Belastungsstörung mit System: Die zweite Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen 9783666403439, 9783525403433, 9783647403434


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Belastungsstörung mit System: Die zweite Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen
 9783666403439, 9783525403433, 9783647403434

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403433 — ISBN E-Book: 9783647403434

Kölner Reihe – Materialien zu Supervision und Beratung

Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv)

Band 3 Rolf Haubl / G. Günter Voß / Nora Alsdorf / Christoph Handrich (Hrsg.) Belastungsstörung mit System Die zweite Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403433 — ISBN E-Book: 9783647403434

Rolf Haubl / G. Günter Voß / Nora Alsdorf / Christoph Handrich (Hg.)

Belastungsstörung mit System Die zweite Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen

Mit 25 Abbildungen und 8 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403433 — ISBN E-Book: 9783647403434

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40343-3 ISBN 978-3-647-40343-4 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Fernando Aguado Menoyo, Köln Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Einleitung Rolf Haubl und G. Günter Voß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Stichprobenmerkmale Saskia Maria Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Zum Wandel von Organisation und Arbeit

„Hetzen, hetzen, hetzen“ Permanente Veränderungen Ullrich Beumer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 „Macht mal, wie ihr es hinkriegt“ Führungskompetenz Benjamin Kahlert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 „Das kann man ja alles nicht messen“ Leistung und Erfolg Saskia Maria Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 „Gute Arbeit ist, wenn ich Anerkennung bekomme“ Professionalität und gute Arbeit Christoph Handrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Zur Selbstfürsorge der Arbeitenden

„Inseln schaffen …“ Praxis der Selbstfürsorge Rolf Haubl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 „Beschäftigte leiden darunter, wenn sie gezwungen werden, unprofessionell zu arbeiten“ Selbstfürsorge und intrinsische Arbeitsmotivation Rolf Haubl und Saskia Maria Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

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„Die Herzinfarkte sind alles Männer …“ Selbstfürsorge und Geschlecht Anke Kerschgens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 „Da würde ich mir um die Jüngeren im Moment mehr Sorgen machen“ Selbstfürsorge und Generation Nora Alsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Schutzfaktoren einer gesundheitsbewussten Organisationskultur Rolf Haubl und Saskia Maria Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 „Wer hat wann welche Verantwortung, wer hat wann welchen Einfluss?“ Supervision als Praxis der Selbstfürsorge Rolf Haubl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 „Früher gab es noch Puffer …“ Selbstfürsorge und Berufszufriedenheit von Supervisor/innen Julian Fritsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Hintergrunddiskurs

Subjektivierte Arbeit Ingo Matuschek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Subjektivierte Professionalität G. Günter Voß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Von Angst- bis Zwangsstörung Psychische Erkrankungen und ihre Verbreitung Cornelia Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Anhang

Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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Einleitung Rolf Haubl und G. Günter Voß

Unter dem Titel „Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision – Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit“ erschien 2011 der Ergebnisbericht einer von der Deutschen Gesellschaft für Supervision e. V. (DGSv) geförderten Studie zum „Innenleben“ von Organisationen in Deutschland. Basis war eine im Jahr 2008 durchgeführte Befragung der Mitglieder der DGSv zu ihren Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit den von ihnen beratenen Berufstätigen in wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Organisationen. Die damals präsentierten Ergebnisse lösten große öffentliche Aufmerksamkeit aus (die Süddeutsche Zeitung titelte etwa „Betriebliche Klimakatastrophe“). Es waren vor allem die Befunde zu einer verbreiteten Überforderung und erheblichen psychischen Belastungen bei Berufstätigen, die weithin registriert wurden. Die Forscher/innen konnten anfangs selbst nicht glauben, was ihnen da aus der Welt der Organisationen in Deutschland berichtet wurde – so etwa die Aussage einer erfahrenen Supervisorin „Das psychische Elend ist erschreckend“. Erst nach Auswertung der gesamten Datenbasis waren wir uns sicher, Indizien für eine ausgesprochen problematische gesellschaftliche Entwicklung gefunden zu haben, die auf eine zunehmend in ihren psychosozialen Folgen „Riskante Arbeitswelt“ hindeuten. Die Studie war eine der ersten, die auf eine deutliche Zunahme arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren hingewiesen hat. Dies wurde danach mehrfach auch von anderer Seite (vor allem von vielen Krankenkassen) registriert und ist unter dem Schlagwort „Burnout“ ein anhaltend in den Medien beachtetes Thema, dem sich inzwischen auch die Politik, viele Verbände (vom DGB bis zu den Kirchen) und auch erste Betriebe gezielt annehmen. Die Befragung half, das weit verbreitete Gefühl zu objektivieren, dass die Arbeitsbedingungen turbulenten Veränderungen unterliegen, die den Beschäftigten zwar auch Chancen für mehr Selbstverwirklichung bieten, aber überwiegend doch ein Risiko für ihr subjektives Wohlbefinden und mehr noch für ihre psychische Gesundheit sind. In der Summe hat dieser Pool von Untersuchungen dazu geführt, das Thema der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz auf die Agenda eines breiten öffentlichen Diskurses zu bringen und bis heute dort zu halten. Das vorliegende Buch berichtet von einer zweiten Untersuchung, mit der erneut die Mitglieder der DGSv dazu befragt wurden, wie sie drei Jahre später die Arbeitsbedingungen in wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Organisationen und deren Auswirkungen auf die Beschäftigten wahrnehmen. Die Grundlage dieser zweiten Erhebungswelle wurde gegenüber der ersten Welle erweitert, ebenso wurden vier neue Fragenkomplexe berücksichtigt:

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a Lassen sich anhand von Wiederholungsfragen markante Veränderungen der Arbeitsbedingungen seit 2008 feststellen? b Welchen Stellenwert haben Qualitätsstandards der Arbeit für die Arbeitnehmer/innen? (Professionalität) c Was tun Arbeitnehmer/innen, um sich an ihren Arbeitsplätzen (psychisch) gesund zu erhalten? (Selbstfürsorge1) d Wie weit ist Leistungsgerechtigkeit in Organisationen realisiert? Es fragt sich, wie gut Supervisor/innen2 auf eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen vorbereitet sind. Diejenigen, die wir befragt haben, wissen um die Herausforderungen für ihr professionelles Selbstverständnis und für ihre Supervisionstechnik. Zum einen sind sie Zeugen der Transformationen der spätmodernen Arbeitswelt, zum anderen können sie sich nicht darauf zurückziehen, diese Prozesse lediglich zu begleiten, da sie und ihre Profession selbst der Dynamik unterliegen, die sie bezeugen. So gesehen gilt es, die Frage „Was tun?“ offen zu halten. Manchmal ist nicht mehr möglich, als gemeinsam zu ertragen, was nicht verändert werden kann; in seltenen Momenten taucht am Horizont die Co-Vision einer Erwerbsarbeit auf, die nicht nur Selbstverwirklichung verspricht, sondern ihr Versprechen hält. Supervision ist kein starres Beratungsformat. Um hilfreich zu sein, wird es veränderten Arbeitsbedingungen und mit ihnen auch veränderten Arbeitnehmer/innen gerecht werden müssen. Damit ist keine blinde Anpassung an die in Organisationen herrschenden Verhältnisse gemeint, sondern die genaue Kenntnis dieser Verhältnisse, um spezifische Beratungsangebote machen zu können.

1 Wir haben uns entschieden, von „Selbstfürsorge“ zu sprechen und so das im angelsächsischen Gesundheitsdiskurs vertraute „self-care“ zu übersetzen. Die Alternative „Selbstsorge“ ist unserer Befürchtung nach zu eng mit der Theorie von Michel Foucault verbunden, der damit die insbesondere ästhetische Gestaltung der eigenen Lebensführung meint. Dass auch „Selbstfürsorge“ unerwünschte Assoziationen wecken kann, wird deutlich, wenn man den Begriff mit dem Fürsorge-Diskurs der Sozialarbeit in Verbindung bringt und als paternalistisch kritisiert. Diese Kritik versteht Selbstfürsorge als inkorporierten Fremdzwang. Das ist eine seiner möglichen Bedeutungen, wird von uns aber nicht als Grundbedeutung gesetzt. 2 Den Autor/innen wurde es freigestellt, eine Form des Genderns zu wählen, daher können diesbezüglich Variationen auftreten.

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Stichprobenmerkmale Saskia Maria Fuchs

Das Forschungsprojekt „Arbeit und Leben in Organisationen 2011“ ist eine Folgestudie zu den Mikroveränderungen in Non-Profit- und Profit-Organisationen, die durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) initiiert und 2008 erstmals ins Leben gerufen wurde. Die aktuelle Untersuchung stellt die zweite Erhebungswelle dar. Mit der Zielsetzung, Veränderungen im Befragtenverhalten erfassen und dokumentieren zu können, wurden die Supervisor/innen der DGSv wie in 2008 zu den (veränderten) Arbeitsbedingungen in Organisationen befragt. Wie in der ersten Studie besteht die Forschergruppe aus zwei lokalen Teilgruppen: einerseits dem Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, anderseits der TU Chemnitz unter der Leitung von Prof. Dr. G. Günter Voß. Beide Teilgruppen arbeiten wie auch in der letzten Untersuchung partiell in Kooperation, partiell in Eigenregie und haben ihre eigene – psychodynamischsystemische oder arbeits- und organisationssoziologische – Expertise. Die Forschergruppe ist dieses Mal in der Generationszusammensetzung stärker gemischt als 2008, weshalb das Interesse an generativen Fragen zugenommen hat. Dadurch gewinnt die Gruppe einen multiperspektivischen Blick auf die Arbeitsbedingungen.

Methodenfahrplan Die Herangehensweise der Forschergruppe basiert auf denselben methodischen Verfahren wie 2008 (vgl. Haubl 2011). Für die aktuelle Untersuchung wurden 30 themenzentriete Interviews sowie 4 Gruppeninterviews durchgeführt, jeweils mit non-direktiver Interviewführung. Ziel der Interviews waren erneut beispielhafte Erzählungen aus den Supervisionssitzungen der Befragten. Die Interviews wurden nach Maßgabe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet, wobei einige ausgewählte Sequenzen nochmals in Interpretationsgruppen analysiert worden sind. Nach der Auswertung der Interviews hat die Forschergruppe Hypothesen aufgestellt, die anschließend quantitativ überprüft wurden. Für die quantitative Erhebung ist ein Fragebogen erstellt worden, der im OnlineFormat auf eine gesonderte Homepage gestellt wurde. Der Online-Fragebogen war nach kurzen Anlaufschwierigkeiten bzgl. der Freischaltung insgesamt sechseinhalb Wochen (vom 26.08.2011 bis zum 11.10.2011) zugänglich. Die insgesamt 3600 Mitglieder der DGSv wurden durch ein Rundschreiben (Newsletter der DGSv) über die Erhebung und die Teilnahmemöglichkeit informiert. Jedes Mitglied erhielt einen individuellen Link, der mit dem Newsletter verschickt wurde. Mitgliedern, die über keine E-Mail-Adresse verfügen, wurde der Fragebogen auf postalischem Wege zugeschickt. Nach dieser Zeit-

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spanne lagen insgesamt 899 ausgefüllte Fragebogen (840 von 3250 per Online-Befragung; 59 von 350 per postalischer Befragung) zur weiteren statistischen Auswertung vor. Die Rücklaufquote liegt bei knapp einem Viertel (24,8 %) und ist im Vergleich zur ersten Erhebungswelle leicht gesunken (27,9 %), darf aber nach wie vor als gut gelten. Ein Teil der aktuellen quantitativen Untersuchung besteht aus Wiederholungsfragen aus dem Fragebogen von 2008, damit ein partieller Vergleich zwischen den beiden Erhebungswellen gezogen werden kann. Der Fragebogen lässt sich in folgende Abschnitte unterteilen: • Die Items des ersten Teilbereichs sind eine Auswahl an Wiederholungsfragen des ersten Fragebogens und beziehen sich auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer/innen. • Die weiteren Abschnitte des Fragebogens können den Themenschwerpunkten der Forschungsgruppen zugeordnet werden: „professionelles Handeln“ und „Selbstfürsorge“. • Der letzte Abschnitt bezieht sich auf das Thema „Gerechtigkeitseinstellungen der Supervisor/innen“. Der komplette Fragebogen umfasst 151 Fragen. Das Skalenniveau basiert auf einer fünf-stufigen Likert-Skala, die zusätzlich die Antwortmöglichkeit„kann ich nicht einschätzen“ aufweist. Statistisch mag kritisiert werden, dass eine höherstufige LikertSkala sinnvoller gewesen wäre, um beispielsweise bei sechs Stufen die Tendenz zur Mitte zu umgehen oder bei sieben Stufen deutlicher zwischen den Antwortmöglichkeiten zu differenzieren. Die Entscheidung, fünf Stufen zu verwenden, basiert auf der Annahme, dass auch hier eine angemessene Differenzierung möglich ist, und überdies die Mittelkategorie neutrale Einstellungen auffängt, anstatt die Angabe einer Tendenz zu erzwingen. Unabhängig hiervon wurde die fünf-stufige Skala in Anlehnung an den ersten Fragebogen und die Wiederholungsitems gewählt, um Verzerrungseffekte durch Irritationen zu vermeiden. Die Auswertung des Fragebogens erfolgt hauptsächlich mit dem statistischen Datenprogramm „IBM SPSS Statistics“ und teilweise mit dem statistischen Datenprogramm „Stata“. Die Daten wurden nach univariaten, bivariaten und multivariaten statistischen Verfahren ausgewertet. Die statistischen Befunde basieren für alle Rechnungen auf einem 1 %-Signifikanzniveau, falls nicht anders gekennzeichnet.

Selbstkritik Für die aktuelle Fragebogenuntersuchung ist zu vermerken, dass die Abbruchrate ausgesprochen hoch ist. Die sogenannten „Missing-Links“ weisen einen Prozentsatz von 20-30 % auf. Es ist zu beobachten, dass bestimmte Fragenabschnitte gehäuft zu einem Abbruch der Bearbeitung des Fragebogens führten. Diese Beobachtung dürfte mit dem gestiegenen Fragebogenumfang in Verbindung stehen: eine hohe Anzahl an

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Fragen und damit verbundene Bearbeitungsdauer können sich negativ auf Motivation und Aufmerksamkeit auswirken. Hohe Abbruchquoten sprechen in diesem Falle für Ermüdungserscheinungen bei den Befragten. Des Weiteren gibt die Subskala „Gerechtigkeitseinstellungen“ im letzten Abschnitt des Fragebogens eine Thematik vor, mit der die Supervisor/innen womöglich nicht gerechnet haben, sodass sie die Fragen nicht einzuordnen wussten. Als Einstellungsfragen politischen Inhalts sind sie zudem als sog. „sensitive Items“ aufzufassen – d.h., sie berühren Bereiche, in denen erfahrungsgemäß geringe Auskunftsfreudigkeit besteht. Das mag einen Teil der Supervisor/innen zur Nichtbeantwortung bewegt haben. Darüber hinaus wurden die Befragten bei den Gerechtigkeitsfragen größtenteils nicht als Experten der Arbeitswelt befragt, sondern zu ihrer persönlichen Einstellung, wodurch gleichsam ein Bruch zur Befragung mit dem vorherigen Teil des Fragebogens entstanden sein könnte. Ein weiterer Grund der Nichtbeantwortung der Fragen könnte der Leistungsbegriff sein, der bei Fragen zur Leistungsgerechtigkeit impliziert war. Supervisor/innen, die traditionell eher sozialkritisch einzustufen sind, könnten assoziative Begleitvorstellungen des Leistungsbegriffes, wie „Leistung aus Leidenschaft“, ein Slogan der Deutschen Bank, oder wie „Leistung muss sich wieder lohnen“ aus dem Wahlprogramm der FDP 2009, veranlasst haben, nicht zu antworten, um sich politisch bedeckt zu verhalten. Selbstkritisch ist eingeräumt, dass kein Pre-Test durchgeführt wurde, der auf einige dieser Punkte möglicherweise hingewiesen hätte. Zudem bleibt zu überlegen, ob in einer zukünftigen, dritten Erhebungswelle eine Reduzierung der Itemzahl vorgenommen werden sollte, um die Abbruchrate zu verringern.

Wer sind die Supervisor/innen, die an der Untersuchung teilgenommen haben? Die vorliegenden Daten ergeben, dass die Stichprobe für die Supervisor/innen der DGSv repräsentativ ist, da sich im Vergleich zu einer Mitgliederbefragung der DGSv vom September/Oktober 2009 eine übereinstimmende Verteilung ergeben hat. 44,3 % der Supervisor/innen nahmen bereits an der ersten Erhebungswelle im Jahr 2008 teil. In der Stichprobe sind 63,9 % der Befragten weiblich, etwas mehr als ein Drittel (34,8 %) männlich, während 1,2 % der Supervisor/innen keine Angaben gemacht haben. Das durchschnittliche Alter der Supervisor/innen beträgt 54,8 Jahre, wobei sich die Altersspanne von 28 bis 82 Jahre erstreckt. Wird die Altersverteilung nach Geschlecht betrachtet, zeigt sich, dass die Frauen im Durchschnitt jünger sind als die Männer (53,8 Jahre zu 56,6 Jahre). Es kann festgehalten werden: Supervision wird eher von Frauen betrieben und der Beruf ist gegenwärtig überaltert – wird das Durchschnittsalter der Supervisor/ innen mit dem durchschnittlichen Alter der deutschen Bevölkerung im Jahr 2011 verglichen, zeigt sich, dass die Supervisioren/innen deutlich älter sind als der Bevölkerungs-

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Belastungsstörung mit System *HVFKOHFKW  

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durchschnitt (44,9 zu 54,8 Jahren). Dieser Sachverhalt macht die Dringlichkeit deutlich, die Nachwuchsfrage auf die Agenda des Berufsverbandes zu setzen.

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Lösungsorientierte Männer und reflexive Frauen? Ein überraschender Befund ist, dass etwas mehr als die Hälfte der Befragten (51,4 %) ihre grundlegende supervisorische Haltung als eher lösungsorientiert und Verhalten modifizierend beschreibt. Dies ist aufgrund des tradierten Selbstverständnisses der DGSv interessant, die die Haltung ihrer Mitglieder bisher eher als reflexiv und Sinn verstehend begreift. Supervision wird demnach als eine Profession gesehen, die der Schaffung, Behauptung und Sicherung reflexiver Räume in Organisationen dient. 48,6 % der Supervisor/innen teilen dieses Selbstverständnis. Die Vermutung, dass die supervisorische Haltung in Bezug zur Felderfahrung, zum Geschlecht und Alter steht könnte, liegt nahe. So wäre zu vermuten, dass ältere Supervisor/innen eher reflexiv Sinn verstehend orientiert sind, während die jüngeren eher einen lösungsorientierten Ansatz verfolgen. Ein Zusammenhang zwischen der supervisorischen Haltung und dem Geschlecht oder dem Alter lässt sich statistisch aber nicht zeigen, sodass davon ausgegangen werden darf, dass die supervisorische Haltung der Supervisor/innen geschlechts- und altersunabhängig vorkommt.

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Historisch ist die Supervision eher in Non-Profit-Organisationen etabliert und deshalb überrascht es nicht, dass nur knapp ein Siebtel der Supervisor/innen (14,6 %) der Stichprobe angeben, dass sie beträchtlich bis überwiegend in Profit-Organisationen arbeiten. Wird die kreuztabellierte Verteilung zwischen der grundlegenden supervisorischen Haltung und der Felderfahrung der Supervisor/innen betrachtet, zeigt sich ein signifikanter Unterschied. Demnach ist eine lösungsorientierte und Verhalten modifizierende Haltung eher bei Supervisor/innen festzustellen, die beträchtlich bis überwiegend in Profit-Organisationen tätig sind (63,8 %), im Vergleich zu denjenigen, die eine geringfügige oder überhaupt keine Felderfahrung in Profit-Organisationen haben (49,3 %). Zu vermuten wäre, dass die Supervisor/innen ihre supervisorische Haltung dem jeweiligen Organisationstyp anpassen, in dem sie tätig sind.  





  





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Während die supervisorische Haltung geschlechts- und altersunabhängig vorkommt, sind es die Einsatzbereiche keineswegs: Männer arbeiten eher in Profit-Organisationen. Zwischen dem Anteil der Frauen, die beträchtlich bis überwiegend in Profit-Organisationen tätig sind (11,2 %), und dem entsprechendenAnteil unter den Männern (20,6 %) besteht ein signifikanter Unterschied. Auf Basis der erhobenen Daten ist es folglich wahrscheinlicher, in Profit-Organisationen einen Mann und in Non-ProfitOrganisationen eine Frau als Supervisor/in anzutreffen. Supervisor/innen: Experten der Arbeitswelt Eine Besonderheit der Supervisor/innen ist ihr privilegierter Zugang zur Alltagswirklichkeit von Arbeitnehmer/innen und deren beruflichem Handeln in Organisationen. Anhand der Daten kann diese Annahme verdeutlicht werden: 82,8 % der Supervisor/ innen sind seit mehr als fünf Jahren als Supervisor/in tätig, sodass den Supervisor/ innen in der Umfrage eine fundierte Erfahrung und ein geschulter Blick attestiert werden darf. Für ihre Expertise spricht weiterhin, dass über zwei Drittel der Supervisor/ innen (69,7 %) ihre Aufträge als langlaufende Prozesse beschreiben. Allerding gibt nur knapp ein Drittel der Befragten (29,5 %) an, dass sie den größten Teil ihres Einkommens mittels Supervision erwerben. Demnach üben mehr als zwei Drittel von ihnen (70,5 %)

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neben ihrer supervisorischen Tätigkeit noch weitere Tätigkeiten aus, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass in den Interviews mit den Supervisor/innen eher der Begriff „Beratung“ anstelle von „Supervision“ zur Beschreibung der eigenen Tätigkeit gewählt worden ist. „Beratung“ könnte als eine „Mehrsprachigkeit“ verstanden werden, in dem Sinne, dass die Supervisor/innen über ein vielfältiges Interventionsangebot verfügen. Es darf vermutet werden, dass sie ihr Repertoire fallspezifisch gestalten, um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren. Knapp ein Viertel der Befragten (23,8 %) schätzt sein Einkommen als „zu wenig“ ein. Eine Teilgruppe der Supervisor/innen ist mit ihrem Einkommen also offensichtlich nicht einverstanden bzw. unzufrieden. Unklar bleibt, worauf die Supervisor/innen ihren Eindruck gründen, dass sie zu wenig verdienen. Hinweise hierauf lassen sich finden, wenn die Einschätzung über das Einkommen mit Geschlecht und Alter in Zusammenhang gesetzt wird. Es zeigt sich, dass die Einschätzung, ob das Einkommen angemessen oder zu wenig ist, geschlechtsunabhängig, jedoch nicht altersunabhängig variiert: die unter 54jährigen Supervisor/innen schätzen ihren Verdienst signifikant eher als „zu wenig“ ein als diejenigen, die 54 Jahre und älter sind. Woran mag das liegen? Es lassen sich Verlaufsrichtungen des Zusammenhanges in Bezug auf das Geschlecht und das Alter sowie zwischen der Felderfahrung und der Einschätzung des Einkommens aufweisen. Die Männer sind eher über 54 Jahre alt (61,9 %), während die Frauen signifikant eher jünger als 54 Jahre alt sind (53,7 %). Des Weiteren geben die Supervisor/innen, die beträchtlich bis überwiegend in Profit-Organisationen arbeiten, signifikant seltener an, dass sie ihr Einkommen für „zu wenig“ einschätzen (14,9 %), als diejenigen, die geringfügig bis überhaupt nicht in Profit-Organisationen arbeiten (25,3 %)1. Die statistischen Befunde machen überdies deutlich, dass die Preisbildung für Supervision eine entscheidende Bedeutung für die Einschätzung des Einkommens der Supervisor/innen hat. Denn Supervisor/innen, die angeben, dass sie zu wenig verdienen, sind eher im Non-Profit-Bereich tätig. Dieser Zusammenhang kann als Hinweis auf einen ideellen Richtungswechsel gedeutet werden – offenbar reicht der moralische Profit, der Ungleichheiten im Verdienst akzeptiert, nicht aus und ist nicht länger gültig. Zukunftsbezogen könnte unterstellt werden, dass die nachkommenden Generationen von Supervisor/innen ihre Berufswahl eher nach den monetären Bedingungen ausrichten als frühere Generationen. Dass das bislang nicht geschehen ist, könnte ein Grund für das Nachwuchsproblem in der Supervision sein. Da in der Supervision keine fixen Honorare vorkommen, kann auch der Zusammenhang bestehen, dass erfahrene Supervisor/innen mehr verdienen als unerfahrene. So gibt nur knapp ein Fünftel der über 54jährigen Supervisor/innen (18 %) an, dass sie ihrer Ansicht nach zu wenig verdienen; bei den Jüngeren wird diese Ansicht von knapp einem Drittel

1 Diese Verlaufsrichtung basiert auf dem 5 %-Signifikanzniveau eines Chi-Quadrat-Testes.

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(30 %) vertreten. Es stellt sich die Frage, ob der Unterschied auf dem Sachverhalt beruht, dass Supervision sich über Erfahrung definiert und die Jüngeren sich die Erfahrung erst „verdienen“ oder aber, ob sich die Jüngeren mit einer vermehrt prekären Arbeitssituationen zurecht finden müssen. Helfer aus der Not? Allgemein wird diskutiert, dass die Berufswahl bei sozialen Berufen nicht selten von lebensgeschichtlichen Krisen mit bestimmt wird. In der Stichprobe wurden die Supervisor/innen deshalb zu ihrer Selbstwirksamkeit und ihrem Lebensschicksal befragt. Ein erheblicher Teil der Supervisor/innen (82,8 %) gibt an, dass es „das Leben gut mit ihnen gemeint [hat]“, und widerspricht damit der Ausgangsthese. Eine Lebensgeschichte, die von unbewältigten Konflikten und Traumata geprägt wäre, würde nicht so positiv betrachtet. Zudem geben fast neun von zehn Befragten (87,1 %) an, dass sie „das Beste aus ihren Möglichkeiten gemacht haben“. Die Befragten schätzen ihr Leben positiv ein und schreiben sich eine hohe Selbstwirksamkeit zu, weil sie motiviert und engagiert ihr Leben in die Hand nehmen. Sind Supervisor/innen folglich eine andere helfende Berufsgruppe als etwa Psychotherapeuten, denen gern ein „Helfer-Syndrom“ attestiert wird? ,FKKDEHGDV %HVWHDXVPHLQHQ 0|JOLFKNHLWHQ JHPDFKW

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In diesem Zusammenhang wäre weiterführend zu prüfen, ob die Haltung zum Leben in Zusammenhang mit der allgemeinen supervisorischen Haltung steht. Statistisch sind die Gruppen jedoch zu homogen, sodass sich weitere statistische Auswertungen verbieten. Zudem wäre es interessant, in Tiefeninterviews mit Supervisor/innen stärker auf deren biographischen Werdegang einzugehen. Ganz unabhängig hiervon besteht die Möglichkeit, dass der Befund lediglich Ergebnis eines Verzerrungseffektes aufgrund sozialer Erwünschtheit ist.

Fazit Zusammengefasst ergibt sich ein sehr facettenreiches Bild von Supervision. Supervisor/ innen könnte man als „Allrounder“ in der Beratungswelt bezeichnen, die situationsflexibel agieren. Die Arbeitswelt hat seit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. eine turbulente Entwicklung genommen, die auch vor der Supervision nicht Halt macht. Die Supervisor/innen haben nicht nur mit gesellschaftlichen

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Veränderungen umzugehen, sondern die Supervision selbst befindet sich in einer Umbruchsituation, in der der Berufsverband aufgefordert ist, eine zukunftsfähige Position zu entwickeln.

Zum Weiterlesen Haubl, R. (2011): Forschungsprozess und Methodenfahrplan der Untersuchung. In: Haubl, R., Voß, G. G. (Hrsg.): Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit (S. 8-10). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Zum Wandel von Organisation und Arbeit

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„Hetzen, hetzen, hetzen“ Permanente Veränderungen Ullrich Beumer

Digitalisierung, Internationalisierung, Hybridisierung der Organisationsgrenzen und eine zunehmende Individualisierung der Arbeit stellen Menschen und Organisationen seit geraumer Zeit vor neue Flexibilitäts- und Stabilisierungsanforderungen. Dementsprechend zunehmende Entgrenzungsprozesse, steigender Effizienzdruck, Beschleunigung des Veränderungstempos und eine damit einher gehende Subjektivierung der Arbeit – mit diesen Stichwörtern ließen sich die Veränderungsprozesse auch aus Sicht der Supervisor/innen in der ersten Studie „Arbeit und Leben in Organisationen 2008“ beschreiben. Gilt diese Diagnose immer noch oder haben sich die Organisationen in den vergangenen drei Jahren, die zwar immerhin ein relativ kurzer Abstand sind, die aber auch die Zeitspanne nach der globalen Finanzkrise darstellen, weiter verändert? Dieser Frage soll im Folgenden anhand einiger ausgewählter Befunde und Themenstellungen aus der zweiten Untersuchung nachgegangen werden. Dabei wird auf ein in der Führungs- und insbesondere Change-Management-Praxis gängiges Unterscheidungsmerkmal zurückgegriffen, nach dem in solchen Veränderungsprozessen immer drei zentrale Bereiche des Organisationsgeschehens aus Führungsperspektive, nämlich die Strategie und die Struktur der Organisation sowie die Organisationskultur, zu berücksichtigen sind. Bewegen sich Prozesse der ersten beiden Bereiche vorwiegend im manifesten, psychodynamisch gesehen bewusst zugänglichen Bereich, so gehören auf der anderen Seite wesentliche Elemente der Organisationskultur eher zu einem latenten Teil des Organisationsgeschehens, der als „weicher Faktor“ nur indirekt zugänglich ist.

Die Veränderungen und die „normale Verrücktheit“ in Organisationen Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Diagnose des Jahres 2008 noch immer Gültigkeit beanspruchen kann und in Organisationen ein unveränderter Druck zu beobachten ist. Neben den bereits aufgezählten Phänomenen sind Prozesse der ökonomisch bedingten Einschränkung und damit einhergehend eine Verdichtung von Arbeitsprozessen ein wichtiges Element der wahrgenommenen Veränderungen: „Und das ist dann budgetiert worden, so dass einfach nur noch ein bestimmtes Maß an Geld einfach ausgegeben werden kann. Was einfach heißt, dass dann die Betreuungszeiten komprimiert werden müssen und die Leuten schwieriger, mehr Schwierigkeiten haben in einem längeren Zeitraum – z. B. bei Leuten in der Jugendhilfe ist es

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manchmal einfach sinnvoll da wirklich mehrere Jahre ja auch eine kontinuierliche Begleitung einzugehen. Und das ist dann schwieriger geworden.“ (C GD 2)1 Dementsprechend sagen 88 % der Supervisor/innen, dass die Arbeitsintensität auch im Vergleich zur vorhergehenden Untersuchung unverändert hoch ist und die Beschäftigten offensichtlich unter einem erheblichen Zeit- und Leistungsdruck stehen. 'LH%HVFKlIWLJWHQHPSILQGHQ]XQHKPHQGHLQHQ=HLWXQG /HLVWXQJVGUXFNGHUVLHEHUIRUGHUW  

 















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Dieser Druck äußert sich zunächst vor allem als ständiger Zeitdruck: „Also ich finde auch das Thema Zeitdruck ist permanent vorhanden. Ich hab so das Gefühl, die Teams sind immer am Hetzen, die hetzen, hetzen, hetzen, hetzen und es kommt so ein Gefühl: Ich bin eigentlich nie mit irgendwas richtig fertig, da liegt immer noch so was, äh, da liegt immer noch was, was nicht abgearbeitet ist.“ (C GD 1) Wirksame Veränderungen werden vor allem danach beurteilt, ob sie sich ökonomisch auszahlen. Diese Ökonomisierung oder – wo dies wie im sozialen Bereich aufgrund des Subventionscharakters nur begrenzt möglich ist – Fixierung auf vermeintlich Zählbares sind die beiden großen Orientierungspunkte aller Veränderungsprozesse: Diese aus den qualitativen Interviews gewonnene Einschätzung wird durch die Zahlen aus der Fragebogenuntersuchung bestätigt: So stimmen immerhin 30,7 % der Aussage voll und ganz und weitere 44,3 % eher zu, dass ökonomische Zwänge das Handeln in Organisationen bestimmen. Diese Aussage gehört zu denjenigen, bei denen im Vergleich zur Voruntersuchung allerdings eher eine leichte Entspannung zu beobachten ist, da in der Studie aus dem Jahr 2008 noch 83,5 % dieser Behauptung zugestimmt haben.

1 Die Zitate stammen aus der aktuellen Erhebungswelle. Der Anfangsbuchstabe steht für Arbeitsgruppe, die das Interview bzw. die Gruppendiskussion (GD) durchgeführt hat: F = Frankfurt, Sigmund-Freud-Institut C = Chemnitz, TU Chemnitz

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Auf der einen Seite kann durchaus der Eindruck entstehen, dass die starke Projektorientierung der Organisationen als Ausdruck zeitlich begrenzter und sich ständig wandelnder Zielsetzungen, Strukturen, Rollen und Prozesse inzwischen das Grundprinzip ihrer Arbeitsweise ist. In der Wahrnehmung der Supervisor/innen hat sich andererseits überraschend die Kurzfristorientierung mancher Maßnahmen oder anderer strategischer Entscheidungen durch Organisationsleitungen und Führung leicht verringert. So stimmen dieser Aussage nur noch 43,5 % eher bzw. voll und ganz zu, während dies im Jahre 2008 noch mehr als 58 % so wahrgenommen hatten. Dies mag verschiedene Gründe haben, möglicherweise gibt es einen Gewöhnungseffekt, es kann aber auch sein, dass die Hektik der Change-Prozesse und der Druck zum schnellen Handeln ein wenig nachgelassen haben. In den Interviews spielt neben dem höheren Druck das Phänomen der Entgrenzung der Arbeitsprozesse und –strukturen eine zunehmende Rolle, vor allem die Aufhebung der klassischen Grenzen zwischen beruflich und privat bzw. Arbeit und Freizeit: „Ja, da gab es eine klare Trennung und diese klare Trennung gibt es so nicht mehr. Und sie hat sich nochmal verschärft, diese klare Trennung, durch das, durch den Computer, weil ich nehm sogar meinen Arbeitsplatz mit nach Hause – und muss mir überlegen, ob ich in der Lage bin, um 18:30 Uhr diesen Computer auszumachen. Also wir können das jetzt beliebig erweitern.“ (C GD 1) Diese Aussage gilt sowohl für den Profit- als auch für den Non-Profit-Bereich: „Es ist ganzheitlich und die Kindergärtnerin hängt halt abends nicht mehr ihren Mantel ab, sondern die muss sich halt auch abends zuhause oder so Gedanken machen, wer da gerade noch anruft oder was da noch passiert, dass das irgendwie mehr zusammen muss, damit man diesen veränderten Bedingungen auch überhaupt gerecht werden kann.“ (C GD 1) „Was hat sich verändert? Eigentlich alles.“ (C GD 2) Die Aussage, eigentlich habe sich alles verändert, beschreibt vermutlich weniger eine manifeste Realität, sondern eher ein subjektives Gefühl als Reaktion auf die Entwicklung, die Organisationen in den vergangenen Jahren durchlaufen haben. Die beschriebenen Veränderungen sind dabei nicht nur durch externe Einflüsse verursacht, sondern häufig Ergebnis gezielter und regelmäßig als notwendig erachteter Change-

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Managementprozesse, die in den Unternehmen durch die Führung initiiert werden. Waren solche Maßnahmen vor einigen Jahren noch eine Innovation für die Beschäftigten, so ist inzwischen das Arbeiten unter Change-Bedingungen Alltag geworden: „Also es gibt, ähm, ich – ich würde jetzt fast mal sagen, dass es vielleicht vor 10 Jahren noch also bei – also wenn da bestimmte Change-Prozesse angeleiert wurden oder Reorganisation oder wie es immer hieß, war das Entsetzen oder der Staub, der aufwirbelte wurde sehr groß und auch die die persönliche Betroffenheit zum Teil. Da, da find ich, hat sich etwas verändert, dahin gehend, dass man das jetzt fast schon gewohnt ist.“ Die durch Change-Prozesse angestoßenen und aufgenommenen Veränderungen in der Arbeitsorganisation sind Gewohnheit geworden und werden von den Beschäftigten routiniert mitgetragen, ertragen oder abgewickelt, ohne dass dies größere Verunsicherungen auslöst: „Also – die, die – es vermehren sich die Menschen, die also, die schon zwei, drei Wellen mitgemacht haben und die sich eine andere Haut – also die ist gewachsen, also die haben die sich gar nicht antrainiert, also die merken – also die merken: Morgen geht die Welt unter. Aber da wir das schon dreimal hatten, äh, könnte es sein, dass ich trotzdem überlebe.“ (C 15) Die in den vergangenen Jahren durchgeführten Veränderungen der Arbeitsstrukturen, Rahmenbedingungen und Prozessabläufe haben sich in diesem Sinne häufig komplett abgelöst von Fragen der professionell guten oder sinnvollen Arbeit: „Die Mitarbeiter, die jetzt schon Juxe drüber machen und sagen: ‚Bei uns wird auch alle vier Wochen umstrukturiert‘. Die sagen irgendwann mal: ‚Leute, ihr habt doch nicht alle Tassen im Schrank! Also, können wir mal einmal überhaupt erst mal die letzte Veränderung überhaupt erst mal richtig einführen, bevor wir die nächste machen.‘ So. Die haben den Kaffee richtig auf zum Teil, weil die sagen: ‚Es wird dauernd über Veränderungen gesprochen. Es werden dauernd Veränderungen gemacht. Es wird dauernd alles durcheinander gewürfelt. Können wir denn irgendwann mal unsere Arbeit machen?‘ (C 14) So hat die Häufigkeit der Change-Maßnahmen auch zu Glaubwürdigkeitsverlusten geführt: „… dass in manchen Unternehmen permanent umstrukturiert wird und zwar manchmal in einer solchen Taktung, dass die Mitarbeiter, die dann auch davon betroffen sind, inklusive der Führungskräfte, das manchmal selber nicht mehr wirklich ernst nehmen.“ (C 13) Vermutlich wird das Anstoßen von Veränderungen nicht immer als sachlich begründet angesehen, sondern ist zum Ritual geworden, das möglicherweise eher einer Selbstdarstellung der Führung dient, als dynamisch und veränderungsorientiert zu sein. Dabei kommt es zu Veränderungen, die den Ausgangszustand wieder herstellen: „Also werden – da wird eine Akademie für die eigenen Mitarbeiter outgesourct vor 10 Jahren und dann wird es wieder reingeholt, so. Und so, das ist nur als Beispiel und so passiert das vielfach.“ (C 13)

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Change-Prozesse verlieren auf der einen Seite vom Ergebnis her gesehen an Sinn und Akzeptanz, gleichzeitig sind sie ein Faktor geworden, der die gewonnene Effizienz selbst wieder in Frage stellt: „Was bedeutet es, wenn sich auch viel verändert? Also gerade im z. B. Projektebereich, wo es, wo es so schnelllebige Strukturen gibt. Wo es wenig kontinuierliche Arbeitsstrukturen gibt. Wo es befristete Verträge ist. Es geht ganz viel der eigentlichen Arbeitszeit in diese Arbeit der Strukturschaffung so, statt in die eigentliche Arbeit, die jeweils eben der Casemanager, irgendwie der Chef, sonst wer gegeben hat, ähm, die Arbeit am Klienten.“ (C GD 2) Da viele Organisationen sich im Konkurrenzkampf behaupten müssen, um zu überleben, schaffen Sie interne Strukturen, von denen sie annehmen, dass sie ökonomisch wirksam sind und zwar ohne Rücksicht auf die Qualität der Arbeit oder der kollegialen Beziehungen. „Genau. Das heißt die Welt der Zahl wird einfach nochmal stärker und nicht die Welt der Fachlichkeit oder der Beziehungsarbeit.“ (C GD 2) Dazu gehört auch die gezielte Förderung von Konkurrenz unter den Mitarbeiter/ innen durch entsprechende, meist ökonomisch gestaltete Anreizsysteme, die zu einer Verschlechterung der Kollegialität und der Beziehungen führt: „Es gibt keine Verlässlichkeit mehr, keine, keine verlässlichen Beziehungen mehr, ähm, auf der – in dem Beispiel, was ich vorhin nannte, im schulischen Bereich. Ja, das kann man wirklich für alle Ebenen sagen: Es gibt keine verlässlichen Beziehungen mehr [...] Und das, ähm, das hat alle möglichen Folgen.“ (C GD 2) Interessant erscheint dabei, dass dieser zunehmende Druck in Profit- und Non-ProfitOrganisationen unterschiedlich ausgeprägt ist. Während man geneigt sein könnte, diese Zunahme der Anforderungen und Bedrohungen eher im Bereich von Wirtschaftsunternehmen zu vermuten, berichten die Supervisor/innen, dass vor allem im Non-ProfitBereich die Anforderungen besonders hoch sind, was auch dadurch gefördert wird, dass hier Einsparungen und Ressourcenkürzungen deutlicher zu Buche schlagen: „Weil man kann, also wenn man vernünftig denkt, eigentlich nicht mehr davon reden, dass der Non-Profit-Bereich ein Non-Profit-Bereich ist. Das ist ja völlig absurd. Dann würde kein Unternehmen, wie die Freie Wohlfahrtspflege – die könnten den Laden dicht machen, wenn sie nicht unter Profitgesichtspunkten, äh, auch ihre Institution führen würden.“ (C GD 1) Veränderte soziale, ökonomische und politische Bedingungen erfordern Neuausrichtungen für alle Organisationsformen. Im Zuge der vollzogenen Veränderungen gleichen sich offensichtlich die verschiedenen Organisationskulturen einander an. Gleichzeitig wachsen die Anforderungen auf Seiten einer schwieriger gewordenen Klientel, und eigentlich wäre aus professioneller Perspektive eine Ressourcenverbesserung nötig, um weiterhin gute Arbeit leisten zu können: „Und die Bedingungen, also wenn man jetzt den sozialen Bereich nimmt, die sind ja, äh, anstrengender geworden, also die Geldmittel sind extrem knapp, ähm, es gibt

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seitens der Gesetzgebung gibt es eine Regulierung, dass [so etwas] wie Wettbewerb eingeführt wird. Das sind völlig neue Bedingungen, und dann kommt auch dieser Moralaspekt dazu und plötzlich ist ein Unternehmer dort in der Situation, dass er eben solche Verträge mit seinen Mitarbeitern macht, dass er Ausgründungen macht und die für, was weiß ich, 80 % des vorherigen Gehaltes einstellt, um das hinzukriegen. Das ist ein, also ein echtes Dilemma ja auch und dann auch noch auf, glaub ich, auch vor dieser Ambivalenz innerhalb der Gesellschaft, also wie sie sagen, dass es in der Tat auch ganz anders bewertet wird – natürlich sind das dann auch die Bösen, die das tun. Gleichzeitig sind sie aber auch in der Notsituation, um dieses Unternehmen zu halten.“ (C GD 1) Dabei gerät die Führung in Dilemmata, wie sie die beiden Kulturen miteinander verbinden kann: „Und viele oder einige jedenfalls spielen diese Rolle des Unternehmers, sind aber – sind aber möglicherweise nicht mental auf der Ebene eines Unternehmers. Also da kippt etwas – da kippt etwas, indem sich Einer aus seiner moralischen Kategorie befreien will und so tut, als, als wenn er nur Geld umsetzen muss, um Unternehmer zu sein. Das ist aber noch nicht alles und das ist, glaub ich, die Falle in die Ehlert [Sozialarbeiter in Berlin, dem sein Lebensstil in der Presse zum Vorwurf gemacht wurde] gelaufen ist, hier in Berlin, also der Maseratifahrer.“ (C GD 1) In Unternehmen, besonders in größeren, die Teil eines Konzerns sind, bleiben aber durchaus große Freiräume, teilweise wird von personellen und finanziellen Ressourcenverschwendungen berichtet, wenn zum Beispiel Projekte begonnen, aber aus politischen Erwägungen nicht umgesetzt werden. Der in politischen Diskussionen erweckte Eindruck, Wirtschaftsunternehmen seien ein Ort besonders effizienter und kostenorientierter Arbeitsweise und Strukturen, erscheint in diesem Licht eher als Ideologie. Große Unternehmen bieten in weiten Teilen den Mitarbeiter/innen inzwischen auf Grund ihrer wirtschaftlichen Kraft eher geschützte Räume, als dies in sozialen und gemeinnützigen Organisationen der Fall ist: Es bestehen Phantasien über die Realität von Wirtschaftsunternehmen, die bei näherem Hinsehen einer Prüfung nicht standhalten: „Die Gewinnspannen sind so riesig, und da habe ich–, auch im Lauf der Zeit hat sich so mein Bild auch verändert. Wenn heute manchmal grade Leute kommen aus dem Sozialbereich und sagen, in der Wirtschaft wäre das völlig unmöglich, was bei uns passiert, dann denke ich manchmal und manchmal sage ich es auch, ‚wenn ihr mal wüsstet‘. Also weil da tatsächlich–, das ist unvorstellbar, was da an wirtschaftlichem Verschleiß in Kauf genommen wird, und das ist in den Gewinnspannen offensichtlich drin. Normalerweise müsste man denken, die Unternehmen wären längst pleite, sind sie aber nicht. Das ist ein Phänomen, und da sage ich mal, da stehe ich eher so ein bisschen (lacht) außen vor. Und wenn ich das mal vergleiche mit den [Beratungs-] Kunden, die aus diesen kleineren Unternehmen kommen, das mache ich auch–, ich sage mal, vor allem wenn es drum geht, dass da Geschäftsleitungen kommen, das mache ich richtig gerne, weil bei denen ist es tatsächlich so, wenn da irgendwo so ein Gefühl

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[…], jetzt muss das sofort repariert werden, weil das würden die nicht überleben. Das würden die nicht überleben, das könnten sie sich nie und nimmer leisten, so einen Kappes.“ (F 14) Insgesamt hat sich in den Organisationen die Dynamik permanenter Veränderungen festgesetzt, sie hat offensichtlich ihre als positiv wahrgenommenen Seiten, aber die Schattenseite dieser Entwicklungen bleibt unübersehbar: So stimmen 91,1 % der Supervisor/innen der Aussage zu, dass die psychophysischen Belastungen der Arbeitswelt zugenommen bzw. stark zugenommen haben. 3V\FKRSK\VLVFKH%HODVWXQJHQ«  





   



 

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Dies ist eine überraschend deutliche Einschätzung, der Wert liegt in der aktuellen Befragung sogar noch leicht höher als in der vorhergehenden Studie. Das Arbeiten in Organisationen ist also anstrengender geworden, mit Herausforderungen sowohl für die psychische als auch für die physische Gesundheit.

„Organization in the mind“ – Das innere Erleben der Organisationen Veränderungen in Organisationen lassen sich aber nicht nur auf der Ebene von Strukturen, Prozessen, technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen analysieren. In Organisationen verlaufen viele Prozesse auf einer eher latenten Ebene, sei es, weil aus prinzipiellen Gründen emotionale Faktoren, die sich am ehesten in der Latenz bemerkbar machen, als irrelevant erklärt und damit der Auseinandersetzung entzogen werden, sei es, weil sie individuell oder organisationsbezogen als zu bedrohlich wahrgenommen werden. Zur Beschreibung dieser emotionalen Realität haben Theoretiker in der Geschichte der Tavistock-Tradition das Konzept der „Organisation-in-the-mind“ entwickelt. Damit wird eine Organisationsrealität beschrieben, die eher auf der Ebene individueller und kollektiver innerer Vorstellungen und emotionaler Reaktionen anzusiedeln ist, sich aber gleichwohl nicht allein als Element der inneren Welt Einzelner, sondern als Niederschlag vieler latenter Dynamiken in der Organisationskultur begreifen lässt. In unserer Untersuchung lassen sich verschiedene Facetten der „Organization-inthe-mind“ herauskristallisieren, die nicht in Reinkultur auftreten, sondern eher als Akzentuierungen oder Tendenzen begriffen werden müssen:

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Facette „Organisation im Überlebensmodus“ Eine Facette der Organisationsrealität, die in gewisser Weise als Grundmuster moderner Organisationen erlebt wird, ist die „Organisation im Überlebensmodus“. Gemeint ist damit eine Art Funktionsmodus, dementsprechend aufgrund des hohen äußeren und vorwiegend ökonomischen Drucks alle Prozesse, Entscheidungen und Veränderungen darauf ausgerichtet sind, das Überleben der Organisation sicher zu stellen: „Die Notsituation so ein Unternehmen zu halten. Und ich glaub das ist so eine Beschreibung, die gilt sowohl für ein Non-Profit wie Profit oder eine Kirche oder das Militär. Also wenn die oberste Kategorie, äh, ist, den Fortbestand der Organisation zu sichern, egal aus welcher Sparte oder aus welcher Ecke die jetzt kommt, das jetzt kommt, äh, dann glaub ich, nähert sich vieles irgendwie an. Ähm, wenn eine Organisation in irgendeinem gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen Kontext unterwegs ist, dann glaub ich, dann muss die darauf reagieren, wie gerade diese gesellschaftliche soziale Ordnung, wirtschaftliche Ordnung ist, und dann muss sie in Zeiten, die insgesamt vielleicht eine Neuausrichtung erfordern, sich auch dort anpassen, um, ähm, das Fortbestehen zu sichern.“ (C GD 1 ) Dieser Art des Funktionierens von Organisationen werden Aspekte der Sinnhaftigkeit, Nachhaltigkeit und Professionalität der Arbeit und eine Rücksicht auf Bedürfnisse von Mitarbeiter/innen und Klient/innen bzw. Kund/innen geopfert. Dabei kann die ökonomische Realität der Organisation durchaus anders sein, als sie sich im Erleben der Mitarbeiter/innen darstellt. Häufig steht das Überleben faktisch gar nicht konkret zur Disposition. Die Darstellung durch die Führung, die Organisation befinde sich im Überlebenskampf, schafft aber möglicherweise eine spezifische Form der Unausweichlichkeit und Dringlichkeit von Entscheidungen, die angesichts einer (realen oder behaupteten) dramatischen Situation im nicht zu hinterfragen sind und häufig eher dazu dienen, bestimmte Machtpositionen zu sichern. Welche Auswirkungen ein solcher Funktionsmodus (im Unterschied zu einem eher ziel- bzw. konzeptorientierten Modus des Arbeitens) auf die Befindlichkeit und den Erfolg einer Organisation hat, erschließt sich aus den veränderten Formen der Bindung an Organisationen. Facette „Download-Organisationen“ Change-Prozesse sind seit Jahren gewohnte Realität in Organisationen, insbesondere im Wirtschaftsbereich. Die zunehmende Professionalisierung des Managements und des Change-Managements haben dazu geführt, dass Instrumente, wie sie führende Managementschulen vermitteln, in immer mehr Organisationen umgesetzt werden. Ergebnis solcher Anpassungsprozesse sind die von einem der Befragten so genannten „Download-Organisationen“: „Also ich habe so die Idee, dass Organisationen sich immer mehr bedienen, wie soll ich sagen, vorgefertigter Lösungen, also so Download-Mentalität, man lädt sich was runter, was es bereits gibt. Man schaut nicht zu, dass in einem lebendigen Austausch-

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prozess von konkret anwesenden Personen was entstehen kann, was, was Neues ist, das ist zu persönlich, das ist zu menschlich, also das ist auch zu wenig gesichert, zu wenig wissenschaftlich, zu wenig alles Mögliche.“ (F 7) Unternehmen verlieren ihren spezifischen Charakter bzw. ihre Identität, d. h. Geschichte, Klientel, Arbeitsweise und historisch gewachsene Eigenart werden zugunsten von Konzepten aufgegeben, die Gleichförmigkeit herstellen und damit Qualität suggerieren. Dies betrifft insbesondere die Angleichung der Organisationskulturen im Profit- und Non-Profit-Bereich in Richtung einer massiven Ökonomisierung. Führungsstrukturen und Arbeitskonzepte werden nach Prinzipien der Organisationen des Profit-Bereichs ausgerichtet. Der durch gleichförmige Konzepte in gewisser Weise ihrer Tradition und des Inhalts beraubten Organisation entspricht in gewisser Weise das Gefühl einer „entleerten Organisation“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass neben der reinen Orientierung auf Geld, Zahlen und Ergebnisse auch die innere Bindung der Mitarbeiter/innen nachgelassen hat. Das Verhältnis zwischen Führung und Mitarbeiter/innen verbleibt instrumentell, was die Dynamik innerhalb der Organisation auf das rein Funktionale reduziert. Facette „vertrautes mittelständisches Familienunternehmen“ Als reale Erfahrung, aber offensichtlich auch als innere Gruppenphantasie entsteht als ein idealisiertes Alternativmodell solcher gesichtslosen Organisationen: das „vertraute familiäre, mittelständische (Familien-)Unternehmen“. Es wird als ein Umfeld beschrieben, in dem es möglich ist, sich dem Druck der zunehmenden Ökonomisierung teilweise zu entziehen, auch wenn der reale Überlebensdruck faktisch häufig heftiger ist als in Großunternehmen. Diese (Familien-)Unternehmen mittlerer Größe gelten auch als eine Art Hort menschlicherer, persönlicherer und sinnvollerer Arbeitsbeziehungen und als Ort, an dem traditionelle, als wichtig und hilfreich empfundene Werte erhalten geblieben sind. Dies betrifft vor allem die Art, wie in solchen Unternehmen geführt wird: „Auch dieses Verantworten, diese Nichtanwesenheit von Verantwortlichkeit, das ist in den kleineren Unternehmen gar nicht. Deswegen macht mir das auch mehr Freude, weil das ein Thema ist, was man ansprechen kann. Und dann kann man auch drüber sprechen, was ist das für eine Belastung, wenn ich jemanden entlassen muss. Meine Frage, machen wir oder machen wir nicht oder unter welchen Bedingungen und so weiter, das ist nicht ein roter Strich, der irgendwo gemacht wird.“ (F 14) Facette „schöpferisch-anarchische Tendenzen“ Man kann in Organisationen aber neben allem Anpassungsdruck vereinzelt auch gegenläufige Tendenzen finden. In seltenen Fällen gelingt es Organisationen, sich „schöpferisch-anarchische Tendenzen“ zu erhalten. In Form einer Art „gallischen Dorfes“ sichern sich Mitarbeiter/innen bzw. Teams autonome Räume.

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In Teilsystemen oder aber in der Organisation insgesamt werden Räume geschaffen und verteidigt, in denen Mitarbeiter/innen versuchen, sich gegen die als bedrohlich und überfordernd empfundenen Veränderungen zu wehren. Dabei impliziert dieser Widerstand keine regressive Tendenz, sondern er gilt als Voraussetzung für die Entwicklung und Sicherung individueller Freiheiten und schöpferischer Möglichkeiten: „Und als ich [Supervisor] mit der Chefin dieses Auswertungsgespräch hatte da vor einigen Monaten, ich habe den Eindruck, als ob zwischen diesem Leitungsbüro da oben und diesem Team da unten im Keller, als ob in der Dynamik, als ob da alles wirklich stattfindet, also das ist wie zwei Pole. Weil die anderen dazwischen, die Stockwerke dazwischen, die haben längst nicht so einen Einfluss auf das Ganze wie die da unten. Also die da unten haben die beste Vermittlungsquote, die sind mit der Chefin per Du, weil die auch mal eine der ihren war vor vielen, vielen Jahren, also dazwischen findet eine Menge statt. Und die da unten, die proben den Widerstand, wo es nur geht. […] Ja. Und wenn es das gibt, dieses schöpferische Potenzial, dann wird es geparkt, aber wirklich dort, dann sind das ein paar Verrückte, die dazu genommen werden, was weiß ich, eine Agentur, die was machen darf, oder ein Künstler, der was machen darf, oder so, aber nicht den beteiligten Menschen, der Belegschaft an sich.“ (F 7) Wie wirken sich diese Veränderungen auf das Betriebsklima aus, das ja auch eine subjektiv wahrgenommene und empfundene Verarbeitung der veränderten Arbeitsbedingungen und Organisationsrealität ist? 'DV%HWULHEVNOLPDLQ2UJDQLVDWLRQHQLVWJXW  







 

 





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Nur 11 % der Supervisor/innen empfinden die Stimmung als gut, auch wenn gegenüber 2008, wo nur 7,7 % einen eher positiv getönten Eindruck vom betrieblichen Klima hatten, daraus eine leichte Verbesserung abgeleitet werden könnte.

„Standbein – Spielbein“: Neue Formen des Commitments, der Identifikation und der Bindung in Organisationen Traditionelle Organisationen waren häufig durch eine intensive Form der Bindung ihrer Mitarbeiter/innen an die Organisation gekennzeichnet. Die gegenseitige Abhängigkeit und eine hohe Identifikation sicherten eine von emotionalen Turbulenzen und

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Zweifeln an der Loyalität weitgehend freie Form der alltäglichen Arbeit. Veränderte Organisationen bewirken bei Mitarbeiter/innen auch eine veränderte Art, sich zu Organisationen in Beziehung zu setzen. Loyalität, Commitment, Bindung und Identifikation sind wichtige Konzepte in diesem Zusammenhang. Mit der Verschiebung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Mitarbeiter/innen in Richtung flexiblerer Arrangements, einer deutlichen Kurzfristorientierung von Arbeitsbeziehungen und Arbeitsverträgen sowie lockereren, flexibleren Strukturen in der Führung und den Organisationen insgesamt entstehen neue Bedürfnisse und Formen, wie sich die Beziehungen zwischen Menschen und Organisationen gestalten. Die Interviews machen deutlich, dass sich bereits ein spürbarer Wandel vollzieht, dessen Richtung aber nicht eindeutig, sondern eher von einer deutlichen Polarisierung geprägt ist. Dabei reicht die Spanne von einer verstärkten Identifikation der Mitarbeiter/innen mit den Organisationen, in denen sie arbeiten, bis hin zu einer Haltung des inneren und äußeren Ausstiegs. 'LH9HUEXQGHQKHLWGHU%HVFKlIWLJWHQ PLWLKUHU2UJDQLVDWLRQ«  

 



   



 





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Immerhin beschreiben 63 % der Befragten den Eindruck, dass die Bindung der Beschäftigten an ihre Organisation insgesamt im Abnehmen begriffen ist. Einen ähnlichen Eindruck hatten 2008 sogar ca. 75 % der Befragten. Wie sieht diese Tendenz im Einzelnen aus? Zunächst einmal führen veränderte Arbeitsbedingungen, Change-Prozesse und die damit einhergehenden Belastungen nicht automatisch zu einer geringeren Verbundenheit oder Identifikation. So lässt sich eine Form der Bindung als verstärkte Identifikation beschreiben. „Ist ja vom, vom Typen her ist es ja unterschiedlich und manche von den ehemaligen Beamten, die haben sogar Geschmack daran gefunden, dass sich da was tut […].“ (C 13) Dies bezieht sich vor allem auf die Erfahrung, dass durch die angestoßenen Veränderungsprozesse in manchen Fällen auch notwendige und lange aufgeschobene Anpassungen, Innovationen und Entwicklungen in Richtung höherer Effektivität in die Wege geleitet worden sind. Gerade im sozialen Bereich gibt es Mitarbeiter/innen, die vom Aufbrechen alter Strukturen profitieren, diese als Befreiung erleben und eine Art „Treiber-Haltung“ entwickeln. Solche Mitarbeiter/innen identifizieren sich mit ihrer

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Organisation als Unterstützungssystem für Change-Prozesse. Gleichzeitig werden Kräfte freigesetzt, die durch aufgeschobene bzw. lange blockierte Veränderungen gebunden waren und nunmehr zu vermehrtem Stolz auf die eigene Wirksamkeit und Entwicklungen führen: „Das möchte ich, das möchte ich gerne auch sagen. Also bei all dem Chaos und dem, dem Schwierigen ist es die – bei den Prozessen, die ich begleite, kommt, bringen die Leute auch viel Gutes zustande. Also es kommt ganz viel Positives und ganz viel Kraft und ganz viel Möglichkeiten, wenn das Schwierige hinter uns gelassen ist, ne. Ja, das ist schon ganz wichtig, den Blick darauf nochmal zu nehmen, ne.“ (C GD 2) Diese Erfahrung führt auch zu größerer Arbeitszufriedenheit, die – neben einer von Respekt getragenen Führungsbeziehung – zu den wichtigsten Faktoren einer gelungenen Identifikation mit der eigenen Arbeit gehört: „Und ich glaube, bei Schulen ist das ja ein Stück weit auch so, ne. Also auch in Berlin gibt es ja hier auch Schulen, die auch in dem System ne, trotzdem eine andere Arbeitszufriedenheit für das Kollegium entwickelt haben und ganz viel Selbstwirksamkeit haben, also ne. Das ist glaub ich schon auch – das eine ist so eine große Richtung […]“ (C GD 2) Eine andere Form der weiter bestehenden Identifikation ist die aktive Form der Auseinandersetzung mit dem Ziel einer Verbesserung der als Missstand empfundenen Situation. Aber nicht allen gelingt eine solche Anpassung, gerade ältere Mitarbeiter/innen verbleiben gelegentlich in einer resignierten Haltung und klammern sich, vermittelt über alte Bilder oder Dinge, an vergangene Zeiten und versuchen, sich persönlich den Veränderungen zu entziehen. Typ „bedruckte Kaffeetasse“ wurde diese Haltung benannt, um die regressive getönte Verweigerung und Sehnsucht nach einem sozialen Zuhause in der Organisation deutlich zu machen: „Ich sage jetzt mal als praktisches Beispiel, es gibt bei den älteren Mitarbeitern so eine Kultur, dass jeder sein eigenes Büro hat, und da hat er seine Bilder und seine Kaffeetasse und Pflanzen, und das muss alles so sein, wie er das braucht, und das schon immer.“ (F 5) Man könnte diese Haltung auch als eine durch Groll geprägte Resignation bzw. passive Form des Widerstands und der inneren Distanzierung beschreiben. In ihr drücken sich Trauer über den Verlust des Arbeitsplatzes als Ort wichtiger sozialer Beziehungen, eine Sehnsucht nach einer Beheimatung in einer als kalt und beziehungslos empfundenen Organisation und ein Wunsch nach einer Halt gebenden Führung aus. Immerhin beobachten die Supervisor/innen zu 47 %, dass ihre Supervisanden/innen aufgrund der Enttäuschungen einen verdeckten Widerstand gegen zu hohe Belastungen entwickeln, also eine Haltung, die einer ambivalent getönten Form der Bindung entspricht. Dies führt zu einer Auseinandersetzung mit der Frage, was Bindung denn eigentlich heißt und wie sie beschaffen sein kann und wie intensiv sie emotional geprägt ist oder sein muss.

