnotwendig hielten, daß ihre Herrscher eine unabhängige Macht seien, deren Interessen den ihrigen entgegengesetzt waren. Es erschien ihnen weit besser, wenn die verschiedenen obrigkeitlichen Personen ihre Lehnsleute oder ihre Beauftragten waren, die sie nach Belieben abberufen könnten. Dieser Weg allein schien ihnen volle Sicherheit dafür zu bieten, daß die Regierungsgewalt niemals zu ihrem Nachteil mißbraucht werden könne. Mit der Zeit wurde das neue Verlangen nach einer wählbaren und zeitlich beschränkten Regierung der Hauptgegenstand für die Bestrebungen der Volkspartei, wo immer eine solche Partei existierte, und der Kampf darum über wog wesentlich die früheren Versuche, die Regierungsmacht zu beschränken. In dem Maße, in dem der Kampf darum andauerte, daß die Regierungsgewalt aus periodischen Wahlen durch die Regierten hervorgehe, dachten manche, daß man der Beschränkung jener Gewalt

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zuviel Aufmerksamkeit gewidmet habe. Das – so schien es – war eine Sicherheit gegen solche Regierende, deren Interessen denen des Volks entgegengesetzt sind. Jetzt aber war es nötig, daß die Regierenden mit dem Volke einig seien, daß ihre Interessen und ihr Wille mit denen des Volkes zusam menfielen. Das Volk aber brauchte gegen seinen eigenen Willen nicht geschützt zu werden. Es brauchte nicht seine eigene Tyrannei gegen sich selbst zu fürchten. Wenn nur die Machthaber wirklich dem Volk verantwortlich waren und von ihm ausgetauscht werden konnten, so konnte man wagen, sie mit einer Gewalt zu betrauen, deren Gebrauch das Volk selbst bestimmen konnte. Ihre Macht war nur die Macht des Volkes selbst, konzentriert und gebrauchsfertig. Diese Art zu denken, oder besser gesagt, zu fühlen, war der letzten Generation der europäischen Liberalen gemeinsam, und offenbar herrscht sie auf dem Kontinent noch vor. Glänzende Ausnahmen unter den Denkern des Festlandes sind die, die eine Grenze anerkennen für das, was eine Regierung tun darf, außer wenn die Regierung nach ihrer Meinung kein Recht hat, zu bestehen. Eine ähnliche Denkungsart würde in dieser Epoche in unserm eignen Lande herrschen, wenn die Umstände, die sie eine Zeitlang ermutigten, unverändert geblieben wären. Aber bei politischen und philosophischen Theorien, wie bei einzelnen Personen, offenbart der Erfolg oft Fehler und Schwächen, die sonst unentdeckt geblieben wären. Die Vorstellung, daß das Volk es nicht nötig habe, seine Macht über sich selbst zu begrenzen, konnte axiomatisch er scheinen, solange Volksherrschaft etwas war, von dem man nur träumte oder von dem man gelesen hatte, daß es in einer entfernten Periode in der Vergangenheit existiert habe. Auch mußte diese Vorstellung nicht notwendig gestört werden durch zeitweilige Abirrungen wie die der französischen Revolution, deren schlimmste das Werk einiger weniger Usurpato-

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ren waren und die jedenfalls nicht zu den ständigen Auswirkungen populärer Institutionen gehörten, sondern einen plötz lichen und konvulsivischen Ausbruch gegen monarchischen und aristokratischen Despotismus darstellten. Mit der Zeit aber nahm eine große demokratische Republik einen erheblichen Teil der Erdoberfl äche ein. Sie entwickelte sich zu einem der machtvollsten Glieder in der Gemeinschaft der Nationen. Dadurch wurde eine wählbare und verantwortliche Regierung zum Gegenstand der Beobachtung und Kritik, wie das mit jeder großen realen Tatsache der Fall ist. Es wurde nun bemerkt, daß Phrasen wie ›Selbstregierung‹ und die ›Herrschaft des Volkes über sich selbst‹ nicht den wahren Sachverhalt ausdrücken. Das ›Volk‹, das die Herrschaft ausübt, ist nicht immer dasselbe wie das, worüber sie ausgeübt wird, und die vielbesprochene ›Selbstregierung‹ bedeutet nicht, daß jeder von sich selbst beherrscht werde, sondern jeder von allen übrigen. Der ›Wille des Volkes‹ bedeutet praktisch: der Wille des der Zahl nach größten und tätigsten Teiles des Volkes; die ›Majorität‹ umfaßt diejenigen, denen es gelingt, sich als Mehrheit geltend zu machen; es ist darum möglich, daß das Volk wünscht, einen Teil aus seiner Mitte zu unterdrücken, und so sind Vor sichtsmaßregeln gegen diesen wie gegen jeden Mißbrauch der Gewalt nötig. Die Beschränkung der Regierungsmacht über einzelne verliert darum nichts von ihrer Wichtigkeit, wenn die Machthaber dem Volke, das heißt der stärksten Partei, verantwortlich sind. Mühelos hat sich diese Beurteilung der Dinge eingebürgert, die sich ebensosehr der Einsicht der Denker empfahl wie der Neigung der wichtigsten Klassen der europäischen Gesellschaft, zu deren wirklichen oder eingebildeten Interessen die Demokratie im Gegensatz steht. Darum wird in politischen Erörterungen die ›Tyrannei der Mehrheit‹ jetzt gewöhnlich unter den Übeln aufgezählt, vor denen die Gesellschaft auf ihrer Hut sein soll.

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Aber obgleich diese Behauptung nicht leicht in allgemeinen Begriffen zu bestreiten ist, so ist die praktische Frage, wo die Grenze zu setzen sei und wie man die geeignete Abgrenzung fi nde zwischen persönlicher Unabhängigkeit und der Kontrolle der Gesellschaft, ein Problem, bei dem fast alles noch zu lösen bleibt. Alles, was das Leben für den Einzelnen wertvoll macht, beruht darauf, daß man den Handlungen der anderen Menschen Zwang und Schranken auferlegt. Darum müssen einige Verhaltensmaßregeln gegeben werden, zunächst durch das Gesetz; bei den Dingen aber, die für [eine Regelung durch] die Gesetzgebung nicht geeignet sind, durch das Dafürhalten der Menschen. Worin diese Regeln bestehen sollten, ist die Hauptfrage für die menschliche Gesellschaft. Diese Frage gehört jedoch, wenn wir einige der ein fachsten Fälle ausnehmen, zu den Problemen, deren Lösung den geringsten Fortschritt gemacht hat. Nicht zwei Zeitalter und kaum zwei Länder haben sie auf die gleiche Weise entschieden, und die Ent scheidung eines Zeitalters und eines Landes setzt die je anderen in Erstaunen. Und doch vermuten die Menschen eines bestimmten Zeitalters oder Landes keine Schwierigkeit darin, so als ob die Mensch heit in ihren Urteilen stets übereingestimmt hätte. Die Regeln, die unter ihnen gelten, erscheinen ihnen selbstverständ lich und keiner Rechtfertigung bedürftig. Diese fast in der ganzen Welt verbreitete Täuschung ist ein Beispiel für die wundersame Macht der Gewohnheit, die nicht nur, wie das Sprichwort sagt, eine zweite Natur ist, sondern beständig für die erste genommen wird. Die Macht der Gewohnheit verhindert, daß man die Regeln des Verhaltens jemals mißachtet, die die Menschen einander auferlegen, und die Gewohn heit ist um so zwingender, weil man es meist nicht für nötig hält, Gründe für das zur Gewohnheit Gewordene an zugeben; man bringt solche Gründe weder anderen noch sich selbst zum Bewußtsein. Die Menschen

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haben sich vielmehr daran gewöhnt, zu glauben – und einige, die sich Phi losophen nennen, haben sie in diesem Glauben bestärkt –, daß diese Dinge mehr durch Gefühl als durch Vernunft gründe entschieden werden, ja, daß Gefühle die Vernunftgründe überflüssig machen. Das praktische Prinzip, das sie bei der Bestimmung menschlicher Handlungen leitet, ist das Gefühl eines jeden, daß jeder andere so handeln müsse, wie man selbst und die eigenen Freunde das gerne hätten. Zwar gesteht sich niemand ein, daß der Maßstab für sein Handeln nur sein eigenes Belieben ist; aber ein Urteil über Handlungen, das nicht von Vernunftgründen ausgeht, kann nur als persönliche Vorliebe eines Menschen gelten. Und wenn die Gründe nichts anderes geltend machen als ähnliche Vorlieben anderer Menschen, so ist nur das Belieben vieler Menschen an Stelle des einen getreten. Für einen gewöhnlichen Menschen ist jedoch sein eigenes Belieben, wenn es durch das der anderen gestützt wird, nicht allein ein vollkommen genügender Grund, sondern auch der einzige, den er anführen kann für all jene seiner Vor stellungen von Moral, Geschmack oder Schicklichkeit, die ihm nicht von seinem religiösen Glauben ausdrücklich vorgeschrieben werden. Ja selbst zur Interpretation jenes Glaubens ist das persönliche Belieben der erste Führer. Die Meinungen der Menschen über das, was zu loben oder zu tadeln ist, hängen von all den mannigfachen Gründen ab, die ihre Wünsche für das Verhalten der anderen beeinflussen. Und diese Gründe sind so zahlreich wie diejenigen, die ihre Neigung in irgendeiner anderen Hin sicht bestimmen. Zuweilen ist dieser Faktor ihre Ver nunftansicht, ein andermal Vorurteil oder Aberglaube, oft soziale Regungen, nicht selten aber auch unsoziale Motive wie Neid oder Eifersucht, Anmaßung oder Hoch mut, aber zumeist persönliche Wünsche oder persönliche Furcht, berechtigtes oder unberechtigtes Selbstinteresse. Wo es eine übermächtige Klasse gibt, rührt ein

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großer Teil der moralischen Begriffe eines Landes von deren Klassen interessen, von deren Gefühl der Überlegenheit als Klasse her. Das moralische Verhältnis zwischen Spartanern und Heloten, zwischen Pfl anzern und Negern, zwischen Für sten und Untertanen, Adeligen und Rotariern, Männern und Frauen ist zum größten Teil das Ergebnis dieser Klas sen interessen und -empfi ndungen. Und die Gefühle, die dadurch erzeugt werden, wirken wieder zurück auf das moralische Empfi nden der Mit glieder der übermächtigen Klasse, auf ihre Beziehungen untereinander. Wo andrer seits eine einst übermächtige Klasse ihre Übermacht verloren hat oder wo diese Übermacht unpopulär geworden ist, tragen die herrschenden mora li schen Empfi ndungen oft das Gepräge einer ungeduldigen Abneigung gegen jede Überlegenheit. Ein anderes, sehr bestimmendes Prin zip für die Verhaltensregeln – für das Tun und Lassen der Menschen –, die durch Gesetze oder Meinungen durchgesetzt werden, ist die Unterwürfigkeit der Men schen gegenüber den mutmaßlichen Neigungen oder Abneigungen ihrer augenblicklichen Herrn oder ihrer Götter. Diese Unterwürfigkeit ist, obgleich ausgesprochen selbst süchtig, doch nicht heuchlerisch. Aus ihr entstanden ganz echte Gefühle des Abscheus; sie bewirkte, daß die Men schen Zauberer und Ketzer verbrannt haben. Unter so vielen niederen Einflüssen haben allgemeine und offenkundige Interessen der Gesellschaft natürlich auch einen Anteil an der Ausrichtung der moralischen Empfi ndungen gehabt, und zwar einen großen; freilich weniger in Form von Vernunfterwägungen und um ihrer selbst willen, sondern mehr als eine Folge der Sympathien und Antipathien, die aus ihnen entstehen; und Sympathien und Antipathien, die wenig oder oft nichts mit den Interessen der Gesellschaft zu tun haben, wirkten auf die Bildung der moralischen Begriffe ebenso mächtig mit ein.

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So haben die Neigungen und Abneigungen der Gesellschaft oder einer mächtigen Clique hauptsächlich die Regeln bestimmt, die zur allgemeinen Befolgung festgelegt sind unter dem Schutz von Gesetz oder öffentlicher Meinung. Sehr oft haben die, die in ihrem Denken und Fühlen der Gesellschaft voraus waren, diese Sachlage im Prinzip unberührt gelassen, wenn sie auch im Einzelfall damit in Konfl ikt gerieten. Sie haben sich lieber damit beschäftigt, zu bestimmen, welche Dinge die Gesellschaft billigen oder mißbilligen sollte, als zu fragen, ob diese Tendenzen ein Gesetz für das Individuum seien. Sie bemühten sich lieber, die Gefühle der Menschen in den Punkten zu ändern, in denen sie selbst ketzerisch waren, als um der Frei heit willen gemeinsame Sache mit Ketzern zu machen. Der einzige Fall, in dem der höhere Standpunkt prinzipiell und konsistent von mehr als einem eingenommen wurde, ist der des religiösen Glaubens. Das ist in mehr als einer Beziehung lehrreich, nicht zum mindesten darum, weil es einen schlagenden Beweis für die Unzulänglichkeit dessen bietet, was man ›moralischen Sinn‹ nennt. Denn das odium theologicum (der theologische Haß) eines ehrlichen Bigotten ist einer der unzweideutigsten Fälle des moralischen Sinnes. Diejenigen, die zuerst das Joch dessen brachen, was man die ›allgemeine Kirche‹ nannte, waren zumeist ebensowenig gewillt, abweichende religiöse Meinungen zu dulden wie jene Kirche selbst. Aber die Hitze des Kampfes ging vor über, ohne irgendeiner Partei einen vollständigen Sieg zu verschaffen, und jede Kirche oder Sekte war auf die Hoff nung angewiesen, den einmal eroberten Grund weiter zu besitzen. Da die Minderheiten keine Aussicht hatten, ein mal Mehrheiten zu werden, so mußten sie dennoch streben, diejenigen, die sie nicht bekehren konnten, um die Erlaubnis zu bitten, von ihnen abweichen zu dürfen. Fast ausschließlich auf diesem Schlachtfeld sind die Rechtsansprüche des Individuums gegen die Gesellschaft auf

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breiter Grundlage behauptet worden, und das Verlangen der Gesellschaft, Autorität über Abweichende auszuüben, ist oft bekämpft worden. Die großen Schriftsteller, denen die Welt das verdankt, was sie an religiöser Freiheit besitzt, haben zumeist die Gewissensfreiheit als unveräußerliches Recht behauptet und haben absolut geleugnet, daß ein menschliches Wesen anderen gegenüber für seinen religiösen Glauben verantwortlich sei. Doch ist den Menschen Intoleranz in allem, was ihnen am Herzen liegt, so natürlich, daß religiöse Freiheit kaum irgendwo praktisch verwirk licht ist, außer da, wo religiöse Gleichgültigkeit, die ihren Frieden nicht durch theologische Streitigkeiten gestört haben will, ihr Gewicht in die Waagschale geworfen hat. Im Sinne fast aller religiöser Menschen, selbst in den tolerantesten Ländern, gilt die Pfl icht der Duldung nur mit stillschweigender Reserve. Einer verträgt Widerspruch zwar in Dingen, die das Kirchenregiment angehen, aber nicht in bezug auf das Dogma; ein anderer übt Duldung gegen jeden, außer gegen Papisten oder Unitarier, wieder ein anderer gegen jeden, der an eine geoffenbarte Religion glaubt. Einige erstrecken ihre Duldung ein wenig weiter, aber sie machen halt beim Glauben an Gott und an die Unsterblichkeit. Überall, wo das Gefühl der Mehrheit noch echt und stark ist, fi ndet man, daß es seinen An spruch auf Herrschaft nur wenig gemildert hat. In England wiegt infolge der besonderen Umstände unserer politischen Geschichte das Joch der Meinung viel leicht schwerer, das des Gesetzes vielleicht leichter als in den meisten anderen Ländern Europas. Ja, es besteht ein beträchtliches Mißtrauen gegenüber direkten Eingriffen der gesetzgebenden oder ausführenden Gewalt in das Privatleben, aber nicht sosehr, weil man auf die Unabhängig keit des Individuums angemessene Rücksicht nimmt, sondern weil man, nach alter Gewohnheit, in der Regierung eine dem Volksinteresse

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feindliche Macht sieht. Die Mehrheit hat noch nicht gelernt, die Macht der Regierung als ihre Macht oder deren Ansichten als eigene Meinungen anzusehen. Wenn sie das gelernt hat, dann wird wahr scheinlich die individuelle Freiheit Angriffen von seiten der Regierung ebenso ausgesetzt sein wie jetzt von seiten der öffentlichen Meinung. Aber bis jetzt regt sich noch lebhafter Widerspruch gegen jeden Versuch des Gesetzes, die Einzelnen in Dingen zu beeinflussen, in denen die Individuen bisher an eine Kontrolle nicht gewöhnt waren. Dabei unterscheiden sie wenig, ob die Sache in die legitime Sphäre gesetzlichen Einflusses gehört oder nicht. So ist das Gefühl des Widerstandes, das im ganzen höchst heilsam ist, im einzelnen vielleicht ebensooft übel angebracht wie gut begründet. Es gibt in der Tat kein anerkanntes Prinzip, nach dem das Eingreifen der Regierung als angemessen oder unangemessen bewertet wird. Die Menschen entscheiden nach ihren persönlichen Vorlieben. Einige wollen, sobald sie sehen, daß etwas Gutes getan oder et was Übles verhindert werden kann, die Regierung sofort veranlassen, dies zu tun. Andere dagegen ertragen lieber jedes soziale Übel, als daß sie sich entschlössen, einen Bereich der menschlichen Angelegenheiten der Regierungskontrolle zu unterwerfen. Je nach der allgemeinen Ausrichtung ihrer Gefühle wählen die Menschen in jedem Einzelfalle die eine oder die andere Lösung, oder sie ent scheiden sich nach dem Interesse, das sie an dem frag lichen Gegenstand nehmen. Andere wieder entscheiden sich, je nachdem sie glauben, daß die Regierung in der von ihnen gewünschten Weise handeln werde oder nicht. Sehr selten aber urteilen sie auf Grund einer prinzipiellen Überlegung, welche Geschäfte der Regierung zustehen und welche nicht. Und mir scheint, daß infolge dieses Mangels an Prinzipien die eine Partei sich ebensoviel irrt wie die andere. Das Eingreifen der Regierung wird eben so oft zu Unrecht angerufen, wie zu Unrecht verurteilt.

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Das Ziel dieses Essays ist es, ein sehr einfaches Prinzip in Geltung zu setzen, das allein und ausschließlich (absolutely) das Eingreifen der Gesellschaft in die Angelegenheiten des Einzelnen rechtfertigt, mögen die Mittel des Eingreifens gesetzliche Strafen oder der moralische Druck der öffentlichen Mei nung sein. Dieser Grundsatz lautet: Der einzige Grund, aus dem es der Gemeinschaft aller (mankind) gestattet ist, einzeln oder vereint, eines ihrer Mitglieder in der Freiheit seines Tuns zu beschränken, ist der Selbstschutz Und der einzige Zweck, um dessent willen man mit Recht gegen ein Glied einer gebildeten Gesellschaft Gewalt gebrauchen darf, ist: Schaden für andere zu verhüten. Das eigene physische oder moralische Wohl des Handelnden ist kein genügender Vorwand. Man kann jemanden gerechterweise nicht zwingen, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn selbst so besser sei, weil es ihn glücklicher machen würde oder weil es nach der Meinung anderer weise oder gerecht wäre, wenn er so handelte. Dies sind gute Gründe, um jemandem Vorhaltungen zu machen oder mit ihm zu debattieren, ihn zu überzeugen oder in ihn zu dringen; aber es sind keine Motive, um ihn zu zwingen oder Strafen über ihn zu verhängen, falls er anders handelt. Um das zu rechtfertigen, muß das Handeln, von dem man jemand abbringen will, für einen anderen einen Schaden bedeuten. Jeder ist nur für den Teil seines Handelns der Gesellschaft verantwortlich, der andere betriff t. In dem Gebiet, das nur ihn angeht, ist seine Unabhängigkeit absolut. Der Mensch ist Alleinherrscher über sich selbst, über seinen Körper und seinen Geist. Wir brauchen wohl kaum zu sagen, daß diese Lehre nur für menschliche Wesen in der Reife ihrer Entwicklung gilt. Wir sprechen nicht von Kindern oder von jungen Leuten unterhalb des Alters, das das Gesetz bei Männern und Frauen als Volljährigkeit festsetzt. Diejenigen, die noch die Fürsorge anderer gebrauchen, müssen vor den Folgen ihrer eigenen

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Handlungen wie vor äußerer Unbill geschützt werden. Aus denselben Gründen können wir jene zurückgebliebenen gesellschaftlichen Zustände, in denen die Menschheit gewissermaßen noch unmündig ist, von unserer Betrachtung ausschließen. Die ersten Schwierig keiten, die sich dem spontanen Fortschritt entgegenstel len, sind so groß, daß selten eine Wahl in den Mitteln, sie zu überwinden, bleibt. Und ein Herrscher, der von dem Wunsche der Vervollkommnung seines Volkes erfüllt ist, darf jedes Mittel ergreifen, um ein Ziel zu erlangen, das sonst vielleicht unerreichbar wäre. Despotismus ist eine legitime Regierungsform, solange es sich um Barbaren handelt, vorausgesetzt, daß deren Höherentwicklung sein Ziel ist und daß die Mittel sich durch das tatsächliche Erreichen dieses Zieles rechtfertigen. Freiheit als Prinzip kommt nicht in Betracht, bevor die Menschen zu freier, gleichberechtigter Diskussion fähig werden; vorher bleibt ihnen nichts anderes übrig als unbedingter Gehor sam gegen einen Akbar oder einen Karl den Großen, wenn sie das Glück haben, einen zu fi nden. Aber sobald die Menschheit soweit ist, daß sie durch Überzeugung oder Überredung zu ihrer eigenen Fortentwicklung geleitet werden kann (eine Periode, die von den Nationen, mit denen wir uns hier beschäftigen, schon lange erreicht ist), ist Zwang weder in direkter Form noch in der, daß man Ungehorsam mit Strafe belegt, als Mittel für das persönliche Wohl eines Menschen zulässig. Nur um der Sicherheit der anderen willen sind jene Mittel zu billigen. Ich darf wohl erwähnen, daß ich auf jeden Vorteil verzichte, der meinen Argumenten aus der Idee eines abstrakten Rechtes zuwachsen könnte, das von jeder Rücksicht auf Nützlichkeit frei ist. Ich betrachte Nützlichkeit als höchstes Kriterium in allen ethischen Fragen, aber ich fasse den Nutzen im weitesten Sinne, der gegründet ist auf die dauernden Interessen des Menschen als eines entwick lungsfähigen We-

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sens. Und ich behaupte: Diese Interessen rechtfertigen die Unterwerfung der individuellen Selbstbestimmung unter äußere Kontrolle nur für solche Hand lungen, die das Interesse anderer betreffen. Wenn jemand anderen Schaden zufügt, so liegt ein deutlicher Anlaß vor, ihn zu bestrafen, entweder durch das Gesetz oder, wo gesetzliche Strafen nicht angewendet werden können, durch allgemeine Mißbilligung. Es gibt auch viele positive Handlungen zum Besten anderer, zu denen jemand mit Fug und Recht angehalten werden kann, daß man zum Beispiel Zeugnis vor einem Gerichtshof ablege oder daß man seinen gebührenden Anteil leiste an der Landesver teidigung oder an anderen Werken im Interesse des Gemeinwesens, unter dessen Schutz wir stehen. Man ist aber auch zu bestimmten Akten persönlichen Wohlwollens verpfl ichtet, zum Beispiel das Leben eines anderen zu retten oder den Schutzlosen gegen üble Behandlung zu schützen. In all den Fällen, wo es deutlich die Pfl icht eines Menschen ist, Bestimmtes zu leisten, kann er bei Unterlassung mit Recht von der Gesellschaft zur Verantwor tung gezogen werden. So kann jemand anderen Übles er weisen nicht nur durch sein Tun, sondern auch durch sein Unterlassen, stets aber ist er für den Schaden verantwort lich. Im letzten Fall freilich muß man den Zweck viel vorsichtiger erwägen als im ersten. Die Regel ist, daß man jemand verantwortlich macht für den Schaden, den er anderen zugefügt hat; dagegen ist es die Ausnahme, wenn man ihn für das, was er nicht verhindert hat, zur Rechenschaft zieht. Aber es gibt viele Fälle, die klar und wichtig genug sind, um eine Ausnahme von dieser Regel zu rechtfertigen. In allen Dingen, die die äußeren Verhältnisse eines Einzelnen betreffen, ist man mit Recht dem haftbar, dessen Interessen im Spiele sind, und wo es nötig ist, der Gesellschaft als der Beschützerin des Einzelnen. Es sind oft gute Gründe vorhanden, jemanden nicht zur Verantwor tung zu ziehen, aber diese Gründe müssen

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aus den gezielten Nützlichkeitserwägungen des Einzelfalles entspringen: etwa, weil ein Fall vorliegt, in dem der Betreffende besser handelt, wenn er sich selbst überlassen bleibt, als wenn er von der Gesellschaft auf irgendeine ihr mögliche Art kontrolliert wird; oder weil der Versuch, Zwang auszuüben, größere Übel mit sich führen würde als die, die es zu verhindern galt. Wenn solche Gründe den Zwang der Verantwortlichkeit ausschließen, sollte das Gewissen des Handelnden selbst den verlassenen Richterstuhl einneh men und die Interessen derer, die keinen äußeren Schutz genießen, vertreten. Dabei sollte man sich selbst umso strenger beurteilen, weil der betreffende Fall nicht zuläßt, daß man von anderen gerichtet werde. Aber es gibt eine Lebenssphäre, an der die Gesellschaft im Unterschied zu dem Einzelnen nur ein indirektes Interesse hat; sie betriff t den ganzen Umkreis des Lebens, der nur den Einzelnen selbst angeht oder andere höchstens bei eigener, freier, selbst gewollter und nicht erzwungener Zustimmung und Teilhabe. Wenn ich sage: Diese Lebenssphäre geht nur den Einzelnen selbst an, so meine ich – direkt und zunächst. Denn was immer den Einzelnen angeht, kann mittelbar auch die anderen betreffen; der Einwurf, der auf dieses Bedenken gestützt ist, wird im Folgenden beobachtet werden. Dies ist also der eigentliche Bereich der menschlichen Freiheit. Er betriff t zunächst die Domäne des Gewissens, und er fordert Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinn: Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und der gefühlsmäßigen Wertung in allen Dingen, praktischen wie theoretischen, wissenschaftlichen, moralischen wie theologischen. Die Freiheit, seine Meinung auszusprechen und zu veröffentlichen, scheint unter ein anderes Prinzip zu gehören, denn sie fällt unter das Gebiet der menschlichen Betätigungen, das sich an andere Menschen wendet. Aber sie ist doch ebenso wichtig wie die Freiheit des Denkens selbst und be-

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ruht zum großen Teil auf denselben Prinzipien; so ist sie von jener nicht zu trennen. Sodann erfordert unser Prinzip Freiheit des Geschmacks und der Betätigung, die Freiheit, den Plan unseres Lebens so zu entwerfen, wie es unserem Charakter angemessen ist, zu tun, was wir wollen und die Folgen unseres Handelns zu tragen; ungehindert von unseren Mitmenschen, solange wir ihnen kein Leid zufügen – ungehindert auch dann, wenn jene unser Handeln töricht, pervers oder falsch fi nden sollten. Schließlich folgt aus der Freiheit jedes Einzelnen innerhalb derselben Grenzen die Freiheit des Zusammenschlusses der Einzelnen, sofern anderen dadurch kein Leid zufügt wird. Wobei allerdings die Voraussetzung ist, daß die Personen, die sich zusammenschließen, volljährig sind und weder gezwungen noch getäuscht werden. Keine Gesellschaft ist frei, in der diese Rechte nicht im Ganzen respektiert werden, welches auch immer die Form ihrer Regierung sei. Und keine ist vollkommen frei, in der diese Rechte nicht absolut und unbeschränkt gelten. Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, besteht darin, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Art zu suchen, solange wir dabei nicht die Absicht hegen, andere ihrer Freiheit zu berauben oder ihre dahin zielenden An strengungen zu durchkreuzen. Jeder ist der eigene Hüter seiner Gesundheit, der körperlichen wie der seelischen und geistigen. Die Menschheit f ährt besser, wenn sie zugibt, daß jeder nach eigenem Gutdünken lebt, als wenn sie jeden zwingt, so zu leben, wie es den übrigen paßt. Obgleich diese Lehre nichts weniger als neu ist und manchen wie ein Gemeinplatz anmuten mag, so gibt es kein Prinzip, das der allgemeinen Tendenz des Denkens und Tuns direkter entgegengesetzt ist. Die Gesellschaft hat (gemäß ihrer Einsicht) ebensoviel Mühe darauf ver wendet, den Menschen ihre Begriffe von persönlicher wie von sozialer Vortreffl ichkeit aufzuzwingen. Die antiken Staaten glaubten

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sich berechtigt (und die antiken Philosophen unterstützten sie darin), durch öffentliche Autorität jedes Gebiet des Privatlebens zu regeln. Es geschah darum, weil der Staat ein tiefgehendes Interesse an der ganzen körperlichen und geistigen Disziplin jedes Einzel nen hatte. Eine solche Denkungsart mag zulässig gewesen sein in kleinen Republiken, die von mächtigen Feinden umgeben waren; hier bestand die stete Gefahr, daß man von einem äußeren Angriff oder auch von einem inneren Aufstand überrascht wurde. Dabei konnte eine kurze Spanne erschlaff ter Energie und Selbstzucht verhängnisvoll werden, und so konnten diese Staaten die heilsame dauernde Wirkung der Freiheit nicht abwarten. In der modernen Welt hat der größere Umfang der Staatswesen und vor allem die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt ein so tiefes Eingreifen des Gesetzes in die Einzelheiten des Privatlebens verhindert, denn diese Trennung legte die Leitung der Gewissen in andere Hände als die Kontrolle der weltlichen Angelegenheiten. Das Triebwerk des moralischen Druckes, das dennoch besteht, verurteilt ein Abweichen von der herrschenden Meinung in persön lichen Dingen strenger als in sozialen Angelegenheiten. Das mächtigste Element, das an der Bildung der moralischen Gefühle teilnimmt, die Religion, steht fast immer unter Fremdherrschaft: entweder durch den Ehrgeiz der Hierarchie, die Einfluß auf alle Lebensgebiete zu gewin nen sucht, oder durch den Geist des Puritanismus. Und einige von den anderen Reformern, die sich in schärfsten Gegensatz gestellt haben zu den Religionen der Vergangenheit, sind in ihrer Behauptung des Rechtes auf geistige Herrschaft keineswegs hinter Kirchen und Sekten zu rückgeblieben. Vor allem strebt Auguste Comte in seinem sozialen System, das er im ›System der positiven Politik‹ dargelegt hat, nach der Errichtung eines Despotismus der Gesellschaft über das Individuum (allerdings mehr durch moralischen als durch gesetzlichen Zwang),

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der alle da hingehenden politischen Ideale der streng sten Disziplin hinter sich läßt, die die antiken Philosophen hegten. Abgesehen von den besonderen Lehren einzelner Den ker besteht aber überhaupt in der Welt eine zunehmende Neigung, die Macht der Gesellschaft über das einzelne Individuum ungebührlich zu vermehren durch den Einfluß der Meinung wie durch den der Gesetzgebung. Da die Tendenz aller Veränderungen in der Welt darauf gerichtet ist, die Gesellschaft zu stärken und die Macht des Einzel nen zu schwächen, so gehört diese Beeinträchtigung nicht zu den Übeln, die von selbst verschwinden werden, sondern zu denen, die immer furchtbarer werden. Diese Neigung der Men schen, entweder als Gesetzgeber oder als Mitbürger die eigenen Mei nungen und Neigungen als Regeln des Verhaltens auf andere zu übertragen, wird energisch unterstützt durch die besten wie durch die ärgsten Gefühlsmomente in der menschlichen Natur. So wird dieser Faktor kaum durch etwas anderes als durch Beschrän kung des Einflusses im Zaume gehalten werden können. Da aber diese Macht nicht kleiner, sondern größer wird, wenn nicht eine starke Schranke aus moralischen Überzeugungen gegen das Übel errichtet wird, so müssen wir, wie die Dinge in der Welt jetzt liegen, erwarten, daß sie sich vergrößern. Es wird für unsere Gedankenführung zweckmäßig sein, wenn wir, anstatt sogleich die Hauptthese zu erwägen, uns zuerst auf einen Einzelzweig beschränken, in dem unser Prinzip, wenn auch nicht vollkommen, so doch bis zu einem gewissen Grad von der öffentlichen Meinung gebilligt wird. Dieser eine Zweig ist die Freiheit des Denkens, von der sich die Freiheit der Rede und des Schrifttums nicht wohl trennen läßt. Obgleich diese Rechte beträchtlichen Anteil haben an der politischen Moral aller Länder, die sich zu religiöser Duldung und zu freien Institutionen bekennen, so sind die philosophi schen und praktischen Gründe, auf denen jene

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beruhen, dem allgemeinen Bewußtsein doch nicht so vertraut und auch den Stimmführern nicht so bekannt, wie man erwarten sollte. Diese Gründe erstrecken sich, richtig verstanden, viel weiter als nur auf einen Teil des Gegenstandes; darum wird eine eingehende Erwägung dieser Frage zugleich als beste Einführung in die übrigen dienen. Diejenigen, denen alles, was ich sage, schon bekannt ist, werden mich darum hoffentlich entschuldigen, daß ich eine neue Erörterung eines Gegenstandes wage, der in den letzten drei Jahrhunderten sehr oft diskutiert worden ist.

II. Von der Freiheit des Denkens und der Rede Die Zeit ist hoffentlich vorbei, wo irgendeine Verteidigung der Pressefreiheit als Sicherung gegen eine korrupte oder tyrannische Regierung nötig wäre. Wir brauchen vermutlich kein Argument dafür, daß es einer Legislative oder Exekutive, deren Interessen nicht mit denen des Vol kes übereinstimmen, nicht erlaubt sein kann, dem Volke Meinungen vorzuschreiben und zu bestimmen, welche Lehren und welche Argumente man hören darf. In dieser Hinsicht ist unsere Frage überdies so oft und so umfassend von früheren Schriftstellern erörtert worden, daß sie hier nicht besonders behandelt werden muß. Obgleich das englische Pressegesetz noch heute ebenso knechtischen Charakter hat wie in den Zeiten der Tudors, so besteht doch geringe Gefahr, daß es gegen politische Diskussion wirklich angewendet werde, außer in Zeiten der Panik, wenn Furcht vor Aufruhr Ministern und Richtern die Besinnung raubt,1 und im Diese Worte waren kaum geschrieben, als die Regierung, als wollte sie sie emphatisch Lügen strafen, die Presseverfolgungen von 1

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allgemeinen ist es in verfassungsmäßig geordneten Ländern nicht zu befürchten, daß die Regierung – ob sie dem Volk völlig verantwortlich sei oder nicht – oft versuchen wird, die Meinungsäußerungen zu kontrollieren, außer wenn sie sich damit zum Organ der öffentlichen Unduldsamkeit macht. Nehmen wir jedoch [den Fall als gegeben] an, daß die 1858 begann. Dieses schlecht beratene Eingreifen in die Freiheit der öffentlichen Diskussion hat mich jedoch nicht veranlaßt, ein einziges Wort im Text zu ändern. Auch hat es nicht im geringsten meine Überzeugung beeinträchtigt, daß – Augenblicke der Panik ausgenommen – die Zeit der Strafen und Bußen für politische Erörterungen in unserem Lande vor über ist. Denn erstens hielten die Verfolgungen nicht an, und zweitens waren sie genaugenommen keine politischen Verfolgungen. Jene An klage galt nicht der Kritik an staatlichen Einrichtungen oder an Hand lungen oder den Personen der Gesetzgeber, sondern der Verbreitung einer für unmoralisch geltenden Lehre, nämlich der von der Rechtmä ßigkeit des Tyran nen mordes. Wenn die Argumente des vorliegenden Kapitels von irgendwelchem Wert sind, so sollte die vollste Freiheit bestehen, jede Lehre als Gegenstand ethischer Überzeugung zu bekennen und zu erörtern, für wie unmoralisch man sie auch hält. Es wäre darum irrelevant und unangebracht, wollten wir hier die Frage erörtern, ob die Lehre vom Tyrannenmord diesen Namen verdient. Ich will mich damit begnügen zu sagen, daß dies zu allen Zeiten eine offene Frage der Moral gewesen ist. Ist doch die Tat eines Bürgers, der einen Verbrecher niederschlägt, der sich über das Gesetz erhoben und sich außerhalb des Bereiches gesetzlicher Strafe oder Kontrolle gestellt hat, von ganzen Nationen und von einigen der besten und weisesten Männer nicht als Verbrechen, sondern als Akt erhabener Tugend bewertet worden. Ob man diese Tat für Recht oder Unrecht hält, sie fällt nicht unter die Gattung der Morde, sondern in den Bereich des Bürgerkrieges. Wenn dem so ist, dann meine ich, daß die Aufreizung zu einer solchen Tat wohl in einem besonderen Falle ein besonderer Gegenstand der Bestrafung sein mag, aber nur, wenn ihr ein offener Akt gefolgt ist und wenn ein Zusammenhang zwischen Tat und jener Aufreizung wahrscheinlich gemacht werden kann. Selbst dann aber ist es nicht eine fremde Regierung, sondern nur die betroffene selbst, die das Recht hat, in Selbstverteidigung jene Angriffe gegen ihre Existenz zu strafen.

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Regierung mit dem Volke ganz eins sei und niemals daran denkt, einen Zwang auszuüben, außer in Übereinstimmung mit dem, was sie für die Volksmeinung hält. Ich leugne auch in diesem Fall das Recht des Volkes, durch sich selbst oder durch seine Regierung einen solchen Zwang auszuüben. Die Ausübung dieses Zwanges an sich ist ungesetzlich. Die beste Regierung hat nicht mehr Recht dazu als die schlechteste. Der Zwang ist ebenso schädlich oder noch schädlicher, wenn er in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung ausgeübt wird, als wenn er im Gegensatz zu ihr steht. Wenn die Gemeinschaft aller (mankind) eine übereinstimmende Mei nung verträte und nur eine Person wäre vom Gegenteil überzeugt, so hätte die Gemeinschaft aller nicht mehr Recht, den einen zum Schweigen zu bringen, als dieser, wenn er denn über die Kraft dazu verfügte, das Recht hätte, allen anderen den Mund zu verbieten. Wäre eine Meinung ein Privatbesitz, der nur für den Eigentümer Wert hätte, und wäre, darin gehindert zu werden, nur eine persön liche Unbill für den Betroffenen, so läge ein gewisser Unterschied darin, ob das Unrecht vielen oder nur wenigen zugefügt würde. Aber das eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, daß es ein Raub an der Gemeinschaft aller ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von dieser Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen. Wenn die Meinung, um die es sich handelt, richtig ist, so sind sie um die Gelegenheit gebracht, einen Irrtum für die Wahrheit einzutauschen; war sie aber falsch, so kommen die Menschen um das, was eine fast ebenso große Wohltat ist, um die deutlichere Wahrnehmung und um den lebhaften Eindruck der Wahrheit, die aus der Kollision von Wahrheit und Irrtum entspringen. Diese beiden Hypothesen müssen gesondert betrachtet werden, da jede von ihnen verschiedene Argumente auslöst.

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Wir können niemals sicher sein, daß die Meinung, die wir zu unterdrücken suchen, falsch ist; aber selbst wenn wir diese Sicherheit hätten, dann wäre Unterdrückung noch immer ein Übel. Erstens: Die Meinung, die man durch Autorität zu unterdrücken sucht, kann möglicherweise wahr sein. Diejenigen, die sie zu unterdrücken wünschen, leugnen natürlich ihre Wahrheit. Aber sie sind nicht unfehlbar. Sie haben nicht das Recht, die Frage für die ganze Menschheit zu entscheiden und jede andere Person von der Möglich keit des Urteils auszuschließen. Wenn jemand einer Mei nung das Gehör ver weigert, weil er überzeugt ist, daß sie falsch sei, so setzt er voraus, daß seine Überzeugung gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit sei. Eine Diskussion zum Schweigen zu bringen bedeutet immer: sich Unfehlbarkeit anzumaßen. Zur Verurteilung dieses Tuns genügt dieses gewöhnliche Argument, das, wenn auch gewöhnlich, so doch nicht schlecht ist. Ein Unglück für den gesunden Sinn der Menschen ist es, daß die Tatsache ihrer Fehlbarkeit praktisch nicht das Gewicht hat, das ihr theoretisch zugesprochen wird. Denn während jeder weiß, daß er sich irren kann, so halten doch nur wenige es für notwendig, sich gegen die eigene Fehlbarkeit zu schützen oder die Voraussetzung an zunehmen, daß irgendeine Meinung, derer sie sich sicher fühlen, ein Beispiel jenes Irrtums sein mag, dem unter worfen zu sein sie bekennen. Absolute Fürsten oder andere, die an unbegrenzte Unterwerfung gewöhnt sind, fühlen dieses vollkommene Vertrauen in ihre eigene Meinung in fast allen Dingen. Leute, die glücklicher dran sind, die ihre Meinung bisweilen bestritten sehen und denen es nicht ganz ungewöhnlich ist, zurechtgewiesen zu werden, wenn sie im Unrecht sind, setzen dies unum schränkte Vertrauen nur in die Meinungen, die von ihrer ganzen Umgebung geteilt werden. Zum mindesten brauchen sie die Zustimmung derjenigen, denen

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sie sich gewohnheitsmäßig unterordnen; denn in demselben Grade, wie jemand seinem eignen Urteil mißtraut, stützt er sich gewöhnlich mit unbeschränkter Seelenruhe auf die Un fehlbarkeit der ›Welt‹ im allgemeinen. Und die ›Welt‹ bedeutet für jeden Einzelnen den Teil davon, mit dem er in Berührung kommt: seine Partei, seine Kirche, seine Klasse. Der Mann, der mit diesem Begriff etwas so Um fassendes wie sein Land oder sein Zeitalter verbindet, kann vergleichsweise liberal und großzügig genannt werden. Auch wird sein Glaube an diese umfassende Autorität keineswegs dadurch erschüttert, daß andere Zeitalter, Länder, Kirchen, Sekten, Klassen oder Parteien das genaue Gegenteil gedacht haben und noch denken. Er bürdet der eigenen Welt die Verantwortung dafür auf, daß er im Recht ist gegen die abweichenden ›Welten‹ anderer Leute; niemals stört ihn der Gedanke, daß der reine Zufall darüber entschieden hat, welche von diesen zahlreichen ›Welten‹ der Gegenstand seines Vertrauens geworden ist, und daß dieselben Gründe, die ihn in London zu einem kirchlichen Christen gemacht haben, ihn in Peking zu einem Buddhisten oder zu einem Anhänger des Konfuzius gestempelt hätten. Aber es ist so gewiß, wie nur irgendein Beweis es machen könnte, daß Zeitalter nicht unfehlbarer sind als Einzelne, da jedes Jahrhundert Meinungen vertreten hat, die die folgenden Epochen als falsch, ja als absurd erkannt haben. Und es ist ebenso sicher, daß viele jetzt allgemeingeltende Meinungen durch kom mende Zeitalter verworfen werden, wie es Tatsache ist, daß viele einst allgemein anerkannte Ansichten jetzt ver worfen sind. Der Einwand, den man gegen dieses Argument wahrscheinlich erheben wird, dürfte etwa die folgende Form annehmen. Es liegt keine größere Anmaßung der Unfehlbarkeit darin, daß man die Verbreitung eines Irrtums verbietet, als in jeder anderen Handlung, die die Obrigkeit auf ihr eigenes Urteil und ihre Verantwortung hin unter nimmt.