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„Bindung ist ja immer die Frage: Wie definiere ich Bindung? Also oder ist Bindung auch Identifikation? Also es gibt schon eine Identifikation mit Träger. Das erlebe ich schon viel. Aber eine – im Sinne von: Ich übernehme Verantwortung für meine Arbeit an der Stelle, wo ich sie tue und gehe damit in die Rolle, für die ich bezahlt werde.“ (C GD 2) Auch wenn Untersuchungen aus dem Bereich der Wirtschaftsforschung nahelegen, dass offen artikulierte Wünsche, den Arbeitgeber, das Team oder den Beruf zu wechseln, eher leicht abgenommen haben, wird in unserer Untersuchung in einer Reihe von Fällen doch deutlich spürbar, dass innere und äußere Distanzierungsprozesse stattfinden, in denen keine offene Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber mehr gesucht wird. Jüngeren Mitarbeitern/innen gelingt dabei eine emotional distanziertere Haltung. In den Interviews wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Jüngere häufig einen Weg wählen, der als instrumentelle Beziehungsform und damit implizit als eine Form der inneren Distanzierung bezeichnet werden kann. Sie sind „loyal, aber nicht abhängig“, d.h. ihre Identifikation endet ausdrücklich dort, wo früher eine umfassende Bindung gewünscht und auch entwickelt wurde: Die größere Unabhängigkeit, die vermutlich auch dem Selbstschutz dient, wird gewonnen durch einen Verzicht auf höhere Ansprüche hinsichtlich der Wirksamkeit und gesellschaftlichen Relevanz der eigenen Arbeit (vgl. dazu ausführlich: Alsdorf in diesem Band). Zu einer solchen Haltung passt dann auch, dass die Fixierung auf die Entwicklung der eigenen Karriere innerhalb der Unternehmen deutlich abgenommen hat: ,FKEHREDFKWHGDVVPHLQH6XSHUYLVDQGHQLQQHQQLFKW EHUHLWVLQG.DUULHUHXPMHGHQ3UHLV]XPDFKHQ 



   

 

 



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In dieser eher nüchternen Haltung spiegelt sich im Grunde eine Form der inneren Distanzierung. Diese wird von einigen Mitarbeiter/innen nicht nur theoretisch erwogen, sondern inzwischen auch praktisch vollzogen. Eine erste Möglichkeit des Ausstiegs aus belastenden Arbeitsbedingungen wäre die klassische Form des Arbeitgeberwechsels, falls man die eigenen professionellen Ansprüche als nicht mehr realisierbar einschätzt, die als realistische Erwägung aber nur von ca. 26 % der Befragten beobachtet wird. Möglicherweise verbirgt sich hinter dieser

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zunächst relativ gering erscheinenden Zahl weniger eine hohe Leidensbereitschaft der Beschäftigten, sondern eher deren realistische Einschätzung, dass die Bedingungen woanders nicht besser sind. Noch weniger wird offensichtlich in Erwägung gezogen, gleich den Beruf zu wechseln. Es mag sein, dass beide Möglichkeiten als zu aufwändig, risikobehaftet und zu wenig Erfolg versprechend angesehen werden. Stattdessen werden Möglichkeiten überlegt, die unbefriedigende Arbeit in der Organisation mit stärker befriedigenden Tätigkeiten außerhalb der Hauptarbeit zu verknüpfen: %HVFKlIWLJWHHUZlJHQGDVHLJHQHEHUXIOLFKH(WKRVDX‰HUKDOEGHU UHJXOlUHQ%HVFKlIWLJXQJ]XYHUZLUNOLFKHQZHQQGLHVLQQHUKDOEGHU 2UJDQLVDWLRQHQQLFKWRGHUQXUQRFKHLQJHVFKUlQNWP|JOLFKLVW   



 











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„Ich meine, das neue Berufsmodell ist ja, ich bin Arbeitnehmerunternehmer, ich habe drei Stellen und ich bin–. Aber wo bin ich denn dann? Bin ich jetzt sozusagen ein Freiberufler, der drei verschiedene Auftraggeber hat, oder definiere ich mich in der Organisation. Ich finde, da finden–, das finde ich eine ganz entscheidende Frage an der Stelle, also wie definiere ich mich.“ (F GD 2) Interessant ist, dass eine andere, bekannte Form des inneren Ausstiegs als noch unrealistischer angesehen wird. 0HLQH6XSHUYLVDQGHQLQQHQGLHDQJHVWHOOWDUEHLWHQ WUlXPHQGDYRQVLFKVHOEVWlQGLJ]XPDFKHQ  



 













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Zu fragen ist, ob dies mit den erwarteten Risiken einer Selbständigkeit begründet wird oder einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten entspringt. Ganz offensichtlich finden wir eine Tendenz zu einem instrumentell bzw. ambivalent getön-

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ten Verhältnis zu den Organisationen: Obwohl viele Rahmenbedingungen als belastend und potenziell die Gesundheit gefährdend angesehen werden, entscheiden sich Mitarbeiter/innen für eine Bindungsform, in der die emotionale Besetzung von der Organisation bzw. der professionellen Arbeit abgezogen und in andere Lebensbereiche bzw. Arbeitsformen investiert wird. Zum Teil durch ökonomische Zwänge oder Ängste um die Zukunft des eigenen Arbeitsplatzes getrieben, entwickeln Mitarbeiter/innen immer häufiger Formen des Engagements in mehreren Organisationen. Die privilegierte Bindung an eine Organisation lässt nach und Menschen experimentieren mit verschiedenen Formen der Kombination von mehreren Tätigkeiten. „Also ich [Supervisor] finde es in der letzten Zeit immer häufiger, dass das ein Modell ist, dass jemand nicht voll auf eine Institution setzt, weil diese Institutionen sich dermaßen verändern, aber wenn die ganze Person, also auch wenn die Person mit einer ganzen Stellen da dranhängt, ist das Risiko ja auch entsprechend größer. Also mit einer halben Stelle und dann sozusagen auch noch diese Freiberuflichkeit möglich ist, allerdings kommt es drauf an, wie viel Geld auch durch die Freiberuflichkeit verdient werden kann, ob das reicht. Und da ist auch ein Unterschied zwischen Männern und Frauen.“ (F 6) Arbeitnehmer/innen entwickeln eine Form der Berufstätigkeit, die ein sicheres „Standbein“ mit einem eher risikoorientierten Arbeiten im Sinne eines „Spielbeins“ zu verbinden sucht. Bindungstheoretisch interpretiert, dient den Mitarbeiter/innen eine der Tätigkeiten auf ökonomischer Ebene dazu, als „sicherer Hafen“ im Falle eines Scheiterns der Freiberuflichkeit zur Verfügung zu stehen. Auf der anderen Seite soll sie ein sicherer Startplatz für die Entwicklung einer als sinnvoller und attraktiver angesehen Form der Berufstätigkeit sein. Die dadurch gewonnene innere Freiheit wird aber häufig erkauft durch zunehmende Überforderung, schwierige Koordinationsaufgaben und neue Belastungen und Unsicherheiten.

Resümee: Kunstvolle Arrangements, neue Orientierung und Bewegungen Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass sich in Organisationen die objektiven äußeren Rahmenbedingungen weiterhin verschärft haben bzw. Veränderungsdruck auf hohem Niveau erlebt wird. Gleichzeitig führt diese Verschärfung nicht nur zu einer als stärker erlebten Belastung der Mitarbeiter/innen, die als Leidensdruck passiv ausgehalten werden, sondern es werden interessante neue Bewegungen sichtbar. Mitarbeiter/innen nutzen diese Situation zu den unterschiedlichsten Formen, ihre Arbeit und Bindung an die Organisation zu gestalten. Insgesamt ist das Bild eher verwirrend, aber gleichzeitig faszinierend. Mitarbeiter/innen, insbesondere jüngere, entwickeln eine Form, sich mit diesen Veränderungen im positiven Sinne zu arrangieren und die eigene Person in

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Abgrenzung von der Organisation zum Ausgangspunkt neuer Orientierungen und Lösungen zu machen. Diese Entwicklung dürfte auf der Ebene der Identitätskonstruktion weitreichende Veränderungen zur Folge haben. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Menschen und Organisationen taucht die Frage auf, ob die beschriebenen Formen der neueren Organisationsdynamik auch andere Formen des beruflichen Selbstverständnisses und Austausches erfordern bzw. nach sich ziehen, und ob Probleme besonders dort entstehen, wo die Passung misslingt. Dies zu untersuchen, muss weiterer Forschung überlassen bleiben.

Zum Weiterlesen Ahlers-Niemann, A., Beumer, U., Mersky, R. R., Sievers, B. (Hrsg.) (2008): Organisationslandschaften – Sozioanalytische Gedanken und Interventionen zur normalen Verrücktheit in Organisationen. Bergisch Gladbach: EHP. Armstrong, D. (1997): The “Institution-in-the-Mind”. Reflections on the relation of psychoanalysis to work with institutions. Free Associations, 7, 41, 1–14. http://human-nature.com/hraj/ mind.html (zuletzt gelesen am 20.10.2012). Haubl, R. (2011): Latenzschutz und Veränderungswiderstand: Grundfragen psychodynamischsystemischer Organisationsberatung. In: Schnoor, H. (Hrsg.): Psychodynamische Beratung (S. 197-209). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hoyer, T., Beumer, U., Leuzinger-Bohleber, M. (Hrsg.) (2011): Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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„Macht mal, wie ihr es hinkriegt“ Führungskompetenz Benjamin Kahlert

Unter dem Eindruck permanenter Veränderungsprozesse in den wirtschaftlichen sowie in den nichtwirtschaftlichen Organisationen suchen deren Beschäftigte nach Orientierungspunkten, welche ihnen Halt und Sicherheit versprechen. Die sich ständig wandelnde Arbeitswelt, in der die Anforderungen und Arbeitsinhalte laufend erneuert und umgestaltet werden, ist für viele Mitarbeiter/innen zu komplex und nur noch schwer zu durchschauen. Ein klassischer Anker für die verunsicherten Beschäftigten ist per definitionem die Führungskraft. Diese sollte zielgerichtet und kommunikativ den Arbeitsprozess steuern und ihre Untergebenen durch klare Vorgaben und Anweisungen die vielschichtigen, oft auch widersprüchlichen Konstellationen des Arbeitsalltags plausibel werden lassen. Im Kontext der andauernden Veränderungen ist dabei vor allem eine Frage zentral: Wie sieht das Anforderungsprofil einer Führungskraft aus, die einerseits einer profitund veränderungsorientierten Organisation gerecht werden muss, andererseits den untergebenen Beschäftigten, die den Überblick in einer fortwährend im Wandel befindenden Arbeitswelt zu verlieren drohen, Orientierung und Sicherheit bieten soll? In den Befragungen im Rahmen unserer Untersuchung, speziell in den Interviews mit den Supervisor/innen, kristallisierte sich eine zentrale Eignung heraus, die besonders erfolgreiche Führungskräfte auszeichnet: die Fähigkeit zur Reflexion ihrer Handlungen in den jeweiligen Arbeitssituationen. Damit sind sie nicht nur in der Lage, sich auf wiederkehrende organisationale Veränderungsprozesse einzustellen, sondern sie beziehen ihre Mitarbeiter/innen in die daraus resultierenden Entscheidungen ein, sie „nehmen“, wie oft zu hören ist, „ihre Leute mit“. Das heißt, sie machen ihre Überlegungen und auch mögliche Bedenken für die Untergebenen transparent und integrieren deren Meinungen und Lösungsvorschläge in ihre Entscheidungen. Erfolgreiches Führungsverhalten wurde von den befragten Supervisor/innen zudem mit den Adjektiven „wertschätzend“, „kommunikativ“ und „transparent“ umschrieben. Im Folgenden werden die wichtigsten Resultate der aktuellen Welle der Befragung, sowohl der quantitativen Fragebogenbefragungen als auch der qualitativen Experteninterviews, unter dem Aspekt der Führung in Organisationen vorgestellt. In den Text sind zur Illustration der Ergebnisse besonders markante Aussagen der befragten Supervisor/innen aus den Interviews eingearbeitet. Es bestätigt sich der überwiegende Teil der Ergebnisse der ersten Befragungswelle (vgl. Beumer 2011). Zudem ergeben sich nun aber auch Erklärungsansätze, die über eine deskriptive Bestandsaufnahme hinausweisen und erste Rückschlüsse auf strukturelle Ursachen zulassen.

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Das Thema Führung in der zweiten Befragungswelle Wie bereits in der ersten Befragungswelle wurden auch in der zweiten Welle Items erhoben, die explizit das Führungsverhalten und dessen Wahrnehmung fokussieren. Dabei ist wieder darauf geachtet worden, dass sie unterschiedliche Facetten des Führungsverhaltens in den von Veränderungsprozessen betroffenen Organisationen ansprechen. Die folgenden Items wurden erhoben: • Wie viele der Führungskräfte sind der Komplexität ihrer Aufgabe gewachsen? • Wie viele der Beschäftigten klagen über unzulängliche Führung? • Die Führungskompetenz von Führungskräften in Organisationen hat zugenommen. • Führungskräfte bieten den Beschäftigten ausreichend Halt und Orientierung. • Die Beschäftigten erwarten, dass ihre Vorgesetzten sie vor Überforderungen schützen.

Die Führungskraft als „Herr der Lage“? Auch in der zweiten Erhebungswelle kommt deutlich zum Vorschein, dass die Führungskräfte sehr oft von den organisatorischen Veränderungen überfordert sind. Sie haben häufig den Überblick über den fortlaufenden Wandel verloren und sind infolgedessen keineswegs die „Herren der Lage“. Gleichwohl sie die organisationalen Umgestaltungen mit verantworten und von ihnen häufiger profitieren als die meisten ihrer Mitarbeiter/innen, müssen Führungskräfte aufgrund des hohen ökonomischen Erfolgsdrucks viele Veränderungsprozesse hinnehmen, ohne diese aktiv mitgestalten zu können. Eine Supervisorin schildert diese Situation im Interview: „Was mir allerdings auch auffällt […], dass in manchen Unternehmen permanent umstrukturiert wird und zwar manchmal in einer solchen Taktung, dass die Mitarbeiter, die dann auch davon betroffen sind, inklusive der Führungskräfte, das manchmal selber nicht mehr wirklich ernst nehmen.“ (C 13) Nur wenige Führungskräfte können dem ambivalenten Anspruch gerecht werden, gleichzeitig sowohl „Treiber“ als auch „Getriebener“ des permanenten Wandels in den Organisationen zu sein. In der Fragebogenbefragung glauben weniger als 20 % der Supervisor/innen daran, dass die Mehrheit der Führungskräfte der Komplexität ihrer Aufgaben gewachsen ist. Dagegen denken mehr als 35 %, dass nur eine Minderheit der Führungskräfte diesen Anspruch erfüllt. :LHYLHOHGHU)KUXQJVNUlIWHGHU.RPSOH[LWlWLKUHU$XIJDEH JHZDFKVHQVLQG 





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Die negative Tendenz bei der Einschätzung der Führungskräfte bestätigt sich auch bei der Frage nach der Führungskompetenz. Weniger als 16 % der Supervisor/innen glauben, dass die Führungskompetenzen zugenommen haben. Dagegen gehen mehr als 45 % davon aus, dass die Führungskompetenz leicht abgenommen (19,9 %) bzw. abgenommen hat (25,9 %). Im Vergleich zur ersten Erhebungswelle wurde der Trend bekräftigt. Damals gingen noch 31,3 % der Supervisor/innen davon aus, dass die Kompetenz der Führungskräfte zugenommen hat und 34 % waren der Meinung, dass die Führungskompetenz abgenommen hat. 'LH)KUXQJVNRPSHWHQ]« 





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Auswirkungen auf die Beschäftigten Wie eingangs beschrieben, stellen die Mitarbeiter/innen hohe Ansprüche an die Führungskräfte, erwartet wird vor allem Orientierung und Schutz. Diese Aussage teilen über die Hälfte der Supervisor/innen. Auf die Frage, ob die Beschäftigten erwarten, dass ihre Vorgesetzten sie vor Überforderungen schützen, stimmen 12,8 % mit „trifft voll und ganz“ und 41,5 % mit „eher“ zu. 'LH%HVFKlIWLJWHQHUZDUWHQGDVVLKUH9RUJHVHW]WHQVLHYRU hEHUIRUGHUXQJHQVFKW]HQ 





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Die Führungskräfte erfüllen die Erwartungen seitens der Mitarbeiter/innen nach Ansicht der Befragten nicht, dies verdeutlicht auch die folgende Grafik: weit mehr als die Hälfte der Supervisor/innen stimmen der Aussage „Führungskräfte bieten den Beschäftigten ausreichend Halt und Orientierung“ eher nicht (47,3 %) bzw. ganz und gar nicht (10,8 %) zu. Lediglich 7,3 % haben die Vermutung, dass die Vorgesetzten das

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Vertrauen ihrer Mitarbeiter/innen zu Recht genießen und den Beschäftigten als Wegweiser dienen. Dies wird durch die Aussage eines Supervisors sehr gut veranschaulicht: „Dass die Verwaltungsmitarbeiter und die Kundenmitarbeiter, dass die sich nicht einer Organisation zugehörig fühlen, da fehlt die übergreifende Fragestellung. Das übergreifende Ziel. Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Rahmenbedingung. Dass die im Grunde merken und dass Führungskräfte dafür sorgen, dass die wissen und merken, wir arbeiten an einer gleichen, an einem Verständnis von guter Arbeit oder an einem gemeinsamen Produkt. Also jeder trägt einen kleinen Beitrag dazu bei. Das Verständnis ist ganz selten vorhanden.“ (C 7) )KUXQJVNUlIWHELHWHQGHQ%HVFKlIWLJWHQDXVUHLFKHQG +DOWXQG2ULHQWLHUXQJ 

 

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Die Aussage eines interviewten Supervisors unterstreicht das Ergebnis der Fragebogenbefragung, wonach der Bedarf der Beschäftigten an Unterstützung von den Führungskräften häufig nicht befriedigt wird: „Sondern was passiert allerdings, dass die Ebene der Verantwortlichkeiten immer undurchsichtiger wird, da verändert sich was, also ich sage mal, Rückzug der oberen Führungsebenen, Überschrift: Macht mal, wie ihr es hinkriegt, das ist euer Problem, wir gucken aber nur, wenn es nicht stimmt.“ (F 14) Die Beschäftigten werden mit den komplexen Anforderungen ihrer Arbeitsaufgaben weitestgehend allein gelassen. Anstatt sich mit den Problemen und Anliegen ihrer Mitarbeiter/innen auseinanderzusetzen, weichen viele Führungskräfte einer direkten Konfrontation und damit der Austragung von Konflikten aus. Dabei gehört die Auseinandersetzung mit Konflikten zu den essentiellen Bestandteilen des Führungsalltags, vor allem unter dem Aspekt, dass die Organisation in der Lage ist, sich dem Wandel ihres Umfelds über die Klärung von Regelungsbedarf anzupassen. In den Befragungen wurde oft davon berichtet, dass die Kommunikation innerhalb der Organisation gestört ist oder gar nicht erst stattfindet. Somit kann es zwischen den Hierarchieebenen zu keinem Austausch und keiner Problembewältigung kommen. Schwierige Themen werden so lange aufgeschoben, bis sie unumgänglich sind. Das Zitat aus einem Interview mit einer Supervisorin illustriert dieses Problem: „Nur da haben sie also innerhalb einer Organisation oft auch groß Reibungen und Schwierigkeiten bis die Signale dann an der, bei den Entscheidungsträgern wirklich so deutlich ankommen, dass die auch Berücksichtigung finden. Das ist das, was ich vorhin

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meinte mit dem Dialog zwischen Oben und Unten. Also wie ernst genommen werden die Hinweise von Unten und wie klar verstanden werden die Veränderungsbemühungen von Oben. Also ich denk das ist einfach ein großes Manko, was heißt Manko, eine Schwierigkeit bei Veränderungsprozessen generell im Unternehmen.“ (C 10) Mittelfristige Strukturen zur Generierung von Problemlösungsstrategien, wie zum Beispiel die Etablierung von Feedbackschleifen, können sich unter diesen Bedingungen nicht entwickeln. Besonders die mangelnde Kommunikationsfähigkeit wird von den Supervisor/innen als Grund für die Überforderung der Beschäftigten herausgestellt. Damit sind das häufig ganz ausbleibende Feedback und die fehlende Wertschätzung für die geleistete Arbeit der Mitarbeiter/innen gemeint. In der folgenden Aussage einer Supervisorin wird deutlich, wie sich mangelnde Kommunikationskompetenz äußert: „Dann muss man das irgendwie dann wieder zurückspielen, sonst sind ja die Leute, also doof sind sie ja auch nicht. Ich kann nicht eine Mitarbeiterbefragung machen und dann die, ähm, und das Ergebnis unter Verschluss halten. Aber das war so verheerend, dass die gar nicht gewusst haben, wie sie das dann machen sollen.“ (C 15) Die Untergebenen als passive Auftragsempfänger/innen zu definieren und zu behandeln wird der Aufgabe einer Führungskraft nicht gerecht. Wie das obige Beispiel zeigt, erzeugt ein intransparenter, aktionistischer Umgang mit den Belangen der Mitarbeiter/innen Verunsicherung und Frustration, da die Beschäftigten nicht genau wissen, was von ihnen erwartet wird. Dass viele der Supervisor/innen die Mitarbeiter/ innen als unzufrieden mit den sozialen Kompetenzen ihren Vorgesetzten einschätzen, belegen die Antworten auf die Frage „Wie viele der Beschäftigten klagen über unzulängliche Führung“. Nur zusammen 9,1 % denken, dass lediglich die Minderheit der Beschäftigten oder so gut wie niemand über die Führung klagt. Demgegenüber denken zusammen 53,1 %, dass so gut wie alle oder die Mehrheit über die Unzulänglichkeiten ihrer Vorgesetzten klagen. :LHYLHOHGHU%HVFKlIWLJWHQEHU XQ]XOlQJOLFKH)KUXQJNODJHQ 



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Sowohl die Ergebnisse der Fragebogenbefragung als auch die Befunde aus den qualitativen Experteninterviews lassen zusammenfassend den Schluss zu, dass Führungskräfte im Umgang mit Untergebenen oft nicht geeignet und schlecht ausgebildet sind und/oder zu wenig Zeit zum „Führen“ zur Verfügung haben. Wenn erfolgreiches Ar-

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beiten von der Entwicklung und Vereinbarung klar definierter Ziele abhängt, als auch davon, dass Vorgesetzte und Beschäftigte ihre Zusammenarbeit als fortwährender gemeinsamer und gegenseitiger Lernprozess gestalten, der auf Respekt, Akzeptanz, Toleranz und Offenheit basiert, dann ist erfolgreiches Arbeiten unter den skizzierten Bedingungen nur schwer zu erreichen. Das folgende Zitat macht die Auswirkungen deutlich: „Je unklarer die Erwartungen und je weniger die Unterstützung vonseiten des Vorgesetzten, desto weniger Kollegialität auch im Team, weil die Konkurrenz und auch die Sorge, nicht bestehen zu können, natürlich groß ist.“ (C 12) Welche Ursachen hat diese ernüchternde Bilanz? Was ist der Grund dafür, dass Stellen mit Führungsverantwortung offenbar häufig von Personen besetzt werden, denen es an den notwendigen sozialen Kompetenzen fehlt?

Strukturelle Ursachen Die Priorität bei der Vergabe von Führungsstellen liegt vor allem in den fachlichen Kompetenzen der potenziellen Führungskräfte, die soziale Eignung spielt bei den meisten Organisationen nach Aussagen der Supervisor/innen bestenfalls eine sekundäre Rolle. Aufgrund der fehlenden praktischen Erfahrung im Führungsverhalten und der daraus resultierenden Handlungsunsicherheit üben Führungskräfte häufig einen autoritären Führungsstil aus. Die Aussage eines Supervisors verweist darauf, wie schwierig es für die oft an formalen Strukturen und fachlichen Kriterien ausgerichteten Führungskräfte ist, sich auf die Aufgabe einzustellen, Menschen zu „führen“: „Also der muss aufhören, seine super Ingenieursleistung in den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns zu stellen, sondern er muss seine Führungsarbeit in den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns stellen.“ (C 13) Auch die folgende Aussage verweist darauf, dass sich die Führungskräfte mit den Ansprüchen an ihr Führungsverhalten häufig an fachlichen Merkmalen orientieren. Im Mittelpunkt steht nicht die Auseinandersetzung mit den Mitarbeiter/innen, wofür es soziale Kompetenzen braucht, sondern die effiziente Erfüllung von Kennziffern und Output-Vorgaben: „Es ist wohl unterschiedlich, aber es gibt auch was Generalisierendes, den Eindruck, dass Mitarbeiter auf Führungsebenen im Grunde auch ein fachlich professionelles Grundverständnis haben. Und das können sie viel leichter beschreiben und erklären und daran können sie sich viel leichter orientieren, bei ihrer Definition, oder auch im Alltag dann, als zum Beispiel an dem, was ist denn gute Leitung, was ist gute Führung. Das wird von den wenigsten als ein Teil von Professionalisierung angesehen.“ (C 7) Die Ansprüche der Führungskräfte an „professionelles Arbeiten“ werden von den organisationalen Strukturen generiert. Organisationen orientieren sich bei der Beurteilung der Führungsarbeit an dem erbrachten Tauschwert der Leistung von Führungskräften. Das bedeutet, dass der Erfolg von Abteilungen daran gemessen wird, welchen

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Ertrag sie erbringen. Führungskräfte sind, als Vorgesetzte der Abteilungen, demnach verantwortlich für die Erträge. Je besser die erbrachten Erträge sind, umso besser wird die Führungskraft vonseiten der Organisation beurteilt. Im Kontext rascher Veränderungen verlieren aber auch die Kennzahlen, nach denen sich die Organisation, die Führungskräfte und schließlich auch die Untergebenen richten, schnell an Bedeutung. Die Anforderung an die Führung besteht nun vor allem in Übersetzungsleistungen. Die Führungskraft sollte in einer Mittlerrolle den Beschäftigten die Veränderungsprozesse nachvollziehbar machen können. Dazu braucht sie erweiterte soziale Kompetenzen und einen systemischen Blick für den Wandel innerhalb ihrer Organisation.

Zusammenfassende Betrachtung Wie eingangs bereits aufgezeigt, sind die gravierenden Folgen der ständigen Veränderungsprozesse innerhalb der Organisationen für deren Mitglieder nicht übersehbar. Unsere Untersuchung hat in beiden Erhebungswellen deutliche Hinweise für eine Zuspitzung der Probleme sowohl bei den Mitarbeiter/innen als auch auf der Ebene der Führungskräfte ausmachen können. Die Herausforderungen, die ein dauerhaft im Wandel befindlicher Arbeitsplatz mit sich bringt, können von den Organisationsmitgliedern nur mehr schwer bewältigt werden. Die Anzeichen verdichten sich, dass sich hinter der ausgemachten Verschärfung der Problemlage strukturelle Ursachen verbergen. Zwei Aspekte sind dabei im Rahmen der Untersuchung deutlich geworden: Einerseits sind sozialisatorische Ursachen erkennbar. So ist die Ausbildung sozialer Fähigkeiten des Managementnachwuchses, laut Aussagen der Supervisor/innen, schon seit längerem als defizitär anzusehen. Mangelnde Eignungsdiagnostik bei der Besetzung von Führungspositionen und fehlende Führungskräfteentwicklung in den Organisationen führen dazu, dass die Personen mit Führungsverantwortung meist wenig kompetent in der Führungsarbeit sind. Dadurch können sie die Änderungsprozesse sozial nicht adäquat steuern. Jahrelang fiel die mangelnde Ausbildung nicht ins Gewicht. So konnte sich der Manager alten Typs reproduzieren, der sich häufig durch eine einseitig technisch-naturwissenschaftliche Orientierung mit ökonomische Ausrichtung oder entsprechende fachliche Ausbildung auszeichnet. Angesichts der steigenden Kranken- und Ausfallzahlen aufseiten der Mitarbeiter/innen sowie der Führungskräfte ist zu konstatieren, dass die Belastungsgrenzen in den Organisationen erreicht sind. Aufgrund der laufenden Veränderungen in den Organisationen ist es somit zu einem Wandel der Anforderungen an die Führungskräfte gekommen. Diese benötigen nun erweiterte soziale Kompetenzen, um in einer Art Mittlerrolle ihren Untergebenen den Sinn ihrer Arbeit fernab von Kennzahlen verständlich zu machen. Unter diesen Bedingungen ist nicht die spezifische fachliche Ausbildung für die Führungsarbeit entscheidend, sondern vielmehr eine „allgemeine Fachlichkeit“ und zudem sogenannte „soft skills“ wie zum Beispiel Koordinations- und Übersetzungskompetenz. Eine Supervisorin formuliert dies so:

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„Also ich will nur sagen, es gibt ganz unterschiedliche Menschen und eine Kunst im Führungsalltag finde ich ehrlich gesagt immer, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die da zur Verfügung stehen, so einzusetzen, dass auch ein bisschen jeder möglichst das kriegt, was er auch am besten kann. Also wenn jemand jetzt irgendwie sagt ‚Bitte sage mir ob es links- oder rechtsrum geht‘ – und der soll plötzlich irgendwie, und er steht in der großen Freiheit, dann macht ihn das fertig, dann kriegt der ein Magengeschwür, so.“ (C 13) Anderseits lässt sich die mangelnde Führungskompetenz auf strukturelle Ursachen zurückführen. Dabei beruht die fehlende Anerkennung von Führungsarbeit in den Organisationen insbesondere auf der häufigen Orientierung an ökonomischer Rationalität. „Unproduktive“ Tätigkeiten, wie der kommunikative, respektvolle Umgang mit Untergebenen, werden dabei nicht honoriert. Die Bewertung von organisationsrelevanten Leistungen beruht auf quantifizierbaren Werten, wie zum Beispiel Kennziffern und Output. Die permanenten Veränderungsprozesse bringen den Widerspruch zwischen aktuellen organisationalen Erfordernissen und dem Selbstverständnis der Organisation zum Vorschein. Wie bereits deutlich wurde, haben sich durch die neuen Herausforderungen einer sich ständig im Wandel befindlichen Arbeitswelt auch die Anforderungen an die Führungskräfte geändert. Eine erfolgreiche Führungskraft sollte einen breiten Überblick über die verschiedenen Ebenen und Systeme ihrer Organisation haben. Sie muss ihren Untergebenen den Sinn von Umgestaltungen und Erneuerungen klar machen und die Veränderungsprozesse so vermitteln, dass sie auch von den Mitarbeiter/innen mitgetragen werden. Ein Supervisor fasst den Wandel des Führungsverständnisses folgendermaßen zusammen: „Ja, da müsste noch mal ein anderes Denken Platz greifen. Früher war eben halt so sehr oft der Eindruck, die Führungskraft weiß bis ins Detail fachlich alles, das ist aber heute gar nicht mehr die entscheidende Qualifikation für eine Führungskraft. […] Sie muss den Überblick über verschiedene Systeme behalten und muss übersetzen können, aber nicht ins Detail alles selber [können].“ (F 8)

Zum Weiterlesen Beumer, U. (2011): Führung. In: Haubl, R., Voß, G. G. (Hrsg.): Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit (S. 27–38). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hintz, A. J. (2011): Erfolgreiche Mitarbeiterführung durch soziale Kompetenz: Eine praxisbezogene Anleitung. Wiesbaden: Gabler. Neuberger, O. (2002): Führen und führen lassen. 6. Völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius. Schirmer, U., Walter, V., Woydt, S. (2009): Mitarbeiterführung. Heidelberg: Physica.

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„Das kann man ja alles nicht messen“ Leistung und Erfolg Saskia Maria Fuchs

Jeder kennt den Ausdruck „Ich habe mir Mühe gegeben“. Dieser Ausdruck ist charakteristisch, um Anstrengung als eine erbrachte Leistung hervorzuheben. Jede Leistung verlangt eine Gegenleistung, sei es in Form von monetärer Entlohnung oder in Form von Anerkennung und Wertschätzung. Dass einer Leistung eine Gegenleistung folgen soll, ist im Leistungsprinzip fest verankert. Was geschieht aber, wenn die Mühe nichts mehr gilt?

Verunsichertes Alltagswissen In einer Gesellschaft verfügt die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder über ein intuitives Wissen, welche Merkmale eine Leistung ausmachen und welche nicht. Handlungen, die zufällig oder aus Glück resultieren, zählen nicht darunter. Der Leistungsbegriff kann in zwei wesentliche Dimensionen untergliedert werden: einerseits in die Aufwandsdimension, andererseits in die Ergebnisdimension. Die Aufwandsdimension umfasst die individuelle Anstrengung sowie die (erworbenen) Fähigkeiten, die eingesetzt werden. Der jeweilige Aufwand soll sich dem traditionellen Verständnis des Leistungsbegriffs nach in der Bewertung des Ergebnisses niederschlagen. Angestrebt wird eine gleiche Gewichtung der beiden Leistungsdimensionen. Um Leistungen vergleichen zu können, gilt als Grundvoraussetzung die Chancengleichheit. Denn nur dann, wenn die Chancen, eine Leistung zu erbringen, gleich sind, lassen sich unterschiedliche Ergebnisse auf Unterschiede in den eingesetzten Fähigkeiten und Anstrengungen zurückführen. Was sich in der Theorie einfach sagt, stellt sich in der Praxis als eher schwierig heraus: Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bewirken einen Wandel des Leistungsverständnisses. Sollte früher noch der „Kopf am Fabriktor abgegeben“ werden, wird heute ausdrücklich Eigenverantwortung, Kreativität und Teamgeist verlangt. Das Repertoire an erwarteten Leistungen hat sich enorm erweitert, sodass Pünktlichkeit und Sorgfalt schon längst nicht mehr ausreichen. Der Leistungskatalog erstreckt sich von kommunikativen und erfinderischen Kompetenzen hin zu „extrafunktionalen“ Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstführung, Emotionsarbeit oder Darstellungskompetenz. Ein Supervisor schildert dazu seine Eindrücke: „Der Anspruch an Mitarbeitende [wird] immer höher, also wenn früher einfach mal eine Mitarbeiterin auch eine Mitarbeiterin sein konnte, einfach mal nur ihren Job macht, die kommt früh und die geht nachmittags, wird heute von jeder Mitarbeiterin

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und jedem Mitarbeiter irgendwie in einem Unternehmen oder einem kleinen sozialen Träger erwartet, dass die sich fast wie Selbständige verhalten. Also es wird erwartet, dass man Projekte schreibt, dass man Ideen hat, dass man ständig den Laden verkauft, also das, was eigentlich so ein klassisches Unternehmerinnenmerkmal ist, wird von den normalen Mitarbeiterinnen verlangt.“ (F 10)

Wenn der Traum zum Alptraum wird … Die Anforderungen an Arbeitnehmer/innen werden nicht nur zunehmend komplexer, zugleich wird die Leistungsdefinition diffuser. Dies schafft ein Problem: In der Wahrnehmung der Arbeitnehmer/innen werden die Leistungen, die sie erbringen, nicht (mehr) ausreichend gewürdigt. Eine Supervisorin benennt ein Dilemma: „Das [was Arbeitnehmer/innen im Einzelnen alles leisten] kann man ja alles nicht messen erst mal. Und deswegen finde ich das eigentlich klasse, wenn man das in messbare Sachen kriegt, weil das ist ja das, was die Branche immer sagt, […] woran merken wir denn, dass wir gut waren oder so. Und wenn man zielorientiert arbeitet, kann man sehr wohl sehen, dass man Dinge erreicht, und das tut denen total gut, aber es muss halt so sein, dass es auch ankommt, und nicht übergestülpte Zahlen, die kein Mensch versteht.“ (F GD 2) Durch die zunehmende Diffusität des Leistungsbegriffes entsteht auf Seiten der Arbeitnehmer/innen ein Wunsch nach Messbarkeit und Vergleichbarkeit. Unternehmen entwerfen Kennziffernsysteme, die jegliche Betriebsabläufe quantitativ erfassen und das Unternehmensziel in eine messbare Zahl umsetzen (sollen). Oft sind es private Beratungsfirmen, die diese Kennzahlen liefern: „Diese Beratungsfirmen sind in der Regel nicht in der Lage, auf das einzugehen, was da wirklich vor Ort ist. Und deswegen ist das für die Leute, wenn die schon hören, ‚uah, Qualitätssicherung’, das ist das schlimmste Wort.“ (F GD 2) Denn Qualitätssicherung bedeutet oft, mit noch knapperen Ressourcen auskommen zu müssen. Die erbrachte Leistung soll durch die Kennzahlen adäquat bewertet werden, die Arbeitnehmer/innen erleben sie aber als „übergestülpt“! In den Zitaten wird das Dilemma deutlich: Kennzahlen objektivieren Leistungen, lösen das Problem der Vergleichbarkeit inhaltlich unterschiedlicher Leistungen jedoch nicht befriedigend. Der Wunsch der Arbeitnehmer/innen nach Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Leistung wird auf diese Weise nicht erfüllt. Dieses Dilemma kann anhand eines weiteren Beispiels gut nachempfunden werden, das ein Supervisor erzählt: „Jetzt kenne ich zum Beispiel die einzelnen Bereiche, weil ich da auch schon im Laufe der Zeit als Supervisor drin war, und die gehen auf dem Zahnfleisch, also da geht wirklich eine Wahrnehmung komplett auseinander. Da sitzt der an seinen Listen, an seinen Excellisten und sagt‚ ‘Personenüberhang, die könnten um zehn Prozent einsparen, die sind noch viel zu viel, die treten sich auf die Füße‘, und die vor Ort sind völlig

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frustriert, weil sie mit ihren Ansprüchen an gute Arbeit nicht mehr rumkommen. Und dazwischen gibt es keinen Dialog, dazwischen gibt es keinen Austausch, die hören sich nicht, die sehen sich nicht, die begegnen sich noch nicht mal, weil jeder ist in seinem Bereich sozusagen wie festge-, wie festgebunden.“ (F GD 2) Es sind Rechenoperationen, die die Arbeitsleistung bewerten: Zum Beispiel wird eine Belegschaft anhand von Kennziffern verringert, ohne auf die Gegebenheiten in den Abteilungen Rücksicht zu nehmen. Auf den ersten Blick beschreibt der Supervisor ein Kommunikationsproblem zwischen den Abteilungen. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass das Kommunikationsproblem die Folge ist, wenn Leistungen ausschließlich marktwirtschaftlich bewertet werden. Wo marktwirtschaftlicher Erfolg zum alleinigen Maßstab wird, sind Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft nur mehr zweitrangige Kriterien.

Weitreichende Folgen! Diese Entwicklung der Leistungsbewertung geht auf die neoliberale Arbeitswelt zurück. Eine prominente Kritik behauptet, dass eine Erosion der Leistungsgerechtigkeit, genauer gesagt des Leistungsprinzips, stattfindet. Demnach wird in Organisationen zunehmend der (marktwirtschaftliche) Erfolg honoriert, während Anstrengung, Belastung oder die Qualifikation kaum noch in die Leistungsbewertung einfließen. Zielvereinbarungen und Prämiensysteme sind die flexiblen Instrumente indirekter Personalsteuerung, die versprechen, dass sich Leistung lohnt, freilich nur in ihrer objektivierten Form. So wird bspw. nur die Anzahl an Vertragsabschlüssen bewertet, nicht aber der Aufwand, sie zu erreichen. Werden (vereinbarte) Ziele nicht erreicht, bleiben Prämien aus, ungeachtet dessen, wie sehr sich die Mitarbeiter/innen auch angestrengt haben mögen. (Vereinbarte) Ziele zu verfehlen, ist auf doppelte Weise psychisch belastend: Einerseits sind die Arbeitnehmer/innen von sich selbst enttäuscht, wenn sie ihr Soll nicht erfüllen, andererseits sind sie gekränkt, dass noch nicht einmal der Versuch gewürdigt wird, ihr Soll nach Kräften erfüllen zu wollen. Wenn nur noch der (marktwirtschaftliche) Erfolg zählt, wächst unter den Arbetinehrmer/innen die Verunsicherung darüber, was eine Leistung und vor allem eine gerecht entlohnte Leistung ist. Und so verwundert es nicht, wenn unsere Untersuchung darauf verweist, dass die Arbeitnehmer/innen einen Mangel an Leistungsgerechtigkeit erleben (vgl. Haubl/Fuchs in diesem Band, S. 115).

Leistungsbewertung aus Sicht der Supervisor/innen Nehmen Supervisor/innen in den Organisationen, in denen sie tätig sind, eine der Theorie entsprechende Entkopplung von Leistung und Erfolg wahr? Und welche Bewertungskriterien würden sie selbst stark machen, wenn sie das Sagen hätten? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde im Fragebogen explizit nach den Kriterien gefragt,

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wobei allerdings – methodenkritisch betrachtet – nicht sicher ist, ob die Befragten „Erfolg“ tatsächlich als marktwirtschaftlichen Erfolg verstanden haben: 1. Wie wird die „Arbeitsleistung“ in den Organisationen bewertet, in denen Sie tätig sind? Bitte geben Sie an, wie viele Prozente den jeweiligen Bereichen zugeordnet werden (insgesamt 100 %). 2. Wenn Sie selbst das Sagen hätten, wie würden Sie diese drei Kriterien dann verteilen? Bitte geben Sie an, wie viele Prozente Sie den jeweiligen Bereichen zuordnen (insgesamt 100 %). Die Supervisor/innen sind somit aufgefordert gewesen, die drei Leistungskriterien – Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und Erfolg – anhand von Prozenten zu gewichten. Da beide Fragen mittels einer Bedingung (insgesamt 100 %) eingeschränkt sind, wirkt sich eine hohe Gewichtung des einen Leistungskriteriums auf die anderen beiden Leistungskriterien aus1. Generell lässt sich zeigen, dass die Supervisor/innen die behauptete Erosion des Leistungsprinzips in den Organisationen, in denen sie tätig sind, (noch) nicht wahrnehmen. Denn die Leistungskriterien werden aus ihrer Sicht weitestgehend gleich gewichtet: zwischen den Kriterien gibt es statistisch keinen signifikanten Unterschied. Hätten die Supervisor/innen jedoch selbst das Sagen und dürften bestimmen, wie die Leistungskriterien gewichtet werden, dann würden sie die Leistungsbereitschaft (36.86 %) den beiden anderen Kriterien vorziehen. ,Q2UJDQLVDWLRQHQ /HLVWXQJVIlKLJNHLW /HLVWXQJVEHUHLWVFKDIW (UIROJ

  

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Es stellt sich die Frage, weshalb die Supervisor/innen diese Präferenz haben? Eine mögliche Erklärung wäre, dass Leistungsbereitschaft das einzige Kriterium ist, das ein Akteur selbst (aktuell) beeinflussen kann. Während Leistungsfähigkeit an längerfristige Lernprozesse gebunden ist, und Erfolg von einer kaum zu kontrollierenden Marktdynamik abhängt, ist Leistungsbereitschaft, abgesehen davon, dass auch sie habituell sein kann, am stärksten eine willentliche Entscheidung. Folglich lässt sich Leistungsbereitschaft auch am leichtesten, etwa durch motivierende Anreize, beeinflussen. Indem Supervisor/innen dieses Kriterium präferieren, betonen sie einen Ansatzpunkt für ihre eigene Arbeit mit den Beschäftigten.

1 Die in den Klammern angegebenen Werte sind Mittelwerte und dürfen als Prozentangaben verstanden werden.

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Da die behauptete Erosion des Leistungsprinzips als Auswirkung eines fortschreitenden Marktradikalismus verstanden wird, liegt die Vermutung nahe, dass die Supervisor/innen je nach ihrer Feldaffinität unterschiedliche Beobachtungen machen. Teilt man sie in zwei Gruppen – diejenigen, die beträchtlich bis überwiegend in Profit-Organisationen tätig sind, und diejenigen, die es nur geringfügig bis überhaupt nicht sind –, dann zeigen sich signifikante Unterschiede: Auf den ersten Blick ist auffällig, dass Profit-Organisationen in der Wahrnehmung der Supervisor/innen das Erfolgskriterium deutlich höher gewichten als Non-Profit-Organisationen (38.40 % zu 32.90 %)! Die behauptete Dominanz des Markterfolgs wäre somit für Profit-Organisationen bestätigt. Ob und wann Non-Profit-Organisationen nachziehen, bleibt abzuwarten.

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Wenn die Befragten selbst die Leistungsbewertung vornehmen dürften, bevorzugen beide Gruppen die Leistungsbereitschaft als Leitkriterium. Damit stecken die Supervisor/innen, die in Profit-Organisationen tätig sind, in einem Dilemma. Denn sie präferieren ein Kriterium, dass von den Organisationen, die sie beauftragen, nicht präferiert wird! Welche Konflikte daraus entstehen und wie Supervisor/innen mit ihnen umgehen, ist eine offene Frage. Auf die Theorie der Selbstwirksamkeit („self-efficacy“) rekurrierend, geht eine primäre Orientierung an der Leistungsbereitschaft mit einer Stärkung der Selbstwirksamkeit der Beschäftigten („empowerment“) einher. Man mag vermuten, dass die Supervisor/innen eben dies anstreben. So gesehen würde eine Ausrichtung der Supervision auf Erfolg den Druck erhöhen und dadurch den handlungsentlasteten Schutzraum kosten, den Supervisor/innen traditionell zu bieten versuchen.

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Zum Weiterlesen Bandura, A. (1997): Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman. Böhme, G. (Hrsg.) (2010): Kritik der Leistungsgesellschaft. Bielefeld, Basel: Edition Sirius. Neckel, S. (2008): Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. Frankfurt am Main, New York: Campus.

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„Gute Arbeit ist, wenn ich Anerkennung bekomme“ Professionalität und gute Arbeit Christoph Handrich

Die nach wie vor anhaltenden Prozesse der Ökonomisierung, Privatisierung und Kostenreduktion sowie eine stark zunehmende internationale Konkurrenz sind für die Bedingungen professionellen Handelns in Organisationen prägend.1 Die Reaktion der Organisationen auf diese Prozesse besteht weiterhin in tief greifenden Restrukturierungsmaßnahmen der Arbeitsorganisation. Neben direkten Auswirkungen auf die Beschäftigten in Form von Befristungen der Arbeitsverhältnisse, geringerer Bezahlung und einer Komplexitätssteigerung bezüglich der Aufgaben und Organisationsstrukturen zeigt sich, dass die soziale Integrität in den Betrieben in den Hintergrund zu treten droht und als Folge Inhalte, Werte und Ziele der Organisation für die Mitarbeiter nur noch schwer erkennbar sind und eine Orientierungslosigkeit nach sich ziehen, die in einem Verlust des Vertrauens gegenüber der Organisation münden. Zudem lassen sich Auswirkungen auf die Professionalität und das Verständnis von guter Arbeit erkennen, die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Nach Auswertung der qualitativen Daten lässt sich zunächst festhalten, dass sich in den Organisationen bzw. Institutionen kein einheitliches Verständnis von Professionalität und guter Arbeit erkennen lässt. Vielmehr ist das professionelle Handeln durch einen Widerspruch zwischen den Anforderungen der Organisationen an ein spezifisches Qualitätsniveau der angebotenen Produkte und Dienstleistungen einerseits und den Ansprüchen der Beschäftigten an ihre Arbeit andererseits gekennzeichnet.

Tauschwertorientierung der Organisationen Das Ziel professionellen Handelns liegt aus Sicht der Organisationen insbesondere darin, den eigenen ökonomischen Erfolg und die Konkurrenzfähigkeit zu sichern. Ökonomische Effizienz ist dabei die zentrale Leitlinie des professionellen Handelns in Profit- wie auch in Non-Profit-Organisationen. Diese Effizienz bezieht sich primär auf quantitative Messdaten bezüglich anfallender Kosten und erzielter Ergebnisse, wobei die Kostenreduktion ein elementares Ziel des Arbeitshandelns darstellt. Dabei ist die Art und Weise des Erreichens eines definierten Ergebnisses auf der Grundlage verfügbarer Ressourcen häufig von untergeordnetem Interesse, sodass die eigentliche Produktionsleistung des Produktes oder der Dienstleitung einer „Blackbox“ gleicht. Dabei

1 Siehe auch Beumer in diesem Band.

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zeigt sich häufiger, dass insbesondere im Non-Profit-Bereich die Kostenfrage einen immer größeren Stellenwert bei der Auswahl und der Anwendung von Maßnahmen genießt, die nicht zuletzt auf eine stetig wachsende Anzahl von Fällen bzw. Klienten angewendet werden. Neben dem primären Ziel der ökonomischen Überlebensfähigkeit stellt die Reputation bzw. die Außenwirkung der Organisationen ein weiteres wichtiges Kriterium professioneller Arbeit dar. Die Außendarstellung oder die Aufrechterhaltung eines gewünschten Images ist laut den Aussagen der befragten Supervisoren ein ebenso wichtiger Bestandteil professioneller Arbeit aus Sicht des Unternehmens. Diese Anforderung bezieht sich dabei nicht allein auf externe Kontakte (bspw. Kunden, andere Unternehmen etc.), sondern ist ebenso unternehmensintern hoch bedeutsam. Insbesondere in ProfitUnternehmen, die vermehrt Projektarbeitsstrukturen aufweisen, sind die Mitarbeiter einzelner Abteilungen häufig darauf bedacht, die eigene Abteilung möglichst gut und leistungsfähig gegenüber den Mitarbeitern anderer Abteilungen darzustellen. Ein Supervisor beschreibt beispielhaft die Folgen der innerbetrieblichen Reputationswahrung einer einzelnen Abteilung: „Eine Entlastung ist es im Grunde nicht, weil die ja genau wissen, das ist jetzt unvollständig abgearbeitet, es ist eigentlich etwas, was die Abteilung nach außen hin gut dastehen lässt. Weil, der Erfolg wird daran gemessen, ob die Sachen pünktlich zu dem Datum ausgestellt sind, ob die richtig bearbeitet sind oder so, interessiert – in Anführungsstrichen – da niemanden. Es fällt nur dann auf, wenn die ganzen Folgewirkungen eintreten, dass also sämtliche Berichte und so weiter völlig falsch sind, dass der Finanzplan nicht mehr stimmt und so weiter. […] Das unprofessionelle Handeln schleppt sich dann weiter, zieht den nächsten Rattenschwanz nach sich, indem dann nämlich aufwändig Fehler gesucht werden für Sachen, wo man erst mal nicht weiß, wo das herkommt, wo die Ursache ist, weil eben in dem Gesamtgefüge eine Abteilung gesagt hat, ,wir stellen uns nach außen hin gut dar, sind aber in der Binnenstruktur unprofessionell‘.“ (F 8) Im Einklang mit einem mustergültigen Auftritt nach außen ist eine weitere Anforderung an professionelles Handeln verbunden. Diese besteht insbesondere in ProfitOrganisationen in einer starken Kundenorientierung, die sich in einer unternehmensseitig definierten Kundenfreundlichkeit bzw. -zufriedenheit äußert. Hierbei zeigt sich jedoch, dass der Kundenbegriff zumeist nicht klar definiert werden kann. Häufig wird mit Kunden im Profit-Bereich nicht ein sogenannter „Endkunde“ beschrieben, d.h. der letztendliche Nutzer des hergestellten Produkts, sondern es handelt sich hierbei oftmals um andere Unternehmen, was mit einer sogenannten b2b-Beziehung umschrieben wird. Doch auch im Non-Profit-Sektor ist der Kundenbegriff teilweise keineswegs eindeutig definierbar.2

2 Bspw. in der Altenpflege, wo oftmals nicht die zu pflegende Person, sondern deren Angehörige als Kunden angesehen werden.

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Zudem wird von den Mitarbeitern ein weitgehend selbständiges Arbeiten sowie die Fähigkeit erwartet, möglichst viele in der Organisation entstehende Aufgaben, auch über die momentan ausgeübte Funktion hinaus, übernehmen zu können. Ebenso zählt Konfliktfähigkeit zu den häufig genannten Anforderungen an die Mitarbeiter. Soziale Kompetenzen wie bspw. Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten, obwohl insbesondere für die Konfliktfähigkeit essenziell, werden hingegen von den befragten Supervisoren häufig bei der Zuschreibung professionellen Handelns als untergeordnete Kriterien wahrgenommen. Wird die Qualität der Arbeit betrachtet, so soll diese insbesondere durch eine starke Standardisierung mit entsprechender kennzahlenbasierter Kontrolle der Arbeitsergebnisse realisiert werden. Dies bedeutet, dass oft einheitliche Kriterien als Bewertungsgrundlage verwendet werden, an denen die Qualität der Arbeit häufig auch nach Papierlage bemessen wird. Den Mitarbeitern wird somit über ihre eigentliche Tätigkeit hinaus u.a. eine umfangreiche Dokumentation ihrer Arbeit abverlangt, die neben einer erhöhten Belastung in augenscheinlich nicht-produktiven Arbeitsschritten auch eine individuelle Zuschreibung der Arbeitsleistung darstellt und damit auch psychisch belastende Komponenten hinsichtlich einer möglichen Überwachung enthält. Ein Supervisor umschreibt die Standards der Arbeitsqualität in Profit-Organisationen wie folgt: „Also in den großen Unternehmen gibt es ja regelmäßig Zielvereinbarungen und auch Jahresgespräche. Und da ist mein Eindruck, je größer diese Unternehmen, desto operationalisierter sind diese Zielsetzungen, also desto mehr sind die quantifiziert, messen die sich nur an Umsatzzahlen, an Auftragszahlen, an Fehlerquoten. Also an Dingen, die nachweislich auch messbar sind und quantifizierbar sind. Und so qualitative Gesichtspunkte kommen eher zu kurz.“ (C 1) Die Kriterien und Handlungsvorgaben an die Qualität der Arbeit werden in vielen Organisationen in sogenannten Qualitätshandbüchern festgeschrieben. Allerdings berichten die Supervisoren, dass diese Handbücher in den seltensten Fällen Beachtung finden und stattdessen sehr heterogene Vorstellungen von Qualität und Professionalität innerhalb der Organisationen vorherrschend sind. Hinzu kommt, dass die Einhaltung der Qualitätsvorgaben insbesondere in Profit-Unternehmen stark von dem vorherrschenden Markt- und Konkurrenzdruck abhängig ist. Dementsprechend konstatieren etwa zwei Drittel der befragten Supervisoren eine starke Dominanz ökonomischer Kriterien innerhalb der Organisationen, die zunehmend bisher gültige Qualitätsstandards verdrängen.

Gebrauchswertorientierung der Mitarbeiter Der in diesem Sinne auf kurzfristige Profite ausgerichteten Tauschwertorientierung der Organisationen steht aufseiten der Beschäftigten ein Professionalitätsverständnis gegenüber, das sich vornehmlich am Gebrauchswertcharakter der Arbeit orientiert.

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Dabei haben die Beschäftigten durchaus relativ klare Vorstellungen von guter Arbeit. Ein Supervisor beschreibt dies beispielhaft wie folgt: „Jeder weiß, was gut und schlecht ist. Echt, also die gemeine Krankenschwester wird ja unterschätzt. Und die weiß schon, was gut ist, und die weiß auch, wenn sie jetzt gerade abgeblitzt ist mit irgend nem blöden Argument […] Die weiß auch, dass die Sachen, die sie gerne gemacht hätte mit den Patienten, jetzt wieder nicht dazu gekommen ist und das das Scheiße ist. Die wissen das ganz genau. Genauso wie jeder Fliesenleger weiß, dass das nun aber kein rechter Winkel war, was er da gemacht hat. […] Die wollen alle gute Arbeit machen. Und wissen auch genau wie es ginge und leiden dann eher darunter, dass es nicht funktioniert.“ (C 2) Eine wichtige Voraussetzung für professionelles Arbeiten aus Sicht der Mitarbeiter stellt dabei, nach Meinung der befragten Supervisoren, zunächst die Sinnhaftigkeit der übertragenen Arbeitsaufgabe dar. Dies bedeutet, dass die geleistete Arbeit für die Beschäftigten in irgendeiner Art und Weise Sinn ergeben soll. Aufgrund der zunehmenden Heterogenität der Aufgaben, deren Inhalt zudem häufig nur am Rande mit der eigentlichen Tätigkeit in Zusammenhang steht, und den andauernden arbeitsorganisatorischen Restrukturierungsmaßnahmen fällt es ihnen allerdings deutlich schwerer, den Sinn der geleisteten Arbeit zu erkennen. Neben der Heterogenität der Aufgaben ist die verfügbare Ressourcenausstattung oftmals nicht dazu geeignet die Arbeitsaufgabe hinreichend auszuführen, sodass auch in diesem Sinne die Sinnhaftigkeit der Arbeitsaufgabe hinterfragt wird. In der Folge kann dies mit einer schleichenden bzw. manifesten Entfremdung von der eigenen Tätigkeit einhergehen und die physische wie psychische Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Ebenso ist für die Beschäftigten von hoher Bedeutung, dass die geleistete Arbeit mit einem konkreten und wirksamen Ergebnis in Verbindung gebracht werden kann. Insbesondere diese Wirksamkeit der Arbeit ist ein fundamentales Kriterium für die Qualität der Arbeit aus Sicht der Beschäftigten. Dabei ist es für die Mitarbeiter von großer Bedeutung, dass ihre Arbeit ein Ergebnis erzielt, dass sich beurteilen lässt, aber vor allem anerkannt werden kann. Demnach sind besonders Rückmeldungen der Führungskräfte enorm bedeutsam. Dies zeigt sich auch in einer nicht konsequenten Ablehnung des Arbeitens nach Kennzahlen, da gerade diese es ermöglichen, klare Beurteilungen und Ergebnisse zu generieren, die zudem vergleichende Einschätzungen ermöglichen. Ein Faktor, der insbesondere im Profit-Bereich vordergründig erscheint, aber zunehmend auch im Non-Profit-Bereich stärker thematisiert wird, ist eine starke Kundenorientierung. Diese äußert sich in einem hohen Stellenwert der Kundenzufriedenheit im täglichen Arbeitshandeln der Beschäftigten. Wie oben bereits angedeutet, ist der Kundenbegriff der Mitarbeiter jedoch häufig nicht mit jenem der Organisationen deckungsgleich, sodass auch die Kundenzufriedenheit teilweise vollkommen unterschiedlich definiert wird. Ein Supervisor beschreibt den Aspekt der Kundenzufriedenheit in Verbindung mit dem Anspruch der Wirksamkeit folgendermaßen:

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„Also aus meiner Perspektive glaub ich, dass es einmal wirklich dieser Wirksamkeitsgedanke ist. Wenn die Leute das Gefühl haben oder sagen: Ich bin wirksam gewesen, ich hab nicht nur was gemacht, sondern es hat auch etwas bewirkt. Da würd ich sagen, für die Leute ist gute Arbeit, wenn sie eine Anerkennung erfahren, sowohl von ihren– Ich glaube, dass ganz viele Mitarbeiter die Idee haben: Gute Arbeit ist, wenn ich von meinen Klienten eine Anerkennung bekomme.“ (C 9) Den professionellen Umgang mit und das Vertrauen in moderne IuK-Technologien sind Faktoren, die vor allem die befragten Supervisoren selbst als professionelle Anforderungen an die Beschäftigten stellen. Insbesondere älteren Beschäftigten scheint es schwer zu fallen, den Technologien zu vertrauen und diese ohne ein gewisses Misstrauen anzuwenden. Dies führt dazu, dass sie dazu neigen, die „Arbeit“ der technischen Geräte zu kontrollieren und dadurch zusätzlich unter Zeitdruck zu geraten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Beschäftigten insbesondere auf der Grundlage von Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der eigenen Arbeit in der Regel eine klare Vorstellung von guter bzw. professioneller Arbeit entwickeln. Diese Maßstäbe an qualitätsvolles Arbeitshandeln stehen für die Mitarbeiter im Vordergrund des eigenen Arbeitshandelns, allerdings ohne dass die ökonomischen Ziele der Organisation damit vollständig ausgeblendet würden. Diese werden aber vor allem dann äußerst kritisch betrachtet, wenn mit der zunehmenden Tauschwertorientierung der Organisationen deren Ziele für die Mitarbeiter übermächtig erscheinen und die eigene Arbeitsorientierung zu untergraben drohen.

Konsequenzen divergierender Professionalitätsauffassungen Im Arbeitsalltag führen die auseinanderdriftenden Auffassungen von Professionalität verstärkt zu Konflikten um die Qualität der Arbeit. Die Unsicherheit der Beschäftigten bezüglich des Ziels ihres Arbeitshandelns steigt, weil sie sich verstärkt mit dieser doppelten Professionalitätsanforderung der organisationalen Tauschwertorientierung einerseits und der individuellen Gebrauchswertorientierung andererseits konfrontiert sehen. Demzufolge beobachtet eine Mehrzahl der befragten Supervisoren Konflikte um die Qualität der Arbeit zwischen den Beschäftigten und dem Management. Die befragten Supervisoren berichten in diesem Zusammenhang von einer Zunahme zusätzlicher kleinteiliger Arbeitsprozesse, die von den Beschäftigten in hohem Maße Konzentration und Aufmerksamkeit erfordern und somit eine intensive Auseinandersetzung mit der eigentlichen Arbeitsaufgabe kaum noch ermöglichen bzw. diese zu einem Nebenziel degradieren. Damit einhergehend steigt die Unsicherheit bezüglich des eigentlichen Ziels des Arbeitshandelns, da für viele Beschäftigte keineswegs die Sicherheit besteht, dass die Tätigkeit, für die sie ausgebildet und angestellt wurden, auch diejenige ist, die primär geleistet werden soll. Vielmehr sind die scheinbaren Zusatztätigkeiten, für deren Bearbeitung die Qualifikation der Mitarbeiter meist nicht ausreicht, die bedeutsameren. Diese Problematik verschärft sich zudem dann, wenn die zur Bearbeitung

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notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen oder vorenthalten werden. Teilweise lässt sich ein Absinken der Arbeitsqualität auch anhand einer geringeren Qualifikation der Mitarbeiter erkennen, da in einzelnen Bereichen bereits die Ausbildungszeiten verkürzt werden, um einem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken und dementsprechend schneller Arbeitskräfte zur Verfügung stellen zu können. Dass insbesondere der steigende Zeit- und Leistungsdruck zu einem Absinken der Arbeitsqualität beiträgt, bestätigen knapp 70 % der Befragten. Die Folge des stetig steigenden Zeit- und Leistungsdrucks führt allerdings nicht zu einer Handlungsunfähigkeit der Organisationen und deren Mitarbeiter, sondern, wie es einer der befragten Supervisoren umschrieb: „Es läuft eben irgendwie trotzdem.“ Dass es trotzdem läuft, ist nach Meinung der Supervisoren insbesondere auf die Anpassungsstrategien der Beschäftigten und einem damit verbundenen Wandel der betrieblichen Anforderungen zurückzuführen. Diese Verhaltensweisen beziehen sich v.a. auf das Ableisten qualitativ hochwertiger und professioneller Arbeit innerhalb der Organisationen. Dabei beobachten die Supervisoren eine Zunahme taktischer Vorgehensweisen der Beschäftigten. Diese Taktiken sind sehr vielfältig und beziehen sich auf mehrere Ebenen: So ist es bspw. im Zuge der fortschreitenden Implementierung der Qualitätsmanagementstrukturen notwendig, Arbeitsschritte zu dokumentieren, was bei korrekter Durchführung einen enormen Zeitaufwand nach sich zieht. Die Beschäftigten gehen im Zuge dessen verstärkt dazu über, diese Dokumentationen so zu formulieren, dass sie im Grunde „nichtssagend“ sind. Dafür werden bspw. standardisierte Textbausteine eingesetzt. Damit soll einerseits verlorene Zeit (zumindest partiell) wieder aufgeholt werden, indem die Berichte schneller geschrieben werden können, andererseits werden dadurch Handlungsoptionen offen gehalten, indem „nichtssagende“ Berichte auf mehrere Handlungen bezogen und evtl. auch im Nachhinein legitimiert werden können. Ein Supervisor schildert diese Vorgehensweise beispielhaft: „Ich hab jetzt auch so vor Augen eine Psychologin im Krankenhaus, immer größerer Druck durch Aufnahmeprotokolle, dadurch einerseits mehr Verantwortung, andererseits weniger Arbeit direkt mit dem Klienten. Schluss, der da draus gezogen wird, ist, die Berichte immer effizienter zu machen, auch bis zu dem Punkt, dass sie nicht mehr so aussagekräftig sind. Das hat wahrscheinlich keine so großen Folgen, weil die ja wahrscheinlich sowieso nicht so viel gelesen werden. Es bedeutet aber, dass praktisch die– also einerseits geht dann runter die Zeit, die sie therapeutisch mit den Leuten verbringen können, und andererseits sind dann die Berichte, die da geschrieben werden, nicht mehr so detailliert [und] standardisierter, und dadurch geht dann die Individualität des einzelnen Falls, denk ich, auch ein Stück weit verloren. Das ist denk ich immer einer der Effekte von so einer Standardisierung. […] Der Schluss ist letztlich, die wollen, dass ich mehr Patienten durchschleuse, dann kriegen sie weniger Qualität.“ (C 4) Eine weitere Taktik bzw. Anforderung besteht darin, sich für bestimmte Aufgaben bzw. für die Durchsetzung bestimmter Arbeitsschritte oder -ziele Verbündete zu suchen. Dies sind in den meisten Fällen nicht der direkte Vorgesetzte, sondern Kollegen oder

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auch Führungskräfte aus anderen Abteilungen oder sogar anderen Organisationen. Damit soll eine informelle Bündelung von Ressourcen und Kapazitäten erreicht werden, um diese Arbeitsaufgaben kooperativ lösen zu können. Eine weitere Entlastung wird nach Aussagen der Supervisoren dadurch erreicht, dass insbesondere der stark belastend wirkende finanzielle Druck teilweise informell aus der Organisation nach außen abgeleitet wird, bspw. durch eine partielle Weiterleitung des finanziellen Drucks an die Kunden bzw. Klienten. Dies geschieht im Non-Profit-Bereich bspw. derart, dass den Klienten bewusst die Kosten der Maßnahmen offenbart werden, um deren kooperative Einstellung zu fördern. Ebenso deutet sich im Gesundheitswesen ein Modell an, das den Patienten, mit Verweis auf entstehende Kosten, die Entscheidung einer Behandlungsmethodik überlässt, diese also nicht mehr durch den Arzt allein gefällt wird. Diese Externalisierung des Drucks steht im Zusammenhang mit einer weiteren Verhaltensweise bzw. Anforderung an die Beschäftigten, die sich als professionelle Distanz umschreiben lässt. Hierbei handelt es sich um die Entwicklung einer strikten Distanz zum zu bearbeitenden Gegenstand. Ein klares Einlassen bzw. eine zu starke Identifikation mit der Arbeit und dem Arbeitsgegenstand wird zunehmend vermieden. Dies äußert sich im Non-Profit-Bereich bspw. im „Siezen“ der Klientel, statt des üblichen „Duzens“. Da dies häufig von Jüngeren praktiziert wird, begegnen die Älteren ihnen mit Misstrauen. Im Profit-Bereich lässt sich diese Verhaltensweise insbesondere in projektbasierten Arbeitsweisen erkennen. Dabei beobachten die Supervisoren, dass zunehmend egoistische Verhaltensweisen die Arbeit dominieren. Egoistisch ist das Verhalten in der Hinsicht, dass in Projekten zunehmend nicht der Erfolg des Projektes wichtigstes Ziel ist, sondern vielmehr die individuellen Interessen der Mitarbeiter bzw. die Interessen ihrer Herkunftsabteilung im Vordergrund stehen. Ein Supervisor schildert seine Beobachtungen hinsichtlich der Arbeitsweisen in Projekten innerhalb von Profit-Organisationen: „Die gute Arbeit in Projekten, die ist zum Beispiel abhängig von Kooperation, die abteilungsübergreifend ist. Und da fehlt, würde ich fast sagen, da fehlt fast ein allgemeines Verständnis von dem, was gute Arbeit ist. Da gehört zur guten Arbeit, dass immer nur das eigene Interesse gut bedient ist und dass man gut dasteht. Also das der eigenen Abteilung und nicht so sehr das des Projektes. Dass im Grunde nicht sauber geklärt werden kann, dass die Aufträge nicht klar gemacht, nicht abgesprochen werden, dass wenn etwas fertig ist, ein Arbeitspaket fertig ist, die anderen nicht informiert werden. Ich bin eben fertig, warum muss ich da jemandem was sagen? Also der gesamte Koordinierungs- und Absprachen- und Kommunikationsbereich, der in der eigenen Abteilung selbstredend und selbstverständlich ist und dort auch zu ner guten Arbeit dazu gehört […] das scheint in Projekten völlig anders zu sein. Und dann gehört es nicht mehr zum Verständnis von guter Arbeit.“ (C 7) Da diese Verhaltensweisen ein gewisses Konfliktpotenzial in sich bergen, ist nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern auch generell, die Fähigkeit, Konflikte führen und

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austragen zu können, eine weitere wichtige Anforderung professionellen Arbeitens. Denn Konflikte werden zunehmend ein Bestandteil des täglichen Arbeitshandelns. Dazu zählen nicht nur Konflikte zwischen den Kollegen untereinander. Sondern es müssen auch Konflikte mit den Vorgesetzten ausgetragen werden, bspw. bei der Einforderung von Feedback bzw. klarer Aussagen bzgl. des Arbeitshandelns. Auch Konflikte mit Kunden und Klienten müssen zunehmend geführt werden, um Arbeitsaufgaben erreichen zu können. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Professionalität kein einheitlicher Begriff innerhalb und auch zwischen den Organisationen ist. Viele Organisationen versuchen mithilfe sogenannter Qualitätshandbücher Kriterien für professionelles Handeln aufzustellen und die Mitarbeiter zu verpflichten, entsprechend dieser Richtlinien zu handeln. Doch meist ist es den Mitarbeitern aufgrund der angeführten Bedingungen unmöglich, auf Grundlage dieser Richtlinien ihre Arbeitsaufgaben zu erledigen, die zudem meist nicht klar umrissen sind. Demnach wird Professionalität vielmehr in einem individuellen Vermittlungsprozess zunächst für den einzelnen Mitarbeiter selbst hergestellt. Dieser entscheidet zunächst für sich allein, welche Ziele bzw. Handlungsweisen zur Erledigung einer Aufgabe subjektiv angebracht erscheinen und mit welchen Mitteln diese zu erreichen sind. Dies stellt hohe Anforderungen an die Beschäftigten, dabei insbesondere an deren Selbstmanagement. In Verbindung mit weiteren Konflikten, die innerhalb der Organisation zunehmend über Arbeitsweisen und Arbeitsaufgaben geführt werden, entwickelt sich innerhalb der Organisationen ein Verständnis von Professionalität, dass zwischen den Beschäftigten erst hergestellt wird bzw. hergestellt werden muss.

Entwicklungskonstellationen der Professionalität Als Folge der aufgezeigten Bedingungen und Entwicklungen zeichnen sich intraorganisationale Konstellationen ab, die eine Distanzierung von bisher gültigen Professionalitätskriterien aufseiten der Organisationen wie der Beschäftigten beinhalten (siehe auch Voß in diesem Band). Folgende Konstellationen bezüglich der Ausgestaltung von Professionalität in Organisationen erscheinen möglich: Verteidigung hochwertiger fachlicher Professionalität und Qualität von Arbeit Eine deutlich gebrauchswertbezogene Qualität bzw. kundenorientierte Professionalität entsteht bzw. erhält sich dann, wenn die berufsfachlichen Standards von Mitarbeitern mit betrieblichen Strategien einer hochwertigen Qualitätsproduktion konvergieren. Diese kann zwar ökonomische Anforderungen nicht vernachlässigen, ist aber auf betrieblicher Seite durch eine nicht nur deklamatorische oder oberflächlich dominierende Orientierung an nachhaltigen und langfristigen Markterfolgen durch Spitzenqualität getragen. Ökonomisierte Professionalität Diese Art der Professionalität orientiert sich an den verfügbaren Ressourcen. Die Mitarbeiter versuchen, mit den vorhandenen Ressourcen eine Arbeitsleistung zu erreichen,

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die im Einklang mit den organisationalen Vorgaben steht und individuelle Vorstellungen kalkulatorisch daran bemisst. Vorherrschend ist eine Orientierung an formalen Effizienzkriterien der Arbeit. Die Reduktion bestehender gegenstandsbezogener inhaltlicher Qualitätsstandards von Arbeit basiert aufseiten der Organisation aus situativ für notwendig erachteten Anpassungsmaßnahmen an die Wettbewerbssituation (z. B. bei Einsparung von Personal bei gleichbleibendem Arbeitsdruck) oder strategischer Reorientierung (z. B. als bewusste Entscheidung für ein Marktsegment unterhalb des bisherigen Qualitätsstandards). Dies führt in letzter Konsequenz zu einer Suspendierung bisher gültiger fachlicher Vorstellungen sowohl bei der Organisation wie bei den Beschäftigten. Subjektivierte Professionalität Wenn den Beschäftigten die Ausgestaltung des professionellen Handelns zugewiesen und eigenverantwortlich überlassen wird, müssen sie auf der Grundlage vorhandener Ressourcen, eigener Vorstellungen und struktureller Gegebenheiten selbstreflexiv eine individuelle Professionalität entwickeln. Demgegenüber bestehen keine einheitlichen professionellen Standards auf der Organisationsebene. Die Anpassungsleistung der Individuen besteht weniger – wie im Fall ökonomisierter Professionalität – im Wechsel der Orientierung. Vielmehr müssen die Individuen eine defizitäre Ressourcenausstattung, die aus der Reorganisation resultiert, durch individuelle Redefinition der Professionalitäts- und Qualitätsstandards kompensieren. Die Arbeitenden füllen so entstehende Lücken und ersetzen die organisatorische Definition von hinreichender Arbeitsqualität durch eigene Definitionen. Das eröffnet einerseits Handlungsspielräume für die Subjekte und damit die Möglichkeit zur Selbstentlastung angesichts einer defizitären Ressourcenausstattung, andererseits aber auch die Gefahr von Selbstausbeutung durch überhöhte eigene Standards. Die drei vorstehenden Konstellationen deuten in letzter Konsequenz auf eine sich möglicherweise abzeichnende Spaltung des Professionalitätsverständnisses hin: Organisationen bzw. Individuen, die über umfangreiche Ressourcen verfügen und qualitativ hochwertige Arbeit leisten können und wollen, steht eine Professionalität bzw. ein Professionalitätsverständnis gegenüber, das mit knapper Ressourcenaustattung bestenfalls ein Minimum an qualitätsvoller Arbeit gewährleisten kann. Hinzu kommt, dass die Erfüllung von Minimalkriterien fachlicher Arbeit den Mitarbeitern auf dem Wege einer „subjektivierten“ Vermittlung konfligierender Anforderungen als die eigentliche professionelle Leistung zugewiesen wird. Insoweit lässt sich in Bezug auf Professionalität in Organisationen eine Differenzierung von Entwicklungspfaden diagnostizieren. Auf unterschiedliche Weise führen die beiden letztgenannten Strategien langfristig zu einer Entwertung des bisherigen Begriffs der Professionalität und laufen dem traditionellen Ansinnen einheitlicher Berufsqualifikationen und -standards zuwider.

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Generationenunterschiede Hinsichtlich des Professionalitätsverständnisses bzw. auch des allgemeinen Arbeitsverständnisses lassen sich aus Sicht der befragten Supervisoren auch deutliche Generationenunterschiede (siehe dazu auch Alsdorf in diesem Band) in den Organisationen erkennen. So entwickeln jüngere Beschäftigte eine Arbeitseinstellung, die, wie oben bereits angedeutet, als „nüchtern“ funktional umschrieben werden kann. Diese äußert sich in Individualismus, geringerer Teamorientierung sowie einer Tendenz zu schwindender Identifizierung mit der Arbeit, mit ihrer beruflichen Rolle und der Organisation insgesamt. Das zeigt sich insbesondere in einer latenten instrumentellen Außenorientierung der jüngeren Beschäftigten in Verbindung mit einem abnehmenden Verpflichtungsgefühl gegenüber der Organisation. Die befragten Supervisoren berichten in diesem Zusammenhang häufig von einer multioptionalen Perspektive der Jüngeren. Dies bedeutet, dass Jüngere sehr bewusst und deutlich mehrere berufliche Optionen wahrnehmen und diese auch aktiv als Handlungsoptionen in Erwägung ziehen, wobei die Exit-Option, also das Verlassen der Organisation, eine häufig geäußerte Option ist, wie sie durch die Supervisoren wahrgenommen wird. Die Jüngeren sind demnach grundsätzlich dazu bereit, die Stelle bzw. den Arbeitgeber zu wechseln, wobei dies nicht aufgrund arbeitsvertraglicher Zwänge (bspw. aufgrund eines befristeten Vertrags) in Betracht gezogen wird, sondern durchaus auf der Grundlage individueller, selbstbestimmter und auch strategischer Erwägungen. Mit dieser Einstellung geht auch ein stärkeres Selbstbewusstsein bezüglich der eigenen Flexibilität und Fähigkeiten einher sowie ein Wissen darum, dass dies bei potenziellen Arbeitgebern einen hohen Stellenwert genießt. Als Folge zeichnet sich eine Entwicklung ab, in der es den Organisationen deutlich schwerer fällt, junge und qualifizierte Mitarbeiter zu halten. So etabliert sich bei spezifischen (insbesondere hoch qualifizierten) Beschäftigtengruppen eine Mentalität des schnelleren Wechsels der Organisationen. Infolge der eher niedrig ausgeprägten Bindung an den Arbeitgeber sind auch die Erwartungen der jüngeren Beschäftigten an ihren Arbeitgeber auf einem ähnlich niedrigen Niveau angesiedelt. Während ältere Mitarbeiter häufig eine gewisse Fürsorgepflicht vonseiten des Arbeitgebers erwarten, ist diese Haltung bei den Jüngeren eher seltener zu finden. Ebenso nehmen materielle Orientierungen während des Arbeitsalltages eine untergeordnete Stellung ein, d. h., dass der zu erledigenden Aufgabe Priorität vor betrieblichen Statussymbolen (bspw. ein eigenes Büro) oder auch einer gewissen „Wohlfühlatmosphäre“ (Einrichten des Schreibtisches, Pflanzen im Büro etc.) zugestanden wird. Dies kann insofern als funktional bzw. pragmatisch bezeichnet werden, da durch Teilzeitzeitbeschäftigungsverhältnisse Arbeitsplätze zunehmend zwischen mehreren Mitarbeitern aufgeteilt werden und aufgrund der Befristungen in den Arbeitsverträgen sowie der stärkeren Außenorientierung der Beschäftigten die Aufenthaltsdauer in der Organisation von vornherein begrenzt ist. Zudem erwarten Organisationen zunehmend eine stärkere

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Flexibilität ihrer Mitarbeiter bezüglich der Übernahme unterschiedlicher Tätigkeiten, was einen schnellen fachlichen wie räumlichen Wechsel des Arbeitsplatzes zur Folge hat. Somit wird eine individuelle Einrichtung und Ausgestaltung des Arbeitsplatzes erschwert und gleichzeitig eine organisationsinterne Verortung eingeschränkt. Neben der Distanzierung von der Organisation und ihren Strukturen vollzieht sich bei den Jüngeren auch eine Distanzierung bezüglich des Arbeitsgegenstandes bzw. der Arbeitstätigkeit. Diese emotionale Entfernung von der eigenen Arbeit bewirkt eine funktionale Arbeitseinstellung, die, im Vergleich zu den älteren Kollegen mit deutlichen Unterschieden in der Arbeitsweise einhergeht, die nach Wahrnehmung der Supervisoren insbesondere durch Unterschiede in der Ausbildung begründet sind. Dabei ist eine stärkere ökonomische aber auch durch Standardisierung geprägte Ausbildung und Berufssozialisation als ein wichtiger Faktor anzusehen, der sich stärker im Non-ProfitSektor bemerkbar macht, sich aber ebenso im Profit-Sektor auswirkt. So fällt es Jüngeren zunächst leichter, moderne Technik zu benutzen und in den Arbeitsprozess zu integrieren, die vor allem als Voraussetzung von Planungs- und Steuerungsprozessen in Organisationen dient, sodass Jüngeren insbesondere Vorausplanungen und Dokumentationen leichter fallen. Da bereits die Ausbildungsgänge der Jüngeren durch Standardisierung und Formalisierung geprägt sind, fällt es ihnen in den Organisationen auch leichter, sich mit eben jenen Prozessen zu arrangieren. Eine Folge dieser Sozialisation ist, dass die jüngeren Beschäftigten weniger über die Sinnhaftigkeit von Veränderungen und Vorgaben nachdenken, sondern eher bereit sind diese umzusetzen, auch wenn diese in schneller zeitlicher Abfolge geändert werden und es gleichzeitig bedeutet, dass berufliche Qualitätsvorgaben missachtet werden müssen. Mit dieser Einstellung geht zudem auch ein Aufgeben des Selbstverwirklichungsanspruchs an die Arbeit einher. Zudem ist die berufliche Sozialisation der Jüngeren nach dem Ausbildungsende von der Erfahrung der Unsicherheit des Arbeitsmarktes und flexibler Anforderungen der Arbeitgeber geprägt, sodass langfristige Planung und Perspektiven bei den Jüngeren nicht in dem Maße verinnerlicht sind, wie es häufig noch bei den Älteren zu finden ist. Insbesondere in NonProfit-Organisationen sehen sich jüngere Beschäftigte dementsprechend auch eher als Teil eines Dienstleistungsunternehmens, anstatt die intrinsisch motivierte Arbeitseinstellung ihrer älteren Kollegen zu teilen, die insbesondere darauf gerichtet ist, auf der Grundlage berufsspezifischer ethischer Faktoren die eigene Klientel zu betreuen, ohne dabei organisational-ökonomische Faktoren primär zu berücksichtigen. Ein Supervisor beschreibt die arbeitsbezogenen Einstellungen jüngerer Mitarbeiter einer Non-Profit-Organisation wie folgt: „Da kommen jetzt junge Leute, wo die Kommunikation zwischen diesen Generationen auch sehr schwierig ist und auch zwischen den Ansprüchen zwischen diesen Generationen. Und das macht sich zum Beispiel deutlich, dass junge Fachkräfte kommen, die können wunderbar mit dem PC umgehen, die können sich wunderbar bewerben, die können gut präsentieren, aber diese Arbeit mit den Menschen, die Teamfähigkeit, eine Arbeit so zu beenden, dass ich schon darüber hinaus denke, wie wird meine Kollegin

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die Arbeit weiterführen, also Kollegialität und auch den Gedanken, also dass es einen Teamerfolg gibt und nicht einen individuellen Arbeitserfolg, das ist weniger bei den jungen Leuten ausgeprägt.“ (F 10) Während die jüngeren Mitarbeiter zunehmend versuchen, sich durch eine Distanzierung zu Organisation und Arbeitsgegenstand und einer damit verbundenen Veränderung der Arbeitseinstellung mit den gegebenen Verhältnissen zu arrangieren, zeigt sich bei den Älteren eher eine abwartende Haltung. Diese beruht vor allem auf einer größeren Berufserfahrung und dem damit verbundenen Durchlaufen mehrerer Veränderungsprozesse in den Unternehmen. Die befragten Supervisoren beschreiben das Verhalten der älteren Mitarbeiter eher als „gelassener“ im Vergleich zu den Jüngeren. Mit dem Verweis auf ihr Erleben diverser struktureller Veränderungsmaßnahmen in den Unternehmen entwickeln sie dabei eine passive skeptisch-abwartende Grundhaltung, die sich von der aktiven Arrangierungsstrategie der Jüngeren unterscheidet. Dabei wird nicht selten der Rückzug auf den „Dienst nach Vorschrift“ als eine Strategie gewählt, aus deren relativ sicherer Position heraus die Entwicklung der Situation über einen längeren Zeitraum beobachtet und bewertet werden kann, ohne sich dabei selbst auf die Prozesse einlassen und einer zu großen Überforderung aussetzen zu müssen. Allerdings ist diese Möglichkeit meist nur jenen Mitarbeitern vorbehalten, die über einen unbefristeten Arbeitsvertrag verfügen und wird laut den Beobachtungen der Supervisoren auch häufig von den Mitarbeitern genutzt, deren Pensionierung nicht in allzu weiter Ferne liegt. Zudem steht diese Strategie auch dem Selbstverwirklichungsanspruch entgegen, den die älteren Mitarbeiter häufig an ihre Arbeit stellen. Zusammenfassend: Jüngere und ältere Mitarbeiter verfolgen unterschiedliche Strategien, um sich mit den Bedingungen, die mit dem Wandel der Arbeitswelt einhergehen, zu arrangieren. Diese Arrangements wirken sich zudem auf die Professionalität und die Qualität der Arbeit aus. Letztendlich können die instrumentellen Orientierungen der Mitarbeiter einer Erosion der Beziehungsqualität zwischen Mitarbeitern und Organisation Vorschub leisten und die Stabilität des Gesamtgefüges eines Unternehmens unterminieren.

Fazit Abschließend lässt sich festhalten, dass das Verständnis von professioneller und guter qualitätsvoller Arbeit keineswegs einheitlich ausgeprägt ist. Vielmehr existieren gesamtheitlich betrachtet zwei unterschiedliche Vorstellungen von professioneller Arbeit in Organisationen. Dies ist einerseits ein auf dem Tauschwert der Arbeit basierendes Professionalitätsverständnis der Organisationen, das hauptsächlich auf ökonomische Effizienz rekurriert, die mittels eines starken Kennzahlenbezugs messbar gemacht werden soll, um so professionelles Handeln legitimieren und nachweisen zu können. Demgegenüber steht ein Professionalitätsverständnis der Mitarbeiter, das sich primär

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auf den Gebrauchswert der Arbeit bezieht und professionelles Handeln vor allem mit Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der geleisteten Arbeit verbindet, was insbesondere bei einer zu starken kennzahlenbasierten Arbeitsweise verloren zu gehen droht. Als Folge entstehen Bedingungen, die professionelles Handeln erschweren und zudem Konflikte um die Qualität und Professionalität der Arbeit erzeugen, die letztendlich insgesamt zu einer Veränderung des Professionalitätsbegriffs führen und entweder durch die Organisationen selbst (im Falle ökonomisierter Professionalität) oder letztlich durch die Mitarbeiter (im Falle subjektivierter Professionalität) fachliche Professionalität nach den momentan vorherrschenden Vorstellungen negieren können.

Zum Weiterlesen Dunkel, W., Weihrich, M. (Hrsg.) (2012): Interaktive Arbeit. Theorie, Praxis und Gestaltung von Dienstleistungsbeziehungen. Wiesbaden: VS. Mieg, H., Pfadenhauer, M. (Hrsg.) (2003): Professionelle Leistung. Professional performance. Positionen der Professionssoziologie. Konstanz: UVK. Suchanek, J., Hölscher, B. (2009): Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept? Anforderungsprofile von Arbeitgebern im Rekrutierungsprozess. In: Willems, H. (Hrsg.): Theatralisierung der Gesellschaft (S. 595–614). Wiesbaden: VS.

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Zur Selbstfürsorge der Arbeitenden

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„Inseln schaffen …“ Praxis der Selbstfürsorge Rolf Haubl

„… als ich da hinkam, hatte die Leitungskraft 600 Überstunden. Und alles, was unter 100 war, war irgendwie […] also die arbeiten nicht richtig.“ (F 5) „… das ist das nächste große Thema, nicht nur, ‚ich schaffe meine Arbeit nicht mehr’, sondern, ‚ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich bewirke’. Also das Gefühl von Ohnmacht, und das ist ja etwas, was dann wirklich auch in Krankheit, psychische Erkrankung führt, dass nimmt zu. (F 13) „Also ich finde, es wird billigend in Kauf genommen, dass immer mehr Menschen psychisch erkranken […] also Leute, die ich über mehrere Jahre kenne, werden schwer krank und müssen ihre Arbeit aufgeben.“ (F 10) Die Zitate sind eine kleine, aber repräsentative Auswahl von Stimmen aus den qualitativen Interviews der aktuellen Erhebungswelle. Sie belegen, dass die Supervisor/innen die Arbeitsbelastungen in den Organisationen, in denen sie supervisorisch tätig sind, nach wie vor als sehr hoch beurteilen, was für die Arbeitnehmer/innen bedeutet, überfordert zu werden und damit ihre Gesundheit zu riskieren.

Notwendigkeit und Legitimität von Selbstfürsorge Die Diskussion um Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz wirft Fragen nach deren Bewältigung auf, die konzeptionell das Verhältnis von Fürsorge der Arbeitgeber und Selbstfürsorge der Arbeitnehmer/innen betreffen. Beide sind zusammen zu denken. Wie sich Fürsorge und Selbstfürsorge empirisch zueinander verhalten, macht die jeweilige Kultur einer Organisation aus. Fürsorge meint die Unterstützung, die Arbeitnehmer/innen von ihren Arbeitgebern erwarten dürfen, um ihre Arbeitsaufgaben nachhaltig erfüllen zu können, was den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit einschließt. Fürsorgliche Unterstützungsleistungen reichen über formelle Arbeitsverträge hinaus. Sie sind eher Gegenstand „psychologischer Verträge“, deren Vertragspositionen nicht gleichermaßen einklagbar sind: Zum Beispiel sind die Erwartungen von Arbetinehrmer/innen, von ihren Arbeitgebern fair und respektvoll behandelt zu werden, nicht formalisiert, ob sie erfüllt oder nicht erfüllt werden, hat aber erhebliche Konsequenzen. Denn mangelnde Fairness und mangelnder Respekt sind Belastungsfaktoren, die zu einer arbeitsplatzbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigung führen können.

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Fürsorge hat eine deskriptive und eine normative Seite. Auf der einen Seite geht es um das Verhältnis von tatsächlich erwarteter und tatsächlich erhaltener Unterstützung, auf der anderen Seite um die Unterstützung, die Arbeitnehmer/innen legitimer Weise erwarten dürfen. Diese Unterscheidung ist in doppelter Hinsicht relevant: auf der einen Seite, weil sie die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers begrenzt, denn unter Umständen erwarten Arbeitnehmer/innen mehr Unterstützung, als der Arbeitgeber verpflichtet ist, sie zu leisten. Auf der anderen Seite gilt das freilich auch umgekehrt: Arbeitgeber leisten weniger Unterstützung, als sie zu leisten verpflichtet sind. Aber wie gesagt: Pflichten sind keine rechtlichen, sondern arbeitsethischen Normen, die auch nicht ein für alle Male feststehen, sondern historisch-kulturell-gesellschaftlichen Veränderungen unterliegen. Generell formuliert, ist an der praktizierten Fürsorge eines Arbeitgebers abzulesen, wo er die Grenze der arbeitsplatzbedingten Belastungen seiner Arbeitnehmer/innen mehr oder weniger begründet zieht. Betriebswirtschaftlich gesprochen, verweist die Frage nach der Fürsorge der Arbeitgeber auf deren legitimes Interesse, das Arbeitsvermögen ihrer Arbeitnehmer/innen zu nutzen. Für das Verhältnis von Fürsorge und Selbstfürsorge heißt das: Arbeitgeber dürfen ihrerseits von ihren Arbetinehrmer/innen erwarten, dass diese den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit nicht ganz an ihre Arbeitgeber delegieren, sondern auch selbst dafür Sorge tragen. Folglich markieren Fürsorge und Selbstfürsorge die Pole einer Dimension, auf der verschiedene Verhältnisse von Fürsorge und Selbstfürsorge abgetragen werden können. Diese Verhältnisse sind variabel, sowohl faktisch als auch normativ. Die aktuelle Kritik an der neoliberalen Transformation der Arbeitswelt beruht auf der Diagnose, dass Arbeitgeber zunehmend ihre Fürsorgepflicht verneinen und stattdessen erwarten, dass ihre Arbeitnehmer/innen selbst für sich sorgen, mithin von sich aus darauf achten, keine arbeitsplatzbedingten physischen und psychischen Beschädigungen zu erleiden. Zugespitzt formuliert: Arbeitgeber nehmen sich das Recht heraus, das Arbeitsvermögen ihrer Arbeitnehmer/innen rücksichtslos zu nutzen, weil sie erwarten, dass diese ihre Grenzen kennen und infolgedessen selbst eine Grenze für die betriebliche Nutzung ihres Arbeitsvermögens ziehen. Die Unterstellung, eine solche Begrenzung durchsetzen zu können, ohne Sanktionen des Arbeitgebers fürchten zu müssen, trifft in der Regel aber nicht zu. Denn was für Arbeitnehmer/innen an Selbstfürsorge möglich ist, hängt immer auch davon ab, wie weit Arbeitgeber es letztlich zulassen, dass ihre Arbeitnehmer/innen für sich sorgen. Soll heißen: Da Organisationen keine herrschaftsfreien Räume sind, sondern Räume, in denen um ein Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital gerungen wird, stehen Arbeitnehmer/innen vor der Aufgabe, Selbstfürsorgepraktiken zu wählen, die unter den Bedingungen einer ungleichen Machtverteilung greifen.

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Arbeitgeberpraktiken Jenseits der individuellen Fürsorge für Arbeitnehmer/innen zum Beispiel durch ihre Vorgesetzten verfügen Arbeitgeber über institutionelle Fürsorgepraktiken, die allerdings alle mehr oder weniger ambivalent sind. Zielvereinbarung Diese Form indirekter betrieblicher Steuerung setzt eine hohe Selbsterkenntnis der Arbeitnehmer/innen voraus: Nur diejenigen Arbeitnehmer/innen, die genau wissen, welche Ressourcen sie für bestimmte Leistungen benötigen, und überzeugend darstellen können, dass sie mindestens diese Ressourcen benötigen, können mit realistischen Vereinbarungen rechnen. Aber: Der Hintergrund der Vereinbarungen ist die Antizipation dessen, was von Arbetinehrmer/innen unausgesprochen erwartet wird, wenn sie institutionell anerkannt sein wollen. Bedienen Arbeitnehmer/innen diese Erwartung, ist die Zielvereinbarung unmerklich zu einer indirekten Zielsetzung geworden. Erreichen sie die in der Regel „herausfordernd formulierten“ (hohen) Ziele, steigt unausgesprochen die Erwartung an die nächsten Ziele. Bleiben Arbeitnehmer/innen hinter ihren deklarierten Zielen zurück, sind Erklärungen verlangt, wobei Arbeitgeber, repräsentiert durch Vorgesetzte, oft nicht akzeptieren, dass sie externe Hindernisse angeben. Stattdessen wird – Stichwort: „Eigenverantwortung“ – eine internale Ursachenzuschreibung erwartet, was Schamangst mobilisiert. Überlastungsanzeige Dies ist ein Instrument, Vorgesetzte darauf hinzuweisen, dass die professionell gebotene Qualität der Arbeit aufgrund von zu hohen Belastungen nicht länger gewährleistet ist. Arbeitnehmer/innen werden daraufhin nicht von ihrer Arbeit entbunden; indem sie ihre Überlastung anzeigen, weisen sie aber auf ihre gesundheitliche Gefährdung und damit – aus der Perspektive des Arbeitgebers – auf ein mögliches Haftungsrisiko hin, das entsteht, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, Sicherheitsstandards einzuhalten. Arbeitnehmer/innen nutzen das Instrument aber nur zögernd, wenn sie befürchten müssen, dass Vorgesetzte es gegen sie selbst wenden, indem sie den Verdacht schüren, diese seien den Aufgaben nicht gewachsen. Gesundheitszirkel Gesundheitszirkel sind Einrichtungen in Organisationen, die sich als lernende Organisationen verstehen. Organisationen lernen, indem ihre Mitglieder eine forschende Haltung gegenüber ihrer Praxis einnehmen: So sammeln Arbeitnehmer/innen in den Positionen, die sie bekleiden, tagtäglich Erfahrungswissen, das verloren geht, wenn es nicht systematisch aufbereitet wird. Um Arbeitgebern und / oder Arbeitnehmer/innen zu nützen, muss dieses Wissen evaluiert, gespeichert und immer wieder neu in Umlauf gebracht werden. Gesundheitszirkel dienen einer solchen Systematisierung mit der erklärten Absicht, physische und psychische Gesundheit gefährdende Arbeitsbedingun-

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gen zu reduzieren. Ob ein Gesundheitszirkel dies tatsächlich leistet, hängt nicht zuletzt davon ab, ob er in der Erfüllung seiner Aufgabe frei ist oder lediglich eine Alibifunktion hat.

Selbstfürsorge als lebensgeschichtlich erworbene Kompetenz Psychologisch betrachtet, ist Selbstfürsorge die Kompetenz, mehr oder weniger effektiv für die eigene physische und psychische Gesundheit zu sorgen, ob im Privatleben oder im Berufsleben. Diese Kompetenz hat lebensgeschichtliche Wurzeln. Konstitutionslogisch formuliert, ist die Selbstfürsorge von Erwachsenen ein Niederschlag ihrer Erfahrungen, wie fürsorglich sie als Kind und Jugendlicher von ihren signifikanten Bezugspersonen behandelt worden sind. Die Selbstfürsorgepraktiken, die sie dabei entwickeln, sind zuallererst habituell und das heißt: vorreflexiv. Im Laufe des Lebens werden diese Praktiken dann mehr oder weniger reflexiv. Als entwickelte Kompetenz umfasst die Selbstfürsorge ein Repertoire verschiedener Praktiken, zwischen denen eine Person wählen und die sie je nach Situation und Erfolgsaussicht modifizieren kann. Arbeitsplatzbezogene Selbstfürsorgepraktiken sind so gesehen Varianten von Praktiken, die für die gesamte Lebensführung einer Person gelten. „Selbstfürsorge [ist] manchmal nicht so ganz selbstverständlich mit in die Wiege gegeben. Also Selbstfürsorge heißt für mich als erstes Mal, dass ich es gut mit mir meine und ich ein Stück dem auf die Spur kommen muss, wo ich destruktiv mir selbst gegenüber bin. Insoweit finde ich, ist die Selbstfürsorge immer auch ein Punkt der Selbstreflexion. […] Es gibt Menschen, die wissen immer, wo sie irgendwie gut rauskommen und-. Aber für die anderen finde ich es als etwas ganz Wichtiges, an dem Punkt immer mal wieder zu sich hinzugucken, wie gut meine ich es eigentlich mit mir und welche Wurzeln meiner Geschichte oder was an der jetzigen Situation ist dem gegenläufig, da immer wieder in die Reflexion zu gehen. Insoweit ist Reflexion aus meiner Sicht schon Selbstfürsorge.“ (F 2) Selbstfürsorge ist aber nicht nur eine Kompetenz, sondern zuvorderst eine Einstellung und mehr noch: ein bestimmter Wert. Das zu betonen, ist wichtig, weil es sonst so aussehen könnte, als würden Arbeitnehmer/innen nichts anderes im Sinn haben, als sich (am Arbeitsplatz) physisch und psychisch gesund zu halten. Gesundheit steht in Konkurrenz zu anderen Werten, mit denen sie ausbalanciert werden muss. Eine Haltung wie die einer „interessierten Selbstgefährdung“ macht das deutlich. Gemeint sind Arbeitnehmer/innen, die sich sehenden Auges dafür entscheiden, ihre physische und / oder psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu riskieren, um etwas zu gewinnen, was ihnen – zumindest hier und jetzt – als wertvoller erscheint: z. B. Anerkennung von Vorgesetzten zu erhalten und Karriere zu machen. Die Beurteilung einer solchen Entscheidung ist alles andere als einfach. Denn es sind Selbsttäuschungen denkbar. Dann erkennen Arbeitnehmer/innen vielleicht gar nicht, die Wahlmöglichkeiten, die sie – zumindest aus der Perspektive eines unvorein-

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genommenen Beobachters – haben. Oder sie glauben fälschlicherweise, sich frei zu entschieden, obwohl sie mit ihrer Entscheidung – in der Beobachterperspektive – lediglich ihre Konfliktscheu rationalisieren.

Klassifizierung von Selbstfürsorgepraktiken Ein Ziel unserer Untersuchung ist es, zu rekonstruieren, was die Supervisor/innen unter Selbstsorge verstehen, welche Selbstfürsorgepraktiken sie bei den Arbetinehrmer/ innen, die sie supervidieren, vorfinden und welches Verständnis von Selbstfürsorge deren Praktiken nahe legen. Da sich diese drei Aspekte nicht leicht trennen lassen, sollen sie auch integriert behandelt werden. Unsere Rekonstruktion zielt deshalb auf Erfahrungsbestände der Supervisor/innen, die wir als „subjektive Theorien der Selbstfürsorge“ konzipieren. Dabei meint „Theorie“, dass die Erfahrungsbestände mehr oder weniger geordnet sind, und „subjektiv“, dass sie eine mehr oder weniger idiosynkratische Evidenz besitzen (was freilich die Bezugnahme auf professionelle und wissenschaftliche Erkenntnisse keineswegs auszuschließen braucht). Im Folgenden seien vier solcher subjektiven Theorien vorgestellt, die weitgehend das rekonstruierte Spektrum abdecken. Bei allen Differenzen überwiegt eine Familienähnlichkeit, die aus ähnlichen Beobachtungen aufgrund ähnlicher Beobachtungsperspektiven resultieren dürfte. Vor allem darin sind sich die befragten Supervisor/innen einig: • Selbstfürsorgepraktiken haben nicht nur einen Nutzen, sondern auch Kosten, die von den Arbetinehrmer/innen, die sie praktizieren, oft übersehen werden. • Die Selbstfürsorgepraktiken eines/er jeden einzelnen Arbeitnehmers/in treffen auf die Selbstfürsorgepraktiken aller anderen Arbeitnehmer/innen, woraus folgt, dass der Nutzen einer Praktik mit davon abhängt, in wieweit die Praktiken der Kollegen/ innen mit bedacht werden. • Individuell erfolgreiche Selbstfürsorgepraktiken sind nicht per se sozialverträglich. • Es lassen sich verschiedene Typen unterscheiden, auch wenn sie nicht trennscharf sind: – Ausgleichen, – real oder mental Aussteigen, – aktiv oder passiv Widerstand leisten, – Arbeitsbedingungen verändern. • Wer welche Praktik wählt, hängt auch von der Persönlichkeit, dem Geschlecht und von der Generation der Arbeitnehmer/innen ab.

Supervisorin F 4 Die Supervisorin stellt Selbstfürsorge in einen normativen Kontext. Nur in Arbeitsverhältnissen, in denen Selbstfürsorge „nicht [als] unanständig“ gilt, ist sie auch zu erwarten. Als Beispiel für Organisationen, in denen es an einer solchen Unterstützung fehlt,

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nennt sie kirchliche Organisationen. Dort haben die Arbeitnehmer/innen „einen hohen Anspruch an Fürsorge der Organisation“, dagegen ist „das Bewusstsein unterentwickelt“, für sich selbst zu sorgen. Dieser Anspruch an Fürsorge ist so hoch, dass er gar nicht erfüllt werden kann. Als Folge entsteht ein Organisationsklima, in dem ein „Jammerton“ herrscht, der dem ständigen „Gefühl“ der Arbeitnehmer/innen entspricht, „da ist zu wenig“. Diese Dauerklage erweist sich aber nicht selten als eine Rationalisierung, mit der Arbeitnehmer/innen eine geringe Leistungsbereitschaft verdecken: „Also da sind schon Leute dabei, die in einem Maße nicht mehr wahrnehmen sozusagen, dass sie eine bezahlte Tätigkeit haben zum Beispiel (lacht).“ Das Lachen und die gedrechselte Formulierung lassen vermuten, dass die Supervisorin an ein Tabu rührt. Es besteht ihrer Wahrnehmung nach darin, dass Minderleistungen nicht sanktioniert werden: „vor allen Dingen verblüfft, dass denen ganz viel-, einfach oft diesen Menschen ganz und gar nichts passiert“. So gesehen, erscheinen Erwartungen an Selbstfürsorge in den kirchlichen Organisationen, in denen sie supervisorisch tätig ist, als ein unzumutbarer Verzicht auf eine Fürsorge, die genau genommen die Erwartung einer Schonhaltung ist. Damit suchen solche Organisationen außen vor zu halten, was in Unternehmen auf der Tagesordnung steht: Selbstfürsorge, um sich vor Überlastung zu schützen, weil Fürsorge nicht zu erwarten ist. Selbstfürsorgepraktiken des Ausgleichens liegen vor, wenn Arbeitnehmer/innen etwas tun, was ihre Belastbarkeit erhöhen soll. Dazu gehören Ausgleichssport, die Pflege von Hobbys sowie Geselligkeit, denn „Leute, die so viel arbeiten, die verarmen ja im sozialen System“. Alle diese Maßnahmen stehen unter dem Motto „’es gibt ja noch was anderes im Leben als Arbeit’“. Als Belastungsausgleich bleiben sie aber auf die Arbeit bezogen, mithin instrumentell. Deshalb besteht auch die Gefahr, dass es kein echter Ausgleich ist: „wenn sie dann anfangen, Marathon zu laufen, ist das mehr vom selben“. Bei den Selbstsorgepraktiken des Aussteigens gibt es reale und mentale Varianten. Real heißt, zu versuchen, von einem Gesundheit gefährdenden Arbeitsplatz weg zu kommen, ergo: versetzt zu werden oder sogar zu kündigen, mit dem Ziel, „irgendwie Nischen [zu] finden oder Orte [zu] finden, wo sie mit ihren Werten oder ihrer Idee oder so was oder mit ihrem Können einen Beitrag leisten oder zumindest nicht krank werden oder-, also irgendwie so was.“ Aussteigen will vorbereitet sein. Eine Form der Vorbereitung ist es, sich in der Freizeit weiter- und fortzubilden, mithin eine „weitere Qualifikation“ zu erwerben, die „sie auch unabhängiger [vom vorhandenen Arbeitsplatz] macht“. Mental heißt dagegen, die Bedeutung der Arbeit und mit ihr auch den Arbeitseinsatz zu reduzieren, „Dienst nach Vorschrift“ zu machen oder eine „innere Kündigung“ zu vollziehen. Oder sogar (unbewusst) in eine Krankheit zu „fliehen“. Diese ermöglicht dann zwar eine Auszeit aufgrund von Arbeitsunfähigkeit, hat aber eine gravierende Ich-Einschränkung zur Folge, die Vitalität und Lebensfreude kostet. Selbstfürsorgepraktiken des aktiven und passiven Widerstandes und der Veränderung liegen oft nahe beieinander. Denn Widerstand kann zu Veränderungen führen, auch

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wenn er primär defensiv angelegt ist. Veränderung geht über Widerstand hinaus, indem sich Arbeitnehmer/innen etwa bewusst und nachdrücklich dafür engagieren, dass der Arbeitgeber die Gesundheit gefährdenden Bedingungen ihrer Arbeit beseitigt. Dazu zählt auch, dass man „in den Betriebsrat geht“. Ein solcher Entschluss hat zwei Seiten: zum einen eröffnen sich Möglichkeiten, an den Arbeitsbedingungen tatsächlich etwas zu verbessern, zum anderen ist es in der Wahrnehmung der Supervisorin generell eine „produktive und gesunde Strategie“, sich aus einer „Lähmung“ zu befreien, das „Gefühl“ zu bekommen, „wieder handlungsfähig“ zu sein. Denn passiv zu verharren, trägt nicht zur Entlastung bei. Bemerkenswerterweise zählt die Supervisorin auch Praktiken wie Mobbing zu den Selbstfürsorgepraktiken, wenn auch zu den destruktiven: „es gibt auch zerstörerische [Praktiken], also wo Leute anfangen, andere Leute zu hetzen, um besser dazustehen. Ja, wo so eine Kultur entsteht, dass die Leute probieren, unbedingt auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein […] wo irgendwie es auch eine Lust gibt, also einfach für sich zu sorgen und nicht mehr, dass der Betrieb funktioniert. Und das, glaube ich, tut weder den Leuten im Prinzip gut […] dem Betrieb natürlich auch nicht.“ So gesehen, ist Selbstfürsorge dann destruktiv, wenn sie auf Kosten anderer Arbeitnehmer/innen oder der gesamten Organisation geht, also nur im eigenen Interesse erfolgt, mithin a-sozial ist. Zudem vermutet die Supervisorin, dass solche sozial unverträglichen Praktiken letztlich auch selbstdestruktiv sind. Insofern gilt es, bei der Evaluation von Selbstfürsorgepraktiken nicht nur die Kosten für das soziale System der Arbeitnehmer/innen zu berücksichtigen, sondern auch die Kosten für sie selbst. So können sich Arbeitnehmer/innen zu entlasten suchen, indem sie ihre Arbeitszeit „abbummel[n]“, ohne an die möglichen Folgen zu denken, die dies für sie selbst haben kann: „Aber den Menschen geht es im Prinzip nicht gut dabei, weil sie gerne engagiert arbeiten und also auch gerne im Sinne gemeinsamer Ziele von einer Organisation arbeiten.“ Die A-Sozialität destruktiver Selbstfürsorgepraktiken kann auf eine geschickte Vorteilsnahme reduziert sein, wie sie von der Supervisorin als bewundernswerte Fähigkeit beschrieben wird, die Arbeit an andere zu delegieren: „also ganz unauffällig für seine eigenen Interessen sorgen und dabei gut aussehen (Supervisorin und Interviewer lachen). Also der [bestimmte Arbeitnehmer] hat eine gute Art (lacht), dass zum Beispiel andere gerne Arbeiten für ihn übernehmen, und er aber als derjenige dasteht, der immer ruhig und zufrieden [ist], wie der das alles hinkriegt (lacht). Ich finde, das ist ein gelungenes Beispiel für Selbstfürsorge. Wenn man eine von denjenigen ist (lacht), denen er dann […] sozusagen [die Arbeit] zugetragen hat, ist das nicht witzig, also im Prinzip (lacht) finde ich das-.“ Die Selbstdestruktion hat einen geschlechtsspezifischen Aspekt: In der Wahrnehmung der Supervisorin neigen Männer dazu, sich selbst zu schädigen, indem sie „Alkohol“ als „Entspannungsform“ wählen. Selbstschädigend ist es letztlich auch, dass sie Selbstfürsorge „mit Geld verwechseln. Also Selbstfürsorge in dem Sinn, dass sie dann finden–, also mit Macht und Geld. Und das hat oft gesundheitliche Konsequenzen. […] ‚Ja, und

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ich strenge mich für Geld und Macht an, so. Und das genieße ich dann auch und Statussymbole und Einfluss und eine Reputation.‘“ Wenn man hohe Belastungen auf sich nehmen muss, um diese sichtbaren Zeichen des Erfolges zu erwerben, können sie aber gar nicht mehr genossen werden. Frauen sind dagegen verführbar, sich zu „verausgaben“, wenn es dazu dient, „dieses Gesamtsystem–, das gut aufrecht zu erhalten. Das ist so, das macht Spaß, das ist aber auch anstrengend, und die Frage, ‚was brauche ich denn jetzt gerade’, sich die Frage zu stellen und das zu überlegen, das ist richtig schwer.“ Eine konstruktive Selbstsorge verlangt einen Verzicht auf soziale Anerkennung, wenn sie Arbeitnehmer/innen in die Überlastung treibt: „Also den Kick, den das gibt, wenn man gefragt wird und irgendwie da noch und da noch und da noch, das ist natürlich klasse. Und irgendwann ist aber so wie Drogen, das ist irgendwann zu viel und wenn man es zuviel hat, dann macht es einmal klick [und man wird krank].“ Denn soziale Anerkennung kann es gerade für einen Arbeitseinsatz geben, der die Gesundheit riskiert, was es schwer macht, davon zu lassen: „Oder mit dem einen habe ich [in der Supervision] daran gearbeitet, dass er es aushält, dass die anderen noch da sitzen. Und wenn er das machen könnte und was er mit den Anfeindungen macht, dass er sagt ‚und trotzdem’, und wenn es erst mal einen Tag in der Woche ist oder so (lacht). Weil, das hat ja zum Teil groteske Ausmaße, also da kommen Leute um sieben und gehen abends um zehn wieder.“ Wenn alle Arbeitnehmer/innen miteinander konkurrieren, indem sie einander ihre Belastbarkeit demonstrieren, wird derjenige, der sich dieser Konkurrenz entzieht, angefeindet, vielleicht aus Neid, weil er sich etwas erlaubt, was sie sich verbieten. Diese Anfeindungen heißt es zu ertragen und damit gleichzeitig den Verlust von Zugehörigkeit. Generell macht dieses Beispiel deutlich, dass Arbeitnehmer/innen, die für ihre Gesunderhaltung sorgen, unter Beobachtung stehen und beileibe nicht ohne soziales Risiko tun und lassen können, was sie wollen.

Supervisorin F 6 Die Supervisorin beklagt, dass viele Arbeitnehmer/innen nur die Risiken der Flexibilisierung sehen und nicht die Chancen. Sie selbst sieht „Risiken und Chancen“: „Und diese Flexibilisierung, die auf dem Arbeitsmarkt ist, finde ich, müssten die Menschen selber auch aufnehmen, ohne daran zu scheitern, das ist die hohe Leistung.“ Die Nutzung von Chancen hängt ihrer Wahrnehmung nach auch von den „Persönlichkeiten“, mithin von förderlichen oder hinderlichen Persönlichkeitsmerkmalen ab. Zu denen zählt sie an oberster Stelle eine illusionslose Beurteilung des Verhältnisses von Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen: „Also viele rechnen ja eigentlich–, haben irgendwie doch noch das Gefühl, Arbeitgeber wollen doch was Gutes mit mir, oder das kann doch gar nicht wahr sein […] dass strategisch was gegen [mich] läuft.“

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Diese Illusion führt dazu, dass Arbeitnehmer/innen drohende Überlastung „nicht früh genug wahr(nehmen)“ oder sogar „denken, sie könnten jetzt die Organisation retten oder sie müssten Wunders was noch alles-, noch mehr arbeiten und noch mehr arbeiten, und dann könnte das doch so bleiben [wie es ist].“ Allerdings fällt es oft schwer, gute Vorsätze, für sich zu sorgen, auch konsequent durchzuhalten: So berichtet sie von einem Arbeitnehmer, der gerade, als er sich durchgerungen hat, eine dringend erforderliche Kur zu beantragen, von seinem Arbeitgeber die Gratifikation einer Beförderung erhält und dadurch erneut unter psychischen Druck gerät: „Jetzt überlegt er, ‚kann ich mir jetzt ja eigentlich nicht leisten. Also jetzt habe ich so eine Bestätigung bekommen, jetzt kann ich mir das nicht leisten’. Ja, nur die Frage ist, wie geht das weiter? Also er beutet sich ständig aus und ist jetzt schon weit über das Limit gegangen, und der Arbeitgeber, ja, fördert das ja eigentlich. Und ich habe ihm jetzt den Tipp gegeben noch mal, wenn er gerade jetzt auch höher gestiegen ist, ist es doch die Möglichkeit, mit dem Arbeitgeber das ganz offen anzusprechen so in dem Sinne, dass ‚Sie möchten ja sozusagen auch meine volle Arbeitskraft, und ich möchte gerne fit hier auch fit und gesund sein und die volle Arbeitskraft einbringen, und dafür ist es aber notwendig, dass ich jetzt das und das mache.“ Alle Versuche, auf ihre Arbeitsbedingungen aktiv Einfluss zu nehmen, entheben die Arbeitnehmer/innen aber nicht der Aufgabe, „ihr Profil zum Beispiel auch neu [zu] entwickeln“, ohne den Anspruch auf „sinnvolle Arbeit“ aufzugeben: „Es muss erkennbar sein, dass es eine wichtige Arbeit ist oder dass es ein wichtiger Platz in einem Ablauf oder so“. Selbstfürsorge heißt in diesem Sinne nicht, dafür zu sorgen, dass man sich selbst nicht verändern muss, sondern, dass man auf reflektierte Weise flexibel bleibt: „zu gucken, wie weit gebe ich mich da [in eine belastende Arbeitssituation] rein und ab wann schütze ich mich, ab wann wird es sozusagen destruktiv, was da läuft“. Folglich heißt es, „sensibel sein für auch Anfänge von Erschöpfung“. Zudem betont die Supervisorin als eine notwendige Fähigkeit den konstruktiven Umgang mit Enttäuschungen, mithin, sich nicht so leicht entmutigen zu lassen: „Man rechnet damit, dass-, man ist flexibel, das heißt, ich versuche es, ich versuche, das Beste rauszuholen für mich, wenn es nicht gelingt, bin ich aber nicht sofort geschei-, scheitere ich nicht sofort, sondern, okay, dann habe ich vielleicht die falsche Strategie überlegt, dann überlege ich mir eine neue Strategie. Das ist diese Flexibilisierung, die, glaube ich, notwendig ist in der neuen Zeit.“ Zu den Schutzfaktoren, die dazu beitragen, dass „jemand nicht untergeht in der Arbeitswelt“, zählt sie: „eine gute Partnerschaft […] oder, ja, also eine gute Bindung in soziale Systeme“ und – damit einhergehend – eine bewusste Rhythmisierung des Alltagslebens: „Inseln schaffen am Tag, in der Woche, im Monat, Sachen blocken, also Zeiten blocken und wirklich was anderes tun […] also zum Beispiel den Tag unterbrechen, indem man jetzt rausgeht, sich bewegt, also noch mal was ganz anderes macht. Also nicht

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jetzt Essen gehen mit den Kollegen, sondern rausgehen, bewegen, sich bewegen. Oder in der Woche eben einen Abend blocken. Um, was weiß ich, mal Kultur oder Kino oder so. Oder einen Vormittag später anfangen, also das ist auch so eine Strategie, die ich jetzt ein paar Mal miterlebt habe, später anfangen und morgens erst mal ganz in Ruhe beginnen, nicht schon um acht Uhr oder um sieben Uhr auf der Arbeit sein, sondern um zehn, weil die Flexibilisierung ermöglicht ja –.“

Supervisorin F 14 Wie die meisten anderen so betont auch diese Supervisorin die Notwendigkeit, die Ursachen der Belastungen richtig zu erfassen und sich nicht als persönliche Probleme zuzuschreiben, was strukturelle Probleme sind: so stärkt es ihre „Abwehrkräfte“, wenn Arbeitnehmer/innen wissen, „es liegt nicht an mir“. Allerdings „schützt“ dieses Wissen „natürlich nur begrenzt, es schützt nur begrenzt, aber es hat so ein bisschen was, na ja, die Karawane zieht auch schon mal weiter“. Dabei ist vor allem realistisch zu sehen und mit der daraus folgenden Enttäuschung umzugehen, dass ein „Rückzug der oberen Führungskräfte“ stattfindet, die zu einer Diffusion der Verantwortung führt: „Früher hatte ich noch einen Vorgesetzten, mit dem konnte ich noch reden, heute heißt es, es ist keiner da, sieh zu, wie du klar kommst.“ Dadurch „fehlt häufig, also dieses Gefühl, einen Rückhalt auch zu haben, dass im Zweifelsfalle auch jemand mal vor mir steht und nicht nur hinter mir und dann weit weg ist.“ Damit zu rechnen, heißt, nicht blind zu vertrauen, sondern vorsichtig zu werden, zum Beispiel in Zielvereinbarungsgesprächen. Denn in diesen Gesprächen „(muss) mit dem Gegenüber [dem Vorgesetzten] auch über die Realisierbarkeit [von Zielen] gesprochen werden“. Und da machen die Arbeitnehmer/innen oft die desillusionierende Erfahrung, „plötzlich ist da ein merkwürdiger Leerzustand, die kriegen keine Antworten“. Unter diesen Bedingungen kommt es darauf an, „das Gegenüber [den Vorgesetzten] zu zwingen, Verantwortung zu übernehmen“. Insgesamt zeigt sich die Supervisorin aber eher skeptisch. Es geht „nicht nur“ um die Frage, „wie hält man so was aus, sondern wie lange“. So steigt die „Wechselwilligkeit, da könnte man sagen wie die Bremer Stadtmusikanten ‚Was Besseres als das gibt es überall’ (lacht).“ Verwunderlich ist aber, dass das oftmals dann doch nicht geschieht: „man kommt nicht weg“. Die Supervisorin vermutet, dass es – je nach persönlicher Geschichte – schwer fällt, auf die ersehnte und verdiente Anerkennung zu verzichten und sich einzugestehen, dass es „kein Mittel [gibt], es [das Arbeitsleid] wirklich abzustellen, es zu verhindern“. Aus dieser „Hilflosigkeit und Ohnmacht“ resultiert „Aggression, die nach der Seite geht“, also vorrangig die Kollegen/innen trifft, „weil die oben kann man nicht treffen und die unten nicht verändern. Die unten sind die Klienten, die oben sind die, die die Anforderungen stellen.“ So fühlen sich Arbeitnehmer/innen genötigt, Arbeitsbedingungen mit aufrecht zu erhalten, obwohl sie nicht zu verantworten sind:

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„Einfaches Beispiel, eine Nachtwache in einer stationären Jugendhilfe, die mit schwerst geschädigten, verhaltensauffälligen Kindern arbeitet, mit einer Person zu besetzen, ist im Grund genommen heller Wahnsinn, zwei werden nicht bezahlt.“ Sensibilität wird unter solchen Bedingungen eher als Schwächung erlebt: „Also ich sag mal, wer dumm und ignorant ist, hält das leichter aus.“ Oder sachlicher formuliert: „Das Ausmaß der eigenen Kränkbarkeit macht, glaube ich, eine erhebliche Auswirkung auf die Frage der gesundheitlichen Belastung.“ Die „Dinge nicht so persönlich zu nehmen“, ist freilich leichter gesagt als getan, eben weil die eigenen Kränkbarkeit nur reduziert werden kann, wenn man unsensibel wird. Hinzu kommt, dass man bei belasteten Arbeitnehmer/innen „richtig merken (kann), wie die energetisch den Bach runter gehen“ und dann „sinkt auch die Reflexionsfähigkeit“.