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Die Urteilskraft ist den Menschen gegeben, damit sie sie gebrauchen. Sollen wir sie darum nicht anwenden, weil wir uns irren können? Wenn Menschen verhindern, was sie für verderblich halten, so behaupten sie damit nicht ihre Unfehlbarkeit, sondern sie erfüllen die Pfl icht, die ihnen trotz ihrer Fehlbarkeit obliegt, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Wenn wir niemals nach unsrer Meinung handeln sollten, weil diese auch falsch sein kann, so könnten wir unsere Interessen nicht wahr nehmen und unsere Pfl ichten nicht erfüllen. Ein Einwurf, der alles Handeln überhaupt treffen würde, kann nicht gegen eine bestimmte Art des Handelns erhoben werden. Es ist Pfl icht der Regierung wie der Einzelnen, ihre Ansichten so triftig und sorgsam wie möglich zu bilden und sie anderen niemals aufzudrängen, es sei denn, man wäre ganz sicher, daß man recht hat. Aber wenn man diese Sicherheit erlangt hat – so werden theoretische Denker er widern –, so ist es nicht Gewissenhaftigkeit, sondern Feig heit, wenn man davor zurückschreckt, nach seiner Überzeugung auch zu handeln. Man darf nicht zulassen, daß Lehren, die man für das Heil der Menschheit in diesem oder einem anderen Leben für gef ährlich hält, schranken los verbreitet werden, nur weil andere Menschen in weniger aufgeklärten Zeiten Meinungen verfolgt haben, die man jetzt für richtig hält. Machen wir, wird man sagen, nicht denselben Fehler. Aber Regierungen und Völker haben auch in den Dingen geirrt, von denen niemals jemand geleugnet hat, daß sie geeignete Gegenstände ihres Urteils seien. Sie haben schlechte Steuern auferlegt und ungerechte Kriege geführt. Schließen wir daraus, daß wir überhaupt keine Steuern auferlegen und trotz aller Herausforderung auf Krieg verzichten sollen? Die Einzelnen und die Regierungen müssen nach ihrer besten Einsicht handeln. Es gibt keine absolute Gewißheit, aber es gibt eine hinlängliche Sicherheit, die für die Zwecke des mensch lichen Lebens genügt. Wir

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wollen und müssen anneh men, daß unsere Meinung richtig sei, um unseres eigenen Lebens willen, und mehr als diesen Anspruch erheben wir nicht, wenn wir schlechten Menschen verbieten, die Gesellschaft durch die Verbreitung von Meinungen zu zerrütten, die wir für falsch und verderblich halten. Ich erwidere: Wir setzen damit tatsächlich viel mehr voraus. Es ist etwas völlig anderes, wenn wir annehmen, daß eine Ansicht wahr sei, weil sie trotz aller Möglichkeiten, ihr zu widersprechen, nicht widerlegt worden ist, als wenn wir ihre Wahrheit in dem Sinne voraussetzen, daß wir keinen Widerspruch zulassen. Völlige Freiheit des Angriff s und Widerspruchs ist die eigentliche Bedingung, die uns instand setzt, unsere Ansichten in unserem Handeln zu bestätigen; unter anderen Bedingungen hat ein Wesen von menschlichen Fähigkeiten nicht das Bewußtsein, im Recht zu sein. Beobachten wir die Geschichte der Meinungen oder den gewöhnlichen Gang des menschlichen Lebens und fra gen wir: Wie kommt es, daß beide nicht schlimmer sind, als es der Fall ist? Der Grund liegt gewiß nicht in der natürlichen Kraft des menschlichen Verstandes. Denn in jeder Sache, die sich nicht von selbst versteht, kommen neunundneunzig Personen, die gar nicht imstande sind, richtig zu urteilen, auf eine urteilsfähige. Und auch das Talent dieser hundertsten Person ist nur relativ. Denn die mei sten hervorragenden Persönlichkeiten jedes vergangenen Zeitalters hielten viele Meinungen für richtig, die man heute als Irrtümer erkannt hat, und sie taten oder billigten viele Handlungen, die jetzt niemand rechtfertigen würde. Wie kommt es, wenn dem so ist, daß im ganzen innerhalb der Menschheit vernünftige Meinungen und Handlungen vorwiegend sind? Wenn dieses Übergewicht vorhanden ist – und es muß vorhanden sein, wenn die menschlichen Angelegenheiten nicht von jeher in einem verzweifelten Zustand waren –, so dankt man dieses

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Verhalten einer Eigenschaft des menschlichen Geistes, der Quelle all dessen, was am Menschen als einem intellektuellen oder moralischen Wesen achtbar ist: der Tatsache, daß seine Fehler korrigierbar sind. Die Menschen sind im stande, ihre Fehler gutzumachen durch Diskussion und durch Erfahrung. Nicht durch Erfahrung allein. Es bedarf der Diskussion, um aufzuzeigen, wie die Erfahrung zu deuten ist. Irrige Meinungen und Gewohnheiten weichen allmählich der Macht der Tatsachen und der Gründe; Tat sachen und Gründe aber müssen dem Geist, damit sie irgendeinen Eindruck auf ihn machen, bewußt werden. Sehr wenige Tatsachen sprechen so für sich, daß es keines Kommentars bedarf, um ihre Bedeutung zu entdecken. Die ganze Kraft und der Wert des menschlichen Urteils beruht also auf der einen Eigenheit, daß der Mensch, wenn im Irrtum, berichtigt werden kann; darum kann dem menschlichen Urteil nur so lange Vertrauen geschenkt werden, als die Mittel der Berichtigung stets bereitgehalten werden. Worauf beruht es, daß das Urteil eines Menschen wahrhaft vertrauenswürdig erscheint? Es kommt daher, daß er seinen Geist für die Kritik an seiner Meinung und an seinem Handeln offengehalten hat, daß er sich daran gewöhnt hat, auf alles zu hören, was gegen ihn vorgebracht werden konnte. Er hat sich das, was an dieser Kritik richtig war, zunutze gemacht, und er hat sich und gelegentlich auch anderen die Falschheit dessen, was falsch war, zu Bewußtsein gebracht. Er hat gewußt, daß der einzige Weg, auf dem ein Mensch dazu kommt, einen Gegenstand ganz zu kennen, der ist, daß er über diesen Gegenstand die Meinungen der verschiedensten Menschen höre und alle Gesichtspunkte studiere, unter denen die Sache von den verschiedensten Charakteren betrachtet werden kann. Kein Weiser hat seine Weisheit jemals auf einem anderem als auf diesem Wege gewonnen, es liegt nicht in der Natur des menschlichen Geistes, auf andere Art klug zu werden.

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Die stete Gewohnheit, die eigene Meinung zu verbessern und zu vervollständigen durch Vergleich mit den Ansichten anderer, ist weit ent fernt davon, Zweifel und Zaudern in das praktische Handeln zu bringen; sie schaff t vielmehr die einzig sichere Grund lage zu dauerndem Vertrauen in das Handeln eines Menschen. Denn wenn jemand alles kennt, was gegen ihn geltend gemacht werden kann, wenn er seine Stellung gegen alle Gegner gefestigt hat, wenn er weiß, daß er Einwürfe und Schwierigkeiten gesucht und nicht gemieden hat und daß er kein Licht ausgeschlossen hat, das von irgendeiner Richtung aus auf den zu beurteilenden Gegenstand fällt – wenn er das alles erfahren hat, dann hat er ein Recht, sein Urteil für begründeter zu halten als das irgendeiner Einzelperson oder einer Mehrheit, die nicht durch einen ähnlichen Prozeß hindurch gegangen sind. Es heißt nicht zuviel zu verlangen, wenn man fordert, daß, was die weisesten und urteilsfähigsten Menschen not wendig fi nden, um diesen Glauben zu begründen, auch von jener bunten Menge einiger Weisen und vieler Toren befolgt werde, die das Publikum heißt. Die unduldsamste aller Kirchen, die römisch-katholische, läßt sogar bei der Heiligsprechung eines Seligen einen ›Teufelsadvokaten‹ zu und hört geduldig auf seine Worte. Offenbar können die heiligsten Menschen nicht zu postumen Ehren zugelassen werden, bis alles bekannt und abgewogen ist, was der Teufel gegen sie vorbringen kann. Wenn es nicht erlaubt wäre, die Newtonsche Philosophie anzuzweifeln, so könnten wir uns auf ihre Wahrheit nicht so vollständig verlassen, wie wir es jetzt tun. Die bestbegründeten Über zeugungen haben keine andere Sicherheit, auf die sie sich stützen könnten, als die beständige Einladung an die ganze Welt, sie als unbegründet zu erweisen. Wenn die Herausforderung nicht angenommen wird oder wenn sie angenommen wird und fehlschlägt, so sind wir noch immer weit genug von Gewißheit entfernt, aber

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wir haben das Beste getan, was der augenblickliche Stand der menschlichen Vernunft zuläßt. Wir haben nichts geduldet, was der Wahrheit verwehren könnte, zu uns zu dringen: Wenn nur die Grenzen offengelassen werden, so kön nen wir hoffen, daß, wenn es eine bessere Wahrheit gibt, sie auch gefunden wird, sobald der menschliche Geist imstande ist, sie aufzunehmen. Und in der Zwischenzeit können wir uns darauf verlassen, daß wir uns der Wahrheit soweit genähert haben, als es in unseren Tagen überhaupt möglich ist. Dies ist das Maß von Gewißheit, das ein irrender Mensch überhaupt erreichen kann, und dies der einzige Weg, auf dem es möglich ist. Sonderbar ist es, daß die Menschen zwar für freie Diskussion eintreten, aber sich dagegen verwahren, daß die Meinungen bis ins Extrem getrieben werden; sie sehen nicht, daß die Gründe nur dann für zwingend gelten dür fen, wenn sie auch auf die äußersten Fälle angewandt werden dürfen. Es ist seltsam genug, daß Menschen sich einbilden, keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit zu erheben, wenn sie zwar zugeben, daß alle Dinge zur freien Diskussion stehen, die möglicherweise zweifelhaft sein können, zugleich aber denken, ein besonderes Prinzip oder eine besondere Doktrin sollte man nicht in Frage stellen dür fen, weil sie so gewiß sind, was bedeutet, daß sie selbst gewiß sind, daß jene gewiß sind. Wenn wir irgendeinen Satz als gewiß erkennen, während noch irgend jemand, wenn er dürfte, seine Gewißheit anzweifeln würde, so machen wir uns und unsere Gesinnungsgenossen zu Richtern über die Gewißheit, und zwar zu Richtern, die die andere Seite nicht hören. Im gegenwärtigen Zeitalter, das man ›des Glaubens bar und bange vor dem Zweifel‹ [Carlyle] genannt hat, fühlen die Men schen nicht so sehr, daß ihre Ansichten wahr sind, als viel mehr, daß sie diese Ansichten notwendig brauchen. So stützen sie den Anspruch auf den Schutz einer Ansicht

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nicht auf deren Wahrheit, sondern auf ihre Wichtigkeit für die Gesellschaft. So sind, wie man versichert, verschiedene Glaubensüberzeugungen so nützlich, um nicht zu sagen so unentbehrlich für das allgemeine Wohlergehen, daß es eher Pfl icht der Regierung ist, diese zu stützen, als irgendwelche andere Interessen der Gesellschaft zu schüt zen. Im Falle so dringender Notwendigkeit und bei einer Sache, die so völlig im Umkreis der Regierungspfl ichten liegt, kann, so behauptet man, schon etwas weniger als un fehlbare Gewißheit die Regierungen berechtigen, ja ver pfl ichten, nach ihrer von der allgemeinen Meinung der Menschheit getragenen Überzeugung zu handeln. Es ist oft gesagt und noch öfter gedacht worden, daß es doch nur schlechte Menschen seien, die den Wunsch hegen, so heilsame Überzeugungen zu lockern; so meint man, es könne kein Unrecht sein, sich schlechten Menschen zu widersetzen und sie zu hindern, das auszuführen, was doch nur solche Leute wünschen können. Für diese An schauungsweise hängt die Einschränkung der Diskussion nicht von der Wahrheit der Lehren, sondern von ihrer Nützlichkeit ab, und sie schmeichelt sich, auf diese Art der Verantwortung zu entgehen, die der Anspruch auf Unfehlbarkeit des Urteils mit sich bringt. Aber die sich damit beruhigen, sehen nicht, daß sie den Anspruch auf Unfehlbarkeit ihres Urteils nur von einem Punkt auf den anderen verlegen. Die Nützlichkeit einer Meinung ist selbst Ansichtssache, so bestreitbar, der Erörterung so zugäng lich und ihrer so bedürftig wie die Meinung selbst. Es bedarf eines ebenso unfehlbaren Richters, um zu entscheiden, daß eine Meinung schädlich ist, wie, um zu erken nen, daß sie falsch sei, wenn nicht die verurteilte Meinung volle Gelegenheit, sich zu verteidigen, hat. Und es nützt nichts, wenn man erklärt, der Ketzer dürfe immerhin die Nützlichkeit oder Belanglosigkeit seiner Lehre behaupten, nur nicht ihre Wahrheit. Die Wahrheit einer Ansicht ist ein Teil ihrer Nützlichkeit. Wenn

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wir wissen wollen, ob es wünschenswert sei oder nicht, daß ein Lehrsatz geglaubt werde, können wir da von der Frage absehen, ob diese Lehren wahr seien? Nicht schlechte, sondern die besten Menschen bekennen sich zu der Meinung, daß kein Satz, der der Wahrheit entgegensteht, nützlich sein kann; darf man jene hindern, diesen Grund vorzubringen, wenn man ihnen vorwirft, daß sie die Nützlichkeit einer Lehre, die sie für falsch halten, leugnen? Diejenigen, die auf dem Standpunkt einer allgemein anerkannten Meinung stehen, verfehlen niemals, dieses Motiv so weit wie möglich auszunützen. Sie behandeln die Frage der Nützlichkeit nicht so, als ob man dabei von der Wahrheit völlig absehen könnte; im Gegenteil, sie meinen, ihre Ansicht oder der Glaube daran sei so unerläßlich, weil sie die Wahrheit enthält. Es kann keine faire Diskussion über die Frage der Nützlichkeit geben, wenn ein so eingreifendes Argument nur auf der einen Seite gebraucht werden darf, aber nicht auf der anderen. Und in der Tat, wenn Gesetz oder öffent liche Meinung verbieten, daß die Wahrheit einer Ansicht bezweifelt werde, so sind sie um nichts weniger unduld sam, wenn man deren Nützlichkeit angreift. Das äußerste, was sie zulassen, ist, daß man die absolute Notwendigkeit der Lehre anzweifle oder daß man die Schuld derjenigen mildere, die diese Lehre zurückweisen. Doch ich will die Unbill, die daraus entsteht, wenn wir eine Meinung nicht hören wollen, weil wir sie in unserem eigenen Urteil verdammt haben, anschaulich illustrieren. Darum ist es wünschenswert, wenn wir die Diskussion auf einen konkreten Fall beziehen, und ich wähle mit Vorliebe solche Fälle, die wenig günstig für mich sind, das heißt Fälle, in denen man meint, die Argumente gegen Gedankenfreiheit – in bezug auf Wahrheit wie auf Nützlichkeit – wögen am schwersten. Die angefochtenen Lehren seien der Glaube an Gott und an ein künftiges Leben oder einer

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der allgemein anerkannten Sätze aus dem Gebiet der Moral. Es gewährt einem unfairen Gegner einen großen Vorteil, wenn man den Kampf auf ein solches Gebiet verlegt; denn er wird sicherlich bereit sein zu fragen (und viele, die nicht unfair sein wollen, werden innerlich dasselbe sagen): ›Sind dies die Lehren, die du nicht für sicher genug hältst, um sie unter den Schutz des Gesetzes zu stel len? Ist der Glaube an Gott eine von den Meinungen, die nur der annehmen kann, der sich Unfehlbarkeit anmaßt?‹ Aber es sei mir gestattet, zu bemerken, daß es nicht die sichere Überzeugung von der Wahrheit einer Lehre (sei es, welche es wolle) ist, was ich ›Anspruch auf Unfehlbarkeit‹ nenne, es ist der Versuch, die Frage für andere zu entscheiden, ohne daß man jenen erlaubt, die Argumente der Gegenseite zu hören. Und ich verklage und verwerfe diesen Anspruch nicht weniger, wenn er für die Seite meiner feierlichsten Überzeugung erhoben wird. So fest jemand auch überzeugt sein mag, nicht nur von der Unwahrheit einer Ansicht, sondern auch von ihren verderblichen Folgen, und nicht nur von diesen, sondern (um in Ausdrücken zu reden, die ich sonst verdamme) auch von der Unsittlichkeit und Gottlosigkeit einer Meinung – so nimmt er, sobald er auf Grund seines Urteils, wenn es auch gestützt ist durch die Billigung seines Volkes und seiner Zeitgenossen, jene Meinung an ihrer Verteidigung hindert, Unfehlbarkeit für sich in Anspruch. Und diese An maßung ist nicht weniger verwerfl ich oder gefährlich, wenn jene Meinung unsittlich oder unfromm genannt wird; vielmehr ist dieses der verhängnisvollste Fall. Denn dieses sind gerade die Gelegenheiten, in denen die Men schen eines früheren Zeitalters jene schrecklichen Mißgriffe begingen, die der Nachwelt zu Staunen und zu Ent setzen gereichen. Hier fi nden wir denkwürdige Beispiele in der Geschichte, wo die Macht des Gesetzes dazu gebraucht wurde, die besten Menschen und die edelsten Lehren auszurotten. So beklagenswert der

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Erfolg für die betreffenden Menschen war, so haben einige der Lehren überdauert, um – wie zum Hohn – aufgerufen zu werden, zur Verteidigung eines ähnlichen Verhaltens gegen jene, die von den ehemals bestraften Lehren oder von ihrer allgemein anerkannten Auslegung abweichen. Die Menschheit kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß einst ein Mann namens Sokrates lebte, der mit der Obrigkeit und mit der öffentlichen Meinung sei ner Zeit in einen denkwürdigen Konfl ikt geriet. Geboren in einem Zeitalter und einem Land, das überreich war an persönlicher Größe, wird er uns geschildert von solchen, die ihn und das Zeitalter am besten kannten: als der tugendhafteste Mann jener Epoche. Und wir kennen ihn als das Haupt- und Urbild aller nachfolgenden Tugendlehrer, als Quelle der erhabenen Inspiration eines Plato und der klug abwägenden Nützlichkeitslehre des Aristoteles, des ›Meisters derer, die da wissen‹ [Dante], der beiden Urquellen der Ethik und aller anderen Philosophie. Dieser anerkannte Meister aller hervorragenden Denker, die je gelebt haben, dessen Ruhm nach mehr als zwei Jahrtausenden noch im Wachsen begriffen ist, der alle anderen Namen, die seine Geburtsstadt berühmt gemacht, überstrahlt – dieser Mann wurde von seinen Landsleuten zum Tode verurteilt, nach einer auf Gotteslästerung und Unsittlichkeit lautenden Anklage. Der Gotteslästerung, weil er die vom Staat anerkannten Götter leugne, ja, seine Ankläger versicher ten – nach der ›Apologie‹ –, daß er überhaupt an keine Götter glaube. Der Unsittlichkeit, weil er durch seine Lehren und sein Beispiel ›ein Verderber der Jugend‹ sein sollte. Dieser Anklagen – so müssen wir glauben – befand ihn ehrlichen Herzens das Tribunal für schuldig und ver urteilte den Mann, der sich von allen damals Lebenden vielleicht das größte Verdienst um die Menschheit erworben hatte, als Verbrecher zum Tode. Gehen wir von diesem Ereignis zu dem einzigen anderen Beispiel eines Justizver-

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brechens, dessen Erwähnung nach der Verurtei lung des Sokrates keine Antiklimax ist, zu dem Ereignis, das vor mehr als 1800 Jahren auf dem Kalvarienberg statt fand. Der Mann, der allen, die Zeugen seines Lebens und seiner Lehre waren, einen so entschiedenen Eindruck sitt licher Größe machte, daß die Menschen ihn 1800 Jahre lang wie den Allmächtigen selbst verehrt haben, dieser Mann wurde zu schimpfl ichem Tode verurteilt. Um wessentwillen? Als Gotteslästerer! Die Menschen verkannten nicht nur ihren Wohltäter; sie hielten ihn sogar für das genaue Gegenteil von dem, was er wirklich war: Sie behandelten ihn als Ausbund der Ruchlosigkeit, wofür jetzt diejenigen gelten, die ihn richteten. Die Gefühle, mit denen die Menschen heute jene beklagenswerten Vorgänge, besonders den letzteren, betrachten, machen sie ungerecht gegen die unseligen Täter. Es waren allem Anschein nach keine schlechten Menschen, jedenfalls nicht schlechter, als eben Menschen zu sein pflegen, eher das Gegenteil. Es waren Menschen, die in vollem Maße die religiösen, moralischen oder patriotischen Gefühle ihrer Zeit und ihres Volkes besaßen; die Sorte Menschen, die zu jeder Zeit, auch jetzt noch, Aussicht hat, tadellos und geachtet durchs Leben zu gehen. Der Hohepriester, der sein Gewand zerriß, als er die Worte vernahm, die nach der An sicht seiner Zeit das schwerste Verbrechen enthielten, war höchstwahrscheinlich in seinem Entsetzen und seinem Zorn ebenso aufrichtig, wie heute die meisten ehrbaren und frommen Männer in den religiösen und sittlichen Empfi ndungen sind, die sie bekennen. Die meisten derjenigen, die heute vor dem Verhalten des Hohenpriesters schaudern, würden wohl, wenn sie zu seiner Zeit als Juden gelebt hätten, genau wie er gehandelt haben. Streng gläubige Christen, denen der Gedanke kommt, daß diejenigen, die die ersten Märtyrer steinigten, schlechtere Menschen als sie selbst waren, sollen sich erinnern, daß unter jenen Verfolgern der Apostel Paulus war.

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Wir wollen noch ein Beispiel erwähnen, das schlagend ste von allen, wenn die Größe eines Irrtums gemessen wird an der Weisheit und Tugend dessen, der in den Irr tum verfiel. Wenn jemals ein Machthaber das Recht hatte, sich für den besten und aufgeklärtesten der Zeitgenossen zu halten, so war es der Kaiser Marc Aurel. Absoluter Herrscher über die ganze zivilisierte Welt, hat er sein Leben lang nicht nur reinste Gerechtigkeit geübt, sondern er hat auch – was bei seiner stoischen Erziehung weniger zu erwarten war – stets das zartfühlendste Herz bewiesen. Die wenigen Fehler, die man ihm vorwerfen kann, stam men alle aus seiner Milde: während seine Schriften, das höchste ethische Produkt des antiken Geistes, kaum, wenn überhaupt, von den Lehren Christi abweichen. Dieser Mann war in jedem Sinn, außer im dogmatischen, ein besserer Christ als fast alle sogenannten christlichen Herrscher, die seitdem regiert haben. Dabei aber verfolgte er die Christen. Auf dem Gipfel aller bisherigen Errungen schaften der Menschheit stehend, mit offenem und ungetrübtem Geist und einem Charakter, der ihn von selbst dazu führte, in seinen ethischen Schriften das christliche Ideal zu verkörpern, sah er doch nicht, daß das Christentum ein Gut und kein Übel für die Welt bedeute, für die er so tiefe Verpfl ichtung empfand. Er sah nur, daß die Gesellschaft seiner Zeit in einem beklagenswerten Zustand war, und er glaubte zu sehen, daß sie zusammengehalten und vor noch tieferem Sinken bewahrt werde durch gläubige Verehrung der überlieferten Götter. Als Herrscher der Menschheit hielt er es für seine Pfl icht, die Gesellschaft nicht in sich zerfallen zu lassen. Wenn aber die überlieferten Bande in Stücke gingen, dann sah er nicht, wie neue gebildet werden könnten, die das Geborstene wieder aneinander kitteten. Die neue Religion aber beabsichtigte offen die Lösung dieser Bande. Wenn es also nicht seine Pfl icht war, sie anzunehmen, war es seine Pfl icht, sie zu unterdrücken. Da die christliche Theolo-

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gie ihm nicht wahr oder göttlichen Ursprungs zu sein schien, da ihm diese sonderbare Geschichte von einem gekreuzigten Gott nicht glaubhaft schien, und da ein System, das vorgab, ganz auf einem Grunde zu ruhen, der ihm so gänzlich unglaubhaft war, seiner Ansicht nach nicht die erneuernde Kraft sein konnte, als die es sich bei allen Abstrichen doch in der Tat erwiesen hat, willigte der sanfteste und liebenswürdigste aller Philosophen und aller Herrscher in die Christenverfolgung ein. Diese Tatsache gehört für mein Empfi nden zu den tragischsten Ereignissen der Weltgeschichte. Es ist schmerzlich zu denken, wie anders das Christentum der Welt ausgesehen hätte, wenn der christliche Glaube unter den Auspizien Marc Aurels an statt unter dem Schutz des Kaisers Konstantin zur Staatsreligion geworden wäre. Aber man kann nicht leugnen, daß kein Grund, den man zur Verfolgung widerchristlicher Lehren anführen kann, nicht auch Marc Aurel zugute kam, um gegen die Christen ins Feld zu ziehen. So glaubt gewiß kein Christ fester, daß der Atheismus falsch sei und nur zur Auflösung der Gesellschaft beitrage, als Marc Aurel das vom Christentum annahm. Dabei wäre er von allen damals Lebenden am besten imstande gewesen, die christlichen Lehren zu würdigen. Jemand, der dafür eintritt, daß die Verbreitung bestimmter Meinungen straf bar ist, müßte sich schmeicheln, weiser und besser zu sein als Marc Aurel, tiefer vertraut mit der Weisheit seiner Zeit, ja über sie erhaben, ernster in seinem Wahrheitssuchen und aufrichtiger in seiner Liebe zur Wahrheit, sonst müßte er dem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit und an die seiner Umgebung entsagen, die Marc Aurel mit so unglückseligem Erfolg festhielt. Schließlich sind sich die Feinde der Religionsfreiheit bewußt, daß sie unmöglich Strafe auf irreligiöse Ansichten setzen können, ohne irgendein Argument zu gebrauchen, das nicht auch Marc Aurel rechtfertigen würde. In die Enge ge-

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trieben, geben sie diese Konsequenz schließlich zu und erklären mit Doktor Samuel Johnson: Die Christenverfolger seien im Recht, die Verfolgung sei ein Gottesur teil, durch das die Wahrheit hindurch müsse und das sie stets mit Erfolg bestehe. Sie erklären: Gesetzliche Strafen seien der Wahrheit gegenüber machtlos, so heilsam ihr Nutzen auch zuweilen gegen verderbliche Irrtümer sein mag. Diese Art, religiöse Intoleranz zu verteidigen, ist so bemerkenswert, daß wir sie nicht mit Stillschweigen übergehen können. Die Behauptung, daß die Wahrheit gerechterweise verfolgt werden dürfe, weil die Verfolgung ihr unmöglich schaden könne, diese Behauptung ist nicht absichtlich feindlich gegen neue Ideen. Aber wir können andererseits auch nicht ihre Großmut gegen die rühmen, denen die Menschheit jene neuen Ideen verdankt. Wenn man der Welt etwas entdeckt, was sie tief berührt und wovon sie bisher nichts wußte, wenn man ihr beweist, daß sie in einem wesentlichen Punkt von weltlichem oder geist lichem Interesse im Irrtum war, so ist das ein so wichtiger Dienst, als ein menschliches Wesen seinen Mitmenschen nur erweisen kann. Ja, in gewissen Fällen, wie in denen der ersten Christen und der Reformatoren, gilt diese Leistung denjenigen, die wie Dr. Johnson denken, für die kostbarste Gabe, die der Menschheit erwiesen werden kann. Daß den Urhebern so glänzender Wohltaten mit Martyrium vergolten wurde, daß sie zur Belohnung wie die schwersten Verbrecher behandelt wurden, das betrachten sie nicht als beklagenswerten Irrtum oder als Unglück, wofür die Menschheit in Sack und Asche trauern müßte, sondern als den gerechten und normalen Stand der Dinge. Nach dieser Theorie sollte der Verkünder einer neuen Wahrheit, wie bei den Lokrern der Urheber eines neuen Gesetzesvorschlags, stets mit einer Schlinge um den Hals erscheinen, damit er sofort erdrosselt werde, wenn die Versammlung beim Anhören seiner Gründe nicht sogleich seine Vorschlä-

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ge annimmt. Man kann kaum glauben, daß Leute, die diese Art, Wohltaten zu behandeln, verteidigen, viel Wert auf die Wohltaten legen: Und ich meine, daß diese Ansicht von der Sache zumeist auf die Menschen beschränkt ist, die da glauben, daß neue Wahrheiten zwar einst wünschenswert waren, aber daß wir jetzt genug davon haben. Aber in der Tat, das Diktum, die Wahrheit triumphiere stets über die Verfolgung, ist einer jener gefälligen Irrtümer, die die Menschen einander nachsprechen, bis sie zu Gemeinplätzen werden, obgleich sie durch alle Erfahrung widerlegt werden. Die Geschichte bietet genug Beispiele dafür, daß die Wahrheit durch Verfolgung unterdrückt wurde. Und wenn sie nicht für immer unterdrückt wurde, so kann sie doch für Jahrhunderte zurückgeworfen werden. Wir wollen uns nur der Beispiele aus der Religionsgeschichte erinnern. Die Reformation begann mindestens zwanzigmal vor Luther, wurde aber stets niedergeschlagen. Arnold von Brescia wurde unterdrückt, ebenso Fra Dolcino und Savonarola. Auch die Albigenser wurden unterdrückt, geradeso wie die Waldenser, die Lollarden und die Hussiten. Auch noch im Zeitalter Luthers war die Verfolgung, wo sie andauerte, siegreich. So wurde in Spa nien, in Italien, Flandern und Öster reich der Protestantismus ausgerottet. Dasselbe wäre wahrscheinlich in Eng land geschehen, hätte Königin Maria [I.] länger gelebt, oder wäre Elisabeth [I.] früher gestorben. Die Unterdrükkung hat überall Erfolg gehabt, wo die Ketzer nicht eine so mächtige Partei darstellten, daß man sie nicht erfolgreich bekämpfen konnte. Kein Verständiger kann daran zweifeln, daß das Christentum im Römischen Reich hätte ausgerottet werden können. Es verbreitete sich und gelangte zur Herrschaft, weil die Verfolgungen nur gelegentlich statt fanden, nur kurze Zeit dauerten und getrennt waren durch lange Zwischenräume fast unumschränkter Verbreitung. Es ist eitle Sentimentalität, wenn man glaubt, daß die Wahrheit als sol-

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che eine ihr innewohnende Kraft habe, die dem Irrtum versagt ist und die jene befähigt, sich gegen Kerker und Scheiterhaufen zu behaupten. Die Menschen kämpfen im allgemeinen nicht eifriger für die Wahrheit als für den Irrtum, und ein genügendes Quantum gesetzlicher oder auch nur sozialer Zwangsmittel wird im allgemeinen beiden Einhalt gebieten. Der wirkliche Vorteil der Wahrheit besteht nur darin, daß eine wahre Meinung wohl öfter ausgerottet werden kann, daß sich aber im Laufe der Zeit sicher Menschen fi nden werden, die sie entdecken. Schließlich werden einige von diesen Entdeckungen in Zeiten fallen, wo es der wahren Meinung gelingen wird, infolge glücklicher Um stände so zu erstarken, daß sie alle weiteren Angriffe bestehen kann. Man wird erwidern, daß wir jetzt die Vertreter neuer Mei nungen nicht zum Tode verurteilen; wir sind nicht wie unsere Väter, die die Propheten erschlugen, wir setzen ihnen sogar Denkmäler. Es ist wahr, daß wir Ketzer nicht mehr töten, und das Maß der Strafmittel, das das moderne Empfi nden vielleicht dulden würde – selbst gegen die unliebsamsten Meinungen –, ist gewiß nicht hinreichend, um sie auszurotten. Aber schmeicheln wir uns nicht, daß wir völlig frei wären von dem Makel gesetz licher Verfolgung. Straf bestimmungen gegen Meinungen oder wenigstens gegen ihren Ausdruck bestehen vor unserem Gesetz noch; ihre Anwendung ist selbst in unseren Tagen nicht so beispiellos, daß es ganz unglaublich wäre, wenn sie eines Tages mit voller Macht wiederkämen. Im Jahre 1857 wurde vor den Sommer-Assisen der Grafschaft Cornwall ein unglücklicher Mann, der in allen übrigen Lebensbeziehungen tadellos war, zu einundzwanzig Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einige beleidigende Worte über den Christenglauben geäußert und an ein Tor geschrieben hatte.1 Einen Monat Thomas Pooley, bei den Bodmin-Assisen, am 31. Juli 1857. Im Dezember des folgenden Jahres wurde er von der Krone begnadigt. 1

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danach wurden zwei Personen bei zwei verschiedenen Gelegenheiten1 vor dem Gerichtshof Old Bailey als Geschworene zurückgewiesen und einer von ihnen vom Richter und von einem der Anwälte gröblich beleidigt, weil sie ehrlich erklärten, daß sie keinen theologischen Glauben hätten. Und einem Dritten, einem Fremden, 2 wurde aus demselben Grunde Gerechtigkeit gegen einen Dieb versagt. Diese Rechtsver weigerung fand statt kraft des gesetzlichen Grundsatzes, daß es keinem Menschen erlaubt sein könne, Zeugnis vor Gericht abzulegen, der nicht den Glauben an irgendeinen beliebigen Gott und an ein Fortleben nach dem Tode bekennt. Das bedeutet, daß man solche Menschen für vogel frei erklärt, für ausgeschlossen von gerichtlichem Schutz, so daß nicht nur sie selbst beraubt oder mißhandelt werden dürfen, wenn kein anderes Zeugnis als ihr eigenes oder das von Gesinnungsgenossen vorliegt, sondern daß auch jeder beliebige beraubt oder mißhandelt werden kann, wenn der Beweis nur von ihrem Zeugnis abhängt. Diese Ansicht beruht auf der Annahme, daß der Eid eines Menschen wertlos ist, der nicht an ein künftiges Leben glaubt – eine Behauptung, die eine große geschichtliche Unkenntnis ihrer Bekenner voraussetzt (denn es ist geschichtlich erwiesen, daß eine große Anzahl Ungläubiger zu allen Zeiten Menschen von ausgeprägtem Rechtsgefühl und Ehrenhaftigkeit waren) und die niemand aufstel len würde, der die geringste Ahnung davon hätte, wie viele von denen, die um ihrer Tugend wie um ihrer Bildung willen das höchste Ansehen in der Welt genießen, zumindest im Freundeskreis als Ungläubige bekannt sind. Die Regel ist überdies selbstmörderisch und untergräbt ihre eigenen Voraussetzungen. Unter der Annahme, daß Atheisten notGeorge Jacob Holyoake, am 17. August 1857. Edward Truelove, im Juli 1857. 2 Baron de Gleichen, Marlborough Street Police Court, am 4. August 1857. 1

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wendig Lügner seien, nimmt jene Behauptung das Zeugnis aller Atheisten an, die willens sind zu lügen und weist nur jene zurück, die lieber – ehe sie die Unwahrheit sagen – dem Schimpf trotzen, sich zu einem verhaßten Glauben zu bekennen. Eine Regel, die – angesichts ihres Zweckes – dermaßen absurd ist, kann nur in Kraft bleiben als Zeichen des Hasses oder als Über rest der Verfolgung, noch dazu einer Verfolgung, die nur denjenigen triff t, der sie sicher nicht verdient. Der Gedanke, der darin steckt, ist fast ebenso beleidigend für die Gläubigen wie für die Ungläubigen. Denn wenn der Leugner eines Jenseits notwendig lügt, so folgt daraus, daß die Gläubigen nur aus Furcht vor der Hölle von der Lüge zurückgehalten werden. Wir wollen den Urhebern und Verteidigern dieses Gedankens nicht den Tort antun, anzunehmen, daß ihre Vorstellung von christlicher Tugend aus ihrer Selbstbeobachtung stammt. Es handelt sich hier in der Tat nur um Überbleibsel der Verfolgung, und diese Tatsachen beweisen nicht so sehr den Wunsch, zu verfolgen, als vielmehr die häufige Schwäche des englischen Geistes, die jemanden ein alber nes Vergnügen daran fi nden läßt, ein schlechtes Prinzip auch dann zu vertreten, wenn er nicht mehr schlecht genug ist, diesem Prinzip Erfüllung zu wünschen. Aber unglücklicherweise bietet die öffentliche Moral keine Sicherheit dafür, daß die übleren Formen gesetzlicher Verfolgung, die etwa seit einer Generation außer Kraft traten, auch dauernd ungültig bleiben werden. In unserer Zeit wird das ruhige Antlitz des Hergebrachten ebenso oft bedroht durch den Versuch, vergangene Übel wieder neu zu beleben, wie durch den anderen, neue Wohltaten ein zuführen. Was sich heute als Neubelebung der Religion aufspielt, ist stets in engen und ungebildeten Gemütern wenigstens ebensosehr Neubelebung der Bigotterie. Und wo im Fühlen eines Volkes ein so fester und dauernder Sauerteig der Unduldsamkeit zu fi nden ist, wie er bei den

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Mittelklassen unseres Landes herrscht, da gehört nur wenig dazu, daß die wirklich verfolgt werden, die stets für geeignete Objekte der Verfolgung gegolten haben.1 Daß unser Land keine Stätte geistiger Freiheit ist, das liegt an den Meinungen und Gefühlen, die die Menschen gegen die Gegner jener Glaubensüberzeugungen hegen, die sie selbst für wichtig halten. Seit langer Zeit besteht das eigentEine ernste Warnung mag man aus dem starken Ausbruch der Verfol gerleidenschaft ziehen, die sich bei Gelegenheit des SepoyAufstandes mit der allgemeinen Entfaltung der schlechtesten Seiten unseres Nationalcharakters mischte. Die Faseleien, die Fanatiker oder Scharlatane von den Kanzeln hören ließen, mögen keine Beachtung verdienen; aber die Häupter der [1846 begründeten] Evangelischen Partei (Evangelical Alliance) haben es als Grund satz für die Akte der Regierung gegenüber Hindus und Mohammedanern ausgesprochen, daß keine Schulen mit öffentlichen Geldern unterstützt werden sollen, in denen nicht die Lehre der Bibel verbreitet wird, und daß demgemäß öffentliche Ämter nur von wirklichen oder vorgeblichen Christen bekleidet werden sollten. Ein Unterstaatssekretär hat sich in einer Rede, die er am 12. November 1857 vor seinen Wählern hielt, so ausgesprochen: »Duldung ihres Glaubens« – er meinte den Glauben von hundert Millionen britischer Untertanen – »oder vielmehr die Duldung des Aberglaubens, den sie Religion nennen, durch die britische Regierung ist dem Einfluß des britischen Namens und dem heilsamen Anwachsen des Christentums hinderlich gewesen.« Duldung sei der Eckstein der religiösen Freiheit dieses Landes, aber man dürfe das köstliche Wort Duldung nicht mißbrauchen. Wie er sie verstehe, bedeute sie die vollkommene Freiheit für alle, die Freiheit der Gottes verehrung unter Christen, deren Gottesverehrung auf der gleichen Grundlage stehe. Toleranz bedeutet: Duldung aller Sekten und Parteien von Christen, die an denselben Mittler glauben. Man beachte, daß ein Mann, der unter einem liberalen Ministerium für geeignet galt, eine hohe Stellung in der Regierung dieses Landes auszufüllen, die Doktrin verficht, daß alle, die nicht an die Gottheit Christi glauben, außerhalb der Sphäre der Duldung stehen. Wer kann nach diesen schwachsinnigen Auslassungen noch die Illusion hegen, daß die Zeiten der religiösen Verfolgung auf Nimmerwiederkehr dahin seien? 1

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liche Unheil, das die gesetzlichen Strafen mit sich führen, darin, daß sie das soziale Stigma, das auf einem Menschen liegt, verstärken. Dieses Stigma ist es, das wahrhaft wirksam ist, und seine Macht ist so stark, daß man es in England seltener wagt, sich zu Meinungen zu bekennen, die die Gesellschaft mit ihrem Bann belegt hat, als man sich in anderen Ländern zu Grundsätzen bekennt, bei denen die Gefahr einer gerichtlichen Ver folgung naheliegt. Für alle Menschen, deren Vermögensverhältnisse von der guten Meinung anderer Leute nicht unabhängig sind, ist die öffentliche Meinung ebenso schwerwiegend wie ein Gesetz; denn ein Mensch kann sich ebensogut einsperren lassen wie auf die Möglichkeit verzichten, sein Brot zu verdienen. Diejenigen, deren Brot gesichert ist und die von mächtigen Menschen, von Kör perschaften oder vom Publikum keine Gunst verlangen, haben nichts zu fürchten, wenn sie sich offen zu einer beliebigen Meinung bekennen, nichts, als daß man schlecht von ihnen denkt oder spricht, und das zu ertragen, dazu sollte kein heroischer Mut gehören. Zugunsten solcher Menschen ist eine Berufung ad misericordiam (auf das Mitleid) nicht angebracht. Aber obwohl wir jetzt den Andersden kenden nicht mehr soviel Übel zufügen, wie es früher unsere Gewohnheit war, so kann es doch sein, daß wir uns selbst durch die Art, wie wir sie behandeln, noch ebenso schädigen wie je. Sokrates wurde zum Tode verurteilt, aber die Sokratische Philosophie stieg wie die Sonne am Himmel empor und erleuchtete das ganze Firmament der Geisteswelt. Christen wurden den Löwen vorgeworfen, aber die christliche Kirche wuchs gleich einem stattlichen, weitverzweigten Baum, der die älteren und schwächeren Gewächse überragt und in seinem Schatten erstickt. Un sere gesellschaftliche Unduldsamkeit tötet keinen und rottet keinen Glauben aus, aber sie verleitet die Menschen, ihre Meinung zu verstecken oder von jeder aktiven Verbreitung ihrer Ansichten abzustehen. Bei uns

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gewin nen oder verlieren ketzerische Meinungen innerhalb eines Jahrzehntes oder eines Menschenalters nicht an Boden; sie lodern niemals weithin sichtbar empor, sondern sie glimmen fort in dem kleinen Kreis denkender und eifriger Menschen, innerhalb dessen sie entsprungen sind, ohne jemals die allgemeinen Angelegenheiten der Menschheit mit einem wahren oder täuschenden Licht zu erhellen. Und so wird ein Zustand der Dinge erhalten, der manchem sehr befriedigend dünkt, weil er, ohne den unerfreu lichen Aufwand von Geldbußen und Freiheitsstrafen, die herrschenden Meinungen vor äußeren Störungen bewahrt und Andersgläubigen, die mit der Krankheit des Denkens behaftet sind, den Gebrauch ihrer Vernunft nicht absolut verbietet. Eine bequeme Einrichtung, die dazu führt, daß wir Frieden in der Geisteswelt haben und daß es in allen Dingen beim alten bleibt. Aber der Preis, den man für diese Art geistiger Befriedung bezahlt, ist das Opfer des gesamten moralischen Muts der Menschheit. Denn ein Zustand der Dinge, in dem viele der angeregtesten Forschergeister es ratsam fi nden, die allgemeinen Prinzipien und Gründe ihrer Überzeugungen in der eigenen Brust zu verbergen und in allem, was sie veröffentlichen, so viel wie möglich die Folgerungen an Prä missen anzupassen, die sie selbst innerlich überwunden haben – ein solches Zeitalter kann keine offenen und furchtlosen Charaktere hervorbringen und keine logischen, folgerichtigen Denker, die einst das Geistesreich zierten. Die Sorte Männer, die einer solchen Epoche entsprießen, werden sich entweder jedem Gemeinplatz einfach anpassen, oder sie werden mit knechtischem Sinn der Wahrheit dienen, so daß ihre Meinungen zu allen bedeutenden Gegenständen stets auf die Hörer berechnet und nicht diejenigen sind, die sie selbst überzeugt haben. Diejenigen, die diese Alternative vermeiden, werden ihre Gedanken und Interessen auf Dinge beschränken müssen, die man besprechen kann, ohne sich in die Region der Prin-

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zipien zu wagen, das heißt auf kleine praktische Gegenstände, die von selbst ins rechte Gleis kämen, wenn nur der Menschengeist gekräftigt und erweitert würde; bis dahin aber werden sie niemals in Ordnung kommen, solange das, was den menschlichen Geist kräftigen und er weitern würde – freie und mutige Forschung über die höchsten Gegenstände –, aufgegeben worden ist. Diejenigen aber, denen diese Zurückhaltung der Ketzer kein Übel dünkt, sollten erstens bedenken, daß es infolgedessen niemals zu einer gerechten und gründlichen Untersuchung ketzerischer Meinungen kommt, und zweitens, daß Ansichten, die vor einer solchen Untersuchung nicht bestehen können, in ihrer Verbreitung gehindert, aber niemals auf diese Art wirklich verschwinden werden. Doch nicht die ketzerischen Geister werden am meisten geschädigt, wenn der Bann auf alle Forschung gelegt wird, die nicht bei den orthodoxen Ergebnissen endigt. Der größte Schaden wird vielmehr denen zugefügt, die keine Ketzer sind, deren geistige Entwicklung aber gehemmt und deren Vernunft eingeschüchtert wird durch die Furcht vor Ketzerei. Wer kann ermessen, was die Menschheit verliert an den vielen, bei denen ein scharfer Intellekt mit schüchternem Charakter verbunden ist. Sie wagen es nicht, einen kühnen, kräftigen, unabhängigen Gedankengang zu ver folgen, weil er sie vielleicht zu Konsequenzen führen könnte, die man für irreligiös oder unsittlich halten möchte. Unter diesen Menschen fi nden sich zuweilen solche von tiefem Gerechtigkeitssinn und feinem, subtilem Verstand, die ihr Leben damit verbringen, daß sie die Aus sagen ihres Verstandes, die sie nicht zum Schweigen bringen können, durch Sophisterei zu beschwichtigen suchen und die alle Kräfte ihres Verstandes in Versuchen erschöpfen, die Eingebungen ihres Gewissens und ihrer Vernunft mit den orthodoxen Lehren zu versöhnen – ein Versuch, der am Ende doch fehlschlagen wird.