Supervisorin F 8 Die Supervisorin begreift Selbstsorge als Bewältigung verschiedener fundamentaler Probleme des Arbeitslebens: „Wie bekomme ich das, was im Arbeitsalltag von mir abverlangt wird, so geschafft, dass ich auch noch für das Leben außerhalb der eigenen Organisation Kraft und Lust und Energie habe? […] Wo setze ich Grenzen? […] Wie gehe ich mit Zeit um, wie kann ich meine Kompetenzen so einsetzen, dass eine Berufszufriedenheit entsteht?“ Ihrer Auffassung nach bedarf es dazu generell einer Flexibilität, die davor schützt, in ineffektive Routinen zu verfallen, aber auch nicht übertrieben wird, sondern dazu dient, das zentrale Kriterium einer ausbalancierten Lebensführung zu verwirklichen: „Also die Frage ist immer, wie starr oder flexibel geht man mit den Anforderungen, die auf einen zukommen, um. Und die Selbstfürsorge, da gehört für mich auch zu, dass man eine gewisse Flexibilität sowohl in dem, was einem auf der Arbeit abverlangt wird, aber auch in den anderen Bereichen, die das Leben noch ausmachen, also Kultur, Familie, Freunde, Sport und so etwas, dass das flexibel handhabbar ist, aber insgesamt ausgewogen ist.“ Als optimalen Zustand beschreibt sie ein „Gleichgewicht“ zwischen dem, was „man der Organisation oder dem Arbeitsplatz geben muss“ und einem Leben als Person, die sich nicht auf eine „Identifizierung mit [ihrem] Arbeitsverhältnis“ reduzieren lässt, sondern „darüber hinaus“ geht. Sie weiß, dass dies für Arbeitnehmer/innen, die selbstbestimmt arbeiten, leichter „austarierbar“ ist, als für fremdbestimmte Arbeitnehmer/innen: „Wenn ich also sehr fremdbestimmt in dem bin, was ich in meiner Arbeit tun muss, dann fällt das mit der Selbstfürsorge auch schwerer, da muss ich da sehr viel mehr Kraft reinsetzen.“ Aber auch denen bieten sich Möglichkeiten. Generell kritisiert sie, dass oftmals vorschnell eine mangelnde Fürsorge des Arbeitgebers eingeklagt und dadurch von der Unwilligkeit abgelenkt wird, selbst aktiv zu werden:

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„dass viele eben an dem Punkt auch noch Lernprozesse machen müssen, weil sehr oft immer bei Konflikten sehr schnell-, oder in problematischen Situationen sehr schnell der Ruf nach der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten kommt. Und wenn man dann da ein bisschen hinterguckt, dann ist das sehr oft nicht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers oder des Vorgesetzten, die da nicht funktioniert, sondern es ist die Erwartungshaltung. Dass der- oder diejenige ein bisschen retten möge, weil das noch nicht voll verinnerlicht ist, dass ich auch in einem großen Rahmen selbst für mich da sorgen kann.“ So wird ihrer Auffassung nach auch der Personalrat oft zu früh eingeschaltet, um nicht selbst die Verantwortung für das eigene Wohlergehen am Arbeitsplatz zu übernehmen: „ich delegiere da also eine, ja, Sorgeleistung an jemand dritten“. Sie betont, dass die Übernahme dieser Verantwortung auf der einen Seite des Mutes bedarf, sich dem bestehenden Gruppendruck zu verweigern: „Und da kommt das dann eben vor, dass da eben Mails dann kommen und man sieht bei einem Mail am nächsten Tag, der hat die um 0:40 Uhr geschrieben, und fragt sich, hat der nichts Besseres zu tun. Und sich dann nicht anstecken lassen, sondern seinen eigenen Rhythmus in der Arbeit zu finden.“ Auf der anderen Seite bedarf es aber auch der sozialen Unterstützung, um etwas bewirken zu können: „Ich suche mir Verbündete, die mit mir daran arbeiten, dass das abgestellt wird. […] sich nicht bis zur Erschöpfung versuchen an Sachen, die man alleine gar nicht bewegen kann.“ Von Vorgesetzten, aber auch von Kollegen/innen wird zu wenig darauf geachtet, dass man sich nicht überfordert. So ist Burnout von Arbeitnehmer/innen ihrer Auffassung nach immer auch das Ergebnis einer mangelnden Bereitschaft, sich in deren Angelegenheiten einzumischen: „Dass man [ihnen] also sagt, ‚jetzt ist hier mal Schluss’“, kommt nur selten vor. Vor allem werden „Loyalitätsprobleme gegenüber Arbeitskollegen“ vermieden, die entstehen, wenn man sie „anscheißt“, weil sie ihre Überlastung und die oft daraus resultierenden Sicherheitsrisiken nicht öffentlich machen. Statt offensiv und konfliktbereit mit solchen Situationen umzugehen, überwiegt „passiver Widerstand“ – „nicht weiter mitmachen wollen […] und auflaufen lassen, und, ja, Business as usual und so.“ Wenn „Selbstfürsorge […] ein Stück weit sich in Verweigerung ausdrückt“, dann meist dann, wenn „die Einzelnen daran gezweifelt haben, dass das, was sie jetzt in ihrem konkreten Arbeiten tun, sinnvoll ist“. Passiver Widerstand vermag die Sinnentleerung aber nicht zu überwinden, sondern er vertieft sie und ist deshalb ihrer Auffassung nach auch nicht lange durchzuhalten, da die Arbeitnehmer/innen ein Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit haben, das früher oder später auf Befriedigung drängt: „Aber dann kommt meistens so ein Satz wie ‚Aber eigentlich kann ich das nicht, weil ich habe meinen Kopf nicht nur zum Haare schneiden, sondern ich habe auch noch irgendeine andere Motivation‘.“

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Und dann heißt es, „entweder darum zu kämpfen, dass man da [unter verbesserten Arbeitsbedingzungen in der Organisation] bleiben kann, oder sich eine Alternative zu schaffen, also sprich, sich neben der Arbeit eben diesen ganzen Stress einer Suche nach einem neuen Arbeitsplatz und Wechsel, Bewerbung und so weiter, das doppelgleisig zu fahren, was dann aber wieder auf einer anderen Ebene diese entspannende, lebensfrohe Aktivität, die Zeit dafür erheblich reduziert.“

Nüchtern betrachtet Fassen wir zusammen: Sehen sich Arbeitgeber immer weniger an eine Fürsorgepflicht im Hinblick auf die Schaffung oder Erhaltung gesunder Arbeitsplätze gebunden, geraten Arbeitnehmer/innen unter Druck, selbst ihre arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken zu kalkulieren und eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, welches Risiko sie eingehen wollen. In ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse tun sie gut daran, ihre Arbeitgeber nicht völlig aus dieser Pflicht zu entlassen. Die Selbstfürsorgepraktiken, die sie reflektiert oder habituell einsetzen, um sich vor arbeitsplatzbedingten Überlastungen zu schützen, wenn sie das überhaupt wollen, sind vielfältig. Den Erfolg ihrer Praktiken haben Arbeitnehmer/innen nur bedingt unter Kontrolle, da sie Teil einer sozialen Matrix wechselseitigen Einflussnahmen sind. Schließlich darf Selbstfürsorge nicht idealisiert werden, weil die Praktiken, die Arbeitnehmer/innen einsetzen, nicht zwangsläufig Solidarität befördern.

Zum Weiterlesen Bengel, J. (2001): Was hält Menschen gesund? Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Erweiterte Neuauflage. Köln: BZgA. Daser, B., Kerschgens, A. (2011): Selbstfürsorge. In: Haubl, R., Voß, G. G. (Hrsg.): Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit (S. 57–67). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Eckart, Ch. (2004): Fürsorgliche Konflikte. Erfahrungen des Sorgens und die Zumutungen der Selbständigkeit. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 29 (2), S. 24–40. Fengler, J., Sanz, A. (Hrsg.) (2011): Ausgebrannte Teams. Burnout-Prävention und Salutogenese. Stuttgart: Klett-Cotta. Flick, S. (2007): Zur Selbstsorge des unternehmerischen Selbst. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 2, S. 266–282. Gussone, B., Schiepek, G. (2000): Die „Sorge um sich“. Burnout-Prävention und Lebenskunst in helfenden Berufen. Tübingen: dgvt. Hoffmann, N., Hofmann, B. (2008): Selbstfürsorge für Therapeuten und Berater. Weinheim: Beltz. Kaiser, S., Ringlstetter, M. (Hrsg.) (2010): Work-Life-Balance. Erfolgversprechende Konzepte und Instrumente für Extremjobber. Heidelberg: Springer.

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Küchenhoff, J. (1999): Die Fähigkeit zur Selbstfürsorge – die seelischen Voraussetzungen. In: Küchenhoff, J. (Hrsg.): Selbstzerstörung und Selbstfürsorge (S. 147–164). Gießen: Psychosozial. Schmid, W. (2004): Mit sich selbst befreundet sein. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Siegrist, K., Silberhorn, Th. (1998): Stressabbau in Organisationen – ein Manual zum Stressmanagement. Münster: Lit. Vierus, Th. (2004): Sorge als philosophischer Eckpfeiler der Beratung: Selbstsorge als zentraler Begriff der Lebenskunst bei Schmid. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 11, 2, S. 151–191.

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„Beschäftigte leiden darunter, wenn sie gezwungen werden, unprofessionell zu arbeiten“ Selbstfürsorge und intrinsische Arbeitsmotivation Rolf Haubl und Saskia Maria Fuchs

Wie bereits im vorherigen Kapitel ausgeführt, ist bei dem Thema der Gesundheitsfürsorge am Arbeitsplatz mit einem Spannungsfeld zu rechnen, das zwischen der Fürsorge, die Arbeitnehmer/innen von ihrem Arbeitgeber erwarten (dürfen), und der Selbstfürsorge, die Arbeitgeber von ihren Arbeitnehmer/innen erwarten (dürfen) aufgespannt ist. Der Fragebogen enthält ein Item, das Auskunft darüber gibt, was die Supervisor/innen dazu beobachten: „Ein erheblicher Teil meiner Supervisanden/innen erwartet, dass seine Vorgesetzten sie vor Überforderung schützen.“ 67,1 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 17,8 % eher oder ganz und gar nicht. So gesehen, sind die Supervisor/innen in Organisationen tätig, in denen mehrheitlich eine Organisationskultur erwarteter Fürsorge herrscht (was ja auch für Non-ProfitOrganisationen, ihr Hauptarbeitsfeld, typisch ist). Bringt man in dieser Hinsicht die aktuelle Gesellschaftsdiagnose eines zunehmenden Drucks auf die Beschäftigten ins Spiel, sich zu „Arbeitskraftunternehmern“ zu entwickeln, muss man wohl davon ausgehen, dass diese Erwartung zunehmend flächendeckend eher enttäuscht als erfüllt wird. Folglich stehen die Arbeitnehmer/innen vor der Aufgabe, sich Selbstfürsorgepraktiken anzueignen, mit denen sie sich effektiv vor arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken schützen können. Unser Online-Fragebogen enthält eine ganze Reihe der Selbstfürsorgepraktiken, die zuvor in den qualitativen Interviews zur Sprache gekommen sind. Auf welche dieser Praktiken treffen die Supervisor/innen bei den Beschäftigten, die sie supervidieren, wie oft? Und lässt sich in der Auswahl der Praktiken eine bestimmte Psycho-Logik erkennen? „Ich beobachte, dass die Supervisanden/innen versuchen, sich auf Kosten ihrer Kollegen/innen vor hohen Belastungen zu schützen.“ 7,9 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 62,1 % eher oder ganz und gar nicht. „Ein erheblicher Teil der Supervisanden/innen frisst seinen Ärger über seine psychischen Belastungen in sich hinein.“ 57,2 % der Supervisand/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 11,3 % eher oder ganz und gar nicht.

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Beide Selbstfürsorgepraktiken ergeben mit einem Blick das für die gesamte Untersuchung typische Bild: A-soziale Praktiken, die gezielt oder auch beiläufig die Kollegen/innen oder den Arbeitgeber schädigen, kommen nach Wahrnehmung der Supervisor/innen vergleichsweise selten vor. Es überwiegen pro-soziale Praktiken, auch wenn die Prosozialität ihre Grenzen hat. So ist kollegiale Achtsamkeit nicht besonders ausgeprägt: „Meine Supervisanden/innen achten untereinander darauf, dass sich niemand überfordert.“ 16,1 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 50,7 % eher oder ganz und gar nicht. Ingesamt überwiegen Praktiken, die – dem Beispiel des Ärgers entsprechend – psychosoziale Belastungen intrapsychisch bewältigen. Folglich ist von den Beschäftigten auch nicht zu erwarten, dass sie offen Widerstand leisten, sondern, wenn überhaupt, verdeckt. „Ich beobachte, dass meine Supervisanden/innen gegen hohe Belastungen verdeckt Widerstand leisten.“ 47 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 17,5 % eher oder ganz und gar nicht. Ähnlich wie das Verhältnis von intrapsychicher Bewältigung und Externalisierung ist auch das Verhältnis von extrinsischer und intrinsischer Arbeitsmotivation: Derzeit wird in öffentlichen Diskussionen die Vermutung geäußert, dass immer weniger Arbeitnehmer/innen intrinsisch motiviert seien, ihre Arbeit zu tun. Sie würden ihre Ansprüche an den Sinn ihrer Arbeit reduzieren, um nicht nachhaltig enttäuscht zu werden, weil sie aufgrund der zunehmenden Ökonomisierung immer seltener Arbeitbedingungen vorfänden, die professionelles Handeln erlauben. Die Supervisor/innen in unserer Untersuchung können dies für die Organisationen, in denen sie supervisorisch tätig sind, nicht bestätigen. Sie begegnen Arbeitnehmer/innen, die zu einem erheblichen Teil intrinsisch motiviert sind: „Ein erheblicher Teil der Supervisanden/innen ist intrinsisch motiviert, seine Arbeit zu tun.“ 65,5 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 5,6 % eher oder ganz und gar nicht. Dem entsprechend leiden solche Beschäftigten auch darunter, wenn die Arbeitsbedingungen sie zwingen, unprofessionell zu arbeiten: „Beschäftigte leiden darunter, wenn sie gezwungen werden, unprofessionell zu arbeiten.“ 68,5 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 7,9 % eher oder ganz und gar nicht. Versucht man, dieses Leiden emotional genauer zu fassen, dann sind es Scham- und Schuldgefühle, die belasten: „Beschäftigte empfinden ein Schamgefühl, wenn sie schlechte Arbeitsleistungen abliefern.“

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56,5 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 13 % eher oder ganz und gar nicht. „Beschäftigte empfinden Schuldgefühle, weil sie berufliche Standards verletzen müssen.“ 46,9 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 15,5 % eher oder ganz und gar nicht. Obwohl die Beschäftigten leiden, erwägen sie aber – wie gehabt – nicht, ihre Arbeitsbedingungen aktiv zu verändern: „Beschäftigte erwägen, innerhalb der Organisation aktiv eine Änderung ihrer Arbeitssituation herbeizuführen, wenn diese es nicht erlaubt, die eigenen professionellen Ansprüche zu verwirklichen.“ 15 % der Supervisor/innen stimmen dieser Aussage eher oder voll und ganz zu, 43,7 % eher oder ganz und gar nicht. Das Leiden der Beschäftigten mag sich mit zunehmender Gleichgültigkeit verringern, weil sie dann nicht länger enttäuscht werden. Eine intrinsische Arbeitsmotivation aufzugeben, würde so gesehen der psychischen Entlastung dienen. Dass die Entwicklung der Arbeitsmotivation in diese Richtung geht, halten die Supervisor/innen für möglich: „Beschäftigte werden indifferent gegenüber ihrem Arbeitsgegenstand.“ 31,4 % der Supervisor/innen stimmen dieser Aussage eher oder voll und ganz zu, 27,6 % eher oder ganz und gar nicht. Indifferent zu werden, hieße auch, auf belohnende Arbeitserfahrungen zu verzichten. Immerhin nehmen 34,8 % der Supervisor/innen wahr, dass die Beschäftigten auf ihre Tätigkeit „stolz“ sind. Aber wie bereits gesagt: noch überwiegt eine intrinsische Arbeitsmotivation, weshalb die Supervisor/innen bei den Beschäftigten auch keine Mehrheit an inneren Kündigungen beobachten: „Ein erheblicher Teil meiner Supervisanden/innen hat bereits innerlich gekündigt.“ 18,9 % der Supervisor/innen stimmen dieser Aussage eher oder voll und ganz zu, 39,2 % eher oder ganz und gar nicht. Die vorhandene intrinsische Arbeitsmotivation führt nach Wahrnehmung der Supervisor/innen auch dazu, dass die Arbeitnehmer/innen ihre Leistungsbereitschaft ihrem Arbeitgeber nicht vorenthalten. So verzichten sie auf alle dem entsprechenden Strategien. „Ein erheblicher Teil meiner Supervisanden/innen macht Dienst nach Vorschrift.“ 13,9 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 53,2 % eher oder ganz und gar nicht.“ „Ein erheblicher Teil meiner Supervisand/innen erlaubt sich, unerledigte Arbeit liegen zu lassen.“

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11,9 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 55 % eher oder ganz und gar nicht. „Ich beobachte, dass meine Supervisanden/innen sich aus Gründen ihres Selbstschutzes belasteter darstellen, als sie es faktisch sind.“ 20,2 % der Supervisor/innen stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, 48,2 % eher oder ganz und gar nicht. Alles in allem bescheinigen die Supervisor/innen ihren Supervisand/innen eine hohe Arbeits„moral“, die diese trotz der für sie bestehenden arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken bewahren. Immerhin 7,1 % beobachten sogar, dass Beschäftigte mit Leistung steigernden Medikamenten nachhelfen, um den Leistungsanforderungen an ihrem Arbeitsplatz gerecht zu werden. Damit wird insgesamt der bereits berichtete Befund unterstrichen, dass die Demoralisierung unter den Arbeitnehmer/innen nach Maßgabe des konstruierten Mittelwertindexes mit 3,58 (von maximal 5) sehr hoch ist. Freilich fällt die interindividuelle Diversifikation der Selbstfürsorgepraktiken faktisch größer aus, als es in dieser zusammenfassenden Interpretation den Anschein hat. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Beschäftigten mit ihren Praktiken ein vergleichbares Ziel verfolgen, zugespitzt formuliert: sich individuell mit Arbeitsbedingungen zu arrangieren, die auf eine Überforderung hinauslaufen, statt sich gemeinsam für deren Veränderung zu engagieren.

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„Die Herzinfarkte sind alles Männer …“ Selbstfürsorge und Geschlecht Anke Kerschgens

Einleitung Die Geschlechterverhältnisse in Deutschland befinden sich seit den 1970er Jahren in einer Phase des Wandels. Alte bürgerliche Muster mit klaren Rollenteilungen zwischen männlicher Berufsarbeit und weiblicher Sorge in der Familie verflüssigen sich dahingehend, dass Frauen in zunehmendem Maße in den Arbeitsmarkt integriert sind, öffentliche Betreuungsmöglichkeiten ausgebaut werden und Männer gleichzeitig stärker in Fürsorgeleistungen eingebunden sind. Der Zustand des Transits von alten zu potenziell neuen Lebensformen und Identitäten beinhaltet Gleichzeitigkeiten und Ambivalenzen in den gesellschaftlichen und privaten Entwürfen von Geschlecht und erzeugt in der Alltagspraxis potenzielle Reibungsverluste. In der alten bürgerlichen Geschlechterordnung, mit ihrer Blütezeit in den 1950er Jahren, kann man Selbstfürsorge in verschiedenen Formen geschlechtlich zuordnen. Fürsorgeleistungen sind im Modell der Hausfrauenehe Frauen zugeordnet, und diese erbringen Fürsorge für alle Familienmitglieder. Insbesondere verheiratete Männer sind in diesem Modell von Selbstfürsorge entlastet, wenn weite Bereiche der Sorge um physisches und psychisches Wohlbefinden an ihre Partnerinnen delegiert sind. Mit Blick auf Selbstfürsorgepotenziale im Sinne einer erholsamen Freizeitgestaltung haben Männer im bürgerlichen Modell potenziell ein Mehr an Eigenzeit als ihre Hausfrauen, da Sie nach der Erwerbsarbeit von Familienaufgaben entlastet werden und ihnen ein stärkeres Recht auf Abgrenzung zugeschrieben wird. Bürgerliche Hausfrauen sind zwar von den Ansprüchen der Erwerbsarbeit freigestellt, kennen andererseits aber auch keinen „Feierabend“. Gleichzeitig werden Frauen in diesem Geschlechtermodell die höheren Kompetenzen an Sorge um den Körper und Gesundheit, an kommunikativen Fähigkeiten, Beziehungsfähigkeit und emotionaler Reflexivität zugeschrieben. Sie erscheinen im Bereich Selbstfürsorge potenziell kompetenter. Doch wie sieht die Situation heute aus, da bürgerliche Vorstellungen von Familie an Bedeutung verloren haben und sich zugleich Erwerbsarbeit in starkem Maße transformiert hat? Brüche und Ungleichzeitigkeiten mit Bezug auf Paarbeziehungen und Erwerbsarbeit werden seit langer Zeit soziologisch erforscht und dokumentiert. Der Zusammenhang zwischen Selbstfürsorge und Geschlecht stellt dabei jedoch ein Thema dar, das bisher nicht explizit in den Fokus der Forschung gerückt wurde. Im Folgenden möchte ich daher anhand der Interviews mit Supervisor/innen der Frage nachgehen, inwieweit Frauen und Männer in der Angleichung ihrer Lebenssituationen und Identitätsentwürfe gleiche Chancen und potenzielle Schwierigkeiten, Selbstfürsorge zu betreiben, haben,

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bzw. inwieweit polarisierte Geschlechterentwürfe und Zuschreibungen von geschlechtsspezifischen Kompetenzen noch fortwirken. Die befragten Supervisor/innen sind dabei zum einen reflektierende Expert/innen für die unterschiedlichen Lebenslagen, mit denen sie in ihrer Praxis konfrontiert sind. Andererseits sind sie auch Teil der Geschlechterverhältnisse und den Brüchen und Ungleichzeitigkeiten gleichermaßen unterworfen. So thematisieren die Befragten Geschlecht in den Forschungsgesprächen in sehr unterschiedlicher Weise. In manchen Interviews bleibt dies eine Leerstelle, in anderen wird eine geschlechtliche Kodierung von Selbstfürsorge explizit verneint, so wie auch Supervisor/innen Geschlechterdifferenzen kritisch reflektieren. Diese Mehrdeutigkeit kann auf verschiedene Reflexionsgrade der Befragten hinweisen, jedoch auch auf unterschiedliche Arbeitsfelder und Erfahrungen, die die An- und Abwesenheit des Geschlechterthemas und die Wahrnehmung potenzieller Geschlechterdifferenzen bestimmen. Im Folgenden soll zunächst die Frage nach der Existenz geschlechterdifferenter Selbstfürsorgekompetenzen in der Wahrnehmung der Supervisor/innen untersucht werden.

Selbstfürsorge und Geschlechterdifferenzen Als ein zentrales Thema in Bezug auf Selbstfürsorge wird von den Supervisor/innen die Fähigkeit, sich abzugrenzen, hervorgehoben, dies sowohl innerhalb der Arbeitswelt als auch zwischen Arbeit und Privatleben. Ein Supervisor (C 5) thematisiert in diesem Kontext Geschlechterdifferenzen, wenn er davon ausgeht, dass Männer sich besser abgrenzen können: „Also ich glaub so, dass Männer sich grundsätzlich besser abgrenzen. […] die gehen aus der Arbeit raus und machen die Tür zu und können das in der Regel auch besser. […] Und dass Frauen häufig eher so die Sachen noch mal mitschleppen. Die brauchen eher noch mal ein Gegenüber, um das auszuschnacken. Der Partner ist da immer gerne genommen.“ Dieser Supervisor geht davon aus, dass es eindeutige Geschlechterdifferenzen bei der Möglichkeit, sich abzugrenzen, gibt. Männer können nach der Arbeit besser abschalten, wohingegen Frauen auch in ihrer Freizeit noch mit der kommunikativen Bearbeitung ihrer beruflichen Themen beschäftigt sind. Diese Differenz wertet der Supervisor dahingehend, dass die kommunikative Nachbereitung durch Frauen eine erschwerte Abgrenzung zum Ausdruck bringt. Hingegen scheint das „Tür zu“ der Männer für diesen Supervisor konstruktiv im Sinne der Abgrenzung. Eine anders akzentuierte Deutung des Themas innerer Abgrenzung liefert eine Supervisorin (F 3): „Also Frauen überlegen als erstes, was hat das mit mir zu tun, brauchen auch länger, um überhaupt zu realisieren, dass, da was Systematisches läuft, wollen es länger nicht akzeptieren, brauchen da einfach für sich länger wahrzunehmen, dass es wirklich was ist, was richtig systematisch dann auch vorangetrieben wird, steigen dann aus. Männer halten fest und werden krank. Also Frauen hören früher auf, gehen früher in den

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Rückzug, versuchen, sich zu schützen und bei Männern habe ich den Eindruck, die lassen es darauf ankommen und erkranken dann, hatte ich jetzt zweimal, einmal an einer Gürtelrose und einmal an einer Gesichtsrose. Und die sind dann für einen ganz langen Zeitraum ausgefallen.“ Aus dieser Perspektive können sich Frauen zwar zunächst weniger schlecht abgrenzen, sie suchen Fehler zunächst bei sich selbst und personalisieren in diesem Sinne auch strukturelle Probleme. Wenn sie jedoch keinen Ausweg sehen, können sie sich abgrenzen und krank machende Situationen verlassen. Männer hingegen scheinen Probleme zunächst weniger an sich selbst heranzulassen. In einem Festhalten an einer inneren Distanzierung von beruflichen Problemen verpassen sie dann jedoch den Zeitpunkt, aus krank machenden Situationen auszusteigen und erkranken tatsächlich. Selbstfürsorge in der Deutung dieser Supervisorin wird bei Frauen zunächst durch das Personalisieren von Problemen eingeschränkt, bei Männern fehlt jedoch ein rechtzeitiges Einsehen in ein Scheitern an einer Situation. Mit einem weiteren Schwerpunkt betrachtet der Supervisor C 9 das Geschehen. Im Bereich sozialer Arbeit können seiner Ansicht nach eher Männer krank machende Berufsbereiche verlassen und finden eher neue Stellen als weibliche Kolleginnen, was auf die notwendige Chancestruktur verweist, die zur Reflexion hinzutreten muss. Was die Reflexivität angeht, spricht der betreffende Supervisor diese eher Frauen zu, zudem stellt er männliche emotionale Distanzierung einem weiblichen Emotionsausdruck gegenüber: „Männer klagen da weniger. Männer belehren eher über die Gesamtzusammenhänge worum es, also das sind dann eher die, die dann so eher noch mal beschreiben, wie schlecht die Welt ist, so mit wohlgesetzten Worten. […] Also weniger von – Was ich von Frauen öfters mal höre ist: ,ich halt das nicht mehr aus oder ich –‘ das hab ich von einem Mann bisher noch nie gehört. Da gibt’s dann immer eher so was, sag ich mal, so eine Distanzierung.“ Dieser Supervisor (C 9) drückt somit eine ähnliche Sichtweise wie bereits zitierte Supervisorin F 3 aus, in der bei Männern eine emotionale Distanzierung, hier sogar mit einer Belehrung von oben herab, vorherrscht, die zugleich die Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen, verhindert. Frauen scheinen demgegenüber mehr zu klagen, was auch auf ein potenzielles Verharren im Klagen hinweist, zugleich können sie aber Grenzen ihrer Leidensfähigkeit benennen und sich die Schwäche, etwas nicht mehr aushalten zu können, eingestehen. Auch ein weiterer Supervisor (C 10) thematisiert die Frage der Abgrenzung bzw. des Umgangs mit Problemen aus einer Geschlechterperspektive. So sieht er z. B. eine Präferenz von Frauen für Stressseminare, währen Männer Seminare zu Zielfindung und Orientierung bevorzugen würden. Hier verortet er ein weiblich bestimmtes Interesse am emotionalen Austausch, dass seines Erachtens jedoch auch hysterische Züge annehmen kann: „Frauen würden eher den Weg suchen, durch den Austausch ja, und das zu teilen, als Männer. […] In den Stressseminaren […], da tauchen eher auch die Frauen auf und ich

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glaube, die teilen das, die suchen wirklich auch dieses Teilen und, äh, können sich dann auch sehr gut schon mal gegenseitig hochpushen ne, wie schrecklich alles ist. […]Das könnt ich mir vorstellen, dass Frauen eher eben auch in so einer Phase, wo hysterische Störungen einsetzen können, im wahrsten Sinne des Wortes, jetzt nicht denk ich, Frauen sind alle hysterisch. Aber dass sie dadurch irgendwie auch so eine Tendenz haben […] und dass sich das eben auch hinterher niederschlägt in solchen Bewältigungsstrategien.“ Für diesen Supervisor (C 10) scheint es eine klare Verbindung von Emotionalität und Weiblichkeit zu geben, die ihn auch ängstigt und mit Kontrollverlusten assoziiert wird. Frauen als Gruppe neigen zu gemeinsamen Affektdynamiken, sie „pushen“ sich gegenseitig, und in einem Muster von Geschlechterdifferenz scheinen ihre spezifischen Bewältigungsstrategien als tendenziell pathologisch. Auch ein anderer Supervisor (C 7) thematisiert Geschlechterdifferenzen in einer ganz ähnlichen Weise: „Also mir fallen jetzt mehr Männer ein, die krank werden. Die Herzinfarkte sind alles Männer, also haben Frauen einen anderen Umgang mit Belastungen. Sie sind widerstandsfähiger, haben eigene ganz subtile Strategien. […] Ich werd immer mal wieder, gar nicht so selten, als Mann in reine Frauenteams geholt, weil denen der männliche Blick oder die männliche Klarheit gut tut, sagen die. Oder meine Strukturiertheit. Und da erleb ich, dass die immer am Anfang von der Supervision oder auch von Workshops […] dass die erstmal lamentieren. Erst mal schimpfen über dies und jenes. Und dann allerdings in der 2. Phase von denen nur wenige auch gemeinsam nach Lösungen suchen wollen. Möglicherweise ist das ein Teil dieser ganzen subtilen Strategie.“ Auch für diesen Supervisor (C 7) gibt es klare Geschlechterdifferenzen. So scheinen Frauen gesundheitsbewusster zu sein und haben subtile Strategien emotionalen Abreagierens. Zugleich scheinen ihnen aber Strukturiertheit und eine Lösungsorientierung zu fehlen, die männlich bestimmt sind. Mit der Betonung der „ganz subtilen“ weiblichen Strategien werden zudem Vorstellungen weiblicher List und männlicher Offenheit nahegelegt, die die weibliche Affektivität negativ konnotieren. Interessant sind an dieser Stelle Darstellungen, die auf männliche Formen des emotionalen Austausches verweisen. Hierzu noch ein Supervisor (F 14): „Also auch Männer sagen sich untereinander, da kannst du dir mal was holen. […] Ja, bedürftig (lacht), würden die nicht sagen, sondern die würden sagen, hast du ein Problem mit deinen Mitarbeitern, habe ich auch, darüber schimpfen die dann schon mal miteinander oder mit dem Konkurrenten, und auf der Ebene geht es dann, das ist auch in Ordnung– […] sie erzählen es sich dann sozusagen, wenn sie hinterher nach dem Sport an der Theke sitzen, reden sie schon da drüber. Das werden keine tiefgründigen seelischen Prozesse sein, die sie sich so veröffentlichen, aber nach dem Motto, ,das Problem zu haben, ist salonfähig‘, das glaube ich schon, da hat sich bestimmt was bewegt in den Jahren. […] Die sagen, das ist ein Problem (lacht) und ich brauche eine Lösung, ich muss mit jemanden reden, das macht Druck […] Ja, das wird durchaus, glaube ich, schon als professionell erlebt, als ein Zeichen von Professionalität und nicht, der hat es schon nötig. Ich glaube, da hat es Veränderungen gegeben.“

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An dieser Stelle des Gesprächs werden von einem männlichen Interviewer und dem Supervisor (F14) gemeinsam Bedeutungen männlicher Coachingwünsche erforscht. Der Supervisor entwirft ein Bild männlicher wechselseitiger Fürsorge und gegenseitiger Hilfestellung zur Selbstfürsorge in klassischen Männergemeinschaften. Emotionaler Austausch findet in diesem Bild „an der Theke“ statt, jedoch benennt der Supervisor, dass es dabei deutliche Veränderungen gegeben hat. Diese gehen dahin, dass auch Männer einen Bedarf an Beratung und Unterstützung benennen können, auch wenn dies im Muster von Problem und adäquater Lösungsstrategie formuliert wird. Mit einer Reduktion auf „Problemlösung“ wird die Anerkennung von Bedürftigkeit zumindest in einer männlich definierten Öffentlichkeit weiterhin ausgeschlossen und eine klassische, rein beruflich definierte Männlichkeit bestätigt. Hierzu gibt auch Supervisorin C 1 einen Hinweis. Sie benennt, dass es in ihrer Wahrnehmung stärker die Frauen sind, die selbst einen Bedarf an Coaching für sich feststellen und gezielt und aus Eigeninitiative heraus einen Ort zum Nachdenken suchen. Supervisorin (C1): „Warum das so ist? Vielleicht ist das für Männer immer noch ein größerer Schritt, also sich auf sone persönliche Reflexionsebene zu begeben. Und für viele doch eher immer noch, glaub ich, noch ein Eingeständnis von Schwäche.“ In den Schilderungen der Supervisor/innen werden deutlich erkennbar alte Geschlechterklischees verhandelt, mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen. Interessant sind hier männliche Blicke von Supervisoren auf weibliche Strategien und Verhaltensweisen – sicher ebenso, wie weibliche Blicke von Supervisorinnen auf männliche Strategien. Die Frauen zugeschriebene Kompetenz im Bereich der Emotionen kann als Fähigkeit zu einem klareren Erkennen schädigender Arbeitssituationen erscheinen und als Möglichkeit über den emotionalem Austausch selbstfürsorglich zu sein. Gleichzeitig kann diese Emotionalität aber auch als überbordend, als ein Mangel an Abgrenzung und Struktur erscheinen. Supervisor/innen erleben Geschlechterdifferenzen des bürgerlichen Modells und reproduzieren sie mitunter. Sie unterschieden sich jedoch in ihren Wertungen und es werden auch Wandlungsansätze erkennbar. Im Folgenden soll mit dem Verhältnis von Familie und Beruf eine zentrale Rahmung von Entwürfen und Praxen von Selbstfürsorge in den Blick genommen werden.

Familie und Beruf als Lebensbereiche Das Verhältnis der Abgrenzung von Beruf und Familie, das mit geschlechtlich differenzierten Arbeitsbereichen verbunden ist, ist brüchig geworden und wird auch durch Veränderungen der Arbeitswelt in Frage gestellt. Wie nehmen die befragten Supervisor/innen das Verhältnis von Familie und Beruf in seiner Bedeutung für die Selbstfürsorge wahr? Supervisor C 2 äußert sich zu den konkreten Inhalten von Selbstfürsorge in einer etwas distanzierten Weise: „Also genannt werden immer Familie, Sport wird immer genannt, wenn ich frage, was man denn zur Entlastung tun kann. Diverse Hobbys werden aufgezählt, dann gibt’s auch noch andere, die so wie ich sagen ,Kultur‘.“ Zur

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Geschlechts- und auch Schichtspezifik der Möglichkeiten äußert er sich ironisch: „Ich hab noch nie ne Krankenschwester mit nem Golfhandicap gesehen“. Deutlich wird an dieser Stelle, dass sich die konventionellen Vorstellungen von Entlastung, d. h. auch Selbstfürsorge, selbst an klassischen Familienbildern orientieren. In denen wird Familie als Entlastungsort für erwerbstätige Männer postuliert, wobei aktuellere Familienmuster für Frauen und auch Männer noch keinen Eingang gefunden haben. Vielmehr bleibt ausgeblendet, dass auch Familie Arbeit bedeuten kann und nicht statisch existiert, sondern von den Familienangehörigen aktiv hergestellt werden muss. Im Feld traditioneller Vorstellungen kann man auch das Konzept der Work-Life-Balance verorten, so wie es der bereits weiter oben zitierten Supervisor C 9 vorstellt: „Also, das ist ja dieses Konzept, […] Arbeit und Freizeit, dass man das in guter Balance hat. Bestmöglich man hat sozusagen ein arbeitsunabhängiges Hobby, was man dann am Wochenende praktiziert und komplett entspannt. Das wäre sozusagen, damit hätte man eine gute Work-Life-Balance geschaffen.“ Diesen Blick auf die Gestaltung des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit kann man auf zwei Weisen verstehen. Zum einen bleibt Familie nicht benannt und man kann sich z. B. einen von Familie entbundenen Single vorstellen, der sein ganzes Wochenende Hobbys und kompletter Entspannung widmen kann. Man kann dieses Bild jedoch auch im Sinne eines bürgerlichen Männlichkeitsentwurfes lesen, bei dem die Entlastetheit von familiärer Arbeit und die Möglichkeit kompletter Selbstzentrierung am Wochenende eine Zuspitzung dieses Entwurfes darstellt. Familie und familiäre Belastungen bleiben hier latent weiblich konnotiert. Die Frage, wie Selbstfürsorge im Kontext von Familie und Beruf für Männer und Frauen möglich ist, scheint somit eine zentrale Frage zu sein, an der sich die Situation des Wandels der Geschlechterrollen und damit auch der spezifischen Kompetenzen und Möglichkeiten für Selbstfürsorge festmachen lässt. Eine Supervisorin schildert in der Gruppendiskussion (F GD 1): „Es gibt ja zunehmend Mitarbeiter, die landen bei mir, die sagen, wenn ich nach Hause komme, dann kann ich gar nichts mehr und, klatsch, da ist nichts mehr mit Privatleben, das war einmal.“ Ein anderer Supervisor ergänzt: „Der macht was falsch – Oder, also was heißt, der macht was falsch, das ist ja zu hart, aber ich denke, diese Wichtigkeit, also dieses Lob, diese Anerkennung, die man aus seinem Job bekommt, die ist vielleicht falsch gewichtet oder übergewichtet oder so, ich weiß es manchmal nicht so genau. Aber natürlich ist Arbeit schon sehr, sehr wichtig.“ Diese zunächst nicht auf Geschlecht bezogenen Formulierungen geben wichtige Hinweise auf das Verhältnis von Beruf und Familie generell. So kann man die Äußerung der Supervisorin dahingehend verstehen, dass das Privatleben eigentlich eine kompensatorische Funktion gegenüber beruflichem Stress ausüben könnte, dies ganz im Sinne einer klassischen Reproduktion der Arbeitskraft im privaten Bereich. Diese mögliche Funktion wird jedoch zunehmend ausgehöhlt, wenn der berufliche Bereich überhand

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nimmt. Dabei werden Wertigkeiten verhandelt, wie die Ergänzung des Supervisors deutlich macht. Hier stehen die potenziellen Gratifikationen des einen Lebensbereiches, wie Lob und Anerkennung, denen des anderen Bereiches gegenüber und es scheint ein Ungleichgewicht zugunsten des beruflichen Bereiches zu geben. Selbstfürsorge im Sinne einer Abgrenzung von beruflicher Arbeit tritt hier zurück zugunsten der inneren Gratifikationen, die die Arbeit bereithält, für diese wird sogar über eigene Grenzen gegangen. Deutlich wird, dass ein innerlich verankertes Motiv, bei dem Arbeit in besonderer Weise besetzt wird, Selbstfürsorge erschweren kann. Eine emotionale Besetzung des Lebensbereiches Familie könnte demgegenüber zu einem inneren Abstand gegenüber den affektiven Belohnungen der Arbeit beitragen. Denkbar sind hier jedoch auch Konflikte. Diese Frage ist, wie eingangs angedeutet, eng mit dem Geschlechterthema verbunden, obwohl dies in der Diskussion der Supervisor/innen nicht explizit ist. Jedoch lachen im Kontext der Gesprächssituation der obigen Zitate vor allem die weiblichen Diskussionsteilnehmerinnen, was auf die potenziell affektiv aufgeladenen geschlechterdifferente Perspektiven zu diesem Thema verweisen mag.

Grenzziehungen Wie steht es um die Grenzziehungen zwischen Beruf und Familie und wie gestalten beide Geschlechter diese Grenzen? Eine Supervisorin (F 10) hebt hervor, dass Familie auch für Frauen nicht nur eine Belastung bedeutet oder Selbstfürsorgemöglichkeiten einschränkt, sondern auch in einer positiven Weise zur Abgrenzung eines eigenlogischen Bereiches gegenüber der Arbeit beiträgt. Sie führt aus, dass es vor allem Frauen in der beruflichen Selbständigkeit ohne Familie besonders schwer fällt, eine Abgrenzung von Arbeit, auch im Sinne der Selbstfürsorge, durchzuhalten. Selbständigen Müttern hingegen gelinge es aufgrund der familiären Ansprüche besser, sich von den Ansprüchen der Arbeit abzugrenzen. Die Supervisorin F 10 hebt die positiven Abgrenzungspotenziale der Doppelorientierung von Müttern vor allem in der Selbständigkeit hervor: „Bei Frauen, die selbständig sind, egal als Schauspielerin, als Rechtsanwältin, als Veranstaltungsevent–, Grafikerin, was auch immer, was sie so machen, oder auch Beraterin, oder auch im sozialen Bereich, dieses Thema trennen zwischen Beruf und Privat ist für Frauen eine viel größere Schwierigkeit. Es sei denn, sie haben Familie und sind aufgrund der Familie gezwungen, die Privatebene ganz klar rauszuhalten. Wenn sie keine Familie haben, ist das völlig grenzenlos und sehr schwierig, das klar zu kriegen.“ Dies kann man so verstehen, dass die moralischen Ansprüche an die Betreuung der Kinder Mütter vor einem Übergreifen des Berufsbereiches auf den privaten Bereich schützen. Für Selbstfürsorge scheint dies jedoch zugleich auch problematisch, wenn es eben Ansprüche an Fürsorge sind, die der Arbeit Grenzen setzen und weniger Ansprüche an Selbstfürsorge, die mit den Fürsorgeansprüche ja durchaus in Konflikt geraten können. Auch eine andere Supervisorin (C 14) definiert Familie als eine Möglichkeit zur Abgrenzung von beruflichen Ansprüchen:

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„Und da gibt es auch andere Kolleginnen hier, die mit Kindern klarer sagen: So, jetzt ist aber Schluss. Da denke ich, helfen die Kinder, zumindest im jüngeren Alter, die Entgrenzung einzudämmen, weil die (klopft auf den Tisch) ja auch faktisch da sind, ne, und sich nicht wegschieben lassen, oder die ziehen am Ärmel oder was auch immer und haben eben auch noch einen Anspruch, wobei – na die Frage ist ja, das tut ja, als gebe es Arbeit und anderes Leben. Aber auch innerhalb des anderen Lebens gibt es ja verschiedene Lebensbereiche, was ja dann wegfällt, ist die Zeit für sich selbst, die in westlichen Kulturen ja auch ganz erstrebenswert erscheint. Die gibt es dann halt tendenziell weniger ja. [I: Was vorher von der Arbeit eingenommen wird, wird dann von den Kindern] … Wird von den Kindern eingenommen und die sind auch entgrenzend im Sinne von Privatzeit, ne. Eltern sind halt immer Eltern, auch nach 22 Uhr oder auch um 3 Uhr nachts.“ In dieser Schilderung wird deutlich, dass Familie bzw. Kinder einerseits zu einer Abgrenzung von Arbeit und damit von einem Bereich möglicher Freiräume für Selbstfürsorge außerhalb der Arbeit beitragen, auf der anderen Seite vor allem Kinder diesen Freiraum für ihre Eltern massiv einschränken. Zusammengenommen mit der ersten Aussage der Supervisorin betrifft dies wiederum vor allem Frauen, die Mütter sind. An dieser Stelle kann man fragen, ob und inwieweit Selbstfürsorge an Zeit gebunden ist bzw. an einen zeitlichen Freiraum auch ohne Fürsorgeverpflichtungen anderen gegenüber. Inwieweit kann das Zusammenleben mit Kindern selbst auch als ein Bereich der Selbstfürsorge gelten, oder schränken Kinder Selbstfürsorgemöglichkeiten vor allem ihrer Mütter vorrangig ein? Fürsorge für Kinder als einen Bereich der Selbstfürsorge setzt zumindest die an anderer Stelle bereits zitierte Supervisorin C 1, wenn sie ausführt: „Wo dann auch ein bisschen Ruhe eintritt und die einen machen das, indem sie abends noch ne schöne Musik hören und die anderen nehmen sich Zeit fürs Kind. Und da dann eben auch in so ne ganz andere Welt eintreten können.“ Dieser Schilderung folgend kann man als ein Kriterium für Selbstsorge die Ruhe und Außeralltäglichkeit benennen, die auch Fürsorge für Kinder zu einem Teil von Selbstsorge machen kann. Zentral wäre demnach die Entlastung von Alltagshektik und arbeitsartigen Aufgaben, auch mit Kindern. Zur Frage der Belastung äußert sich wiederum die Supervisorin C 14, die zwar Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Selbstfürsorge explizit verneint, dann jedoch Kinder eindeutig den Frauen zuspricht und Belastungen durch Kinder bei diesen verortet: „Dazu berate ich zu viel Frauen (lacht), als dass ich sagen kann, ich sehe da Geschlechterunterschiede. Wenn ich jetzt wieder hier bei uns gucke, wo aber auch Männer unterrepräsentiert sind, ja – nee, würde ich nicht systematisch – also, ich meine, klar ich kenne Studien dazu, dass Männer anders mit Krankheiten umgehen als Frauen. Aber was beobachte ich? Da finde ich, da gibt es zu viele Einflussfaktoren. Hier haben z. B. viel mehr Frauen einfach Kinder und dadurch eine ganz andere Belastung und dadurch nochmal ganz andere Möglichkeiten oder eben nicht Möglichkeiten mit Sachen um-

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zugehen. Insofern würde ich sagen: Nein ich sehe erst mal keine. Ich denke nicht, dass es unbedingt am Geschlecht liegt.“ Die Supervisorin C 14 vermeidet explizit den Bezug auf Geschlechterklischees in Bezug auf die Kompetenzen im Bereich der Selbstfürsorge. Sie schreibt Frauen nicht pauschal ein angemesseneres Gesundheitsverhalten zu. Obwohl es so aus der Perspektive dieser Supervisorin keine Unterschiede in der Selbstfürsorge selbst zu geben scheint, gibt es jedoch differente Möglichkeiten zur Selbstfürsorge und differente Belastungen. Geschlecht wirkt in ihren Schilderungen somit als latente Kategorie über die Zuschreibung der Verantwortung für familiäre Fürsorge und Beziehung. Zu den geschlechtlich kodierten Verhältnissen von Fürsorge und Selbstfürsorge, sowie Familie und Beruf äußert sich implizit auch der männliche Supervisor F 14, der bereits zu männlichen Coachingwünschen zitiert wurde: „Ja, nicht selten schickt sie die Frau. In einem Fall […], das war ein Ingenieur, der pendelte auch, da haben wir manchmal die Sitzungen Sonntagabend gemacht, war montags bis freitags in Projekten, dann wieder ab nach Hause. Und da war es schon so, dass er gemerkt hat, er kann nicht mehr entspannen. Die Familie meutert auch, er muss was tun. Dann geht das natürlich über Mundpropaganda, da sagt ihm jemand, guck mal da–, Erfahrung, aber manchmal kriegen sie auch von ihren Frauen gesagt, Mensch […] Also das Überdruckventil ist mit Sicherheit in der Freizeit, im privaten Bereich.“ Der Supervisor F 14 bringt an dieser Stelle noch einmal eine Perspektive auf einen klassische männlichen Bezug zwischen Familie und Selbstfürsorge ein. In diesem Sinne wirkt Familie nicht nur als ein Ort für eine Abgrenzung von der Arbeit und für Selbstfürsorge. Selbstfürsorge durch den Mann wird vielmehr von der Familie explizit und mitunter mit Druck eingefordert, es gibt einen fürsorglichen Zwang zu einer stärker selbstfürsorglichen und gegenüber der Familie präsenten und fürsorglichen Haltung. Es wird deutlich, dass in Bezug auf Coaching, das man als einen Ort für selbstfürsorgliche Prozesse betrachten kann, Frauen Fürsorge für ihre Männer übernehmen, wenn sie diese unter Druck setzten und gleichsam zu einem Supervisor „schicken“ und Selbstfürsorge verordnen. Andererseits erscheinen Frauen bzw. die Familie sowohl als Überdruckventil für beruflichen Stress, zugleich jedoch als zusätzlicher Stressfaktor, wenn sie Forderungen stellen oder konkrete Veränderungswünsche an den Mann richten. Die fürsorgliche Funktion, die zugleich einen Zwangsanteil beinhaltet, steht im Einklang mit den bürgerlichen Mustern und sie scheint es in den Schilderungen der Supervisor/innen auch weiterhin noch und nur aus Richtung der Frauen für Männer zu geben. Festhalten kann man an dieser Stelle weiterhin, dass bezogen auf Männer in diesem Beispiel des befragten Supervisors F 14 die Bereiche Familie und Beruf in ganz anderer Weise verhandelt werden als mit Bezug auf Frauen in den ersten Interviewbeispielen. Es entsteht ein Bild klassischer bürgerlicher Familienverhältnisse, in denen die Familie (potenziell) der Ort der Regeneration eines Mannes ist, an der Herstellung und Erhaltung dieses Ortes scheint der berufstätige Mann jedoch nicht beteiligt. Die Krise kommt dabei in den Forderungen der Familie an den Mann und einem drohenden Verlust zum

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Ausdruck. Für Frauen hingegen scheint sich neben der kompensatorischen und abgrenzenden Funktion der Familie jedoch zugleich ein besonderer Abgrenzungskonflikt anzudeuten. Dieser lässt Selbstfürsorge zwischen Familie und Beruf potenziell von beiden Seiten gefährdet erscheinen. Auf diese Problematik soll im Folgenden zunächst mit Blick auf gut qualifizierte berufstätige Mütter nachgegangen werden.

Fürsorge und Selbstfürsorge für berufstätige Mütter Wie sehen die bereits beschriebenen geschlechterdifferenten Perspektiven auf Beruf und Familie und dabei die Potenziale für Selbstfürsorge nun für berufstätige Mütter aus? Eine Supervisorin (F4) schildert eindringlich die Situation gut qualifizierter berufstätiger Mütter, die sie als in einer innerlichen Auseinandersetzung befindlich ansieht zu Fragen der Legitimation ihrer Doppelorientierung. Es scheint für diese Frauen unklar, welche Ansprüche sie beruflich und familiär erfüllen sollen oder ob ihre Leistungen in beiden Bereichen real in Frage gestellt sind. Angesichts dessen versuchen sie, „beides super gut hinzukriegen“, und schauen dabei zugleich immer, dass es den Kinder auch gut geht. Die Supervisorin F 4: „Das ist so eine Mischung aus gesellschaftlichem Sein und eigenen Ansprüchen und dem Druck, und das macht–, das bringt Mütter zu Hochleistung und zwar auf beiden Gebieten, erhält sie auch lange fit, und es gibt aber irgendwie Punkte, wo-, ja, wo dieses sich selber spüren und sich selber mitbekommen, und was will ich denn grade, ob man das dann macht oder nicht (lacht), ist einfach mit der–. […] mit der sozusagen Dauerrolle von diesem beiden, zumindestens ist das etwas, was leicht verloren geht. Und ich glaube, dass es ganz wichtig ist als Selbstfürsorge.“ Insbesondere berufstätige Mütter scheinen so, anders als Väter, besondere Leistungen in beiden Lebensbereichen zu erbringen. Anders als im bürgerlichen Modell von Familie ist Familie hier nicht primär ein Ort der Erholung, sondern im Kontext von Arbeit und Reproduktion scheint es unklar, welchen Ort und Raum Selbstfürsorge im Sinne von Reflexion und Innehalten für die betroffenen Frauen noch hat. In den Schilderungen der Supervisorin scheint es keine Fürsorge durch einen Dritten für die berufstätigen Mütter zu geben, und dies ist eine weitere Differenz zum männlichen Pol im bürgerlichen Modell. Die befragte Supervisorin scheint zudem uneins, ob die doppelte Orientierung auf Beruf und Familie für Frauen eher lustvoll ist, oder wo sie auch an Grenzen stößt bzw. wo das „es schaffen wollen“ zu einem „es schaffen müssen“ wird. Hierzu noch einmal die zitierte Supervisorin F 4: „… und wenn man sozusagen super gut drauf ist, dann sagt man, ja, stimmt, ich finde, ich habe es auch gut (lacht). […] Aber das muss man auch irgendwie erst mal sich eingestehen und das Vergnügen daran und auch die Lust, irgendwie die Sachen zusammenzubringen. Und dazu braucht man immer wieder dieses auf sich zurück. [I: Das ist ja meistens der Moment, wenn man merkt, dass die Kraft ein bisschen

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nachlässt.] Genau. Und dann ist es aber nicht–, der Vergnügungspunkt ist dann nicht mehr (lacht), sondern man merkt, ah, ich schaffe das nicht, ich muss da noch irgendwas anders organisieren oder irgendwie anders machen, damit ich es schaffe, weil das Bild ist, ich muss es schaffen.“ Eine weitere Supervisorin (F 1) formuliert es für den Kontext der Medizin, in dem sie tätig ist, deutlicher: „Aber ich glaube, alles geht nicht, du kannst nicht an einer Uniklinik Karriere machen, eine gute Ärztin sein, eine gute Hochschullehrerin sein und genügend für deine Familie und Freunde und kulturellen Interessen tun, ich glaube das geht nicht.“ In der transitorischen Situation der sich wandelnden Geschlechterverhältnisse scheint der erweiterte Lebensbereich für Frauen gleichermaßen ein Potenzial für Selbstfürsorge bereit zu halten und dieses durch einen verdoppelten Leistungsanspruch zugleich wieder einzuschränken. Selbstfürsorge würde so gesehen zumindest in manchen beruflichen Bereichen und Lebenssituationen auch Verzicht bedeuten – auf berufliche Erfolge und/oder familiäres Engagement – bzw. eine Einsicht in die eigenen und auch die realistischen Grenzen der Machbarkeit und Belastbarkeit. Dieses scheint jedoch für gut ausgebildete berufstätige Mütter möglicherweise in besonderem Maße kränkend. Der Verweis auf die Notwendigkeit, etwas besser zu organisieren, wenn man zu stark belastet ist, beinhaltet dabei auch den Aspekt einer Flucht in Handlungsoptionen, die das Gefühl der Überforderung im Einklang mit gesellschaftlichen Machbarkeitsphantasien überdecken hilft. Berufstätige Väter scheinen von negativen und Selbstfürsorge in spezifischer Weise erschwerenden (wie auch von den potenziell positiven) Bedingungen entlastet. So spricht eine andere Supervisorin an, dass sie Väter in ihren Supervisionen zwar durchaus als engagiert wahrnimmt, es jedoch nie vorkomme, dass Sitzungen wegen familiären Verpflichtungen ausfallen müssten. Hierzu ein Zitat der Supervisorin F 10: „Also ich erlebe gute Väter in der Supervision, wo ihre Familie eine Rolle spielt, aber ich habe noch nie einen Supervisanden erlebt, der gesagt hat, ich muss heute eher gehen, weil ich muss meine Tochter holen, oder ich kann nicht kommen, weil mein Kind krank ist, habe ich noch nie erlebt, noch nie. Aber Frauen, die nicht kommen können, weil die Kinder krank sind, Frauen, die eher gehen müssen, weil sie das Kind abholen müssen, Frauen, die anrufen müssen, weil sie-, also von dem, wie die Kundschaft bei mir hier sitzt, ist das sehr geschlechtsspezifisch verteilt. Und auch diese Frage, wer, Mann oder Frau, darf sozusagen diese Krankheitstage für das Kind nehmen, das ist also völlig auch geschlechtsspezifisch aufgespalten, dass ganz klar zuerst die Frau.“ Die Supervisorin F 10 hebt an dieser Stelle zudem explizit hervor, dass die fortwirkenden Arbeitsteilungspraxen nicht einem höheren Verdienst der Väter geschuldet sind. Im Osten Deutschlands, in dem sie vorwiegend tätig ist, verdienten die Frauen häufig deutlich mehr als ihre Partner. Für Frauen der Mittelschicht scheint es in der Wahrnehmung der Supervisor/innen somit ein deutliches Fortwirken geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungsmuster zu geben.

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Diese bieten den Frauen besondere Möglichkeiten zur Selbstfürsorge, gefährden diese aber auch in besonderem Maße.

Selbstfürsorge für Frauen in schwierigen Beschäftigungsverhältnissen Für Frauen in der Mittelschicht scheinen in besonderem Maße innere und äußere Ansprüche und die Auseinandersetzung mit diesen bedeutsam. Wie seht das Verhältnis von Fürsorge und Selbstfürsorge für Frauen in prekären Arbeitssituationen aus? Eine Supervisorin (F 9) verweist auf die negative Dynamisierung, die die Orientierung von berufstätigen Müttern auf beide Lebensbereiche in bestimmten Arbeitsverhältnissen erfahren kann. So schildert sie die Bedingungen im Bereich der Altenpflege – einem Bereich klassischer Frauenarbeitsplätze: „Da kommt es vor, dass dann Kinder anrufen, die nachmittags nicht versorgt sind, zu Hause sind und die Mütter sind da bei der Arbeit, und sehen es auch selbstverständlich als ihre Aufgabe an, die Kinder zu versorgen, und es gibt keine Männer, die da sich genauso verantwortlich fühlen. Also entweder sind sie schon allein erziehend oder–. Ich denke jetzt grade in so ein Altenheim auf dem Land, ein großes, die eigentlich sehr viele neue Konzepte haben, aber wenn ich mir da die Beschäftigten angucke, heißt das für die zum Beispiel, dass die keine Vollzeitstellen bekommen, auch wenn sie es finanziell bräuchten, weil man einfach mit einem großen Heer an Beschäftigten viel flexibler ist. Und der Krankenstand ist immens, was bedeutet, dass, wenn man frei hat, man damit rechnen muss, dass man angerufen wird und wieder kommen muss, so dass über lange Strecken überhaupt kein freier Tag mehr rauskommt. Oder dass man plötzlich in eine Nachtwache muss.“ Im geschilderten Beispiel wird eine Konsequenz schwieriger gesellschaftlicher Verhältnisse im Bereich der Pflege deutlich. Frauen in diesem Bereich gehören nicht zu den Protagonisten neuer dynamischer Subjektentwürfe, sie sind jedoch von Verdichtung und Beschleunigung der Arbeit gleichermaßen betroffen. Geschlecht spielt hier auf mehreren Ebenen eine Rolle. Zum einen handelt es sich um einen überwiegend von Frauen besetzten Arbeitsbereich und einen Beruf, der die Sorge um andere beinhaltet. Zum anderen sind die Frauen aufgrund ihres Geschlechts auch privat für Fürsorgeleistungen verantwortlich. Die Sorge um andere in prekären Verhältnissen erschwert oder verunmöglicht die Selbstfürsorge für die betroffenen Frauen in diesen Arbeitsbereich jedoch auf beiden Ebenen. Es bestehen enge berufliche Rahmenbedingungen mit geringer Bezahlung auf Teilzeitstellen, die den Lebensunterhalt kaum ermöglichen. Es gibt laut der zitierten Supervisorin gute Absichten seitens der Führung, Fürsorge zu übernehmen, die durch die realen Arbeitsverhältnisse jedoch untergraben werden. Freizeit und damit Raum für Selbstfürsorge wird immer wieder unterbrochen und eingeschränkt. Auf der anderen Ebene leisten die betroffenen Mitarbeiterinnen Sorge für andere auch im privaten Bereich unter schwierigen Bedingungen. Sie sind alleinerziehend und/oder werden durch Partner oder Betreuungseinrichtungen nicht oder

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nur unzureichend entlastet. Man kann unterstellen, das somit im privaten Bereich auch niemand Fürsorge für sie selbst erbringt. Hierzu noch einmal dieselbe Supervisorin: „Und ein Teil der Supervision oder meines Wirkens geht immer wirklich auch dahin, zu schauen, was gehört wohin, also was bringt man von zu Hause mit, weil vielleicht, wenn man einen Ehemann hat, der schwerst krank ist oder einen schlägt, oder wenn man allein ist mit Kindern, die massive Beschwerden oder Störungen schon aufweisen-. Und es gibt viele gesundheitliche Probleme, grade in dieser Berufsgruppe. Und Selbstsorge ist so ein Thema, was ich mit denen–, wo ich immer schaue, was können sie für sich tun, wo haben sie ihre Spielräume, wie verbringen sie ihre Freizeit, sind häufig inzwischen auch Themen, also zumindest in dieser Berufsgruppe, was können sie tun. Also dieses Gefühl, ausgeliefert–, sich ausgeliefert zu fühlen, das ist schon groß bei vielen.“ In Fall dieser Frauen kommen im Gegensatz zu den Frauen der Mittelschicht somit erschwerte Arbeits- und Lebensbedingungen zusammen und dies ist ein Resultat nicht nur wirtschaftlicher sondern auch der Geschlechterverhältnisse. Selbstfürsorge für Frauen wird massiv eingeschränkt, wenn weder Arbeitsverhältnisse noch private Familienverhältnisse Entlastung und Unterstutzung bieten, sondern sich Probleme in beiden Bereichen wechselseitig verstärken. Mit Bezug auf die letzte Aussage der Supervisorin kann man zudem festhalten, dass zu Selbstfürsorge ein Erleben von Handlungsfähigkeit gehört, ohne die weder angemessen Fürsorge noch Selbstfürsorge geleistet werden kann. Es scheinen in diesem Kontext also weniger die Strategien und Formen der Selbstfürsorge geschlechtlich bestimmt, sondern stärker die Bedingungen, unter denen sie überhaupt stattfinden kann. Möglicherweise sind Frauen in sorgenden Berufen auch nicht notwendigerweise zu besonderer Fürsorge und Selbstfürsorge fähig, sondern erschöpfen sich in (beruflichen) Fürsorgeleistungen für andere. Noch einmal ein Zitat der Supervisorin: „Also Selbstfürsorge, ja, das ist eher so, dass sie dann so sagen, wir wissen schon, es täte uns gut, was weiß ich, spazieren zu gehen, besser spazieren zu gehen, als auf dem Sofa zu liegen. Und die sind ja auch, viele von denen sind sehr adipös, viele von denen-, also es wird geraucht, stark geraucht in diesen Teams. Und die sind nicht gesund und die, die länger dabei sind, haben einen kaputten Rücken. Die wissen das, aber sind zu erschöpft oder haben zu wenig Freizeitkompetenzen, um wirklich da aus sich raus, glaube ich, für eine Zufriedenheit zu sorgen.“ Statt Selbstfürsorge in einem konstruktiven Sinne scheinen orale Befriedigungen im Vordergrund zu stehen, die langfristig jedoch gesundheitlichen Probleme verschärfen. Supervision und die betreffende Supervisorin leisten hier eine kompensatorische Fürsorge. Im Gegensatz zu den Frauen der Mittelschicht, die sich an ihren Ansprüchen und Wünschen, alles gut zu leisten, aufreiben, haben die Frauen im Bereich der Pflege deutlich weniger Handlungsmöglichkeiten. Bei ihnen kommt zum Grunddilemma der Frage nach Abgrenzung oder Belastung durch beide Bereiche noch die belastenden Situation in beiden Lebensbereichen hinzu. Diese verstärken sich wechselseitig.

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Nach diesem Blick auf das Verhältnis von Familie, Beruf und Geschlecht aus Sicht der Supervisor/innen möchte ich im Folgenden, als einen letzten Punkt, Geschlechterverhältnisse im Berufsbereich selbst in ihrer Bedeutung für Selbstfürsorge betrachten.

Geschlecht in Teams Fragen der Abgrenzung, Fürsorge und Selbstfürsorge werden von den befragten Supervisor/innen auch in Bezug auf Geschlechterverhältnisse an Arbeitsplätzen selbst thematisiert. Dabei lassen sich zwei Ebenen differenzieren: zum Einen innerhalb von Teams und zum Anderen zwischen Teams und Leitung. Beide Bereiche können sich auch überschneiden. Zur geschlechterdifferenten Fähigkeit zur Abgrenzung in Führungspositionen und damit auch zu den Geschlechterverhältnissen und Möglichkeiten der Selbstfürsorge im sozialen Bereich äußert sich die bereits an anderer Stelle zitierte Supervisorin F 10: „Jetzt gucke ich mal kurz auf die Männer, die ich da habe. Die Männer–, die meisten Männer, die zu mir in die Supervision kommen, im sozialen Bereich sind Männer in der Minderheit, sind die meisten Männer in einer Führungsposition. Und wenn sie in einer Führungsposition sind, haben sie schon Möglichkeiten dadurch, dass sie nicht mehr so direkt mit der Klientenarbeit zu tun haben, sich ein Stück mehr abzugrenzen. Das fällt Frauen, auch wenn sie in einer Leitungsposition sind, wesentlich schwerer, weil Frauen, grade in Führungspositionen, noch immer dazu neigen, also auch in dieser Führungsrolle im Sinne von, ,ich mache diese Jobs nicht mehr‘, das nicht auszuhalten, sondern sie vermeiden eigentlich den Konflikt, grade auch in einem Frauenteam, zu sagen, nee, das und das kann ich nicht mehr machen, weil ich bin jetzt Leiterin, sondern sie versuchen, sozusagen noch lange auf einer Ebene zu bleiben und damit eigentlich auch so einen eigenen Entwicklungsprozess nicht zu gehen und damit aber nicht gut für sich zu sorgen. Und wenn sie dann wirklich–, also ich biete auch Gruppen für Frauen in Führungspositionen an, wenn sie dann wirklich klar diesen Platz eingenommen haben, ,ich bin jetzt Chefin und habe eine andere Rolle, und ich muss auch anders mit meinen Mitarbeiterinnen umgehen, und ich muss auch Konflikte austragen, ich muss es auch aushalten, nicht mehr so warm in diesem Nest von den allen drin zu sitzen‘, dann kriegen das auch Frauen gebacken. Aber das ist immer ein Prozess, bis Frauen dazu auch stehen, also auch diese Einsamkeit oder Kälte von Leitung auszuhalten.“ In der Schilderung dieser Supervisorin (F 10) tauchen ebenfalls Geschlechterdifferenzen im Sinne der bürgerlichen Muster auf: Frauen haben weniger Kompetenzen im Bereich Abgrenzung und Konfliktfähigkeit als Männer und damit auch eine spezifische Erschwernis der Selbstfürsorge im Bereich einer Führungsposition. Frauen fällt es aus dieser Perspektive schwer, aus traditionellen Geschlechterrollen, ein Teil einer harmonischen und undifferenzierten Frauengruppe sein zu wollen, herauszutreten. Dies scheint mit emotionaler Kälte und Einsamkeit verbunden. Die zitierte Supervisorin

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(F 10) sieht dies jedoch als lernbar an, über verinnerlichte Geschlechteridentitäten hinaus. Innerhalb der Teams im sozialen Bereich gibt es in der Wahrnehmung dieser Supervisorin zudem ebenfalls geschlechterdifferenzierende Zuweisungen und Verhaltensweisen: „Selbstfürsorge, wenn ich jetzt noch mal an Männer in der Jugendhilfe denke, die so ganz normale Erzieher sind, also Männer in der sozialen Arbeit haben nach wie vor auch in Kitas immer eine Sonderrolle und werden auch vom Team noch mal irgendwie anders behandelt als die Frauen. Also ich glaube, an Frauen wird, in den Gruppen, die ich vor mir sehe, irgendwie ein höherer Anspruch gelegt, aber kein offener, kein offener, aber ein höherer von den Frauen selbst, ich glaube, auch manchmal von der Leitung, was so bestimmte Tätigkeiten angeht, es werden Rollen, also geschlechtsspezifische Aufgaben verteilt auch nach wie vor in Teams. Nicht nur, es gibt auch Männer, die das reflektieren und was anders machen und auch sich bemühen, und es kommt drauf an, wie offen das also auch angesprochen werden kann. […] Also Frauen haben ja die Tendenz, also sich um Männer zu kümmern (beide lachen), also diese Tendenz sehe ich zumindestens. Währenddessen Männer sich um Frauen kümmern, also dann ist vielleicht eher so diese klassische Aufteilung, was weiß ich, wenn in einem Jugendhilfeprojekt so irgendwas mit dem Auto, dann macht das der Mann, und geht es um irgendwas Nettes ringsrum, Geburtstagskarte fürs Team einpacken, also diese weichen Faktoren, dass es in dem Team ein angenehmes Klima gibt, glaube ich, ist das mehr-, sind das Aufgaben, die von Frauen gesehen werden, wahrgenommen werden, und die auch häufig von Frauen mit Männern auch zu Konflikten führen, weil die Männer das vielleicht auch nicht für wichtig erachten, bestimmte Sachen zu machen.“ Die Überlegungen dieser Supervisorin akzentuieren weitere Aspekte des Zusammenhangs von Geschlecht und Selbstfürsorge. So scheint es auch Selbstfürsorge im Kontext der Arbeit selbst zu geben, die die Supervisorin als die Fähigkeit zur Abgrenzung und zum Klären von Konflikten benennt. Frauen dagegen scheinen aus dieser Perspektive vor allem in Führungspositionen dazu zu neigen, um der Harmonie im Team willen, eigene Ansprüche nicht deutlich zu machen und Differenzen zu verbergen. Ein klarer Umgang mit der eigenen Person und Situation scheint somit zu Selbstfürsorge am Arbeitsplatz dazuzugehören. Ein anderer benannter Anteil betrifft die Übernahme von Fürsorgeleistungen in Teams durch Frauen – die für das emotionale Wohlbefinden aller Teamangehörigen in geschlechtsspezifischer Weise zuständig scheinen. Der Selbstfürsorge am Arbeitsplatz kann somit auch die Fürsorge für andere in einem Team dienen, da sie für alle zu einer haltenden Teambindung beiträgt. Bezogen auf das Verhältnis von Selbstfürsorge und Fürsorge wird hier deutlich, dass Männer auch im beruflichen Bereich (noch) in geringerem Umfang Verantwortung für Fürsorge zu übernehmen scheinen und damit ein Ungleichgewicht fortführen. Man kann dies so deuten, dass Männer in geringerem Umfang Selbstfürsorge betreiben müssen, da dieser Bereich (nach wie vor) durch weibliche Fürsorge abgedeckt wird.

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Hier kann man auch die Äußerungen des an anderer Stelle zitierten Supervisor (F 14) einbeziehen, der ja, bezogen auf Coaching und Supervision insgesamt, die Frauen als treibende Kraft für selbstfürsorgliche Prozesse der Männer benannt hat.

Rückbindung, Diskussion und Ausblick Selbstfürsorge hängt mit Geschlecht somit auf verschiedene Weisen zusammen bzw. ist mehrfach geschlechtlich kodiert und steht zugleich auch im Kontext anderer Ungleichheitsverhältnisse, z. B. von schichtspezifischen oder auch kulturell gebundenen Lagen. Zum einen entsteht Selbstfürsorge als eine psychosoziale Kompetenz und Ressource aus verinnerlichten Fürsorgeerfahrungen der (frühen) Kindheit. Sie ist damit eingebettet in die familiären Sorgeverhältnisse und d.h. auch arbeitsteiligen Familienverhältnisse und in die sich hieraus ergebenden unterschiedlichen Erfahrungen des Kindes mit mütterlicher und väterlicher Fürsorge. Diese sind zugleich individuell und gesellschaftlich, weil sie zum einen von den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Eltern-KindBeziehung und Familiendynamik abhängig sind und zum anderen diese eingebettet in gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse stattfinden. Diese gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse wirken über die Konstruktion von (hegemonialer) Männlichkeit und Weiblichkeit zugleich auch in direkter Weise auf die Selbstfürsorge der Subjekte ein. Sie stellen einen Rahmen für „normale“ Selbstfürsorge mit dazugehörigen Praktiken her, die für Männer und Frauen unterschiedliche Qualitäten und Grenzen haben bzw. haben können (dies auch mit differierenden Konsumangeboten). Auch die Dynamiken wirtschaftlicher Entwicklung, der Arbeitswelt und der spezifischen Berufsfelder und Arbeitgeber stellen Rahmen für Selbstfürsorge zur Verfügung. In Bezug auf aktuelle neoliberale Deutungsweisen von Arbeit und Mitarbeitern scheint Geschlecht zunächst keine Rolle zu spielen. Geschlecht und Geschlechterverhältnisse wirken sich jedoch darin aus, wer in welcher Weise neoliberalen Glücksversprechen und Arbeitsweisen folgen und in ihnen Erfolg haben kann. Dies ist mit mehr oder minder instrumentellen Selbstverhältnissen und Selbstfürsorgebeziehungen verbunden und damit auch mit spezifischen Konstruktionen von Geschlecht bzw. Geschlechtsneutralität, die unterschiedliche Männer und Frauen und beide in unterschiedlicher Weise ansprechen. Vor dem Hintergrund hegemonialer Geschlechterbilder kann dieses instrumentelle Selbstverhältnis als männlich kodiert verstanden werden. Hinzu kommt, dass Erwerbsarbeit nach wie vor geschlechtlich bestimmte Arbeitsfelder beinhaltet, die je spezifische Formen der Selbstfürsorge ermöglichen. Weiterhin ist Selbstfürsorge auch aktuell mit Fürsorge gekoppelt, wenn arbeitsteilige Familienverhältnisse Frauen stärker in Fürsorge für andere einbinden (die Rückwirkungen auf die Möglichkeit der Selbstfürsorge der Betroffenen haben) und auf der anderen Seite, Fürsorge nach wie vor stärker bzw. in anderem Maße von Frauen für Männer und weniger von Männern für Frauen übernommen wird – dies auch an Arbeitsplätzen. Anzunehmen ist, dass sich verschiedene gesellschaftliche

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Angebote für Selbstfürsorgepraxen und damit für Selbstverhältnisse mit Angeboten von Geschlecht und mit psychosozialen, lebensgeschichtlich entstandenen Affinitäten und Lebensentwürfen verbinden. Im Blick der Supervisor/innen wirken Geschlechterdifferenzen in starkem Maße fort, dies insbesondere mit Blick auf die Bereiche Familie und Beruf bzw. auf das Verhältnis von Fürsorge und Selbstfürsorge. Nicht alle Supervisor/innen können dabei in ihrer Arbeit Geschlechterverhältnisse immer als solche wahrnehmen und reflektieren. Gelegentlich wirken auch in den Verstehensweisen der Supervisor/innen Geschlechterklischees fort. Andererseits gibt es jedoch auch differenzierte Wahrnehmungsweisen der nach wie vor faktisch aufzufindenden Geschlechterdifferenzen und deren Problematisierung in der Arbeit mit Supervisand/innen.

Zum Weiterlesen Frevert, U. (1995): „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München: C.H. Beck. Hochschild, A. R. (2002): Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Opladen: Leske + Budrich. Jurczyk, K., Szymenderski, P. (2012): Belastungen durch Entgrenzung – Warum Care in Familien zur knappen Ressource wird. In: Lutz, R.: Erschöpfte Familien (S. 89–105). Wiesbaden: VS. König, T. (2012): Familie heißt Arbeit teilen. Transformationen der symbolischen Geschlechterordnung, Konstanz: UVK. Rau, A. (2010): Psychopolitik. Macht, Subjekt und Arbeit in der neoliberalen Gesellschaft [insbesondere Kap. 6.2]. Frankfurt am Main: Campus.

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„Da würde ich mir um die Jüngeren im Moment mehr Sorgen machen“ Selbstfürsorge und Generation Nora Alsdorf

Selbstfürsorge ist eine komplexe Fähigkeit, die einen sorgenden Umgang mit sich selbst beschreibt. Sie ist keine stabile Eigenschaft, sondern eine Haltung, die ein Leben lang erlernt, aufrecht erhalten und der Umwelt angepasst werden muss. Im Zuge der Enttraditionalisierung und Individualisierung verändern sich die Grundvoraussetzungen von Selbstfürsorge. Prekäre Arbeitsbedingungen erfordern zunehmend eine Selbstfürsorge durch den Arbeitnehmer: die berufliche Sicherheit nimmt ab, gleichzeitig nehmen die strukturellen Herausforderungen zu. Die für manchen zunächst hoffnungsvolle Aussicht, durch das Aufbrechen fester Strukturen eine Verbesserung der eigenen Möglichkeiten zu erreichen, wird oftmals enttäuscht. Die Pluralisierung schafft nicht nur Möglichkeiten, sie fordert zugleich zur Selbständigkeit auf. Die Erwartungen an das Individuum steigen und erhöhen den Druck, eine gewürdigte Leistung zu erbringen. So nimmt mit der Flexibilisierung auch die Rat- und Orientierungslosigkeit stetig zu. Selbstfürsorge ist abhängig vom individuellen Selbstverständnis einer Person. Wird sie im Rahmen der Arbeitswelt betrachtet, ist außerdem die persönliche Haltung zur beruflichen Rolle und ihre professionelle oder auch selbstwirksame Ausübung relevant. Wie mit den veränderten Voraussetzungen umgegangen wird, ist auch eine Frage der Generationszugehörigkeit. In den qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen wurden generationale Unterschiede im Umgang mit den veränderten Arbeitsbedingungen von den meisten Supervisor/innen angesprochen. Dabei gab es unterschiedliche Beobachtungen bezüglich der Handhabung der Arbeitssituationen und deren gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Zugleich bewerteten die Supervisor/innen die Haltungen und Strategien ihrer Supervisanden/innen sehr unterschiedlich. Dadurch ist ein breites Bild der Herausforderungen in der spätmodernen Arbeitswelt entstanden, das die Unterschiede zwischen den Generationen benennt und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Themengebiete, wie die Identifikation mit der beruflichen Rolle, professionelle Distanz, Flexibilität und Effektivität weisen im Kontext der Generationen und der Selbstfürsorge zunächst relevante Unterschiede auf. Ob diese Unterschiede durch einen Generationenwechsel, veränderte Selbstfürsorgekriterien oder die gesellschaftlichen Umgestaltungen zu erklären sind, wird im Folgenden anhand der Aussagen der Supervisor/innen aus dem Forschungsprojekt diskutiert.

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Vom „sozialen Zuhause“ zu „getrennten Welten“ Die Bedeutung des Arbeitsplatzes hat sich in den letzten Jahren zum Teil stark verändert. Für viele Mitarbeiter/innen hatte er die Funktion eines sozialen Zuhauses übernommen. Das Zitat einer Supervisorin deutet darauf hin, dass eine Veränderung in der symbolischen Bedeutung des Arbeitsplatzes stattgefunden hat. Die Arbeit wurde früher nicht nur auf die reine berufliche Verrichtung reduziert: „Also, das war ja so ein Klassiker früher zu Ostzeiten, da sind ja viele Leute arbeiten gegangen, weil das ihr Zuhause war, also ihr soziales Zuhause. Und ich weiß gar nicht, ob man diesen Anspruch jetzt heute noch für die Arbeitswelt überhaupt noch denken kann, also dass man sagen kann, vielleicht schon, ‚ich gehe da gerne hin, ist eine sinnvolle Arbeit’, aber dieses Erleben, es ist nett, mit einer Kollegin zu schwatzen, auch alle Leute zu begrüßen oder so was, so ganz normale Rituale, die gut sind, das, glaube ich, ist sehr verroht irgendwie.“ (F 10) Die Identifikation mit der beruflichen Rolle, die Kommunikation mit Kollegen/innen oder die verfügbaren Insignien, wie ein eigenes eingerichtetes Büro mit Fotos, Pflanzen und die persönliche Kaffeetasse, machten den Arbeitsplatz zu einem sozialen Zuhause, in dem Sorgen und Belastungen thematisiert werden konnten. Zumindest erscheint es so im Rückblick. Für jüngere Mitarbeiter/innen stellt der Arbeitsplatz immer seltener ein soziales Zuhauses dar, das verdeutlicht das Zitat einer anderen Supervisorin: „Das ist nicht deren [jüngerer Mitarbeiter/innen] Thema, in welchem Büro, die […] sitzen und beraten, die wollen ihre Aufgabe erledigen, aber sie sind nicht darauf angewiesen–, sie wissen, sie müssen zwischen zwei Büros pendeln. Das ist gar kein Thema, die haben sich untereinander überlegt, dass sie hier […], so einen Rollschrank (lacht) haben. […] Und die haben das untereinander gelöst, miteinander, also die, die da pendeln müssen (lacht), jeder hat […] so ein Rollschrank–.“ (F 5) Arbeitsplätze müssen zunehmend geteilt und können nicht individuell gestaltet werden. Sie dienen der reinen Tätigkeit. Dadurch wird den Arbeitnehmer/innen allerdings auch die Möglichkeit einer sichtbaren Verortung innerhalb der Organisation erschwert. Ältere Mitarbeiter/innen, die diese Sicherheiten gewohnt sind, haben Angst, in den schnellen Veränderungsprozessen nicht nur ihren Schreibtisch, sondern auch den Anschluss zu verlieren. Junge Mitarbeiter/innen sind es hingegen nicht gewohnt, ein eigenes Büro zu haben und sich dort einzurichten, da sie ohnehin oftmals nur einen begrenzten Zeitraum in einer Organisation verbleiben. Sie haben eine „professionelle Distanz“ zum Arbeitsleben entwickelt: „Es [die Arbeitshaltung] ist klarer abgegrenzt und […] die Distanz ist größer, was nicht unbedingt zum Nachteil sein muss, es heißt ja nicht, dass ich mich nicht einfühlen kann oder auch Verständnis dafür haben kann, was derjenige jetzt braucht oder nicht braucht. […] es wird irgendwie klarer darauf geachtet, dass Gesprächszeiten deutlicher eingehalten werden. Also die Identifikation ist nicht so hoch mit dem Klientel jetzt […] bei den jüngeren. […] Und die müssen dann auch um fünf gehen, weil sie nämlich um sechs Sport haben.“ (F 5)

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Die Supervisorin beschreibt den Habitus einer scharf abgegrenzten Arbeitseinstellung. Dies bietet den Angestellten die Möglichkeit, sich vor Ausbeutung zu schützen, indem sie die Arbeitsanforderungen rational abwägen und in ein Verhältnis zu ihrer Eigenleistung setzten. Diese Distanzierung kann als ein Moment der modernen Selbstfürsorge begriffen werden, durch das fehlende Sicherheit und Halt in der Arbeitswelt zu kompensieren versucht wird. Moderne Organisationen sind bekanntermaßen auf ein Höchstmaß an Effizienz ausgelegt. Der technologische Fortschritt ermöglicht nicht nur eine permanente Erreichbarkeit, sondern erspart auch in vielen Fällen einen persönlichen Kontakt mit Kollegen/innen oder Kunden. Tätigkeiten, die es zugelassen haben, ‚mal ein wenig uneffektiv zu sein’, werden im Zuge des Optimierungsprozesses gestrichen. Viele Mitarbeiter/innen leiden unter dem Verlust eines sozialen Miteinanders und dem Appell zur permanenten Höchstleistung: „Aber ich glaube halt, im Kern ist es, dass diese Arbeitswelt in diesem bedingungslosen‚ Effizienz bis zum geht nicht mehr’ einen hohen Preis zahlt an der Frage der Kommunikation. Also Menschen darf man nicht daran hindern, letztlich auch ein bisschen uneffektiv miteinander umzugehen, selbst am Arbeitsplatz, das haut letztlich nicht hin, weil es ein soziales Wesen ist, weil auch ein bisschen Raum dafür sein muss. Und je mehr man den beschneidet und die Leute dann auch überhaupt keinen Bock mehr haben, auf irgendwelche zum Beispiel Betriebsfeiern zu gehen, Geburtstage oder irgendwas, ‚ach, um Gottes Willen’, schafft man ja im Grunde genommen die Ressource, die da auch besteht im Sinne von ‚ich fühle mich aufgehoben, ich weiß, ich habe einen schlechten Tag, aber mein Kollege (lacht) wird es schon wieder ein bisschen mit richten’. Indem man dieses Miteinander immer mehr kappt oder jeder Einzelne dazu einen Betrag liefert, es zu kappen, nimmt man auch noch ganz viel an Stabilisierung. Und ich glaube, das geht auf die Dauer nicht gut, Menschen sind in ihrer Taktung da doch langsamer, glaube ich, als wir es meinen.“ (F 13) Das Zitat der Supervisorin legt den Schluss nahe, dass in der spätmodernen Arbeitswelt für soziale Interaktionen, die einen wichtigen Beitrag zum professionellen Selbstverständnis leisten, weniger Raum zur Verfügung steht. Faktoren wie Mittelkürzungen, erhöhte Dokumentationspflichten, schwer erreichbare Kennzahlen oder auch Einsparungen bei präventiven Beratungsformaten können einen unbefristeten Vertrag zu einer Last werden lassen. Einige Supervisor/innen berichteten gerade von älteren Mitarbeiter/innen, die als „Sklaven des unbefristeten Arbeitsvertrages“ resignieren, innerlich kündigen oder Dienst nach Vorschrift als letzten Ausweg für sich sehen, da sie sich selbst oder ihre Tätigkeit nicht (mehr) als wirksam erleben. Berufsanfänger/innen wird dadurch die Möglichkeit eines Austausches und der Reflexion genommen, wodurch eine pragmatischere und distanziertere Haltung gefördert wird. Der Eifer, effizientere Arbeitsstrategien zu finden, führt so zu einer inneren Aushöhlung der Organisation. Zusammenhalt und Stabilität weichen dem Leistungsdruck. Arbeit wird im Zuge dessen sehr funktional betrachtet und deutlich vom Privatleben getrennt. Der „Ausgleich“ findet durch Freunde, Familie, Sport oder Feierabendbe-

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schäftigungen in einer zunehmend organisierten Freizeit statt, wodurch der Arbeitsplatz als soziales Zuhause seine Bedeutung verliert und zu einer vom Privatleben getrennten Welt wird.

Identifikation braucht Fürsorge Mitarbeiter/innen, die sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, erhoffen sich im Gegenzug eine Fürsorge durch den Arbeitgeber. Jüngere Mitarbeiter/innen, die sich der Verschärfung der Arbeitsbedingungen bewusst sind, teilen diese Hoffnung offenbar nicht: „Weil ich auch eine junge Frau also begleitet habe, die einen Job angenommen hatte als Schulsozialarbeiterin und dieser Job war zeitlich begrenzt, zwei Jahre. Und die hat das ganz bewusst strategisch für sich geplant, ‚ich möchte jetzt zwei Jahre in dem Bereich sein, dann bekomme ich Berufserfahrung in dem Bereich, und dann möchte ich was ganz anderes wieder machen’. Also für sie war das richtig und gut. […] Man rechnet damit, man ist flexibel, das heißt, ich versuche, das beste rauszuholen für mich, wenn es nicht gelingt, scheitere ich nicht sofort, sondern, ,okay, dann habe ich vielleicht die falsche Strategie überlegt, dann überlege ich mir eine neue Strategie’. Das ist diese Flexibilisierung, die, glaube ich, notwendig ist in der heutigen Zeit. Und die älteren Leute sind eher noch mal in so einer vielleicht Situation, dass sie erwarten, dass ein Arbeitgeber zum Beispiel Fürsorgepflicht hat, und viele Arbeitgeber haben gar nicht mehr für sich jetzt den Anspruch an Fürsorgepflicht. Und die jüngeren Leute erwarten das vielleicht gar nicht mehr so.“ (F 6) „Auch im Krankenpflegebereich mache ich auch einiges an Beratungsprozessen, Krankenhäuser sind ja so was von durchorganisiert bis zum Anschlag, aber die meisten, selbst motivierte junge Leute, die ich in der Beratung habe, so Anfang/Mitte 20, wirklich mit Potenzial, die sagen, ‚den Job, den mache ich nicht länger als zehn Jahre, dann bin ich wieder raus. Das nächste ist wirklich Exit‘.“ (F 13) Diese Zitate verdeutlichen, dass das Selbstverständnis junger Mitarbeiter/innen von einer flexiblen Haltung und Selbstorganisation geprägt ist. Fürsorge durch den Arbeitgeber, im Sinne einer beruflichen Zukunft und Arbeitsplatzsicherheit, wird nicht erwartet, sondern selbst in die Hand genommen. Befristete Arbeitsverträge gehören heutzutage der Normalität an und werden strategisch im Lebensentwurf berücksichtigt. Diese zweckrationale Denkweise ermöglicht eine Minderung der fremdbestimmten Unberechenbarkeit und liefert die Grundlage für den Umgang mit den verschärften Bedingungen. Auf den ersten Blick erscheint diese flexibilisierte und selbstbestimmte Haltung der Supervisanden/innen als eine reflektierte und selbstfürsorgliche Strategie, um mit den arbeitsweltlichen Strukturen umzugehen. Ob der im zweiten Zitat benannte Ausstieg im späteren Verlauf realisiert werden kann, ist allerdings ungewiss. Man könnte dieses Verhalten auch als eine Form der „interessierten Selbstgefährdung“ deuten, in der

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unzuträgliche Bedingungen bewusst für einen bestimmten Zeitraum in Kauf genommen werden, obwohl sie den eigenen Ansprüchen widerstreben. Die dauerhafte Unzufriedenheit kann zu einer ernsthaften psychischen Belastung werden. Das Selbstverständnis und somit die Kriterien für Selbstfürsorge der älteren Mitarbeiter/innen beruhen im Vergleich zu jüngeren Mitarbeiter/innen auf einer anderen Auffassung der beruflichen Rolle und des Arbeitsumfeldes: Die jüngere Generation hat gelernt, dass (berufliche) Flexibilität geschätzt wird, hingegen erleben die älteren Mitarbeiter/innen diese Veränderung als eine Verschlechterung der gewohnten Arbeitsbedingungen. Intrinsisch motivierte ältere Mitarbeiter/innen geraten an dieser Stelle oftmals in eine konflikthafte Situation. Sie, die viel Zeit und persönliches Engagement in ihre Arbeit investiert haben und seit vielen Jahren in ein und derselben Organisation tätig sind, hegen die Hoffnung, durch den Arbeitgeber beschützt und versorgt zu werden. Gleichzeitig erschweren die strukturellen Arbeitsbedingungen eine Aufgabenerfüllung, die den eigenen professionellen Standards entspricht. Dies hat zur Folge, dass entweder der Versuch unternommen wird, das Dilemma durch eine gesteigerte Arbeitsintensität auszugleichen, oder der Konflikt zwischen dem professionellen Selbstverständnis und den realen Möglichkeiten bleibt latent vorhanden und führt in vielen Fällen letztendlich zur Resignation.

Gutmensch oder Dienstleister – Pragmatismus als notwendige Konsequenz? Wenn sich die Arbeitsbedingungen soweit verschlechtern, dass eine Ausübung, die den persönlichen professionellen Ansprüchen gerecht wird, nur mit der Aussicht auf eine Überschreitung der eigenen Ressourcen möglich ist, dann ist eine pragmatische Grundhaltung womöglich eine, aus der Sicht der Selbsterhaltung, notwendige Konsequenz. In der quantitativen Erhebung zeigt sich, dass jüngere Mitarbeiter/innen nicht nur eine pragmatischere Einstellung zu den Arbeitsanforderungen aufweisen, es fällt ihnen nach Auskunft der Supervisor/innen auch leichter, Kompromisse bezüglich der Wahrung beruflicher Standards einzugehen. -QJHUHQ%HVFKlIWLJWHQIlOOWHVOHLFKWHUDOVlOWHUHQ %HVFKlIWLJWHQ.RPSURPLVVHEH]JOLFKGHU:DKUXQJ EHUXIOLFKHU6WDQGDUGVHLQ]XJHKHQ 

  





  





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Belastungsstörung mit System 8QWHUPHLQHQ6XSHUYLVDQGHQLQQHQKDWGLH MQJHUH*HQHUDWLRQHLQHSUDJPDWLVFKHUH(LQVWHOOXQJ]XGHQ $UEHLWVDQIRUGHUXQJHQDOVGLHlOWHUH*HQHUDWLRQ 









   





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In den Grafiken ist zu erkennen, dass sich die Aussagen der Supervisor/innen in den Interviews und Gruppendiskussionen mit den Ergebnissen der quantitativen Erhebung decken. Über die Hälfte (51,4 %)1 der Supervisor/innen bestätigen, dass es jüngeren Mitarbeitern/innen leichter fällt, Kompromisse bezüglich der Wahrung beruflicher Standards einzugehen. Insgesamt beobachten 49,7 %2 der Supervisor/innen eine pragmatischere Einstellung der jüngeren Supervisanden/innen. Ein Teil der befragten Supervisor/innen erklärt dies unter anderem durch veränderte Ausbildungs- und Studiengänge, einige Supervisor/innen sehen aber auch die strukturell bedingten kurzen Arbeitsverträge in den Organisationen als einen Auslöser dieser Entwicklung: „In der Jugendhilfe verändern sich die Menschen ja auch inzwischen halbjährlich. Sind die so fit, dass die dann ihre Haltung geändert haben. Sagt das System. Der Mensch an und für sich funktioniert aber nicht so. Wir brauchen Erfahrungen und machen und machen und machen. Und irgendwann haben wir dann die Haltung, 2 Jahre wenn ich das in der Neurobiologie richtig verstanden habe, und vorher ist da gar nichts. Kann immer wieder das sein und man rutscht dann immer wieder zurück in sein altes Verhaltensmuster, weil das andere noch nicht steht. Und das wird überhaupt nicht in Blick genommen. An ganz vielen Orten.“ (C 5) Viele ältere Mitarbeiter/innen haben Veränderungen in der Arbeitswelt und deren Konsequenzen miterlebt. Sie haben die Erfahrung gemacht, sich nicht auf jede Umstellung einzulassen und Reaktanz zu entwickeln. In der Regel geschieht dies bei Mitarbeiter/innen, die einen unbefristeten Vertrag haben oder kurz vor der Pensionierung stehen. Jüngere Mitarbeiter/innen, die in den meisten Fällen einen befristeten Arbeitsvertrag haben, können sich diese Haltung nicht leisten und haben lediglich die Wahl, die Veränderung zu akzeptieren und für sich bestmöglich zu nutzen oder den Arbeitsplatz zu wechseln. Diese ungleichen Voraussetzungen führen, wie das folgende Zitat zeigt, zu unterschiedlichen Verhaltensweisen:

1 Trifft voll und ganz zu 5,8 %, trifft eher zu 45,6 % 2 Trifft voll und ganz zu 6,9 %, trifft eher zu 42,8 %

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„Also vielleicht als ein Beispiel. Da gab es z. B. so jetzt die Situation, dass das eine Team findet, […] dass die unmögliche Arbeitsbedingungen haben, was die Größe ihrer Büros angeht, hatten immer Hoffnung auf eine Veränderung und jetzt war klar, es gibt keine Veränderung bis in einem Jahr. Und die Jüngeren im Team wollten nun, dass man sich das schöner macht in dieser Zeit und die Älteren sagten: ,Nein, weil dann verschleiern wir ja diese Missstände.’ Also so. Und das ist ein ganz anderer Zugang.“ (C GD 2) Während die älteren Mitarbeiter/innen versuchen, sich gegen eine Verschlechterung ihrer Situation zur Wehr zu setzen, streben die Jüngeren an, das Bestmögliche aus den vorhandenen Ressourcen zu machen und die bestehende Situation für sich zu nutzen. Es stellt sich die Frage, ob sich die Kriterien für eine Erfüllung durch den Beruf grundlegend geändert haben oder ob diese zu einem raren Gut geworden ist, das nur noch selten zu realisieren ist. Womöglich wird dem heutigen „Arbeitskraftunternehmer“ der Luxus, seine intrinsische Motivation auszuleben, nicht zugestanden, sofern sie nicht mit einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit einhergeht. Betriebliche Fürsorge kann unter diesem Gesichtspunkt darin bestehen, Gelassenheit einen Raum zu geben und den/die Arbeitnehmer/in nicht zu einer Veränderung zu drängen, die womöglich von der beruflichen Haltung abweicht.

Ist die Generation „Praktik“ eine Generation „Burnout“? Die Identifikation mit den Inhalten der beruflichen Rolle scheint in der jüngeren Generation nicht der ausschlaggebende Faktor bei der Berufswahl zu sein: es entsteht eine selbstbewusste und loyale, aber gleichzeitig unabhängige Haltung gegenüber dem Arbeitgeber, die darauf bedacht ist, für die erbrachte Leistung eine angemessene Gegenleistung zu erhalten: „Die [jüngeren Mitarbeiter/innen] sind in einem hohen Maße flexibler, selbstbewusster bezogen auf das, was sie können und was sie nicht können, was sie machen und was sie nicht machen. Selbstverständlicher in dem, dass ein Arbeitsplatz nicht bedeutet, dass ich ihn mit 25 bekomme und ihn bis 65 behalte. Das heißt, auch ich [als Arbeitgeber] muss ein bisschen gucken, dass die, die ich gerne behalten möchte, auch bei mir bleiben. Also die sind loyal, aber nicht abhängig […].“ (F 5) Die reduzierte Rollenidentifikation jüngere Mitarbeiter/innen gestattet ihnen zwar eine bessere Abgrenzungsmöglichkeit, enttäuscht aber zugleich einen Teil des Selbstverwirklichungswunsches und entleert die eigene Arbeit zu einem rein formalen Arbeitsprozess. Einige Supervisor/innen verfolgen den Ursprung der pragmatischen Grundhaltung junger Mitarbeiter/innen zurück bis in die Zeit des Studiums und noch weiter, bis hin zur Schulzeit: „Und was mir auch dazu einfällt, sind diese Bachelor- und Master-Studiengänge, weil ich kriege das hautnah mit bei meinen Kindern, die jetzt, Gott sei Dank, fertig sind, aber die studieren ja auch nicht mal unbedingt das, was ihnen wirklich persönlich liegt, sondern die studieren das, wo sie eventuell oder mit größter Wahrscheinlichkeit auch

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einen Job mit kriegen. Also es geht nicht mehr um die volle Identifikation mit den Inhalten, sondern es geht um die pragmatische Verwertbarkeit dessen, was ich mal gelernt habe. Und ich glaube, dieser Pragmatismus, der ist denen schon lange, schon in der Schule so ein Stückchen mitgegeben worden. Und diese verdammte Angst, irgendwann eben nicht in diese Jobs reinzukommen, macht die, glaube ich, auch so, wie sie dann sind.“ (F GD 1) „Ja, also wobei da deutlich schon ein generationaler Unterschied irgendwie ist, also weil die, die ja heute studieren, schon auch was anderes lernen, also ein viel formalisierteres Herangehen–, also die wachsen mehr mit auf mit Formalismen als, sagen wir mal, meine Generation oder auch noch die, die noch zehn Jahre jünger sind als ich […]“ (F 12) „Ich denke, dass soziale Arbeit ein ganz andere Rolle früher gespielt hat, also eher nochmal einen emanzipatorischen Charakter hatte und dass jetzt die Ökonomisierung sich einfach in der sozialen Arbeit bemerkbar macht – das ist jetzt so und das wird an der Uni dann auch gelehrt. Das also, glaub ich, hat einfach sich schon so umgesetzt“ (C GD 2) Die Supervisor/innen beschreiben die Entwicklung der pragmatischeren Haltung als ein Resultat der Sozialisation: Die Furcht vor Arbeitslosigkeit ist anscheinend derart verinnerlicht worden, dass sie die Identifikation mit den beruflichen Inhalten in ihrem Stellenwert verdrängt hat. An primärer Stelle steht, überhaupt ein Beschäftigungsverhältnis zu haben: „Und die, die jetzt dazu kommen, die freuen sich erst mal, dass sie überhaupt eine Stelle haben. Die sind total dankbar, dass sie eine Stelle haben. Die tun alles, um bei ihrem Arbeitsgeber gut da zu stehen. Da gibt es viele Organisationen […], die haben einen ganz klaren Prozentsatz, so und so viele befristete Stellen muss es geben. Das heißt, die Mitarbeitenden, die dazu kommen, die kriegen das ja auch mit. Dann ist immer die Frage: Wer darf denn bleiben nach 2 Jahren und wer nicht. Also und da haben die von vornherein eine andere Loyalität ihren Arbeitgebern gegenüber […]“ (C GD 2) „[…] und ich glaube auch, dass eine Generation nachwächst, das ist ja bereits jetzt schon so – Generation Praktik und so weiter […] die nicht, die nicht so viel zu verlieren hat, weil sie noch nie etwas hatte. Im Moment sind ja, die die Besitz haben noch in Führung. Also die die sich durch das Arbeitsleben irgendwie mogeln, die haben nicht so viel zu verlieren.“ (C 15) In dieser Sequenz wird die instrumentelle und pragmatische Herangehensweise jüngerer Mitarbeiter/innen an ihre berufliche Situation aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die Perspektiven des heutigen Arbeitsmarktes erlauben kaum eine langfristige Planung. Die Kompetenz, mit den vorhandenen Ressourcen auszukommen, nimmt an Bedeutung zu. Insbesondere dann, wenn der Selbstwirksamkeitseffekt verblasst. Die Konzentration auf den reinen Arbeitsprozess ermöglicht einen Selbstschutz vor der Angst um die berufliche Unsicherheit und der Ausbeutung durch eine hohe Identifikation. Offenbar gelingt es jedoch nicht allen jüngeren Mitarbeiter/innen, eine

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professionelle Distanz in ihrer Arbeitshaltung zu entwickeln. Das folgende Zitat verdeutlicht, dass selbst geringe Anreize ausreichen, um motivierte Mitarbeiter/innen zu einer entgrenzten Arbeitshaltung zu verleiten: „Ich hab mal in einer Agentur Supervision gemacht. Alles junge Mitarbeiter/innen. 35 war schon ein hohes Alter. Die haben alle schlecht geschlafen. Die haben keine richtigen Arbeitszeiten gehabt, sondern die haben so lange gearbeitet, bis der Auftrag fertig war. Auch Abends lange. Und der Chef hat dann luxuriöses Essen, also ein bisschen Fast Food, aber von höchster Qualität serviert, zwischen 7 und 8 Uhr abends. Und dann haben die mit Freude und mit Spaß bis 11 Uhr weitergearbeitet, waren am nächsten Morgen wieder um 6 da und haben die letzte Präsentation zu Ende gemacht. Die hatten schlaflose Nächte, ganz viele.“ (C 7) Das Beispiel der Supervisorin verdeutlicht, dass auf den ersten Blick, fürsorgliches Verhalten durch den Arbeitgeber auch zur Ausbeutung eingesetzt werden kann. Durch diese prekäre Form der Wertschätzung kann sich langfristig eine Kultur der Entgrenzung bilden. Ein selbstfürsorgendes Verhalten würde in dieser Arbeitsumgebung nicht auf Billigung oder Unterstützung der Kolleg/innen stoßen. Dadurch wird verdeutlicht, dass Selbstfürsorge eine individualisierte und womöglich einsame Handlung bedeuten kann, die negative Konsequenzen im Arbeitsumfeld nach sich zieht. Einige Supervisor/innen machen die Beobachtung, dass es älteren Mitarbeiter/innen aufgrund ihrer Erfahrung leichter fällt mit Belastungen umzugehen: „Die Älteren haben schon eine andere Strategie, zum Teil sind sie gelassener, sind irgendwie organisationsschlauer oder intelligenter. Die reagieren nicht auf jede Ansage und werden dann schneller oder strengen sich an. Man kann so manches auch vertuschen, man kann den Bericht auch einfach schreiben, ohne das man dort war. […] Die können einschätzen, ob sich jetzt wirklich was verändert haben kann oder obs vermutlich so geblieben ist wie bisher. Also ich denke jetzt Mal an diese Wasserwerksleute. Ich glaub die jungen Leute sind alle ein bisschen hysterischer, so würde ich es benennen. Ne Erfahrungslose Hysterie. Aber da können die nichts dazu. Die denken halt, durch eigenes Tun, durch Leistung, könnten sie jetzt ne eigene Lösung herbeiführen. Und Ältere sagen quasi aus Erfahrung, die können über den Einsatz ihrer Zeit oder Ressourcen oder ihrer Emotionen anders befinden, anders einschätzen. Lohnt’s sich oder lohnt’s sich nicht.“ (C 7) Der Supervisor beschreibt eine Strategie älterer Mitarbeiter/innen, sich vor einer Überforderung zu schützen, indem z. B. administrative Arbeiten oberflächlich durchgeführt werden. Berufsanfänger/innen versuchen zunächst, die Anforderungen zu erfüllen, und stoßen dabei oftmals an ihre Grenzen: „Ja, die [jüngeren Mitarbeiter/innen], die ganz engagiert und ganz toll ankommen und dann in diese fatalen strukturellen und auch so, ja erst mal strukturellen Bedingungen kommen, und diese, naja wie soll ich sagen, so Arbeitsbedingungen kriegen, die so voller Widersprüchlichkeiten sind. Die sie erst mal so in ihrem Elan versuchen, wirklich alle zu erfüllen und sich echt übernehmen. Und dann über diese Dauerüber-

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lastungen und Dauerwidersprüchlichkeiten, die da drin stecken, irgendwann, Batsch, wegfallen. Also das finde ich phänomenal.“ (C 5) Das Zitat der Supervisorin verdeutlicht, dass eine distanzierte und reduzierte Haltung eine notwendige Maßnahme der Selbstfürsorge ist. Insbesondere bei Berufsanfänger/ innen, die versuchen, den z. T. unrealistischen Anforderungen gerecht zu werden. Motivierte junge Mitarbeiter/innen sind durch die Strukturen der heutigen Arbeitswelt schnell überfordert, sofern es ihnen nicht gelingt, sich abzugrenzen. Hohes Engagement kann bei fehlender (An-)Leitung und dauerhaft steigenden und widersprüchlichen Anforderungen zur Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Belastungsgrenzen führen. Vor allem eine ausgeprägte Identifikation mit der Arbeit verursacht einen starken Leidensdruck, da sie eine moralische Verpflichtung einschießt, die durch den Arbeitgeber ausgenutzt werden kann. Selbstfürsorge wird unter diesen Voraussetzungen erschwert, da sie nicht als Eigenleistung gesehen und dadurch nicht aktiv betrieben wird.

Resilienz als Schutzfaktor Einige Supervisor/innen beobachten, dass ältere Mitarbeiter/innen bewusst den „Dienst nach Vorschrift“ als Ausweg nutzen, um sich vor unzufrieden stellenden Arbeitssituationen zu schützen, aber nicht bei allen Mitarbeiter/innen lässt sich der professionelle Anspruch an die Arbeit dadurch ausgleichen: „Die einen, das sind so diese klassischen, die eigentlich auch in der inneren Kündigung sind, die sagen, ‚mir kann hier nichts passieren, mein Engagement habe ich aufs Nötigste runtergefahren, ich mache hier meinen Dienst nach Vorschrift’. Das sind grade so die Älteren, häufig Ältere, die einfach so ein bisschen abgeschlossen haben damit. Dann gibt es aber auch andere, die jetzt absolut engagiert dabei sind und wo man nicht merken würde, dass das ein Beamter ist oder nicht von seiner Haltung her. Und die trösten sich damit nicht, weil die haben zwar einen sicheren Arbeitsplatz, aber die haben einen anderen Anspruch an die Arbeit, die sind da nicht tröstlich (lacht). Also ich glaube, letztlich ist es immer wieder erst mal so die Frage vom Selbstkonzept her, welchen Stellenwert hat die Arbeit für mich.“ (F 13) Die Reaktion von einst motivierten Mitarbeiter/innen, das eigene Engagement auf das Nötigste zu reduzieren, kann als Enttäuschung auch aufgrund mangelnder Wertschätzung und Fürsorge durch den Arbeitgeber interpretiert werden. Die Reduzierung ersetzt zwar keine Zufriedenheit durch die Arbeit, schützt aber vor einer weiteren Überforderung und Ausbeutung. Neben der Frage des Selbstkonzeptes der Mitarbeiter/innen spielt auch die zuvor erwähnte Erfahrung eine Rolle. Die langjährige Mitarbeit hat den Vorteil, bereits einige Umgestaltungen in der Arbeitswelt miterlebt zu haben. Aus diesem Grund liegt es nahe, vermehrt eine Resilienz in Bezug auf die Häufung von Veränderungsprozessen zu entwickeln. Erneuerungen werden zum Teil als „Modeerscheinungen“ etikettiert und zunächst ignoriert oder umgangen. Eine Trägheit und Starre, die älteren Mitarbeiter/innen

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teilweise zum Vorwurf gemacht wird, kann unter den Gesichtspunkten der Selbstfürsorge als Selbstschutz gedeutet werden, der den Arbeitsalltag ein Stück weit entschleunigt und der Entwertung des professionellen Selbstverständnisses entgegen wirkt: „Und deswegen ist es manchmal so, dass ältere Leute – Die gelten, das ärgert mich oft übrigens, die gelten oft als nicht veränderungswillig und veränderungsbereit. Ich finde, das stimmt nicht. Manche sind durchaus veränderungsbereit von der älteren Generation. Da kann aber nicht ein Schnösel herkommen und denen irgendwie was vom Pferd erzählen. Denen muss man schon richtig klar und deutlich begründen, belegen und sie dazu auch überzeugen, dass diese Veränderung, die da geplant ist, auch wirklich was taugt, weil die sind kritisch genug mittlerweile. Und diese kritische Haltung und Meinung der Leute, die, finde ich, wird oft entwertet.“ (C 13) „[…] ach die Alten haben sich gut arrangiert zum Teil, ich hab nicht den Eindruck, dass da große Burnout-Sorgen bei einer größeren Gruppe ist. Sondern die haben sich arrangiert, die haben gesagt, ‚ach erzählt mir nichts mehr, ich mach hier meine Arbeit’, haben gute Abwehrmechanismen entwickelt und machen das was sie machen können, so gut wie sie´s machen können, aber entwickeln sich dann woanders, aber nicht mehr auf dem Arbeitsplatz. Das ist dann der Ort ‚da geh ich hin und verdiene mein Geld und fertig’.“ (C 5) Die Supervisor/innen scheinen nicht selten die Erfahrung zu machen, dass die älteren Mitarbeiter/innen Selbstverwirklichungsphantasien von der Arbeitswelt in das Privatleben verlagern. Veränderungsprozesse haben sich in der Vergangenheit offenbar nicht als vorteilhaft erwiesen, weshalb sie eher skeptisch abgetan werden. Diese Haltung scheint einen selbstfürsorglichen Charakter zu haben. Dies verdeutlicht auch die quantitativen Erhebung, in der knapp die Hälfte der Supervisor/innen (46,9 %)3 der Aussage widersprechen, dass jüngere Arbeitnehmer/innen gesundheitsbewusster sind als ältere Arbeitnehmer/innen. ,FKEHREDFKWHGDVVXQWHUPHLQHQ6XSHUYLVDQGHQLQQHQ MQJHUH$UEHLWQHKPHULQQHQJHVXQGKHLWVEHZXVVWHUVLQGDOV lOWHUH$UEHLWQHKPHULQQHQ 





 



  





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Das verstärkt die Vermutung, dass ältere Mitarbeiter/innen sich vor den Arbeitsbedingungen und ihren potenziellen Enttäuschungen bzw. der permanenten Aufforderung zur Leistungsoptimierung besser schützen können: „Ich glaube, dass […] ältere Kollegen zumindest immer signalisieren, dass sie gelassener sind, also dass sie nicht so leicht in Belastung zu führen sind. […] Und witziger Weise ist mein Bild jetzt gerade im Moment, dass ich ja wirklich erlebe, dass junge Menschen, junge Menschen also, Berufsanfänger viel sensibler auf Belastungen reagieren. Also eher auch in Krankheit z. B. gehen als ältere Kollegen.“ (C 9) „Da würde ich mir um die Jüngeren im Moment mehr Sorgen machen, weil die Älteren dann schlimmsten Falles auch sagen: ‚Ich bin so lang, das halt ich auch durch.’ […] Ich mein die haben da vielleicht auch eine gewisse Routine in ihrer Freizeit, ja, und die haben ihren Fahrplan, und warum soll ich mir das jetzt verderben lassen. Das halt ich jetzt noch durch. Im schlimmsten Fall. In der Arbeit und Zuhause schalte ich ab’. Also mich wundert es, dass [bei] Jungen jetzt also wirklich diese Zukunftsangst da wesentlich größer ist, weil es ist ja wirklich nichts sicher. Also wenn sie in Schwierigkeiten kommen, weil es nicht mehr klar ist, dann sind die existenzieller.“ (C 11) Arbeitsplatzunsicherheit, mangelnde Berufserfahrung und die Hoffnung, durch besonders engagierte Arbeit möglicherweise doch übernommen zu werden, verleitet gerade jüngere Mitarbeiter/innen zu einer Ausbeutung der eigenen Ressourcen. Nur knapp ein Viertel (24,1 %)4 der Supervisor/innen macht die Beobachtung, dass jüngere Mitarbeiter/innen gesundheitsbewusster sind als ältere Mitarbeiter/innen. Ob dieser Anteil den jüngeren Mitarbeiter/innen mit einer pragmatischen Arbeitshaltung entspricht, wäre eine interessante Untersuchungsfrage für die nächste Erhebung. Bei älteren Mitarbeiter/innen scheint sich ihre Erfahrung als Vorteil zu erweisen. Zumindest haben einige von ihnen eine Strategie entwickelt, sich teilweise turbulenten Veränderungsprozessen zu entziehen. Allerdings ist diese Strategie nur auf dem Hintergrund eines unbefristeten Vertrages oder einer bevorstehenden Pensionierung möglich. Sichtbar wird, dass sich auch die älteren Mitarbeiter/innen von ihrer beruflichen Identifikation lösen, wenn sich die Rahmenbedingungen soweit verschlechtern, dass eine Ausübung des professionellen Selbstverständnisses nicht mehr möglich ist. Die Aussagen der Supervisor/innen verdeutlichen zum Einen, dass jüngere Mitarbeiter/ innen mit einer anderen Einstellung bezüglich des Stellenwertes der Arbeit und der Selbstfürsorge auftreten. Berufliche Sicherheit und Fürsorge werden nicht an den Arbeitgeber gebunden. Zum Anderen zeigt sich, dass Mitarbeiter/innen in einen starken Konflikt geraten, wenn die Bedingungen für eine hohe Identifikation mit ihrer Arbeit nicht nur nicht mehr gegeben sind, sondern zu einer gesundheitlichen Gefahr werden.

4 Trifft voll und ganz zu 1,8 %, trifft eher zu 22,3 %

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Resümee In den qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen entstand das Bild, dass ein Großteil der Supervisanden/innen intrinsisch motiviert ist, seine Arbeit zu tun. Dies ist eine Erkenntnis, die durch die quantitative Erhebung bestätigt wird: In der quantitativen Erhebung geben über die Hälfte der Supervisor/innen (65,5 %)5 an, dass ein erheblicher Teil ihrer Supervisanden/innen intrinsisch motiviert ist, seine Arbeit zu tun. Intrinsisch motivierte Mitarbeiter/innen scheinen demnach generationenunabhängig vorhanden zu sein, die Bedingungen, die dafür einen geeigneten Rahmen zur Verfügung stellen, allerdings nicht. Die Interviews mit den Supervisor/innen haben gezeigt, dass generationsbedingte Unterschiede in der Umgangsweise mit den heutigen Arbeitsbedingungen vorhanden sind. Offensichtlich wird mit steigender Motivation und Identifikation auch die Aufrechterhaltung der Selbstfürsorge erschwert. Sowohl die Strategien der älteren als auch die der jüngeren Mitarbeiter/innen bieten Chancen und Gefahren. Es ist jedoch eine beklemmende Erkenntnis, dass Selbstfürsorge in der spätmodernen Arbeitswelt offenbar den Rückzug in eine distanzierte Haltung erforderlich macht, sofern die Rahmenbedingungen es nicht zulassen, sich mit den Inhalten seiner Arbeit zu identifizieren, ohne sich der Gefahr auszusetzen, dadurch ausgebeutet zu werden. Bezüglich der Generationen lassen die Schilderungen der Supervisor/innen im Hinblick auf Selbstfürsorge nahezu auf eine Generation „Praktik“ hoffen, die es frühzeitig lernt, eine professionelle, aber distanzierte Haltung gegenüber der Arbeit zu entwickeln. Die Veränderungen in der Arbeitswelt machen eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstfürsorge notwendig. Insbesondere Mitarbeiter/innen der jüngeren Generation sind dazu aufgefordert, sich ihrer beruflichen Situation bewusst zu werden und dabei die eigenen Grenzen und Ressourcen nicht aus den Augen zu verlieren. Es steht die Frage im Raum, welche Folgen es hat, wenn Arbeit zunehmend einen rein funktionalen Stellenwert erhält. Und welche Verluste dies sowohl für Arbeitnehmer/ innen, aber auch für Arbeitgeber selbst mit sich bringt.

Zum Weiterlesen Fietze, B. (2009): Historische Generationen: Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität. Bielefeld: transcript. King, V., Gerisch, B. (Hrsg.) (2009): Zeitgewinn und Selbstverlust: Folgen und Grenzen der Beschleunigung. Frankfurt am Main: Campus. Küchenhoff, J. (Hrsg.) (1999): Selbstzerstörung und Selbstfürsorge. Gießen: Psychosozial. Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin.

5 Trifft voll und ganz zu 9,9 %, trifft eher zu 55,6 %

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Schutzfaktoren einer gesundheitsbewussten Organisationskultur Rolf Haubl und Saskia Maria Fuchs

Auf dem Hintergrund unserer Untersuchung „Arbeit und Leben in Organisationen 2008“, in der die befragten Supervisor/innen eine hohe arbeitsplatzbedingte Überforderung vieler Arbeitnehmer/innen beobachtet haben, sowie in Anbetracht einer ganzen Reihe von Untersuchungen anderer Forschergruppen, die zeitlich vor uns, mit uns und nach uns zu demselben Ergebnis gekommen sind, haben wir auch für 2011 nichts anderes erwartet. Hinzu kommt, dass die Datenerhebung unserer ersten Untersuchung noch vor dem Gipfel der Finanz- und Wirtschaftskrise lag, so dass sich deren Auswirkungen noch gar nicht in den Ergebnissen niederschlagen konnten. 2011 ist das anders. So haben Supervisor/innen in den qualitativen Interviews mehrfach davon berichtet, dass es ihrer Wahrnehmung nach keinen Grund für Entwarnung gibt. Die Überforderung bestehe fort. Arbeiten im Ausnahmezustand sei Alltag geworden und es gelinge den Beschäftigten nicht, sich daran zu „gewöhnen“. Folglich ging in unsere Fragebogenbefragung die Annahme ein, nach wie vor auf überforderte Arbeitnehmer/ innen zu treffen. hEHUIRUGHUXQJ 3V\FKRVR]LDOH%HODVWXQJ U  (UVFK|SIXQJ

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Um dies zu prüfen, haben wir einen Index Überforderung gebildet, der aus 8 Items besteht und mit Cronbachs Alpha: .722 eine zufrieden stellende interne Konsistenz aufweist. Die Items dieses Indexes lauten: • Beschäftigte stehen unter dauerhaftem Leistungsdruck. • Wie viele der Beschäftigten regelmäßig Überstunden leisten. • Beschäftigte müssen Aufgaben übernehmen, für die sie nicht ausreichend fachlich qualifiziert sind. • Den Beschäftigten fehlen ausreichende Ressourcen, um qualitativ hochwertig arbeiten zu können. • Die Beschäftigten müssen in ihrer Arbeit ethische Prinzipien verletzen, um den Anforderungen der Organisation zu genügen.

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• Meine Supervisanden/innen klagen über zu hohen Zeitdruck. • Meine Supervisanden/innen klagen über zu geringe Entscheidungsspielräume. • Meine Supervisanden/innen klagen über zu wenige Erholungspausen. Der Mittelwert des Indexes beträgt (von keiner Belastung zu Überforderung aufsteigend) 3,64 (von maximal 5), wobei wir ab dem Mittelwert 3 von Überforderung sprechen. Das heißt: Die Beschäftigten werden von den Supervisor/innen als in beträchtlichem Maße überfordert wahrgenommen. Sind mit „Überforderung“ vor allem Arbeitsbedingungen fokussiert, so haben uns in erster Linie deren subjektive Auswirkungen interessiert, wobei wir annehmen, dass Arbeitnehmer/innen dieselben objektiven Arbeitsbedingungen subjektiv verschieden bewältigen. Folglich kann derselbe Grad an Überforderung zu unterschiedlichen psychosozialen Belastungen führen. Diese Belastungen haben wir konzeptionell in zwei Komponenten zerlegt: Erschöpfung und Demoralisierung, die hoch signifikant, aber nur mittelmäßig miteinander korrelieren (r = .305). Demoralisierung verstehen wir als Verlust des Gefühls, die Arbeitsbedingungen wirksam mit gestalten zu können, was Beschäftigte ohnmächtig macht und ihre Arbeitsmotivation angreift. Dies trägt zweifellos zu ihrer Erschöpfung bei, ob sie aber tatsächlich erschöpft und das heißt: mit ihren physischen und psychischen Kräften am Ende sind, steht damit noch nicht fest. Insofern mag Demoralisierung eine notwendige Bedingung sein, die aber keinesfalls hinreicht. Wir haben einen Index „Demoralisierung“ gebildet. Er besteht aus 4 Items und weist eine zufrieden stellende interne Kohärenz von Cronbachs Alpha: .622 auf. Seine Items lauten: • Sind meine Supervisanden/innen überfordert, machen sie ihre Arbeitsbedingungen dafür verantwortlich. • Ich beobachte, dass meine Supervisanden/innen ihre vorhandenen Spielräume zu wenig nutzen. • Ich beobachte, dass meine Supervisanden/innen die vorgefundenen Arbeitsbedingungen zu schnell als gegeben hinnehmen. • Meine Supervisanden/innen verstehen sich als Opfer von Arbeitsbedingungen, die sie nicht verändern können. Der Mittelwert des Indexes beträgt (von fehlender zu vollständiger Demoralisierung aufsteigend) 3,58 (von maximal 5). Da heißt: Die Beschäftigten werden von den Supervisor/innen als stark demoralisiert wahrgenommen.

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Skalenwerte unter 7 kommen nicht vor. 50,2 % der Skalenwerte sind 15 und höher. Folglich ist für etwa die Hälfte der Beschäftigten mit einer hohen Demoralisierung zu rechnen. Parallel dazu haben wir einen Index „Erschöpfung“ gebildet, der aus 5 Items mit einer zufrieden stellenden internen Konsistenz von Cronbachs Alpha: .637 besteht. Diese lauten: • Psychophysische Belastungen haben zu-/abgenommen. • In meinen Supervisionen habe ich es immer wieder mit Supervisanden/innen zu tun, die erschöpft sind. • Ich beobachte, dass meine Supervisanden/innen reizbar geworden sind. • Ich beobachte, dass die Arbeitszufriedenheit meiner Supervisanden/innen (nicht) hoch ist. (Item ist invertiert worden.) • Die Arbeitszufriendenheit hat zu-/abgenommen. Der Mittelwert des Indexes beträgt (von keiner Erschöpfung zu sehr starker Erschöpfung aufsteigend) 3,81 (von maximal 5). Das heißt: Die Beschäftigten werden von den Supervisor/innen als stark bis sehr stark erschöpft wahrgenommen. Sieht man sich die Verteilung der Summenscores an, wirkt der Befund noch eindringlicher:

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Skalenwerte unter 10 kommen nicht vor. 45,6 % der Skalenwerte sind 20 und höher. Folglich ist für knapp die Hälfte der Beschäftigten mit einem hohen Erschöpfungszustand zu rechnen, der, wenn er andauert, als Gesundheitsrisiko gelten darf (ohne bereits von Burnout sprechen zu wollen). Die Produkt-Moment-Korrelation zwischen Überforderung und Erschöpfung beträgt r = .537, die zwischen Überforderung und Demoralisierung r = .237. Folglich sind die Arbeitsbedingungen für das Ausmaß der Erschöpfung gewichtiger als für das Ausmaß der Demoralisierung. Da Korrelationen bekanntlich lineare Wechselbeziehungen, aber keine Kausalitäten abbilden, sei darauf hingewiesen, dass auch die Annahme plausibel ist, dass Arbeitnehmer/innen, die (warum auch immer) erschöpft und/oder demoralisiert sind, vermutlich dieselben Arbeitsbedingungen psychosozial belastender erleben als ihre Kollegen/innnen, auf die das nicht zutrifft. Unseren Erkenntnisinteressen entsprechend, interpunktieren wir die Kausalität aber von den Arbeitsbedingungen her, was Erschöpfung und Demoralisierung zu abhängigen Variablen macht. Die Korrelationen, die wir zwischen Überforderung und Erschöpfung sowie Demoralisierung gefunden haben, lassen vermuten, dass es noch andere Variablen geben muss, die den linearen Zusammenhang moderieren. In diesem Sinne interessiert uns, ob sich arbeitsrelevante Einflussfaktoren identifizieren lassen, die – je nach Ausprägung – die psychosozialen Belastungen, die aufgrund von überfordernden Arbeitsbedingungen entstehen können, steigern oder verringern. Genauer gesagt, interessieren uns Resilienzfaktoren, wobei wir Resilienz als Schutz vor Erschöpfung und/oder Demoralisierung verstehen. Resilienz gibt es auf verschiedenen Ebenen: als individuelle, als inter-individuelle (interaktive bzw. gruppendynamische) und als organisationsstrukturelle Präventions-

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strategie. Uns interessieren Einflussfaktoren, deren Gesamtheit eine Organisationskultur ausmacht, die man – vielleicht zu anspruchsvoll formuliert – als salutogen bezeichnen könnte. Nach Auswertung unserer qualitativen Interviews und einer anschließenden Literaturrecherche haben wir uns für die Überprüfung von vier solcher potenzieller Resilienzfaktoren entschieden: Leistungsgerechtigkeit, Anerkennung, Führungskompetenz und Kollegialität. Für jeden der Faktoren ist ein Index gebildet worden, der nachfolgend vorgestellt wird: Der Index „Leistungsgerechtigkeit“ besteht aus 3 Items, die eine akzeptable interne Konsistenz von Cronbachs Alpha: .567 aufweisen. Sie lauten: • In den Organisationen besteht Leistungsgerechtigkeit. • Meine Supervisanden/innen klagen (nicht) über zu wenig Leistungsgerechtigkeit. (Item ist invertiert worden.) • Leistungsgerechtigkeit ist in den Organisationen, in denen ich tätig bin, realisiert. Der Mittelwert des Indexes beträgt (von fehlender zu vollständig realisierter Leistungsgerechtigkeit aufsteigend) 2,42 (von 5). Das heißt: Die Supervisor/innen nehmen in den Organisationen eine halbwegs realisierte Leistungsgerechtigkeit hinsichtlich der Belohnung der Beschäftigten wahr. Der Index „Anerkennung“ besteht aus 4 Items, die eine zufrieden stellende interne Konsistenz von Cronbachs Alpha: .635 aufweisen. Sie lauten: • Die berufliche Weiterentwicklung von Beschäftigten wird von den Organisationen angemessen gefördert. • Die Beschäftigten können eigene professionelle Standards in ihrer Arbeit wahren. • Die Beschäftigten machen die Erfahrung, dass ihre Arbeitsleistungen in der Organisation angemessen anerkannt werden. • Beschäftigte erhalten (keine) Wertschätzung für qualitativ gute Arbeitsleistungen. (Item ist invertiert worden.) Der Mittelwert des Indexes beträgt (von fehlender zu vollständiger Anerkennung aufsteigend) 2,68 (von maximal 5). Das heißt: Die Supervisor/innen nehmen in den Organisationen eine halbwegs realisierte Anerkennung der Beschäftigten wahr. Der Index „Führungskompetenz“ besteht aus 5 Items, die eine zufrieden stellende interne Konsistenz von Cronbachs Alpha: .652 aufweisen. Sie lauten: • Führungskräfte bieten den Beschäftigten ausreichend Halt und Orientierung. • Vorgesetzte und Mitarbeiter respektieren einander. • Wie viele der Beschäftigten (nicht) über unzulängliche Führung klagen. (Item ist invertiert worden.)