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Niemand kann ein großer Denker sein, der es nicht als seine erste Pfl icht anerkennt, seinem Verstande zu folgen – welches auch im mer die Konsequenzen seien, zu denen dieser führt. Die Wahrheit gewinnt sogar mehr durch die Irrtümer eines Menschen, der in unentwegter Denkarbeit sich abmüht, als durch die richtige Meinung von solchen, die sich nur dazu bekennen, weil sie sich kein selbstständiges Denken gestatten. Wir fordern Gedankenfreiheit nicht etwa ein zig oder hauptsächlich, damit große Denker hervorgebracht werden. Sie ist im Gegenteil ebensosehr, ja in höherem Maße unentbehrlich, um Durchschnittsmenschen das Maß geistiger Bildung zu verleihen, dessen sie f ähig sind. Hat es doch große, individuelle Denker zu jeder Zeit gegeben, auch in einer Atmosphäre geistiger Sklaverei. Niemals aber gedeiht in einer solchen ein geistig regsames Volk. Wenn irgendein Volk sich einem solchen Charakter genähert hat, so kam es daher, daß die Furcht vor Ketzerei eine Zeitlang aufgehoben war. Wo eine stillschweigende Übereinkunft besteht, daß Grundsätze nicht bestritten werden dürfen, wo die Diskussion über die höchsten Fragen der Menschheit für geschlossen gilt – da dürfen wir nicht hoffen, jene allgemeine Höhe geistiger Regsamkeit zu fi nden, die manche Perioden der Geschichte so berühmt gemacht hat. Niemals, wenn der geistige Kampf die Gegenstände vermied, die groß und wichtig genug sind, um Begeisterung zu entzünden, wurde der Geist eines Volkes von Grund aus aufgerüttelt, und niemals wurde da der Anstoß gegeben, der selbst Menschen von gewöhn lichem Geist etwas von der Würde denkender Wesen verleiht. Davon hat uns der Zustand Europas während der Zeiten, die unmittelbar auf die Reformation folgten, ein Beispiel gegeben. Ein anderes Beispiel, das freilich auf den Kontinent und auf eine kultiviertere Klasse beschränkt ist, liegt in der spekulativen Bewegung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein drittes von kürzerer Dauer enthält die

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intellektuelle Gärung Deutschlands in der Zeit Goethes und Fichtes. Diese Perioden unterscheiden sich stark in bezug auf die speziellen Meinungen, die sie ent wickelten; aber sie gleichen sich darin, daß während aller drei Perioden das Joch der Autorität gebrochen wurde. In jeder war eine geistige Tyrannei besiegt worden und kein neuer Despotismus an deren Stelle getreten. Der Impuls, den diese drei Perioden vermittelten, hat Europa zu dem gemacht, was es heute ist. Jeder einzelne Fortschritt, der entweder im menschlichen Geist oder in den mensch lichen Institutionen stattgefunden hat, kann direkt auf die eine oder die andere jener Epochen zurückgeführt werden. Seit einiger Zeit deuten einige Erscheinungen darauf hin, daß alle drei Impulse beinah verausgabt sind; wir können keinen neuen Anfang erwarten, ehe wir unsere Geistesfreiheit zurückgewonnen haben. Betrachten wir jetzt den zweiten Teil unseres Argu ments, und lassen wir die Voraussetzung fallen, daß eine von den angenommenen Meinungen falsch sein könnte. Wir nehmen vielmehr an, sie seien alle wahr, und prüfen darauf hin die Art und Weise, in der man sie hegen wird, wenn ihre Wahrheit nicht frei und offen geprüft werden darf. Wie ungern auch jemand, der eine entschiedene Mei nung hat, zugeben wird, daß diese Meinung möglicher weise auch falsch sein könnte, er sollte doch erwägen, daß seine Ansicht, ob sie gleich richtig ist, ein totes Dogma und nicht eine lebendige Wahrheit darstellt, wenn sie nicht offen, regelmäßig und furchtlos diskutiert wird. Es gibt eine Klasse von Menschen – glücklicherweise nicht mehr gar so viele wie früher –, die zufrieden sind, wenn jemand ihrer Meinung unbedingt zustimmt, obgleich er den Grund der Meinung absolut nicht kennt und daher nicht imstande ist, sie gegen die oberfl ächlich sten Einwürfe zu verteidigen. Wenn es solche Leute schaffen, daß ihr Glaube zum offiziellen Glauben erhoben wird, so denken sie natür-

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lich, daß nichts Gutes, sondern nur Schaden daraus erwächst, wenn man gestattet, ihn in Zweifel zu ziehen. Wo ihr Einfluß überwiegt, verhindern sie es selbst, daß ihre Ansicht weise überlegt und darauf hin etwa zurückgewiesen werde; aber eine übereilte, un kritische Verwerfung bleibt immer möglich. Denn man ist selten imstande, die Diskussion ganz auszuschließen, und wenn man einmal in sie eintritt, so wird ein Glaube, der sich nicht auf Überzeugung gründet, dem geringsten An schein eines Beweises weichen müssen. Aber wenn wir selbst diese Möglichkeit aufgeben, wenn wir annehmen, daß die richtige Meinung im Geiste herrscht, aber nur als Vorurteil besteht, als ein Glaube, der von jedem Vernunftgrunde unabhängig und ihm unzugänglich ist, so ist das doch nicht die Weise, in der ein vernünftiges Wesen die Wahrheit aufnehmen soll. Das heißt überhaupt nicht: die Wahrheit kennen. Eine Wahrheit, die so aufgenommen wird, ist nicht mehr als ein Aberglaube, der zufällig mit den Worten übereinstimmt, die eine Wahrheit bedeuten. Wenn Verstand und Urteilskraft der Menschheit gebildet werden sollen – ein Ideal, zu dem sich mindestens die Protestanten bekennen –, woran kann diese Übung besser vorgenommen werden als an Gegenständen, die uns Menschen so nahe angehen, daß wir notwendig dazu Stellung nehmen müssen? Wenn die Kultivierung des Verstandes in irgend etwas besteht, dann darin, daß man die Gründe sei ner eigenen Meinung kennen muß. Was immer Menschen in bezug auf Gegenstände glauben, bei denen es von höch ster Bedeutung ist, das Richtige zu glauben, sollten sie sie doch wenigstens gegen die gewöhnlichen Einwände ver teidigen können. Aber, mag einer sagen, sollen sie doch die Gründe ihrer Meinungen auswendig lernen. Daraus, daß man eine Meinung niemals hat angreifen hören, folgt noch nicht, daß sie nur mechanisch nachgesprochen zu werden braucht. Wer zum Beispiel Geometrie lernt, prägt nicht einfach die

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Lehrsätze seinem Gedächtnis ein, sondern begreift und lernt auch die Beweise. Es wäre absurd, wenn man sagte: Die Studierenden kennen die Grund lagen der Geometrie nicht, weil sie niemals hören, daß jemand sie zu leugnen oder zu widerlegen versucht. Das ist zweifellos richtig, und solche Unterweisung paßt auch bei einem Gegenstand, wie die Mathematik ihn darstellt, wo sich für die Gegenseite durchaus nichts anführen läßt. Das Eigentümliche der mathematischen Wahrheiten liegt eben darin, daß alle Evidenz auf einer Seite ist. Es gibt auf diesem Gebiet keine Einwendungen und keine Antwort auf solche. Aber bei jedem Gegenstand, über den ver schiedene Meinungen möglich sind, hängt die Wahrheit von einem Saldo ab, der zwischen zwei einander entgegengestellten Reihen von Gründen gezogen wird. Selbst in der Naturwissenschaft ist dieselbe Erscheinung oft auf verschiedene Weise zu erklären: etwa durch die geozentrische oder die heliozentrische Hypothese, durch Phlogiston oder durch Sauerstoff. Der Nachweis müßte geführt werden, warum die eine oder die andere Theorie nicht gelten kann, und bis er geführt ist und wir ihn verstehen, sehen wir auch die Gründe unserer Meinungen nicht ein. Aber wenn wir uns zu Gegenständen wenden, die unendlich viel komplizierter sind, etwa zu Fragen der Moral, der Religion, der Politik oder zu sozialen Beziehungen und den Geschäften des täglichen Lebens, so bestehen drei Viertel der Argumente in der Bekämpfung der Gründe, die für die entgegengesetzte Meinung sprechen. Der zweitgrößte Redner des Altertums hat uns berichtet, daß er immer den Fall seines Gegners ebenso eifrig, wenn nicht intensiver, studiere als seinen eigenen. Was Cicero in der gerichtlichen Praxis ausübte, sollte von allen nachgeahmt werden, die irgendeinen Gegenstand um der Wahrheit willen studieren. Wer nur seine Seite eines Falles kennt, weiß wenig davon. Seine Argumente mögen richtig sein, und niemand mag

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imstande sein, sie zu widerlegen. Aber wenn er selbst nicht f ähig ist, die Gründe der Gegen seite zu entkräften, wenn er sie nicht einmal kennt, so hat er keinen Grund, eine Seite zu bevorzugen. Vernünftig wäre es vielmehr, wenn er seine Entscheidung aufschöbe. Kann er sich dazu aber nicht entschließen, so läßt er sich entweder durch Autorität bestimmen, oder er stellt sich, wie die meisten es tun, auf die Seite, wohin seine Neigung ihn führt. Auch genügt es nicht, daß jemand die Argumente der Gegner nur von seinen eigenen Lehrern dargestellt bekommt und dazu die Gründe hört, die sie zur Widerlegung bereithalten. Auf diesem Wege würde man jenen Argumenten nicht gerecht werden und sie nicht zu seinem eigenen Geist in Beziehung bringen. Man muß vielmehr in der Lage sein, auch die Gegenargumente von solchen Menschen dargestellt zu hören, die sie wirklich glauben, die sie im Ernst verteidigen und die mit ganzer Seele dafür eintreten. Man muß sie in ihrer einleuchtendsten und überzeugendsten Form kennenlernen; man muß die ganze Macht der Schwierigkeiten empfi nden, die der wahren Ansicht des Gegenstandes entgegenstehen, sonst wird man niemals jenen Teil der Wahrheit bemeistern, der notwendig ist, um jene Gründe zu entkräften. Von hundert sogenannten gebildeten Menschen sind neunund neunzig in dieser Lage; das gilt selbst für diejenigen, die fl ießend für ihre Sache reden können. Ihre Schlüsse kön nen richtig sein; sie können aber nach allem, was sie davon verstehen, auch falsch sein. Denn sie haben sich nie in die geistige Lage ihrer Gegner versetzt, und sie haben niemals beachtet, was solche Leute wohl zu sagen haben. Darum sind sie nicht in der Lage, die Lehren, die sie selbst beken nen, im eigentlichen Sinne des Wortes zu verstehen. Sie kennen diejenigen Teile ihrer Lehren nicht, die das übrige erklären und rechtfertigen: jene Erwägungen zum Beispiel, die zeigen, daß Fakten, die scheinbar im Gegensatz zueinander stehen, dennoch

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vereinbar sind oder daß von zwei offenbar gültigen Vernunftschlüssen der eine und nicht der andere vorzuziehen ist. Gerade jener Teil der Wahrheit, der den Ausschlag gibt und entscheidend ist für das Urteil eines völlig unterrichteten Menschen, ist ihnen fremd. Er wird stets nur von denen richtig erfaßt, die unparteiisch und gleichmäßig beide Seiten untersucht haben und sich bemühen, die Gründe, die für beide Seiten sprechen, genau zu studieren. So wesentlich ist dieses Wissen für ein wahres Verständnis von menschlichen und morali schen Beziehungen, daß, falls Gegner nicht existieren, es unerläßlich ist, einen solchen sich zu konstruieren und ihn mit den stärksten Argumenten auszustatten, die der geschickteste Teufelsadvokat herauf beschwören kann. Um die Kraft dieser Erwägungen abzuschwächen, könnte ein Feind der freien Erörterungen entgegnen, daß es für die Menschheit im allgemeinen gar nicht nötig sei, alles zu wissen und zu verstehen, was von Philosophen und Theologen gegen oder für ihre Ansichten vorgebracht werden kann. Es sei für gewöhnliche Menschen nicht nötig, daß sie alle falschen Darstellungen und Trugschlüsse eines genialen Gegners widerlegen können. Es genüge, wenn überhaupt jemand imstande sei, jene Argumente zu beantworten, so daß nichts unwidersprochen bleibt, was geeignet ist, ungebildete Menschen irrezuführen. Simple Geister hätten mit den Wahrheiten, die man ihnen eingepfl anzt, zugleich die nächstliegenden Gründe dafür gelernt; im übrigen sollen sie sich auf die Autorität verlassen, und sie könnten ruhig merken, daß sie weder Kennt nisse noch Talent haben, jede Schwierigkeit, die erhoben werden kann, zu lösen. Sie können sich bei der Versicherung beruhigen, daß alle tatsächlichen und möglichen Einwürfe von denjenigen beantwortet worden wären oder beantwortet werden könnten, die eigens dafür ausgebildet sind.

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Räumen wir diese Auffassung ein und geben wir somit das Äußerste zu, was geltend gemacht werden kann von denen, die am genügsamsten sind bei dem Verständ nis der Wahrheit, das den Glauben begleiten muß: selbst dann werden die Gründe für freie Erörterung in keiner Weise gemindert. Selbst diese Lehre erkennt an, daß die Menschheit ein vernünftiges Vertrauen haben sollte, daß alle Einwürfe befriedigend beantwortet worden sind; aber wie soll das geschehen, wenn das, worauf Antwort erfolgen soll, nicht ausgesprochen werden darf ? Oder wie kann man wissen, daß die Antwort befriedigend ist, wenn die Gegner keine Gelegenheit haben, sie als unzulänglich zu erweisen? Wenn nicht das Publikum, so müssen wenig stens die Theologen und Philosophen, denen es obliegt, die Schwierigkeiten zu überwinden, sich mit ihnen in ihrer verwirrendsten Form vertraut machen. Und das kann nicht geschehen, wenn sie nicht frei und in dem besten Licht dargestellt werden. Die katholische Kirche hat ihre eigene Art, mit diesem fatalen Problem umzugehen. Sie macht einen großen Unterschied zwischen denen, denen es erlaubt ist, ihre Lehren auf Grund eigener Über zeugung anzunehmen, und denen, die sie als dargebotenen Glauben hinnehmen müssen. Keinem freilich stellt sie zur Wahl, was er glauben darf; aber dem glaubwürdigen Klerus wird es freigestellt und als Verdienst angerech net, wenn er sich bekannt macht mit den Argumenten der Gegner, um sie zu widerlegen, und er darf deshalb auch häretische Bücher lesen. Die Laien dürfen das aber nur auf Grund einer Erlaubnis, die schwer zu erlangen ist. Diese Denkweise erklärt eine Kenntnis des gegnerischen Standpunkts als wohltuend für die Lehrenden; aber zugleich fi ndet sie Mittel, diese Kenntnis dem Rest der Welt zu versagen. So gibt sie einer Elite mehr geistige Bildung, wenn auch nicht mehr geistige Freiheit, als sie den Massen gestattet. Durch diese Kunst gelingt es ihr, die Art geistiger Überlegenheit zu schaf-

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fen, die sie für ihre Zwecke braucht; denn wenn auch Bildung ohne Freiheit niemals einen großen und freien Geist geschaffen hat, so kann sie doch einen klugen und gewandten Verteidiger hervorbringen. In Ländern, die sich zum Protestantismus bekennen, versagt man sich diesen Ausweg. Denn die Prote stanten halten – wenigstens in der Theorie – daran fest, daß jeder die Verantwortung für die Wahl seines Glaubens selbst übernehmen und daß er sie nicht auf seine Lehrer abwälzen dürfe. Außerdem ist es bei dem heutigen Zustand der Welt unmöglich, daß Schriften, die von den Gebildeten gelesen werden, den Ungebildeten vorenthalten werden können. Wenn die Lehrer der Menschheit alles kennenlernen sollen, so muß alles frei geschrieben und ohne Einschränkung veröffentlicht werden dürfen. Wenn jedoch die schädliche Wirkung der mangelnden freien Diskussion – falls die bestehenden Meinungen wahr sind – sich darauf beschränkte, daß sie die Menschen über die Gründe ihrer Meinungen im Ungewissen läßt, so könnte man denken, daß ein intellektueller Fehler kein moralisches Übel ist und daß er den Wert der Meinung in ihrem Einfluß auf den Charakter nicht berührt. Tatsäch lich aber vergißt man, wenn keine Diskussion statthat, nicht nur die Gründe für seine Meinung, sondern nur zu oft auch den wahren Sinn dieser Meinung. Die Worte, in die sie gekleidet ist, hören auf, Ideen auszudrücken, oder sie bringen nur einen kleinen Teil der Ideen zum Ausdruck, die sie ursprünglich vermitteln sollten. Anstelle eines lebendigen Begreifens und eines lebendigen Glaubens bleiben nur wenige, auswendig gelernte Phrasen übrig, oder es wird – wenn überhaupt et was – nur die leere Schale der Meinung zurückbehalten, wäh rend ihr edler Kern verlorengeht. Das große Kapitel in der mensch lichen Geschichte, das sich mit diesen Tatsachen beschäf tigt, kann nicht ernstlich genug studiert und bedacht werden.

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Das beweist die Erfahrung im Falle fast aller ethischen Lehren und religiösen Bekenntnisse. Für ihre Urheber und deren Schüler sind sie voll von Inhalt und Leben. Ihre Bedeutung wird in unverminderter Kraft gefühlt und wird vielleicht noch stärker bewußt, solange der Kampf dauert, der der Lehre oder dem Glauben das Übergewicht über andere Anschauungen bringen soll. Zuletzt behauptet die Lehre sich entweder und wird zur allgemeinen Meinung, oder sie hört auf, vorzudringen. Sie behauptet den einmal gewonnenen Boden, aber sie verbreitet sich nicht weiter. Wenn eine dieser Folgen eingetreten ist, wird der Streit um die Sache matter und hört schließlich ganz auf. Die Lehre hat ihren Platz eingenommen, und wenn nicht als allgemein anerkannte Meinung, so doch als erlaubte Sekte oder als Teil der öffentlichen Meinung. Ihre Bekenner haben sie im allgemeinen ererbt und nicht selbst gewählt, und an Konversion von einer dieser Lehren zur anderen, was heutzutage eine Ausnahme ist, denken sie kaum. Anstatt in erster Linie beständig auf der Hut zu sein und sich gegen die Welt zu verteidigen oder die Welt auf die eigene Seite zu ziehen, haben sie sich beruhigt und hören weder auf Argumente gegen ihren eigenen Glauben, wenn sie das vermeiden können, noch stören sie Andersgläubige – wenn es deren gibt – mit Argumenten zu ihren eigenen Gunsten. Von dieser Zeit an datiert gewöhnlich die Abnahme in der lebendigen Kraft der Lehre. Wir hören oft die Lehrer aller Glaubensbekennt nisse darüber klagen, wie schwer es sei, in dem Geist der Gläubigen ein lebensvolles Bewußtsein von der Wahrheit, zu der sie sich dem Namen nach bekennen, zu erhalten: so lebensvoll, daß es das Fühlen durchdringt und einen wirklichen Einfluß auf die Lebensführung ausübt. Keine Klagen über derartige Schwierigkeiten werden laut, solange der Glaube noch um seine Existenz zu kämpfen hat. Selbst die schwächeren Streiter wissen und fühlen dann, wofür sie kämpfen und emp-

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fi nden den Unterschied zwischen ihrer eigenen und anderen Lehren. In dieser Periode jeder Geschichte eines Glaubens fi nden wir nicht wenige Menschen, die seine Grundprinzipien in allen For men des Gedankens erfaßt, sie erwogen und betrachtet und die volle Charakterwirkung erfahren haben, die der Glaube in dieser Form auf einen Geist ausübt, den er ganz erfüllt. Aber wenn der Glaube zu einem ererbten geworden ist, der passiv und nicht aktiv angenommen wird, wenn der Geist nicht mehr so stark, wie zuerst, gezwungen wird, seine wesentlichsten Kräfte an den Fragen zu üben, die der Glaube ihm vorführt, so macht sich regelmäßig eine fortschreitende Tendenz bemerkbar, den gan zen Glauben bis auf seine Formeln zu vergessen oder ihm eine stumpfe und matte Zustimmung zu geben, als ob seine Annahme auf Treu und Glauben von der Notwendigkeit befreite, ihn in der Erfahrung zu erproben oder ihn im persönlichen Bewußtsein zu erfassen. Schließlich hört der Glaube auf, sich irgendwie mit dem inneren Leben des Menschen zu verbinden. Dann kommen jene heute so häufigen und in dem jetzigen Zeitalter beinah überwiegenden Fälle vor, in denen der Glaube fast außerhalb des Geistes bleibt, ihn mit einer starren, für jede Einwirkung auf die höheren Teile unseres Geistes undurchdringlichen Rinde überzieht; dann beweist der Glaube nur noch dadurch seine Macht, daß er allen frischen und lebendigen Überzeugungen den Eingang wehrt. Aber er selbst tut nichts für Geist und Herz, als daß er vor ihnen Wache hält, um sie leer zu erhalten. In welchem Umfang Lehren, die wesentlich geeignet sind, den tiefsten Eindruck auf den Geist zu machen, den noch wie toter Glaube in ihm bleiben können, ohne daß sie jemals von der Einbildungskraft, vom Fühlen und Ver stehen ergriffen werden, das zeigt die Art, in der die Mehrzahl der Gläubigen sich zu den Lehren des Christentums verhält. Unter Christentum verstehe ich hier, was da für gilt bei allen

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Kirchen und Sekten: die Grundsätze und Lehren des Neuen Testamentes. Diese werden heilig gehalten und als Gesetze angesehen von allen, die sich zum Christentum bekennen. Dennoch ist es kaum zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß nicht ein Christ unter Tausenden sein individuelles Leben nach diesen Gesetzen führt. Die Maximen, auf die er sich bezieht, sind die der Sitte seines Landes, seiner Klasse oder seines besonderen religiösen Bekenntnisses. So hat er also auf der einen Seite eine Sammlung ethischer Grundsätze, die er sich durch unabsehbare Weisheit verliehen glaubt, als Regel für sein Verhalten, und andererseits hat er eine Reihe alltäglicher Urteile und Praktiken, die in gewissem Maße mit manchen dieser Maximen übereinstimmen, mit anderen weniger, zu einigen in entschiedenem Widerspruch stehen und im ganzen einen Kompromiß zwischen dem christlichen Glauben und den Interessen und Neigungen des welt lichen Lebens bilden. Den ersten Grundsätzen dieser Richtung huldigt der Christ, nach den anderen richtet er sich. So glauben alle Christen, daß die Armen und Geringen und die, die es in der Welt schlecht haben, die Seligen sind, und daß leichter ein Kamel durchs Nadelöhr gehe als ein Reicher ins Reich Gottes, daß die Menschen nicht richten sollen, auf daß sie nicht gerichtet werden, daß sie überhaupt nicht schwören sollen, daß sie ihre Nächsten wie sich selbst lieben sollen, daß, wenn jemand ihren Mantel nimmt, sie ihm auch den Rock geben sollen, daß sie um das Morgen nicht sorgen dür fen und daß, wenn sie voll kommen sein wollen, sie alles, was sie haben, verkaufen und den Erlös den Armen geben sol len. Nicht unaufrichtig sind sie, wenn sie alle diese Dinge zu glauben behaupten. Sie glauben sie, so wie die Leute das glauben, was sie immer haben loben und niemals in Zweifel ziehen hören. Aber im Sinne eines lebendigen Glaubens, der die Lebensführung bestimmt, halten sie jene Lehren nur soweit für richtig, als es üblich ist, danach zu handeln. Die

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Lehren in ihrer Reinheit lassen sich am besten verwenden, wenn es sich darum handelt, Gegner anzugreifen, und es ist eine Übereinkunft, daß sie angesehen werden als Gründe für das, was die Menschen für löblich halten. Aber jemand, der die Leute daran erinnert, daß diese Grund sätze von den Menschen unendlich viel Dinge verlangen, die sie niemals zu erfüllen gedenken, würde damit nichts erreichen, als daß man ihn hinfort zu der unliebsamen Kategorie derjenigen zählt, die sich einbilden, besser als andere zu sein. Auf gewöhnliche Gläubige haben diese Lehren keinen Einfluß, und über ihren Geist haben sie keine Macht. Man hat zwar eine gewohnheitsmäßige Achtung vor dem Klang der Worte, aber kein Gefühl, das von den Worten auf die Dinge übergreift, die sie bedeuten, und das den Geist nötigt, diesen Inhalt in sich aufzunehmen und mit der Formel in Einklang zu setzen. Wenn es sich um die Lebensführung handelt, so schauen die Menschen auf Herrn A und Herrn B, um von ihnen zu lernen, wie weit man im Gehorsam gegen das Christentum geht. Nun können wir aber sicher überzeugt sein, daß bei den ersten Christen die Sache sich völlig anders verhielt. Wäre es so gewesen wie bei uns, so hätte das Christentum sich niemals von einer Sekte der verachteten Hebräer zur Religion des Römischen Reiches entfaltet. Wenn ihre Feinde sagten: ›Seht, wie diese Christen einander lieben‹ – eine Bemerkung, die heute kaum jemand machen würde –, so hatten die Christen jener Zeit sicher ein viel lebendigeres Gefühl von der Bedeutung ihres Glaubens, als sie seit her jemals gehabt haben. Und aus dieser Ursache ist es sicher zu erklären, daß das Christentum jetzt so geringe Fortschritte macht in der Ausdehnung seines Gebietes, daß es nach achtzehn Jahrhunderten noch immer fast beschränkt ist auf Europäer und deren Nachkommen. Selbst unter streng religiösen Menschen, die es mit den Lehren ihres Glaubens sehr ernst nehmen und vielen der selben eine größere Bedeutung zuschreiben,

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als die Leute im allgemeinen tun – selbst bei solchen ist es gewöhnlich so, daß die Gedanken, die vor allem in ihrem Geist leben, von Calvin oder von Knox stammen oder von sonst jemandem, dessen Charakter ihrem eigenen Wesen näher steht. Die Worte Christi haften passiv in ihrem Geist und vollbringen kaum eine Wirkung über die hinaus, die das pure Anhören so liebenswerter und milder Worte ausübt. Es gibt zweifellos viele Gründe, weshalb Lehren, die das unterscheidende Merkmal der Sekte sind, mehr von ihrer Lebenskraft bewahren als die Lehren, die allen Sekten gemeinsam sind, und weshalb die Lehrer sich mehr Mühe geben, diese ihre Sektenlehre lebendig zu erhalten. Aber ein Grund liegt sicher darin, daß diese besonderen Lehren mehr in Zweifel gezogen werden und öfter gegen offene Angreifer verteidigt werden müssen. Wenn aber kein Feind mehr in Sicht ist, so schlafen bald Lehrende wie Ler nende ein. Dasselbe gilt im allgemeinen von allen traditionellen Lehren, von denen der Klugheit und Lebenskenntnis wie von denen der Moral und Religion. Alle Sprachen und Literaturen sind voll von allgemeinen Bemerkungen über das Leben, über das, was es ist, und wie man es führen sollte – Bemerkungen, die jeder kennt, jeder wiederholt oder stillschweigend billigt und als Gemeinplätze hin nimmt. Ihre wahre Bedeutung aber lernen die meisten erst, wenn Erfahrung – und zwar zumeist eine schmerz liche – sie ihnen als Wirklichkeit nahegebracht hat. Wie oft ruft sich ein Mensch, wenn er unter unerwartetem Unglück oder unter einer Enttäuschung leidet, ein Sprichwort oder eine allgemeine Redensart ins Gedächtnis, die ihm sein Lebtag bekannt war und deren Bedeutung, wenn er sie früher so gefühlt hätte wie jetzt, ihn vielleicht vor dem Unglück bewahrt hätte. Diese Tatsache hat freilich auch andere Gründe als allein die mangelnde Erörterung; es gibt viele Wahrheiten, deren voller Sinn nicht anders er faßt werden kann als durch persönliche

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Erfahrung. Aber auch von diesen Wahrheiten wäre ein weit größerer Teil dem Geist tief eingeprägt worden, wenn man sich ent schlossen hätte, das Für und Wider der Ansicht öfter erör tern zu hören von Menschen, die die Sache verstehen. Die fatale Neigung der Menschen, über eine Sache nicht mehr nachzudenken, sobald sie nicht mehr zweifelhaft ist, ist schuld an der Hälfte ihrer Irrtümer. In diesem Sinne spricht ein zeitgenössischer Schriftsteller mit Recht von dem ›tiefen Schlummer einer einmal entschiedenen Mei nung‹. Doch wie – so könnte man fragen – ist denn der Mangel an Einstimmigkeit eine unerläßliche Bedingung wahrer Erkenntnis? Muß denn ein Teil der Menschheit notwendig im Irrtum verharren, damit die anderen imstande sein sollen, die Wahrheit zu erfassen? Hört der Glaube auf, wirksam und lebendig zu sein, sobald er allgemein anerkannt ist? Und wird ein Satz nie vollständig verstanden und empfunden, wenn nicht einige Zweifel an seiner Wahrheit bleiben? Wenn die Menschheit einmütig eine Wahrheit angenommen hat, geht die Wahrheit dann in ihrem Geiste zugrunde? Das höchste Streben und das beste Ergebnis fortschreitender Intelligenz der Menschheit sah man darin, daß die Menschen sich mehr und mehr in der Anerkennung allgemein wichtiger Wahrheiten vereinigten. Sollte die Erkenntnis nur so lange dauern, als sie das Ziel nicht erreicht hat? Verderben die Früchte des Kampfes, wenn der Sieg vollständig ist? Ich behaupte nichts Derartiges. Wenn die Menschheit fortschreitet, wird die Zahl der Lehren, über die kein Zweifel mehr besteht, beständig zunehmen, und das Gedeihen der Menschheit kann beinahe bemessen werden nach der Wichtigkeit und Zahl der Wahrheiten, die nicht mehr bezweifelt werden können. Daß bei einer Frage nach der anderen der Zweifel auf hört, ist einer der nötigen Nebenumstände bei der Vereinigung der Meinungen; diese Vereinigung ist ebenso heilsam, wenn die Meinungen wahr sind, wie gefährlich

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und schädlich, wenn sie Irrtümer sind. Aber obgleich diese gradweise Einengung der Meinungsverschiedenheiten notwendig ist, in des Wortes doppelter Bedeutung, nämlich unvermeidlich und unerläßlich, so brauchen wir daraus noch nicht zu schließen, daß alle ihre Folgen segensreich seien. Der Verlust einer so wichtigen Hilfe für die kluge und lebendige Auf nahme einer Wahrheit, wie sie die Notwendigkeit dar stellt, sie zu erklären und gegen Widersacher zu verteidigen, schmälert nicht unerheblich das Wohltätige ihrer allgemeinen Anerkennung, wenn sie ihren Wert auch nicht ganz aufzuwiegen vermag. Wo man diesen Vorteil nicht länger haben kann, da sollten – wie ich meine – die Lehrer der Menschen sich um einen Ersatz bemühen; einen Kunstgriff müßte man fi nden, um die Schwierigkeit der Frage für das Bewußtsein des Lernenden ebenso gegenwärtig zu erhalten, als ob sie ihm aufgezwungen würde von einem Kämpfer der Gegenpartei, der ihn bekehren will. Aber anstatt nach Hilfsmitteln für diese Zwecke zu suchen, haben die Menschen noch die verloren, die sie früher besaßen. Die Sokratische Dialektik, die in Platos Dia logen so herrlich dargestellt ist, war ein Mittel von dieser Art. Sie war im wesentlichen eine negative Erörterung der großen Fragen aus Philosophie und Leben. Sie war mit besonderer Geschicklichkeit darauf gerichtet, jeden, der nur die Gemeinplätze einer Meinung sich angeeignet hatte, zu überzeugen, daß er die Sache nicht verstünde, daß er von den Lehren, die er vertrat, keine defi nitive Ansicht habe, damit er, wenn er seine Unwissenheit einsah, den Weg fand, um einen festen Glauben zu erreichen, wie ihn nur das klare Verständnis von der Bedeutung einer Lehre und ihrer Beweise geben kann. Die scholastischen Disputationen des Mittelalters hatten einen einigermaßen ähnlichen Zweck. Sie setzten sich das Ziel, daß der Schüler seine eigene Meinung verstände und – infolge notwendiger Wech selbeziehungen – auch die

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entgegengesetzte Ansicht und daß er die Gründe der eigenen Anschauung stützen, die entgegengesetzten widerlegen könnte. Diese Disputationen aber litten an dem unheilbaren Fehler, daß die Prämissen, worauf sie sich stützten, auf Autorität und nicht auf Vernunft gegründet waren. Darum standen sie, als geistige Disziplin, in jeder Hinsicht hinter der mächtigen Dialektik zurück, die die Intelligenz der Sokratesschüler gegründet hatte. Aber der moderne Geist schuldet beiden Richtungen weit mehr, als er im allgemeinen zugeben will, und die jetzigen Unterrichtsmethoden enthalten nichts, was eine der beiden Methoden im geringsten ersetzen könnte. Jemand, der alle seine Instruktionen von Büchern oder Lehrern bezieht, spürt – selbst wenn er der naheliegenden Versuchung widersteht, sich mit Gedächt niskram zu begnügen – keinen Antrieb, beide Seiten zu hören. Demgemäß kann man – selbst von Denkern – kei neswegs häufig rühmen, daß sie beide Seiten einer Sache kennen. Der schwächste Teil dessen, was jeder zur Verteidigung seiner Ansichten vorbringt, ist das, was er für eine Erwiderung auf seine Gegner hält. Es ist heutzutage Mode, die negative Logik gering zu achten – die negative Logik, deren Aufgabe es ist, Schwächen einer Theorie oder Irrtümer in der Praxis aufzusuchen, ohne selbst positive Wahrheiten festzustellen. So eine negative Kritik wäre als Endresultat gewiß armselig genug, aber als Mittel, irgendeine positive Kenntnis oder eine Überzeugung, die des Namens wert ist, zu erlangen, kann die negative Logik nicht hoch genug geschätzt werden. Bis die Menschen wieder systematisch dazu erzogen werden, wird es wenige große Denker geben, und der Intellekt wird im allgemeinen auf einem niederen Stand bleiben, mit Ausnahme der mathematischen und physikalischen Disziplinen. In allen anderen Gebieten verdient jede Meinung nur dann den Namen ›Kenntnis‹, wenn der Betreffende durch eigenen oder fremden Antrieb denselben geistigen Prozeß durchge-

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macht hat, den ein wirklicher Kampf mit Geg nern erfordert. Ist es darum nicht schlimm und absurd, wenn man von selbst auf das verzichtet, was – wenn es fehlt – so unentbehrlich und so schwer zu beschaffen ist?! Wenn es Menschen gibt, die eine herrschende Meinung zurückweisen oder die dazu bereit wären, wenn Gesetz und Meinung es gestatteten, so wollen wir ihnen Dank sagen und wollen unseren Geist öff nen, um auf sie zu hören. Uns aber wollen wir beglückwünschen, daß es jemanden gibt, der bereit ist, das für uns zu tun, was wir ohne ihn mit weit größerer Mühe selbst tun müßten, wenn uns an der Gewißheit und der Lebenskraft unserer Überzeugung etwas gelegen ist. Wir müssen jetzt noch über eine der wichtigsten Ursachen sprechen, die die Verschiedenheit der Meinungen vorteilhaft macht und die das dauernd tun wird, bis die Menschheit eine Stufe des geistigen Fortschritts erreicht hat, der bisher noch unberechenbar fern ist. Wir haben bis jetzt nur zwei Möglichkeiten erwogen: daß die herrschende Meinung falsch ist und folglich die andere wahr sein muß – oder daß die allgemein anerkannte Ansicht wahr ist, aber ein Konfl ikt mit den entgegengesetzten Irrtümern für ihre klare und tiefe Erfassung notwendig sei. Aber es gibt einen Fall, noch üblicher als diese beiden: er besteht darin, daß von den entgegenstehenden Meinungen nicht die eine wahr und die andere falsch ist, sondern daß beide ein Stück Wahrheit enthalten, und daß die abweichende Meinung notwendig gebraucht wird, um der anerkannten den Rest von Wahrheit mitzuteilen, der ihr noch fehlt. Populäre Meinungen über Dinge, die den Sinnen nicht zugänglich sind, sind oft wahr, enthalten aber selten die ganze Wahrheit. Sie sind ein Teil der Wahrheit, manchmal ein größerer, manchmal ein geringerer, aber sie sind über trieben, verzerrt und getrennt von den Wahrheiten, von denen sie begleitet und begrenzt sein sollten. Ketzerische Meinungen andererseits gehören im

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allgemeinen zu diesen unterdrückten und vernachlässigten Wahrheiten, sie sprengen die Fesseln, die sie niederhielten, und suchen entweder Versöhnung mit der Wahrheit, die in der allgemeinen Ansicht enthalten ist, oder sie begegnen dieser wie einem Feind und spielen sich mit voller Ausschließlichkeit als die ganze Wahrheit auf. Der letztgenannte Fall ist bisher der häufigste, denn dem menschlichen Geist ist Einseitigkeit stets die Regel gewesen und Vielseitigkeit die Ausnahme. Daher geht bei Meinungsumwälzungen ein Teil der Wahrheit für gewöhnlich unter, während ein anderer sich erhebt. Selbst der Fortschritt, der bereichern sollte, ersetzt meist nur eine einseitige und unvollkom mene Wahrheit gegen eine andere; die Vervollkommnung besteht meist nur darin, daß das neue Bruchstück der Wahrheit dringender notwendig ist und den Bedürfnissen der Zeit mehr angepaßt als die Wahrheit, die es verdrängt. So unvollständig ist der Charakter der Meinungen, selbst wenn sie auf einem wahren Grund beruhen; darum sollte jede Ansicht, die etwas von dem Teil der Wahrheit verkör pert, den die geläufige Meinung ausläßt, für kostbar gelten, selbst wenn sie noch so sehr mit Irrtum und Verwirrung verquickt ist. Kein vernünftiger Beurteiler menschlicher Dinge wird zürnen, weil die, die uns auf Wahrheiten auf merksam machen, die wir sonst übersehen hätten, ihrer seits oft den Teil vergessen, den wir bemerken. Er wird wünschen, daß, solange die populäre Meinung einseitig ist, die unpopuläre auch einseitige Vertreter fi ndet, denn diese sind zumeist die energischsten, und sie neigen besonders dazu, dem Bruchteil der Wahrheit, den sie für die ganze Wahrheit halten, Beachtung zu erzwingen – sei es auch eine widerwillige. Wie war es im 18. Jahrhundert, als fast alle Gebildeten und die Ungebildeten, die sich von ihnen leiten ließen, sich in Bewunderung für die sogenannte Zivilisation verloren, für die Wunder der modernen Wissenschaft, Literatur und Phi-

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losophie? Sie überschätzten den Unterschied zwischen den Menschen der neuen und alten Zeit, und sie glaubten, daß der Vorteil bei diesem Unterschied völlig auf ihrer eigenen Seite läge. Mit welch heilsamer Gewalt platzten da die Paradoxien Rousseaus wie Bomben in ihre Mitte, zersprengten die kompakte Masse der einseitigen Meinungen und zwangen ihre Elemente, sich in besserer Form und unter Hinzufügung neuer Bestandteile wieder zu vereinigen. Nicht, daß die geläufigen Meinungen im ganzen von der Wahrheit weiter entfernt waren als Rousseaus Ansichten; im Gegenteil, sie standen ihr näher, sie enthielten mehr positive Wahrheit und sehr viel weniger Irrtum. Dennoch lag in Rous seaus ›Leben‹ ein ansehn licher Teil gerade von den Weisheiten, die die populäre Meinung entbehrte, und diese blieben als Niederschlag zurück, als die Flut sich verlaufen hatte. Der hohe Wert natürlicher Einfachheit des Lebens, der entnervende und demoralisierende Effekt der Fesseln und Heucheleien einer künstlichen Gesellschaft: das sind die Ideen, die kultivier ten Geistern nie ganz abhanden gekommen sind, seit Rousseau schrieb, und sie werden auch künftig ihre gebührende Wirkung ausüben, obgleich sie gegenwärtig – ebenso wie stets – der Zustimmung bedürfen, und zwar einer Erhärtung durch Taten, denn Worte über diesen Gegenstand haben ihre Kraft beinah erschöpft. In der Politik ist es beinahe ein Gemeinplatz, daß eine Partei der Ordnung und Stabilität und eine Partei des Fortschritts und der Reform die beiden notwendigen Elemente für einen gesunden Zustand des politischen Lebens seien. Sie sind es, bis die eine von ihnen ihre geistige Fassungskraft so erweitert hat, daß sie zugleich der Ordnung und dem Fortschritt dient, weil sie zu unterscheiden ver mag, was wert ist, bewahrt zu werden, und was weggefegt werden muß. Jede dieser Denkweisen schöpft ihren Nut zen aus den Fehlern der anderen; aber es ist in weitem Maße der Widerstand der

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anderen, der jede in den Gren zen gesunder Vernunft hält. Solange nicht mit gleicher Freiheit, gleicher Energie und gleichem Talent Meinungen zum Ausdruck kommen, die der Demokratie ebenso günstig sind wie der Aristokratie, dem Privateigentum ebenso wie der Vermögensgleichheit, dem Zusammenarbeiten ebenso wie der Konkurrenz, dem Luxus wie der Abstinenz, dem Gemeinsinn und dem Individualismus, der Freiheit und der Disziplin, kurz, all den ständigen Gegensätzen des praktischen Lebens, besteht keine Aus sicht, daß beide Elemente ihr Recht bekommen; vielmehr wird solange stets die Schale der einen steigen, wenn die der anderen sinkt. Die Wahrheit hängt in den großen praktischen Angelegenheiten des Lebens so stark von der Ver söhnung und Vereinung von Gegensätzen ab, daß nur wenige Menschen einen so umfassenden und unparteiischen Geist haben, daß sie den Ausgleich mit annähernder Korrektheit treffen. Darum muß man diesen dem rauhen Prozeß eines Kampfes zwischen feindlichen Parteien überlassen. Wenn eine der beiden Anschauungen über jede der eben erwähnten großen offenen Fragen einen besseren Anspruch als die andere hat, nicht nur geduldet, sondern ermutigt und unterstützt zu werden, so ist es sicher diejenige, die in jener Zeit und an ihrem Platz in der Minderheit ist. Denn das ist die Meinung, die für ihre Zeit die ver nachlässigten Interessen vertritt und die Seite des mensch lichen Lebens, die in Gefahr ist, in ihrem Rechtsanspruch gekürzt zu werden. Ich bin mir bewußt, daß in unserem Land keine Intoleranz gegen Meinungsverschiedenheiten über die meisten dieser Dinge besteht. Ich führe sie nur an, um an vielen und bekannten Beispielen der Allgemein heit der Tatsache darzutun, daß bei dem gegenwärtigen Stand des menschlichen Geistes nur durch die Verschiedenheit der Meinungen Aussicht besteht, daß allen Seiten der Wahrheit ihr Recht werde. Wenn sich Menschen fi nden, die einen Gegensatz zu der schein-

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baren Einstimmigkeit der Welt über irgendeinen Gegenstand darstellen, und wenn selbst die Welt recht hat, so ist es dennoch wahr scheinlich, daß die Andersdenkenden auch etwas zu sagen haben, was zu hören lohnt, und daß die Wahrheit durch ihr Schweigen stets verlieren würde. Man wird vielleicht erwidern: ›Aber einige anerkannte Grundsätze, vor allem solche, die sich auf die höchsten und wesentlichsten Fragen beziehen, sind mehr als Halbwahrheiten. So ist zum Beispiel die christliche Moral die ganze Wahrheit über diesen Gegenstand, und wenn jemand eine Moral lehrt, die von dieser abweicht, ist er ganz im Irrtum.‹ Da dieser Fall von allen in der Praxis der wichtigste ist, so kann keiner geeigneter sein, die allgemeine Maxime zu überprüfen. Aber bevor wir entscheiden, was christliche Moral ist und was nicht, wäre es wünschenswert, festzustellen, was wir unter christlicher Moral ver stehen wollen. Wenn man damit die Ethik des Neuen Testamentes meint, so wundere ich mich, daß jemand, der das Buch selbst kennt, annehmen kann, daß es jemals ein vollständiges Moralsystem darstellen sollte oder wollte. Das Evangelium bezieht sich stets auf eine bereits bestehende Moral und beschränkt seine Vorschriften auf die Fälle, in denen diese Moral zu verbessern oder zu ersetzen war durch eine weitherzigere und höhere. Das Evangelium ist überdies in so allgemeinen Ausdrücken geschrieben, daß es oft unmöglich ist, es buchstäblich auszulegen; es besitzt aber eher die Eindruckskraft der Poesie oder der Beredsamkeit als die Genauigkeit der Gesetzessprache. Aus ihm ein vollständiges Moralsystem zu extrahieren, war stets unmöglich, wenn man es nicht aus dem Alten Testament ergänzte, also aus einem System, das zwar ausgearbeitet, aber in vieler Hinsicht barbarisch ist und für ein barbarisches Volk bestimmt. Der Apostel Paulus, ein erklärter Gegner dieser judaischen Methode, die Lehre auszulegen und das Schema des Meisters auszufüllen, setzt ebenfalls ein schon beste-

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hendes Moralsystem voraus, nämlich das der Griechen und Römer, und die Lehren, die er seinen Anhängern gibt, sind zum großen Teil ein System der Anpassung an diese Moral und gehen sogar bis zur scheinbaren Sanktion der Sklaverei. Was man ›christ liche Moral‹ nennt und was besser ›theologische Moral‹ hieße, sind nicht die Worte Jesu von Nazareth oder der Apostel; sie ist vielmehr viel späteren Ursprungs und wurde allmählich aufgebaut durch die katholische Kirche in den ersten fünf Jahrhunderten. Die späteren Christen und die Protestanten haben das System zwar nicht vollständig übernommen, aber sie haben viel weniger daran geändert, als man hätte annehmen sollen. Zuvörderst hat man sich damit begnügt, die Zusätze abzuschneiden, die das Mittelalter hinzugefügt hatte, und jede Sekte ersetzte das Weggefallene durch neue Zusätze, die ihrem eigenen Charakter und ihrer Richtung angemessen waren. Ich bin der letzte, der es leugnen würde, daß die Menschheit dieser frühen Ethik und ihren Verkündern viel verdankt; aber ich stehe nicht an, zu sagen, daß jene Morallehre in vielen wichtigen Punkten unvollständig und einseitig ist und daß die menschlichen Dinge schlimmer ständen, als es wirklich der Fall ist, wenn nicht Ideen und Gefühle, die von jener Moral nicht sanktioniert wurden, auf das Leben und den Charakter Europas eingewirkt hätten. Die sogenannte christliche Ethik hat ganz den Charakter einer Reaktion; sie ist zum großen Teil ein Protest gegen das Heidentum. Ihr Ideal ist eher negativ als positiv, eher passiv als aktiv zu nennen; eher Unschuld als Vornehmheit, eher Unterlassen des Bösen als energisches Streben nach dem Guten; in ihren Vorschriften überwiegt das ›Du sollst nicht‹ ungebührlich über das ›Du sollst‹. In ihrem Abscheu vor Sinnlichkeit machte sie die Askese zum Idol, und diese wurde allmählich abgeschwächt zur bloßen Legalität. Sie stellt als vorgeschriebene und angemessene Motive für ein tugendhaftes Leben die Hoff nung auf den Himmel und die

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Furcht vor der Hölle hin, in welcher Beziehung sie tief unter den besten Sittenlehren des Alter tums steht, und indem sie alles tut, um der menschlichen Moral einen selbstsüchtigen Charakter zu geben, löst sie das Pfl ichtgefühl jedes Menschen von den Interessen seiner Mitgeschöpfe, sofern er nicht durch ein selbstsüchtiges Motiv veranlaßt wird, sich um jene zu kümmern. Sie ist vor allem eine Doktrin des passiven Gehorsams, sie verlangt Unterwerfung unter alle bestehenden Autoritäten, denen man in der Tat nicht gehorchen soll, wenn sie befehlen, was die Religion verbietet, aber denen man nicht widerstehen, geschweige denn mit Rebellion begeg nen darf, wenn sie einem das größte Unrecht zufügen. Während in der Moral der besten heidnischen Nationen die Pfl ichten gegen den Staat einen ungebührlichen Raum einnehmen und die berechtigte Freiheit des Individuums beeinträchtigen, wird in der christlichen Ethik dieses große Gebiet der Pfl ichten kaum berührt. Im Koran, nicht im Neuen Testament, lesen wir den Grundsatz: ›Ein Herrscher, der einen Mann zu einem Amt bestellt, für das in seinem Gebiet ein Besserer zu fi nden war, sündigt gegen Gott und gegen den Staat.‹ Das geringe Maß von Ver pfl ichtungen gegen das Gemeinwesen, das sich überhaupt in unserer modernen Moral fi ndet, geht zurück auf Griechen und Römer, nicht auf christliche Quellen; auch in der Moral des Privatlebens stammt alles, was darin von Seelengröße, Hochherzigkeit, persönlicher Würde und selbst von Ehrgefühl vorhanden ist, aus dem rein mensch lichen, nicht dem religiösen Gebiet unserer Erziehung, es hätte niemals aus dem Grundprinzip einer Moral entstehen können, die als einzigen Wert den des Gehorsams anerkennt. Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, daß dieser Mangel notwendig zu jeder Auff assung der christlichen Ethik gehöre oder daß die zu einem vollständigen Moralsystem gehörigen Erfordernisse nicht mit jener in Ein klang

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zu bringen wären. Noch viel weniger möchte ich das zu behaupten wagen von den Lehren und Vorschriften Jesu selbst. Ich glaube, daß die Aussprüche Jesu alles sind, was sie nach meiner Meinung zu sein behaupten, daß sie mit nichts unverträglich sind, was eine umfassende Moral erfordert, oder daß alles, was in der Ethik ausgezeichnet ist, mit ihr in Einklang gebracht werden kann. Man braucht dazu ihre Sprache nicht mehr zu vergewaltigen, als alle die getan haben, die es jemals versuchten, aus jenen Lehren ein praktisches System für unser Handeln abzuleiten. Aber es verträgt sich damit sehr wohl die Überzeugung, daß sie nur einen Teil der Wahrheit enthalten, daß viele wesentlichen Elemente der höchsten Moral in den uns überlieferten Worten von dem Meister des Christentums nicht erwähnt werden; ebenso sind sie völlig beiseite gelassen in dem ethischen System, das die christliche Kirche auf Grund dieser Aussprüche errichtete. Ich halte es darum für einen großen Irrtum, wenn man beständig versucht, in der christlichen Lehre jenen vollkommenen Maßstab für unser Tun und Lassen zu fi nden, den ihr Urheber beabsichtigt hätte, zu bestätigen und zu bekräftigen, aber nur teilweise selbst zu liefern. Ich glaube entschieden, daß diese engherzige Theorie ein großes praktisches Übel wird und den Wert der moralischen Erziehung und Unter weisung, um die sich jetzt endlich viele Wohlmeinende wieder bemühen, sehr schmälert. Ich fürchte außerdem, daß der Versuch, das Denken und Fühlen der Menschen ausschließlich nach dem religiösen Typus zu formen und sich jener weltlichen Normen – wie wir sie, mangels eines besseren Namens einmal nennen wollen – zu entschlagen, die bisher der christlichen Lehre zur Seite standen, nicht wohlgetan ist. Denn jene ergänzten diese und empfi ngen wiederum von ihrem Geist Anregung. Die Folge einer solchen Trennung, die zum Teil schon eingetroffen ist, wäre die Züchtung eines niedrigen, würdelosen und knechtischen Charakters, der, selbst wenn er

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sich dem unterwirft, was ihm der Wille des Höchsten zu sein dünkt, doch unfähig ist, sich zu dem Gedanken des höchsten Gutes zu erheben oder mit ihm zu sympathisieren. Ich glaube, daß eine moralische Neuschaff ung der Mensch heit nur entsteht, wenn neben der christlichen Ethik solche moralischen Prinzipien anerkannt werden, die man nicht ausschließlich aus christlichen Quellen ableiten kann, und daß das christliche System keine Ausnahme von der Regel bildet, wonach in einem unvollständigen Zustand des menschlichen Geistes die Interessen der Wahrheit eine Vielfalt der Meinungen erfordern. Wenn man erkennt, welche moralischen Wahrheiten im Chri stentum fehlen, so braucht man doch diejenigen, die darin enthalten sind, nicht zu vernachlässigen. Wenn solche Vorurteile oder Versehen vorkommen, so sind sie ganz und gar von Übel. Aber diese Übel gehören zu denen, denen wir nicht ganz entgehen können; wir müssen in ihnen den Preis erblicken, den wir für ein anderes unschätzbares Gut bezahlen. Wenn ein Teil der Wahrheit den ausschließlichen Anspruch erhebt, die ganze Wahrheit zu sein, muß man dagegen protestieren, und wenn ein Impuls der Reaktion den Protestierenden ungerecht macht, so ist diese Einseitigkeit wie ihr Gegenstück zu beklagen; aber sie muß geduldet werden. Wenn die Christen einen Ungläubigen lehren wollten, gerecht gegen das Christentum zu sein, so sollten auch sie selbst dem Unglauben Gerechtig keit erweisen. Ich täte der Wahrheit keinen Dienst, wenn ich die Tatsache verleugnen wollte, die alle wissen, die auch nur die gewöhnlichste Kenntnis der Literaturgeschichte besitzen: die Tatsache, daß viele der edelsten und wertvollsten Morallehren das Werk von Männern gewesen sind, die den christlichen Glauben entweder nicht kannten oder gar von solchen, die ihn kannten und ablehnten. Ich behaupte nicht, daß die unbeschränkteste Freiheit, alle Meinungen auszusprechen, dem Übel des religiösen

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und philosophischen Sektierertums ein Ende bereiten würde. Jede Wahrheit, die Menschen von engem Gesichtskreis ernst nehmen, wird sicher in einer Weise ver fochten, verbreitet und selbst praktisch ausgeübt, als ob keine andere Wahrheit in der Welt existierte oder jeden falls keine, die jene begrenzen oder einschränken könnte. Ich gebe zu, daß der Hang aller Meinungen zum Sektierertum durch die freieste Diskussion nicht verhindert, sondern eher erhöht und verstärkt wird, weil die Wahrheit, die man hätte sehen sollen, aber nicht gesehen hat, um so heftiger verworfen wird, weil sie von Gegnern ver treten wurde. Doch nicht auf die leidenschaftlichen Par teigänger, sondern auf die ruhigen und objektiven Zuschauer übt der Meinungskampf eine heilsame Wirkung aus. Nicht der heftige Konfl ikt zwischen Teilen der Wahrheit, sondern die stille Unterdrückung der einen Hälfte ist das empfi ndlichste Übel. Es ist immer noch Hoff nung vorhanden, solange die Menschen gezwungen sind, beide Seiten zu hören. Erst wenn sie nur noch einer Seite Gehör schenken wollen, verhärtet ihr Irrtum zum Vorurteil. Die Wahrheit selbst hört auf zu gelten, wenn sie durch Übertreibung unwahr wird. Es sind aber wenige geistige Eigenschaften so selten wie die Urteilsf ähigkeit, die intelligent über zwei Seiten einer Frage richten kann, von denen nur die eine einen Anwalt hat. Darum hat die Wahrheit nur soweit Aussicht auf Erfolg, als jede Seite der Sache, jede Meinung, die irgendeinen Bruchteil der Wahrheit enthält, nicht nur ihren Verteidiger hat, sondern auch so verteidigt wird, daß man sie anhört. Wir haben jetzt erkannt, daß die notwendige Bedingung für die geistige Gesundheit der Menschen – worauf all ihr übriges Wohlsein sich gründet – auf der Freiheit beruht, ihre Meinungen auszusprechen, und diese Freiheit wiederum stützt sich auf vier bestimmte Gründe, die wir kurz noch einmal zusammenfassen wollen.

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Wenn erstens irgendeine Meinung zum Schweigen gezwungen ist, so kann sie nach allem, was wir wissen, dennoch wahr sein. Wenn wir das leugnen, so maßen wir uns Unfehlbarkeit an. Wenn zweitens die zum Schweigen verdammte Mei nung wirklich einen Irrtum darstellte, so könnte sie – und sie tut es für gewöhnlich auch – doch einen Teil der Wahrheit enthalten. Da nun die allgemein herrschende Mei nung über einen Gegenstand selten oder nie die ganze Wahrheit darstellt, so hat der übrige Teil nur durch den Kampf entgegenstehender Meinungen Aussicht, eingebracht zu werden. Nehmen wir drittens selbst an, daß die allgemein behauptete Wahrheit die ganze Wahrheit darstelle. Wenn man nun aber nicht duldet, daß diese kräftig und ernstlich angegriffen werde, so wird sie von den meisten, die sich zu ihr bekennen, nur in der Art eines Vorurteils vertreten werden, mit wenig Verständnis oder Gefühl für ihre ver nünftigen Gründe, und nicht nur das, sondern der wahre Sinn der Lehre selbst wird viertens in Gefahr kommen, verlorenzugehen oder geschwächt und der lebendigen Wirkung auf Charakter und Lebensführung beraubt zu werden. Denn das Dogma wird in dem Fall zu einem rein formalen Bekenntnis, das nichts Gutes mehr wirken kann, aber unseren Geist belastet, und es verhindert, daß eine wirklich tief gefühlte Überzeugung aus Vernunft oder persönlicher Erfahrung er wächst. Ehe wir das Thema der Meinungsfreiheit verlassen, wollen wir noch auf den Einwurf eingehen, daß die freie Aussprache aller Meinungen zwar erlaubt sei, aber nur unter der Bedingung, daß sie gemäßigt vorgetragen werde und die Grenzen anständiger Diskussion nicht über schreite. Viel kann man geltend machen für die Unmög lichkeit, diese hier gewünschten Grenzen festzulegen. Denn wenn die Grenze da liegt, wo diejenigen, deren Mei nung angegriffen ist, an-

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fangen, sich zu ärgern, so meine ich, zeigt die Erfahrung zur Genüge, daß dieses Ärgernis eintritt, sobald der Angriff kräftig und machtvoll ist. Und jeder Angegriffene, dem es schwer wird, dem Gegner zu antworten, weil dieser ein lebhaftes Gefühl für den Gegenstand hegt, wird in jenem einen ungezügelten Wider sacher erblicken. Dieses Bedenken ist zwar richtig vom rein praktischen Standpunkte aus; an sich aber geht es in einem grundlegenden Einwurf unter. Zweifellos kann die Art, wie man eine Meinung verteidigt – selbst wenn sie wahr ist –, verwerfl ich sein und sich mit Recht scharfer Kritik aussetzen. Aber die Hauptvergehen dieser Art sind so, daß sie – außer durch zufälligen Selbstverrat – kaum je aufgewiesen werden können. Das schwerste Vergehen dieser Art ist, daß man sophistisch argumentiert, daß man Tatsachen oder Argumente unterdrückt, die Elemente der Sache falsch darstellt oder die gegnerische Meinung entstellt. Aber das alles wird – selbst im schlimmsten Grade – beständig in vollkommen gutem Glauben von Menschen ausgeübt, die es in vieler anderer Hinsicht nicht verdienen, als unwissend oder unfähig zu gelten. So ist es kaum möglich, gewissenhaft, auf Grund gerechter Motive eine solche schiefe Darstellung als moralisches Vergehen hinzustellen, und noch weniger kann das Gesetz es wagen, gegen ein solches ungehöriges Argumentieren einzuschreiten. Denken wir an das, was man gewöhnlich maßlose Polemik nennt, nämlich Beleidigungen, Hohn, persönliche Ausfälle und dergleichen, so würde die Entrüstung über diese Waffen noch mehr Sympathie verdienen, wenn man jemals die Absicht hätte, diese in gleicher Weise beiden Seiten zu verbieten. Aber man hegt nur den Wunsch, ihren Gebrauch gegen die herrschende Meinung zu verhindern. Gegen die, die in der Minderheit sind, dürfen jene Waffen nicht nur, ohne Mißfallen zu erregen, gebraucht werden, sie tragen sogar dem, der sie führt, noch den Ruhm ehrlichen Eifers und rechtschaffener Entrüstung ein. Aber so

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viel Unheil auch aus ihrem Gebrauch entsteht, am größten wird es, wenn diese Waffen sich gegen den verhältnismäßig wehrlosen Teil wenden. Der unehrliche Vorteil aber, der aus dieser Kampfesart erwachsen kann, kommt fast ausschließlich der herrschenden Ansicht zu. Das größte Unrecht dieser Art, dessen man sich in der Polemik schuldig machen kann, besteht darin, daß man die Anhänger der anderen Ansicht als schlechte und unmoralische Menschen hinstellt. Dieser Art der Verleumdung sind vor allem die Vertreter irgendeiner unpopulären Ansicht ausgesetzt, denn sie stel len zumeist eine einflußlose Minderheit dar, und niemand anderes als sie selbst hat Interesse daran, daß ihnen Gerechtigkeit widerfahre. Aber der Natur der Sache nach sind diese Waffen denen verwehrt, die die herrschende Mei nung angreifen. Schon um ihrer eigenen Sicherheit wil len dürfen diese jene Kampfesweise nicht gebrauchen. Wenn sie es dennoch täten, so würden ihre Streiche nur auf sie selbst zurückfallen. Im allgemeinen kann man den Meinungen, die den allgemein anerkannten zuwiderlau fen, nur durch befl issene Mäßigung im Ausdruck Gehör verschaffen, durch vorsichtiges Vermeiden jeder beleidigenden Äußerung. Weichen die Streitenden von diesem Prinzip auch nur im geringsten ab, so verlieren sie an Boden. Dagegen schreckt unnötiger Tadel, der auf seiten der herrschenden Meinung gebraucht wird, die Menschen davon ab, sich für die entgegengesetzte Seite zu erklären und diejenigen anzuhören, die sich zu ihr bekennen. Darum ist es weit mehr im Interesse der Wahrheit und Gerechtig keit, den Gebrauch einer heftigen Ausdrucksweise einzuschränken, und wenn man zu wählen hätte, so wäre es vielleicht viel nötiger, beleidigende Angriffe auf den Unglauben als auf die Religion zu entmutigen. Aber es kann nicht Sache des Gesetzes oder der Autorität sein, eine der beiden Meinungen zu hemmen, die öffentliche Meinung aber sollte sich bei ihrem Urteilsspruch stets nach den be-

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sonderen Umständen des individuellen Falles richten. Sie sollte ohne Rücksicht auf die Partei jeden verurteilen, dessen Kampfesweise Unredlichkeit, Bosheit, Bigotterie oder Unduldsamkeit bekundet, niemals aber jemanden dieser Laster bezichtigen, weil er sich auf eine bestimmte Seite schlägt, sei es auch die der eigenen entgegengesetzte, und man sollte jedem die verdiente Ehre erweisen – welcher Anschauung er auch sein mag –, der ruhig und auf richtig genug ist, um zu sehen und zu sagen, wie seine Gegner und ihre Ansichten wirklich sind, der nicht zu ihrem Nachteil übertreibt und nichts verschweigt, was zu ihren Gunsten ausgelegt werden kann. Dies wäre die wahre Moral einer öffentlichen Diskussion. Wenn diese auch noch oft verletzt wird, so beglückt mich doch die Wahrnehmung, daß es viele Kontrahenten gibt, die jene Gebote beachten, und eine noch größere Zahl, die gewissenhaft dieses Ziel anstrebt.

III. Über die Freiheit des Einzelnen als eine der Grundlagen der Wohlfahrt Wir haben nun die Gründe aufgezeigt, die es zur Pfl icht machen, daß die Menschen ihre Meinungen frei bilden und rückhaltlos aussprechen. Und ebenso haben wir die üblen Folgen nicht verschwiegen, die sich für die intellektuelle und damit auch für die moralische Natur des Men schen ergeben, wenn diese Freiheit nicht gewährt oder nicht allen Hindernissen zum Trotz dennoch erkämpft wird. Weiterhin wollen wir nun untersuchen, ob dieselben Gründe nicht auch fordern, daß die Menschen auch die Freiheit haben, nach ihrer Meinung zu handeln und ihre Überzeugung im Leben durchzusetzen, ohne mora lischen oder physischen Zwang von ihren Mitmenschen zu erfahren – solange es

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auf persönliche Rechnung und Gefahr des Einzelnen geht. Dieser letzte Vorbehalt ist natürlich unerläßlich. Niemand wird behaupten, daß Hand lungen so frei sein sollen wie Meinungen. Im Gegenteil: sogar Meinungen verlieren ihre Unantastbarkeit, wenn die Umstände, unter denen sie zum Ausdruck kommen, so sind, daß sie wie eine direkte Aufforderung zu einer Übeltat wirken. Die Ansicht zum Beispiel, daß Kornhändler Ausbeuter der Armen seien oder daß Eigentum Diebstahl sei, sollte ungestraft durch die Presse verbreitet werden dür fen; aber es muß gerechterweise bestraft werden, wenn sie mündlich einem erregten Volkshaufen vorgetragen wird, der sich vor dem Haus eines Kornhändlers zusam men rot tet, oder wenn sie in Form von Plakaten einer solchen Ver sammlung bekanntgegeben wird. Handlungen, die ohne einen berechtigten Grund einem anderen Leid zufügen, können, ja müssen sogar in schwereren Fällen durch unnachsichtige Kritik getadelt und nötigenfalls auch durch tatkräftiges Einschreiten der Gemeinschaft aller verhindert werden. Soweit muß die individuelle Freiheit begrenzt werden, daß niemand anderen Menschen Schaden zufügen darf. Aber solange er niemand belästigt, sondern nur nach dem eigenen Urteil handelt in Dingen, die nur ihn selbst angehen, da beweisen die gleichen Gründe, die für die Gedankenfreiheit sprechen, auch, daß es erlaubt sein muß, ohne Behinderung durch die Mitmenschen zu eigenen Lasten die je eigene Meinung auch in die Tat umzusetzen. Daß die Menschen nicht unfehlbar sind, daß ihre ›Wahrheiten‹ zumeist nur Halbwahrheiten sind, daß die Einstimmigkeit der Meinungen nicht wünschenswert ist, wenn sie nicht ein Ausfluß der vollsten und freiesten Übereinstimmung der entgegengesetzten Ansichten ist, und daß Meinungsvielfalt kein Übel, sondern ein Gut ist, solange die Menschen so schlecht wie bisher imstande sind, alle Seiten der Wahrheit zu erkennen – das ist ein Grundsatz, der natürlich auf die Handlungen der

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Men schen geradeso anwendbar ist, wie auf ihre Ansichten. Wenn es nützlich ist, daß im unvollkommenen Stadium der menschlichen Erkenntnis verschiedene Ansichten herr schen, so ist es ebenso wichtig, daß es verschiedene Lebensweisen gibt, daß den mannigfachen Charakteren freier Spielraum gelassen werde, solange sie nur nicht andere schädigen. Und ebenso erwünscht ist es, daß der Wert verschiedener Lebensweisen praktisch erprobt werde, wenn jemand sich für fähig hält, sie auszuprobieren. Kurz: Es ist wünschenswert, daß in Dingen, die nicht vornehm lich andere betreffen, die Individualität sich behauptet. Wo nicht der eigene Charakter des Handelnden, sondern die Überlieferungen und Sitten anderer Leute über das Handeln entscheiden, da fehlt eine der Hauptbedingungen der menschlichen Glückseligkeit und vor allem der Hauptantrieb zu individuellem und sozialem Fortschritt. Wenn man dieses Prinzip aufstellt, liegt die größte Schwierigkeit nicht darin, daß die Mittel, zu diesem Ziel zu gelangen, schwer zu erkennen sind, sondern in der allgemeinen Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Ziel selbst. Empfände man, daß die freie Entwicklung der Individualität zu den Hauptbedingungen der menschlichen Wohlfahrt gehört, empfände man, daß zu allem, was mit den Worten Zivilisation, Unterricht, Erziehung, Kultur bezeichnet wird, die individuelle Freiheit nicht nur als äußeres Beiwerk gehört, sondern daß sie ein notwendiger Bestandteil, ja die eigentliche Bedingung jener Güter ist, bestünde keine Gefahr, daß die Freiheit unterschätzt würde, und die Feststellung der Grenzen zwischen per sönlicher Freiheit und sozialer Kontrolle würde keine besondere Schwierigkeit darstellen. Aber das Übel ist, daß individuelle Selbstbestimmung von der gewöhnlichen Denkweise kaum als besonders wertvoll oder beachtenswert anerkannt wird. Denn die meisten sind zufrieden mit der Lebensweise der Menschen, so wie sie heute

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ist – der Geschmack der Mehrheit schaff t ja eben diese Lebensweise –, darum können sie auch nicht begreifen, warum diese Art zu leben nicht gut genug für jeden sein sollte. Und was noch schlimmer ist: Selbstbestimmung gehört nicht zu dem Ideal der meisten moralischen und sozialen Reformer, diese betrachten sie sogar mit Argwohn als ein störendes oder gar rebellisches Hindernis, das der allgemeinen Annahme dessen im Wege steht, was diese Refor mer als das Beste für die Menschheit ansehen. Außerhalb Deutschlands verstehen nur wenige den Sinn der Lehre, die Wilhelm von Humboldt – der bedeutende Gelehrte und Politiker – zum Gegenstand seiner Untersuchung machte: ›Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höch ste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen‹, so daß deshalb das Ziel, ›wonach der ein zelne Mensch ewig ringen muß, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung‹ ist. Dafür sind zwei Bedingungen erforderlich: ›Freiheit‹ und ›Man nigfaltigkeit der Situationen‹, aus deren Vereinigung ›Kraft der Individuen‹ und ›mannigfaltige Verschiedenheit‹ ent stehen, die sich miteinander zur ›Originalität‹ verbinden.1 Wie wenig auch die Menschen mit einer Lehre wie der Humboldtschen vertraut sind und wie sehr es sie auch überraschen mag, der Individualität einen so hohen Wert zugeschrieben zu sehen, so kann doch der Meinungsunterschied nur ein gradueller sein. Denn es wird niemand das Lebensideal darin erblicken, daß die Menschen sich darauf ›The Sphere and Duty of Government‹ [1854], aus dem Deutschen [= Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1851] des Ba rons Wilhelm von Humboldt, S. 11 – 13 [ = S. 9 – 12 in der dt. Ausgabe]. 1

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beschränken, einander nachzuahmen. Es wird niemand behaupten, daß die Menschen in ihrer Lebensweise oder bei der Verfolgung ihrer Interessen ihr eigenes Urteil oder ihren individuellen Charakter gänzlich unterdrücken sollen. Andererseits aber wäre es sinnlos, zu behaupten, daß die Menschen so leben sollten, als ob man, bevor sie selbst auf die Welt kamen, noch von nichts etwas gewußt hätte und als ob man noch nie ausprobiert hätte, daß die eine Art der Lebensführung einer anderen vorzu ziehen sei. Niemand leugnet, daß die Menschen in der Jugend so erzogen werden müssen, daß sie die Ergebnisse der menschlichen Erfahrung kennenlernen und daraus Nutzen ziehen können. Aber es ist das Vorrecht und die eigentliche Lebensgrundlage des Menschen, daß er, zur Reife gelangt, die Erfahrung in seiner eigenen Weise gebraucht und auslegt. Er selbst muß ausfi ndig machen, welcher Teil der überlieferten Erfahrung für seine eigenen Lebensumstände und seinen Charakter geeignet ist. Die Gewohnheiten und Sitten anderer Leute sind bis zu einem gewissen Grad der Beweis für das, was die Erfah rung sie gelehrt hat – jedenfalls ein mutmaßlicher –, und sie haben insofern Anspruch auf Respekt. Aber einmal kann die Erfahrung dieser Menschen zu eng oder ihre Ausdeutung des Erfahrenen falsch sein. Es kann aber auch die Ausdeutung richtig sein, aber auf einen anderen nicht passen. Gewohnheiten wurden für gewöhnliche Umstände und gewöhnliche Charaktere geschaffen, und der Charakter oder die Verhältnisse eines Menschen kön nen außergewöhnlich sein. Oder aber: obwohl die Gewohnheiten gut sind und auch für einen anderen Men schen passen würden, so erzeugt die Tatsache, daß jemand mit der Gewohnheit übereinstimmt, nur weil sie ein mal eingebürgert ist, in einem Menschen keine der Eigenschaften, die das entscheidende Merkmal des menschlichen Wesens sind. Die menschlichen Fähigkeiten des Verstehens, des Urteils, der Unterscheidung, der geistigen Ak-

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tivität und selbst der moralischen Wertschätzung werden nur geübt, indem man eine Wahl triff t. Derjenige aber, der etwas nur darum tut, weil es Sitte ist, triff t keine Wahl. Er gewinnt keine Übung darin, das Beste zu erken nen oder zu begehren. Die geistigen und moralischen Kräfte werden, wie die Muskelkräfte, nur gestärkt durch Übung. Diese Fähigkeiten aber bleiben ungeübt, wenn wir etwas nur tun, weil andere es auch tun, oder wenn wir etwas nur glauben, weil es andere glauben. Wenn die Gründe einer Sache nicht der eigenen Vernunft des Men schen begreifl ich sind, so kann seine Vernunft nicht gestärkt, sondern eher geschwächt wer den, wenn er die Sache dennoch glaubt. Und wenn die Beweggründe für die Handlung eines Menschen nicht mit seinem eigenen Füh len und seinem Charakter übereinstimmen (bei Handlungen, wo Meinungen oder Rechte anderer nicht in Betracht kommen), so bewirkt er damit, daß seine Gefühle und sein Charakter träg und stumpf und nicht frisch und energisch werden. Wer sich seinen Lebensplan von der Welt oder seiner engeren Umgebung vorzeichnen läßt, der bedarf dazu keiner anderen Begabung als der affenähnlichen Nach ahmung. Derjenige aber, der seinen Lebensplan selbst ent wirft, nutzt alle seine Fähigkeiten. Er braucht Beobachtungsgabe zum Sehen, Verstand und Urteilskraft zum Voraussehen, geistige Lebendigkeit, um Material für die Entscheidung zu sammeln, Unterscheidungsgabe, um zu wählen, und wenn er sich entschieden hat, so braucht er Festigkeit und Selbstkontrolle, um an der getroffenen Wahl festzuhalten. Und diese Eigenschaften wird er in dem Maße besitzen und ausüben, in dem er sich daran gewöhnt hat, sein Handeln von seinem eigenen Urteil und Empfi nden abhängig zu machen. Trotzdem ist es möglich, daß jemand auch ohne diese Selbstbestimmung auf dem rechten Wege bleibt und von Unheil verschont wird. Aber worin liegt der Wert eines

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solchen Menschen? Denn nicht nur das kommt in Betracht, was die Menschen tun, sondern auch, was für Menschen es sind, die so handeln. Unter all den menschlichen Werken, die wir zu vervollkommnen und zu verschönern haben, ist das wichtigste doch sicher der Mensch selbst. Nehmen wir einmal an, es sei möglich, daß durch Maschinen – durch Automaten in Menschengestalt – Häuser gebaut würden, Korn angebaut, Schlachten geschlagen, Prozesse geführt, ja selbst Kirchen errichtet und Gebete gesprochen würden: so wäre es doch ein erheblicher Verlust, wenn man solche Automaten gegen Menschen und selbst gegen die Frauen und Männer eintauschen würde, die heute die zivilisierte Welt bewohnen, obwohl sie doch gewiß nur mäßige Beispiele von dem sind, was die Natur hervorbringen kann und will. Die menschliche Natur ist keine Maschine, die nach einem Modell gebaut wird und die eine genau vorgeschriebene Arbeit verrichten kann, sondern ein Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten möchte, gemäß der Tendenz seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem Lebewesen machen. Man wird wahrscheinlich zugeben, daß es wünschenswert ist, wenn die Menschen ihren Verstand gebrauchen, und daß ein einsichtiges Befolgen der Sitte oder selbst gelegentlich ein einsichtiges Abweichen davon besser ist als eine blinde mechanische Abhängigkeit von der Gewohn heit. Man gibt bis zu einem gewissen Grade zu, daß unser Verstand eben unser eigener Verstand sein muß; aber man will nicht ebenso bereitwillig zugestehen, daß auch unsere Begierden und Triebe uns selbst angehören müssen oder daß eigene – und starke – Triebe zu haben, nicht nur Gefahr und Versuchung sein muß. Und dennoch sind Begierden und Triebe ebensogut ein Teil eines vollkommenen menschlichen Wesens wie Glaube und Verzicht, und starke Triebe sind nur dann gefährlich, wenn ein ausgleichendes Gegengewicht fehlt, wenn eine Gruppe von Absichten und Neigungen sich stark entwickelt, wäh-

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rend andere, die mit ihnen im Gleichgewicht stehen sollten, schwach und inaktiv bleiben. Die Menschen handeln nicht schlecht, weil ihre Leidenschaften stark sind, sondern weil ihr Gewissen schwach ist. Aber es besteht durchaus keine notwendige Verbindung zwischen starken Trieben und einem schwachen Gewissen. Die gegenteilige Verbindung ist sogar das Natürliche. Sagt man: die Begierden und Gefühle eines Menschen sind stärker und mannigfaltiger als die eines anderen, so bedeutet das zu nächst nur, daß er mehr von dem Rohmaterial der menschlichen Natur besitzt und darum vielleicht mehr zum Bösen, bestimmt aber mehr zum Guten befähigt ist als der andere. Starke Triebe sind ja nur ein anderer Name für Energie. Diese kann gewiß zu üblen Zwecken ver wandt werden; andererseits aber wird von einer energi schen Natur auch viel mehr Gutes geleistet als von einer trägen und unempfi ndlichen. Wer am meisten natürliches Gefühl besitzt, hat auch stets die meiste Aussicht, daß seine kultivierten Gefühle die stärksten sein werden. Dieselbe starke Empfänglichkeit, die die natürlichen Triebe lebhaft und kraftvoll werden läßt, ist auch die Quelle, aus der leidenschaftliche Tugendliebe und strengste Selbstdisziplin stammen. Darum tut die Gesellschaft ihre Pfl icht und dient ihren eigenen Interessen, wenn sie diese Natu ren schützt, nicht aber, wenn sie den Stoff verwirft, aus dem Helden gemacht werden; kann sie doch nicht selbst welche machen. Einen Charakter hat nur der Mensch, der eigene Begierden und Triebe hat als Ausdruck seiner eigenen Natur, wie sie durch Selbsterziehung entwickelt und gemodelt ist. Jemand, der keine eigenen Triebe hat, hat ebensowenig einen Charakter wie eine Dampfmaschine. Wenn aber seine Triebe, außer daß sie sein eigen sind, Stärke haben und von einem starken Willen beherrscht werden, dann hat er einen energischen Charakter. Wer da meint, daß der individuelle Charakter der Begierden und Triebe nicht ermuntert werden

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dürfe, sich zu entfalten, der muß auch behaupten, daß die Gesellschaft keiner starken Naturen bedürfe, daß sie nicht besser führe, wenn sie viele charaktervolle Persönlichkeiten besäße, und daß ein hohes Durchschnittsmaß von Energie nicht wünschenswert wäre. In manchen früheren Stadien der menschlichen Entwicklung waren diese Kräfte vielleicht der Macht, mit der die damalige Gesellschaft sie im Zaume halten und kontrollieren wollte, zu sehr über den Kopf gewachsen. Es gab eine Zeit, wo das Element der Spontaneität und Individualität übergroß war, so daß das soziale Prinzip einen harten Kampf mit ihm zu bestehen hatte. Da war es schwer, Menschen von starkem Körper und starkem Geist dazu zu bringen, daß sie sich Gesetzen fügten, die eine Beherrschung ihrer Triebe von ihnen verlangten. Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, übten Gesetz und Zucht ihre Macht über den ganzen Menschen aus – man denke an den Kampf der Päpste gegen die Kaiser – und beanspruchten, das ganze Leben der Menschen zu kontrollieren, um ihren Charakter zu beeinflussen – wozu die Gesellschaft kein anderes Mittel gefunden hatte. Jetzt aber hat die Gesellschaft so ziemlich den Sieg über das Individuum davongetragen, und die Gefahr, die der mensch lichen Natur nun droht, ist nicht ein Übermaß, sondern ein Mangel an persönlichen Trieben und Neigungen. Die Dinge haben sich sehr verändert, seit die Leidenschaften derer, die durch ihre Stellung oder durch persönliche Begabung hervorragten, in beständiger Auflehnung gegen Gesetz und Ordnung begriffen waren und streng in Zucht gehalten werden mußten, damit die Menschen in ihrem Bereich in einiger Sicherheit leben konnten. In unserer Zeit lebt jeder, von den höchsten Gesellschaftsklassen an bis zu den untersten, gleichsam unter den Augen einer feindlichen und gefürchteten Zensur. Der Einzelne oder die Familie fragen nicht nur in Dingen, die andere angehen, sondern auch in

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Fragen, die nur sie selbst betreffen, nicht mehr: Was ziehe ich vor? oder: Was würde mei nem Charakter und meinen Neigungen entsprechen? oder: Was bringt das Höchste und Beste in mir zur Ent wicklung und zur Entfaltung? Nein, sie fragen sich: Was paßt zu meiner Stellung? Was pflegen Menschen von mei ner gesellschaftlichen Stellung und meinen pekuniären Verhältnissen zu tun? Oder gar, was noch schlimmer ist, sie fragen sich: Was pflegen Leute zu tun, die gesellschaft lich über mir stehen? Ich will damit nicht sagen, daß sie nach dem Üblichen suchen, anstatt nach dem zu fragen, was ihrer wahren Neigung entspricht. Es fällt ihnen nicht ein, eine andere Neigung zu haben, als es eben üblich ist. So wird der Geist selbst unter das Joch gebeugt; selbst bei dem, was die Menschen zu ihrem Vergnügen tun, wird zunächst an Konformität gedacht. Sie lieben in Mengen; sie wählen nur zwischen Dingen, die für gewöhnlich getan werden dürfen, Eigenheiten im Geschmack, Exzentrizitäten im Handeln werden wie Verbrechen gemieden. Zum Schluß haben sie, weil sie ihrer Natur niemals folgen, überhaupt gar keine Natur mehr. Ihre menschlichen Fä higkeiten verdorren und sterben ab; sie werden unf ähig, starke Wünsche oder eingeborene Leidenschaften überhaupt zu empfi nden, und sie sind gewöhnlich ohne alle urwüchsigen oder im strengen Sinne eigenen Neigungen oder Empfi ndungen. Ist das nun ein wünschenswerter Zustand der menschlichen Natur, oder ist er es nicht? Nach der Lehre Calvins ist er es durchaus. Denn nach ihr ist die große Sünde des Menschen sein Eigenwille, und alles Gute, dessen der Mensch fähig ist, bezeichnet das Wort ›Gehorsam‹. Der Mensch hat keine Wahl; so muß er handeln und nicht anders: ›Was nicht Pfl icht ist, das ist Sünde.‹ Die menschliche Natur ist von Grund aus verderbt, und der Mensch darf nicht auf Erlösung hoffen, bevor er nicht die menschliche Natur in sich abgetötet hat. Einen Bekenner