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• Wie viele der Führungskräfte der Komplexität ihrer Aufgabe gewachsen sind. • Die Führungskompetenz hat zu- bzw. abgenommen. Der Mittelwert des Indexes beträgt (von fehlender zu uneingeschränkter Führungskompetenz) 2,60 (von maximal 5; genauer gesagt von maximal 4, da niemand den Skalenwert 5 gewählt hat). Das heißt: Die Supervisor/innen nehmen wahr, dass die Führungskräfte in den Organisationen halbwegs kompetent sind. Der Index „Kollegialität“ besteht aus 4 Items, die eine zufrieden stellende interne Konsistenz von Cronbachs Alpha: .681 aufweisen. Sie lauten: • Das Betriebsklima in Organisationen ist gut. • Die soziale Anerkennung unter Kolleg/innen ist hoch. • Hilfe suchende Beschäftigte können auf kollegiale Unterstützung bauen. • Unter den Beschäftigten gibt es (keine) offenen Feindseligkeiten. (Item ist invertiert worden.) Der Mittelwert des Indexes beträgt (von fehlender zu vollständig realisierter Kollegialität aufsteigend) 3,04 (von maximal 5). Das heißt: Die Supervisor/innen nehmen wahr, dass unter den Beschäftigten eine bedeutsame Kollegialität besteht.  /HLVWXQJVJHUHFKWLJNHLW )KUXQJVNRPSHWHQ] .ROOHJLDOLWlW

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Betrachtet man die Matrix der Interkorrelationen der vier Resilienzfaktoren, dann sind diese durchgehend hoch signifikant und von mittlerer Höhe. Folglich wird man annehmen dürfen, dass sie alle Aspekte eines gemeinsamen Zusammenhangs sind, den man als salutogene Organisationskultur bezeichnen könnte. 2/65HJUHVVLRQYRQ5HVLOLHQ]IDNWRUHQDXIhEHUIRUGHUXQJ   .RHIIL]LHQW /HLVWXQJVJHUHFKWLJNHLW  

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Die einzelnen Resilienzfaktoren sind nicht gleichgewichtig. Fügt man sie in ein Regressionsmodell ein, so zeigt sich, dass realisierte Anerkennung der statistisch gewichtigste Faktor ist, dicht gefolgt von realisierter Leistungsgerechtigkeit und – vergleichsweise

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weniger einflussreich – realisierter Kollegialität und realisierter Führungskompetenz (der Vorgesetzten). Zusammengefasst lässt sich eine Organisationskultur beschreiben, die aus vier Resilienzfaktoren besteht, die helfen können, die erlebte Überforderung zu verringern. Folglich müsste es das zentrale Anliegen einer salutogenen betrieblichen Gesundheitspolitik sein, für eine Realisierung dieser Faktoren einzutreten. Nach Wahrnehmung der Supervisor/innen ist die betriebliche Wirklichkeit davon aber noch weit entfernt. Am meisten mangelt es an der Realisierung von Leistungsgerechtigkeit, gefolgt von einem relativen Mangel an Führungskompetenz und Anerkennung. Den geringsten relativen Mangel nehmen die Supervisor/innen in punkto realisierter Kollegialität wahr. UHDOLVLHUWH/HLVWXQJVJHUHFKWLJNHLW UHDOLVLHUWH)KUXQJVNRPSHWHQ]









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Diese Interpretation macht die benevolente Annahme, dass Organisationen ein echtes Interesse daran haben, eine salutogene Organisationskultur herzustellen. Das ist aber nicht selbstverständlich, da es sich für den Arbeitgeber durchaus „rechnen“ kann, wenn Arbeitnehmer/innen ihre Gesundheit am Arbeitplatz riskieren. Das Modell geht von den Arbeitsbedingungen aus und fragt nach Faktoren, die das Risiko vor Demoralisierung und Erschöpfung verringern. Freilich darf nicht vergessen werden, dass der wahrscheinlich gewichtigste Faktor dabei ausgespart bleibt: die Beseitigung von Arbeitsbedingungen, die überfordern.

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„Wer hat wann welche Verantwortung, wer hat wann welchen Einfluss?“ Supervision als Praxis der Selbstfürsorge Rolf Haubl

Auf dem Hintergrund des aktuellen Diskurses um das Verhältnis von Fürsorge und Selbstfürsorge muss es interessieren, wie denn die befragten Supervisor/innen das Beratungsformat der Supervision in diesem Zusammenhang einschätzen. Alle Befragten sind sich einig, dass die Teilnahme, zumindest die freiwillige Teilnahme an Supervision für Arbeitnehmer/innen als eine Praxis der Selbstfürsorge gelten darf. Finanziert sie der Arbeitgeber, dann ist sie eine fürsorgliche Maßnahme. Allerdings betonen die befragten Supervisor/innen, dass sich die Funktion der Supervision in Organisationen zunehmend verändert. Sie bekommt unausgesprochen, aber auch ausgesprochen die Funktion, Konfliktpotenziale im Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmer/innen frühzeitig zu entschärfen und ihnen dadurch eine strukturelle Veränderung belastender Arbeitsbedingungen zu ersparen: „Die Supervision entlastet die Organisation […] von Fragen, die gestellt werden müssten, indem sie diese praktisch umlenkt.“ (F 7) Davon profitieren vor allem Vorgesetzte, die durch Supervisionen, an denen sie selbst nicht teilnehmen, aus der Konfliktlinie genommen werden: „Und dann wird Supervision auch noch mal als Ausweg gewählt, damit die Führungskraft nicht in die Puschen muss oder in den Ring muss und sagen, ‚das [an Belastungen] geht und das geht nicht’.“ (F 4) Mehr noch: Von Supervisor/innen wird zunehmend erwartet, dass sie den grassierenden Mangel an Anerkennung durch Vorgesetzte, den Arbeitnehmer/innen beklagen, kompensieren, indem sie ihnen das Interesse an ihrer Person zeigen, das bei einer marktradikalen Ökonomisierung der Arbeitsbeziehungen auf der Strecke bleibt: „Und ich glaube, was jetzt immer mehr in die Supervision schwappt, das ist so–, dass–, ich nenne es immer, wir werden immer mehr zuständig für das sogenannte Containment, also immer mehr die Fürsorge, für das auf einzelne Personen schauen, die persönlich im Blick haben, all das, was man sich eigentlich von Leitung wünscht.“ (F 9) Damit erscheint Supervision als ein Gegenentwurf zu der Alltagswirklichkeit des Arbeitslebens: Was im Arbeitalltag nicht stattfindet, soll in der Supervision stattfinden. „Wenn die Leute mehr Zeit hätten oder überhaupt wieder Zeit, regelmäßig strukturiert miteinander zu kommunizieren oder sich zu begegnen“, (F 10) würde womöglich wirklich in vielen Fällen eine „normale Dienstberatung“ für eine Bearbeitung von Problemen ausreichen, die jetzt den Supervisor/innen überantwortet werden. Und das

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auch deshalb, weil Supervision anscheinend eine weniger kränkende und damit sachlichere Problembearbeitung verspricht: „Wenn es [das Problem] in der Supervision bearbeitet wird, geht es ja auch darum, für einen respektvollen Umgang innerhalb der Arbeit zu sorgen.“ (F 10)

Ausmessen von Handlungsspielräumen Trotz der skizzierten Skepsis halten die befragten Supervisor/innen an der Chance fest, Supervision als einen geschützten Raum zu institutionalisieren, in dem Arbeitnehmer/ innen ihre Selbstfürsorgepraktiken gemeinsam reflektieren können. Gelegentlich wird eine Verbesserung der Selbstfürsorge sogar als vorrangiges Ziel von Supervision formuliert. Dabei fällt auf, dass die befragten Supervisor/innen oft gar nicht von Supervision, sondern allgemein von Beratung sprechen. Das mag daraufhin deuten, dass sie sehr verschiedene Beratungsformate anbieten und sich aus der „Supervision-contraCoaching-Kontroverse“ heraushalten wollen, weil sie vorwiegend bedarfsorientiert und folglich eklektisch verfahren. Selbstfürsorgepraktiken sollen vor allem im Hinblick auf eine Unterscheidung von Belastungen, die strukturell bedingt sind, und Belastungen, die individualpsychologische Gründe haben, kritisch überprüft werden. Denn den Supervisor/innen geht es darum, die bestehenden Handlungsspielräume der Arbeitnehmer/innen zu vermessen und gegebenenfalls auch neue Handlungsspielräume zu eröffnen: „Wer hat wann welche Verantwortung, wer hat wann welchen Einfluss. Also auch mit Mitarbeitern zu gucken […], ‚wo habe ich meine Einflussmöglichkeiten, um mich nicht zu verausgaben an Stellen, wo ich sichtbar keinen Einfluss habe’.“ Dabei ist es ihnen auch wichtig, die Fälle zu erkennen, die eher einen „therapeutischen Prozess“ verlangen, zum Beispiel dann, wenn Arbeitnehmer/innen „an einer Stelle, wo [sie] keinen Einfluss habe[n], nicht loslassen.“ (F 2) Die kritische Überprüfung von Selbstfürsorgepraktiken ist aber nicht nur ein instrumentelles Ziel, sondern hat ethische Implikationen. Prägnant kommt dies in dem Anspruch zum Ausdruck, dass Supervision den supervidierten Arbetinehrmer/innen helfen soll, „sich erhobenen Hauptes selber aus der Situation heraus zu begeben“, indem sie keine Selbstfürsorgepraktiken wählen, die „sehr stark unter ihre eigene Würde (gehen)“ (F 6).

Kritische Reflexion von Selbstfürsorgepraktiken Supervision soll die supervidierten Arbeitnehmer/innen dafür sensibilisieren, dass ihre Selbstfürsorgepraktiken nicht nur intendierte Folgen haben, sondern auch nicht intendierte: So kann eine „innere Kündigung“ individuell als Erfolg versprechende Praktik erscheinen, aber auch strukturelle „Veränderungen verhindern“ und dadurch eine unerträgliche Situation aufrecht erhalten, sie hinterrücks sogar individuell ver-

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schlechtern, weil Arbeitnehmer/innen, die innerlich kündigen, „zufriedene Arbeit ja auch für sich nicht erleben“ (F 14). Zu einer Überprüfung von Selbstfürsorgepraktiken gehört ein interindividueller Vergleich der Arbeitnehmer/innen: Wer sorgt wie für sich selbst? Ein wichtiger Effekt, der sich dabei einstellen kann, ist die Überwindung einer Scham bedingten Individualisierung, die nicht nur psychisch entlastet, sondern auch Gemeinsamkeiten erhellt: „Und jetzt kommen wir an unsere Grenzen, und die fragen sich dann, ‚liegt es an mir?` Und wenn die anderen dann sagen, ‚ne, du, mir geht es genauso’, dann merken die ‚aha, es ist ja dieser Belastbarkeitsmythos, nicht nur ich bin diejenige, die ausschert und die nicht belastbar ist, sondern möglicherweise hat es was mit den Strukturen zu tun’.“ (F 1) Auf einen Punkt gebracht, zielen die befragten Supervisor/innen darauf ab, die Resilienz der Arbeitnehmer/innen zu stärken, die sie supervidieren. Es ist bemerkenswert, wie aktiv sie selbst dabei vorgehen und wie wenig sie sich scheuen, selbst Stellung zu beziehen: „Ja, was mir wichtig ist […], Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie nur ein Leben haben, sich überlegen müssen, was sie mit diesem Leben anfangen, welchen Sinn sie darin finden, das finde ich einen wichtigen Punkt. Also Menschen, die eine reine Karriere- und Geldorientierung haben, das ist eine völlig leblose, uninteressante, unkreative, nichts verändernde Perspektive.“ (F 11) „Also dass man auch mit dem Arbeitgeber streitet. Dass man also aktiv sagt, ‚also ich habe jetzt das Recht und versuche, das Recht jetzt auch durchzusetzen’. Und das–, also ich würde Personen immer auch begleiten, dass sie es machen. Dass sie ihre Rechte auch einklagen, soweit es geht, weil das ist ja auch eine Erfahrung, dass man nämlich auch als Arbeitnehmer Grenzen setzen kann.“ (F 6)

Ergebnisoffenheit Parteinahme kann der prinzipiellen Ergebnisoffenheit von Supervision widerstreiten. Deshalb wird den Supervisor/innen eine hohe Toleranz abverlangt – zum Beispiel dann, wenn sie akzeptieren müssen, dass sich ein Supervisand letztlich dafür entscheidet, sehenden Auges seine Gesundheit zu riskieren: „Und der kam über eine Empfehlung [in die Supervision], weil er immer öfter in seinem Chefsessel saß und von einem ganz anderen Leben geträumt hat. Und wenn er sich dann überlegt hat, ob er das nur träumen würde oder ob er das auch machen will. Der hat sich letztlich fürs Weiterträumen entschieden, aber er hat sich immerhin ein Jahr lang damit auseinandergesetzt, dass er das so tut und warum er das so tut, und dass er jetzt nicht mehr so tun kann (lacht), als wenn er es nicht wüsste für sich, wo es hingeht. Oder dass er auch von der Organisation Sachen macht, also mitverantwortet, wo er hier mal auf dem Stuhl gesessen hat und gesagt hat, ‚was sage ich denn, wenn mein Sohn mich mal später fragt, Papa, warum hast du das gemacht?` Und er wusste keine Antwort

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drauf. Und zwei Sitzungen später hat er dann gesagt, ‚na ja, er hätte jetzt schon viel erfahren und es wäre in Ordnung, und […] jetzt mal aufhören.“ (F 4)

Grenzen der Einflussnahme Insgesamt sind sich die Supervisor/innen der Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten bewusst, weshalb sie bescheidene Ziele verfolgen. Besonders ambitionierten Supervisor/innen fällt diese Bescheidung nicht leicht und gelegentlich finden sich deshalb auch Spuren einer Demoralisierung: „Aber wenn ich eben sehe, dass zunehmend Leute, die wirklich gut aufgestellt sind, das nicht mehr leisten können, dann ist klar, dann ist was in der Fläche schief. Und wie soll sich der Einzelne dagegen wehren, das ist wirklich–, und was macht Beratung da überhaupt noch, was kann Beratung unter diesen Bedingungen überhaupt bringen? Finde ich eine ernsthafte Frage für mich, weil ich oft das Gefühl habe, ich weiß, wenn ich einen Auftrag annehme, dass ich nicht wirklich etwas bewirken kann, weil die Ursachen wo ganz anders liegen. […] Und ich finde, wenn Beratung da etwas noch leisten kann, dann ist es, da auch eine Entlastung zu schaffen. Also ein recht schwacher Trost.“ (F 13) Aber auch die Verfolgung bescheidener Ziele kann die Selbstfürsorge der Arbeitnehmer/innen verbessern: Manchmal geht es in der Supervision nur darum, „nicht eine Lösung zu finden, sondern das Unlösbare so auszuhalten, dass man sich nicht noch gegenseitig metzelt. Wenn das gelingt, ist es schon eine reife Leistung.“ (F 14)

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„Früher gab es noch Puffer …“ Selbstfürsorge und Berufszufriedenheit von Supervisor/innen Julian Fritsch

„Und ich glaube, was jetzt in die Supervision immer mehr schwappt, das ist so, dass–, ich nenne es immer, wir werden immer mehr zuständig für das so genannte Containment, also immer mehr für die Fürsorge, für das auf einzelne Personen schauen, die persönlich im Blick haben, all das, was man sich eigentlich von Leitung wünscht.“ (F 9) Das Beratungsangebot von Supervisor/innen ist von Berufs wegen auf ein Spannungsfeld bezogen. Was für die Arbeitswelt grundlegend gilt, tritt in dem Raum, den Supervision bietet, offen zutage: als Beschäftigte leisten Supervisand/innen vorweg die Vermittlung von Professionalität und Privatidentität. Das Setting selbst freilich spart aus, dass dies ebenso für Supervisor/innen gilt. Anforderungen wie jene, die im zitierten Falle an Beratung herangetragen werden, legen einen analytischen Platztausch nahe. Denn: die Leistungen von Supervisor/innen sind nicht voraussetzungslos, auch und gerade vor dem Hintergrund neuer Wünsche und Ansprüche an sie. Die Auswertungsgrundlage für diese Fragestellung bilden die im Rahmen der Untersuchung geführten Experteninterviews. An zahlreichen Stellen eröffnen die Befragten Blicke auf ihre eigenen Hinterbühnen. Dennoch erfordert die Umkehrung des Analysefokus – von der Blickrichtung der Experten weg, hin zu den Experten selbst – methodische Zugeständnisse. Um die Praxis der Selbstfürsorge von Supervisor/innen nachzuvollziehen, greift die Auswertung deshalb nicht alleine auf explizite Statements zu eigenen Strategien zurück. Auch die Urteile und Handlungsempfehlungen der Befragten zu psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz sind Teil der Betrachtung. Sie können das zu zeichnende Bild sinnvoll ergänzen, denn in einem Punkt gleichen sich Supervisor/in und Klient/in: ihre (auch und gerade privat) praktizierte Selbstfürsorge ist nicht unabhängig von ihrem professionellen Handeln.

Arbeitsweltliche Rahmenbedingungen „Ich habe manchmal den Eindruck, da sind Mechanismen am Wirken, die immer mit dem Wort Globalisierung erklärt werden, und sich alle Beteiligten vielleicht mich mit einbezogen, darauf auch zurückziehen und sagen, ,das ist irgendwie so unübersichtlich geworden, ich kann gar nicht mehr so ohne weiteres sagen, das ist die Ursache dafür. Sondern Dinge sind so miteinander verwoben, dass ich manchmal mich auch frage, wo könnte man da überhaupt noch ansetzen‘.“ (F 2) Die Arbeitswelt ist zugleich Form und Inhalt der Beratungsberufe. Für Supervisor/innen resultiert hieraus eine zweifache Betroffenheit. Als Teilnehmer/innen des Arbeits-

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marktes stiftet ihnen die ökonomische Dynamik ebenso Entscheidungsgrundlagen, wie sie die Agenda der Beratungsprozesse strukturiert. Grund genug, zunächst noch einmal die Perspektive der Befragten einzunehmen und zu fragen: unter welchen Bedingungen wird Selbstfürsorge für Supervisor/innen erforderlich? Aus Sicht der Befragten finden sich profitorientierte ebenso wie Non-Profit-Organisationen gleichermaßen in einer sich zunehmend flexibilisierenden Umwelt wieder. Es sind nicht ganz neue Symptome – atypische Beschäftigungsverhältnisse, strukturelle Diskontinuitäten in Organisationen, Entgrenzung von Arbeit –, die nach wie vor allen Beteiligten erhöhte Aufmerksamkeit für die individuelle Gestaltung von Arbeit und Leben abfordern. Interviewte berichten häufig von einem Geschwindigkeitsanstieg, durch den der arbeitsweltliche Boden aufgelockert wird: „Aber die ganzen Rahmenbedingungen also erlebe ich schon so, dass die Leute, dass Mitarbeitende tendenziell erschöpfter sind und dass halt die Geschwindigkeit in der Arbeit sich extrem gesteigert hat.“ (F 10) „Früher gab es noch die Puffer, so wie halt eine Fledermaus noch einen Dachboden fand, wo sie irgendwie sein konnte. Jetzt ist alles ausgebaut. Also jetzt jetzt gibt es die Refugien für die, die einfach ein bisschen langsamer sind, nicht ganz so robust, die gibt es weniger.“ (C 14) Doch nicht nur für die „Langsamen“ schließen sich Räume. Eine übereinstimmend geäußerte Diagnose zur Lage – insbesondere der Pflegeberufe, gleichermaßen aber des Bereichs Bildung sowie des Sektors Sozialarbeit allgemein – lautet Arbeitsverdichtung. Personelle Engpässe und gestiegene Anforderung an die Dokumentation der geleisteten Arbeit verengen letztlich die facettenreiche Sphäre informellen Handelns – dies kann die Beziehungsarbeit in den helfenden Berufen meinen, bezieht sich aber gleichermaßen auf interkollegiale Gespräche und (Selbst-)Reflexionsräume: „Also wenn man früher eine ganze Stelle gehabt hat, als Familienhelfer beispielsweise, dann ist das so gewesen, dass man also 3 bis 4 Fälle hatte, heute ist es eher so, dass man in 30 Stunden 6 bis 8 Fälle hat. […] Und so ein Einlassen auf Prozesse oder so eine intensive Arbeit [ist] in dem Sinne nicht möglich.“ (C 9) „Also einerseits diese krankmachenden Umstände, also wenig Zeit, ein hoher Leistungsdruck und viel Aufgaben, und auf der anderen Seite gibt es diese fehlenden Möglichkeiten, gut aufzutanken oder gesund in der Arbeit zu bleiben, gute Orte, Kontakt miteinander zu pflegen.“ (F 10) „Aber ich glaube halt, im Kern ist es–, dass diese Arbeitswelt in dieser bedingungslosen Effizienz bis zum Gehtnichtmehr einen hohen Preis zahlt an der Frage der Kommunikation. Also Menschen darf man nicht daran hindern letztlich, auch ein bisschen uneffektiv miteinander umzugehen, selbst am Arbeitsplatz, das haut letztlich nicht hin, weil es ein soziales Wesen ist, weil auch ein bisschen Raum dafür sein muss.“ (F 13) Mit der ökonomischen Taktung steigt auch die (inter-)organisationale Komplexität. Orientierungsdiffusion kann dann die Folge sein, wenn sich Organisationen und/oder deren Beziehungsgeflechte vergrößern, die neuen Anforderungen strukturell bzw.

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personell aber nicht ausgeglichen werden. Supervisor/innen berichten in diesem Zusammenhang, dass auf Seiten der Mitarbeitenden vermehrt Fragen zu Hierarchien und Verantwortlichkeiten, aber auch zu Arbeitsinhalten aufgeworfen werden bzw. offen bleiben. In der Hauptsache betrifft dieser Topos, der klassische Führungsaufgaben repräsentiert, die Privatwirtschaft, die als Auslöser für die genannten Orientierungsverluste nicht zuletzt Übernahmen/Fusionen und von Extern durchgeführte Rationalisierungen kennt: „[Käufer] ist ja nun nochmal viele Nummern größer als [Zielunternehmen] und alles läuft sehr viel anonymer, wird sehr viel mehr von oben gesteuert auch n bisschen hemdsärmeliger, so wurschtiger.“ (C 1) „Also von Führungskräften, die habe ich aber wenig hier sitzen, […] die haben Strategien, zum Beispiel individuelle Strategien zu überleben, sich immer Berater reinzuholen und zwar die großen Beraterfirmen, weil die machen denen die also Drecksarbeit, wie auch sie sie machen, aber sie sind nicht verantwortlich.“ (F 4) Für Beschäftige im Gesundheitssystem, im Sozialen Sektor bzw. in der Sozialwirtschaft sowie in der Verwaltung, deren Arbeit direkt oder indirekt von öffentlichen Geldern abhängig ist, sind es dagegen weniger diffuse, als vielmehr paradoxe Arbeitsanforderungen, die zu Frustrationen und Resignation führen. Ursächlich ist den vielgestaltigen Unvereinbarkeiten hierbei stets ein Grundwiderspruch zwischen anstehenden Aufgaben und zur Verfügung stehenden Ressourcen. Weiterhin gilt: akut erscheint diese Problematik zwar im Non-Profit-Bereich, frei von ihr ist aber auch die Privatwirtschaft, auf die im zweiten Zitat Bezug genommen wird, nicht: „Also ich glaube, dass die Paradoxien zugenommen haben. Da denke ich jetzt grade an so einen anderen Bereich, Kreisjobcenter. Also ich finde, die müssen eine Arbeit machen, die häufig so paradox und verrückt ist, dass ich das eigentlich als Steuerzahlerin gar nicht hören will. […] Und wenn grade Wahljahr ist, dann wird immer viel Geld in irgendeinen Bereich reingepumpt, und es heißt, darauf haben sie rechtlich und gesetzlich einen Anspruch, und nächstes Jahr ist der gesetzliche Anspruch kein anderer, aber das Geld ist nicht mehr da.“ (F 7) „Das ist schon-, da merke ich dann, wie es den Leuten zum Teil auch schlecht geht, dass sie sagen, verflixt noch mal, dieses Gefühl, egal wie man es macht, letztlich kann man es nie irgendwie richtig machen. Widersprüchliche Anforderung, genau, nicht höhere, aber widersprüchliche gestellt zu bekommen, das finde ich auffällig.“ (F 14) Nichtsdestoweniger: die befragten Supervisor/innen sind sich auch der Zweiseitigkeit der aktuellen Entwicklungen bewusst. Die neuen Unübersichtlichkeiten und der Druck, der auf den Räumen der (aus menschlicher Sicht notwendigen) Ineffizienz lastet, sind Aspekte aus einer problemzentrierten Perspektive. Aus einem zuversichtlicheren Blickwinkel dagegen erscheint der Abbau starrer Strukturen als Chance für selbstbestimmtes und eigenständiges Arbeiten. Auch erhöhter (Geld-/Leistungs-)Druck ist aus dieser Sicht nicht pauschal verurteilenswert, sondern mitunter notwendig, wenn z. B. die genannten „Refugien“ (C14) der Unproduktivität die Konkurrenzfähigkeit von

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Organisationen bedrohen und/oder die Leistungsgerechtigkeit untergraben. Zudem variiert die Situation der Beschäftigten in Abhängigkeit etwa von der Unternehmensgröße – Verdichtung und Diffusion sind Kennzeichen nicht der mittelständischen Betriebe. Vorhandene, aber ungenutzte Spielräume gibt es auch in Unternehmen, genauso wie ein weit verbreitetes Bewusstsein für die Risiken einer hochgradig flexibilisierten Arbeitswelt. Viele Organisationen bleiben nicht untätig, sondern versuchen, mit Tools und Konzepten (z. B. Gleitzeitmodelle mit entsprechenden Trainingsangeboten) gegenzusteuern. „Also ich habe nicht den Eindruck, dass die Arbeitsprozesse als solche für die Mitarbeiter schwieriger geworden sind, das sehe ich überhaupt nicht. Wir haben einen Zuwachs an Arbeitssicherheit enorm, auch einen Zuwachs dahingehend, zu gucken, dass die Leute sich wohlfühlen an ihrem Arbeitsplatz, dass dafür gesorgt wird, dass sie vernünftiges Zeug in der Kantine kriegen, dass es einen Sozialdienst gibt, dass es Sport gibt, dass es, ja, berücksichtigt wird, wie jemand in der Lebenssituation ist, die haben oft auch soziale Dienste drin. Also diese ganzen Themen sind in vielen Unternehmen heute durchaus vorhanden.“ (F 11) I:“ Sie haben ja auch den Unterschied gemacht, also es sieht auf Konzernebene anders aus, also bei diesen kleineren Unternehmen, kleinen und mittelständischen Unternehmen, da gibt es eher eine produktive Entwicklung und eine Bereitschaft, solche, ich sage mal, sozialen Prozesse oder den Beziehungsteil der Arbeit auch noch mal zu reflektieren und die eigene Rolle da drin.“ A: „Also ich finde die viel stärker, das ist ein ganz anderes Niveau, weil diese Systeme kleiner sind. […] Auch dieses Verantworten, diese Nichtanwesenheit von Verantwortlichkeit, das ist in den kleineren Unternehmen gar nicht.“ (F 14) Wo Arbeitsbedingungen dagegen nachhaltig als belastend erlebt werden, ist die Psyche der Beschäftigten ebenso gefährdet wie deren Qualitätsstandards guter Arbeit. Gleiches gilt für Supervisor/innen. Jeder arbeitsweltlichen Zumutung für Supervisand/ innen entspricht eine professionelle und/oder persönliche Herausforderung auf Seiten der Supervisor/innen.

Beratungsspezifische Konflikte Geschwindigkeitsanstieg, Arbeitsverdichtung und Orientierungsdiffusion wirken direkt und indirekt auch auf Supervision ein. Hier erscheinen ihre Folgewirkungen in Form spezifischer Konflikte für Berater/innen. Illustriert am Beispiel diffuser Abläufe: „Während ich da arbeitete, ich hatte nur zwei Sitzungen, in der ersten Sitzung stellte sich raus, es gibt komische Anzeichen, dass diese ganze– die ganze Einrichtung aufgelöst wird ähm und bei der nächsten Sitzung war dann die Pflegedienstleitung schon gekündigt und es war dann mittlerweile völlig klar, das ganze Ding wird aufgelöst. Und ich war darüber nicht informiert, in keiner Weise. Und fühlte mich wie, ja weiß ich nicht, wie man sich dann fühlt. Pausenclown, oder?“ (C 4)

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Dass vermehrt Ansprüche an Supervisor/innen herangetragen werden, die deren Ideen von ihrer Aufgabe widersprechen, wurde bereits in der ersten Befragung deutlich – als reines Kriseninstrument verstanden sich die Supervisor/innen schon damals nicht. Als Auslagerungsstätte und Kompensationsmittel für Defizite in der Organisation missbraucht, wird Supervision zu einem Ort mit Frustrationspotenzial, und zwar für die Beratenden selbst; oder, wie im einleitenden Beispiel, zum Grenzort des professionellen Leistungsspektrums. Wenn Arbeitsverdichtung aus Personalmangel resultiert, steht am Anfang der Wirkungskette häufig der Sachzwang. Sparmaßnahmen betreffen dann auch die Supervision. Ein Indikator hierfür sind Berichte über zunehmend kurz angelegte Prozesse oder längere Sitzungszyklen. Aus langfristiger Sicht ergibt sich zudem die Gefahr, dass die Situation der Nachfrageseite eine Preisspirale auslöst – mit Abwärtsbewegung auf der Angebotsseite. In vielerlei Hinsicht bedroht die arbeitsweltliche Dynamik deshalb auch die Standards guter Beratungsarbeit. „Und dann schreibe ich wieder eine höfliche E-Mail und sage, ‚übrigens, Deadline, ich habe die Sachen immer noch nicht.’ Im Grunde genommen merke ich daran, dass diese Aufgabenflut dazu führt, dass auch die Beratungsprojekte, die ich mache, immer schlechter vorbereitet werden von innen, was auch nicht besonders effektiv dann für die Beratungsarbeit ist, da fehlen einfach Sachen. […] Ja, und das ist das, worunter–, also das, glaube ich, ist ein Thema für die Berater, und ich bin ja auch in kollegialen Netzwerken drin und reflektiere das, darunter leiden wir, glaube ich, zunehmend, dass ich mich frage, wofür verdiene ich hier eigentlich mein Geld, und […] meine eigene Tätigkeit inzwischen hinterfrage.“ (F 13) „Und auch dort hat man nach einem, nach der einjährigen Laufzeit des Vertrages überlegt, ob man nicht einen billigeren Supervisor findet. Also auch im Klinikbereich wird versucht, möglichst Geld zu sparen bei kleineren Kliniken oder das überhaupt nicht anzubieten.“ (C 6) Supervisor/innen sehen sich nicht zuletzt dazu aufgefordert, arbeitsweltliche Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch als eigenes Problem zu reflektieren, denn Arbeitssituationen, die objektiv geringen Handlungsspielraum bieten, stellen letztlich auch die Sinnhaftigkeit von Beratungsprozessen infrage. Krankheiten und krankheitsbedingte Ausfälle schließlich haben ein besonderes Potenzial, Betroffenheiten unter Supervisor/innen auszulösen. Dies gilt in stärkerem Maße noch vor dem Hintergrund sinkender Altersgrenzen selbst schwerwiegender Krankheitsbilder, wie sie Befragte vielerorts feststellen bzw. vermuten. „Ja, ich glaube, das ist auch für viele Supervisoren zunehmend wichtiger geworden. Das Thema Auftragsklärung, also am Anfang zu gucken, was wird vom Auftraggeber eigentlich gewünscht und erwartet und wie passt das mit dem zusammen, was man so in einem Kontingent von X auch tatsächlich erreichen und leisten kann und auch gemeinsam bewältigen kann.“ (C 1) „Aber wenn hier Leute kommen, die sind seit November oder Oktober zu Hause.

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Und das macht mir auch Angst, das betrifft auch mich jetzt, weil ich kriege das ja ab. Also das merke ich auch, wie mich das erschöpft, und welchen Druck ich dann auch bekomme und dann denke ich, das hat auch was mit den Leuten zu tun.“ (C 8) Wie nun begegnen Supervisor/innen den geschilderten Problemen? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, soll im Folgenden ein Blick auf die Urteile und Empfehlungen der 30 befragten Kolleg/innen zum Thema Berufszufriedenheit und Selbstfürsorge geworfen werden.

Berufszufriedenheit und Selbstfürsorge aus supervisorischer Sicht Berufszufriedenheit und Selbstfürsorge liegen nahe beieinander. Dies wird als Thema dann akut, wenn die Arbeitsbedingungen gute Arbeit erschweren oder unmöglich machen. In den Augen der befragten Supervisor/innen sind für Beschäftigte (sieht man von der Bezahlung ab) drei Bedingungen besonders wichtig: Anerkennung, Selbstwirksamkeit und – ganz grundlegend – Orientierung. Anerkennung meint nicht nur Wertschätzung für geleistete Arbeit, sondern allgemeiner noch Gesehen- und Gehörtwerden: Lob, Kritik und Einbezug in Veränderungsprozesse sind aus Sicht der Supervisor/innen gleichermaßen relevant für das subjektive Gefühl, anerkannt zu werden. Feedback bezeugt Rücksicht auf die Individualität der Beschäftigten und wird von den Befragten genuin, allerdings nicht ausschließlich, als Aufgabe der Leuitung begriffen. „Also das war im letzten Jahr so eine Situation, dass da ein neues Haus eröffnet wurde und ihr Vorgesetzter nicht zur Eröffnung kam. Und das–, ich glaube, das–, also das ist jetzt meine These, das kränkt sie unglaublich.“ (F 5) Selbstwirksamkeit umfasst individuell unterschiedlich starke Ansprüche, sollte mindestens aber durch (Arbeits-)Erfolge bzw. wahrnehmbare Veränderungen vermittelt werden. Illustrierend kann von einem Gestaltungsradius gesprochen werden, der die konkreten Inhalte, aber auch die Rahmenbedingungen der Arbeit umfassen kann (und auch mit der Frage nach der eienen Identität und Sinnhaftigkeit verknüpft ist). Grundlegend ist Selbstwirksamkeit auch mit Orientierung verknüpft, sind doch Ziele die Vorbedingung jeglichen Handelns. „Wenn das dann gelingt, dann kommt auch wieder so etwas wie, ‚ich weiß jetzt wieder, wofür ich arbeite, wohin das gehen soll. Ich kann das wieder anders für mich selber organisieren, ich kann mich da wieder anders identifizieren und mich da als Person einordnen und vielfältig mich einbringen, und dann eben auch mit meinen Arbeitskollegen [arbeiten]‘.“ (F 8) Orientierung als Faktor für Berufszufriedenheit spiegelt die Relevanz wider, die die Befragten stabilen oder mindestens eindeutigen Organisationsstrukturen zusprechen. Diffuse Hierarchien, Verantwortlichkeiten und Aufträge dagegen befördern Gefühle der Ohnmacht, rufen im besten Falle Zynismus, im schlimmsten Resignation hervor,

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und behindern fast immer konstruktives Handeln – was Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen gleichermaßen betrifft: „Also, ich sehe das irgendwie mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weil ich denke, eigentlich habe ich es lieber, wenn die Strukturen und Hierarchien klar benannt sind, dann kann man sich auch dagegen auflehnen oder sich damit abfinden oder was auch immer.“ (F 1) Das Verständnis der befragten Supervisor/innen von den Kriterien der Berufszufriedenheit der Supervisand/innen zeigt vor allem eines: Arbeit gilt allen Beteiligten als integrierter Bestandteil von Persönlichkeit. Wenn Arbeitsbedingungen Berufszufriedenheit erschweren oder unmöglich machen, sind Selbstfürsorgepraktiken deshalb oftmals als Akte der Grenzziehung zu verstehen. Fächert man die im Rahmen der Untersuchung entstandenen Typen – Ausgleichen, (real oder mental) Aussteigen, Widerstand leisten und Verändern (siehe dazu Haubl in diesem Band) – auf, lässt sich dies anhand konkreter Praktiken illustrieren. Für viele der Befragten beginnt gelungene Selbstfürsorge bei (ehrlicher) (Selbst-) Reflexion. Raum und Zeit, befreit von der Bindung an das ökonomische Postulat der Produktivität, sind demnach die Vorbedingungen dafür, um im Arbeitsalltag ein Bewusstsein für sich entwickeln zu können. Auch das Sich-Mitteilen, die Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, wird oft als Teil dieses Prozesses gesehen, dessen vorläufiger Zielpunkt die Frage darstellt: Bin ich noch richtig hier? „[E]ine Auszeit hat immer eine Chance, was in Bewegung zu setzen, insoweit halte ich viel von Auszeiten, Unterbrecher […], um zu gucken, will ich das so, warum will ich das so, was hat das für einen Preis, was habe ich da für eine Erfahrung mit mir gemacht, bin ich mir da fremd, bin ich mir da nah.“ (F 2) Sich über Grenzen bewusst zu werden, ist das eine – sie zu setzten und notfalls zu verteidigen, das andere. Praktische und emotionale Abgrenzung gehen hierbei Hand in Hand. Während feste Nichtarbeitszeiten und Smartphone-Disziplin der Entgrenzung entgegenwirken sollen, plädieren einige der Befragten für strikte Professionalität auf der Arbeit – etwa Siezen statt Duzen –, damit emotionalen Verwicklungen nicht Vorschub geleistet wird. Allerdings: als Patentrezept wird Nüchternheit nicht angepriesen (was auch dem Verständnis für die spezifische Lage der Beschäftigten in den helfenden Berufen geschuldet sein mag). „Wann schalte ich meine E-Mails ab, wann gehe ich nicht mehr ans Handy, ist Wochenende Wochenende, habe ich wirklich eine ganze Woche frei oder gibt es bestimmte Leute, die mich immer anrufen dürfen.“ (F 10) „Und da hatte ich mal überlegt, was macht die [Grenzen] eigentlich aus. Und da, denke ich, wenn man […] Wenn es gelingt, Dinge nicht so persönlich zu nehmen, also einen souveränen Umgang zu haben. […] Also so ein Stück Abwehrkräfte, die in Richtung gehen, ich weiß eigentlich, es liegt nicht an mir. Das schützt natürlich nur begrenzt, es schützt nur begrenzt, aber es hat so ein bisschen was, na ja, die Karawane zieht auch schon mal weiter.“ (F 14)

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Ein besonderes Anliegen vieler Interviewpartner/innen ist das Thema Passivität, überspitzt gesagt: Opferhaltung. Die Sicht auf verbliebene Handlungsmöglichkeiten freizulegen und Chancen der Gestaltung aufzuzeigen, ist hier der bevorzugte Weg, Selbstfürsorge zu unterstützen. „Genau, entgegen zu stellen und Grenzen aufzuzeigen. […] Es sitzt einem ja gegenüber beim Jugendamt oder–, also das ist jetzt hier für mich, für mich ist hier Jugendamt und Sozialamt teilweise die Verhandlungspartner, da sitzen ja auch Menschen, die denken, die sitzen ja auch nicht nur (lacht) da zum Quälen der anderen. […] Es ist nicht immer gemütlich, wenn man das anspricht.” (F 5) Grenzen setzen im progressiven Sinne aber erfordert, dem Aufwand entsprechend, Kraft. Die Befragten sind sich deshalb weitestgehend einig, dass begrenzte Räume auch als Kraftquellen genutzt werden sollten. „Selbstfürsorge ist, einen Ausgleich zu schaffen, also wirklich keine Arbeit möglichst mit nach Hause zu nehmen, aktive Freizeitgestaltung zu machen, wie auch immer die aussieht.“ (F 3) „Weil da manchmal–, also wenn Sie sagen ‚Schutz – ist eine gute Partnerschaft’, ein Schutz, dass jemand nicht untergeht in der Arbeitswelt, oder, ja, also eine gute Bindung in soziale Systeme, Gemeinschaften, auf jeden Fall.“ (F 6) Im Zweifel – und deshalb nicht unbedacht – wird die Option genannt, die absolute Arbeitszeit zu reduzieren. Allerdings wissen die Supervisor/innen hier eine Reihe praktischer Hindernisse zu nennen. Wenn etwa die individuelle Finanzlage es unrealistisch erscheinen lässt, Arbeitgeberrechte daran hindern oder die Tätigkeit hohen persönlichen Stellenwert besitzt, erscheint weniger Arbeit oft eher als Problem denn als Lösung. „Die hatten sich auf der persönlichen Ebene Teilzeit organisiert. […] Und das finde ich hochinteressant. Und das scheint für das System Schule ein Thema zu sein. Da sie das so machen. Ich mein, im öffentlichen Dienst, die wollen ja oft, aber dann dürfen sie es ja nicht. […] Auch diese Möglichkeit, das zu steuern, weniger zu arbeiten und ich hab nicht genug zum Leben wird auch nichts. Irgendwie satt werden und ein paar Dinge haben, muss ich.“ (C 5) „Ich finde Ihre Formulierung ‚gebrochen’ genau zutreffend, manche brechen da richtig dran und erleben es auch so, da bricht das richtig durch, jahrelang, und die werden dann zum Teil richtig krank, sind richtig überanstrengt. Manche lösen es so, die gehen–, wenn sie sich es leisten können, reduzieren sie ihre Arbeitszeit.“ (F 14) Das skizzierte professionelle Handeln der Supervisor/innen steckt die zu vermutenden Grenzen jenes Feldes ab, in dem ihre persönliche Praxis stattfindet. Eine Gleichsetzung von professionellem und privatem Handeln empfiehlt sich dagegen nicht, da der spezifische Beschäftigungsstatus vieler Professionsvertreter/innen die Stellschrauben von möglicher Selbstfürsorge korrigiert.

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Praxis der Selbstfürsorge von Supervisor/innen Praktizierte Selbstfürsorge ist das Ergebnis bedingender Faktoren. Einer von ihnen ist der Beschäftigungsstatus. Mehrheitlich sind die Befragten freiberuflich und/oder selbständig als Supervisor/in tätig, bereits durch dieses Kriterium verändert sich das Set möglicher Praktiken erheblich: die beiden Seiten der Freiheit – mehr Möglichkeiten, aber auch mehr Unsicherheit – sind hierbei die groben Richtungsvorgaben. So sind etwa Strategien passiven Widerstandes oder mentalen Aussteigens ohne organisationale Einbettung nicht zu denken, gleiches gilt für das Auffangbecken Teamsolidarität oder den Ruf nach Fürsorge durch den Arbeitgeber. Selbstfürsorge für viele Supervisor/innen bedeutet also, in Typen gesprochen, Widerstand leisten und verändern. Stärker noch als bei ihren Supervisand/innen überschneiden sich für sie Berufszufriedenheit und Selbstfürsorge, denn ihr Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen ist größer, und weiter reichend ist im Zweifel auch die Betroffenheit von ebendiesen. Zufriedenheit in der Arbeit bedeutet für die Befragten Selbstwirksamkeit im Verbund mit Eigenständigkeit, also: gestalten, mitdenken, Probleme lösen; wahrnehmbare Veränderungen initiieren und rückgemeldet bekommen. „Naja, also ich bin jemand der, glaub ich, ich habe eigene Vorstellungen, was ich machen will, und hab Ideen sehr viel und insofern ist für mich zum Beispiel wichtig, dass ich auch das machen kann, was ich mir vorstelle zu dem Thema, zu dem ich da arbeiten muss. Und das finde ich gut, wenn ich da meine Sachen umsetzen kann, dafür braucht man aber Zeit. Ich bin ja in ner Verwaltung tätig und das finde ich anstrengend. […] Das, was von oben kommt, muss immer jetzt sofort und gleich stattfinden, und da fragt keiner irgendwie, ob es Sinn macht oder nicht.“ (C 3) „Also, ich finde es dann gut, wenn sich eine Lösungsidee entwickelt für das Problem, was hier anfangs als Problem erschien, dass dann eine Lösung erscheint, etwas als Lösung erscheint. […] Auch sehr nett ist, wenn Leute sagen dann, ‚Ja wir haben das letztens probiert und es hat geholfen‘.“ (C 2) Eine zentrale Strategie, um den individuellen Anspruch an die Arbeit aufrecht erhalten zu können, ist es, Aufträge abzulehnen, wenn sie wenig Erfolg versprechend erscheinen. Das ist weniger trivial, als es den Anschein hat, denn Reflexionsfähigkeit und Selbstbewusstheit sind hier nur die Grundanforderungen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, den Kompromiss zu finden zwischen emotionaler Belastbarkeit und finanzieller Notwendigkeit, weshalb Fragen der Selbstfürsorge für Selbständige zu Existenzfragen geraten können. Dieser Konflikt wird seltener akut für organisationsinterne Supervisor/innen, denen sich im Gegenzug die Auswahlmöglichkeit bestimmter Fälle gar nicht erst bietet. „Also dieses souveräne Umgehen ist für mich auch wirklich, Aufträge die an einen herangetragen werden, ablehnen zu können. Also zu sagen: ‚Das krieg ich einfach nicht mehr unter’ oder ‚das passt jetzt nicht’, ohne gleichzeitig sich dafür zu entschuldigen, oder dann praktisch zu sagen ‚Aber später kannst du oder dafür mach ich dann das und das‘.“ (C 9)

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„In einer Einrichtung, da habe ich dann die Arbeit auch beendet, war das dann so, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation der neue Heimleiter entschieden hat, zwei stationäre Heimgruppen jeweils nur noch von einer Person leiten zu lassen, die nicht freigestellt ist, allenfalls von der Nachtschicht, da haben sie dann Kompromisse zugestanden. Da habe ich aufgehört, weil ich weiß genau, was da kommt.“ (F 14) „Also extern zu arbeiten, und da habe ich auch viel gemacht, ist was ganz anderes. Man macht es, so habe ich das erlebt, man geht rein und ist auch gut vorbereitet und macht vielleicht seine Aufzeichnungen und dann kann ich das abschließen für vier Wochen und seh‘ nichts mehr. Und ich werde nicht mehr berührt von den Themen, mir begegnet niemand mehr. Und hier ist man immer drin im System. Immer konfrontiert zu sein, das ist schon heftig.“ (C 8) Dauerhaft belastenden Arbeitsbedingungen begegnen die Supervisor/innen – parallel zu ihren Empfehlungen –, indem sie sich emotional abgrenzen. Auch hier gilt, dass praktische Distanz mentale Unabhängigkeit erleichtert, und weiterhin, dass dieses Modell keineswegs nur Supervisor/innen vorbehalten ist. Die nachfolgend zitierte Befragte ist nicht nur Supervisorin, sondern auch Leitungskraft: „Ja. Ich rede auch zu Hause nicht viel über meine Arbeit. Ich bin auch ein Freund davon, einen halbstündigen Weg zur Arbeit zu haben. […] Wenn ich da hinfahre, dann tauche ich ein, und wenn ich da wegfahre, dann bin ich auch weg. Und ich hatte eine große Auseinandersetzung in meinem Betrieb, dass ich ein Diensthandy, was ich habe, dass ich das nach Feierabend an haben soll. Das wäre für mich ein Grund gewesen, da wegzugehen.“ (F 5) „Selbstfürsorge ist für mich auch, mich abgrenzen zu können, das heißt, wenn ich abends den Arbeitsplatz verlasse, kann ich die Themen dort lassen oder muss ich die mitnehmen, und habe ich die dann auch in der privaten Zeit zu Hause in der Familie. Gibt es die Bushaltestelle, wo ich meinen Eimer mit Problemen vom Arbeitsplatz abstelle und am nächsten Morgen dann wieder einsammele (lacht), oder gibt es die nicht.“ (F 3) Praktische Abgrenzung fällt leichter, wenn das individuelle Lebens- bzw. Arbeitsmodell an die herrschende Dynamik angepasst ist. Berufliche Flexibilität kann als Selbstfürsorge-Strategie mit langfristigem Kalkül begriffen werden, die jedoch ein hohes Maß an (Selbst-)Organisations- und Planungskompetenz erfordert. In den Interviews zeichnen sich kreative Arrangements als Erfolg versprechend ab, deren Schöpfer bedarfsorientiert in beide Richtungen arbeiten müssen, sich und den Markt gleichermaßen im Blick behaltend. Im erweiterten Kontext sind die Anforderungen einer spätmodernen Ökonomie auch Thema interprofessionellen Austausches. „Ich entscheide mich nur, am Wochenende was anzunehmen, wenn es mich richtig neugierig macht, sonst sage ich ab, also, sonst nehme ich diese Aufträge nicht an. […] Ich habe mein festes Einkommen, aber das habe ich mir auch extra so organisiert.“ (F 5) „Also wenn sich Organisationen, Institutionen verändern, verändere ich mich auch. Und ich habe dann selber dann den Aufbruch gewagt und stelle mich sozusagen (lacht) post-

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modern in verschiedenen Bereichen auf. […] Und ich begleite wirklich viele Personen im Umbruch, weil ich kann das einschätzen, weil ich es selbst auch erlebe habe, und gleichzeitig sehe ich da eben halt, dass da Chancen sind für den Einzelnen.“ (F 6) „Also, ich nehme wahr, dass ich jetzt–, ich bin ja auch Ökonomin und muss einfach auch gucken, dass ich auf die Bedarfe–. Ich versuche natürlich, jetzt auch bedarfsorientiert als Beraterin zu reagieren, dass ich mir sage, okay, wenn dieses Thema psychische Erkrankungen und Umgang mit sich selbst – Klammer auf – Stressmanagement als großer Übertitel – Gesundheitsmanagement so ein Kernthema ist, dann muss man halt drauf reagieren, sich selbst qualifizieren und auch Angebote machen.“ (F 13) „Bin regelmäßig auch in kollegialen Zusammenhängen, wo Austausch stattfindet über beruflich belastende Situationen, wo man also da professionell dran arbeitet, sich da zu entlasten.“ (F 8) Selbstfürsorge lässt sich positiv und negativ auf das Feld der Arbeit beziehen. Und während im ersten Falle die Ausgestaltung von Inhalten, Orten, Bedingungen der Arbeit das Ziel der Bemühungen ist, steht im zweiten der Ausgleich bzw. die Stärkung des Lebensweltlichen im Vordergrund, wobei der Begriff des Ausgleichs nicht verbergen sollte, dass beide Bereiche durchaus als gleichberechtigt verstanden werden. Eine insofern ausgewogene Lebensführung kann bei der Schaffung kleiner und größerer Ruheräume beginnen: „Ein früherer Kollege von mir, der–, ich finde, der hatte (lacht)–, zum Beispiel war das–, aber der hat jeden Mittag Mittagsschlaf gemacht. Wir hatten uns das dann alle angewöhnt und unsere Sekretärin im Betrieb wusste, wir sind in Besprechung. Wir hatten alle ein Sofa da drin stehen (lacht), ja.“ (F 4) „Also auf jeden Fall für mich ist immer der Begriff von Insel–, seitdem ich hier bin […] Inseln schaffen am Tag, in der Woche, im Monat, Sachen blocken, also Zeiten blocken und wirklich was anderes tun.“ (F 6) Eine ausgewogene Lebensführung kann außerdem – neben aktiver Freizeitgestaltung – auch alternative Betätigungsfelder umfassen, die fest im individuellen Lebensmodell verankert sind. Allgemein ließe sich das Verständnis der Supervisor/innen vom Leben abseits des Arbeitens als eines beschreiben, das über bloße Zerstreuung hinausgeht und aktive wie meditative Momente umfasst; alles Weitere ist so unterschiedlich wie die befragten Personen selbst. „Selbstfürsorge ist, einen Ausgleich zu schaffen, also wirklich keine Arbeit möglichst mit nach Hause zu nehmen, aktive Freizeitgestaltung zu machen, wie auch immer die aussieht.“ (F 3) „Ich mache auch Sport, aber das eher gequält (lacht), deswegen gehe ich dann manchmal eher dann nach dem Sport, da wo die sich treffen von nach dem Sport, hin. Weil ich also in meiner Freizeit irgendwie nichts–, möglichst wenig nur machen will, worauf ich keine Lust habe.“ (F 5) „[A]lso grade in unserem Beruf nicht dran zu kleben, sondern den Absprung auch zu schaffen, den Absprung, sagen wir mal, in die anderen Dinge, die einem als Person

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wichtig sind, […] da rauszugehen aus den Routinen und, ja, ich kann sagen, sich den Luxus zu leisten, die Rosinen endlich mal herauszupicken, die man noch gerne hätte. […] Und ansonsten mal Projekte zu machen, die auch noch da sind, also bei mir hat das mit Künstlerischem zu tun, also nur noch entfernt mit Supervision.“ (F 7) „Und außerdem nehme ich mir auch regelmäßig Zeit dafür oder nehme mir die Zeit raus, nichts zu tun, einfach ohne Termine vor mich hinzuleben und dann bewusst zu sagen, ich nehme mir jetzt überhaupt nichts vor, weder Sport noch sonst was, und gucke mal, was mir dann alles so in den Kopf kommt, das ist meistens dann auch hoch kreativ.“ (F 8) Die Sphäre der Lebenswelt ist nicht zuletzt auch diejenige von Familie und Partnerschaft. Für ihre Selbstfürsorge sind die Nächsten der Supervisor/innen dabei nicht nur im klassischen Sinne – als Kraftquelle und Rückhalt – wichtig, denn sie können ganz praktisch zu Abgrenzung und Ausgleich verhelfen, was freilich auch umgekehrt funktioniert: „Also, da bin ich auch eher so ne Vertreterin und versuch ihn [den Ehepartner]da auch in die Richtung zu unterstützen, regelrecht da auch Zeit für einzubauen und diese Termine eben auch einzuplanen, die auch sozusagen heilig zu sprechen, weil sonst ist das ja ganz schwer möglich.“ (C 1) „Das ist bei meiner Partnerin auch so, die würde auch-, also gut, doch, die ist manchmal noch verführt, dann eine Besprechung anzusetzen, und dann bin ich tatsächlich auch ein Korrektiv.“ (F 1) Schließlich: wie schwer auch immer die „Heiligsprechung“ arbeitsfreier Räume fallen mag, weil berufliche Dringlichkeiten den eigenen Einsatz verlangen, eine Instanz zumindest gibt es –, die wichtig und unwichtig zweifelsfrei definiert und hierbei keinen anderen Maßstab duldet als den eigenen: „Ich habe es aufgegeben zum Beispiel zu sagen ‚Ich nehme mir Arbeit für nach 22 Uhr mit nach Hause’, weil ich da schon zu häufig frustriert war, dass ich es nicht schaffe, so. Das mache ich nicht mehr. Das nehme ich mir nicht mehr vor. […] Da denke ich […] helfen die Kinder, zumindest im jüngeren Alter, ähm, die Entgrenzung einzudämmen, weil die (klopft auf den Tisch) ja auch faktisch da sind, ne und sich nicht wegschieben lassen oder die ziehen am Ärmel oder was.“ (C 14)

Fazit In einer dynamischen Umwelt unterliegen Grenzziehungen einem ständigen Wandel. Dies gilt auch für die Arbeitswelt und die hier gültigen Grenzen professioneller Arbeit, was zweierlei meint, die potenzielle Gefährdung fachlicher Standards einerseits und die Überschneidung des Fachlichen mit dem Persönlichen andererseits. Die Idee der Selbstfürsorge ist von diesem zweiten Aspekt nicht abzulösen. Das Berufsleben erfordert einen täglichen Balanceakt, und die arbeitsweltlichen Rahmenbedingungen sind das dynamische Gefüge, in dem diese Vermittlung zu vollbringen ist. In der Supervision wird dies

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als Leistung der Supervisand/innen sichtbar. Dass auch für Supervisor/innen von einer Leistung zu sprechen ist, daraus machten die Befragten selbst keinen Hehl. Ihre Bemühungen zugunsten psychischer Gesunderhaltung in und außerhalb der Arbeitswelt stehen im Zeichen des Bewusstseins für das spannungsreiche Verhältnis von Professionalität und Privatidentität, und ihre Strategien unterscheiden sich nicht fundamental von den Empfehlungen, die sie an ihre Supervisand/innen weitergeben. Die Selbstfürsorge ihrer Supervisand/innen messen die Befragten an denselben Maßstäben, die sie auch an sich selbst anlegen.

Zum Weiterlesen Lessenich, S. (2010): Arbeit, Beschäftigungsverhältnisse, Sozialstaat. In: Engelhardt, A., Kajetzke, L. (Hrsg.): Handbuch Wissensgesellschaft (S. 207–218). Bielefeld: transcript. Mittendorfer, K. (1997): Persönlichkeitsstruktur und die zeitliche Irregularisierung der Arbeitswelt: auf dem Weg zu angepassten Individuen mit Autonomieillusion. In: Zilian, H. G., Flecker, J. (Hrsg.): Flexibilisierung – Problem oder Lösung? (S. 223–240). Berlin: edition sigma. Nadolny, S. (1983): Die Entdeckung der Langsamkeit. München: Piper. Schmidt-Lellek, C. (2007): Ein heuristisches Modell zur Work-Life-Balance: Vier Dimensionen des Tätigseins. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 1, S. 29–40.

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Hintergrunddiskurs

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Subjektivierte Arbeit Ingo Matuschek

Im Folgenden werden jüngere arbeitspolitische wie gesellschaftliche Entwicklungen als Wandel der Arbeit im Sinne eines strukturierten Überblicks dargestellt1. Dabei orientiert sich das Vorgehen an der aktuellen wissenschaftlichen Debatte zur Subjektivierung von Arbeit, in der für den vorliegenden Band relevante Themen beleuchtet werden: • Wertedynamik, Erwerbsbiografie, berufliche Bildung und Arbeitsmarkt werden als Aspekte von Diskontinuitäten in der Arbeitswelt beschrieben und resümiert. • Entwicklungen in der Beziehung von Berufs- und Privatsphäre sowie in den Geschlechterverhältnissen werden als Ausdruck von Dysbalancen vorgestellt. • Danach werden Prozesse der Informatisierung und post-tayloristischen Formen der betrieblichen Arbeitsorganisation aufgegriffen und als technisch-organisatorisch induzierte Subjektivierung der Arbeit bilanziert. • Die Arbeitswelt lässt sich entlang dieser analytischen Schneidung durchdringen, im Arbeitsalltag überschneiden sich die einzelnen Aspekte – diese Unschärfe wird auch bei der Darstellung notwendig deutlich. Insgesamt werden steigende Anforderungen an die Subjekte resümiert.

(Dis-)Kontinuitäten: Subjektivierte Arbeit als Struktur- und Identitätsbrüche Wandel der Arbeitswerte im Zeichen der Subjektivierung von Arbeit Anfang des Jahrtausends war die Zahl jener Beschäftigten, die angaben, dass ihnen Arbeit und Freizeit gleichermaßen wichtig seien, erstmals seit den siebziger Jahren wieder höher als die Zahl der eher Freizeitorientierten – für manche ein Hinweis auf den Fortfall der demonstrativen Ablehnung des Leistungsgedankens früherer Jahre. Auch wenn dies generell keine widersprüchlichen Aspekte sind, sondern von einer Wertesynthese auszugehen ist: Der Leistungsgedanke ist tief verankert. 38 Prozent der Bundesbürger identifizieren sich mit der Leistungsgesellschaft, vor allem die mittlere Generation der 30- bis 49-Jährigen (40 Prozent) – auch unabhängig vom Begriff der Arbeitsgesellschaft, den nur noch eine Minderheit von 16 Prozent für tragfähig hält (SfZ 2009). Unter diesem Dach lässt sich im Hinblick auf berufliche Orientierungen im langfristigen Trend eine geringere Bewertung extrinsischer Aspekte (Geld, Aufstieg) bei

1 Dem vorliegenden Text liegt eine längere Abhandlung zugrunde, die die leistungspolitische Situation in unterschiedlichen Branchen fokussiert (Matuschek 2010).