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dieser Lehre dünkt es nicht sündhaft, wenn man menschliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Empf änglichkeiten vernichtet: bedarf doch der Mensch keiner anderen Fähigkeit als der, sich in den Willen Gottes zu ergeben. Und es ist besser, daß ein Mensch seiner Gaben entbehrt, als daß er nur eine von ihnen für einen anderen Zweck verwende als zur Durchführung dieses vermeint lichen Gotteswillens. So lautet die Lehre Calvins, und zu einer milderen Form derselben bekennen sich viele, die sich nicht Kalvinisten nennen. Die Milderung besteht darin, daß sie dem Willen Gottes eine weniger asketische Auslegung geben, daß sie voraussetzen, es sei Gottes Wille, wenn die Menschen einige ihrer Neigungen befriedigen, aber natürlich nicht in der Weise, die sie selber vorzögen, sondern auf dem Wege des Gehorsams, also auf eine Weise, die die Autorität ihnen vorschreibt. So ist auch dieser Weg nicht individuell, sondern für alle gleich. In einer so verf änglichen Form besteht augenblicklich eine starke Tendenz zu dieser engherzigen Lebensauff assung und zu dem gedrückten und trockenen mensch lichen Charakter, der durch diese Richtung begünstigt wird. Viele glauben wohl aufrichtig, daß so verkrüppelte und zwergenhafte Formen menschlicher Wesen das sind, wozu der Schöpfer sie bestimmte, so wie viele gedacht haben, daß Bäume, wenn man sie zu Stümpfen kappt oder zu Tiergestalten schneidet, viel vornehmer seien als so, wie die Natur sie gemacht hat. Aber wenn der Glaube, daß die Menschen von einem gütigen Wesen geschaffen worden sind, Teil der Religion ist, so paßt es zu diesem Glauben auch besser, wenn man annimmt, daß jenes Wesen den Menschen alle Gaben dazu verlieh, daß sie gebildet und entwickelt, nicht aber ausgerottet und vernichtet würden, und daß es Freude empfände an jedem Schritt, der seine Geschöpfe dem Ideal, das sie verwirklichen sol len, näherbringt, an jeder Steigerung ihrer Fähigkeiten des Begreifens, des Handelns und des

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Genießens. Es gibt noch einen anderen Typus menschlicher Größe als den kalvinistischen: eine Auffassung, nach der den Menschen ihre Natur für anderes verliehen wurde, als bloß verleug net zu werden. ›Heidnische Selbstbehauptung‹ ist ein Element menschlichen Wertes genausogut wie ›christliche Selbstverleugnung‹.1 Es gibt ein griechisches Ideal der Selbstentfaltung, mit dem sich das platonische und das christliche Ideal der Selbstbeherrschung vermischen, ohne es zu hemmen. Es mag besser sein, ein John Knox als ein Alkibiades zu sein, aber am besten ist es schon, man ist keiner von beiden, sondern ein Perikles. Hätten wir nur heute einen Perikles, so würde er sicher auch der Tugenden nicht ermangeln, die wir an einem John Knox schätzen. Zu einem edlen und schönen Gegenstand der Betrachtung werden die Menschen nur, wenn sie ihre persönliche Natur innerhalb der Grenzen, die ihnen durch die Rechte und Interessen anderer gezogen sind, kräftigen und kultivieren und nicht, wenn sie alle individuellen Züge in Gleichförmigkeit verwandeln, und ebenso, wie Werke am Charakter ihrer Schöpfer Anteil haben, wird das menschliche Leben dadurch reich, mannigfaltig und anregend, es bietet bessere Gelegenheit zu hohen Gedanken und erhebenden Gefühlen und festigt das Band, das jedes Einzelwesen mit der Gattung verbindet, indem die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung dadurch unendlich viel wertvoller wird. In dem Maße, wie ein Mensch seine Individualität entwickelt, wird er selbst wertvoller für sich und dadurch auch für andere. Das eigene Dasein hat dann mehr Lebensfülle, und wo mehr Leben in dem Ein zelnen ist, da ist auch mehr Leben in der Masse, die ja aus den Einzelnen zusammengesetzt ist. Ein gewisser Zwang aber ist immer nötig, um die stärkeren Persönlich keiten daran zu hindern, die Rechte der Schwä1

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cheren einzuschränken, aber dafür wird in der Möglichkeit menschlicher Entfaltung ein guter Ausgleich geboten. Die Entwicklungsmöglichkeiten, die der Einzelne dadurch verliert, daß man ihn hindert, seine Neigungen zuungunsten anderer zu befriedigen, würden eben auf Kosten der Entwicklung dieser Menschen gehen. Und auch in sich selbst fi ndet der Einzelne einen Ausgleich der Entwicklung, indem jetzt auch der soziale Teil seiner An lagen ausgebildet wird und die selbstsüchtigen Regungen unterdrückt werden. Um zum Heile anderer die strengen Regeln der Gerechtigkeit einzuhalten, entwickelt der Mensch die Gefühle und die Gaben, die das Wohl anderer bezwecken. Wenn der Mensch aber in Dingen, die nicht das Wohl anderer betreffen, wenn er nur aus Schikane eingeschränkt wird, entspringt ihm daraus nichts Wertvolles, außer der Charakterstärke, die entwickelt wird, wenn er sich der Einengung widersetzt. Ergibt man sich ihr, so schwächt und ermattet sie schließlich die ganze menschliche Natur. Soll dem Wesen jedes Menschen freier Spielraum gelassen werden, so muß man den verschiedenen Charakteren gestatten, ihr Leben verschieden zu führen. In dem Maße, wie diese Freiheit in jedem Zeitalter gewährt worden ist, ist dieses Zeitalter für die Nachwelt wichtig. Selbst der Despotismus bringt seine schlimmsten Wirkungen nicht hervor, solange unter ihm Individualitäten existieren. Al les aber, was die Individualität ausrotten will, ist Despotismus – ganz gleich, mit welchem Namen es sich belegen mag, gleich auch, ob man es als Gebot Gottes oder als Bestimmung des Menschen darstellt. Nachdem ich gezeigt habe, daß Individualität mit Entwicklung zusammenfällt und daß nur die Kultivierung der Individualität hochentwickelte Menschen hervorbringt und hervorbringen kann, möchte ich die Gedanken führung abschließen; denn was kann von einem Zustand der menschlichen Angelegenheiten mehr oder Besseres und Schöneres

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gesagt werden, als daß er die Menschen dem Besten, was sie werden können, näherbringt? Oder aber: Was könnte Schlimmeres von irgendeiner Behinderung des Guten gesagt werden, als daß es eben jenes Beste verhindert? Trotzdem werden diese Gedanken zweifellos jene nicht umstimmen, die dieser Überzeugung am dringendsten bedürfen. Man muß deshalb weiterhin zeigen, daß die entwickelten Menschen für die noch unentwickelten von Wert sind. Man muß diejenigen, die die Freiheit nicht lieben und sie für sich nicht wählen würden, darauf hinweisen, daß sie irgendwie dafür belohnt werden, wenn sie dennoch anderen Menschen erlauben, von der Freiheit ungehindert Gebrauch zu machen. Zunächst würde ich zu bedenken geben, daß sie möglicherweise etwas von ihnen lernen könnten. Niemand wird leugnen können, daß Originalität in menschlichen Dingen ein wertvolles Element ist. Wir brauchen immer Menschen, die nicht nur neue Wahrheiten entdecken und es herausfi nden, wenn das, was einst als Wahrheit gegolten hat, es nicht mehr ist – und vor allem aber auch solche, die praktisch neue Wege entdecken und das Beispiel einer aufgeklärteren Handlungsweise, eines besseren Geschmacks und Sinnes im Menschenleben geben. Das kann wohl von keinem geleugnet werden, der nicht glaubt, daß die Welt in jeder Hinsicht Vollkommenheit erreicht hat. Es ist sicher wahr, daß nicht jeder gleichermaßen diese Wohltat erweisen kann, es sind – im Vergleich mit der gan zen Menschheit – nur sehr wenige Menschen, deren Ver suche man als eine Verbesserung der üblichen Lebensweise für alle zur Annahme empfehlen könnte. Aber diese wenigen eben sind das Salz der Erde; ohne sie würde das menschliche Leben einem stehenden Gewässer gleichen. Nicht nur sind sie es, die gute, bis dahin ungekannte Neuerungen einführen; sie erhalten auch das schon Bekannte lebensvoll. Wenn nichts Neues zu tun wäre, wäre der menschliche Intellekt dann noch notwendig? Wäre

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es vernünftig, wenn die, die der Überlieferung folgen, den Grund dafür vergessen und es wie das Vieh tun und nicht wie Menschen? Es liegt in den besten Überzeugungen und Praktiken eine nur zu starke Tendenz, ins Mechanische auszuarten. Gäbe es nicht immer wieder eine Reihe von Menschen, deren stets neue Originalität die Gründe dieser zur Gewohnheit gewordenen Praxis davor bewahrte, zur gedankenlosen Überlieferung zu werden, so würde diese tote Materie auch nicht den leisesten Zusam menprall mit irgend etwas Lebendigem ertragen können, und es wäre nicht einzusehen, warum die Zivilisation nicht absterben sollte wie einst im byzantinischen Reich. Geniale Menschen stellen sicher immer nur eine kleine Minderheit dar, aber um sie zu erhalten, muß man den Boden pflegen, auf dem sie gedeihen. Der Genius kann nur in der Atmosphäre der Freiheit atmen. Geniale Menschen sind – wie auch schon das Wort besagt – individueller als andere Leute, und sie sind darum minder geeignet, sich, ohne schmerzhaft gepreßt zu werden, in eine der wenigen Formen zu fügen, die die Gesellschaft bereithält, um ihren Mitgliedern die Mühe zu ersparen, sich einen eigenen Charakter zu bilden. Wenn sie sich aus Schüchternheit einer dieser Formen anpassen und alle jene Teile ihres Wesens nicht entfalten, die sich unter dem Druck nicht entfalten können, so wird die Gesellschaft von ihrem Genie nicht viel haben. Wenn sie aber einen starken Charak ter zeigen und ihre Fesseln auf brechen, so werden sie zur Zielscheibe für die Gesellschaft, der es nicht gelungen ist, sie zur Mittelmäßigkeit herabzudrücken, auf die sie mit entsetzter Miene die Worte ›wild‹ und ›auf brausend‹ anwenden wird; das ist genauso, als ob man sich über den Niagara beklagen wollte, weil er nicht wie ein holländischer Kanal sanft zwischen seinen Ufern dahinfl ießt. Ich weise ausdrücklich auf die Bedeutung des Genies und auf die Notwendigkeit hin, ihm im Handeln und Denken

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freie Entwicklung zu gewähren, und ich weiß wohl, daß in der Theorie niemand diese Position bestreiten wird, aber ich weiß ebensogut, daß in Wirklichkeit fast jeder diesen Dingen völlig gleichgültig gegenüber steht. Man hält das Genie für eine gute Sache, wenn es einen Menschen instand setzt, ein gelungenes Gedicht hervorzubringen oder ein beeindrukkendes Bild zu malen. Aber in seinem wahren Sinn, dem der Originalität im Denken und Handeln, mei nen die meisten in ihrem Herzen – obwohl keiner sagt, er bewundere die Originalität nicht –, daß man die genialen Menschen sehr wohl auch entbehren könne. Leider ist das zu natürlich, als daß man darüber erstaunen müßte. Originalität ist das einzige, dessen Nutzen unoriginelle Men schen nicht einsehen können. Sie begreifen nicht, was sie damit anfangen sollen. Wie sollten sie auch? Wenn sie begriffen, was Originalität ihnen Gutes täte, dann wäre es keine. Der erste Dienst, den Originalität ihnen erweisen könnte, wäre, daß sie ihnen die Augen öff nete. Wäre das jemals ganz geschehen, so hätten sie Aussicht, selbst Originale zu werden. Inzwischen sollen sie bedenken, daß niemals etwas getan worden ist, ohne daß irgend jemand es zuerst getan hat, und daß alles Gute, das existiert, die Frucht der Originalität ist, und so sollten sie bescheiden genug sein, zu glauben, daß für diese noch immer etwas zu tun ist. Ja, sie sollten überzeugt sein, daß sie selbst die Originalität um so nötiger haben, je weniger sie merken, daß sie ihnen fehlt. Wenn man die Dinge nüchtern betrachtet, so muß man sagen: wieviel Huldigung auch der wahren oder angenommenen geistigen Überlegenheit dargebracht wird, so strebt die allgemeine Neigung doch dahin, der Mittelmäßigkeit die größte Macht über die Menschen zu geben. In der Alten Geschichte, im Mittelalter und in geringerem Maße auch in der langen Übergangszeit vom Feudalismus zur Gegenwart war Individualität eine Macht für sich. Und wenn sich

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damit Talent oder eine hohe soziale Stellung verband, so gewann sie eine beträchtliche Macht. Gegenwärtig geht alle Individualität in der Masse unter. In der Politik ist es fast eine Trivialität zu sagen, daß die öffentliche Meinung jetzt die Welt beherrscht. Die einzige Macht, die diesen Namen verdient, ist die Macht der Massen und der Regierungen, sofern diese sich zum Organ für die Neigungen und Instinkte von Massen machen. Das gilt ebenso für die menschlichen und sozialen Beziehungen im Privatleben wie für die öffent lichen Betätigungen. Aber es ist nicht immer dasselbe Publikum, dessen Ansichten den Namen der öffentlichen Mei nung tragen: in Amerika kommt als solches die ganze weiße Bevölkerung in Betracht, in England hauptsächlich die Mittelklassen. Aber diese bilden immer eine Masse, das heißt: eine gesammelte Mittelmäßigkeit. Eine noch größere Neuheit aber ist es, daß die Masse ihre Meinungen nicht mehr von Würdenträgern in Staat oder Kirche bezieht, auch nicht von ausgesprochenen Führern oder aus Büchern. Nein, sie beziehen ihre Gedanken von Leuten, die auf gleicher Stufe mit ihnen selbst stehen, die unter dem Eindruck des Augenblicks sie durch die Presse an sprechen oder in ihrem Namen reden. Ich klage über das alles nicht, denn ich glaube nicht, daß als allgemeine Regel mit dem jetzigen Stand des Menschengeistes irgend et was anderes zu vereinen ist. Aber das hindert nicht, daß die Herrschaft der Mittelmäßigkeit eine mittelmäßige Herrschaft ist. Niemals konnte sich eine Regierung, die von einer Demokratie oder einer vielköpfigen Aristokratie getragen wird, in ihren politischen Handlungen, Ansichten, Eigenschaften und Geistesstimmungen über die Mit telmäßigkeit erheben, wenn sich nicht die souveränen vielen (wie sie das in ihren besseren Zeiten taten) führen und beeinflussen ließen durch die Ratschläge und den Einfluß eines oder mehrerer über ihnen stehender. Die Einführung aller weisen und edlen Dinge kann stets

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nur von den Individuen kommen, ja sie geht im allgemeinen zuletzt auf eine Persönlichkeit zurück. Die Ehre und der Ruhm des Durchschnittsmenschen besteht darin, daß er fähig ist, diesen Anregungen zu folgen, daß die weisen und edlen Ideen in ihm ein Echo fi nden und daß er sich offenen Auges zu ihnen hinführen läßt. Ich bin nicht für die Art der Heldenverehrung, die dem starken Genie zujubelt, wenn es sich die Herrschaft über die Welt aneig net und sie wider ihren Willen zur Unterwerfung zwingt. Alles, was das Genie beanspruchen darf, ist die Freiheit, den Weg zu zeigen. Die Macht, andere auf diesen Weg zu zwingen, ist nicht nur unvereinbar mit der Freiheit und Entwicklung aller anderen, sondern sie korrumpiert auch den Starken selbst. Wenn aber die Ansichten von Massen oder bloß von Durchschnittsmenschen überall die domi nierende Macht sind oder dazu werden, sollten sie dann nicht ein Korrektiv fi nden in der immer prononcierteren Individualität solcher, die geistig höher stehen? Vor allem um dieser Tatsache willen darf man Ausnahmepersönlich keiten nicht unterdrücken, sondern man sollte sie ermuntern, wenn sie in ihrem Handeln von der Masse abweichen. Früher war ein solches Abweichen nur dann ein Vorteil, wenn man nicht nur anders, sondern auch besser handelte. Heute aber ist schon das bloße Beispiel des Abweichens, die Tatsache, daß man nicht vor Sitte und Gewohnheit das Knie beugt, ein Verdienst. Gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung so stark ist, daß für sie Exzentrizität ein Tadel ist, muß man, um jene Tyran nei zu durchbrechen, geradezu wünschen, daß Menschen exzentrisch sein sollten. Exzentrizität war in der Mensch heit stets nach Maßgabe der Charakterstärke vertreten; sie hängt im allgemeinen ab von der Summe des Genies, der Geisteskraft und des Mutes, die sich in der Gesellschaft fi ndet. Die Hauptgefahr unserer Zeit liegt darin, daß heute so wenige Menschen wagen, exzentrisch zu sein.

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Ich sagte, man müsse ungewohnten Praktiken mög lichst freien Spielraum gewähren, damit sich mit der Zeit erweise, welche von ihnen zu Normen erhoben werden sollen. Aber Unabhängigkeit im Handeln und Mißachtung der Sitte verdienen Ermunterung nicht nur, weil sie die Aussicht eröffnen, daß bessere Handlungsweisen und Sitten, die der allgemeinen Anerkennung würdiger sind als die bisherigen, eingeführt werden. Auch haben nicht nur Menschen von entschiedener geistiger Überlegenheit gerechten Anspruch darauf, ihr Leben nach eigenem Gutdünken einzurichten. Es besteht überhaupt kein Grund, nach einem oder nach einer geringen Zahl von Mustern das ganze menschliche Leben einzurichten. Wenn jemand einigermaßen gesunden Menschenverstand und Erfahrung zeigt, so hat er das Recht, sein Leben nach eigenem Urteil zu gestalten, nicht weil ein solches Leben stets an sich das beste wäre, sondern weil es seiner Eigenart am besten entspricht. Menschen sind ja nicht wie Schafe, und selbst diese sind nicht ununterscheidbar gleich. Ein Mensch kann zu einem passenden Rock oder einem passenden Paar Stiefeln nicht gelangen, wenn sie nicht nach seinem Maß gemacht sind oder wenn sie nicht aus umfassenden Lagerbeständen für ihn herausgesucht werden. Ist es denn leichter, ein passendes Leben als einen passenden Rock zu fi nden, oder gleichen sich vielleicht Menschen in ihrem ganzen körperlichen und seelischen Habitus mehr als in der Gestalt ihrer Füße? Und wäre es nur um der Verschiedenheit des Geschmackes willen, so dürfte man nicht versuchen, die Menschen alle nach einem Muster zu gestalten. Aber verschiedene Menschen erfordern auch verschiedene Bedingungen für ihre geistige Entwicklung; sie können sich nicht alle unter ein und derselben Moral gesund entwickeln, wie verschiedene Pflanzen ja auch nicht in derselben Atmosphäre und in demselben Klima gut gedeihen würden. Das, was dem einen zur Entwicklung seiner höheren Natur verhilft, ist für

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einen anderen hinderlich. Dieselbe Lebensweise ist für den einen eine gesunde Anregung, die alle seine Kräfte zu Arbeit und Lebensgenuß in bester Ordnung hält, wäh rend sie für den anderen eine erdrückende Bürde bedeutet, die all sein inneres Leben zunichte macht. So sehr verschieden sind bei den Menschen die jeweiligen Quellen des Vergnügens, der Empfänglichkeit für Schmerz und ihre Reaktion auf verschiedene physische und moralische Einwirkungen, daß – wenn nicht dementsprechend auch ihre Lebensweise mannigfach gestaltet wird – sie weder ihren gerechten Anteil an Glück erhalten noch sich geistig, moralisch und ästhetisch zu dem entwikkeln, dessen ihre Natur fähig ist. Warum dehnt man die Duldung nur auf den Geschmack und die Lebensweise aus, die sich durch die Menge ihrer Anhänger Geltung verschaffen? Die Verschiedenheit des Geschmackes ist nirgends (außer in gewissen klösterlichen Anstalten) völlig verpönt. Man kann auch, ohne sich Tadel zuzuziehen, es lieben oder nicht lieben, zu rudern, zu rauchen, Musik zu treiben, zu turnen, Schach oder Karten zu spielen oder zu studieren; denn diejenigen, die diese Dinge lieben, wie die, die sie verachten, sind zu zahlreich, als daß man sie unterdrücken könnte. Aber der Mann oder mehr noch die Frau, der man vorwirft, daß sie tut, was sonst niemand tut, oder daß sie unterläßt, was alle tun, ist der Gegenstand so gehässiger Bemerkungen, als hätte sie ein schweres moralisches Delikt begangen. Die Menschen müssen Titel oder Rang besitzen, oder sie müssen bei Leuten von Rang etwas gelten, wenn sie sich den Luxus leisten wollen, nach Belieben zu leben, ohne an Achtung einzubüßen. Aber auch sie dür fen sich keine großen Abweichungen von der Norm erlauben, sonst riskieren sie Schlimmeres als nur üble Nachrede; sie sind in Gefahr, ins Irrenhaus zu kommen und ihr Eigentum an Verwandte zu verlieren.1 Es liegt etwas zugleich Verächtliches und Schreckliches in der Art von Beweisen, die den Gerichten in der jüngsten Zeit zur 1

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Ein charakteristisches Zeichen für die gegenwärtige Richtung der öffentlichen Meinung besteht darin, daß sie unduldsam ist gegen jede Bekundung der Individualität. Und die Durchschnittsmenschen sind nicht nur von mä ßigem Verstand; mittelmäßig sind sie auch in ihren Neigungen und ihrem Geschmack; ihre Wünsche sind nicht stark genug, als daß sie sie geneigt machten, etwas Unübliches zu tun, und folglich verstehen sie auch diejenigen nicht, bei denen das der Fall ist, und rechnen sie zu den wilden und maßlosen Charakteren, auf die sie gewohnter maßen verächtlich herabGrundlage dienten, um Menschen für unf ähig zu erklären, ihre eigenen Angelegenheiten zu verwalten, und wie die Gerichte sich erlauben, ihr Testa ment zu verwerfen, sofern Vermögen genug vorhanden war, um die Gerichtskosten davon zu bestreiten. In solchen Fällen werden alle Einzelheiten im täglichen Leben des Betreffenden durchgegangen, und wenn sich irgend etwas fi ndet, was durch niederträchtigste Betrachtungsweise und Darstellung den Anschein gewinnt, vom absolut Üblichen abzuweichen, so wird diese Tatsache dem Gericht oft mit Erfolg als Beweis der Verrücktheit hinterbracht. Die Geschworenen sind, wenn überhaupt, kaum weniger gemein und unwissend als die Zeugen. Die Richter aber, mit jenem außerordentlichen Mangel an Men schenkenntnis, der uns bei englischen Juristen immer wieder in Er staunen versetzt, helfen oft noch, jene zu mißleiten. Die Prozesse sprechen Bände über das, was die Volksmeinung von der menschlichen Freiheit hält. Man denkt nie daran, der Individualität irgendeinen Wert zuzuerkennen oder das Recht des Einzelnen, in gewissen Dingen dem eigenen Geschmack zu folgen, irgendwie zu achten; darum begreifen weder Richter noch Geschworene, daß jemand bei gesunden Sinnen solche Freiheit begehren könnte. Als man in früheren Zeiten erwog, ob man die Atheisten verbrennen sollte, schlugen barmher zige Menschen vor, sie lieber in ein Irrenhaus zu sperren. Es würde mich nicht wundern, wenn das auch heute geschähe, und wenn die, die es veranlassen, sich noch rühmten, sie hätten jene Unglücklichen, an statt sie aus religiösen Gründen zu verfolgen, so human und christlich behandelt, nicht ohne eine stille Befriedigung, daß jenen dabei nach Verdienst geschehen sei.

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blicken. Setzen wir zu dieser allgemeinen Tatsache noch voraus, daß eine starke Bewegung zur Reform der Sitten eingesetzt hat, so ist deutlich, welche Folgen zu erwarten sind. In unseren Tagen aber ist eine solche Bewegung tatsächlich eingetreten. Viel ist geschehen, um das Verhalten stärker an Regeln zu binden und Unmäßigkeiten zu entmutigen. Es ist ein Geist der Philanthropie im Schwange, der sich nicht besser betätigen kann, als für die moralische und intellektuelle Hebung der Menschen zu sorgen. Diese Tendenz unserer Zeit bewirkt es, daß die Menschen mehr als in früheren Zeiten dazu neigen, allgemeine Regeln des Verhaltens aufzustellen, und daß sie sich bemühen, jeden Menschen nach diesem Maßstab zu formen. Dieser ausdrücklich oder stillschweigend anerkannte Maßstab aber verlangt, daß man keine starken Leidenschaften haben solle. Das Ideal des Zeitcharakters ist, daß man keinen ausgesprochenen Charakter habe, daß man – ähnlich wie bei den Füßen chinesischer Frauen – alles, was irgendwie an einem Menschen hervorragt und ihn in seiner Statur den Durchschnittsmenschen unähnlich macht, durch Einschnürung verstümmele. Wie es aber zumeist mit Idealen geht, die die eine Hälfte des Wünschenswerten ausschließen, so hat auch der jetzige Standpunkt die Folge, daß selbst von der anderen Hälfte nur armselige Nachahmungen hervorgebracht werden. Das Ergebnis sind nicht große Energien, die durch tatkräftige Vernunft gelenkt werden, auch nicht starke Gefühle, die unter der Herrschaft eines starken Willens stehen; es bilden sich vielmehr nur schwächliche Gefühle und Impulse, die ohne jeden starken Willen und ohne Vernunft in äußerlicher Übereinstimmung mit der erforderlichen Regel gehalten werden können. Charaktere, die schon energisch sind, agieren immer konventioneller. Ihr einziges Ventil fi ndet die Energie heutzutage in England fast ausschließlich im Geschäftsleben. Die Energie, die dort aufgewandt wird, kann

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noch immer für beträchtlich gelten. Was dann übrig bleibt, wird auf irgendein Hobby verwandt. Es mag ein nützliches, selbst ein menschenfreundliches Hobby sein; aber es ist stets nur eine einzige Sache und zumeist eine Kleinigkeit. Die Größe Englands ist jetzt nur eine Gesamtgröße. Unsere Individuen sind klein, und zu Großem sind wir imstande nur, weil wir gewohnt sind, uns zusammenzutun. Damit sind unsere religiösen und moralischen Menschenfreunde vollkommen zufrieden. Aber es waren Menschen von anderem Format, die England zu dem gemacht haben, was es ist, und Menschen von anderem Schlage werden auch nötig sein, um seinen Verfall zu verhindern. Die Tyrannei der Sitte ist überall das stehende Hinder nis des menschlichen Fortschritts, und sie lebt in unauf hörlichem Kampf mit der Neigung, nach etwas Besserem als dem Gewohnheitsmäßigen zu streben – man nenne dieses Prinzip: Geist der Freiheit oder des Fortschritts oder der Reform. Der Geist der Reform ist nicht stets mit Freiheit identisch. Kann es doch geschehen, daß einem Volk Verbesserungen wider seinen Willen aufgezwungen werden. Und sofern der Geist der Freiheit sich solchen Versuchen widersetzt, kann er sich unter Umständen mit den Gegnern der Reform verbinden. Dennoch ist Freiheit die einzige unfehlbare und beständige Quelle der Reform, denn im Sinne der Freiheit gibt es so viele Zentren der Reform, als es Individuen gibt. Das Prinzip des Fortschritts aber widerstrebt in jeder Gestalt, sei es als Liebe zur Freiheit oder zur Reform, dem Zwang der Sitte. Schließt doch Freiheit stets auch Befreiung vom Zwang der Gewohn heit ein; der Kampf zwischen diesen beiden Faktoren stellt das Hauptinteresse in der Geschichte der Menschheit dar. Der größere Teil der Welt hat im eigentlichen Sinne keine Geschichte, denn er steht völlig unter der Tyrannei der Sitte. So ist es im ganzen Osten, da ist Sitte und Gewohnheit in jeder Beziehung das Prinzip, worauf alles abzielt. Recht

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und Gerechtigkeit bedeuten dort nichts anderes als Übereinstimmung mit der Sitte. Niemand als höchstens ein von Macht trunkener Tyrann denkt dort daran, sich der Macht der Gewohnheit zu entziehen. Es ist klar, wohin dieser Zustand führt. Diese Völker müssen einst Originalität besessen haben. Sie stiegen nicht plötzlich zahlreich, gelehrt und in vielen Lebenskünsten erfahren aus dem Boden hervor. Sie schufen vielmehr aus sich heraus das alles, und so entwikkelten sie sich zu den größten und mächtigsten Nationen der Welt – was aber sind sie jetzt? Untertanen oder Vasallen von Stämmen, deren Vor fahren noch in Wäldern lebten, als ihre eigenen Vorfahren prächtige Paläste und stolze Tempel hatten. Aber die Herrschaft über sie mußte sich die Sitte mit der Freiheit und dem Fortschritt teilen. Ein Volk, so scheint es, kann eine gewisse Zeitlang im Fortschritt begriffen sein, dann aber steht es still. Wann tritt das ein? Wenn es auf hört, Individualität zu besitzen. Sollte ein ähnlicher Wechsel die Völker Europas treffen, so würde er sich nicht genauso abspielen. Die Tyrannei der Sitte, von der diese Nationen bedroht sind, bedeutet genaugenommen nicht Stillstand. Sie ächten zwar die Origi nalität, aber sie schließen die Veränderung nicht aus, vorausgesetzt, alle verändern sich gleichmäßig. So haben wir die Trachten unserer Vorfahren abgelegt; aber jeder muß sich wie alle anderen kleiden; immerhin darf die Mode ein- oder zweimal im Jahre wechseln. Wir sind darauf bedacht, daß jeder Wechsel um seiner selbst willen statt fi nde, nicht aus irgendeiner Idee der Schönheit oder der Bequemlichkeit heraus. Denn eine solche Idee würde nicht im selben Moment von der ganzen Welt Besitz ergreifen und würde nicht in einem anderen Augenblick von allen zugleich auch beiseite geschoben werden. Wir lassen also den Fortschritt und Wechsel zu. Wir machen beständig neue Erfi ndungen in mechanischen Dingen und halten diese fest, bis sie wieder durch bessere verdrängt wer-

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den. Wir sind eifrig in Verbesserungen auf dem Gebiet der Politik, der Erziehung, ja sogar der Moral. In diesem Umkreis freilich besteht unsere Reform darin, daß wir andere Menschen zu überzeugen suchen oder sie zwingen, so gut wie wir selbst zu sein. Nicht gegen den Fortschritt also sind wir eingenommen, im Gegenteil, wir schmeicheln uns, das fortschrittlichste Volk, das jemals lebte, zu sein. Aber wir befehden die Individualität; wir würden meinen, Wunder vollbracht zu haben, wenn es uns gelungen wäre, uns alle gleichzumachen. Denn wir vergessen, daß Ungleichheit der Einzelnen geeignet ist, uns zuerst darauf aufmerksam zu machen, daß das eigene Wesen noch unvollkommen und ein anderes ihm überlegen ist, oder auf die Möglichkeit, etwas noch Besseres her vorzubringen, indem man die Vorteile beider Eigenarten kombiniert. Wir haben ein warnendes Beispiel an China – einem Volk von großem Talent, ja in gewisser Hinsicht von großer Weisheit. Die Chinesen danken das dem großen Glück, daß sie schon frühzeitig mit einer Reihe guter Sitten bekanntgeworden sind. Das ist das Verdienst von Männern, denen mit bestimmten Beschränkungen auch der aufgeklärteste Europäer den Namen von Weisen und Philosophen zuerkennen muß. Sie verstehen es meisterhaft, jedem Mitglied ihrer Gemeinschaft die beste Weisheit, die sie selbst besitzen, zu vermitteln, und sie wissen denjenigen, die sich das meiste davon angeeignet haben, die ehrenvollsten und einflußreichsten Stellen zu sichern. Gewiß hat doch ein Volk, das so handelte, das Geheimnis des menschlichen Fortschritts entdeckt, und man sollte meinen, daß sie an der Spitze der Weltbewegung geblieben seien. Aber das Gegenteil ist eingetreten: Sie stehen still, und sie verharren seit Jahrtausenden auf demselben Fleck; wenn sie jemals Reformen erleben sollen, so muß das durch Fremde bewirkt werden. Den Chinesen ist über al les Erwarten gelungen, woran englische Philanthropen so ernsthaft arbeiten:

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sie haben alle Menschen einander gleichgemacht; sie haben bewirkt, daß sie alle ihr Denken und Tun nach denselben Maximen und Regeln lenken – und das sind die Früchte. Bei uns ist die moderne Herr schaft der öffentlichen Meinung in unorganisierter Form dasselbe, was das chinesische System der Erziehung und Politik in organisierter Form ist. Und wenn es der Individualität nicht gelingt, sich erfolgreich gegen das Joch der öffentlichen Meinung aufzulehnen, so wird Europa trotz seiner edlen Vergangenheit und trotz seines christlichen Bekenntnisses schließlich ein zweites China werden. Was hat Europa bisher vor diesem Los behütet? Was hat die europäische Völkerfamilie zu einem fortschreitenden und nicht stillstehenden Teil der Menschheit gemacht? Nicht, daß diese Menschen irgendwelche überlegenen Eigenschaften besäßen, die, wenn es sie gibt, eine Folge, nicht aber eine Ursache sind. Der Grund ihres Fortschreitens ist vielmehr die Verschiedenheit, die sie in Charakter und Kultur aufweisen. Individuen, Klassen, Nationen waren auffallend verschieden voneinander, sie haben die mannigfaltigsten Wege eingeschlagen, von denen jeder zu einem wertvollen Ziel führt. Jederzeit sind zwar diejenigen, die verschiedene Wege einschlugen, unduldsam gegeneinander gewesen, und jeder hat gewünscht, alle übrigen auf den eigenen Weg zwingen zu können. Aber die Versuche, sich gegenseitig in der Entwicklung zu stören, haben kaum einen dauernden Erfolg gehabt, jeder hat mit der Zeit die Wohltaten empfangen, die die anderen ihm darboten. Mir scheint, daß Europa seine fortschrittliche und vielseitige Entwicklung nur der Verschiedenheit jener Wege verdankt. Aber bereits fängt man an, sich über dieses Gut sehr wenig zu freuen. Wir nähern uns entschieden dem chinesischen Ideal der Gleichartigkeit aller Menschen. Monsieur de Tocqueville bemerkt in seinem jüngsten bedeutenden Werk [L’ancien Regime et la Revo-

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lution, 1856], um wieviel mehr die Franzosen unserer Tage einander gleichen, als sie es in der letzten Generation taten. Man kann dasselbe, ja in weit höherem Grade noch, von den Engländern behaupten. In einer schon zitierten Stelle von Wilhelm von Humboldt erwähnt er zwei Dinge als notwendige Voraussetzungen der mensch lichen Entwicklung, die nötig sind, um die Menschen einander ungleich zu machen: nämlich Freiheit und Mannig faltigkeit der Situationen. Die zweite dieser Bedingungen schwindet in England mit jedem Tage immer mehr; denn die Lebensumstände, die verschiedenen Klassen und Individuen zukommen und die ihren Charakter gestalten helfen, werden einander immer ähnlicher. Früher lebten verschiedene Klassen, verschiedene Nachbarschaften, ver schiedene Gewerbe und Berufsarten – fast möchte man sagen – in verschiedenen Welten; heute sind diese Unterschiede fast aufgehoben. Vergleichsweise gesprochen, lesen sie jetzt dasselbe, hören und sehen sie dasselbe; sie besuchen dieselben Plätze, hoffen und fürchten dasselbe, und sie besitzen dieselben Rechte und Freiheiten und verfügen über dieselben Mittel, diese zu realisieren. Sind auch die Unterschiede der Stellung noch groß, so sind sie doch nichts gegen die Unterschiede, die schon überwunden sind. Und die Angleichung ist noch im Fortschreiten begriffen. Alle politischen Umgestaltungen des Zeitalters befördern sie, denn sie gehen alle darauf aus, die Niederen zu erhöhen und die Hohen zu erniedrigen. Jede Ausbreitung der Erziehung mindert die Ungleichheit, denn sie bringt die Menschen unter gemeinsame Einflüsse und macht ihnen gleiche Kenntnisse und Gesinnungen zugänglich. Ebenso wird die Angleichung durch jede Verbesserung der Verkehrsmittel vermehrt, denn sie bringt die Bewohner entfernter Orte in persönliche Berührung, und sie ermöglicht einen regen Austausch zwischen ih nen. Auch die Verbesserung von Handel und Gewerbe wirkt in dieser Richtung, denn dadurch

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breiten sich die Vorteile leichterer Lebensumstände weiter aus, und alle Gegenstände des Ehrgeizes, selbst die höchsten, werden dem allgemeinen Wettbewerb zugänglich gemacht. Der Wunsch, höher zu steigen, bleibt nicht einer Klasse vorbehalten, er wird allgemein. Noch mehr als alle diese Dinge aber befördern andere Momente die Angleichung der Menschen aneinander: nämlich die Tatsache, daß in allen freien Ländern die Macht der öffentlichen Meinung im Staate immer mehr zunimmt. Wo die gesellschaftlichen Vorzugsstellungen, die ihre Inhaber in den Stand versetzen, die öffentliche Meinung zu mißachten, nivelliert werden, wo der bloße Gedanke an Widerstand gegen die öffentliche Meinung aus dem Sinn des praktischen Politi kers schwindet – wo diese Bedingungen erfüllt sind, hört jede gesellschaftliche Stütze der Ungleichheit auf. Denn nur jene einflußreiche Macht in der Gesellschaft, die sich der Macht der größeren Zahl entgegenstellt, hat ein Interesse daran, Meinungen und Tendenzen in ihren Schutz zu nehmen, die von denen der Öffentlichkeit abweichen. Das Zusammenwirken aller dieser Faktoren bildet einen mächtigen, der Individualität feindlichen Einfluß, so daß schwer zu erkennen ist, wie jene sich behaupten soll. Diese Schwierigkeit wird immer stärker auf ihr la sten, wenn der einsichtsvolle Teil der Gesellschaft nicht zu der Erkenntnis gelangt, daß Individualität Wert hat, daß Unterschiede an sich wünschenswert sind, selbst wenn sie für sich keine Verbesserungen darstellen, ja selbst wenn einzelne Erscheinungen, die dabei auftreten, nachteilig sein sollten. Wenn es je an der Zeit war, die Ansprüche der Individualität geltend zu machen, so ist es jetzt der Fall, wo noch immer viel an der erzwungenen Assimilation fehlt. Nur in den Anfangsstadien kann man ja mit Erfolg einer Vergewaltigung entgegentreten. Das Verlangen, daß alle anderen Menschen uns ähnlich sein sollten, wächst, je öfter es wiederholt wird. Wenn der

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Widerstand dagegen auf sich warten läßt, bis das Leben auf einen beinahe gleichförmigen Typus gebracht ist, dann werden alle Abweichungen von ihm als ruchlos, unsittlich, ja selbst als ungeheuerlich und naturwidrig betrachtet werden. Die Menschen werden bald unf ähig, Verschiedenheit zu begreifen, wenn sie eine Zeitlang entwöhnt waren, sie zu sehen.