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einer Konstanz intrinsischer Aspekte, wie dem Streben nach einer interessanten Arbeit, feststellen – quer durch die Sozialstruktur (Braun/Borg 2004). Markante Geschlechterunterschiede sind aktuell nur noch im Hinblick auf altruistische Arbeitswerte zu beobachten; beide Geschlechter werten intrinsische Aspekte (interessante und selbstbestimmte Tätigkeit) höher als Verdienstmöglichkeiten und Aufstiegschancen. Unter Jüngeren nehmen u. a. leistungsbezogene Wertorientierungen sowie Anpassungsbereitschaft zu und es wird eine am Pragmatismus ausgerichtete Wertperspektive deutlich: Die Jugendlichen – etwas stärker als die übrige Bevölkerung – fokussieren weniger darauf, gesellschaftliche Zielvorstellungen zu formulieren und sind eher an der Bewältigung konkreter Probleme interessiert. Eine interessante Wendung hat die Wertedebatte im Bereich der Arbeitswelt mit den jüngsten Krisen genommen: Gelegentlich wird ein neuer Wertekodex eingefordert und die soziale Verantwortung von Unternehmen angemahnt. Damit geraten insbesondere Führungskräfte ins Visier und wird das Thema in Betrieben virulent – häufig als ein taktisch bzw. strategisch angelegtes „doing image“ (Imbusch/ Rucht 2007). Manager, deren Handlungsberechtigung im sozial verankerten (gleichwohl variablen) Gerechtigkeitsentwurf liegt, sind so zwischen betrieblicher Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung quasi gefangen – mit Folgen für die Führungsarbeit. Subjektivierung der Erwerbsbiografie Die Folgen wirtschaftlich instabiler Zeiten sind aktuell greifbarer geworden; dies erzeugt Unsicherheit weit bis in die Mitte der Gesellschaft – das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme bröckelt und legt private Absicherungen nahe – und setzt früh ein: Im Übergang von der Schule in den Beruf differenzieren sich die verschlungene Pfade in das Erwerbsleben aus. Individuellen Stärken und Eigenschaften als Veränderungskompetenz kommt demzufolge eine hohe Bedeutung zu: Selbstbewusstes Engagement, Neugier, sozial-integratives und kommunikatives Verhalten, Reflexivität und Erfahrung zählen dazu. Gefragt sind auch eine hohe Mobilität und die Bereitschaft zum Durchlaufen von Warteschleifen: z. B. befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Teilzeitbeschäftigung, Minijobs, Arbeit zum Niedriglohn und Solo-Selbständigkeit. Solche Formen breiten sich aus: die „Generation Praktikum“ ist hiefür ein treffender Ausdruck. Praktika sind dann hilfreich, wenn in ihnen die berufliche Kompetenz gestärkt wird und Praktikanten nicht nur als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Praktikanten arbeiten hauptsächlich in Kleinbetrieben der Branchen Handel, Reparatur, Gesundheit/Sozialwesen und in den unternehmensnahen Dienstleistungen. Mehrfache oder Kettenpraktika nach beruflicher Ausbildung haben zuletzt vor allem junge Beschäftigte aus Ostdeutschland, Frauen sowie Personen mit betrieblicher Ausbildung absolviert, für Hochschulabsolventen sind sie zum Teil obligatorisch. Auch 30- bis 34-Jährige mit Ausbildung berichten zunehmend von mehrfachen Praktika mit langer Gesamtdauer (vgl. Fuchs/Ebert 2008). Im weiteren Verlauf der Erwerbsbiografie scheint sich mit der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse u. a. die perforierte Langzeitarbeitslosigkeit (durch kurze

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Zeiten der Beschäftigung unterbrochene Erwerbslosigkeit) zu verfestigen. Es gibt auch gegenläufige Entwicklungen: Im Alter nehmen sowohl Erwerbstätigkeit wie Arbeitslosigkeit zu (Brussig et al. 2008), es wird insgesamt länger gearbeitet, aber auch vorzeitig entlassen. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und eine alternde Beschäftigtenstruktur rahmen erwerbsbiografisch relevante Entwicklungen der Erwerbsarbeit. Betriebliche Konzepte berufsbegleitender Weiterbildung oder der Personalentwicklungsplanung sind als nachhaltige Instrumente altersgerechter betrieblicher Personalpolitik nur vereinzelt verankert. Resultat: Kaum noch zwanzig Prozent erreichen das Renteneintrittsalter. Qualifikation und Geschlecht besitzen dafür eine hohe Bedeutung; verschiedentlich wird gefordert, mit einer Politik der Gleichstellung und der Entwicklung einer Kultur des lebenslangen Lernens eine stärkere Beteiligung Älterer am Erwerbsleben zu ermöglichen. Partiell wird dies verknüpft mit einer auf das „innovative Verhaltensrisiko des Einzelnen“ (Schmid 2008) zielenden Umstrukturierung der für die Arbeitslosenversicherung aufgewendeten Mittel in Richtung beruflicher Weiterbildung, um diskontinuierliche Berufsverläufe zu verhindern bzw. zu überbrücken. Unter Managern löst die Warenförmigkeit der eigenen Arbeitskraft entweder ein Gefühl des Bedrohtseins aus oder forciert Wechselabsichten, die in innerbetrieblichen Verhandlungen als taktisches Mittel eingesetzt werden. Die Erosion lebenslanger Bindungen eröffnet hier neue Positionierungen. Doch selbst der Ausstieg aus dem Erwerbsleben erfährt eine Destrukturierung, wie trotz des aufgeschobenen generellen Renteneintritts anhand der verschiedenen Modelle von Altersteilzeit, Langzeitkonten etc. deutlich wird. Das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wird zunehmend ein von Betrieben und Arbeitenden gemeinsam zu organisierender Prozess. Berufsbildungspolitische Konsequenzen subjektivierter Arbeit Mit diesen Entwicklungen sind Konsequenzen für das berufliche Bildungssystem verbunden: Neue Anforderungen an die Bildungsinstanzen entstehen und der Stellenwert von Bildung steigt an. Im Zuge veränderter Wertesynthese (s. o.) werden entsprechende Ansprüche an berufliche Bildung gestellt. Steigende fachliche Anforderungen bedingen metafachliche Kompetenzen: Gruppenarbeit z. B. erfordert Know-how über eigenverantwortliche Zeitorganisation, das häufig erst in Weiterbildungen erworben werden kann. Auf Meisterebene sind damit Planungskompetenz und Kommunikationskompetenz erforderlich (z. B. Schumann 2003). Diese wie auch Kooperationsfähigkeit sind ebenso selbstverständliche Qualifikationsmerkmale wie das Vermögen, Informationen zu beschaffen und zu bearbeiten. Der Aufbau von Erfahrungswissen benötigt gleiche Zeitvolumina wie die grundständige Ausbildung selbst (Bauer et al. 2002). Berufliche Gestaltungskompetenz verlangt nach Konzeptwissen in den Abstufungen von nomineller, funktionaler, konzeptionell-prozessualer sowie ganzheitlicher Handlungskompetenz (Grollmann/Haasler 2009) – auch in industriellen Bereichen. Umfassende technische und ökonomische Verantwortung verlangt nach entsprechenden Kompetenzen, ebenso wird die Fähigkeit zur Netzwerkbildung wichtiger. Mit

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wachsender (informationstechnischer) Komplexität gewinnt das Interagieren von Maschine und Mensch an Gewicht, was eine qualitativ veränderte Wissensverarbeitung erfordert. Gewachsene Anforderungen resultieren in „mehr Druck durch mehr Freiheit“ (vgl. Glißmann/Peters 2001) und einem „Arbeiten ohne Ende“ (vgl. Pickshaus u. a. 2001). Das bereitet Probleme, wenn negative Folgen autonomen Arbeitens nicht reflektiert werden. Das Verhältnis von Autonomie und Kontrolle ist gegebenenfalls individuell auszuhandeln, wie auch das Verhältnis von Betrieb und Arbeitenden unter Einbezug der habitualisierten Lebensführung neu zu justieren ist (vgl. Voß 2001a): Die Alltagszeit insgesamt ist selbst zu strukturieren (Stichwort „Vertrauensarbeitszeit“). Erworbene (meta-)fachliche Kompetenzen bedürfen beständiger Aktualisierungen. Hinzu kommt, dass basale Persönlichkeitseigenschaften eine gesteigerte funktionale Bedeutung für den Arbeitsprozess innehaben.2 Die umfassende Restrukturierung der Lebensführung und eine dazu notwendige, in der Primärsozialisation auszubildende Planungskompetenz werden bedeutsamer – entsprechende Konzepte betonen die Bedeutung frühzeitig eingeübten selbstgesteuerten Lernens und der Selbstlernkompetenzen (vgl. Schlutz 2002). Selbst unter vergleichsweise standardisierten Arbeitsbedingungen stellen sich wachsende und ambivalente Anforderungen an die Kompetenz der Arbeitenden ein und verlangen nach hinreichenden Investitionen in die Weiterbildung. Insofern ist eine lernende Gesellschaft gefordert – allerdings wird angesichts sozialstruktureller Differenzierungslinien von Bildung (Bolder/Hendrich 2002) eine Segregation der Gesellschaft in Weiterbildungsteilnehmer und -nichtteilnehmer erwartet und die sichtbare Forcierung der Weiterbildung für gefährdete Gruppen gefordert. Diese stehen einem strukturell angelegten Überforderungssyndrom und dem Risiko des Scheiterns an diesen Ansprüchen gegenüber. Dewe (1999) fordert daher einen „reflexiven, kritischen Qualifikationsbegriff “, der das Subjekt in seinen gesellschaftlichen Bezügen und Wirkungsgefügen explizit thematisiert und der Vorstellung einer allgemeinen und umfassenden Bildung folgt. Bildung müsse die Menschen befähigen, sich gegen Vereinnahmung und Funktionalisierung behaupten zu können. Dazu seien Konzepte geeignet, die die Kompetenzentwicklung in den Mittelpunkt stellen (Stichwort „Kompetenzbiographie“ vgl. Lo Piccolo 2002; s. a. Hoff et al. 2002). Bei geeigneten Zugängen zur beruflichen Weiterbildung kann berufliches Fortkommen selbst organisiert verlaufen. Im Spannungsfeld von subjektiver Entfaltung im Beruf bzw. Zurichtung und Vereinnahmung des Subjekts in der Arbeit werden für eine nachhaltige berufliche Bildung notwendige Ressourcen eingefordert (Greeb/Schüßler 2007); gerade für Jugendliche spielt schon die vor der Ausbildung liegende Phase der beruflichen Identitätsbildung eine große Rolle. Festzuhalten ist, dass Subjektivierung von Arbeit

2 Zur Debatte berufsbezogener Bildung als Aufklärung bzw. Qualifikation vgl. Egbringhoff et al. (2003).

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nicht dauerhaft mit einem die Subjekte tendenziell „objektivierenden“ Bildungssystem begleitet werden kann, ohne Dysfunktionalitäten hervorzurufen. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Prekarisierung als Subjektivierungserfahrung Eine zentrale gesellschaftliche Rahmenbedingung der Erwerbsarbeit wie des gesamten Lebenszusammenhangs ist der fortschreitende Prozess der „Prekarisierung“ der materiellen Lebensbedingungen. Prekarität wird im engeren Sinne vor allem durch den Wegfall existenzsichernder Löhne und im Weiteren durch biographische Unsicherheit über die dauerhafte Fähigkeit zur Sicherung der eigenen Existenz produziert (grundlegend Castel 2000; für Deutschland vgl. u. a. Dörre et al. 20043; zur „Destabilisierung der Lebenslagen“: Vester et al. 2001). Prekarisierung besitzt über die direkte Wirkung auf unmittelbar davon Betroffene hinaus gesellschaftliche Strahlkraft: Ein nicht geringer Anteil der Arbeitenden fühlt sich und ist auch faktisch von Prekarität bedroht. Als „prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ gelten all jene „atypischen“ Arbeitsvertragsformen, die arbeitsvertragliche und sozialpolitische Bedingungen in für die Beschäftigten nachteiliger Weise festlegen, ohne dass damit notwendigerweise schon eine Gefährdung der materiellen Existenz verbunden ist (vgl. Keller/Seifert 2007). Unter dem Stichwort der „neuen Selbständigkeit“ von „Solo-Selbständigen“ wird über abhängige Beschäftigung hinaus auch materiell wie biografisch prekäre freiberufliche bzw. selbständige Erwerbsarbeit (vgl. Betzelt 2006, Manske 2007) fokussiert. Prekarität wird als allgemeine Bedrohung zu einer gesellschaftlich akzeptierten Normalität und zum Bezugspunkt individueller Weltsichten zugleich. Langanhaltende Massenarbeitslosigkeit, Veränderungen im Tarif- und Beschäftigungssystem sowie ein Umbau sozialstaatlicher Eckpfeiler sind ursächlich. Insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit schließt Betroffene aus dem Arbeitsmarkt aus und überstellt sie dem System der Wohlfahrt. Wiederholte Phasen der Erwerbslosigkeit perforieren Erwerbsbiographien, häufig mit der Folge des Absinkens der erzielbaren Einkommen bei Wiedereinstellung. Seit den 1990er Jahren ist der Anstieg von nicht dem Normalarbeitsverhältnis (als unbefristete, tariflich abgesicherte Vollzeitbeschäftigung) entsprechenden Beschäftigungsformen (v. a. befristete Arbeitsverträge, Zeit- und Leiharbeit, Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung) und die Entstehung eines Niedriglohnsektors zu beobachten. Von der ehemaligen Dominanz interner Arbeitsmärkte wird abgewichen und die Etablierung instabiler Koexistenz von internen und externen Arbeitsmärkten, die zu einer „dynamischen Segmentation“ führt (Köhler/Loudovici 2007), nimmt zu.

3 Der erwerbsbiografisch noch sicher erscheinenden „Zone der Inklusion“ steht die „Zone der Exklusion“ gegenüber, die dauerhaft aus dem Erwerbssystem Ausgeschlossene (Dauerarbeitslose/ Sozialhilfeempfänger) umfasst; dazwischen befindet sich die „Zone der Unsicherheit“ mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, die materielle Absicherung durch Erwerbsarbeit (noch) ermöglicht.

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Politisch wird trotz dieser Entwicklungen am Leitbild der primären Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit festgehalten; trotz objektiv defizitärer Integrationspotenziale des Beschäftigungssystems wird jedoch der Einzelne verantwortlich gemacht. Betroffenen tritt dies als Leitbild des „Förderns und Forderns“ entgegen. Der Niedriglohnbereich expandiert: 6,47 Millionen, d. h., 22,2 % aller Beschäftigten erhielten im Jahr 2006 Niedriglöhne (OECD-Standarddefinition: weniger als zwei Dritteln des Medianlohns); damit ist der Niedriglohnanteil seit 1995 (15 % absolut) um gut 43 % gestiegen (Kalina/Weinkopf 2008; Bosch/Weinkopf 2007). Hoffnungen auf niedrige Eintrittsschwellen in den regulären Arbeitsmarkt stehen insbesondere Verweise auf die besondere Gefährdung von Berufseinsteigern gegenüber (Gießelmann 2009). Prekäre Beschäftigungsmuster werden zu einer empirischen Normalität, die dem Leitbild der Vollbeschäftigung den Rang abläuft und auch für viele der bislang Abgesicherten zur mehr oder weniger konkreten Bedrohung. Erwerbsbiografische Unsicherheit ruft zudem starke physische und psychische Belastungen hervor (Magnin 2007). Das gilt gerade für Alleinunternehmer der Kreativwirtschaft, deren Selbständigkeit oft der Arbeitsmarktlage geschuldet ist (Manske 2007). Solche Bedrohungsgefühle werden durch die sozialpolitische Neuorientierung an ein verändertes Sozialstaatsverständnis befördert. Unter dem Motto „Sozial ist, was Arbeit schafft“ (Manske/Heil 2007) wurden seit 2003 geringfügige Beschäftigungen mit dem Ziel neu geregelt, neben vordringlicher Absicherung, Hilfeempfänger auf den Arbeitsmarkt zu positionieren (Keilig 2009; für eine erste Bilanzierung der SGB-II-Maßnahmen: Koch et al. 2009). Der als „aktivierender Wohlfahrtsstaat“ antretende Paradigmenwechsel bewirkt eine (Re-)Kommodifizierung von Arbeitskraft, indem sowohl der Arbeitszwang verstärkt als auch eine Arbeitsförderung angestrebt wird. Dabei geraten zunehmend auch Ungleichheiten innerhalb der Prekarisierten in den Blick4: Alleinerziehende (Steffen 2009; Lietzmann 2009; Kull/Riedmüller 2007), Jugendliche (Adamy 2008) und Frauen (Betzelt 2008) werden als relative Verlierer resümiert. Die Änderungen des Renteneintrittsalters werden in seinen Auswirkungen kontrovers diskutiert: Die einen erwarten ein verstärktes Risiko der Altersarmut (DPWV et al. 2009), die anderen sehen in der neuen Rentenformel intergenerationale Gerechtigkeitsaspekte verwirklicht und prognostizieren eine verringerte Altersarmut (Breyer 2009). Zwischenresümee: Unsicherheiten im sequenzialisierten Arbeitsleben Die Erwerbsarbeit bleibt zentraler Integrationsmodus der Gesellschaft, daran haben weder der gesellschaftliche Wertewandel, gestiegene Belastungen noch die Erosion stabiler Beschäftigungsverhältnisse etwas geändert. Dennoch zeitigt der Wandel der

4 Unter der Bezeichnung „Arbeitsmarktbürgerinnen“ wird die Verquickung von Erwerbsbeteiligung und dem System sozialer Sicherung diskutiert und Ungleichheiten der aktuellen arbeitsmarkt-, sozial- und familienpolitischen Entscheidungen aufgezeigt.

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Arbeit sowie der konnotierten arbeits- und sozialpolitischen Aktionsfelder Folgen für die Integrationskraft von Arbeit wie für die einzelnen Arbeitenden: Im Hinblick auf Wertvorstellungen gegenüber der Arbeit formulieren die Subjekte in einer Arbeit und Leben umspannenden Wertesynthese inhaltliche Ansprüche an die Arbeit. Erwerbsbiografien sind unsicherer geworden und Prekarisierungsgefahren rücken auch an jene heran, die sich bisher gesichert fühlten. Begleitet wird dies von einem gewandelten Sozialstaatsverständnis, das Erwerbslosigkeit individualisiert (vgl. Lessenich 2008). Damit ist der Grundstein für einen neuen gesellschaftlichen Leistungsbegriff gelegt, der bereits in die betriebliche Wirklichkeit hineinwirkt: Leistungsverdichtung und ambivalente Autonomieerfahrungen sind die Folge. Allein vom Erfolg der Arbeit (sprich: Verkauf eines Produkts) her gedacht, beinhaltet dieser neue Leistungsbegriff weniger solidarische Momente als das bisherige aufwandbezogene Ideal, verlangt vermehrte Bereitschaft zu Arbeitssuche und -sicherung und etabliert so die entsicherten und häufig temporalisierten Beschäftigungsverhältnisse als den Normalfall. Dazu zählen sozialversicherungsfreie Jobs oder Praktika ebenso wie z. B. die Leiharbeit, die zwar Sozialversicherung inkludiert, aber nur bedingt stabile Arbeitsverhältnisse begründet. Das Arbeitsleben wird auf diese Weise inhaltlich und/oder formal gestückelt – also sequenzialisiert5 – und mündet zudem für immer mehr Menschen in einen auf Dauer gestellten Wechsel von Erwerbsarbeitszeiten und Phasen der Erwerbslosigkeit: ein vom marktförmigen Erfolg abhängiges Leben „just-in-sequence“. Darauf müssen Subjekte wiederum mit einer erhöhten Eigenstrukturierung reagieren, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sichern oder erhöhen. Noch selten gelingt es, Standards sozialversicherungspflichtiger Arbeit einzufordern, um negative Folgen der Sequenzialisierung zu begrenzen, wie dies etwa in der Forderung nach „equal pay“ bei Leiharbeit bereits geschieht. Einerseits Beschäftigungsverhältnisse so weit wie möglich zu stabilisieren und andererseits Arbeitende in die Lage zu einem eventuell selbstbestimmten Arbeitsplatzwechsel zu bringen, sind weniger ein Widerspruch als zwei Seiten der Medaille einer sich wandelnden Arbeit mit erhöhten Anforderungen an Beschäftigte. Es wird vermutlich wichtig sein, den politischen Diskurs um Leistung nicht nur betrieblich, sondern gesellschaftlich zu führen und z. B. die Bildungsfrage im Zusammenhang mit sozialstaatlichen Institutionen neu zu denken.

5 Vgl. Bröckling (2007) zur Sequenzialisierung von Arbeit und letzten Endes des gesamten Lebens.

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Subjektivierte Arbeit in ihren Auswirkungen auf das Verhältnis von Arbeit und Leben Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf angesichts steigender Anforderungen Allgemein wird die Erwerbsarbeit gegenüber anderen Tätigkeiten priorisiert, insbesondere gegenüber Haus- und Betreuungsarbeiten. Aktuell wird diese Perspektive brüchiger (Jurczyk et al. 2009) und werden beide Lebensbereiche bezüglich der Vermarktlichung und ihrer Eigenlogik als zwar unterschiedliche, aber als wechselseitig aufeinander bezogene Sphären aufgefasst (vgl. Becker/Kortendieck 2004). Die zeitlichen Anforderungen stehen oft in Konkurrenz zueinander, zugleich ist Letztere eine Gegenwelt zur Erwerbssphäre, in der physische und psychische Stabilität sowie soziale Bindungen aufrechterhalten werden. Das entzieht sich trotz erwerbsarbeitsbezogenem Potenzial (Stichwort „Regeneration“) einem rein ökonomischen Bewertungszusammenhang; Reproduktionshandeln beinhaltet prinzipiell die Option auf eigensinniges Handeln (vgl. Jürgens 2006). In anerkennungstheoretischer bzw. sozial- und gleichstellungspolitischer Wendung (s. Eckart 2004 sowie Senghaas-Knobloch 2008) wird auf die interaktive Grundlegung dieser Selbstfürsorge verwiesen. Familien- und Lebensformen zeigen sich als kooperative Herstellungsleistung (Schier/Jurczyk 2007) in der Alltagsorganisation, die nicht immer widerspruchsfrei verläuft. Konflikte zwischen Erwerbs- und Sorge-/Reproduktionsarbeit knüpfen zwar an tradierten, dem fordistischen Ernährermodell verhafteten Lösungsansätzen an, beinhalten aber generell auch Potenziale zur Infragestellung eben dieser Tradition (Völker 2008). Führungskräfte z. B. sehen sich veränderten Ansprüchen der Partner gegenüber und formulieren partiell selbst ein verändertes Verhältnis von Arbeit und (Familien-)Leben (Behnken/Liebold 2001). Das Familienmanagement unterliegt erhöhten Mobilitätsanforderungen (Schneider et al. 2002). Aber auch Beschäftigte mit mehreren (gering entlohnten) Arbeitsplätzen müssen zwischen den beiden Sphären vermitteln. Hinsichtlich balancierender Maßnahmen (Arbeitszeit; familiengerechte Organisation) kommt es insbesondere auf die Einstellung von Personalverantwortlichen gegenüber einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie an (Stumpf 2008) – gegebenenfalls durch staatliche Rahmensetzungen (Ausbau Kitas etc.) konturiert. Die von den realen Ansprüchen des ganzen Lebens abstrahierenden Erwartungen an Verfügbarkeit von Führungskräften werden als androzentrische Konstruktion von Erwerbsarbeit gewertet (Nickel et al. 2008): Belastende Effekte werden eher von Frauen abgefedert, selbst bei Doppelverdienern (Dettmer et al. 2005; Lenz 2003). Synchronisationsprobleme, abnehmende räumliche Kopräsenz im familialen Alltag, Zeitstress und Zeitnot, steigende psychische und körperliche Belastungen sind Rahmenbedingungen dieses „doing family“ (Jurczyk et al. 2009). Jürgens/Voß (2007) sehen darin eine aktive Leistung der Einzelnen – und diese kann bewusste Abgrenzungen beinhalten und sich damit der Entgrenzung von Arbeit und Leben zu entziehen versuchen (Völker 2003). Im Zuge einer familialen Lebensführung sind sowohl die inhaltliche Ausrichtung (z. B.

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Familienplanung, Gestaltung des gemeinsamen Lebens, Aufteilung der Hausarbeit) der Beziehung, ihre räumliche Verankerung (Mobilitätsaspekte, Multilokalität), zeitliche Aspekte (Verhältnis Erwerbs-, Familien- und Freizeit) und sozial-emotionale Dimensionen (Liebe vs. Gewohnheit, Kontakte, Kinder) abzugleichen – jeweils angesichts der zu Verfügung stehenden Ressourcen (Jürgens 2006). Die Folgen räumlicher Entgrenzungen werden zwar durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnologien gemindert, damit stellen sich aber „Gemengelagen der doppelten Entgrenzung“ (Schier/Jurczyk 2007) ein, die wiederum neue Probleme erzeugen können. Ständige elektronische Erreichbarkeit ist der meist genannte Stressfaktor für Topmanager (Stock-Homburg/ Bauer 2007). Alternierende Telearbeit gilt als Chance auf eine ausgewogene Work-LifeBalance, sofern die Arbeitsanforderungen angemessen sind, hohe Freiheitsgrade und gelebte Kollegialität bestehen (Junghanns/Pech 2008). In diachroner Perspektive ist von der fortschreitenden Prekarisierung von Arbeitenden auch deren längerfristige Lebensplanung berührt (s. o.). Wie in Bezug auf das synchrone Verhältnis von Arbeit und Leben ist damit davon auszugehen, dass keine Sphäre die andere vollständig determiniert, sondern es jeweilige Strukturierungskräfte gibt, die Einfluss auf den anderen Bereich nehmen (Langfeldt 2009). Hier Abgrenzungen vorzunehmen, steht vor allem Personen mit hoher Qualifikation und einer ausgeprägten Selbstreflexion offen (Henninger/Papouschek 2005). Generell ist aber von der Wechselhaftigkeit beider Sphären auszugehen, in der subjektive Ansprüche und Bedürfnisse auch im Arbeitsleben selbst eingefordert werden (Kratzer et al. 2004). Geschlechterverhältnisse unter den Vorzeichen subjektivierter Arbeit Trotz einer spürbaren Aufwertung weiblich konnotierter Eigenschaften wie Empathie, Verbindlichkeit etc. wird eine Persistenz vertikaler wie horizontaler Geschlechtersegregation festgestellt. Dabei erzeugt die De-Thematisierung von Geschlechterdifferenz einen Egalitätsmythos (Funder 2008), der die Gratifizierung solcher Kompetenzen unterlässt. Manske (2007) bilanziert eine vorgeblich durch wirtschaftliche Rationalitätskriterien wie Leistung und Gleichheit herbeigeführte strukturelle Ent-Geschlechtlichung6, die partiell in geschlechterungleiche vertikale Arbeitsbeziehungen mündet und diese tradiert. Am Beispiel der betrieblichen Geschlechterpolitik der DB AG thematisieren auch Nickel et al. (2008) die Ausblendung geschlechtlicher Ungleichheit: Die Kategorie Geschlecht erhält eine diskriminierende Funktion, wenn die attraktiven Arbeitsplätze, entsprechende Entlohnung oder Aufstiegschancen nach Geschlecht zugewiesen werden. Gefordert und gefördert werden vor allem „Wertschöpfungsstarke“ (Wetterer 2002), während nicht dem Verfügungsanspruch des Arbeitgebers entsprechende (eben weibliche) Personen benachteiligt sind, die aufgrund ihrer Sorgearbeit Zugeständnisse an die Erwerbsarbeit machen müssen. Individuelle Reproduktionsinteressen bleiben un-

6 Vgl. für die Gruppenarbeit im produzierenden Gewerbe auch Kurz (2002).

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berücksichtigt (vgl. Aulenbacher/Funder/Völker 2007), was einen neuen Geschlechterpluralismus (Lenz 2007) befördert, ohne geschlechterdifferente Hierarchien zu beseitigen (vgl. dazu für Doppelkarrierepaare: Solga/Wimbauer 2005). Zusätzlich kommt sozialstrukturellen Merkmalen eine prägende Wirkung zu (Jürgens 2008), sodass verstärkt Polarisierungen innerhalb der Genusgruppe der Frauen zu beobachten sind. Neben den Differenzen von beschäftigten bzw. arbeitslosen Frauen verläuft z. B. eine neue Trennlinie zwischen den gut verdienenden und den schlecht entlohnten Frauen mit Kindern (am Beispiel von Alleinerziehenden: Kull/Riedmüller 2007). Neben Binnendifferenzierungen in der Gruppe der Arbeitnehmerinnen sehen Pongratz und Voß (2003) Anzeichen für eine neue Geschlechterproblematik zwischen hochprofessionellen Projektarbeiterinnen und karriereorientierten männlichen Normalarbeitern in der Konkurrenz um Karriereschritte. Wirksam werden auch Tradierungen geschlechtsspezifischer Klischees wie z. B. zum weiblichen Führungsverhalten (Bischoff 2005), die etwa in geringerem Ausmaß zur Bildung informeller Kontakte bei Frauen führt (Friedel-Howe 2003) – was einen strukturellen Nachteil im Umfeld subjektivierter Arbeit darstellt. Den Fortbestand tradierter geschlechtsspezifischer Benachteiligungen zeichnen denn auch Maier und Fiedler (2008) anhand so unterschiedlicher Arenen wie Niedriglohnsektor oder hochqualifizierter Arbeitsplatz nach. Hier würden insbesondere im öffentlichen Sektor Fortschritte erzielt, während sich die Privatwirtschaft den Luxus leistet, auf die Kompetenzen von Frauen, insbesondere in gehobenen Positionen, nach wie vor zu verzichten.7 Zudem gilt, dass Frauen zumeist in den sozialen Berufen mit relativ geringem Prestige und Einkommen beschäftigt sind. Der Arbeitsmarkt ist zumindest in Teilen geschlechterspezifisch horizontal wie vertikal segregiert (Bothfeld et al. 2005). Insbesondere Akademikerinnen reagieren darauf mit einem Aufschub bzw. der Aufgabe eines Kinderwunsches (Wirth/Dümmler 2004). Bei alledem ist zu fragen, ob Frauen als Pionierinnen oder nur als bloßes Schmiermittel einer marktvermittelten Ökonomie fungieren könnten bzw. müssten (Frey et al. 2004): Für das produzierende Gewerbe wird eine Egalisierung der Geschlechter verneint und die Etablierung einer Geschlechterpolitik als Teil betrieblicher Mikropolitik eingefordert (Kutzner 2003). Mit der Verbreitung von subjektivierter Arbeit stellt sich so das „Paradoxon erweiterter Teilhabe und [erhöhter] sozialer Verwundbarkeit“ (Lohr/Nickel 2005) ein: Für beide Geschlechter bestehen Chancen und Risiken, bestehende betriebliche Geschlechterverhältnisse einer Überprüfung auf ihre Funktionalität unterzogen werden und nicht nur eine rhetorische Modernisierung (Wetterer 2002) erfolgt. Gegebenenfalls entwickelt sich das widersprüchliche Verhältnis von Flexibilität und Sicherheit auch entlang erwerbsformtypischer Binnenstrukturen (Betzelt/Gottschall 2005), deren geschlechtsspezifische Zuweisung jeweils zu überprüfen wäre. Schließlich ist mit Wilz (2008) zu

7 Beispiele guter betrieblicher Praxis geben Maschke und Zurholt (2006).

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konstatieren, dass es für Organisationen funktional ist, die Spannung von Egalität und Differenz zwischen den Geschlechtern zu wahren, um die Leistungsfrage je neu zu justieren. Zwischenresümee: Erweiterter Zugriff auf Arbeit- und Lebenssphäre zementiert Ungleichheiten Der erweiterte Zugriff der Unternehmen auf die Privatsphäre bedeutet aufseiten der Beschäftigten die Zurücknahme von privaten Aktivitäten, Sorgearbeit oder Erholung und Regeneration. Das Privatleben wird so zur verlängerten Werkbank des Unternehmens. Die Bereitschaft der Beschäftigten dazu wird zunehmend als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und greift als normative Anrufung. Die damit einhergehende Flexibilitätsleistung von Arbeitenden wird in vielen Dienstleistungsberufen traditionell vorausgesetzt, nimmt aber auch im produzierenden Gewerbe im Zuge der Flexibilisierung von Arbeitszeit, Leiharbeit, aber auch Kurzarbeiterregelungen etc. zu. Mit der Zunahme von Arbeit insbesondere auch an Wochenenden und den Tagesrandzeiten gerät das Verhältnis von Beruf und (Familien-)Leben unter Druck – mit geschlechtsspezifischen Auswirkungen, die Frauen eher in Teilzeitarbeit drängt, weil sie Sorge- und Pflegearbeit verrichten. Die Diskrepanzen zwischen formaler Gleichstellung und faktischer Ungleichbehandlung weisen auf eine andauernde Geschlechtersegregation im Arbeitsleben hin, die primär Entlohnung und Karriereoptionen betrifft.

Subjektivierte Arbeit als Ausfluss informatisierter und post-tayloristischer betrieblicher Arbeitsorganisation Subjektivierung der Arbeit auf Grundlage ihrer Informatisierung Ein zentrales Moment des Wandels der Arbeitswelt ist ihre Informatisierung8: Betriebe sind nicht länger relativ isolierte Produktionsinseln, sondern in internationale Produktionsstrukturen eingebunden, die neue Zeit- und Raumstrukturen schaffen (Boes/Kämpf 2006). Internet-Nutzer generieren im Augenblick ihrer Aktivität soziale Handlungsräume – eine neue Stufe der Informatisierung der Gesellschaft mit weitreichenden Folgen für Eigentums- und Verwertungsrechte, Zugänge, Datenschutz und Kontrolle etc. (vgl. Nuss 2006). Mittels Systemen des Enterprise Resource Plannings (ERP) wie SAP/R3 werden Unternehmensprozesse bis in jeden Einzelschritt hinein betriebswirtschaftlich erfasst (Remer 2008) – hinsichtlich der Kontrolldimension, aber auch in seinem Planungsfetisch, steht dahinter die Vorstellung eines rein ergebnisorientierten informationstechnisch veredelten Taylorismus. Informatisierung ermöglicht bereichs-, abteilungs-

8 Diese umfasst auch die Kunden als unmittelbar mehrwertschaffende Faktoren (vgl. Voß/ Rieder 2005).

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und betriebsübergreifend Standardisierungen der Arbeit in Form „sachlicher Notwendigkeit“ (Böhle et al. 2008), die durch ein hohes Maß an notwendiger Informalisierung der Arbeit komplementiert wird. Branchendifferenzen bestehen im Grad der Etablierung: Aktuell wird in der Industrie der Versuch unternommen, innovative Produktionsstrategien zu bündeln und zu einem ganzheitlichen Produktionskonzept zu verschmelzen, wobei im Sinne systemischer Rationalisierung die flexible Standardisierung die gesamte Wertschöpfungskette erfasst. Das führt zu einer großen Produktvielfalt unter kontinuierlicher Optimierung des Produktionsprozesses. Anderswo steckt die Informatisierung dagegen eher in den Kinderschuhen: In der Bauindustrie etwa fällt der Bedeutungszuwachs der Informatisierung gering aus und bezieht sich vor allem auf Planer und Ingenieure (Wiegand 2006). Pfeiffer (2007) wiederum zeigt im Hinblick auf Flexibilisierungserfordernisse der Montageautomation in der Automobilindustrie, dass angesichts höchst unterschiedlicher Automatisierungsgrade für diesen Bereich kaum von einem klaren Trend verstärkter Informatisierung zu sprechen ist. Die fortschreitende Informatisierung im KFZ-Gewerbe verändert zum einen den Gegenstand des Automobils wie auch (jenseits der Herstellung) die Instandhaltungsarbeit an sich: Diese ist zunehmend auf wissensintensive Arbeiten informatisierter Diagnostik abgestellt und verändert damit das berufliche Selbstverständnis der Fachkräfte (Becker 2006). Der Telematikeinsatz im Speditionsgewerbe wiederum erhöht die Kontrolle der Fahrer in Echtzeit und ermöglicht der Disposition eine bisher unbekannte Standardisierung und Formalisierung mobilitätsbezogener Dienstleistungen (Ahrens 2008). Arbeit wird damit sowohl im industriellen wie im handwerklichen Maßstab komplexer und notwendig spontaner zugleich: festgefügte Abläufe weichen flexiblen Organisationsmodi. Das verändert die Arbeitskultur von einer eher statistischen zu einer dynamischen und prozessorientierten Weise, wie Anderl (2006) bilanziert. Das ist als Korrespondenzverhältnis informationstechnischer Formalisierung und informellen Handelns (Funken/Schulz-Schaeffer, 2008) zu verstehen. Heidenreich et al. (2008) weisen am Beispiel der Softwareentwicklung ebenso auf die „Gleichzeitigkeit“ von Formalisierung und Entformalisierung hin. Solo-selbständige Medienschaffende stellen mittels virtueller Mobilität in den Netzen Grundlagen für gemeinschaftliches Handeln her (Vogl 2008). Kleemann und Matuschek (2008) zeigen je branchentypische Wechselverhältnisse von Formalisierung und Informalisierung, was auf plurale Pfade einer Informatisierung der Arbeit verweist. Ein aktueller Trend ist der Bedeutungszuwachs servicebasierter Anwendungen. Die Informationstechnologie hat die Basis des operativen Geschäfts in der Finanzdienstleistungsbranche vollständig verändert (Stobbe 2006). Der Übergang zu Telefon- und Onlinebanking erzeugt eine informatisierte Kommunikationsarbeit, die in einen subjektivierten Taylorismus mündet (Matuschek/Kleemann 2006). Standardisierung und informationstechnische Kontrolle in der Sacharbeit sowie Freiräume in der Kommunikationsarbeit selbst sind prägend. Es entstehen neue internetgestützte Software-Architekturen und Nutzer-Konfigurationen, die der Entwicklung hin zu virtuellen Netzwer-

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ken entsprechen. Picot und Neuberger (2008) zeichnen virtuelle Unternehmen als modulare Einheiten mit dezentraler Entscheidungskompetenz und heterogenen Leistungsprofilen, die in telekooperativer Erledigung der Aufgaben ihre Kernkompetenzen verschmelzen. Sie sehen darin aber auch die gestiegene Gefahr neuer Überwachungsszenarien für dezentrale Arbeitsplätze; Freiräume im Arbeitshandeln blieben so minimal. Mit steigender Komplexität der Arbeitsaufgaben nimmt der zugestandene (und gegebenenfalls erst durch Ergebniskontrolle evaluierte) Freiraum zu. Jäckel (2008) weist darauf hin, dass sich in Netzwerken Größenprobleme der (Kommunikations-)Arbeit einstellen, damit quantitative wie qualitative Dimensionen berührt sind und es zu Überschneidungen und Beeinflussungen der Arbeitsabläufe der Beteiligten kommen kann – bis hin zu Neujustierungen der horizontalen und vertikalen Hierarchie. Posttayloristische Arbeitsorganisation: Zeit und Mobilität Kennzeichen aktueller Formen der Arbeitsorganisation sind eine Flexibilisierung insbesondere der Arbeitszeiten und -orte, die Etablierung nur gering arbeitsteiliger Projekte und Gruppenarbeit (Kuhlmann et al.2004), veränderte Aufgabenzuschnitte und Inhalte von Arbeit (vgl. Kratzer 2003) sowie eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (vgl. die Überblicke bei Deutschmann 2002). Als betriebliche Rationalisierungsstrategie (Bechtle/Sauer 2002) zielen diese Maßnahmen der Reorganisation direkt auf die Arbeitskraft, auch und gerade wenn damit Veränderungen der Verfasstheit der Betriebe einhergehen (z. B. globalisierte Produktionsstrategien, differenzierte Belegschaftsstruktur). Das bedeutet nicht das generelle Verschwinden tayloristischer Organisationsprinzipien (Schumann et al. 2005), wohl aber deren Ablösung als hegemoniales Organisationsprinzip. Die rigide Praxis tayloristischer Arbeitsorganisation weicht partiell der Verwertung ungenutzter Eigenschaften der Subjekte bzw. gehen beide Prozesse in einer „subjektivierten Taylorisierung“ (Matuschek et al. 2008) auf. Früher nahezu ausschließlich Hochqualifizierten vorbehalten, wird Selbststeuerung nun für breite Gruppen der Beschäftigten zur Anforderung (vgl. Kratzer 2003). Dies alles zeichnet das Gesamtbild struktureller Heterogenität der Arbeitswelt (vgl. Kratzer/Sauer 2003). Flexibilisierte Arbeitszeiten sind zur Normalität geworden (Jurczyk et al. 2009), es wird in Bezug auf die Zeitkonten von „kontrollierter Flexibilität“ gesprochen (Seifert 2001, 2007). Haipeter und Lehndorff (2004) bilanzieren in ihrer branchenübergreifenden Studie, dass moderne Gleitzeitkonten häufig Arbeitszeitverlängerungen mit sich bringen. Böhm et al. (2003) verweisen in Bezug auf Vertrauensarbeitszeit auf notwendige Aushandlungen und verankern dies als Teil der betrieblichen Arbeitskultur, der Regulierungen bedürfe. Es entsteht der Eindruck eines Balanceakts, den Arbeitende bei einer tendenziell ausgedehnten und flexibilisierten Arbeitszeit zwischen den betrieblichen und individuellen Zeitinteressen leisten müssen (Eberling et al. 2004). Ähnlich wird für die Metallindustrie die Ausdehnung flexibler Arbeitszeiten auch auf weniger hoch qualifizierte Arbeitende beschrieben und danach gefragt, wie es um die Aushandlungsmodi bestellt ist und welche Motivationen für variable Arbeitszeiten

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bestehen: Belastungsreduzierung, Verfolgen eigener Interessen etc. (Promberger et al. 2002). Auch Hielscher (2006) verweist in seinem Vergleich betrieblicher Zeitregime auf erhöhte Abstimmungsleistungen zwischen Arbeitsanforderungen und eigenen sozialen und familiären Zeitbedürfnissen. Letztlich ist eine aktive individuelle Zeitgestaltung gefordert, um Dysfunktionalität im Hinblick auf die Sozialintegration zu vermeiden (Mückenberger 2004). Moderne Arbeitszeitarrangements erscheinen als vielfältige Flexibilisierungsexperimente – und sind dies in Form von Langzeitkonten für eine nachhaltige Lebenslaufpolitik (vgl. Hildebrandt et al. 2009) weit über den engen Kern der Arbeitsorganisation hinaus. Räumliche und zeitliche Entgrenzung fallen häufig zusammen – allerdings besitzt räumliche Entgrenzung eine durchaus eigene Qualität: Betriebsübergreifende systemische Formen der Produktion und Entwicklungsarbeit bei generell verlängerter Wertschöpfungskette, die Virtualisierung und Vernetzung von verteilt organisierter Arbeit sowie fern des Betriebes angelagerte Arbeitsplätze zeugen davon (vgl. für die IT-Branche die Berichte zum Offshoring in Boes/Schwemmle 2004, Hürtgen et al. 2009). Das betrifft nicht länger nur niedrig Qualifizierte, sondern dringt bis in den Ingenieurbereich vor, u. a. als eine Voraussetzung für Karriere (Boes/Kämpf 2008; Kels/ Vormbusch 2008). Huchler et al. (2009) zeigen am Beispiel von Langstreckenpiloten die Ausbildung eines multilokalen doppelten Lebenszusammenhangs. Aber auch Teleheimarbeit ebenso wie Mobilarbeit, mithin die Beschäftigung an wechselnden Einsatzorten, sind vermehrt anzutreffen. Vogl (2009) verdeutlicht die „strukturierende Kraft betrieblicher Mobilitätspolitik“ und betont daraus entstehende Belastungen der Arbeitenden. Matuschek und Voß (2008) verweisen auf die häufig für die Verwirklichung der Karriere unabdingbare Bereitschaft zu beruflicher Mobilität. Beschäftigungsverhältnisse In Bezug auf die Beschäftigungsverhältnisse9 greifen innerbetrieblicher und außerbetrieblicher Arbeitsmarkt ineinander – was einen höchst flexiblen Motor für Flexibilisierungsbemühungen der Unternehmen darstellt (Jann/Schmid 2004). Die Aushöhlung der Flächentarifverträge führt tendenziell zu einem Bedeutungszuwachs mikropolitischer, d. h. betrieblicher Regelungen. Die Zusammensetzung von Belegschaften verweist darauf, dass sich die Struktur der Beschäftigungsformen verändert: Wie politisch beabsichtigt, sind mit dem vermehrten Einsatz von Leiharbeitern (vgl. dazu Holst 2009), befristeter und geringfügiger Beschäftigung und unterschiedlichen Formen der Teilzeitarbeit vermehrt stratifizierte Belegschaften etabliert worden. Es entwickeln sich unterschiedliche betriebliche Nutzungsstrategien vom Ad-hoc-Einsatz über den Fle-

9 Beschäftigungsverhältnisse generieren in ihrer konkreten Ausgestaltung immer ein spezifisches Verhältnis von Sicherheit und Flexibilität – das Kunstwort der Flexicurity zeugt von dieser besonderen Gemengelage (vgl. Kronauer/Linne 2005).

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xibilitätspuffer bis zur strategischen Nutzung (Holst 2009). Insgesamt arbeitet über ein Drittel der Erwerbstätigen in atypischer Beschäftigung, sodass von einer deutlichen Pluralisierung und Differenzierung der Erwerbsformen zu sprechen ist (Keller/Seifert 2009). In der Regel geht das mit Lohnsenkung und Entrechtlichung einher (vgl. Mayer-Ahuja 2003 für den niedrig qualifizierten Dienstleistungssektor). Diewald et al. (2005) nennen drei personalpolitische Optionen in der beschäftigungssichernden und Flexibilität generierenden Aushandlung zwischen Betrieb und Arbeitnehmern: Vermarktlichung, verhandelte Stabilität und Vergemeinschaftung. Jede Option ist mit den beruflichen Zielen, aber auch den Anforderungen aus der Lebenswelt abzugleichen – und stellt damit eine den Arbeitenden obliegende Gestaltungsleistung dar. Die Betriebe selbst haben jenseits externer Rahmenbedingungen Spielräume, die eigene Belegschaft nachhaltig zu organisieren und deren Employability durch geeignete Maßnahmen zu sichern, z. B. durch die Verknüpfung unterschiedlicher Gestaltungselemente wie Gruppenarbeit, KVP oder neue Entgeltsysteme und durch für die Beteiligten annehmbare Gestaltungskonzepte. Selbstorganisation und indirekte Steuerung Selbststeuerung umfasst sowohl die Auseinandersetzung mit konkreten Arbeitsaufgaben als auch mit den Rahmenbedingungen des Arbeitens. Demzufolge sind betrieblicherseits vielfältige Instrumente vorgesehen, diese Selbststeuerung hervorzurufen bzw. zu flankieren: Das reicht von neuen Arbeitsformen (Projekt- und Gruppenarbeit), dem Abbau von Hierarchien inklusive veränderter Managementstile über variable Entgeltbestandteile und flexibilisierte Arbeitszeiten bis hin zu „unterstützenden“ Maßnahmen wie Kennziffernsysteme und Zielvereinbarungen (zu deren beschränkter Wirksamkeit vgl. Kalkowski/Mickler 2002). Ansätze einer emanzipatorischen Selbstorganisation scheinen aktuell von der arbeitsorganisatorischen Wirklichkeit überholt worden zu sein10; an dessen Stelle ist der Zwang zur Selbstverwirklichung (Kocyba 2005) bzw. Selbstbestimmung (Wagner 2005) getreten.11 Dabei etabliert sich eine Rationalisierungspartnerschaft zwischen Betrieb und Beschäftigten (Schumann 2003). Das korrespondiert mit einer Umorientierung der Perspektive betrieblicher Steuerung und Kontrolle der Arbeitskraft:

10 Schumann (2006) erkennt in den nachfolgend skizzierten Entwicklungen auch Potenziale für eine innovative Arbeitspolitik, insoweit die Arbeitenden als Subjekte aufgewertet werden (bzw. ein Teil von ihnen: Lohr/ Nickel 2005 verweisen auf die Spannbreite unterschiedlicher Aufgaben und Anforderungen und auch Schumann selbst spricht von Modernisierungsgewinnern und -verlierern). 11 Dabei gilt, dass dies nur im Produktionsbereich etwas historisch Neues darstellt, während entsprechende Modi bei hochqualifizierten Angestellten schon länger die Normalität der Leistungssteuerung darstellte, dies aber heute in intensivierter Form vonstatten geht – und zu veränderten Arbeitsverständnissen wie Karrierechancen im mittleren Management führt (Faust 2002).

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In Zentrum steht nunmehr weniger die Arbeitsleistung als vielmehr der zählbare (qua Zielvereinbarungen definierte und per Kennziffern kontrollierte) Arbeitserfolg. Damit geht u. a. ein veränderter Modus der Steuerungslogik einher (Vormbusch 2006); es entstehen „Zonen kontrollierter Autonomie“ (Dörre 2001), denen eine „Objektivierung subjektgesteuerten Handelns“ (Böhle 2003) eigen ist, welches sich als zweckrationales Handeln den unternehmerischen Zielen unterstellt.12 Erweiterte Steuerungsmöglichkeiten zielen darauf ab, neben herrschaftlicher Steuerung verstärkt Potenziale der Selbstregulierung der Arbeitenden zu nutzen, und dies auf mehreren Ebenen: Vermarktlichung als marktförmige Abstimmung zwischen beteiligten Tauschpartnern, Vergemeinschaftung durch kooperative Abstimmungen der betrieblichen Sozialgruppen sowie durch Subjektivierung in Form individueller Selbststeuerung (Voß/Weihrich 2007). Selbstorganisation wird so zu einem Komplement der Umstellung der Arbeitsorganisation auf Modi der indirekten Steuerung (Peters/Sauer 2005). Das geschieht nicht bruchlos und erzeugt Probleme, u. a., weil Betriebe den Prozess der Umstellung eher unsystematisch betreiben und Ambivalenzen und Widersprüche erzeugt werden (Voswinkel/ Kocyba 2005), auch im Bereich des mittleren Managements (Nickel et al. 2008). Die Verknüpfung von Selbsttechniken und Herrschaftstechniken wird gleichsam inkorporiert und Widerspruch den Arbeitenden tendenziell unmöglich – insoweit die Unternehmensziele auch zu eigenen werden, widersteht man sich selbst (Rau 2005). Fachund Führungskräfte beziehen ihre Arbeit auf das Unternehmen als solches und tragen die Hoch-Leistungskultur mit (Kotthoff/Wagner 2008). Implizite Erwartungen an Projektarbeit münden tendenziell in unendlicher Leistungsverausgabung (Kalkowski 2004), gerahmt von personalen wie institutionellen Abhängigkeiten (Latniak et al. 2005) – eine bisweilen perfide Form der Vergemeinschaftung. Diese beinhaltet aufseiten der Arbeitenden eine abstrakte Bereitschaft zur Verausgabung (Menz 2005). In Bezug auf die Leistungserfüllung differenzieren Pongratz und Voß (2003) bei Facharbeitern und Angestellten ohne Disziplinarmacht zwei Formen der Leistungserfüllung aus: Leistungsoptimierer verbinden Effizienz in der Arbeit mit einer Lösungsorientierung, die durch Improvisation, das Eingehen kalkulierter Risiken und zeitweilig exzessiver Verausgabung gekennzeichnet ist – in diesen Orientierungen stellen sich emotionale Zufriedenheit und Selbstvergewisserung über die eigene Leistungsfähigkeit ein. Der zweite Typ ist dagegen vom Erfüllen professioneller Standards geleitet und orientiert sich dabei auch unter Anlehnung an erprobte Prozesse an beruflichem Fachwissen und der Einhaltung von Normen – diese prozessorientierte Sicherheits-Perspektive vermeidet zugleich Exzesse der Leistungsverausgabung. Letztlich handelt es sich um eine durchgreifende

12 Bröckling (2007) weist auf die Parallelität von Organisationsmodi der Unternehmen und den Rationalisierungsanforderungen in Bezug auf die Subjekte hin, die mittels Sozialtechnologien der Planung und der Selbstkontrolle die „Verbetrieblichung“ (Voß/Pongratz 1998) ihres Handelns selbst herbeiführen müssen – und dies intrinsisch motiviert.

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Ökonomisierung der betrieblichen Arbeits- und Sozialbeziehungen, die die Frage nach einer „sozialen Subjektivität“ (Nickel et al. 2008) aufwirft. Modelle indirekter Steuerung sind auf eine Ausweitung horizontaler Kommunikation in den Betrieben angewiesen – welche Informationen fließen, muss aber angesichts der forcierten Konkurrenzsituation, der die Arbeitenden ausgesetzt sind, keineswegs von kollektiven Zielen geleitet sein (Krömmelbein 2004), sondern kann Formen exklusiver Solidarität hervorrufen (Dörre et al. 2011). Es sind individuelle Handlungslogiken, die das strategische Verhalten der Beteiligten vor Ort als intervenierenden Faktor indirekt gesteuerter Arbeit begründen (Drinkuth 2007). Schließlich können innerhalb wie jenseits der Unternehmensziele Subziele der Arbeitenden existieren (Matuschek et al. 2007), die als „eigensinnige Gestaltung“ (Nickel 2008), mehr oder weniger deviant, einfließen. Arbeitende sind damit Objekt und Subjekt einer subjektivierten Arbeit. Subjektivierte Arbeit und Informalität Postfordistische Formen der Arbeitsorganisation weisen ein hohes Maß an Unschärfen aus, sie lassen sich als eine Organisation des Unbestimmten klassifizieren. Diese Unbestimmtheiten produktiv zu wenden, obliegt den Subjekten, denen damit eine zentrale Stellung zukommt. Insoweit werden auch kooperative Arbeitsformen wichtiger und mit ihnen die diskursiven Elemente subjektivierter Arbeitspraxis. Die Verhandlung von Zielvereinbarungen, die Entscheidungsfindung in Organisationsprozessen von Gruppen und in projektförmiger Arbeit, die Gestaltung von Arbeitsbeziehungen wird auch in solchen Betrieben wichtiger, die insgesamt als eher traditionell organisiert gelten müssen (Kratzer/Sauer 2003). Kommunikation und informelle Steuerungsmodi lösen hierarchische Befehlsstrukturen ab. Das erzeugt fortlaufenden und damit erhöhten Abstimmungsbedarf und geht einher mit einer Technisierung der horizontalen Arbeitskommunikation, ihrer Beschleunigung, Intensivierung und Ausweitung und inkludiert Selbstbehauptungsprozesse. Dabei kommt es zu ambivalenten Entwicklungen: Bei enthierarchisierten Arbeitsbeziehungen wächst die individuelle Identifizierung mit Arbeitsbeziehungen und -aufgaben, bei andauernder Persistenz von hierarchischen Strukturen wird individuelle Machtentfaltung gestärkt. Im Zusammenwirken beider Entwicklungen werden Re-Hierarchisierungen befördert und die Lösung organisationaler Konflikte auf die horizontale Ebene verlagert (Krömmelbein 2004). Im Hinblick auf die im Zentrum der Arbeitsorganisation stehende Funktionalität des Arbeitsprozesses ist zu berücksichtigen, dass dabei auch eigensinnige Ansprüche eine Rolle spielen und es darum gehen muss, zwischen Formalisierung und Informalisierung ein ausgeglichenes System jeweils neu auszubalancieren (Kleemann/Matuschek 2008). Für virtuelle Organisationen gilt dabei, dass die Modularisierung von Aufgaben zu einer Standardisierung von Arbeitsprozessen führt, die gleichsam Selbstorganisation intersubjektiv restrukturiert – wofür Vertrauen eine unabdingbare Voraussetzung ist (Picot/ Neuburger 2008). Dazu zählt auch organisationales Vertrauen in die Praktiken informeller Kooperation; hier hinkt die proaktive Unterstützung seitens des Managements

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häufig den in der betrieblichen Praxis bereits vorfindlichen Kooperationsmodellen13 hinterher (Bolte/Porschen 2006). In anerkennungstheoretischer Perspektive weisen Senghaas-Knobloch und Nagler (2000) darauf hin, dass mit der Subjektivierung von Arbeit unintendiert auch eine veränderte Arbeitskultur Einzug gehalten hat, die neue Fähigkeiten zur Austragung von Konflikten erfordert. Zwischenresümee: Technisch-organisatorisch induzierte Subjektivierung der Arbeit Es sollte deutlich geworden sein, dass es in ganz unterschiedlichen Bereichen der Arbeit zunehmend auf die Strukturierungsleistungen der Subjekte ankommt: Sie müssen entgrenzten Zeitregimes flexibel begegnen und sich angesichts pluralisierter Erwerbsformen generell erhöhten Anforderungen stellen. Arbeitsorganisatorische Konzepte erheben Unbestimmtheit zum Steuerungsprinzip. Zugleich hat sich der Gegenstand der Arbeit verändert: Im Zuge ihrer Informatisierung wird Arbeit abstrakter. Das zu bearbeiten, stellt eine Leistung ganz besonderer Art dar. Zwar ist in der Perspektive der Informatik der in informatisierten Prozessen hinterlegte Ablauf umfassend, zielführend und hinreichend vorstrukturiert und bedarf nur mehr des Befolgens der automatisierten Schritte. In der Praxis reduziert sich informatisierte Arbeit aber nicht nur auf die bloße Eingabe von Daten, sondern es offenbaren sich schnell verborgene Leistungen. Dazu gehört die Übersetzungsleistung von Inputs aus der sozialen Welt in die Systemsprache ebenso wie andersherum die Interpretation der Outputs des technischen Systems. Aktive Kontrollarbeit und der regulierende Eingriff in die systemischen Abläufe ist im Normallauf wie bei Störungen notwendig (Perrow 1987). Damit wirkt auch die vom vorgegebenen Ablauf abweichende Handlung als Arbeitsleistung, ohne dass sie als verborgene Arbeitsleistung in den Blick gerät. Solche Unschärfen werden strategisch für Leistungsverdichtung eingesetzt, wenn etwa allein Kennziffern als Maßstab guter Arbeit herhalten. Von erheblicher Relevanz ist auch, in welcher Weise vorgängige Kompetenzen der Subjekte (z. B. im privaten Alltag eingeübte Wissensbestände im Umgang mit Office-Software) angemessen berücksichtigt oder es zu einer Enteignung dieser Leistung durch den Betrieb kommt. Neue Steuerungsformen schleifen Hierarchiestufen, erfordern aber ein erhöhtes Maß an Selbststeuerung in Gruppen- oder Projektarbeit und intensivieren zentralisierte Kontrollformen. Arbeitszeit und multilokale Arbeitsstätten sind zunehmend ebenso ein Kennzeichen der Reorganisation wie ergebnisorientierte Leis-

13 Unterschieden werden können auf persönlichen Beziehungen beruhende Netzmodelle (Porschen 2006), Hospitations- und Rotationsmodelle in kooperativen und eher kleinräumigen Zusammenhängen sowie Beauftragten- und Wanderermodelle für Kooperationen mit räumlicher Distanz (vgl. Bolte/Porschen 2006). Vgl. zum angesichts der Globalisierung wichtiger werdenden Thema der interkulturellen Kommunikation auch Behr (2006) und Helmolt (2006).

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tungs- und Entgeltstrukturen. Insgesamt verschränken sich Prozesse der Entsicherung und Flexibilisierung mit erhöhter Selbstorganisation und es kommt zu einem Verlust des Maßstabs von Leistung.

Resümee: Subjektivierung der Arbeit als gesellschaftlich gerahmter Prozess betrieblicher Leistungserstellung Die aufgeführten Aspekte der Subjektivierung von Arbeit greifen im betrieblichen Wertschöpfungsprozess ineinander – je nach konkreten Bedingungen und Möglichkeiten in je eigener Gestalt und mit unterschiedlicher Intensität im Zugriff auf die personalen Kompetenzen der Beschäftigten. Wie dies faktisch aussieht, wo Rationalisierungspotenziale vermutet und umgesetzt werden oder wo Hindernisse diesbezüglich bestehen, ist schwer zu greifen, weil die betriebliche Realität in den letzten Jahren permanenten Reorganisationsprozessen unterliegt (Sauer 2006). Zugleich ist zu konstatieren, dass der Einfluss der Finanzmärkte auf die Unternehmen gewachsen ist und die betriebliche Herrschaft über den Produktionsprozess den Regularien finanzmarktzentrierter Produktion (Dörre 2001) folgt. Die Auswirkungen auf die Subjekte sind vielfältig – und beinhalten sowohl Chancen wie Risiken (Lohr/Nickel 2005), durchdringen Erwerbswie- Privatsphäre, erzeugen Zwangslagen wie Gestaltungsräume und erstrecken sich in ihrer dia- wie synchronen Qualität auf die Länge der Erwerbsbiografie insgesamt. Der Prozess der Subjektivierung von Arbeit wirkt demnach auf drei Ebenen: • auf der intrasubjektiven Ebene werden personale Kompetenzen zielgerichtet genutzt und/oder entsprechend zugerichtet; der Einsatz von emotionalen Kompetenzen für den Vertrieb ist dafür ein beredtes Beispiel; • auf der betrieblichen Ebene werden arbeitsorganisatorische Vorkehrungen für eine erweiterte Kapitalisierung des Humankapitals geschaffen; Flexibilisierung und Vermarktlichung sind hier bekannte Stichworte – mit Folgen für den Bezug der Arbeitenden aufeinander; • auf der gesellschaftlichen Ebene werden gesetzliche Rahmungen und kulturelle Leitbilder erzeugt, die finanzgetriebene Produktion etablieren und z. B. die liberalisierte Arbeitsgesetzgebung ideologisch untermauern (Stichwort: „Fördern und Fordern“). In der täglichen Arbeit – des Betriebes wie des Subjekts – fallen diese Ebenen zusammen. In der konkreten Arbeit mischen sich handlungspraktische und motivationale Aspekte subjektivierter Arbeit (partiell mit Übertretung normativer/gesetzlicher Begrenzungen). Erst in diesem Ineinandergreifen entsteht die Subjektivierung der Arbeit als „Landnahme“ (Dörre 2009) der Arbeitsleistung: Fachliche Fertigkeiten und darüber hinausgehende Qualifikationen werden ebenso selbstverständlich in den Produktionsprozess einverleibt wie personale Kompetenzen und wertorientierte Motivationen. Die verschiedenen Aspekte der Subjektivierung von Arbeit sind daher nicht als starr verbundene, sondern als dynamisch das konkrete Arbeitsfeld konturierende Faktoren zu verstehen.

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Während in Arbeitsfeld A (z. B. ein Industriebetrieb) alle Facetten subjektivierter Arbeit ineinandergreifen und sowohl strukturierende wie kompensatorische Arbeit notwendig ist, die konkrete Arbeitsorganisation sich (mit Wechselschichten etc. flexibilisiert) weitgehend am Normalarbeitsverhältnis orientiert und dieses ohne große Einforderungen seitens der Belegschaft auch Teil der Arbeitsorientierung ist, zeichnet sich Arbeitsfeld B (z. B. ein Kreativberuf) durch eine weniger betriebsförmige Arbeitsorganisation aus, in der kompensierende Aufgaben keine Rolle spielen, strukturierende aber umso mehr. Zum Berufsverständnis gehört eine auf Selbstverwirklichung zielende hohe selbstausbeuterische Bereitschaft zur Verschmelzung von Arbeits- und Lebenssphäre – immer mit der Chance, beruflichen Erfolg zu haben und damit eine Basis für den weiteren Lebensweg zu legen. Die Konstellationen in einzelnen Branchen sind naturgemäß nicht starr, sondern unterliegen einer dynamischen Veränderung in den einzelnen Bereichen wie im Gesamtgefüge – nicht zuletzt durch Verhandlungen zwischen den Interessenvertretern. Generell gilt jedoch: Erfahrungswissen, Sozialkompetenzen und Fähigkeiten zur eigenständigen Bearbeitung von Arbeitsaufgaben werden zumeist verwertet, ohne in der individuellen wie kollektiven Leistungsbilanz aufzutauchen. Als vermeintliche Selbstverständlichkeit wird die Verausgabung solcher persönlichen Kompetenzen selbst von Arbeitenden häufig nicht mehr als originäre und zu entlohnende Leistung anerkannt. Zu fragen ist damit, inwieweit ein hinreichendes Instrumentarium für die Bewertung von subjektiven Leistungen wie Selbstorganisation entwickelt werden kann, das auch die Bewertung von Flexibilitätsleistungen einschließt. Flexibilität ist ein leistungspolitisch noch wenig erschlossener und vergleichsweise wenig regulierter Raum, in dem lebendiges Arbeitsvermögen häufig zum Nulltarif veräußert wird. Die Fähigkeit aber, im Sinne betrieblicher Anforderungen etwa das Privatleben permanent zur Disposition zu stellen, weil die eigene Arbeit immer mehr der Arbeit auf Abruf ähnelt oder bei hohen Absatzmargen Zusatzschichten gefahren werden, ohne neues Personal einzustellen, ist aber eine offensichtlich produktive Leistung der Einzelnen, die angemessene Berücksichtigung finden sollte.