IV. Über die Begrenzung der Macht der Gesellschaft über den Einzelnen Wo liegt nun die richtig bemessene Grenze für die Herrschaft des Individuums über sich selbst? Wo beginnt die Macht (authority) der Gesellschaft? Welcher Teil unseres Lebens gehört nur uns selbst an? Und welcher der Gesellschaft? Jeder erhält den ihm zukommenden Teil, wenn jeder das hat, was ihn in besonderem Maße betriff t. Dem Ein zelnen gehört der Teil des Lebens, der vor allem die Interessen des Individuums berührt; der Gesellschaft der, der sie in besonderem Maße interessiert. Zwar ist die Gesellschaft nicht durch einen Vertrag gegründet worden, und wir gewinnen nichts, wenn wir einen Vertrag erfi nden, um die sozialen Forderungen aus diesem abzuleiten. Immerhin aber schuldet jeder, der den Schutz der Gesellschaft genießt, ihr eine Gegengabe für jene Wohltat. Die Tatsache, daß wir in einer Gesellschaft leben, verpfl ichtet jeden auf gewisse Verhaltensricht linien. Dieses Verhalten besteht zuerst darin, daß man die Interessen der anderen nicht verletzt, sondern sich gegenseitig [den Schutz] gewisser Interessen verbürgt, die entweder durch besondere gesetzliche Bestimmungen oder durch still schweigende Übereinkunft als Rechte betrachtet werden. Zweitens sollte jeder

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Einzelne seinen nach Billigkeit zu messenden Anteil an den Arbeiten und Opfern tragen, die nötig sind, um die Gesellschaft und ihre Glieder vor Unbill und Angriffen zu schützen. Ja, die Gesellschaft hat das Recht, diejenigen, die sich der Erfüllung dieser Pfl ichten entziehen wollen, zu zwingen. Aber die Rechte der Gesellschaft gehen noch weiter. Die Handlungen eines Menschen können für andere Menschen nachteilig sein, sie können die gebührende Rücksicht auf das Wohl des anderen vermissen lassen, ohne bis zu einer Verletzung ihrer gesetzmäßigen Rechte zu gehen. In diesem Fall kann der Handelnde zwar nicht durch das Gesetz, wohl aber durch die öffentliche Meinung gestraft werden. Sobald die Handlung eines Menschen die Interessen eines anderen nachteilig berührt, f ällt er der Gerichtsbarkeit der Gesellschaft anheim, und es entsteht die Frage, ob das Wohl der Gesamtheit durch dieses Dazwischentreten gefördert wird oder nicht. Dagegen ist diese Frage nicht aufzuwer fen, wenn die Handlung eines Menschen die Interessen anderer nicht berührt oder sie nicht zu berühren braucht, außer mit der Zustimmung der Betroffenen. (Dabei ist allerdings vorausgesetzt, daß diese volljährig seien und wenigstens über den gewöhnlichen Menschenverstand ver fügen.) In allen solchen Fällen sollte vollkommene gesetz liche und soziale Freiheit bestehen, die Handlung zu voll ziehen und ihre Folgen zu tragen. Es hieße, diese Lehre vollkommen mißzuverstehen, wenn man vermutete, sie lehre selbstsüchtige Gleichgültigkeit und sie behaupte, daß die Menschen im Leben nichts miteinander zu tun hätten und daß sie sich um das Wohlverhalten und Wohlsein anderer nur soweit zu kümmern hätten, als ihre eigenen Interessen dabei im Spiel sind. Wir brauchen wahrlich nicht eine Verminderung, sondern eine erhebliche Vermehrung des uneigennützigen Interes ses für das Wohl anderer. Aber uneigennütziges Wohlwol len kann andere

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Mittel fi nden, um die Menschen zu ihrem eigenen Besten zu überreden, als Rute und Geißel im eigentlichen wie im übertragenen Sinne. Ich bin der letzte, der die auf das eigene Ich bezüglichen Tugenden unter schätzt. Sie stehen, wenn überhaupt, höchstens den sozia len Tugenden nach. Die Erziehung hat beide Tugenden in gleicher Weise zu kultivieren. Aber selbst die Erziehung wirkt ebensosehr durch Überredung und Überzeugung wie durch Zwang, und wenn die Zeit der Erziehung vorbei ist, dann sollten die Tugenden gegen das eigene Selbst nur noch durch Überzeugung eingeprägt werden. Die Menschen schulden einander Hilfe, Gutes von Bösem zu unterscheiden, und Ermutigung, das Gute zu wählen und das Böse zu meiden. Sie sollten sich gegenseitig dazu anregen, ihre höheren Fähigkeiten zu entwickeln, ihre Bestrebungen und Gefühle auf weise, anstatt auf törichte, auf erhebende, anstatt auf erniedrigende Gegenstände zu len ken. Aber weder ein Einzelner noch mehrere Personen haben das Recht, einem erwachsenen Menschen zu verbieten, daß er mit seinem Leben anfange, was er selbst für das Beste hält. Jedenfalls hat der Handelnde selbst an sei nem Wohlbefi nden das meiste Interesse. Dasjenige, das ein anderer (außer im Fall starker persönlicher Zuneigung) an ihm haben kann, ist nur gering im Vergleich zu dem, was er selbst an sich nimmt. Das Interesse, das die Gesell schaft an ihm hat, ist (außer wenn es sich um sein Verhalten zur Gemeinschaft handelt) nur fragmentarisch und indirekt, dagegen hat, wenn es sich um die eigenen Gefühle und Lebensumstände handelt, der gewöhnliche Mann oder die einfachste Frau Erkenntnismittel, die diejenigen weit überragen, über die irgendein anderer verfügt. Jede Einmischung der Gesellschaft, durch die sie sich über das Urteil des Einzelnen in Dingen hinweggesetzt, die nur den Einzelnen angehen, muß auf allgemein [anerkannte] Voraussetzungen gegründet sein. Diese können alle miteinander falsch sein; aber selbst,

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wenn sie richtig sind, so werden sie wahrscheinlich falsch angewendet auf individuelle Fälle, angeregt von Menschen, die den Fall lediglich von außen betrachten. Darum hat auf diesem Gebiet der mensch lichen Angelegenheiten die Individualität ihr eigentliches Betätigungsfeld. Im Verhalten der Menschen zueinander müssen allgemeine Regeln beachtet werden, damit jeder wisse, was er zu erwarten hat. Aber bei den eigenen Interessen des Einzelnen darf jeder seine persönliche Freiheit betätigen. Wohl darf man mit Ratschlägen seinem Urteil zu Hilfe kommen, mit Ermahnungen seinen Willen auf muntern, aber die endgültige Entscheidung steht nur bei ihm. Alle Irrtümer, die er vielleicht begeht, wenn er Rat und Warnung ausschlägt, werden weit überwogen von dem Übel, daß andere sich erlaubt haben, ihm das aufzuzwingen, was sie für sein Bestes halten. Ich meine nicht, daß die Gefühle, mit denen jemand von anderen betrachtet wird, völlig unabhängig seien von den positiven oder negativen Eigenschaften seines Wesens; das ist weder möglich noch wünschenswert. Zeich net sich jemand in den Eigenschaften aus, die zu seinem eignen Besten dienlich sind, so ist er in dieser Hinsicht ein Gegenstand der Bewunderung, denn er ist dem Ideal der menschlichen Vollkommenheit nähergekommen. Wenn aber jene Eigenschaften einem Menschen völlig fehlen, so wird er ein der Bewunderung entgegengesetztes Gefühl erregen. Es gibt einen hohen Grad von Narrheit und von dem, was man – obgleich das nicht unangreif bar ist – Niedrigkeit oder Abgeschmacktheit nennt; dieser gibt den Menschen der Mißbilligung oder gar der Verachtung preis, freilich ohne daß man ihm deswegen Schaden zufügen darf. Jemand kann, ohne irgendeinem anderen Un recht zu tun, doch so handeln, daß wir ihn als Narren oder als ein untergeordnetes Wesen beurteilen. Da dieses Urteil und dieses Gefühl etwas sind, das er lieber vermeiden würde, so erweist man ihm einen Dienst, wenn

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man ihn davor warnt wie vor jeder anderen unangenehmen Folge seines Handelns. Es wäre gut, wenn man einander diesen Dienst viel freier und öfter erwiese, als die gewöhnlichen Begriffe der Höfl ichkeit gestatten, und wenn man, ohne selbst für unmanierlich und anmaßend zu gelten, einem anderen ehrlich sagen könnte, daß er einen Fehler zu machen gedenkt. Wir haben auch das Recht, unserer ungünstigen Meinung über irgend jemanden gemäß zu handeln; nicht, indem wir seine Individualität unterdrücken, sondern indem wir der unseren Ausdruck verleihen. So sind wir zum Beispiel nicht verpfl ichtet, seine Gesellschaft zu suchen, sondern wir haben das Recht, sie zu meiden – freilich, ohne uns dessen zu rühmen –, es steht ja jedem Menschen frei, die ihm zusagende Gesellschaft selbst zu wählen. Wir haben das Recht, ja unter Umständen die Pfl icht, die Menschen vor jemandem zu warnen, wenn wir fürchten, daß sein Beispiel oder seine Unterhaltung eine Gefahr für seine Umgebung bedeute. Wir kön nen bei freiwilligen guten Diensten, die wir leisten, andere vor jenem bevorzugen, nur nicht bei solchen, durch die er gebessert werden könnte. So kann jemand auf man nigfache Art für Fehler, die an sich nur ihn angehen, durch andere schwer büßen müssen; aber er leidet diese Strafen nur insofern, als sie die natürlichen und von selbst eintretenden Folgen seiner Fehler sind, nicht weil sie ihm absichtlich als Sühne auferlegt werden. Wer zum Beispiel zu Übereilung, Eigensinn und Dünkel neigt – wer nicht mit mäßigen Mitteln leben kann –, wer sich gef ährlichen Gelüsten gegenüber nicht zu beherrschen vermag –, wer sich sinnlichen Genüssen auf Kosten der Freuden von Geist und Gemüt hingibt, der muß darauf gefaßt sein, im Ansehen der anderen zu sinken und ihre Gunst zu verlieren. Er hat kein Recht, darüber zu klagen – es sei denn, daß er durch besondere soziale Verdienste die Gunst der Menschen erworben habe und dadurch ein Anrecht auf freundliche Gesinnung

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besitze, die durch jene Fehler, die er an sich selbst begeht, nicht getrübt werden kann. Aber ich möchte, daß die Unannehmlichkeiten, die mit dem ungünstigen Urteil der anderen stets verbunden sind, die einzigen bleiben, denen jemand unterworfen werden solle wegen der Seite seines Handelns und seines Charakters, die nur ihn angeht, ohne die Interessen der anderen zu kreuzen. Eine völlig andere Behandlung aber fordern unrechtmäßige Handlungen gegen andere. Eingriffe in ihre Rechte, Unrecht oder Schaden, die er ihnen zufügt und die er nicht mit eigenen Rechten begründen kann, Falschheit oder Doppelzüngigkeit im Verkehr mit anderen, unedle Ausnützung von Vorteilen über sie, vielleicht sogar ein selbstsüchtiges Zurücktreten, wenn es gilt, andere gegen Unrecht zu verteidigen – das alles sind geeig nete Anlässe zu moralischer Mißbilligung, ja in ernsten Fällen zu moralischem Abscheu und zur Bestrafung. Und nicht nur diese Handlungen, auch die Gesinnungen, aus denen sie hervorgehen, sind im eigentlichen Sinne unmoralisch und geeignete Objekte der Mißbilligung, die sich bis zum Abscheu steigern kann. Neigung zu Grausam keit, Bosheit und Schlechtigkeit, sodann die unsozialste und verhaßteste aller Leidenschaften, der Neid; Verstellung und Unaufrichtigkeit, Zorn bei geringfügigem An laß und ein Groll, der zu seiner Ursache in keinem Verhältnis steht – die Sucht, über andere zu herrschen, der Wunsch, mehr Vorteile an sich zu reißen als gebührlich (die Pleonexia der Griechen), der Stolz, der aus der Er niedrigung der anderen Befriedigung zieht, der Egoismus, der das eigene Ich und seine Interessen für wichtiger als irgend etwas anderes hält und im Zweifelsfalle immer zugunsten der eigenen Person entscheidet: Das alles sind moralische Laster, Merkmale eines schlechten und has senswerten Charakters. Dagegen können wir die früher erwähnten Fehler gegen sich selbst nicht eigentlich sitt liche Mängel nennen; sie stellen, bis zu

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welchem Grad sie auch immer gesteigert seien, nicht eigentlich Bosheiten dar. Sie mögen zwar einen hohen Grad von Torheit oder auch von Mangel an persönlicher Würde und an Selbst achtung bezeugen, aber zum Gegenstand sittlicher Mißbilligung werden sie erst, wenn eine Pfl ichtverletzung gegen andere daraus hervorgeht, um derentwillen der einzelne gehalten ist, auf sich selbst zu achten. Was wir Pfl ichten gegen uns selbst nennen, das wird erst zur sozia len Verpfl ichtung, wenn irgendwelche Umstände daraus Pfl ichten gegen andere erschließen lassen. Bedeutet der Ausdruck ›Pfl ichten gegen sich selbst‹ überhaupt mehr als Klugheit, so besagt er: Selbstachtung oder Selbstentwick lung. Und in keiner dieser Beziehungen ist man seinen Mitmenschen verantwortlich, denn an keine von diesen Pfl ichten ist man um ihres Wohles willen gebunden. Der Unterschied zwischen dem Verlust an Achtung, den jemand mit Recht erleiden kann, durch einen Mangel an Klugheit oder an persönlicher Würde, und der Mißbil ligung, die er erfährt wegen eines Verstoßes gegen die Rechte anderer – dieser Unterschied ist nicht willkürlich. Es macht einen großen Unterschied in unseren Gefühlen und in unserem Verhalten gegen jemanden, ob er uns wegen solcher Dinge mißfällt, in denen wir uns ein Recht der Kontrolle zuschreiben, oder in Dingen, wo dieses Recht fehlt. Wenn jemand uns mißfällt, so können wir unsere Abneigung ausdrücken, und wir können uns von einem Menschen, den wir nicht lieben, ebenso fernhalten wie von einer Sache, die uns mißfällt. Aber wir dürfen uns darum nicht berufen fühlen, ihm sein Leben zu vergällen. Wir sollen bedenken, daß er ohnehin die ganze Strafe sei nes Irrtums zu tragen hat oder tragen wird. Wenn er sein Leben durch schlechte Führung verdirbt, sollten wir deshalb nicht versuchen, es ihm noch mehr zu verderben. Wir sollen nicht wünschen, ihn zu bestrafen, sondern sollen uns lieber bemühen, seine Strafe zu erleich-

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tern, indem wir ihm zeigen, wie er die Übel, zu denen sein Betragen führt, vermeidet oder sie heilt. Er mag für uns ein Gegenstand des Mitleids, vielleicht des Mißfallens sein, aber er soll in uns nicht Zorn oder Groll erregen. Wir sollen ihn nicht wie einen Feind der Gesellschaft behandeln; das Schlimm ste, wozu wir ihm gegenüber berechtigt sind, ist, daß wir ihn sich selbst überlassen; falls wir ihm nicht freundlich entgegenkommen und ihm Interesse und Teilnahme zeigen. Völlig anders verhält es sich, wenn jemand die Regeln verletzt hat, die zum Schutze seiner Mitmenschen, Einzel ner oder der Gesamtheit notwendig sind. Denn dann treffen die Übel, die aus seinem Verhalten hervorgehen, nicht ihn selbst, sondern andere. So muß die Gesellschaft, als Behüterin aller ihrer Glieder, Vergeltung an ihm üben. Sie muß ausdrücklich ihm als Buße Leid zufügen, und sie muß dafür sorgen, daß die Strafe ausreichend streng sei. In diesem Fall steht der Mensch als Angeklagter vor unserem Richterstuhl. Wir sind nicht nur berufen, über ihn zu richten, wir haben auch in dieser oder jener Form unseren Richterspruch auszuführen. Im Fall, den wir zuerst erwähnten, ist es dagegen nicht unsere Sache, dem Menschen ein Leid zuzufügen, außer den Unannehmlichkeiten, die ihm daraus entstehen können, daß wir für unsere Person von der selben Freiheit Gebrauch machen, die wir auch ihm zugestehen müssen. Viele werden vielleicht den hier festgestellten Unter schied zwischen dem Teil eines Menschenlebens, der nur ihn selbst betriff t, und dem, der andere angeht, nicht anerkennen. Sie fragen vielleicht: Wie kann irgendetwas, was das Mitglied einer Gesellschaft unternimmt, den anderen Gliedern gleichgültig sein? Niemand ist ja ein völlig isoliertes Wesen; darum kann kein Mensch etwas tun, was ihm selbst ernstlich und dauernd schadet, ohne daß das Unheil bis zu seiner nächsten Umgebung und oft weit über diese hinaus reichte. Wenn zum Beispiel jemand sein Vermögen vergeudet, so schädigt

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er diejenigen, die direkt oder indirekt von ihm abhängen, und er vermindert um einen größeren oder geringeren Betrag das Volksvermögen. Zerstört er seine geistigen oder kör perlichen Kräfte, so schadet er nicht nur denen, deren Schicksal irgendwie von ihm abhängt; er macht sich auch unfähig, die Dienste zu leisten, die er seinen Mitmenschen im allgemeinen schuldet. Vielleicht fällt er selbst denen, die ihm wohlwol len, zur Last. Wenn dergleichen öfter geschähe, so würde das mehr als ein anderes Vergehen das allgemeine Wohlergehen schädigen. Auch könnte man schließlich sagen: Wenn jemand auch durch seine Laster oder Torheiten anderen kein Leid zufügt, so ist er doch durch sein Beispiel schädlich. Darum sollte er schon um derentwillen zur Selbstbeherrschung gezwungen werden, die der Anblick oder die Kenntnis seines Betragens verderben oder mißleiten könnte. Und selbst, so könnte man hinzufügen, wenn man die Folgen des Mißverhaltens auf das lasterhafte oder gedan kenlose Wesen beschränken könnte, darf dann die Gesellschaft die sich selbst überlassen, die offenbar unfähig sind, sich selbst zu beherrschen? Wenn man anerkannter maßen Kindern und unmündigen Personen Schutz gegen sich selbst gewährt, ist dann die Gesellschaft nicht auch dazu verpfl ichtet, wenn Menschen in reifem Alter sich nicht zügeln können? Wenn Spielsucht, Trunksucht, Un mäßigkeit, Trägheit oder Unsauberkeit dem Glück und dem Fortschritt ebenso im Wege sind wie die meisten gesetzlich verbotenen Handlungen, so erhebt sich mit Recht die Frage: Weshalb sollte nicht das Gesetz versuchen, diese Handlungen zu bekämpfen, soweit das praktikabel und sozial verträglich ist? Und sollte nicht die öffentliche Meinung zur Ergänzung der unvermeidlichen Unvoll kommenheiten des Gesetzes eine mächtige Sittenpolizei organisieren und die, die solchen Lastern frönen, streng mit sozialen Strafen belegen? Man kann wohl sagen, daß es

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sich in diesem Fall nicht darum handelt, die Individualität zu beschneiden, auch nicht darum, die Versuche zu neuer und origineller Lebensführung zu stören. Das einzige, was man verhindern kann, sind Dinge, die von Beginn der Welt an immer wieder versucht und verhindert worden sind, Dinge, von denen die Erfahrung erwiesen hat, daß sie niemandes Individualität zuträglich sind. Eine mora lische Wahrheit und Lebensregel kann nur nach einer gewissen Zeit und nach einer Summe von Erfahrungen als gültig erkannt werden. Was gewünscht wird, ist nur, daß man Geschlecht um Geschlecht verhindere, in denselben Abgrund zu stürzen, der schon den Vorgängern unheilvoll geworden ist. Ich gebe vollkommen zu, daß der Schaden, den jemand sich selbst zufügt, auch die treffen kann, die durch Sympathie und durch ihre Interessen mit ihm verbunden sind, ja, daß er in geringerem Grade auch die große Gesell schaft berühren kann. Wenn jemand durch ein derartiges Betragen dahin geführt wird, bestimmte Pfl ichten gegen andere zu verletzen, dann gehört dieser Fall nicht in die Klasse der nur den Betreffenden selbst angehenden Hand lungen und unterliegt der moralischen Mißbilligung in der wahren Bedeutung des Wortes. Wenn zum Beispiel jemand infolge von Unmäßigkeit und Ausschweifungen nicht imstande ist, seine Schulden zu bezahlen, oder wenn er, der die moralische Verpfl ichtung übernommen hat, eine Familie zu ernähren oder Kinder zu erziehen, aus den gleichen Gründen dazu nicht mehr fähig ist, so verdient er Verachtung, ja es gebührt ihm mit Recht Strafe, aber nicht wegen seiner Ausschweifungen, sondern weil er die Pfl ichten gegen seine Familie und seine Gläubiger nicht erfüllen kann. Sein moralisches Verschulden wäre das selbe, wenn er die Mittel, die jenen zukommen, nicht vergeudet, sondern in die klügste Investition gesteckt hätte. George Barnwell ermordete seinen Onkel, um Geld für seine Geliebte zu erlangen, aber er

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wäre ebenso gehängt worden, wenn er es getan hätte, um mit dem Geld ein Geschäft zu beginnen. Ebenso verdient jemand Vorwürfe wegen Lieblosigkeit oder Undankbarkeit, wenn er – was häufig vorkommt – durch seine schlechten Gewohnheiten seiner Familie Kummer bereitet; doch das ist auch angebracht, wenn er Gewohnheiten kultiviert, die an sich zwar nicht lasterhaft sind, aber denjenigen Schmerzen bereiten, mit denen er zusammenlebt oder für die er zu sorgen hat. Wer immer es an der Achtung fehlen läßt, die man den Interessen und Gefühlen anderer schuldet, ohne daß er dazu durch eine heiligere Pfl icht gezwungen oder durch gerechtfertigte Bevorzugung der eigenen Interessen berechtigt wäre, verfällt um dieser Rücksichtslosig keit willen der moralischen Mißbilligung. Aber die Ursache dazu sind nicht die Fehler, die sein Verhalten gegen sich selbst betreffen, wenn in diesen auch die Quelle jener Verfehlungen gegen andere liegt. Ebenso macht sich jemand eines sozialen Vergehens schuldig, wenn er durch eine Handlung, die an sich nur ihn selbst betriff t, sich un f ähig macht, eine bestimmte Pfl icht in der Öffentlichkeit zu erfüllen. Niemand sollte einfach wegen Trunksucht bestraft werden, aber ein Soldat oder ein Polizist sollte bestraft werden, wenn er betrunken zum Dienst kommt. Kurz, wo immer eine Gefahr für andere, für einzelne oder die Gemeinschaft entsteht, da ist der Fall dem Gebiet der Freiheit zu entziehen und der Herrschaft der Moral oder des Gesetzes unterzuordnen. Anders ist es bei zufälligen, oder wie man es nennen kann, mittelbaren Schäden, die jemand der Gesellschaft durch eine Handlung zufügt, die an sich weder eine Pfl icht gegen die Gesellschaft verletzt noch einen Einzel nen schädigt. Die daraus erwachsende Unzuträglichkeit muß die Gemeinschaft auf sich nehmen um des größeren Gutes, der menschlichen Freiheit willen. Wenn erwach sene Menschen bestraft werden sollen, weil sie für sich selbst nicht genügend sorgen, so

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sollte das besser um ihrer selbst willen geschehen, nicht unter dem falschen Vor wand, man wolle verhindern, daß sie der Gesellschaft keine Dienste mehr leisten könnten, die diese ja auch gar nicht verlangt. Aber ich kann nicht in die Ansicht willigen, daß die Gemeinschaft keine anderen Mittel habe, um ihre schwächeren Mitglieder zu vernünftigem Handeln gemäß dem durchschnittlichen Maße zu bringen, sondern daß sie abwarten müsse, bis diese etwas Unvernünftiges getan haben, um dann moralische oder gesetzliche Strafen über sie zu verhängen. Die Gesellschaft hat absolute Macht über ihre Mitglieder während der ersten Zeit ihres Lebens. Sie hatte die ganze Zeit der Kindheit und der Jugend zur Verfügung, in der sie versuchen konnte, sie zu einer vernünftigen Lebensführung zu erziehen. Die gegenwärtige Generation ist Meister über die Heranbildung und über alle Lebensumstände der kommenden Generation. Gewiß, sie kann jene nicht vollkommen weise und gut machen, läßt doch ihre eigene Güte und Weisheit so viel zu wünschen übrig, und ihre größten Anstrengungen haben im einzelnen nicht immer die besten Erfolge. Den noch ist sie vollkommen imstande, die folgende Generation ebensogut, ja ein wenig besser als sich selbst zu erziehen. Läßt die Gemeinschaft eine beträchtliche Anzahl ihrer Glieder wie Kinder aufwachsen, auf die man nicht durch vernünftige Erwägungen und entferntere Motive einwirken kann, so hat die Gesellschaft sich die Folgen dieses Tuns selbst zur Last zu legen; sie ist ja ausgerüstet nicht nur mit allen Mitteln der Erziehung, sondern auch mit dem Übergewicht, das die Autorität einer überkom menen Meinung stets über die hat, die selbst zum Urteilen wenig befähigt sind. Und sie wird unterstützt von den natürlichen Strafen, die unvermeidlich diejenigen treffen, die das Mißfallen oder die Verachtung derer erregen, die sie kennen. So soll die Gesellschaft nicht behaupten, daß sie außer diesen Mitteln noch der Macht bedürfe, Befehle zu geben und

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Gehorsam zu erzwingen in den persönlichen Angelegenheiten der einzelnen; hier sollte, nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Klugheit, die Entscheidung bei denen ruhen, die die Konsequenzen zu tragen haben. Auch gibt es kein geeigneteres Mittel, um die besseren Erziehungsmethoden in Verruf zu bringen, als wenn man die schlechteren anwendet. Wenn bei denen, die man zu Klugheit und Mäßigung erziehen will, etwas von dem Stoff vorhanden ist, aus dem starke und unabhängige Charaktere gemacht werden, so werden sie un fehlbar sich gegen das Joch aufbäumen. Kein solcher Charakter wird je das Gefühl haben, daß andere das gleiche Recht hätten, ihn in seinen eigenen Angelegenheiten zu kontrollieren, wie sie das Recht haben, ihn von der Verletzung ihrer eigenen Interessen abzuhalten. Es wird leicht als Zeichen von Geist und Mut betrachtet, wenn man der angemaßten Autorität ins Gesicht schlägt und mit Absicht das genaue Gegenteil von dem tut, was sie verlangt. So folgte zum Beispiel auf die fanatische sittliche Unduld samkeit der Puritaner eine Zeit der Ausschweifungen unter Karl II. Man hat von der Notwendigkeit gesprochen, die Gesellschaft vor dem bösen Beispiel zu schützen, das das Laster oder die Schwäche anderen gibt. Und es ist wahr, daß böse Beispiele eine ansteckende Wirkung haben können, besonders die Tatsache, daß man anderen Schaden zufügt und selbst ungestraft bleibt. Aber wir wollen jetzt von einer solchen Handlung sprechen, die, obwohl sie anderen keinen Schaden zufügt, doch vermeintlich dem Handelnden selbst sehr schädlich ist. Ich sehe nicht ein, wie jene, die das glauben, nicht überzeugt sind, daß das Beispiel in solchen Fällen im ganzen eher heilsam als schädlich wirkt. Denn mit den üblen Handlungen werden zugleich die peinlichen und erniedrigenden Folgen bekannt, die bei gerechter Beurteilung für jene Handlungen zu erwarten sind. Aber der stärkste Grund gegen Einmi schungen der Öffentlichkeit in rein

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persönliche Handlun gen ist der, daß sie in falscher Weise und am unrechten Ort geschehen. Über Fragen der gesellschaftlichen Moral, also über Pfl ichten gegen andere, wird die öffentliche Meinung, das heißt die der vorherrschenden Mehrheit, zwar oft im Unrecht, doch vielleicht noch öfter im Recht sein. Denn in solchen Fragen haben alle nur nach ihren eigenen Interessen zu urteilen, nach den Auswirkungen, die eine Handlungsweise, wenn sie gestattet wäre, auf sie hätte. Wenn aber die Meinung einer ähnlichen Mehrheit einer Minderheit als Gesetz auferlegt wird und Fragen berührt, die nur den Handelnden selbst angehen, so wird sie ebenso wahrscheinlich das Unrechte wie das Richtige treffen. Denn im besten Fall bedeutet die öffentliche Mei nung das Urteil von einigen Leuten über das, was für andere gut oder böse ist, und sehr oft nicht einmal das, sondern sie setzt sich mit vollkommener Gleichgültigkeit über das hinweg, was denen, die von ihr gerichtet werden, am Herzen liegt, und die Richtenden haben meist nur ihren eigenen Vorteil im Auge. So gibt es viele, die eine Handlung, die ihnen selbst nicht behagt, als Beleidigung und als Mißachtung ihrer Gefühle empfi nden. Sie wirken darin wie der Bigotte, dem man vorwirft, daß er die religiösen Gefühle der anderen nicht schone, und der darauf erwidert, daß die anderen auch seine Gefühle mißachten, indem sie an ihrem schändlichen Kult oder Glauben fest halten. Es gibt ebensowenig einen Ausgleich zwischen den Gefühlen eines Menschen für seine eigene Meinung und den Gefühlen eines anderen, der sich dadurch beleidigt glaubt, wie es einen Ausgleich gibt zwischen dem Wunsch eines Diebes, eine Börse zu stehlen, und dem Wunsch des rechtmäßigen Besitzers, sie zu behalten. Der Geschmack eines Menschen ist aber, ebenso wie seine Meinung oder seine Börse, seine eigene Sache. Leicht kann man sich in der Phantasie eine ideale Öffentlichkeit vorstellen, die in allen ungewissen Dingen die Freiheit der Wahl

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dem Individuum völlig überläßt und nur verlangt, daß man sich solcher Handlungen enthalte, die allgemeine Erfahrung verurteilt. Aber wo ist die Öffentlich keit, die ihrem Richteramt solche Grenzen setzte, oder wann kümmert sich die Öffentlichkeit um solche allgemeinen Erfahrungen? Wenn sie sich in Fragen der persön lichen Lebensführung einmischt, denkt sie selten an etwas anderes als an die Absonderlichkeit, die darin liegt, daß jemand anders handelt oder fühlt als sie selbst. Und dieser kaum verhüllte Maßstab der Beurteilung wird von neun Zehnteln aller Moralisten und spekulativen Denker als das Gebot der Philosophie und Religion ausgegeben. Sie lehren uns, daß die Dinge recht sind, weil sie recht sind, weil wir fühlen, daß es so ist. Sie weisen uns darauf hin, in unserem eigenen Sinn und Herzen nach den Gesetzen zu suchen, die unser Handeln und das aller anderen binden. Was kann die arme Öffentlichkeit anderes tun, als diese Weisungen anzunehmen und ihre eigenen Ansichten über Gut und Böse, wenn sie einigermaßen darin einig ist, aller Welt zur Pfl icht zu machen? Das Übel, auf das wir hier aufmerksam machen, existiert natürlich nicht nur in der Theorie; man erwartet vielleicht, daß ich auf einzelne Fälle hinweise, in denen die öffentliche Meinung dieser Zeit und dieses Landes in unangemessener Weise eigenes Dafürhalten mit dem Cha rakter moralischer Gesetze bekleidete. Ich schreibe jedoch keinen Essay über die Abirrungen des jetzigen moralischen Gefühls; das ist ein zu wichtiges Gebiet, um es so beiläufig und zum Zweck der Erläuterung zu behandeln. Dennoch sind Beispiele nötig, um darzutun, daß das Prinzip, das ich behaupte, von ernster und praktischer Bedeutung ist, und daß ich nicht gesonnen bin, eine Schranke gegen nur eingebildete Übel zu errichten. Man kann aus einer Fülle von Beispielen leicht dartun, daß es die allgemeinste menschliche Neigung ist, die Grenzen dessen, was man moralische Polizei nennen könnte, bis da-

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hin auszudehnen, wo sie die zweifellos legitime Frei heit des Individuums beeinträchtigt. Man denke zunächst an die Antipathien, die Menschen allein nur darum hegen, weil andere, deren religiöse Meinungen von den ihren abweichen, nicht dieselben religiösen Bräuche, insbesondere nicht dieselbe Art religiös begründeter Enthaltsamkeit üben. So trägt, um an ein ziem lich triviales Beispiel zu erinnern, nichts im Glauben oder im Handeln der Christen ihnen mehr den Haß der Mohammedaner ein als die Tatsache, daß die Christen Schweinefleisch essen. Nur gegen wenige Handlungen hegen Europäer und Christen so unverhohlenen Abscheu wie die Muslime gegen diese Art, den Hunger zu stil len. Sie sehen darin erstens einen Verstoß gegen ihre Religion, aber dieser Umstand erklärt noch nicht den Grad und die Art ihres Abscheus; denn Wein ist von ihrer Religion auch verboten; und alle Muslime halten es für Unrecht, aber nicht für abscheulich, Wein zu trinken. Dagegen trägt ihre Abneigung gegen das Fleisch vom ›unreinen Tier‹ einen besonderen Charakter; sie erinnert an eine instinktive Antipathie wie die Idee der Unreinheit, wenn sie vollkommen in das Gefühl übergeht, die sie selbst bei solchen zu erregen pflegt, deren persönliche Gewohnheiten alles andere eher als vollkommene Reinheit bezeugen. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist das ausgeprägte Gefühl für religiöse Unreinheit bei den Hindus. Nehmen wir nun an, daß in einem Volke, das in der Mehrzahl aus Muslimen besteht, diese Majorität darauf bestünde, den Genuß von Schweinefleisch für das ganze Land zu verbieten. Dieser Fall wäre in mohammedanischen Ländern nicht neu.1 Wäre das wirklich eine rechtmäßige Ausübung der moralischen AutoDer Fall der Parsen in Bombay bietet ein merkwürdiges Beispiel da für. Als dieser fleißige und unternehmende Stamm, die Nachkommen der persischen Feueranbeter, vor den Kalifen aus seiner Heimat floh und in Westindien ankam, wurden die Flüchtlinge von Hindu1

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rität der öffentlichen Mei nung, und wenn es dies nicht ist, warum nicht? Der Brauch ist für eine solche Öffentlichkeit wirklich empörend. Sie denkt tatsächlich, daß er von der Gottheit verboten und verabscheut wird. Auch könnte das Verbot nicht als religiöse Verfolgung betrachtet werden. Es mag wohl in seinen Ursprüngen religiös sein, aber es wäre keine Ver folgung um der Religion willen, weil keine Religion verlangt, daß man Schweinefleisch esse. Der einzige stichhaltige Grund für die Verurteilung jenes Verbots wäre der, daß die Öffentlichkeit nicht das Recht hat, sich in den per sönlichen Geschmack und die eigenen Interessen der Individuen zu mischen. Ein Beispiel, das unserer Heimat näherliegt, ist folgendes: Die Mehrheit der Spanier hält es für eine große Sünde, für eine hochgradige Beleidigung des höchsten Wesens, wenn man dieses anders als in der Weise der römi schen Katholiken anbetet; auf spanischem Boden wird kein anderer Gottesdienst vom Gesetz geduldet. Die Völ ker Südeuropas halten einen verheirateten Geistlichen nicht nur für irreligiös, sondern auch für unkeusch, unan ständig, gemein und abscheulich. Was werden Protestanten von diesen vollkommen aufrichtigen Gefühlen halten und von dem Versuch, sie gegen Nichtkatholiken durchzusetzen? Und doch könnte man diese Fälle logischer weise nicht ausschließen, wenn Herr schern duldsam aufgenommen unter der Bedingung, daß sie kein Rindfleisch äßen. Als diese Gegend später unter die Herrschaft mohammedanischer Eroberer fiel, erhielten die Parsen auch von jenen die Erlaubnis, dauernd dazubleiben, aber nur unter der Bedingung, daß sie sich des Schweinefleisches enthielten. Was zuerst Gehorsam gegen Autorität war, wurde schließlich zur zweiten Natur; so enthalten sich die Parsen bis heute der beiden Fleischarten. Obgleich ihre Religion es nicht fordert, ist diese doppelte Enthaltsamkeit mit der Zeit zum Brauch geworden, und im Orient ist Brauch Religion.

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man den Menschen überhaupt das Recht zuerkennt, wegen Angelegenheiten, die nicht die Interessen anderer berühren, in die Freiheit des jeweils anderen einzugreifen. Denn wer kann die Men schen tadeln, wenn sie das zu unterdrücken wünschen, was sie für ein Ärgernis vor Gott und Menschen halten? Man kann keinen zwingenderen Grund fi nden, um das zu unterdrücken, was als persönliche Unsittlichkeit gilt, als daß man die Handlung als Gottlosigkeit verurteilt. Und wenn wir nicht willens sind, uns die Logik der Verfolger zu eigen zu machen und zu sagen: Wir dürfen andere ver folgen, weil wir im Recht sind, aber jene dürfen uns nichts anhaben, weil sie im Unrecht sind – wenn wir das nicht wollen, so müssen wir uns hüten, ein Prinzip anzuneh men, dessen Anwendung auf uns wir als schreiendes Un recht empfi nden würden. Gegen die vorigen Beispiele könnte man (freilich zu Unrecht) erwidern, daß sie Verhältnissen entnommen sind, die bei uns unmöglich sind; wäre es doch höchst unwahrscheinlich, daß die öffentliche Meinung in diesem Land die Enthaltsamkeit von bestimmten Speisen forderte oder daß sie Vorschriften über den Gottesdienst er teilte oder sich darein mischte, ob die Leute nach ihrem Glauben und ihrer Neigung heirateten oder nicht. Das nächste Beispiel wird jedoch einer Einmischung in die Freiheit entnommen sein, deren Gefahr wir noch keineswegs ganz überwunden haben. Überall, wo die Puritaner zur Macht gelangt sind, wie in Neuengland und in Großbritannien zur Zeit der Republik, haben sie sich mit sichtlichem Erfolg bemüht, alle öffentlichen und beinah auch alle privaten Vergnügungen auszurotten, vor allem Musik, Tanz, öffentliche Spiele oder andere Zusammen künfte, die der Zerstreuung dienen, auch das Theater. Es gibt bei uns noch immer große Körperschaften, nach deren moralischen und religiösen Begriffen derartige Zer streuungen verwerfl ich sind. Diese Menschen gehören

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zu meist der Mittelklasse an, die bei der heutigen sozialen und politischen Lage des Königreiches im Aufschwung begriffen ist. So ist es keineswegs unmöglich, daß diese Leute eines Tages die Mehrheit im Parlament erhalten. Wie aber würde der übrige Teil des Volkes es aufnehmen, wenn die Erlaubnis zu Vergnügungen ihnen nach den religiösen und moralischen Begriffen der strengen Kalvini sten und Methodisten zugeteilt würde? Würden sie nicht mit erheblichem Nachdruck verlangen, daß diese lästigen Frommen der Gesellschaft sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten? Das läßt sich gegen jede Regierung und jede Gemeinschaft sagen, die sich herausnimmt, zu bestimmen, daß niemand eine Freude oder ein Vergnügen haben solle, das sie für unrecht hält. Gibt man eine solche Anmaßung auch nur im Prinzip einmal zu, so kann niemand etwas darin fi nden, wenn sie im Sinne der Mehrheit oder einer anderen im Lande vorherrschenden Macht wirkt. Und alle Leute müssen bereit sein, eines Tages in einem christlichen Gemeinwesen, wie es die ersten An siedler in Neuengland verstanden, zu leben, wenn es einem ähnlichen Glaubensbekenntnis jemals gelingen sollte, den verlorenen Boden wiederzugewinnen; das aber ist bei Religionen, die man im Niedergang begriffen glaubt, oft der Fall gewesen. Denken wir uns noch einen anderen Fall, der vielleicht noch leichter verwirklicht werden kann als der zuletzt er wähnte. Zugegebenerweise besteht in der modernen Gesellschaft eine starke Tendenz zur demokratischen Ver fassung mit oder ohne populären politischen Institutionen. Man sagt, daß in dem Land, wo diese Tendenz sich am vollkommensten verwirklicht hat, wo die Gesellschaft am meisten demokratisch ist – in den Vereinigten Staaten –, sich die Empfi ndungen der Mehrheit wie ein wirksames Gesetz gegen den Aufwand äußern. Der Mehrheit ist jedes Anzeichen einer glänzenderen und kostspieligeren Lebensweise, als sie

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je hoffen kann, selbst zu führen, unangenehm. In manchen Teilen der Staaten ist es für jemanden, der ein höheres Einkommen hat, schwer, es auf eine Weise auszugeben, die von der Mehrheit nicht mißbilligt wird. Obgleich solche Angaben zweifellos die wirklichen Verhältnisse übertreiben, so ist der von ihnen geschilderte Zustand nicht nur denkbar und möglich, sondern sogar ein wahrscheinliches Ergebnis des demokratischen Empfi ndens, wenn dieses sich mit der Vorstellung verbindet, daß der Öffentlichkeit ein Veto zustünde über die Art, wie die einzelnen ihr Einkommen verwenden. Es bedarf nur noch der weiteren Voraussetzung, daß die sozialisti schen Anschauungen stark an Boden gewinnen, so wird es bald in den Augen der Mehrheit für ehrlos gelten, mehr als ein sehr geringes Vermögen oder ein nicht durch Hand arbeit erworbenes Einkommen zu besitzen. Ähnliche Anschauungen beherrschen schon heute die Arbeiterklasse und lasten schwer auf denen, die von den Anschauungen dieser Klasse abhängig sind, nämlich ihre eigenen Glieder. Bekanntlich sind die unfähigen Arbeiter, die in vielen Zweigen der Industrie die Mehrheit bilden, der Ansicht, daß die schlechten Arbeiter denselben Lohn bekommen müßten wie die guten und daß niemand das Recht hätte, auf dem Wege der Stückarbeit oder auf andere Art durch größere Geschicklichkeit oder Fleiß mehr zu verdienen als der andere ohne diesen Fleiß. Und sie üben einen moralischen, oft sogar einen physischen Druck aus, um qualifi ziertere Arbeiter und die Unterneh mer daran zu hindern, daß einem größeren Dienst ein besserer Lohn zugesprochen werde. Wenn man prinzipiell der Öffentlichkeit ein Richteramt über private Angelegen heiten zugesteht, so sehe ich nicht ein, wieso diese Menschen unrecht haben sollten oder wieso irgendeine kleine Gruppe nicht das Recht haben sollte, über das Tun und Lassen ihrer Glieder ebenso zu richten, wie das große Publikum über die Menschen im allgemeinen richtet.

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Aber wir brauchen nicht auf fi ktive Fälle einzugehen; gibt es doch in unseren Tagen genug tatsächliche schwere Eingriffe in die Freiheit des Privatlebens, und noch größere werden uns mit Aussicht auf Erfolg angedroht, ja es werden beständig Meinungen laut, daß die Gesamtheit ein unumschränktes Recht habe, nicht nur durch Gesetz alles zu verbieten, was sie für unrecht hält, sondern auch das zu verhindern, was in der Richtung dessen liegt, was sie für unrecht hält, obwohl sie überzeugt ist, daß es an sich unschuldig ist. Unter dem Namen Verhinderung von Unmäßigkeit ist es den Bewohnern einer englischen Kolonie [Maine], ja fast der Hälfte der Vereinigten Staaten, gesetzlich verboten, geistige Getränke anders als zu medizinischen Zwecken zu gebrauchen. Denn tatsächlich ist das Verbot des Verkaufs auch ein Verbot des Gebrauchs. Obwohl die Schwierig keit, das Gesetz durchzuführen, in verschiedenen Staaten zu einer Auf hebung führte, so auch in dem, von dem das Gesetz seinen Namen hat, so ist dennoch ein Versuch gemacht worden, für ein ähnliches Gesetz auch in England zu kämpfen. Viele der berühmten Menschenfreunde haben sich mit Erfolg dafür eingesetzt. Die zu diesem Zweck geschlossene Vereinigung oder ›Allianz‹, wie sie sich nennt, erregte die Aufmerksamkeit, indem sie einen Brief wechsel veröffentlichte, der zwischen ihrem Sekretär und einem der wenigen englischen Politiker stattfand, die der Ansicht sind, daß die Meinungen eines Politikers auf Prin zipien gegründet sein müssen. Lord Stanleys Anteil an dieser Korrespondenz stärkt die Hoff nungen, die diejenigen auf ihn gesetzt haben, die wissen, wie selten bei Staatsmännern leider die Eigenschaften sind, die sie in ihrem öffentlichen Auftreten bekunden. Das Organ der Allianz würde ›die Anerkennung irgendeines Prinzips tief bekla gen, das dazu angetan wäre, Bigotterie und Verfolgungs sucht zu rechtfertigen‹; es unternimmt es daher, ›die breite und unübersteigbare Barriere‹ zu bezeich-

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nen, die solche Grundsätze von denen der Vereinigung tren nen. ›Alle Gegenstände, die Gedanken, Meinungen, Gewissen betreffen, scheinen mir‹, schreibt er, ›außerhalb der Gesetzgebung zu liegen. Dagegen sind alle Dinge, die sich auf soziale Handlungen, Gewohnheiten und Verhältnisse beziehen, der unbeschränkten Macht des Staates und nicht dem Individuum überlassen.‹ Nicht erwähnt wird bei dieser Einteilung eine dritte Klasse von Handlungen, die sich von beiden unterscheidet, nämlich Handlungen und Gewohnheiten, die nicht sozial, sondern individuell sind. In diese Klasse würde der Genuß geistiger Getränke gehören. Der Verkauf geistiger Getränke dagegen fällt unter den Begriff Handel, und Handel ist ein sozialer Akt. Aber der beklagte Zwang betriff t nicht die Freiheit des Verkäufers, sondern die des Käufers und Verbrauchers. Denn der Staat könnte seinen Bürgern ebensogut verbieten, Wein zu trinken, wenn er es ihnen absichtlich unmög lich macht, ihn zu kaufen. Aber der Sekretär sagt: ›Ich nehme als Bürger das Recht der Gesetzgebung in An spruch, wann immer meine sozialen Rechte durch eines anderen soziale Handlungen beeinträchtigt werden.‹ Und dann zur Defi nition dieser sozialen Rechte: ›Wenn irgendetwas meine sozialen Rechte beeinträchtigt, so ist es sicher der Handel mit starken geistigen Getränken. Denn dieser stört mein primäres Recht auf Sicherheit, indem er beständig soziale Unruhe schaff t und fördert. Er greift in mein Recht auf Gleichheit ein, denn er zieht Gewinn aus der Erhaltung eines Elends, zu dessen Unterstützung ich Steuern zahlen muß. Er behindert mein Recht auf freie moralische und intellektuelle Entwicklung, indem er mei nen Pfad mit Gefahren umgibt und indem er die Gesell schaft schwächt und demoralisiert, von der ich rechtens gegenseitige Hilfe und geselligen Verkehr fordern kann.‹ Eine ähnliche Theorie ›sozialer Rechte‹ ist bisher wohl noch nie zum Ausdruck gekommen. Sie verlangt, kurz gesagt, nichts anderes, als daß

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jeder einzelne das Recht habe, zu fordern, daß jedes andere Individuum in jeder Beziehung genauso handeln müsse, wie er selbst handeln sollte. Derjenige aber, der im geringsten darin fehlt, verletzt meine sozialen Rechte und setzt mich instand, von der Gesetzgebung die Beseitigung dieses Anstoßes zu verlangen. Ein so ungeheuerliches Prinzip ist viel gefährlicher als jeder einzelne Angriff auf die Freiheit. Es gibt keine Freiheitsverletzung, die durch jenes Prinzip nicht gerechtfertigt wäre. Es erkennt überhaupt kein Recht auf irgendeine Freiheit an, außer vielleicht derjenigen, daß man im Stillen eine Meinung hegen dürfe, ohne ihr Ausdruck zu geben. Denn in dem Augenblick, wo jemand eine von mir für schädlich gehaltene Meinung aus dem Gehege seiner Zähne herausläßt, verletzt er die ›sozialen Rechte‹, die mir von der Allianz zugesprochen werden. Die Lehre schreibt jedem ein verbrieftes Interesse an der moralischen, intellektuellen, ja selbst physischen Voll kommenheit jedes anderen zu, das jeder nach seinem eigenen Dafürhalten auslegen kann. Ein anderes herausragendes Beispiel von ungesetzmäßigem Eingreifen in die rechtmäßige individuelle Freiheit, das uns nicht nur droht, sondern schon lange siegreiche Wirk lichkeit wurde, ist die Gesetzgebung zur Heiligung des Sonntags. Sicherlich ist es eine höchst wohltuende Gewohnheit, daß man sich an einem Tage der Woche der gewöhnlichen täglichen Arbeit enthält, soweit die Bedürf nisse des Lebens es gestatten, obwohl es – außer bei den Juden – für niemanden eine religiöse Pfl icht ist. Da aber diese Gewohnheit nicht eingehalten werden kann, ohne ein allgemeines Übereinkommen der arbeitenden Klasse – denn wenn einige arbeiten, mögen sie auch anderen die selbe Notwendigkeit auferlegen –, so mag es erlaubt, ja richtig sein, wenn das Gesetz das Einhalten der Sitte auch durch andere garantiert, und das kann nur geschehen, wenn das Gesetz größere Arbeiten in der Industrie an einem bestimmten Tag verbietet. Doch diese Rechtferti-

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gung, die sich darauf gründet, daß alle ein Interesse an der Einhaltung des Brauchs durch jedermann haben, er streckt sich nicht auf die selbst gewählte Betätigung, die der einzelne für eine geeignete Ausfüllung seiner Muße hält. Auch gilt sie nicht im geringsten für die gesetzliche Beschränkung des Vergnügens. Gewiß wird das Vergnügen des einen durch die Tagesarbeit des anderen erkauft, aber das Vergnügen und erst recht die nützliche Erholung vieler ist die Arbeit einiger anderer wert, vorausgesetzt, daß diese die Arbeit freiwillig auf sich nehmen und sie auch freiwillig wieder niederlegen dürfen. Die Arbeiter denken mit Recht, daß, wenn alle sonntags arbeiteten, sie sieben Tage für einen Sechstagelohn arbeiten müßten. Aber solange die meisten Arbeiten sonntags verboten sind, erhalten die wenigen, die für das Vergnügen der anderen den noch tätig sind, einen verhältnismäßig hohen Lohn. Sie werden aber auch nicht dazu gezwungen, falls sie ihre Muße diesem Einkommen vorziehen. Wäre noch eine andere Abhilfe nötig, so könnte diese in der Einrichtung gefunden werden, für diese Sonntagsarbeiter einen anderen Tag der Woche als Feiertag einzurichten. So bliebe als ein ziger Grund, aus dem heraus man Vergnügungen am Sonntag verbieten könnte, der, daß diese ein religiöses Unrecht bedeuten – das ist jedoch ein Motiv der Gesetzgebung, gegen das man nicht ernstlich genug protestieren kann. Man gedenke des Spruches: Deorum iniuriae diis curae (Beleidigungen der Götter sind Sache der Götter). Es müßte erst bewiesen werden, daß die Gesell schaft oder eines ihrer Organe einen himmlischen Auftrag erhalten habe, eine angeblich der Gottheit zugefügte Kränkung zu rächen, wenn diese nicht zugleich ein Un recht an den Mitmenschen bedeutet. Die Vorstellung, daß jeder für die Religiosität des anderen zu sorgen habe, war der Grund aller religiösen Verfolgungen und würde diese in der Tat völlig rechtfertigen. Gewiß ist das Gefühl, das sich in jenen wiederholten Versuchen be-

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kundet, die Eisenbahnen sonntags nicht gehen zu lassen, die Museen nicht zu öff nen und dergleichen, nicht so grausam wie das, was in den früheren Religionsverfolgungen zum Ausdruck kam; aber der Geisteszustand, der sich in beiden bekundet, ist im Grunde derselbe. Es ist das Bestreben, nicht zu dulden, daß andere tun, was ihnen ihre Religion erlaubt, weil dieses die Religion des Verfolgers nicht gestattet. Es ist in beiden Fällen der Glaube, daß Gott nicht nur die Handlungen der Andersgläubigen verabscheut, sondern es uns als Schuld anrechnet, wenn wir jene unbehelligt lassen. Ich muß diesen Beispielen der geringen Wertschätzung, die man gemeinhin der menschlichen Freiheit zollt, auch noch die Sprache der regelrechten Verfolgung beifügen, die jedesmal aus der Presse unseres Landes tönt, wenn sie sich bemüßigt fühlt, von dem bemerkenswerten Phänomen des Mormonentums Notiz zu nehmen. Vieles wäre zu sagen über die unerwartete und lehrreiche Tatsache, daß eine angeblich neue Offenbarung und eine darauf gegründete Religion – das Produkt eines offenbaren Betruges und nicht einmal getragen vom Prestige außerordent licher Eigenschaften des Stifters – von Hunderttausenden geglaubt und im Zeitalter der Presse, der Eisenbahn und des Telegraphen zur Grundlage einer Gesellschaft gemacht wird. Was uns hier beschäftigt, ist die Tatsache, daß diese Religion, wie andere und bessere, ihre Märtyrer hat, daß ihr Prophet und Gründer wegen seiner Lehre von einem Pöbelhaufen getötet wurde, daß andere seiner An hänger ihr Leben durch dieselbe gesetzlose Gewalttätig keit verloren, daß sie insgesamt gewaltsam aus dem Lande vertrieben wurden, in dem sie aufgewachsen waren, und daß jetzt, nachdem sie in eine einsame Wildnis mitten in der Wüste gejagt wurden, manche in diesem Lande öffent lich erklären, es wäre rechtens (bloß eben nicht angängig), eine Expedition gegen sie auszurüsten und sie mit Gewalt zu zwingen, die Anschauungen anderer Leute

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anzuneh men. Der Punkt des mormonischen Glaubens, der vor al lem die Antipathie erregt und die übliche, von religiöser Toleranz auferlegte Zurückhaltung stark durchbricht, ist die Tatsache, daß die Mormonen die Polygamie sanktionieren. Diese gestattet man zwar den Mohammedanern, Hindus und Chinesen, aber sie scheint eine unüberwind liche Abneigung zu erregen, wenn sie von Menschen ausgeübt wird, die Englisch sprechen und die eine Art Christentum bekennen. Niemand hat eine tiefere Abneigung als ich gegen diese Institution der Mormonen, aus ver schiedenen Gründen, vor allem weil sie nicht vom Prinzip der Freiheit gestützt wird, sondern im Gegenteil einen entschiedenen Bruch mit diesem bedeutet, da sie es mit sich bringt, daß die Fesseln für die eine Hälfte der mensch lichen Gesellschaft nur noch schwerer werden, während die andere Hälfte von jeder Verpfl ichtung frei ist. Immerhin muß man bedenken, daß dieses Verhältnis von seiten der Frau, von der man denken könnte, daß sie darunter litte, ebenso freiwillig eingegangen wird, wie es bei jeder Form der Ehe der Fall ist. So überraschend die Tatsache ist, sie fi ndet ihre Erklärung in den üblichen, in der Welt herrschenden Ideen und Sitten, die den Frauen beibringen, Heiraten sei das einzige, was not täte, und sie machen es glaubhaft, daß manche Frau es vorzieht, eine von meh reren Gattinnen als überhaupt keine Gattin zu sein. Von anderen Ländern verlangen die Mormonen nicht, daß sie solche Verbindungen anerkennen oder daß sie einen Teil ihrer Bewohner zugunsten der mormonitischen Anschauungen von ihren eigenen Gesetzen entbinden. Aber wenn die Mormonen mehr, als man verlangen kann, den Gefühlen der Gegner entgegenkommen, wenn sie die Länder verlassen haben, denen jene Lehren unannehmbar dünken, wenn sie sich in einem entfernten Erdwinkel niedergelassen haben, den sie erst für menschliche Wesen bewohnbar machten, dann ist schwer einzusehen, mit welchen anderen nichttyrannischen

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Mitteln man jene hindern könnte, daselbst unter Gesetzen zu leben, die ihnen gefal len, vorausgesetzt, daß sie keinen Angriff auf andere Nationen unternehmen und daß sie denen, die mit ihrer Lebensweise nicht einverstanden sind, freien Abzug gestat ten. Ein neuerer Schriftsteller, der in gewisser Hinsicht von beträchtlichem Verdienst ist, schlägt, wie er sich ausdrückt, nicht einen Kreuzzug, sondern einen Zivilisationszug gegen das polygame Gemeinwesen vor, damit dem ein Ende bereitet werde, was er für einen Rückgang der Zivilisation hält. Auch mir erscheint es als ein solcher, aber ich sehe nicht ein, daß eine Gemeinschaft das Recht habe, eine andere zur Zivilisation zu zwingen. Solange diejenigen, die durch ein schlechtes Gesetz leiden, nicht die Hilfe anderer Gemeinschaften anrufen, kann ich nicht zulassen, daß man Leuten, die gar keine Beziehung zu jenen haben, das Recht gebe, einzuschreiten und zu fordern, daß eine Sachlage, mit der alle Beteiligten zufrieden sind, geändert werden müsse, weil sie Leuten, die einige tausend Meilen entfernt wohnen und die es gar nichts angeht, als Skandal erscheint. Diese können ja, wenn sie wollen, Missionare hinsenden, um gegen jenen Übelstand zu predigen. Auch können sie mit allen fairen Mitteln (wozu das Redeverbot für Lehrende aber nicht gehört) sich gegen die Verbreitung ähnlicher Lehren im eigenen Volk wehren. Wenn es der Zivilisation gelungen ist, die Barbarei zu besiegen, als diese noch die Welt beherrschte, so brauchen wir nicht zu fürchten, daß diese, nachdem sie einmal so gründlich besiegt ist, wieder aufleben und die Zivilisation besiegen würde. Eine Zivilisation, die ihrem einmal besiegten Feinde wieder zum Opfer fallen könnte, müßte so degeneriert sein, daß weder ihre bestallten Priester und Lehrer noch sonst jemand imstande wäre oder sich die Mühe nähme, für sie einzutreten. Wenn dies der Fall ist, dann möge eine solche Zivilisation, je eher je besser, dahinsterben. Sie kann nur immer mehr sinken, bis sie, wie

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das Weströmische Reich, von energischen Barba ren zerstört und wieder neu geschaffen wird.

V. Folgerungen Die Grundsätze, die auf diesen Seiten dargelegt wurden, müssen noch breitere Anerkennung als Grundlage für die Diskussion sozialer Probleme fi nden, ehe eine konsequente Anwendung auf alle die verschiedenen Gebiete des Staates und der Moral mit Aussicht auf Erfolg versucht werden kann. Die wenigen Bemerkungen, die ich über Einzelfragen zu machen gedenke, haben eher den Zweck, diese Grundsätze zu erläutern, als sie bis in ihre Konsequenzen zu verfolgen. Was ich biete, sind nicht eigentlich Nutzanwendungen, sondern Proben davon; sie sollen dazu dienen, die Bedeutung und die Grenzen der beiden Maximen, die die ganze Lehre dieser Abhandlung bilden, in ein klareres Licht zu stellen, und sie mögen das Urteil unterstützen, damit man zwischen ihnen abwägen kann, wenn es fraglich ist, welche von beiden auf einen Fall an zuwenden ist. Die Maximen lauten: Erstens ist das Individuum der Gesellschaft für seine Handlungen nicht verantwortlich, sofern diese Handlungen die Interessen anderer Men schen nicht berühren. Rat, Unterweisung, Überzeugung, Vermeidung des Verkehrs mit ihm, falls andere dies in ihrem Interesse für nötig halten, sind die einzigen Maßnahmen, durch die die Gesellschaft gerechterweise ihre Abneigung oder ihr Mißfallen an seinem Verhalten ausdrücken darf. Zweitens ist der Einzelne für Handlungen, die die Interessen anderer beeinträchtigen, verantwortlich und kann gesetzlicher oder gesellschaftlicher Strafe unter worfen werden, wenn die Gesellschaft fi ndet, daß das eine oder andere zu ihrem Schutze notwendig ist.

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Dennoch darf man zunächst durchaus nicht voraussetzen, daß die Schädigung oder die wahrscheinliche Schädigung fremder Interessen, weil sie allein das Eingreifen der Gesellschaft rechtfertigt, auch ein solches Einschreiten tatsächlich immer zulässig macht. In manchen Fällen ver ursacht der Einzelne, wenn er einen berechtigten Zweck verfolgt – notwendiger- und darum auch berechtigter weise – anderen Schmerz oder Verlust, oder er hindert sie daran, ein Gut zu erlangen, auf das sie berechtigte Hoff nung gesetzt hatten. Solch ein Gegensatz der Interessen zwischen Individuen folgt oft aus schlechten sozialen Einrichtungen, aber er ist unvermeidlich, solange diese Einrichtungen dauern; manche wären unter allen Bedingungen unvermeidlich. Jeder, der in einem Beruf, in dem die Konkurrenz stark ist, oder bei einer Prüfung von meh reren Bewerbern Erfolg hat, wer immer einem anderen in einem Wettstreit um ein Ziel, nach dem sie beide streben, vorgezogen wird, gewinnt einen Vorteil durch den Verlust des anderen, durch sein vergebliches Mühen und seine Enttäuschung. Aber man ist darin einig, daß es für das allgemeine Interesse der Menschheit besser sei, wenn die Menschen sich von der Verfolgung ihrer Zwecke durch diese möglichen Konsequenzen nicht abschrecken lassen. Mit anderen Worten: die Gesellschaft gesteht solchen ent täuschten Bewerbern weder ein gesetzliches noch ein moralisches Recht zu, von dieser Art von Leid verschont zu bleiben; sie fühlt sich nur dann berufen, einzuschreiten, wenn der Erfolg durch Mittel bewerkstelligt wurde, die man im allgemeinen Interesse nicht erlauben darf; näm lich durch Betrug, Hinterlist oder Gewalt. Ferner: Der Handel ist ein gesellschaftlicher Akt. Wer es immer unternimmt, den Leuten irgendeine Art von Waren zu verkaufen, tut etwas, was die Interessen der anderen und ebenso die Interessen der Gesellschaft im allgemei nen berührt. So fällt sein Verhalten im Prinzip unter die Gerichts-

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barkeit der Gesellschaft, zum Beispiel hielt man es früher für die Pfl icht der Regierung, in allen Fällen, die man für wichtig befand, Richtpreise festzusetzen und den Prozeß der Herstellung der Waren zu regeln. Jetzt aber hat man, freilich nach langem Kampf, eingesehen, daß man für die Wohlfeilheit und die gute Qualität der Ware am besten sorgt, wenn man den Produzenten und Verkäufern völlig freie Hand läßt unter der einzigen Bedingung, daß man den Käufern die gleiche Freiheit läßt, sich anderswo einzudecken. Dies ist die Lehre vom ›Freihandel‹, sie ruht auf Grundsätzen, die zwar andere sind als das Prinzip der persönlichen Freiheit, das in dieser Abhand lung vertreten wird, mit ihm aber zusammenstimmen. Beschränkungen des Handels oder der Produktion zum Zweck des Handels sind in der Tat Einschränkungen und jede Einschränkung ist als solche ein Übel. Aber die Einschränkung, um die es sich hier handelt, berührt nur den Teil des menschlichen Verhaltens, den die Gesellschaft einschränken darf, und sie ist nur darum falsch, weil sie tatsächlich nicht erreicht, was sie erreichen soll. Wie das Prinzip der persönlichen Freiheit in der Freihandelslehre nicht enthalten ist, so hat es mit den meisten Fragen nichts zu tun, bei denen es um die Grenzen jenes Prinzips geht, so zum Beispiel mit der Frage, wieviel öffentliche Kontrolle zulässig ist, um dem Betrug durch Warenverfälschung vorzubeugen; oder inwieweit der Arbeitgeber gezwungen werden sollte, sanitäre Maßnahmen oder Vorkehrungen zum Schutze der Arbeiter bei gefährlichen Arbeiten zu treffen. Solche Fragen berühren das Prinzip der Freiheit nur insofern, als es caeteris paribus (wenn alles andere gleich ist) immer besser ist, die Leute sich selbst zu überlassen, als sie zu kontrol lieren. Unleugbar richtig aber ist, daß eine Kontrolle zu den angegebenen Zwecken berechtigt ist. Andererseits gibt es bei der Einmischung in den Handel Fragen, die ganz wesentlich das Freiheitsproblem berühren, so zum Beispiel das bereits berührte Maine

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Law, das Verbot der Opiumeinfuhr in China, die Beschränkung des Verkaufs von Giften, kurz alle Fälle, wo die Einmischung es erschweren oder verhindern soll, eine bestimmte Ware zu erhalten. Derartige Verbote sind angreif bar: nicht, weil sie die Freiheit des Verkäufers oder des Produzenten beschränken, sondern weil sie auch die Freiheit des Käufers in Frage stellen. Eins von diesen Beispielen, nämlich der Verkauf von Giften, eröff net eine neue Frage: Welche Grenzen sind der Tätigkeit der Polizei zu setzen? Wie weit darf die Freiheit beschränkt werden, wenn es gilt, Verbrechen oder Unglücksf älle zu verhüten? Es ist ebenso eine der unzwei felhaften Funktionen des Staates, Vorkehrungen gegen Verbrechen zu treffen, bevor sie begangen wurden, wie sie da nach aufzuklären und zu bestrafen. Die Präventivfunktion des Staates ist jedoch viel mehr in Gefahr, zum Nachteil der Freiheit mißbraucht zu werden, als seine Straff unktion. Denn es gibt kaum ein Gebiet der Handlungsfreiheit eines Menschen, das man nicht gut so hinstellen könnte, als ob es das eine oder das andere Vergehen erleichtere. Wenn aber eine öffentliche Behörde oder eine Privatperson sieht, daß jemand offenbar ein Verbrechen vorbereitet, so sind sie nicht verpfl ichtet, untätig zuzuschauen, bis das Verbrechen wirklich begangen ist, sondern sie mögen sich ins Mittel legen, um es zu verhindern. Wenn Gifte nie zu etwas anderem gebraucht würden, als um Giftmorde zu begehen, so wäre es richtig, die Herstel lung und den Verkauf zu verhindern. Sie können aber auch nicht nur für unschuldige, sondern selbst für nütz liche Zwecke verwendet werden, und Beschränkungen können nicht in dem einen Fall auferlegt werden, ohne auch im anderen zu gelten. Die Staatsmacht aber hat die Aufgabe, Unglücksfälle zu verhüten. Wenn zum Beispiel ein Beamter oder eine andere Person sähe, daß jemand im Begriff stände, eine Brücke zu überschreiten, der der Ein sturz droht, und

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es wäre keine Zeit mehr, ihn zu warnen, so können sie ihn ohne Verletzung seiner Freiheit ergrei fen und zurückziehen. Denn Freiheit besteht darin, daß jemand tun darf, was er will, dieser aber wünscht nicht, ins Wasser zu fallen. Wenn jedoch keine Gewißheit, sondern nur die Gefahr eines Unglücks vorliegt, so kann kein anderer als der Betreffende selbst darüber urteilen, ob der Anlaß dringend genug ist, um die Gefahr zu riskieren, und wenn der Betreffende nicht ein Kind oder unzurechnungsfähig oder so erregt oder zerstreut ist, daß er seiner Denkkraft nicht völlig Herr ist, so sollte man ihn nach meiner Mei nung nur vor der Gefahr warnen und ihn nicht mit Gewalt davon abhalten, sich ihr auszusetzen. Ähnliche Überlegungen, auf den Verkauf von Giften angewandt, können uns in die Lage versetzen, zu entscheiden, welche Art der Regelung mit unserem Prinzip zusammenstimmt. Die Vorschrift zum Beispiel, daß das Gift mit einer Auf schrift zu versehen sei, die seinen gefährlichen Charakter deutlich bezeichnet, kann ohne jede Verletzung der Frei heit erlassen werden. Kann doch der Käufer nicht wünschen, in Unkenntnis darüber zu sein, daß die Substanz, die er gekauft hat, giftig ist. Aber in allen Fällen ein ärztliches Rezept zu verlangen, würde es zuweilen unmög lich, stets aber kostspielig machen, den Artikel zu recht mäßigem Gebrauch zu erhalten. Die einzige Art, wie man Verbrechen durch Gifte erschwert, ohne die Freiheit derer wesentlich zu beschränken, die giftige Substanzen für andere Zwecke zu haben wünschen, besteht darin, daß man für das sorgt, was Bentham treffend ›vorherbestimmte Beweismittel‹ nennt. Diese Vorsorge ist bei Verträgen jedem bekannt. Es ist üblich und recht, daß das Gesetz, wenn ein Vertrag geschlossen wird, als Bedingung seiner bindenden Kraft verlangt, daß gewisse Formalitäten beachtet werden. So verlangt es zum Beispiel Unterschrif ten, Zeugen und dergleichen, damit man, falls später ein Streit entsteht, beweisen kann, daß der

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Vertrag wirklich geschlossen wurde und keine Umstände im Spiele waren, die ihn vor dem Gesetz ungültig machen. Dadurch wird es wirklich sehr erschwert, fi ktive Verträge zu schließen oder Verträge unter Umständen zustande zu bringen, die – falls sie bekannt würden – deren Gültigkeit zerstörten. Solche Vorsichtsmaßregeln könnte man beim Verkauf von Artikeln vorschreiben, die zu Verbrechen die Mittel bieten. Der Verkäufer könnte zum Beispiel gezwungen werden, die genaue Zeit des Handels, Name und Adresse des Käufers, die Art und Menge der verkauften Substanz zu buchen, nach dem Zweck zu fragen, zu dem die Sache gebraucht wird, und die Antwort, die er erhält, zu registrieren. Wenn kein ärztliches Rezept vorliegt, könnte man auch die Gegenwart einer dritten Person verlangen, um das Geschäft zum Abschluß zu bringen. Das gäbe noch mehr Sicherheit für den Fall, daß man später glaubte, der Artikel sei zu verbrecherischen Zwecken verwendet worden. Solche Vorschriften würden den Bezug des Artikels im allgemeinen nicht verhindern, aber sie würden dessen ungestraften Mißbrauch sehr erschweren. Das der Gesellschaft zustehende Recht, gegen sie gerichtete Verbrechen vorbeugend abzuwehren, lehrt auch die klare Begrenzung der Maxime, wonach rein persön liches Mißverhalten keinen Grund für ein Eingreifen durch Vorbeugungs- oder Strafmaßnahmen sei. Trunken heit zum Beispiel würde für gewöhnlich ein gesetzliches Eingreifen nicht rechtfertigen; aber ich hielte es für voll kommen berechtigt, wenn jemand, der im Zustand der Bezechtheit schon einmal eine Ausschreitung gegen andere begangen hat, unter eine besondere Polizeiverordnung gestellt würde. Diese müßte besagen, daß jeder neue Fall von Trunkenheit ihn straffällig macht und daß jedes Vergehen, das er wieder in diesem Zustand begeht, um so strenger gebüßt wird. Es ist ein Verbrechen gegen andere, wenn der sich betrinkt, der in diesem

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Zustand zu Ausschreitungen gegen andere neigt. Wiederum kann Trägheit an sich nicht ohne Tyrannei zum Gegenstand gesetzlicher Bestrafung gemacht werden, außer bei Personen, die eine öffent liche Unterstützung erhalten, oder wenn sie einen Ver trauensbruch bedeutet. Ebenso ist es keine Ty rannei, wenn man einen Menschen, der entweder aus Trägheit oder aus einem anderen vermeidbaren Grund seine gesetzlichen Pfl ichten gegen andere, wie zum Beispiel die Sorge für seine Kinder, vernachlässigt, seine Verpfl ichtungen zu erfüllen zwingt; wenn kein anderes Mittel verfängt, mag es selbst auf dem Wege der Zwangsarbeit geschehen. Wiederum gibt es viele Handlungen, die zwar nur dem Handelnden selbst schaden können und die darum nicht gesetzlich verboten sein sollten. Wenn sie jedoch öffent lich geschehen, stellen sie eine Verletzung der guten Sitten dar. Insofern bedeuten sie auch ein Unrecht gegen andere und können daher mit Recht verboten werden. Hierher gehören Verstöße gegen den Anstand. Wir brauchen bei ihnen nicht zu verweilen, denn sie hängen mit unserem Gegen stand nur indirekt zusammen. Es gibt viele Handlungen, gegen deren Begehen in der Öffentlichkeit starke Gründe sprechen, obgleich sie an sich nicht verwerfl ich sind, auch von niemandem dafür gehalten werden. Es besteht aber noch eine andere Frage, auf die wir eine Antwort suchen müssen, die mit unseren Prinzipien übereinstimmt. Wir sahen, es gibt Handlungen, die vielleicht tadelnswert sind, die die Gesellschaft aber aus Rücksicht auf die Freiheit weder verhindern noch strafen darf, weil die daraus hervorgehenden üblen Folgen nur den Handelnden selbst betreffen. Nun fragt es sich: Dürfen zu dem, was dem Handelnden zu tun freisteht, auch andere Leute ebenso frei raten und aufreizen? Diese Frage ist nicht leicht zu entscheiden. Wenn jemand einen anderen zu einer Handlung bewegt, so ist das genaugenommen kein Verhalten, das nur das

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Subjekt selbst berührt. Ein Rat oder eine Aufforderung ist vielmehr ein sozialer Akt und muß offenbar, wie alle Handlungen, die andere betreffen, sozialer Kontrolle unterstehen. Aber dieser erste Eindruck wird durch ein wenig Nachdenken sofort korrigiert; wir überzeugen uns, daß, wenn der Fall auch nicht eigentlich im Gebiet der individuellen Freiheit liegt, doch die Grundsätze, die für diese gelten, auf ihn angewendet werden können. Wenn man den Menschen gestattet, in allem, was nur sie selbst betriff t, nach eigenem Ermessen und auf eigene Gefahr zu handeln, so muß ihnen auch freistehen, sich miteinander über das, was sie tun sollen, zu beraten, ihre Meinungen auszutauschen und Anregungen zu geben und zu empfangen. Was zu tun erlaubt ist, das muß auch anzuraten gestattet sein. Die Angelegenheit ist nur dann zwei felhaft, wenn der Anstifter aus seinem Rat persönlichen Vorteil zieht, wenn er zum Zwecke seines Unterhaltes oder des Gelderwerbs sich ein Geschäft daraus macht, das zu befördern, was Gesellschaft und Staat für ein Übel ansehen. In diesem Fall tritt in der Tat ein neues Element der Verwicklung ein, nämlich die Existenz einer Klasse von Personen, deren Interesse dem, was man öffentliches Wohl nennt, entgegengesetzt ist, und deren Lebensweise auf das gegründet ist, was diesem Wohl entgegensteht. Soll man dagegen einschreiten oder nicht? Unzucht zum Beispiel muß geduldet werden, ebenso Glücksspiel. Aber soll es einem Menschen auch freistehen, Zuhälter zu werden oder eine Spielbank zu halten? Der Fall gehört zu denen, die genau auf der Grenzlinie zwischen zwei Prinzipien liegen, und es ist nicht sofort klar, auf welche Seite er gehört. Für beide Seiten sprechen Gründe. Von der Seite der Duldung muß man sagen, daß etwas, was an sich erlaubt ist, nicht dadurch zum Verbrechen werden kann, daß man die Sache als Beruf betreibt und seinen Lebensunterhalt daraus zieht. Die betreffende Handlung muß entweder vollkommen erlaubt oder vollkommen ver-

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boten sein. Wenn die bisher entwickelten Grundsätze richtig sind, so hat die Gesellschaft als Gesellschaft kein Recht, etwas für unerlaubt zu erklären, was nur das Individuum angeht, über bloßes Abraten darf sie nicht hinausgehen, und dem einen steht es ebenso frei, zuzureden, wie dem anderen, abzureden. Dagegen aber kann man folgendes einwenden: Wenn das Publikum oder der Staat auch nicht befugt sind, in autoritativer Entscheidung zum Zwecke der Unterdrückung oder der Bestrafung zu erklären, daß irgendeine Handlung, deren Folgen nur auf den Handelnden selbst zurückfallen, gut oder schlecht sei, so sind sie doch vollberechtigt, wenn sie diese für schlecht halten, die Frage mindestens für strittig zu erklären. Wenn man das voraussetzt, so ist es nicht unrecht, wenn sie sich bemühen, den Einfluß von Aufreizern auszuschließen, die nicht uninteressiert sind, und wenn sie Anstiftern entgegentreten, denen man nicht zu Gute halten kann, unparteiisch zu sein. Diese haben vielmehr ein offenkundiges persönliches Interesse an einer Seite, und zwar an der, die der Staat für unrecht hält, ja sie geben zu, daß sie diese aus rein persön lichen Gründen befördern. Man kann weiter sagen: Es wird sicherlich nichts schaden und es wird nichts Gutes verlorengehen, wenn man die Dinge so ordnet, daß die Menschen, ob weise oder töricht, nach eigenem Ermessen handeln, so frei wie möglich von den Kunstgriffen derer, die ihre Begierden reizen, um sie für selbstsüchtige Zwecke zu gebrauchen. Obgleich, so kann man sagen, die Verordnungen über ungesetzliches Spiel sich durchaus nicht rechtfertigen lassen, wenngleich es allen Leuten freistehen sollte, in ihren eigenen Häusern oder in denen von Bekannten oder in Vereinslokalen, die auf gemeinsame Kosten erhalten werden und nur den Mitgliedern und ihren Gästen offen stehen, zu spielen, so sollten doch öffentliche Spielhäuser nicht erlaubt sein. Gewiß wird dieses Verbot niemals streng durchgeführt werden, und welche tyrannische Macht

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man auch der Polizei geben mag, Spielhäuser können immer unter trügerischem Schein erhalten werden. Aber man kann sie immerhin zwingen, ihre Tätigkeit in ein gewisses Geheimnis zu hüllen, so daß sie nur denen bemerkbar werden, die sie suchen. Nach mehr braucht die Gesellschaft nicht zu streben. Diese Argumente haben eine erhebliche Beweiskraft. Ich wage aber nicht zu entscheiden, ob sie genügen, die moralische Anomalie zu rechtfertigen, daß man den Mitschuldigen straft, während der Hauptschuldige frei ausgeht und frei ausgehen muß, daß man den Kuppler mit Geldstrafe oder Gefängnis belegt und den Sünder unbehelligt läßt, daß man den Inhaber eines Spielhauses straft, aber nicht die Spieler. Aus ähnlichen Gründen sollte man noch weniger in den gewöhnlichen Gang des Kaufens und Verkaufens eingreifen. Fast jeder Artikel, der gekauft und verkauft wird, kann im Übermaß gebraucht werden, und die Verkäufer haben ein fi nanzielles Interesse daran, zu diesem Übermaß zu ermutigen. Aber daraus kann zum Beispiel kein Grund zugunsten des Maine Law [allgemeines Alkoholverbot] hergeleitet werden, denn die Händler in Spirituosen sind zwar an deren Mißbrauch interessiert, aber sie sind doch auch unentbehrlich notwendig zu deren rechtmäßigem Gebrauch. Dennoch ist das Interesse, das diese Verkäufer an der Förderung der Unmäßigkeit haben, ein Übelstand; er berechtigt den Staat, Beschränkungen aufzuerlegen und Ga rantien zu fordern, die ohne diese Rechtfertigung eine Beeinträchtigung der Freiheit bedeuten würden. Eine andere Frage ist, ob der Staat eine Handlungsweise, die nach seiner Überzeugung den besten Interessen des Handelnden zuwider ist, nicht indirekt erschweren sollte, obwohl er sie gestattet; ob er also zum Beispiel nicht Maßregeln treffen sollte, daß Getränke, die zur Trunkenheit führen, verteuert oder die Schwierigkeit, sie zu erlangen, erhöht werde, indem er die Zahl der Verkaufslokale beschränkt. In dieser

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wie in anderen praktischen Fragen muß man mancherlei berücksichtigen. Wenn man starke Getränke besteuert, nur um ihre Beschaff ung zu erschweren, so ist das eine Maßnahme, die sich nur gradweise von einem vollkommenen Verbot unterscheidet. Sie wäre nur zu rechtfertigen, wenn auch jenes Verbot es wäre. Jede Preissteigerung kommt für den, dessen Mittel dem erhöhten Preis nicht gewachsen sind, einem Verbot gleich; für diejenigen, die es bezahlen können, bedeutet sie eine Geldbuße, die ihnen auferlegt wird, weil sie sich einen bestimmten Genuß verschaffen. Die Wahl ihrer Genüsse und die Art, wie sie ihr Einkommen ausgeben, nachdem sie ihre gesetzlichen und moralischen Pfl ichten gegen den Staat und gegen die Einzelnen erfüllt haben, sind rein persönliche Angelegenheiten, die ihrem eigenen Ermessen anheimgestellt werden müssen. Diese Betrachtungen scheinen auf den ersten Blick dagegen zu sprechen, daß man geistige Getränke zum Zwecke, das Staatseinkommen zu vermehren, mit Steuer belegt. Man muß aber andererseits bedenken, daß Besteuerung aus fiskalischen Gründen unvermeidlich ist und daß in den meisten Staaten ein erheblicher Teil der Steuern indirekt sein muß. So kann der Staat nicht umhin, auf den Gebrauch mancher Artikel eine Geldbuße zu legen, die für manche Menschen einem Verbot gleichkommt. Pfl icht des Staates aber ist es, bei der Auferlegung von Steuern zu erwägen, welche Artikel die Verbraucher am ehesten entbehren können, und er wird zur Besteuerung vor allem die Arti kel wählen müssen, von denen er überzeugt ist, daß der Gebrauch, wenn er ein gewisses Maß übersteigt, wirklich schädlich ist. So ist die Besteuerung geistiger Getränke bis zu dem Punkt, der dem Staat den größten Gewinn bietet (vorausgesetzt, daß der Staat diesen ganzen Betrag braucht), nicht nur zulässig, sondern wünschenswert. Die Frage, ob man den Verkauf dieser Artikel zu einem mehr oder weniger ausgesprochenen Privileg machen solle,

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muß verschieden beantwortet werden, je nach den Zwekken, denen diese Beschränkung dienen soll. Alle allgemein besuchten Orte erfordern polizeiliche Beschrän kungen, und besonders solche, weil Verbrechen gegen die Gesellschaft mit Vorliebe da ausgeheckt werden. Man sollte deshalb die Konzession zum Verkauf und vor allem zum Ausschank von Alkohol nur Leuten von anerkannter oder verbürgter Achtbarkeit geben, und man sollte die Stunden zur Öff nung und Schließung des Lokals nach den Bedürfnissen der öffentlichen Aufsicht regeln. Auch muß die Konzession zurückgezogen werden, wenn es in dem Lokal infolge der Nachsicht oder der Unfähigkeit des Wirtes öfter zu Streit kommt oder wenn das Haus zum Treff punkt von Subjekten wird, die Verbrechen und Gesetzlosigkeiten anstiften und vorbereiten. Jede weitere Einschränkung kann ich prinzipiell nicht billigen. So setzt zum Beispiel die Beschränkung in der Zahl der Bier- und Schnapsschänken, die man eigens vornimmt, um den Bezug zu erschweren und die Versuchung zu verringern, nicht nur alle einer Unbequemlichkeit aus, weil es einige gibt, die eine zu große Leichtigkeit des Bezugs mißbrauchen würden, sondern sie paßt nur für einen Gesell schaftszustand, in dem die arbeitenden Klassen wie Kinder oder wie Wilde behandelt und einer Zwangserziehung unterworfen werden, um sie für später den Vorrechten der Freiheit zugänglich zu machen. Das ist jedoch nicht der Grundsatz, nach dem in einem freien Land die arbeitenden Klassen erklärter maßen regiert werden. Niemand, der den Wert der Freiheit gebührend zu schätzen weiß, würde seine Zustimmung zu einer solchen Behandlung geben. Jedenfalls müßten erst alle Versuche, sie wirklich zur Freiheit zu erziehen und wie freie Menschen zu behandeln, erschöpft sein, und man müßte sich endgültig überzeugt haben, daß sie nur wie Kinder regiert werden dürfen. Die bloße Aufstellung dieser Alternative zeigt, daß es absurd ist, vorauszusetzen, solche Anstrengun-

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gen seien in irgendeinem Fall, der hier in Betracht kommt, gemacht worden. Lediglich weil die Einrichtungen unseres Landes eine Vielheit von Widersprüchlichkeiten darstel len, fi nden in unserer Praxis Dinge Aufnahme, die zu dem System des Despotismus, dem sogenannten patriarcha lischen System, gehören, während andererseits die allgemeine Freiheit, die unsere Einrichtungen auszeichnet, das Maß der Kontrolle ausschließt, das notwendig wäre, um den Zwang als Erziehungsmittel wirksam zu machen. In einem früheren Teil dieser Schrift hatten wir befunden, daß die Freiheit des Individuums in Dingen, die nur dieses angehen, die gleiche Freiheit für jede beliebige Zahl von Individuen voraussetzt, die durch gegenseitiges Übereinkommen die Dinge regeln, die sie gemeinsam und sonst niemanden angehen. Diese Frage bietet keine Schwierigkeit, solange der Wille sämtlicher Beteiligter unverändert bleibt. Aber da dieser Wille sich ändern kann, so müssen die Menschen selbst in bezug auf Dinge, die nur sie selbst betreffen, Verpfl ichtungen mit ihren Mit menschen eingehen, und es ist im allgemeinen Interesse, daß diese Verträge gehalten werden. Dennoch hat diese allgemeine Regel wahrscheinlich in den Gesetzen aller Länder ihre Ausnahmen. So ist man nicht nur von Verträgen befreit, die die Rechte anderer verletzen, sondern es wird zuweilen auch als hinreichender Grund für die Auf hebung eines Vertrages betrachtet, wenn es sich herausstellt, daß dieser den Personen, die ihn geschlossen haben, selbst schädlich ist. In unserem wie in den meisten anderen zivilisierten Ländern wäre zum Beispiel ein Vertrag, durch den jemand sich als Sklave verkaufte oder verkaufen ließe, null und nichtig, weder durch das Gesetz noch durch die öffentliche Meinung geschützt. Der Grund, warum die Freiheit des Entschlusses über das eigene Lebenslos so beschränkt ist, ist klar und wird in diesem extremen Fall besonders deutlich. Das Motiv, weshalb wir in die Wil lenshandlung

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eines Menschen nicht eingreifen, außer, wo das Interesse anderer es gebietet, ist die Rücksicht auf die Freiheit des Wählenden. Wenn er frei wählte, so ist klar, daß er das, was er wählt, auch für wünschenswert oder mindestens für erträglich hält, und so wird für sein Wohl im allgemeinen am besten gesorgt sein, wenn man es ihn auf seine eigene Weise wählen läßt. Wenn er sich aber als Sklave verkauft, so entsagt er seiner Freiheit, er verzichtet auf jeden ferneren Gebrauch derselben, der über jenen Akt hinausgeht. Er vereitelt also in seinem eigenen Fall den Zweck, um dessentwillen man ihm erlaubt, über sich selbst zu verfügen. Er ist nicht mehr frei, sondern er befi ndet sich jetzt in einer Lage, für die nicht mehr die Voraussetzung gilt, die durch sein freiwilliges Verharren in ihr gegeben wäre. Das Prinzip der Freiheit kann nicht erfordern, daß man jemandem die Freiheit lasse, nicht frei zu sein. Die Erlaubnis, die eigene Freiheit zu veräußern, ist keine Freiheit. Die Gründe, deren Beweiskraft in diesem Falle so einleuchtend ist, sind offenbar von viel größerer Tragweite. Dennoch fi nden sie alle eine Grenze in den Lebensnotwendigkeiten. Das Leben verlangt ja beständig zwar nicht einen vollen Verzicht, aber doch eine starke Begrenzung unserer Freiheit. Das Prinzip jedoch, das volle Freiheit des Handelns in allem verlangt, was nur den Handelnden selbst angeht, erfordert auch, daß diejenigen, die sich in Angelegenheiten, die keinen Dritten betreffen, gegenseitig gebunden haben, auch imstande seien, sich gegenseitig von der Verpfl ichtung zu befreien. Ja, selbst ohne solche freiwillige Lossprechung gibt es vielleicht keine Verträge und Verpfl ichtungen – außer denen, wo es sich um Geld oder Geldeswert handelt –, von denen man die Behauptung wagen könnte, daß ihnen die Freiheit der Auflösung nicht zustehe. Baron Wilhelm von Humboldt stellt es in seiner schon erwähnten ausgezeichneten Abhandlung als seine Überzeugung hin, daß Verpfl ichtungen, die persönliche Dienste und

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Bindungen in sich begreifen, immer nur für eine begrenzte Zeit rechtlich bindend sein sollten; ja, er wünscht, daß zur Auflösung der wichtigsten dieser Verbindungen, der Ehe, die Willenserklärung einer der beiden Parteien genüge, denn es liegt in der Natur der Ehe, daß ihr Sinn vereitelt wird, wenn die Gefühle beider Gatten nicht mehr damit in Einklang stehen. Diese Frage ist zu wichtig und zu kompliziert, als daß man sie so im Vorübergehen entscheiden könnte, ich berühre sie nur insoweit, als der Zweck der Erläuterung es verlangt. Hätte nicht die Kürze und Allgemein heit in der Abhandlung des Barons Humboldt den Verfasser genötigt, sich in diesem Fall mit dem Aussprechen des Schlusses zu begnügen, ohne die Prämissen zu diskutieren, hätte er sicherlich eingesehen, daß die Frage nicht durch so einfache Gründe, wie er sie geltend macht, entschieden werden kann. Wenn jemand entweder durch ausdrückliches Versprechen oder durch seine Handlungsweise einen anderen Menschen ermutigt hat, auf seine Zuverlässigkeit zu vertrauen, auf diese Voraussetzung Erwartungen und Berechnungen zu gründen und seinen Lebensplan darauf zu bauen, so ergeben sich daraus für den Versprechenden eine Reihe moralischer Verpfl ichtungen. Diese können zwar zeitweise durch andere zurückgedrängt, aber niemals nichtig werden. Und ferner, wenn aus der Beziehung von zwei Menschen Konsequenzen für andere hervorgehen, wenn sie diese in eine besondere Lage gebracht hat oder wenn sie, wie im Fall der Ehe, sogar Menschen ins Leben gerufen hat, so entstehen daraus für die Beteiligten Verpfl ichtungen gegen diese Dritten, und die Art der Erfüllung jener Pfl ichten hängt in hohem Maße davon ab, ob die Beziehung zwischen den Eltern fortdauert oder zerstört ist. Es folgt daraus nicht, und ich kann dies keineswegs zugeben, daß die Erfüllung des Vertrages ohne jede Rücksicht auf das Glück des wider strebenden Teiles durchgesetzt werden müsse, aber diese Bedenken sind immerhin

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ein notwendiges Glied in der betreffenden Frage. Humboldt mag zwar recht haben, daß diese Bedenken keinen Unterschied machen in der gesetzlichen Freiheit beider Parteien, den eingegangenen Vertrag zu lösen (ich stimme dem völlig zu), aber sie begründen doch einen großen Unterschied in der moralischen Freiheit. Man muß alle diese Umstände in Betracht ziehen, ehe man sich zu einem Schritt entschließt, der die Interessen anderer in so hohem Grade berührt. Wer sie nicht genügend beachtet, ist für das dadurch entstehende Unrecht moralisch verantwortlich. Ich habe diese einleuchtenden Bemerkungen nur gemacht, um das allgemeine Prinzip der Freiheit zu erläutern, und nicht, weil gerade unsere spezielle Frage sie erforderlich machte, die im Gegenteil zumeist so behandelt wird, als ob das Interesse der Kinder alles sei, das der Erwachsenen nichts. Ich habe bereits bemerkt, daß das Fehlen eines allgemein anerkannten Prinzips der Freiheit es bewirkt, daß Freiheit oft da gewährt wird, wo sie versagt werden sollte, und umgekehrt, und in einem Falle, wo im modernen Europa das Gefühl der Freiheit am lautesten spricht, gehört es meiner Ansicht nach gar nicht hin. Jeder sollte das Recht haben, nach eigenem Ermessen zu handeln, soweit nur seine eigenen Interessen im Spiele sind. Aber es darf einem Menschen nicht gestattet sein, auch dann so zu handeln, wenn er für andere tätig ist, und die Ausrede zu gebrauchen, die Angelegenheit des anderen sei seine eigene. Der Staat muß, während er die Freiheit eines jeden in Angelegenheiten respektiert, die nur ihn selbst betreffen, wachsam die Ausübung der Macht kontrollieren, die er jemandem über andere Menschen verleiht. Diese Pfl icht aber wird in Familienangelegenheiten fast völlig vergessen. Dabei sind diese Verhältnisse doch für das menschliche Glück mit am wichtigsten. Ich will hier nicht auf die fast despotische Gewalt eingehen, die dem Ehemann über die Frau zusteht. Denn zur vollkommenen Auf hebung

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dieses Übels bedarf es nur der Bestimmung, daß die Frauen dieselben Rechte haben wie die Männer, daß sie denselben Schutz des Gesetzes wie alle anderen Menschen genießen. Auch berufen sich die Verteidiger des jetzigen ungerechten Zustandes gar nicht auf die Freiheit, sondern sie stel len sich auf den Boden der Macht. Dabei ist es der Fall der Kinder, wo unangebrachte Begriffe von Freiheit den Staat an der Erfüllung seiner Pfl ichten hindern. Es scheint, daß man die Kinder eines Menschen nicht nur im übertragenen Sinn, sondern buchstäblich für einen Teil seiner selbst hält, so streng wacht die öffentliche Meinung über die geringste Einmischung des Gesetzes in die ausschließliche Kontrolle des Vaters über sie, strenger als über die Einmischung in seine eigene Handlungsfreiheit: ein Zeichen, daß die Menschen im allgemeinen die Freiheit weniger hoch als die Macht bewerten. Denken wir zum Beispiel an die Erziehung. Ist es nicht fast ein von selbst einleuchtendes Axiom, daß der Staat für jeden, der als sein Bürger geboren wird, ein gewisses Maß der Erziehung verlangen und erzwingen könne? Wer würde sich zu dieser Wahrheit nicht bekennen? Kaum einer wird leugnen, daß es heilige Pfl icht der Eltern oder – wie Gesetz und Brauch heute sa gen – des Vaters sei, dem Wesen, das er in die Welt gesetzt hat, eine Erziehung zu geben, die es befähigt, im Leben seine Pfl ichten gegen andere wie gegen sich selbst zu er füllen. Aber während man das einsieht, will in diesem Lande kaum irgend jemand davon hören, daß ein Vater unter Umständen auch zur Erfüllung dieser Pfl ichten gezwungen werden kann. Anstatt daß man von ihm Mühen und Opfer für die Erziehung verlangte, stellt man ihm anheim, ob er die Erziehungsmittel, wenn sie gratis geboten werden, benützen will oder nicht. Noch erkennt man nicht an, daß es ein moralisches Verbrechen an dem unglücklichen Geschöpf wie an der Gesellschaft ist, wenn jemand ein Kind in die Welt setzt und doch nicht imstande ist, Nahrung für

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den Leib und Unterweisung und Ausbildung für die Seele zu bieten. Noch gibt man nicht zu, daß der Staat das Recht hat, Eltern, die ihre Pfl icht gegen die Kinder nicht freiwillig erfüllen, dadurch zu zwingen, daß er selbst die Erziehung auf Kosten der Eltern vornimmt, soweit das möglich ist. Wäre das Recht und die Pfl icht des Staates, eine gewisse Erziehung zu erzwingen, einmal anerkannt, dann wäre auch die Schwierigkeit, was und auf welche Weise der Staat die Lehre ausüben solle, überwunden. Diese Frage macht ja jetzt den Gegenstand zu einem Tummelplatz für Sekten und Parteien, ja für die Erörterung dieser Probleme wird die Zeit und Arbeit ver schwendet, die man der Erziehung selbst widmen sollte. Wenn die Regierung sich entschlösse, für jedes Kind eine gute Erziehung zu verlangen, so wäre sie der Pfl icht enthoben, selbst dafür zu sorgen. Sie könnte es dann den Eltern überlassen, die Erziehung nach eigenem Ermessen einzurichten, und sie könnte sich damit begnügen, das Schulgeld für die ärmeren Kinder zuzuschießen oder die Kosten der ganzen Ausbildung für die zu tragen, die keine zahlungsfähigen Angehörigen haben. Die Einwände, die man mit Recht gegen die staatliche Erziehung erhebt, besagen nichts gegen den staatlichen Zwang zur Erziehung. Sie richten sich nur gegen den Fall, daß der Staat die Erziehung selbst in die Hand nimmt, was freilich ein ander Ding ist. Ich bin so sehr wie nur irgend jemand dagegen, daß die ganze Erziehung oder ein großer Teil derselben dem Staate obliegt. Alles, was zur Bedeutung der Individualität, zur Mannigfaltigkeit der Meinungen und Verhaltensweisen gesagt worden ist, schließt die Mannigfaltig keit der Erziehung als etwas ebenso unsagbar Bedeutsames ein. Eine allgemeine Erziehung durch den Staat ist nichts anderes als eine Einrichtung, um alle Menschen einander gleichzumachen, und da die Form, in die der Staat sie preßt, diejenige ist, die der herrschenden Kraft in der Regierung gefällt – sei dies ein Monarch, eine Priester schaft,

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eine Aristokratie oder die Majorität –, errichtet er, insofern er dabei effizient und erfolgreich ist, einen Despotismus über die Geister, der naturgemäß auch zu einer Tyrannei über den Leib führt. Eine vom Staate eingerichtete und kontrollierte Erziehung sollte, wenn sie überhaupt nötig ist, nur als Beispiel eines von mehreren miteinander konkurrierenden Experimenten existieren, das als Beispiel und Anregung betrieben wird, um die anderen auf einem gewissen Standard der Leistungsfähig keit zu erhalten. Nur wenn die Gesellschaft so tief steht, daß sie aus eigener Kraft keine Erziehungsanstalten schaffen kann oder will, dann darf die Regierung das kleinere von zwei Übeln wählen und selbst für Schulen und Universitäten sorgen, wie sie auch für Aktiengesellschaf ten sorgen darf, wenn es im Lande keine Privatwirtschaft gibt, die zu großen Industrieunternehmen fähig wäre. Besitzt aber ein Land genug geeignete Persönlichkeiten, die eine Erziehung unter staatlicher Aufsicht leiten könnten, so werden im allgemeinen diese Menschen auch willens und imstande sein, eine ebensogute Erziehung nach dem Prinzip der Freiwilligkeit zu geben. Nur müßte ihnen ein Gesetz, das die Erziehung zur Pfl icht macht, eine angemessene Vergütung sicherstellen, und diese Zusicherung müßte verbunden sein mit staatlicher Hilfe für die, die die Kosten der Erziehung nicht zu tragen ver mögen. Das Erziehungsgesetz brauchte auf keinem anderen Wege durchgesetzt zu werden als durch staatliche Prüfungen, denen alle Kinder von früher Jugend an unterworfen würden. Es müßte zum Beispiel ein Alter festgesetzt werden, in dem man sich durch Prüfungen versichert, ob das Kind lesen kann. Wenn das Kind nicht Lesen gelernt hat, so müßte den Vater, sofern er keine genügende Entschuldigung hat, eine mäßige Geldbuße treffen; der zahlungsf ähige Vater hätte diese Buße abzuarbeiten, und das Kind müßte auf seine Kosten in die Schule geschickt werden. Einmal im

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Jahr müßten die Examen stattfi nden und sich schrittweise auf immer mehr Gegenstände erstrecken, um so den Erwerb und – was wichtiger ist – das Behalten eines Minimums von Kenntnissen tatsächlich zu einem gewissen Zwang zu machen. Über dieses Minimum hinaus kön nen freiwillige Prüfungen über alle Gegenstände abgelegt werden, und alle, die sie in befriedigender Weise bestehen, hätten ein Zeugnis zu beanspruchen. Um zu verhindern, daß der Staat durch diese Einrichtung einen ungehörigen Einfluß auf die menschlichen Meinungen erhielte, sollten die Kenntnisse, die bei diesen Examen in Betracht kom men, außer auf die rein instrumentalen wie Sprachen und deren Gebrauch, auch in den höheren Prüfungsklassen auf Fakten und positive Wissenschaften beschränkt sein. Die Prüfung in Religion, Politik und anderen strittigen Problemen sollte sich nicht auf die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit bestimmter Ansichten einlassen, sondern sie sollte sich an die Tatsache halten, daß diese oder jene Meinung aus den und den bestimmten Gründen von diesen Autoren, Schulen oder Kirchen verfochten wird. Unter einem solchen System würde das heranwachsende Geschlecht in bezug auf die strittigen Wahrheiten nicht schlechter dran sein als das jetzige. Die Kinder könnten wie gegenwärtig als Glieder der Kirche oder als Dissidenten aufwachsen, der Staat würde nur dafür sorgen, daß sie beides auf Grund von Kenntnissen wären. Wenn die Eltern der Kinder es wünschten, so könnten diese in ihren Schulen auch in Religion unterrichtet werden. Sind auch alle Versuche des Staates, das Denken seiner Bürger in bestimmte Bahnen zu zwingen, von Übel, so darf er doch rechtens anbieten, festzustellen und zu beurkunden, ob jemand die Kenntnisse besitzt, deren er bedarf, um über einen gegebenen Gegenstand gültige Schlüsse zu ziehen. Für einen Studenten der Philosophie wäre es besser, wenn er eine Prüfung über die Systeme von Locke und Kant bestanden hätte,

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ob er sich nun auf die Seite des einen oder des anderen oder auf keine von beiden stellt, und es gibt auch keinen vernünftigen Grund, weshalb ein Atheist sich nicht über seine Kenntnisse in der christlichen Dogmatik ausweisen sollte, vorausgesetzt, er muß sich nicht zu diesen Glaubenssätzen bekennen. Aber die Prüfungen in den höheren Zweigen des Wissens sollten nach meiner Mei nung ganz freiwillig sein. Auch hieße es der Regierung eine zu gefährliche Macht verleihen, wollte man ihr gestatten, jemanden aus angeblichem Mangel an Qualifi kation von irgendeinem Berufe, selbst von dem des Lehrers, auszuschließen. Ich teile mit Wilhelm von Humboldt die Überzeugung, daß ein Grad oder ein anderes öffentliches Zeugnis über wissenschaftliche oder berufl iche Fähigkeiten allen denen verliehen werden sollte, die ein einschlägiges Examen bestehen. Indessen sollten diese Zeugnisse ihnen gegenüber Mitbewerbern keinen anderen Vorteil gewähren als den, den die öffentliche Meinung dem Zeugnis beilegt. Aber nicht nur auf dem Felde der Erziehung behindern schlecht angebrachte Begriffe von Freiheit die Anerkennung moralischer Verpfl ichtungen der Eltern und sind der Auferlegung gesetzlicher Pfl ichten im Wege, wo doch starke Gründe für ersteres in allen und für letzteres in vielen Fäl len sprechen. Schon an sich legt die Tatsache, daß man das Leben eines Wesens bewirkt hat, dem Erzeuger eine schwere Verantwor tung auf. Und es ist ein Verbrechen an einem Wesen, dessen Leben ein Segen oder ein Fluch werden kann, wenn man ihm nicht wenigstens die gewöhnlichen Aussichten auf eine wünschenswerte Existenz bieten kann. In einem übervölkerten oder von Übervölkerung bedrohten Land ist es eine ernste Gefahr für alle die, die vom Ertrag ihrer Arbeit leben, wenn mehr als eine geringe Zahl von Kindern geboren wird. Denn diese drücken, wenn sie einst am Wettbewerb um Arbeit teilnehmen, notwendig den Ar-

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beitslohn herab. Darum überschreiten die Gesetze, die in einigen Ländern des Kontinents die Heirat zwischen solchen verbieten, denen die Mittel zur Erhaltung einer Familie fehlen, die rechtliche Macht des Staates nicht. Ob solche Gesetze nützlich sind oder nicht, das hängt haupt sächlich von lokalen Umständen oder von Gefühlsent scheidungen ab, niemals aber kann man einwenden, daß sie legitime Freiheiten verletzen würden. Denn diese Gesetze bedeuten nur eine solche Einmischung des Staates, durch die er eine nachteilige Handlung verhindert – eine solche, die ein Unrecht gegen andere bedeuten würde. Diese aber sollte stets ein Gegenstand der Mißbilligung und der sozialen Verurteilung sein, selbst wenn sie nicht mit gesetzlichen Strafen belegt wird. Doch die landläufigen Freiheitsbegriffe, die sich so leicht einer Beeinträchtigung der Freiheit in Dingen beugen, die nur das Individuum selbst angehen, würden jeden Versuch zurückweisen, der darauf gerichtet ist, Neigungen zu beschränken, deren Folge ein Leben der Erniedrigung und des Elends für die Nachkommenschaft wäre, verbunden mit mannigfachen Übeln für diejenigen, die eng genug mit ihr verbunden sind, um davon betroffen zu werden. Vergleichen wir den sonderbaren Respekt der Menschen vor der Freiheit mit ihrem auffallenden Mangel an Respekt vor ihr, so sollte man meinen, die Menschen hätten unbedingt das Recht, anderen Leid zuzufügen, aber gar keine Befugnis, sich selbst zu Gefallen zu leben, ohne anderen weh zu tun. Ich habe für den Schluß unseres Essays eine Reihe von Fragen aufgespart, die sich auf die Grenzen der Ein mischung des Staates beziehen. Sie gehören, wenngleich eng verbunden mit dem Gegenstand dieses Essays, doch nicht eigentlich zu ihm. Es sind dies die Fälle, in denen die Gründe gegen ein staatliches Eingreifen nicht aus Rücksicht auf die Freiheit erwachsen. Es handelt sich nicht darum, das Handeln der Individuen zu beschränken, sondern es zu unterstützen, und es

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fragt sich, ob die Regierung etwas zu ihrem Nutzen tun oder tun lassen oder ob sie es ihnen selbst – als einzelnen oder als freiwilligen Zusammenschlüssen – überlassen sollte. Die Einwände gegen ein Eingreifen der Regierung, das keine Beschränkung der Freiheit bedeutet, mögen von dreierlei Art sein: Erstens kann vielleicht die betreffende Sache von einzelnen besser als vom Staat erledigt werden. Im allgemeinen ist ja auch niemand so geeignet, eine Sache durchzuführen oder jemanden dafür zu fi nden, wie der, der ein persönliches Interesse daran hat. Dieses Prinzip verurteilt das einst so übliche Eingreifen der Regierung oder der Gesetzgebung oder der Beamten in den Gewerbebetrieb. Aber darüber haben sich die Nationalökonomen genügend verbreitet. Auch steht der Gegenstand zu den Grundsätzen unseres Essays nicht in besonderer Beziehung. Der zweite Einwand ist enger damit verknüpft. Obgleich Einzelne oft eine bestimmte Sache nicht so gut durchführen wie Regierungsbeamte, ist es in vielen Fällen dennoch wünschenswert, daß sie besser von den Bürgern als von der Regierung getan werde, nämlich um deren geistiger Erziehung willen – ein Modus, um die aktiven Fä higkeiten der Betreffenden zu stärken, ihr Urteil zu üben und sie mit den Dingen vertraut zu machen, die zu tun man ihnen überläßt. Das ist eine prinzipielle – nicht die einzige – Empfehlung, die für Schwurgerichte spricht (nicht in politischen Fällen), für freie und populäre lokale und städtische Institutionen, für die Leitung industrieller und philanthropischer Unternehmungen durch freiwil lige Zusammenschlüsse. Das alles sind keine Fragen der Freiheit, nur entfernte Tendenzen verbinden diesen Gegenstand damit, aber es sind Fragen der Entwicklung. In anderem als dem jetzigen Zusammenhang könnte man bei diesen Problemen als Gegenstand der nationalen Erziehung verweilen, bilden sie doch in der Tat den springenden Punkt bei der speziellen Erziehung eines

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Staatsbürgers, den praktischen Teil in der politischen Erziehung eines freien Volkes, indem sie die Menschen aus dem engen Kreis des persönlichen und des Familienegoismus herausheben und daran gewöhnen, gemeinsame Interessen zu verstehen und gemeinsame Angelegenheiten zu verwalten – sie gewöhnen die Menschen daran, nach Grundsätzen zu handeln, die ganz oder teilweise dem öffentlichen Wohl entstammen, und ihr Verhalten nach Grundsätzen einzurichten, die sie mit anderen vereinigen, anstatt sie zu isolieren. Ohne diese Gewöhnung und diese Fähigkeiten kann eine freie Verfassung weder funktionieren noch bestehen, wie das Beispiel der zu oft nur vorübergehenden Natur der politischen Freiheit in Ländern lehrt, wo diese nicht auf einer breiten Basis lokaler Freiheiten beruht. Die Leitung rein lokaler Angelegenheiten durch Lokalbeamte und die Führung großer Industrieunternehmungen durch eine Vereinigung von solchen, die sie freiwillig fi nanzieren, wird durch alle die Vorteile empfohlen, von denen dieser Essay bezeugt, daß sie zur individuellen Ent wicklung gehören und die Mannigfaltigkeit des Handelns fördern. Regierungsaktionen neigen dazu, überall gleich zu sein. Individuen und freiwillige Verbände aber lassen die mannigfachsten Experimente und eine endlose Ver schiedenheit der Erfahrung zu. Der Staat aber kann dadurch nützlich werden, daß er sich zum Sammelpunkt aller der Erfahrungen macht, die aus den verschiedensten Versuchen resultieren, daß er diese in Umlauf setzt und verbreitet. Er muß alle die, die solche Versuche machen, in stand setzen, aus den Erfahrungen der anderen Nutzen zu ziehen. Keineswegs aber darf er nur solche Experimente dulden, die von ihm selbst ausgehen. Der dritte und dringendste Grund, den man gegen das Eingreifen der Regierung geltend macht, ist der, daß es ein großes Übel bedeutet, wenn man unnötigerweise die staatliche Macht noch verstärkt. Jede Funktion, die man zu

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den von der Regierung schon ausgeübten noch hinzu fügt, ist Anlaß, daß ihr Einfluß auf Hoff nungen und Äng ste der Menschen immer größer wird, und sie verwandelt den aktiven und ehrgeizigen Teil des Publikums in Schma rotzer der Regierung oder einer Partei, die an die Regierung kommen will. Wenn Straßen, Eisenbahnen, Banken, Versicherungen, große Aktiengesellschaften, Universitäten und Wohltätigkeitsanstalten alle verstaatlicht würden, wenn ferner die Gemeindeverwaltung und die Lokalbehörden mit allem, was zu ihnen gehört, Teile der Zentralverwaltung würden, wenn die Beamten aller dieser ver schiedenen Unternehmungen vom Staat angestellt und besoldet würden und demnach jede Beförderung von ihm zu erwarten hätten, so würden auch die Pressefreiheit und die populärste Gestaltung der Gesetzgebung dieses oder irgendein anderes Land nur dem Namen nach zu einem freien machen. Und das Übel wäre um so größer, je effizienter und wissenschaftlicher die Verwaltungsmaschinerie konstruiert wäre, je geschickter die Anordnung getroffen wäre, um die besten Hände und Köpfe als Arbeitskräfte zu gewinnen. In England wurde kürzlich vorgeschlagen, daß durch schwere Examen alle Anwärter für den Staatsdienst ausgesucht werden sollten, damit man für diese Ämter die unterrichtetsten und intelligentesten Personen gewänne. Viel ist für und wider diesen Vorschlag geschrieben und geredet worden. Seine Gegner brachten als durchschlagendstes Argument vor, daß ein dauernder Staatsdienst nicht genügend Aussicht auf Einkommen und Ansehen biete, um die besten Talente anzuziehen; diese fänden als Angestellte von Gesellschaften oder anderen Körperschaften einladendere Lauf bahnen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dieser Gedanke vielmehr von den Freunden des Vorschlages als Entkräftung seiner Hauptschwierigkeit gebraucht würde. Als Argument der Gegner mutet er seltsam genug an. Was als Einwand gebraucht wird, dient dem

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vorgeschlagenen System im Gegenteil als Sicherheitsventil. Wäre es in der Tat mög lich, alle großen Talente des Landes zum Staatsdienst heranzuziehen, so könnte ein dahin zielender Vorschlag wirklich beunruhigen. Wenn jeder Teil der Tätigkeit in der Gesellschaft, der ein organisiertes Handeln oder einen weiten und umfassenden Blick erfordert, in den Händen des Staates läge und wenn die staatlichen Ämter für gewöhnlich mit den fähigsten Beamten besetzt wären, so würde sich alle ausgebildete Kultur und aufgewandte Intelligenz des Landes – mit Ausnahme von der rein spekulativen – in einer zahlreichen Bürokratie ansammeln, und auf diese würde sich der übrige Teil der Gesellschaft in jeder Beziehung verlassen. Die Menge würde sich von dieser Gesellschaft Ziel und Richtung allen Handelns vor schreiben lassen, die Begabten und Strebsamen würden von da persönliche Beförderung erwarten. Dann wäre es der eigentliche Gegenstand des Ehrgeizes, in die Reihen dieser Bürokratie aufgenommen zu werden und darin möglichst weit aufzusteigen. Unter einer solchen Regierung wären die Außenstehenden, weil ihnen alle Erfah rung fehlt, nicht imstande, die Handlungsweise jener Bü rokratie zu beurteilen oder sie gar einzuschränken. Es könnte auch keine Reform durchgeführt werden, die den Interessen jener Kaste entgegenstünde, selbst wenn die Zufälle einer Despotie oder der natürliche Gang volkstümlicher Einrichtungen einen oder mehrere Herrscher mit reformatorischen Neigungen erstehen ließen. Das ist die traurige Lage im Russischen Reich, wie die Berichte derer zeigen, die genügende Gelegenheit zur Beobachtung hatten. Selbst der Zar vermag nichts gegen die Bürokratie, er kann zwar jedes einzelne Mitglied der Kaste nach Sibirien schikken, aber er kann nicht ohne dieselben oder gegen ihren Willen regieren. Sie haben das Recht zu einem stillschweigenden Veto gegen jeden seiner Erlasse, indem sie einfach die Durchführung unterlassen. In Ländern mit fortgeschrittener

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Zivilisation, in denen ein aufrührerischer Geist herrscht, ist die Öffentlichkeit gewöhnt, daß alles in ihrem Interesse vom Staat getan werde, oder sie tut zumindest nichts, ohne den Staat zu fragen, ob oder wie sie es tun dürfe, und sie gibt natürlich dem Staat die Verantwortung für alles Schlimme, das sie trifft, und wenn das Schlimme ihre Geduld übersteigt, dann erhebt sie sich gegen die Regierung und macht eine sogenannte Revolution, worauf hin jemand mit oder ohne Bewilligung des Volkes sich in den Sattel schwingt, der Bürokratie seine Befehle erteilt, und alles geht seinen Gang wie vorher – ist doch die Bürokratie unverändert und niemand anders im stande, ihre Stelle einzunehmen. Ein völlig anderes Schauspiel bietet ein Volk, das daran gewöhnt ist, seine Angelegenheiten selbst zu füh ren. In Frankreich, wo ein großer Teil des Volkes im Militärdienst gestanden hat und viele wenigstens den Rang eines Unteroffi ziers einnehmen, gibt es bei jedem Volksaufstand mehrere Personen, die die Führung ergreifen und einen leidlichen Aktionsplan aufstellen können. Was die Franzosen in militärischen Dingen leisten, das vermögen die Amerikaner in jedem Zweig der bürgerlichen Beschäftigung. Wären sie einmal ohne Regierung, so wäre jede amerikanische Gemeinschaft imstande, eine zu improvisieren und jedes öffentliche Geschäft klug, ordent lich und genau zu verrichten. Das aber sollte jedes freie Volk leisten können; und ein Volk, das dazu imstande ist, hat die Sicherheit, frei zu sein; es wird sich nie von einem Einzelnen oder von einer Gruppe versklaven lassen, nur weil diese die Zügel der zentralen Verwaltung ergreifen und führen können. Keine Bürokratie darf hoffen, daß sie ein solches Volk zu etwas bringen könne, was es nicht von sich aus will. Doch wo die Bürokratie alles tut, kann gegen ihren Willen gar nichts geschehen. Die Verfassung eines solchen Volkes ist die Organisation der Erfahrung und der praktischen Geschicklichkeit

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der Nation in einer disziplinierten Körperschaft, die dem Zweck dient, den Rest zu regieren, und je perfekter diese Organisation an sich ist, je erfolgreicher sie die Fähigsten aus allen Teilen der Gesellschaft an sich zieht und für sich heranbildet, desto vollständiger ist die Knechtschaft aller, die Mitglieder der Bürokratie eingeschlossen. Sind doch die Herrscher ebensosehr die Sklaven ihrer Organisation und ihrer Disziplin, wie die Beherrschten Sklaven der Herrscher sind. Ein chi nesischer Mandarin ist ebensosehr Werkzeug und Kreatur des Despotismus, wie der geringste Bauer es ist. Und der einzelne Jesuit ist bis zum äußersten Grad der Erniedrigung der Sklave seines Ordens, obgleich der Orden selbst nur aus der Gesamtmacht und dem Gesamtrecht seiner Mitglieder besteht. Es darf nicht übersehen werden, daß die Inanspruchnahme aller Hauptkräfte des Landes durch die regierende Körperschaft über kurz oder lang für die geistige Regsamkeit und die Fortschrittsfähigkeit der Organisation selbst gefährlich werden muß. Aneinandergekettet, wie sie sind – ein System betreibend, das wie alle Systeme zum größten Teil aus festgesetzten Regeln besteht –, stehen die Mit glieder jener Körperschaft in beständiger Gefahr, in öde Routine zu verfallen, oder, wenn sie einmal die Tretmühle leid sind, in blinder Überstürzung irgendeinem unüberlegten Einfall nachzujagen, der der Phantasie eines ihrer Leiter entstammt; und die einzige Hemmung für diese nah verwandten, nur scheinbar entgegengesetzten Tendenzen, die einzige Anregung, die die Leistungsfähigkeit dieser Organisation auf der Höhe halten kann, besteht darin, daß diese einer wachsamen Kritik ebenso tüchtiger Men schen verantwortlich ist, die außerhalb stehen. Darum ist es unbedingt nötig, daß es Mittel geben sollte, unabhängig von der Regierung solche Kräfte heranzubilden und sie mit den Möglichkeiten und der Er fahrung zu versehen, die zu einem korrekten Urteil in

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großen praktischen Angelegenheiten vonnöten sind. Wenn wir andauernd eine geschickte und leistungsfähige Beamtenschaft haben wol len, vor allem eine solche, die f ähig und willens ist, Verbes serungen zu schaffen und anzunehmen, wenn wir nicht wünschen, daß unsere Bürokratie zu einer Pedantokratie verkommt, dann darf diese Körperschaft nicht alle die Funktionen an sich reißen, die die Fähigkeiten zur Leitung der Menschheit formen und kultivieren. Eines der schwierigsten und kompliziertesten Probleme der Regierungskunst ist es, den Punkt zu bestimmen, wo die Übel beginnen, die für die Freiheit und den Fortschritt der Menschheit so verhängnisvoll sind, oder vielmehr, von wo ab sie beherrschend werden und die Wohltaten überwiegen, die aus der Anwendung der kollektiven Kraft der Gesellschaft erwachsen, mit der diese unter er probten Führern die Hindernisse zu überwinden strebt, die ihrem Wohlergehen im Wege stehen. Möglichst viel von den Vorteilen zu sichern, die aus der zentralisierten Macht und Intelligenz hervorgehen, und doch keinen allzu großen Teil der allgemeinen Tätigkeit in die Regierungskanäle abzuleiten, ist eine der schwersten und kompliziertesten Fragen der Staatskunst. Es ist in hohem Maße eine Frage der Details, man muß mannigfache Gesichtspunkte in Erwägung ziehen und kann keine absolute Regel zugrunde legen. Aber ich glaube, daß das praktische Prinzip, das für Sicherheit bürgt, das Ideal, das man im Auge behalten, der Grundsatz, an dem man alle Einrichtungen zur Überwindung der Schwierigkeiten messen muß, in den Worten enthalten ist: die größte Vertei lung der Macht, die mit ihrer Wirksamkeit noch vereinbar ist, aber die größtmögliche Zentralisation von Informationen und ihre Verteilung vom Zentrum aus. Auf diese Art wäre es wie in den Staaten Neuenglands: in der Gemeindeverwaltung fielen alle sehr ins einzelne bestimmten Ämter, die man nicht lieber den direkt Beteiligten überläßt, einer kleinen

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Zahl von Beamten zu, die lokal gewählt werden. Daneben aber würde in jeder Abteilung der örtlichen Verwaltung eine Zentralaufsicht als Zweig der allgemeinen Regierung bestehen. Wie der Brennpunkt die Strahlen, so würde diese Behörde die verschiedenen Informationen und Erfahrungen in sich vereinigen, die man an allen Orten mit einem bestimmten Zweig der öffentlichen Tätigkeit gemacht hat; man würde auch die Ergebnisse berücksichtigen, die von analogen Einrichtungen in fremden Ländern herrühren. Auch die allgemeinen Prinzipien der Staatswissenschaften müßte man in Betracht ziehen. Dieses zentrale Organ müßte berechtigt sein, von allem, was geschieht, Kenntnis einzuziehen, und seine besondere Pfl icht wäre es, Erfahrungen, die man an einem Ort gemacht hat, anderen zugänglich zu machen. Durch ihre erhöhte Stellung und ihren ausgedehnten Gesichtskreis wäre diese Behörde frei von den kleinen Vorurteilen und den engen lokalen Gesichtspunkten; so würde ihr Rat in hohem Ansehen stehen. Aber ihre tatsächliche Macht, als per manente Einrichtung, sollte darauf beschränkt sein, die Lokalbeamten zum Gehorsam gegen die zu ihrer Leitung erlassenen Gesetze anzuhalten. In al len Dingen, die nicht durch allgemeine Gesetze geregelt sind, sollten die Beamten ihrem eigenen Ermessen überlassen bleiben und nur ihren Wählern verantwortlich sein. Für die Verletzung jener Regeln aber sollten sie dem Gesetz verantwortlich sein, und die Vorschriften sollten von der Legislative erlassen werden. Die zentrale Verwaltungsbehörde hätte nur über deren Ausführung zu wachen, und wenn diese nicht befriedigend wäre, so müßte sie sich – je nach der Natur des Falles – entweder an die Gerichte wenden, damit sie dem Gesetz Geltung verschaffen, oder an die Wählerschaft, damit sie die Beamten ent lasse, die das Gesetz nicht seinem Geiste gemäß ausfüh ren. Dem entspricht in allgemeinen Zügen die zentrale Oberaufsicht, die die Behörde zur Durchsetzung

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der Armengesetzgebung (Poor Law Board) über diejenigen ausüben soll, die im Lande die Armensteuer (Poor Rate) verwalten. Die über jene Grenzen hinausgehenden Befugnisse dieser Behörde mögen in diesem besonderen Fall recht und not wendig gewesen sein, denn es galt, tiefverwurzelte Gewohnheiten einer schlechten Verwaltung auszurotten, die keine bloß lokale, sondern eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit war. Keine Gemeinde hat ja ein moralisches Recht, durch Mißwirtschaft zu einem Herd der Ar mut herabzusinken, der sich notwendig auch auf andere Gemeinden erstreckt und die ganze moralische und physische Lage der arbeitenden Bevölkerung verschlechtern muß. Eine Regierung kann nicht genug Aktivitäten ent falten, welche die individuellen Anstrengungen und die Entwicklung nicht hemmen, sondern fördern und anregen. Das Unheil beginnt erst da, wo sie – anstatt die Aktivität und die Kräfte Einzelner oder ganzer Körperschaften zu fördern – ihre eigene Tätigkeit an deren Stelle setzt, indem sie sie, anstatt sie zu informieren, zu beraten und, wenn nötig, zu tadeln, in Fesseln arbeiten läßt oder sie beiseite schiebt und die Arbeit selbst verrichtet. Der Wert eines Staates besteht schließlich aus dem Wert der Individuen, aus denen er sich zusammensetzt. Und ein Staat, der das Interesse an deren geistiger Entwicklung zurücksetzt hinter einem geringen Zuwachs an Verwaltungsgeschick oder dessen Anschein, der aus der Praxis in geschäftlichen Dingen erwächst – ein solcher Staat, der seine Menschen klein macht, damit sie –, sei es selbst für segensreiche Zwecke – fügsamere Werkzeuge in seinen Händen sind, ein solcher Staat wird schließlich einsehen, daß man mit kleinen Menschen nichts Großes ausrichten kann und daß die Perfektion der Maschinerie, der er alles geopfert hat, am Ende nichts wert ist, weil die lebendige Kraft fehlt, die er verbannt hat, damit die Maschine besser arbeite.

DATEN ZU LEBEN UND WERK

1806

Am 20. Mai wird John Stuart Mill in London geboren, als erster Sohn von James Mill, einem engen Freund und Mitstreiter des Utilitaristen Jeremy Bentham.

1809

Beginn der strengen Ausbildung durch seinen Vater nach den Maximen Benthams – der dreijährige John Stuart erhält Unterricht im klassischen Griechisch, der siebenjährig dann in Latein, etc.

1820

Einjähriger Studienaufenthalt in Frankreich im Hause Samuel Benthams.

1823

Eintritt als Clerk in die East India Company, in der er Karriere macht und die ihm bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1858 ein komfortables und gesichertes Einkommen garantiert und danach eine auskömmliche Pension.

1824

Erste journalistische Arbeiten.

1826

Schwere depressive Erkrankung.

1830

Beginn der Verbindung mit Harriet Taylor, der Ehefrau von John Taylor, mit der er von da an in enger Beziehung steht – persönlich und intellektuell. Die Beziehung galt in den gesellschaftlichen Kreisen als skandalös, war aber – jedenfalls bis zum Tod John Taylors – wohl eher platonischer Natur.

1836

Begründer und Herausgeber der London and Westminster Review (bis 1840). – Rezension des ersten Bandes von Alexander Tocquevilles De la démocratie en Amérique (1835); die Auseinandersetzung mit diesem Werk hat die Entwicklung seines Denkens nachhaltig beeinflußt.

1840

Rezension des zweiten Bandes von Tocquevilles De la démocratie en Amérique.

1843

A System of Logic, Ratiocinative and Inductive. London: John W. Parker and Son.

1844

Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy. London: John W. Parker and Son.

Daten zu leben und werk

165

1848

Principles of Political Economy. London: John W. Parker and Son.

1851

John Stuart Mill schließt die Ehe mit der langjährigen Freundin und seit dem Tod von James Taylor 1849 verwitweten Harriet Taylor.

1854

Beginn der Ausarbeitung seiner beiden Hauptwerke Utilitarianism und On Liberty.

1858

Beendigung der Tätigkeit für die East India Company und Tod seiner Ehefrau Harriet Taylor-Mill während eines Aufenthalts in Avignon.

1859

John Stuart Mill publiziert On Liberty und widmet den Essay seiner verstorbenen Ehefrau. London: John W. Parker and Son.

1861

Considerations of Representive Government. London: Parker, Son & Bourn; erste Publikation von Utilitarianism in Frazer’s Magazine.

1863

Utilitarianism. London: Parker, Son & Bourn.

1865

Auguste Comte and Positivism. London: Trübner; An Examination of Sir Hamilton’s Philosophy. London: Longmans, Roberts, and Green. – Wahl in das Parliament for Westminster und Wahl zum Lord Rektor der St. Andrews University.

1867

John Stuart Mill unternimmt – erfolglos – eine Gesetzesinitiative zur Einrichtung des Wahlrechts für Frauen.

1868

Verlust des Mandats im Parliament for Westminster.

1869

England and Ireland. London: Longmans, Green, Reader, and Dyer; The Subjection of Women. New York: D. Appleton & Co.

1873

Am 3. Mai stirbt John Stuart Mill in Avignon, wohin er sich zurückgezogen hatte, um in der Nähe der Grabstätte seiner Weggefährtin und späteren Ehefrau Harriet Taylor sein Leben zu beschließen.

1874

Posthum publiziert seine Stieftochter Helen Taylor 1873 Mills Autobiography, deren erste Niederschrift er 1853 verfaßte, und 1874 seine Three Essays on Religion, beide London: Longmans, Green, Reader, and Dyer.

BIBLIOGR APHIE

Die Auswahlbibliographie verzeichnet hauptsächlich Monographien mit einem engeren Bezug zum Essay On Liberty. Allgemeine Einführungen in Mills Philosophie, Studien zur biographischen Forschung sowie Publikationen zu anderen Schriften Mills sind dagegen nur in begrenztem Umfang aufgeführt. A. Verzeichnis der bisherigen Ausgaben (Auswahl) 1. Originalausgaben Mill, John Stuart, On Liberty. London: John W. Parker and Son, 1859. Mill, John Stuart, On Liberty. 2nd. ed. London: John W. Parker and Son, 1859. Mill, John Stuart, On Liberty. 2nd. ed. Boston: Tricknor and Fields, 1863. Mill, John Stuart, On Liberty. 3rd. ed. London: Longmans, Green, and Co., 1864. Mill, John Stuart, On Liberty. 3rd. ed. Boston: Tricknor and Fields, 1865. Mill, John Stuart, On Liberty. People’s Edition. London: Longmans, Green, and Co., 1865. Mill, John Stuart, On Liberty. People’s Edition. London: Longmans, Green, and Co., 1867. 2. Editionen des Essays On Liberty in Werkausgaben und Text sammlungen On Liberty. In: Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 18. Hrsg. von J. M. Robson und anderen. Toronto: University of Toronto Press, 1977. S. 213 – 310. John Stuart Mill, Three Essays. Hrsg. von R. Wollheim. Oxford und New York: Oxford University Press, 1975. John Stuart Mill, On Liberty and other Essays. Hrsg. von John Gray. Oxford und New York: Oxford University Press, 1991.

bibliographie

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3. Deutsche Übersetzungen John Stuart Mill, Über die Freiheit. Aus dem Englischen übersetzt von E. Pickford. Frankfurt: Sauerländer, 1860. John Stuart Mill, Die Freiheit. In: John Stuart Mill’s gesammelte Werke, Band 1. Autorisierte Übersetzung unter Redaction von Th. Comperz. Leipzig: Fues’s Verlag, 1869. John Stuart Mill, Über Freiheit. Aus dem Englischen übersetzt von David Haek. Leipzig: Reclam, o. J. John Stuart Mill, Die Freiheit. Übertragen und eingeleitet von Else Wentschler. Leipzig: Meiner, 1928. John Stuart Mill, Die Freiheit. Übersetzt und mit einer Einleitung hrsg. von Adolf Grabowsky. Zürich: Pan-Verlag, 1945. John Stuart Mill, Über die Freiheit. Übertragen und eingeleitet von Bruno Lemke. Heidelberg: Freiheit-Verlag, 1948. John Stuart Mill, Über Freiheit. Übersetzt und mit einem Anhang versehen von Achim von Borries. Frankfurt: EVA , 1969. John Stuart Mill, Über die Freiheit. Hrsg. von Manfred Schlenke. Stuttgart: Reclam, 1974. B. Werkausgabe John Stuart Mill, Collected Works of John Stuart Mill. Hrsg. von John M. Robson u. a. Toronto: University of Toronto Press, 1963 ff. C. Hilfsmittel 1. Bibliographien und Biographien Hascall, Dudley L. / Robson, John M., »Bibliography of Writings on Mill.« The Mill News Letter I (Fall 1965) through V (Spring 1970). Toronto: University of Toronto Press. MacMinn, Ney / Hainds, J. R. / McCrimmon, James McNab (Hg.), Bibliography of the Published Writings of John Stuart Mill (1945). New York: AMS Press, 1970. Capaldi, Nicholas, John Stuart Mill: A Biography. Cambridge: Cambridge University Press, 2004. Packe, M. St. John, The Life of John Stuart Mill. London: Secker and Warburg, 1954. Rinderle, Peter, John Stuart Mill. München: C. H. Beck, 2000.

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NA M ENR EGISTER

Akbar (arab.: Der Große), eigentl. Dschelal el Din Mohammed (1542 – 1605) 17 Alkibiades 89 Aristoteles 36 Arnold von Brescia 41 Barnwell, George (Held einer populären englischen Ballade) 115 Bentham, Jeremias 137 Calvin, Johannes 61, 87 f. Carlyle, Thomas 32 Cicero, Marcus Tullius 52 Comte, Auguste 21

Jesus 38, 45, 70, 72 Johnson, Samuel 40 Kant, Immanuel 152 Karl der Große 17 Karl II., König von England (1660 – 1685) 118 Knox, John 61, 89 Konfuzius 27 Konstantin 39 Locke, John 152 Luther, Martin 41 Marc Aurel 38 f. Maria I., Königin von England (1553 – 1558) 41

Dante, Alighieri 36 Elisabeth I., Königin von England (1558 – 1603) 41 Fichte, Johann Gottlieb 50 Fra Dolcino 41 Goethe, Johann Wolfgang 50 Humboldt, Wilhelm von 4, 81, 104, 146 ff., 153

Paulus 37, 69 Perikles 89 Platon 36, 63 f., 89 Rousseau, Jean Jacques 67 Savonarola, Girolamo 41 Sokrates 36, 46, 63 Stanley, Edward Henry Smith 126 Tocqueville, Alexis de 103