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Zum Weiterlesen Matuschek, I. (2010): Konfliktfeld Leistung. Eine Literaturstudie zur betrieblichen Leistungspolitik. Berlin: edition sigma. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) (2009): Hauptsache Arbeit. Wandel der Arbeitswelt nach 1945. Bielefeld: transcript.

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Subjektivierte Professionalität1 G. Günter Voß

Die Studie, über die dieser Band berichtet, gibt Hinweise darauf, dass zuverlässige Arbeitsqualität und die Orientierung an fachlicher Professionalität in wichtigen Bereichen der deutschen Organisationswelt unter Druck geraten. Die folgenden Überlegungen vertreten die These, dass es sich dabei nicht nur um einen möglichen schleichenden Verfall beruflicher Standards und Qualitätsmaßstäbe handelt, sondern sich dahinter eine tendenzielle Verschiebung der Zuständigkeit für die Sicherung von Qualität und Professionalität verbirgt, die auf einen Wandel des Verständnisses von Professionalität hinauslaufen könnte. Immer öfter sehen sich Arbeitende gezwungen, eigenständig Maßstäbe und Verfahren des Umgangs mit gleichzeitig immer widersprüchlicheren Anforderungen an die Qualität ihrer Arbeit zu entwickeln und damit situativ zu entscheiden, was fachlich „gute Arbeit“ ist – mit paradoxen Folgen für sie, die Betriebe und letztlich die Gesellschaft insgesamt. Diese These wird mit der arbeitssoziologischen Diskussion zur „Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit“ und des sich dabei herausbildenden „Arbeitskraftunternehmers“ als neuem Leittypus von Arbeitskraft verknüpft und die sich andeutende neue Qualität professionellen Handelns daher als „Subjektivierte Professionalität“ bezeichnet.

Professionalität in Gefahr Ein ausschlaggebender Anstoß für die Frage, ob es eine Zunahme von Problemen bei der Umsetzung beruflicher Qualitätsstandards gibt und was dies für das Verständnis von Professionalität bedeuten könnte, waren Aussagen von Supervisor/innen der DGSv im Rahmen der Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen, über deren zweite Welle die Beiträge dieses Bandes Auskunft geben. Schon in der ersten Befragung, dann aber noch deutlicher in der Folgeerhebung, zeigte sich als überraschendes Ergebnis, dass die weithin berichteten psychosozialen Belastungen von Berufstätigen in fast allen Bereichen auch auf erschwerte Möglichkeiten, qualitätsvoll unter Beachtung fachlicher Standards zu arbeiten, zurückzuführen sind. Eine besonders markante Aussage stammt von einer Person, die seit vielen Jahren auch in den obersten Führungsebenen großer Konzerne als supervisorisch orientierter Berater tätig ist:

1 Der Text fasst an anderer Stelle (Voß 2012a, b) entwickelte Überlegungen zusammen; dabei werden gekürzte und überarbeitete Passagen aus diesen Beiträgen verwendet. Der Autor dankt Eva Scheder-Voß für ihre redaktionelle Unterstützung.

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„was mich ängstigt, […] ist, wie weit die Verachtung für dieses ganze Business bereits gewachsen ist. Also das ist irre, sie gehen in ein Meeting, da wird ganz normal dies und jenes geredet. Sie gehen raus, und alle sind sich völlig einig, dass das der letzte Schrott ist, […] dass das Ganze ein Fake ist, was man jetzt inszenieren muss“; „da glimmt etwas, das kann nicht lange gut gehen […] wenn ich an das Funktionieren dessen nicht mehr glaube und nur noch mitmache, weil mir Alternativen fehlen […] eine komplette Managementverdrossenheit […] das ist inzwischen in einer Fläche verbreitet […] auf jeder Ebene […] gerade die Leistungsträger […] sind nicht mehr stolz auf das was sie leisten“. Mitarbeiterbefragungen zeigen: 80 % haben […] 0,0 Vertrauen. Das müssen Sie sich mal vorstellen […] sie sagen: […] was wir verkaufen an Produkten […] was wir machen ist eh Schrott […] da setzt eine hochgradige Deprofessionalisierung ein […] eine strukturelle Überforderung und eine professionelle Unterforderung“. (C 15) Aber nicht nur solche Äußerungen der befragten Experten weisen darauf hin, dass es weithin Probleme bei der Umsetzung von Arbeitsqualität und professionellen Standards in deutschen Organisationen gibt. Auch die schriftliche Befragung zeigt eindringlich, dass hier offensichtlich ein weitverbreitetes, aber bisher wenig beachtetes Problem liegt.2 Die befragten Supervisor/innen geben unter anderem an, dass sie in den von ihnen betreuten Unternehmen folgende Situation vorfinden („Zustimmung“ zu vorgelegten Statements): • „Die Beschäftigten müssen schneller arbeiten, als es in ihren Augen für eine qualitätsvolle Arbeit erforderlich ist“: 80,8 %. • „Zunehmender Zeit- und Leistungsdruck führt dazu, dass nicht mehr qualitätsvoll gearbeitet werden kann“: 68,8 %. • „Ökonomische Kriterien verdrängen Qualitätsstandards“: 68,9 %. • „[Es] bestehen Konflikte über Qualitätsstandards zwischen Management und Beschäftigten?“: 67,6 %. • „Beschäftigte leiden darunter, wenn sie gezwungen werden, unprofessionell zu arbeiten“: 68,8 %. • „Den Beschäftigten fehlen ausreichend Ressourcen, um qualitativ hochwertig arbeiten zu können“: 63,1 %. • „Beschäftigte erhalten keine Wertschätzung für qualitativ gute Arbeit“: 55,1 %. • „Beschäftigte müssen Aufgaben übernehmen, für die sie nicht ausreichend qualifiziert sind“: 43,5 %. • „Die Beschäftigten empfinden Schuldgefühle, weil sie berufliche Standards verletzen müssen“: 46,9 %. • „Beschäftigte müssen ethische Standards verletzen, um den Anforderungen der Organisation zu genügen“: 33,9 %.

2 Vgl. ausführlich dazu auch Handrich in diesem Band. Für die Befunde der ersten Welle zu diesem Thema siehe Handrich 2011.

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Um den Eindruck eines ernsthaften Problems bei der Umsetzung von beruflichen Standards und der Realisierung von Arbeitsqualität in deutschen Organisationen zu bekommen, benötigt man aber keine wissenschaftliche Expertise (obwohl vertiefende Untersuchungen dazu dringend erforderlich wären). Es reicht, die eigene Erfahrung oder öffentliche Thematisierung von Problemen heranzuziehen, selbst wenn man deren Selektivität in Rechnung stellt. Die meisten Leser/innen werden direkt oder indirekt (z. B. durch Medienberichte) Kenntnis haben von … • übermüdeten Ärzten/innen, die wegen Personalmangels weiteroperieren müssen, auch wenn ihre Schicht beendet ist und sie eigentlich nicht mehr verantwortungsvoll handeln können; • Pflegekräften, die aus Zeitmangel nur das Nötigste erledigen können; • Heimleitungen, die die Sicht von Angehörigen über das konkrete Patientenwohl stellen, obwohl sie wissen, dass das unprofessionell ist; • Bankberatern/innen, die mangelhafte Anlagen empfehlen müssen, um ihr extrem hoch angesetztes Soll zu erfüllen; • Call-Center-Agenten/innen, die systematisch dazu gezwungen werden, Kunden Produkte zu verkaufen, die diese nicht benötigen; • Sachbearbeitern/innen, die Fälle ohne Prüfung durchziehen, um Zielvorgaben zu erfüllen; • Führungskräften, die Untergebene systematisch unter Druck setzen, obwohl sie wissen, dass sie diese damit schädigen; • Experten/innen aller Art, die Gutachten schlampig erstellen, um die Arbeitsbelastung zu bewältigen; • Produktionsmitarbeitern/innen und Leitungskräften in der Lebensmittelindustrie, die betriebstrukturell bedingte Hygienemängel beobachten, aber schweigen (müssen); • Luftverkehrspiloten/innen, die (wie ihre Kollegen im Last- und Personenverkehr auf der Straße) sich zur Überschreitung der zugelassenen Arbeitszeiten gezwungen sehen und nicht selten mit verringerter Einsatzfähigkeit ihre Verkehrsmittel steuern. Viele Beispiele dieser Art finden sich mit nicht selten drastischen Schilderungen in den Berichten der befragten Expert/innen unserer beiden Studien. Vor diesem Hintergrund gehen die folgenden Ausführungen davon aus, dass Professionalität und berufliche Leistungsqualität in vielen Branchen, Betriebsbereichen und Berufsfeldern nicht nur partiell kontrovers diskutiert werden, sondern tendenziell ernsthaft gefährdet sind – obwohl „Qualität“ und insbesondere „Kunden- und Dienstleistungsorientierung“ seit Jahren als Leitwerte propagiert werden und als wichtige Standortmerkmale der deutschen Wirtschaft gelten. Hinter diesem Widerspruch könnte sich verbergen, dass schleichend ein Wandel des gesellschaftlichen Verständnisses von Professionalität und der Zuständigkeit für die Sicherung von Standards stattfindet. Als zentrale Ursache für diesen Wandel wird der Strukturwandel von Arbeit und Organisation der letzten Jahrzehnte angenommen, der in der Arbeits- und Industrie-

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soziologie unter dem Stichwort „Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit“ debattiert wird. Diese Entwicklung findet sich in vielen Bereichen, hat aber in Dienstleistungsfeldern eine besondere Bedeutung und besondere Folgen – für die betroffenen Arbeitskräfte und für die Kund/innen von produzierenden Betrieben und privaten wie öffentlichen Dienstleistungsangeboten. Bevor dies vertieft wird, ist es hilfreich, noch einmal festzuhalten, was in der sozialwissenschaftlichen Forschung unter Profession bzw. Professionalität verstanden wird.

Profession und Professionalität Seit Langem wird in der Sozialwissenschaft danach gefragt, wieso sich einzelne Gruppen von Berufstätigen herausgehobenen Erwartungen an die Qualität ihrer Leistungen gegenübersehen und deren Erfüllung mit sozialen Privilegien verbunden ist. Vor allem in der Berufssoziologie werden Gruppen von Berufen als „Professionen“ bezeichnet, die folgende Merkmale aufweisen: berufliche Autonomie gegenüber externen Anforderungen, hohe (meist akademische) Qualifikation und entsprechend lange Ausbildung, herausgehobener sozialer Status und hohes Berufsprestige, überdurchschnittliche Entlohnung oder Vergütung, schlagkräftige Interessenvertretungen und nicht selten eine rechtliche Absicherung der Privilegien. Als typische Vertreter klassischer „Professionen“ gelten Ärzte, Richter, Professoren u. Ä.. Gelegentlich werden auch andere Berufe mit herausgehobener Ausbildung darunter subsumiert oder ihnen wenigstens Merkmale von Professionen zuerkannt. Die vielfältigen Erklärungskonzepte (vgl. Demszky/Voß 2009, Schmeiser 2006) kann man zwei allgemeinen Positionen zuordnen: • Funktionalistische Ansätze argumentieren, dass Professionen gesellschaftliche Grundfunktionen erfüllen und dafür mit Privilegien belohnt werden. Ähnlich sind Konzepte, die auf die Bearbeitung rationalisierbarer Aufgaben oder von Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten („Antinomien“) durch Professionen verweisen. • Macht- oder Konflikttheorien unterstreichen die Rolle strategischen Handelns und damit oft die Bedingungen der historischen Genese von Professionen. Neuere Konzepte fragen nach berufspolitischen Mechanismen bei der Entstehung professioneller Zuständigkeiten und eine feministische Sicht betont, dass viele Professionen der Sicherung patriarchaler Macht in Berufszusammenhängen dienen. Eine wissenssoziologische Variante fragt nach Strategien beruflicher Selbstdarstellung, mit denen etwa Kompetenzen demonstriert werden. Aber auch jenseits der Professionssoziologie wird der hier ins Auge gefasste Gegenstand thematisiert. Vor allem in der Arbeits- und Industriesoziologie wurde nach den Voraussetzungen qualifizierter Facharbeit und der Tätigkeit von qualifizierten betrieblichen Mitarbeiter/innen, meist mit Blick auf industrielle Großbetriebe und produktionsnahe Funktionen, gefragt. Es geht dabei nicht um spezielle Berufe, sondern um eine an zuver-

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lässige Qualifikationen und erforderliche Dispositionsspielräume im Betrieb gebundene fachliche Professionalität als Basis betrieblicher und gesamtwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Diesen Aspekten wird eher der angelsächsische Begriff „professional“ gerecht. Ein Vergleich beider Perspektiven zeigt, dass im ersten Fall die herausgehobene soziale Stellung privilegierter Berufsgruppen zentraler Gegenstand ist, im Zweiten dagegen die Qualität der spezifischen Fähigkeiten und Leistungen in einem ausgedehnteren Feld von beruflichen Tätigkeiten. Trotz dieses unterschiedlichen Blickwinkels gibt es aber einen gemeinsamen Bedeutungskern dessen, was im Folgenden mit der übergreifenden Formulierung „Professionalität“ genannt werden soll: • zum einen die Orientierung an und die Umsetzung von berufsfachlichen Standards (bezogen auf Ausbildung, Tätigkeit und Ergebnisse), einschließlich allgemeiner (z. B. gemeinwohlorientierter, nutzenbezogener, moralisch-ethischer usw.) gesellschaftlicher Maßstäbe – als explizites Distinktionsmerkmal oder als implizites Merkmal der prozessbezogenen Arbeitsqualität einer beruflichen Gruppe; dazu gehört auch eine (bei Professionen und Professionals unterschiedlich hohe) relative Autonomie in der Tätigkeitsausführung; • zum anderen eine gewisse (nicht zuletzt auch materielle) soziale Anerkennung, die u. a. Basis für „Berufsstolz“ oder berufliches Selbstbewusstsein ist. Hinzu kommt meist die Einbindung in ein unterstützendes kollegiales Umfeld oder Netzwerk. Professionalität meint in diesem Sinne also, dass berufliche Tätigkeiten bestimmter Gruppen oder in bestimmten Bereichen durch fachlich-operative Qualifikations- und Tätigkeitsstandards sowie durch ergänzende sinnhaft-soziale Autonomie- und Anerkennungsstrukturen geprägt sind. Dies zielt allgemein gesehen darauf, wie und warum „gute Arbeit“ im Sinne von zuverlässiger Qualität und gesellschaftlicher Nützlichkeit trotz immer vorhandener gegenläufiger Interessen – v. a. betrieblicher Kosten- und Steuerungsdruck, marktliche Verwertungszwänge sowie nicht zuletzt instrumentelle Interessen von Erwerbstätigen – gesichert werden kann. Kurz gesagt: Es geht um eine auf qualitätsvolle Nutzwerte gerichtete Zivilisierung gesellschaftlicher Arbeit im Tausch gegen soziales Vertrauen und gesellschaftliche Anerkennung im weitesten Sinne. „Zivilisierung“ meint dabei die Begrenzung einer einseitigen Verfolgung von Partialinteressen durch Vermittlung mit weiteren gesellschaftlichen Erfordernissen.3

3 Dies kann an die Zivilisations-Theorie von Norbert Elias (1980) anschließen, die gesellschaftlichen Fortschritt als Begrenzung von Gewaltbereitschaft und Triebhaftigkeit sieht. Es kann sich aber auch auf die Idee einer „zivilgesellschaftlichen“ Vermittlung von Interessen bzw. eines „dritten Wegs“ sozialer Regulierung jenseits eines ökonomischen Austauschs („Markt“) oder der machtförmigen Durchsetzung von Interessen („Hierarchie“, „Bürokratie“) in Form eines „gemeinschaftlichen“ oder „solidarischen“ Ausgleichs beziehen (vgl. Wex 2004, s. a. Huchler et al. 2012).

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Krise der Professionalität? Wenn hier nun nach einer möglichen Gefährdung von Professionalität und fachlicher Arbeitsqualität gefragt wird, dann ist das zunächst erst einmal kein ganz neues Thema. Dass die „Professionalität“ beruflicher Gruppen unter Druck geraten kann, wurde auch schon früher gelegentlich registriert. Die angedeutete aktuelle „Krise“ hat gleichwohl besondere Merkmale, die eine erneute Beschäftigung mit „Professionalität“ nötig machen. „Professionalität“ in Bedrängnis? Schon vor einigen Jahren wurden für einzelne Professionen wie auch für bestimmte Gruppen qualifizierter Berufstätiger Entwicklungen registriert, die auf einen Verfall von Standards beziehungsweise deren Realisierungsmöglichkeiten hinweisen. Vor allem für Ärzte und Pflegekräfte (z. B. aktuell in Bollinger et al. 2005, Schönwälder 2009), aber auch für Beschäftigte in der Sozialen Arbeit und Bildung konnte gezeigt werden, dass sie in einzelnen Aspekten einer „Deprofessionalisierung“ ausgesetzt sein können. Als Ursachen werden u. a. genannt, dass … • arbeitsteilige Organisationszusammenhänge berufliche Autonomien begrenzen; • fachliche Standards durch andere (v. a. ökonomische) Erfordernisse in Organisationen relativiert werden; • Automationstechnologien Entscheidungsmöglichkeiten von Professionsmitgliedern gefährden; • innerprofessionelle Probleme (z. B. die Verletzung ethischer Ansprüche) öffentlich werden und so die Vertrauenswürdigkeit von Professionen unterminieren; • der Alleinexpertenanspruch durch wachsende Gutachterkonkurrenzen und sich emanzipierende Laien infrage gestellt wird. Eine ähnliche Diskussion findet bezogen auf andere Gruppen auch in der Industriesoziologie statt (vgl. Kern 1998). Frage ist dort, ob durch den Wandel von Produktionstechnologien und betrieblichen Rationalisierungsstrategien die Anforderungen an das qualifikatorische Niveau der Arbeit von produktionsnahen Beschäftigten systematisch abnehmen („De-Qualifizierungs“-These) oder nach einer Phase des Niedergangs das Qualifikationsniveau vielleicht auch wieder steigen („Re-Qualifizierungs“-These). Bekannt wurde eine vermittelnde „Polarisierungs“-These, wonach einer Mehrheit zunehmend de-qualifizierter Arbeiter/innen eine kleine Gruppe höher qualifizierter Beschäftigter gegenübersteht. Sie führte später zu der Prognose, dass im Zuge „neuer Produktionskonzepte“ regelrecht „re-professionalisierte“ Arbeitergruppen entstehen können. Beide Diskussionen thematisieren also Entwicklungen, die als Rücknahme bisheriger „Professionalität“ bei einzelnen Gruppen verstanden werden können, deren gesellschaftliche Tragweite aber als begrenzt einzuschätzen ist. Wenn hier demgegenüber von einer aktuellen „Krise“ der Professionalität gesprochen wird, meint dies Verände-

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rungen, die mit neuer Reichweite, anderen Ursachen und nicht zuletzt mit neuartigen individuellen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen auftreten. Die aktuelle „Krise“ der Professionalität Die Gefährdung beruflicher Standards und Leistungsqualität, die hier Anlass zu Überlegungen zum Wandel von Professionalität gibt, ist gegenüber den bisher geschilderten eher begrenzten Phänomenen von einer anderen Qualität. Drei Unterschiede lassen sich benennen: Neue Reichweite Auch wenn eingangs nur Beispiele aus der interaktiven Dienstleistungsarbeit genannt wurden, ist offensichtlich, dass derartige Phänomene letztlich in allen Branchen, Berufsgruppen und Bereichen von Organisationen zu finden sind, sodass man von einem wesentlich umfassenderen Problem sprechen muss. Der Fokus auf Dienstleistungsarbeit ist gleichwohl nicht zufällig. Ein wichtiges Merkmal der aktuellen Entwicklung ist, dass Dequalifizierungs- und Professionalitätsprobleme nun auch in einem Bereich auftreten, der lange Zeit als weitgehend resistent gegen massive Rationalisierungen und damit gegen Einwirkungen auf Arbeitsqualität, Autonomiespielräume und Qualifikation von Beschäftigten galt. Neue Ursachen Eine besondere Qualität erhalten die aktuellen Entwicklungen auch dadurch, dass sie durch eine neuartige Konstellation struktureller Bedingungen ausgelöst sind. Eine spezifische Bedeutung kommt dabei den Veränderungen zu, die in der Arbeits- und Industriesoziologie als „Entgrenzung“ und „Subjektivierung“ von Arbeit bezeichneten werden: Mit „Entgrenzung“ werden Veränderungen der gesellschaftlichen und betrieblichen Organisation von Arbeit seit Mitte der 1980er Jahre angesprochen (vgl. z. B. Gottschall/ Voß 2005, Kratzer 2003, Voß 1998), bei denen vor allem aufgrund eines gestiegenen Kosten- und Konkurrenzdrucks bis dahin relativ stabile Strukturen (z. B. Arbeitszeiten) im weitesten Sinne „flexibilisiert“ werden. Die tendenzielle Auflösung der bis dahin weithin charakteristischen strukturellen Trennung von erwerbsförmiger „Arbeit“ und privatem „Leben“ ist neben vielen anderen Erscheinungen dafür ein Beispiel (Gottschall/ Voß 2005, Jurczyk et al. 2009). Solche Veränderungen bedingen nicht zuletzt eine systematische Umstellung der betrieblichen Steuerung von Arbeit. Direkte Detailkontrollen werden tendenziell zurückgenommen, indirekte Steuerungen ausgebaut (z. B. durch Ergebniscontrolling usw.). Dazu wird Beschäftigten in begrenztem Umfang eine paradoxe neue „Freiheit“ in allen Dimensionen (nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich, sachlich, sozial, technisch usw.; vgl. Voß 1998) eingeräumt. Diese bringt einerseits erweiterte Chancen für eine selbstgesteuerte Gestaltung von Tätigkeiten mit sich. Andererseits ergibt sich aus ihr der Zwang, das Arbeitshandeln mehr als bisher selbstverantwortlich und unter Einsatz

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aller subjektiven Potenziale organisieren zu müssen, was als „Subjektivierung“ von Arbeit bezeichnet wird (vgl. Moldaschl/Voß 2003, darin u. a. Kleemann et al. 2003, Lohr/ Nickel 2005, Voß/Weiß 2005b). Neue Folgen Diese Dynamik hat weitreichende Folgen nicht nur für einzelne Betroffene, sondern in allen Bereichen von Arbeit und Betrieb. Ein besonderes, bisher kaum beachtetes Feld sind die hier im Fokus stehenden Konsequenzen für die Realisierung beruflicher Standards und fachlicher Qualitätsanforderungen. Es handelt sich dabei um eine wesentlich tiefergehende und weiterreichende Relativierung von Professionalität, als bei den bisher gelegentlich beobachteten Prozessen der „Deprofessionalisierung“ und „Dequalifizierung“. Es geht um die potenzielle Gefährdung bisher gesellschaftlich wie individuell oft als fast sakrosankt angesehener Standards, die zum Teil den Kern des traditionellen Leistungsethos wichtiger beruflicher Gruppen berührt. Einige Stichworte sollen dies verdeutlichen: Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wird in vielen Bereichen zunehmend … • die Bewältigung widersprüchlicher Anforderungen und Interessen zugemutet, wodurch die fachliche Qualität ihrer Tätigkeit erheblich leidet; • zugleich die Ressourcenbasis für qualitätsvolle Arbeit (zeitlich, sachlich, sozial, technisch usw.) beschnitten, was die Realisierung fachlicher Standards zusätzlich erschwert; • mehr oder weniger offen von betrieblicher Seite signalisiert, dass professionelle Anforderungen nicht nur vernachlässigt werden können, sondern (v. a. aus wirtschaftlichen Gründen) zurückgestellt werden müssen; • mit wenig verschleiertem Druck abverlangt, Kostensenkung und Profit wichtiger zu nehmen als traditionelle professionelle Qualität; • vermittelt, dass die oft plakativ propagierte „Kundenorientierung“ in der Praxis „Grenzen“ hat; • eine ernsthafte Wertschätzung professioneller Arbeit verweigert oder sogar das Beharren auf Qualitätsstandards systematisch lächerlich gemacht; u. a. m. Drei Szenarien zur Zukunft von Professionalität Das umrissene Bild führt nicht nur zu der Frage nach den spezifischen Ursachen und Folgen der damit skizzierten Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit beruflichen Leistungsstandards, sondern zu der allgemeinen Frage, wie ein solcher Strukturwandel insgesamt zu interpretieren ist, um abschätzen zu können, wohin der Weg führt und wo Handlungsbedarf besteht. Drei Szenarien sind denkbar: Das Ende der Professionalität? Eine erste Prognose könnte erwarten, dass die Entwicklung tatsächlich auf ein Ende von zuverlässiger Qualität und solider Fachkompetenz im gewohnten Sinne hinausläuft, sich also externe (v. a. ökonomische) Zwänge in Folge der Globalisierung von Märkten und der damit relativierten politischen Steuerungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene

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gegenüber gewohnten beruflichen Ansprüchen weithin durchsetzen. Professionelle und Fachkräfte würden sich resignativ oder auch zynisch und instrumentell von ihren Standards verabschieden. Wenn überhaupt noch traditionelle Qualität angeboten wird, dann nur noch zu hohen Preisen. Die Bezeichnung für eine derartige Entwicklung könnte „Postprofessionalität“ lauten: eine Ära jenseits der nun auslaufenden Epoche hoher und zuverlässiger Leistungsqualität von Arbeit. Eine sich neu stabilisierende Professionalität? Ein gegenläufiges Szenario könnte gegenüber dieser kulturpessimistischen Interpretation mit eher pragmatisch-realistischer Haltung davon ausgehen, dass alles nur „halb so schlimm“ ist. Trotz vereinzelter Probleme sollten sich die Schwierigkeiten begrenzen und mit klarer Regulierung Qualität wieder auf neue Weise sichern lassen, wenn nur die richtigen Akteure in Arbeit, Betrieb und Politik anpacken. Fachstandards würden sich, vielleicht in neuer Form, wieder durchsetzen – schon allein deswegen, weil die Wirtschaft dringend auf Qualität angewiesen ist. Außerdem könne der kritische Verbraucher als souveränes Marktsubjekt über seine Kaufentscheidungen Qualität und Professionalität erzwingen. Debatten über Wirtschaftsethik und öffentliche Appelle könnten ein Übriges tun. Wenn überhaupt Änderungen erfolgen, dann als Tendenz zur „Neoprofessionalität“ – eine Epoche neu aufblühender fachlicher Qualität von Arbeit, wie sie gerade für den durch „Wertarbeit“ berühmt gewordenen Standort Deutschland schon immer typisch gewesen war. Subjektivierung von Professionalität? Die folgenden Überlegungen möchten der Versuchung der beiden zugespitzten Szenarien aus dem Weg gehen: kein Untergang, kein Immer-Weiter-So mit gutem Ausgang, sondern ein drittes Bild, das die Veränderungen so versteht, dass ein historisch neues Niveau der Vermittlung immer schon vorhandener widersprüchlicher Faktoren und Interessen im Feld von Arbeit, speziell beim Thema Qualität und Professionalität, erreicht wird. Es schließt an die Interpretationen des Strukturwandels von Arbeit und Arbeitsgesellschaft an, die in der These einer „Entgrenzung und Subjektivierung“ von Arbeit und Arbeitsgesellschaft zusammenlaufen. Im Zentrum dessen kann man die Figur (und die These) des Arbeitskraftunternehmers sehen, mit der prognostiziert wird, dass in spätmodernen Sozialverhältnissen den betroffenen modernen Arbeitssubjekten zunehmend die Aufgabe zufällt, die wachsenden Widersprüche und Ambivalenzen nicht nur auszuhalten, sondern selbst zu bearbeiten und produktiv zu wenden. Es wird also gefragt: Was bedeutet das Thema Professionalität für den Arbeitskraftunternehmer? Die Antwort könnte sein, dass sich eine neue Professionalität entwickelt, die von betroffenen Subjekten als komplexe individuelle Leistung der aktiven Vermittlung fachlicher und damit konfligierender außer- oder überfachlicher Anforderungen in ihrer Arbeit erbracht werden muss: eine sozusagen „Subjektivierte Professionalität“. Im Moment stellt sich das meist noch als eine nur ad hoc zu bewältigende Zumutung dar – und oft gelingt es eben

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nicht, wie die erwähnten Beispiele zeigen sollen. Zukünftig könnte sich daraus aber eine neuartige Qualität von Professionalität entwickeln, die für eine mit der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit (und Arbeitsgesellschaft) entstehende neue historische Phase charakteristisch sein könnte.

Subjektivierte Professionalität – oder: Der professionelle Arbeitskraftunternehmer Die These des Arbeitskraftunternehmers4 prognostiziert die schrittweise Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Leittypus der viel zitierten „Ware Arbeitskraft“ (Marx) im Zuge des Übergangs zu einer post-fordistischen Stufe des Kapitalismus (vgl. insb. Voß/Pongratz 1998 und Pongratz/Voß 2003). Historische Vorläufer dieses Typus sind der frühe „Proletarische Lohnarbeiter“ und der bis heute in manchen Bereichen immer noch charakteristische „verberuflichte Arbeitnehmer“. Vor allem gegenüber diesem letzten Modell zeichnet sich der Arbeitskraftunternehmer durch drei Merkmale aus: (1) vertiefte „Selbst-Kontrolle“ im Arbeitsprozess; (2) erweiterte „Selbst-Ökonomisierung“, d. h. zunehmend aktive Herstellung und Vermarktung der eigenen Arbeitskraft; (3) systematische „Selbst-Rationalisierung“ von Lebensführung und Lebenslauf. In der Diskussion der These wurde bisher kaum gefragt, ob der Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers von der Masse der Erwerbstätigen überhaupt problemlos auf Dauer umgesetzt werden kann. Spätestens mit dem hier ins Auge gefassten Thema ist zu betonen, dass der Arbeitskraftunternehmer in Reinform vermutlich … • für einen großen Teil der Erwerbstätigen (zumindest unter den derzeitigen Bedingungen) nicht langfristig auf stabile Weise praktizierbar ist, individuell, aber auch betrieblich und gesellschaftlich; • in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft die Leistungs- und Produktqualität von Arbeit systematisch unterminiert; • tendenziell die Person, ihr soziales Umfeld sowie den betrieblichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet; • für begrenzte Gruppen, Zeiten, Funktionen zwar partielle Vorteile oder Erfolge generieren kann, aber nicht nachhaltig ist. Der Typus wird gleichwohl in vielen Bereichen (Betriebe, Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik usw.) und für viele Gruppen nach wie vor oft als Leitbild propagiert, sogar von Betroffenen selbst. Nicht zuletzt auch als Folge dessen setzen sich die Merkmale des Arbeitskraftunternehmers immer mehr als Anforderung durch. Zugleich mehren sich aber auch die Anzeichen erheblicher Dysfunktionalitäten, etwa in den angedeu-

4 „Der“ Arbeitskraftunternehmer meint den Typus und nicht die männliche Form. Für genderbezogene Überlegungen zum Arbeitskraftunternehmer siehe u. a. Voß/Weiß (2005a, 2010).

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teten Folgen für die Qualität von Leistungen oder (z. T. als Folge davon) für die Gesundheit von Betroffenen. Es fehlt bisher eine Erweiterung des Konzepts um die Frage, unter welchen Bedingungen berufliche Tätigkeit und persönliches Leben als „Unternehmer seiner Selbst“ ohne gravierende negative Nebenfolgen dauerhaft möglich sind. These hierzu ist, dass eine Person nur dann nachhaltig als Arbeitskraftunternehmer „arbeiten“ und „leben“ kann, wenn sie die typologischen Anforderungen mit vielfältigen anderen (darunter nach wie vor auch traditionell fachlichen) Erfordernissen und Interessen vermittelt. Erst eine solche Form der praktischen Realisierung des Modells kann als professionelle Form des Arbeitskraftunternehmers gelten. Eine Vermittlung verschiedenartiger Erfordernisse und Interessen musste auch bisher schon immer von fast jeder Arbeitskraft geleistet werden, ist also im Prinzip nichts Neues, und war schon immer, wenn auch wenig beachtet, Voraussetzung für Professionalität. Die zu vermittelnden verschiedenartigen Anforderungen werden jedoch, so die zentrale Annahme, angesichts der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit im Übergang zu einem neuen‚ flexiblen (Sennett 1998) Kapitalismus zunehmend komplexer und nicht zuletzt in neuer Qualität widersprüchlich. Vor allem aber wird die erforderliche Vermittlungsleistung nur noch begrenzt (wenn überhaupt) durch verbindliche soziale Regulierungen und Rahmungen abgesichert. So führt etwa die Deregulierung und Flexibilisierung von betrieblichen Strukturen vor dem Hintergrund eines steigenden ökonomischen Drucks dazu, dass fachliche Standards mehr oder weniger explizit relativiert werden und die Orientierung an einem beruflichen Ethos systematisch geschwächt wird. Folge ist, so die zentrale These des Beitrages, dass die Vermittlung verschiedenartiger Anforderungen als Basis der Sicherung von Professionalität und Qualität von Arbeit den Betroffenen in erweiterter Form als kontinuierlich von ihnen je individuell zu erbringende Leistung zugewiesen wird. Arbeitskraftunternehmer müssen so gesehen also nicht nur systematisch mehr Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung betreiben. Sie müssen vielmehr, soll dies nachhaltig sein, zusätzlich in Form einer Selbst-Professionalisierung dafür sorgen, dass ihre Tätigkeit für den Arbeitsprozess, für den Betrieb, für die Nutzer ihrer Leistungen, ja sogar für ihr soziales Umfeld und für die Gesellschaft, in der sie leben, sowie nicht zuletzt für sie selbst, langfristig verkraftbar und möglichst nutzbringend ist. Diese erweiterte Zumutung an Berufstätige hat neuartige problematische Folgen für Betroffene, etwa veränderte Belastungen und ein daraus resultierendes verändertes Profil berufsbedingter Erkrankungen. Sie kann potenziell auch neue positiv zu bewertende Möglichkeiten bieten, etwa ein situativ angemesseneres, flexibleres Arbeiten. Das ist aber nur realisierbar, wenn die Person über ausreichend Kompetenzen zur SelbstProfessionalisierung verfügt und die strukturellen Bedingungen ihrer Tätigkeit (betrieblich, berufsorganisatorisch, sozialpolitisch usw.) dies unterstützen.

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Was das im Einzelnen bedeuten kann, soll im Folgenden entlang der Merkmale des Arbeitskraftunternehmers und mit Fokus auf die beiden oben genannten Kernbedeutungen von Professionalität präzisiert werden (ausführlicher Voß 2012 a, b): Der Arbeitsprozess des professionellen Arbeitskraftunternehmers Professionelle Arbeitskraftunternehmer müssen zunächst die mehrfach beschriebene Selbst-Kontrolle ihrer konkreten Tätigkeit in allen Tätigkeitsdimensionen ausüben. Für ihre Professionalität entscheidend ist jedoch, dass sie das mit weiteren Leistungen verbinden: Sie müssen situativ einen reflexiv-pragmatischen Abgleich traditioneller Standards ihres engeren Fachgebiets mit zunehmend komplexeren außerfachlichen, insbesondere ökonomischen Anforderungen leisten: betriebliche Kostenkontrolle und Einsparungszwang, wechselnde Marktanforderungen und marktlicher Zeitdruck, konkrete Kundenerwartungen oder gar direkte Kundeninterventionen, Erwartungen (nicht selten auch Konkurrenzen) anderer betrieblicher Bereiche und Personen usw. Wenn dieser Abgleich nicht überproportional zulasten fachlicher Kriterien gehen soll, braucht es eine aktive (vielleicht sogar subversive) Sicherung fachlicher Freiheitsgrade und individueller Definitionen von fachlichen Standards (die dann situativ flexibel gehandhabt werden müssen), den Aufbau und die Pflege eines je individuellen beruflichen Selbstbewusstseins in Verbindung mit einem persönlich konturierten Commitment und der aktiven Beschaffung fachlicher Anerkennungen, einschließlich eines kollegialen Networkings u. v. a. m.5 Die Ökonomie des professionellen Arbeitskraftunternehmers Auch hier ist die typologisch definierte Selbst-Ökonomisierung als verwertungsbezogene Herstellung und erwerbssichernde (vielleicht auch maximierende) Vermarktung individualisierter Arbeitskraft konstitutiv für professionelle Arbeitskraftunternehmer. Dies darf jedoch nicht auf eine zum Beispiel rein einkommensorientierte Instrumentalität verengt werden, die gegenüber den inhaltlichen Fähigkeiten und Funktionen weitgehend ignorant ist (auch wenn dies gelegentlich so propagiert wird). Im Gegenteil: Wirklich professionelle Arbeitskraftunternehmer müssen neben der unvermeidlichen Selbstökonomisierung systematisch die Pflege eines ganz persönlich vertieften, konturierten und kontinuierlich erweiterten individuellen Profils fachlicher Qualifikationen und überfachlicher Kompetenzen betreiben („Individualberuf “, Voß u. a. 2001). Zusätzlich sichern sie gezielt eine möglichst hohe persönlich definierte berufliche Autonomie (und sind ggf. bereit, dafür Betriebe und Funktion zu wechseln), orientieren sich

5 Koppetsch (u.a. 2008) zeigt genau in diesem Sinne an Berufstätigen in der Kultur- und Werbebranche, wie fachliche Ansprüche und Autonomieinteressen mit einer Anpassung an Marktanforderungen und betriebliche Flexibilisierungsstrategien vermittelt werden und damit eine neue Qualität von Professionalität aufgebaut wird.

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an funktionsübergreifenden sie motivierenden Werten, verbinden ihre Erwerbstätigkeit ggf. mit nicht oder nicht primär erwerbsbezogenen fachlichen Tätigkeiten, etwa um daraus zusätzliche oder andere berufliche Bestätigungen zu erhalten, ein Netzwerk zu pflegen usw. Das Leben des professionellen Arbeitskraftunternehmers Ohne Selbst-Rationalisierung von Alltag und Biographie in allen Dimensionen und mit allen Mitteln ist ein idealtypischer Arbeitskraftunternehmer nicht denkbar. Nachhaltig und substantiell professionell kann das aber nur gelingen, wenn die „Rationalisierung“ des Lebens komplexer gefasst wird als etwa in den populären Ratschlägen zu „Zeit-“ und „Work-Life-Management“: Professionalität bedeutet für einen Arbeitskraftunternehmer immer auch einen bewussten und auf Nachhaltigkeit angelegten sorgenden Umgang mit sich als Person („Selbstfürsorge“), den eigenen Lebenszielen sowie der gesamten Lebensführung und dem Lebensweg. Dazu gehört auch ein sorgender Umgang mit dem sozialen Umfeld (Partner, Kinder, Verwandtschaft, Freunde, Nachbarn, weiteres Lebensumfeld usw.) vor dem Hintergrund einer individuellen Wertbasis in weit verstandener sozialer Verantwortung. Gerade in dieser Dimension wird sichtbar, dass ein eng an den Anforderungen des Arbeitskraftunternehmers ausgerichtetes strategisches Verhalten möglicherweise kurzfristig „Erfolge“ mit sich bringt, sich aber langfristig und bezogen auf den weiteren individuellen und sozialen Lebensrahmen als potenziell (nicht nur gesundheitlich) selbstgefährdend und daher ausgesprochen un-professionell erweisen kann – was aber erst nach und nach in das Bewusstsein der Betroffenen und der Öffentlichkeit dringt. Zusammengefasst heißt dies: Professionelle Arbeitskräfte unter entgrenzten und subjektivierten Bedingungen sind kompetente Unternehmer-ihrer-selbst in fachlicher, ökonomischer und existenzieller Hinsicht. Sie verbinden diese Fähigkeit aber mit einer weit verstandenen und vieldimensionalen Selbst-Zivilisierung oder Selbst- und SozialVerantwortung. Ökonomisch gesehen (und mit Marx gesprochen) geht es darum, dass ein professioneller Arbeitskraftunternehmer die Sicherung der für den kapitalistischen Verwertungsprozess unabdingbaren Vermittlung der Gebrauchs- und Tauschwertaspekte im „neuen“ Kapitalismus systematisch mehr als seine Vorgänger selbst übernimmt.

Worunter leidet der Arbeitskraftunternehmer? Depression und Erschöpfung als Leiterkrankungen der entgrenzten und subjektivierten Arbeitswelt Der Beitrag begann mit der durch die Befunde der DGSv-Studie bestätigten Feststellung, dass sich in deutschen Organisationen eine besorgniserregende Zunahme von Qualitäts- und Professionalitätsproblemen abzeichnet. Wenn hier nun eine These dazu vorgestellt wurde, dass modernen Arbeitskräften verstärkt individuell zugemutet wird, Qualität und Professionalität vor dem Hintergrund zunehmend widersprüchlicher

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Anforderungen (z. B. fachlicher Leistungsqualität vs. Kostensenkungs- bzw. Profitinteressen) selbst zu sichern und die damit entstehenden Konflikte zu bewältigen, dann ist das eine äußerst ambivalente Botschaft. Wie fast immer im Zusammenhang mit entgrenzter und subjektivierter Arbeit bzw. mit der neuen Figur des Arbeitskraftunternehmers kann auch diese Entwicklung bedeuten, dass für die Betroffenen damit einerseits neue Chancen für ein selbstbestimmteres Arbeiten, andererseits aber auch neue Risiken und Gefahren verbunden sind: Subjektivierte Professionalität kann sich derart darstellen, dass Berufstätige aktiv Verantwortung übernehmen, für sich, für ihre Arbeit und darüber vermittelt für die Arbeitsqualität und letztlich für die Gesellschaft (die auf zuverlässige nützliche Arbeit angewiesen ist). Eine neue Qualität von Professionalität, die die Sicherung von Qualität den Betroffenen unter verschärften Bedingungen zuweist, kann aber auch bedeuten, dass Arbeitskräfte von den neuen Anforderungen und vor allen Dingen von den damit verbundenen Entscheidungen überfordert sind, und Qualität und Professionalität genau deswegen auf der Strecke bleiben. Das ist nicht selten dann der Fall, wenn Arbeitskräfte durch die neue Situation in massive fachliche (oft sogar im engeren Sinne ethische) Dilemmata geraten und sich vor die Entscheidung gestellt sehen, zwischen verschiedenen Risiken nicht nur für sich, sondern auch für die Betroffenen ihrer Arbeitsergebnisse wählen zu müssen. Ein drastisches (aber nicht selten vorkommendes) Beispiel ist ein Arzt in der Notaufnahme, der entscheiden muss, ob er einen schwerwiegenden Eingriff noch nach dem formellen Ende seiner Schicht aufgrund fehlenden Personals ablehnt, weil er übermüdet ist, oder ob er riskiert, gravierende Fehler zu machen. Dass solche Situationen zunehmen und daraus für Beschäftigte Belastungen erwachsen, unter denen sie erheblich leiden, wird (wie oben gezeigt) in der DGSv-Studie von vielen der befragten Experten geschildert. Zur Erinnerung: Dass „Konflikte über Qualitätsstandards zwischen Management und Beschäftigten (bestehen), zunehmender Zeit- und Leistungsdruck (dazu) führt, dass nicht mehr qualitätsvoll gearbeitet werden kann und in der Folge Beschäftigte darunter (leiden), wenn sie gezwungen werden, unprofessionell zu arbeiten“, bestätigen fast 70 % der Befragten. Das ist ein erschreckend hoher Wert. Eine Vermutung ist daher, dass Qualitäts- und Professionalitätskonflikte und der daraus entstehende Zwang zu einer „subjektivierten“ Professionalität ein bisher kaum beachteter Faktor bei der seit einiger Zeit weithin zu beobachtenden6 und nicht zuletzt auch durch die beiden Wellen der Studie eindringlich bestätigten drastischen Zunahme arbeitsbedingter psychischer Störungen ist. Die mit dem zurzeit populären (aber aufgrund seiner Unklarheit nicht unproblematischen) Stichwort „Burnout“ weithin thematisierte und von manchen Beobachter/ innen als nahezu epidemische Entwicklung bewertete Steigerung von depressiven

6 Vgl. Weiß in diesem Band, s. a. Voß 2010, Voß u. a. 2012.

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Symptomatiken und Erschöpfungserscheinungen bei Berufstätigen hat vermutlich viele Ursachen. Fast alle können jedoch in das weitere Feld der oben als „Entgrenzung“ und „Subjektivierung“ von Arbeit beschriebenen Veränderungen eingeordnet werden. Entscheidendes Moment, so hier die Annahme, ist dabei jedoch die mit dem Strukturwandel zunehmenden Widersprüchlichkeiten, Konflikte und Ambivalenzen, deren Bewältigung immer stärker den Beschäftigen zufällt und mit denen sie, wie die DGSvStudie ebenfalls zeigt, meist allein gelassen werden. Die mit einem viel beachteten Buchtitel als „Das erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg 2011) beschriebenen gesundheitlichen Folgen für moderne „flexible“ Arbeitskräfte (Sennett 1998) und insbesondere für den „Arbeitskraftunternehmer“ können daher als Leiterkrankung der entgrenzten und subjektivierten Arbeitswelt verstanden werden. Beschäftigte, die unter entgrenzten und subjektivierten Bedingungen tätig sind, leiden unter für sie typischen Belastungen, die als solche neu sind, auch wenn sie nun in neuen Formen auftreten: Zeit- und Leistungsdruck, unzureichende Ressourcen, belastende Umgebungsbedingungen, beschränkte Möglichkeiten der Selbstregulation der Tätigkeit u. v. a. m. Was aber in besonderem Maße die Arbeitskraftunternehmer belastet und dann zu psychischen Erkrankungen führen kann, sind die geschilderten verstärkt widersprüchlichen Anforderungen und der Zwang zur Selbststeuerung in Situationen mit unklaren Strukturen, fehlender Unterstützung und ausbleibender Anerkennung. Man muss sogar fragen, ob diese belastenden und immer häufiger auch krankmachenden Veränderungen der modernen Arbeitswelt nicht die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft ziehen. Vielleicht geht es schon lange nicht mehr nur um einzelne erschöpfte Menschen in bestimmten Berufen und Betrieben, sondern um eine insgesamt „Erschöpfte Gesellschaft“. Der Aussage Hans-Jürgen Urbans (IGM-Vorstand) zum Thema Burnout „Hier tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe“ ist von daher voll zuzustimmen.7 Wenn hier von den Chancen und Risiken einer sich abzeichnenden neuen Professionalität gesprochen wird, ist damit auch gesagt, dass die zu beobachtenden gesundheitlichen Folgen des gesellschaftlichen Wandels auch gesamtgesellschaftlich gesehen zweierlei bedeuten: Sie sind Ausdruck von Veränderungen, die die betroffenen Menschen zunehmend massiv „fordern“ (meist ohne sie ausreichend für diese neuen Anforderungen zu „fördern“) und ihnen zumuten, mit den Problemen nicht nur umzugehen, sondern sie irgendwie zu „lösen“. Das kann sie erheblich belasten und zu ernsthaften Erkrankungen führen, könnte aber auch positive Reaktionen auslösen: eine neue professionelle „Achtsamkeit“ und verantwortliche Orientierung an „Nachhaltigkeit“ für sich, für die eigene Arbeit und für die Folgen der Arbeit in der Gesellschaft – vielleicht sogar eine Art „Gegenwehr“. Ein erster Schritt dazu ist einzusehen, dass man mit seiner Arbeit an persönliche Grenzen gerät, bestimmte Dinge nicht mehr verantworten kann

7 „Hier tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe“, Süddeutsche Zeitung 27.9.2011 (http://is.gd/ JSYGwZ)

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und persönliche Schlüsse daraus zu ziehen – etwa in der Form, dass man bestimmte Zumutungen offen zurückweist oder sogar das bisherige Tätigkeitsfeld selbstbestimmt verlässt. In den Forschungsgesprächen der DGSv-Studie werden solche Entscheidungen, etwa ein selbstbewusster Karriereverzicht, häufig am Beispiel von Frauen geschildert. Dies kann schließlich auch bedeuten, dass man versucht, angesichts als untragbar empfundener Zumutungen aktiv gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen, sei es in der beruflichen Tätigkeit oder in einem weiteren sozialen Kontext. Manche Reaktion auf den beeindruckenden Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard“ (Carmen Losmann 20128) kann den Eindruck erwecken, dass die Öffentlichkeit sensibler dafür wird, was derzeit in der „subjektivierten“ Arbeitswelt geschieht. Dem deutlichen Kommentar eines FAZ-Autors9 zum Film jedenfalls ist in diesem Sinne nichts hinzuzufügen: Der Film zeige „Abgründe des neuen ökonomischen Totalitarismus am Arbeitsplatz“ und „wie die Betriebswirtschaft unser Leben zerstört und am Ende vielleicht auch den klassischen Kapitalismus“.

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8 Work Hard – Play Hard (2011). Ein Dokumentarfilm von Carmen Losmann (Buch und Regie). Eine Produktion von ZDF und ARTE gefördert durch die Filmstiftung NRW. 9 „Führen durch Weichspülen“, Rüdiger Suchsland, FAZ 12.04.2012 http://is.gd/vNnkNA (zuletzt gelesen am 20.10.2012).

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Von Angst- bis Zwangsstörung Psychische Erkrankungen und ihre Verbreitung Cornelia Weiß

Einleitung In den Befunden der in diesem Band thematisierten Studie werden mehrfach Hinweise auf eine neue Qualität gesundheitlicher Gefährdung der Beschäftigten im Kontext von betrieblichen Veränderungen gegeben. So werden Erschöpfung und Gefährdungsszenarien für psychische Gesundheit besprochen. Diese finden seit einiger Zeit auch heftige mediale Beachtung. Mehrfach waren in den letzten Monaten Beiträge zu psychischen Erkrankungen auf den Titelblättern einschlägiger Nachrichtenmagazine zu finden. Die Reihe der spiegel wissen gab mittlerweile zwei Sonderhefte zum Thema: „Das überforderte Ich – Stress, Burnout, Depression“ und „Patient Seele – wie die Psyche wieder ins Gleichgewicht kommt“ heraus. Das Manager-Magazin 6/2012 stellte sogar ein Burnout-Ranking der DAX-Konzerne vor. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche psychischen Störungen oder Erkrankungen dabei gemeint sind und was über deren Verbreitung bekannt ist bzw. welche Daten dazu vorliegen. Die relevanten psychischen Störungen werden im nächsten Abschnitt 2 kurz vorgestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Depressionen, Burnout und Angststörungen. Neben verschiedenen Krankheitsbildern werden die diagnostischen Unsicherheiten, die sich aus den speziellen Herausforderungen psychischer Erkrankungen ergeben, angesprochen. Dieser Beitrag geht weiterhin der Frage nach, welche Quellen zur Einschätzung dieses Phänomens, das hysterisch oder aber auch verharmlosend diskutiert wird, benannt und welche Schlüsse aus dem vorliegenden Datenmaterial gezogen werden können (Abschnitt 3). Dazu werden der Bundes-Gesundheitssurvey des RobertKoch-Instituts (RKI), die Reports der gesetzlichen Krankenkassen, drei dazu vorhandene Metastudien und einige ergänzende Untersuchungen überblicksartig vorgestellt. Die abschließenden Gedanken im Fazit (Abschnitt 4) fassen den Trend nochmals zusammen und benennen Auslöser bzw. Risikofaktoren.

Krankheitsbilder und Diagnostische Unsicherheiten Im alltäglichen Sprachgebrauch haben die Begriffe zu psychischen Erkrankungen einen festen Platz. Tiefergehende Kenntnis ist jedoch eher selten. Um sich aber näher mit dem Auftreten dieser Krankheiten auseinanderzusetzen, erscheint eine kurze Klärung der Symptome und Diagnostik der wichtigsten Erkrankungen sinnvoll. Dieser Abschnitt stellt die relevanten psychischen Störungen (Depression, Burnout, Anpassungsstörung, Dysthymia, Neurasthenie, Abhängigkeitssyndrome und Angst-

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störungen) kurz vor und weist auf die diagnostischen Problemlagen, die sich in besonderem Maße bei diesen Krankheitsbildern zeigen, hin. Seit der Einführung des ICD-101 im Jahr 2000 sind die vertragsärztlich tätigen Mediziner verpflichtet, die Diagnosen auf dieser Basis zu verschlüsseln. Die einheitliche Dokumentation ermöglicht u. a. die vergleichende Auswertung der Krankenkassendaten (Dilling et al. 2000). Psychische Störungen mit medizinisch anerkanntem Krankheitswert sind unter Kapitel V, F00–F99, Psychische und Verhaltensstörungen klassifiziert. Als Ergänzung dieses Kapitels dient das DSM-IV2 (Saß et al. 1998). Depression 3 Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählen Depressionen. Aufgrund ihrer Häufigkeit, möglicher Komplikationen und Folgen haben sie eine herausragende klinische, gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Bedeutung (Wittchen et al. 2010). Depressive Erkrankungen gehören zur Gruppe der so genannten affektiven Störungen. Unter dem Begriff „Affektive Erkrankungen“ werden verschiedene Formen depressiver und sogenannter manischer bzw. manisch-depressiver Erkrankungen (auch bipolare Störungen genannt, siehe ICD-10: F30–F31) subsumiert. Bei diesen kommt es zu Störungen von Affekt, Stimmung und damit einhergehenden Kognitionen. Sowohl im ICD-10 als auch im DSM-IV wird zwischen einzelnen Episoden und rezidivierenden Störungen unterschieden. Zu den Kernsymptomen zählen bedrückte Stimmung, Verlust von Interesse oder Freude und erhöhte Ermüdbarkeit. Neben diesen müssen noch weitere Symptome (wie etwa Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Gedanken an Tod und Suizid, Selbstmordhandlungen, Schlafstörungen, ein verminderter oder gesteigerter Appetit sowie Unruhe oder Verlangsamung) über mindestens zwei Wochen vorliegen, damit eine Depression diagnostiziert wird. Je nach der Anzahl und Schwere dieser Symptome kann unterschieden werden zwischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) und schweren (F32.2) depressiven Episoden (Wittchen et al. 2010). Wesentliches Merkmal depressiver Störungen sind die Schwierigkeiten bei der Bewältigung sozialer, beruflicher und häuslicher Aufgaben.

1 Das von der WHO herausgegebene ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste international anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin, das aktuell in der 10. Ausgabe vorliegt (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2009). 2 Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird von der American Psychiatric Association herausgegeben (Saß et al. 1998). 3 Depressionen sind im aktuellen ICD-10 unter F30–F39 klassifiziert.

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Die Genese von Depressionen ist noch ungeklärt. Neben der Beteiligung vieler Faktoren konnte eine erbliche Disposition nachgewiesen werden. Dabei wird vor allem eine anlagebedingte Störung des Serotonin- oder Cortisolstoffwechsels in Betracht gezogen. Es spricht auch einiges für die Beteiligung psychosozialer Faktoren. Tiefgreifende Lebensereignisse, wiederkehrende Enttäuschungen, negative Weltsicht und die wiederholte Erfahrung mangelnder Kontrolle über Situationen und unangenehme Konsequenzen können in die Depression führen. Vorangegangene Angststörungen, andere psychische oder physische Erkrankungen erhöhen ebenfalls das Risiko, an einer Depression zu erkranken (Wittchen et al. 2010). Burnout4 Als relativ neue Störungsform wird immer wieder auf das Burnout-Syndrom verwiesen. Dabei handelt es sich bei Burnout genau genommen nicht um eine Krankheit, d. h., es ist keine Erkrankung im Sinne der kanonisierten medizinischen Definition. Den Begriff „Burnout“ prägte Freudenberger (1974). Empirische Arbeiten und die Entwicklung von Instrumenten zur Messung von Burnout schlossen sich an (Maslach/Jackson 1984). Mittlerweile sind neben etlichen Forschungsbeiträgen zahllose Ratgeber zum Thema erschienen. Zu mehr Klarheit in der diagnostischen Abgrenzung und der Identifikation der Ursachen bzw. zu größeren Erfolgen in der Therapie oder besseren Selbstschutzmechanismen konnte man – so scheint es zumindest – dennoch nicht gelangen. Burnout wird nach dem von Christina Maslach entwickelten Maslach Burnout Inventory (MBI) diagnostiziert und ist vor allem gekennzeichnet durch (1) Emotionale Erschöpfung, die sich häufig in Antriebsschwäche äußert, (2) Depersonalisierung, die sich in Gleichgültigkeit zeigt und (3) das Erleben von Misserfolg (Maslach/Leiter 2001). Trotz fehlender Anerkennung des Krankheitswerts von Burnout gibt es Personen, die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen (müssen), weil sie an verschiedenen Symptomen leiden, die dem Burnout-Syndrom zugeordnet werden. In vielen Fällen wird Burnout als Nebendiagnose gestellt. Hinzu kommt, dass Burnout derzeit ein äußerst populäres Thema ist, was nicht nur positive Folgen hat. Die Burnout-Forschung wächst seit über 30 Jahren (vgl. Burisch 2010, Schaufeli/Enzmann 1998, Rösing 2008), die Zahl der Betroffenen steigt vermutlich ebenso stark und die burnoutbedingten Krankheitskosten (im Gesundheitssystem und in der Arbeitswelt) sind schwer abzuschätzen.

4 Burnout ist im aktuellen ICD-10 unter Z 73 – Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung und Z73.0 – Ausgebranntsein (Burn-out, Zustand der totalen Erschöpfung) klassifiziert. Das Kapitel Z versammelt „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“, aber genaugenommen nicht zu Krankheiten zählen (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information – DIMDI 2009: 759).

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Weiterhin ist unbestritten, dass Fehlzeiten durch das Leiden an diesen Symptomen verursacht werden. Erschwerend wirken in diesem Zusammenhang die Schwierigkeiten bei der (Differenzial-)Diagnose, da Burnout und Depression nicht scharf voneinander zu trennen sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass je ausgeprägter ein Burnout ist, die Korrelation mit einer depressiven Episode umso höher ausfällt (Jaggi 2008). Die fließenden Grenzen zu anderen Krankheitsbildern erschweren eine Abgrenzung und Einschätzung der Größenordnung. Mediziner und Psychologen ringen um klare Definitionen wie in einem „Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zum Thema Burnout“ (2012) deutlich wird (Berger et al. 2012). Der aktuell als inflationär zu bezeichnende Gebrauch der Begriffe Burnout und Depression wirkt insgesamt eher verwirrend und stigmaverstärkend und verhindert sicher in vielen Fällen den Zugang zu wirksamer Therapie. Anpassungsstörung5 Anpassungsstörungen werden durch ein belastendes Ereignis oder eine andauernde belastende Situation ausgelöst. Ein bis drei Monate nach Eintreten des Ereignisses oder der Situation machen sich die Symptome bemerkbar und verschwinden meist nach sechs Monaten wieder. Dabei sind länger andauernde depressive Verstimmungen möglich. Anpassungsstörungen zeigen sich für die Betroffenen in Beeinträchtigungen des Gefühlslebens (Angst, Depressivität und Besorgnis) und/oder einem gestörten Sozialverhalten. Die tägliche Routine kann stark beeinträchtigt sein. Das Ausmaß der Reaktion übersteigt die im Zusammenhang mit dem auslösenden Ereignis erwartete Intensität (Dilling et al. 2000). Symptome von Anpassungsstörungen sind Gefühle von Bedrängnis, emotionale Beeinträchtigung, verändertes Sozialverhalten, sozialer Rückzug, Gefühle der Leere, Gedankenkreisen, gesteigerte Sorge, Freudlosigkeit, Trauer, Angst und depressive Verstimmung. Mögliche Auslöser können sein: der Verlust von nahe stehenden Familienangehörigen durch Tod, die Trennung oder Scheidung vom Partner, berufliche Veränderungen oder Auseinandersetzungen, Wohnortwechsel und Verlust des gewohnten sozialen Netzes, überfordernde Schwellensituationen im Lebenszyklus, Ehekonflikte und Familienstreit, Kränkungen und Statusverlust, Konfrontation und Auseinandersetzung mit Krankheit, Behinderung und Sterben (Kapfhammer 2008). Dysthymia6 Dysthymia ist eine der Depression ähnliche Störung. Sie ist gekennzeichnet durch eine mindestens zweijährige depressive Verstimmung, die allerdings nie vollständig zur

5 Im ICD-10 klassifiziert unter: F43 – Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen; F43.2 – Anpassungsstörungen. 6 Klassifikation nach ICD-10: F34.1 Dysthymia.

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depressiven Episode wird. Die Symptome sind jedoch sehr ähnlich: erhöhter oder verringerter Appetit, Schlafstörungen, Energiemangel und Erschöpfung, verringertes Selbstwertgefühl, Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten und ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Das durch die Symptome bedingte Leid muss klinisches Ausmaß erreichen und Beeinträchtigungen im sozialen oder beruflichen Bereich müssen vorliegen (Dilling et al. 2000). Neurasthenie7 Zwei Formen der Neurasthenie können unterschieden werden. Entweder geistige Ermüdung oder körperliche Schwäche und Erschöpfung stehen jeweils im Vordergrund. Zusätzlich müssen noch mindestens zwei der folgenden Symptome vorliegen: Muskelschmerzen und -beschwerden, Schwindelgefühle, Spannungskopfschmerzen, Schlafstörungen, Unfähigkeit zu entspannen, Reizbarkeit und Dyspepsie (Dilling et al. 2000). Bereits vor einhundert Jahren wurde die Symptomatik der Neurasthenie diskutiert, die allgemein zu Erschöpfungszuständen gezählt und in den Zusammenhang mit Existenzangst gestellt wird (Koelsch 1913). An gleicher Stelle beschreibt Voss (1913) eine erhebliche Zunahme von Geisteskrankheiten und Selbstmorden zu Ende des 19. Jahrhunderts. Barth (1997) zitiert sogar eine Ausgabe des „Oberpfälzischen Schulanzeiger“ von 1911, der Neurasthenie als Lehrerkrankheit beschreiben soll. Aus heutiger Sicht erscheint Neurasthenie dem Burnout-Syndrom ähnlich. Abhängigkeitssyndrome8 Abhängigkeitssyndrome (im Volksmund „Suchterkrankungen“) stehen meist in Verbindung mit anderen psychischen Störungen. Gerade von Burnout Betroffene benutzen nicht selten Alkoholkonsum als Bewältigungsstrategie. Es wird zwischen Missbrauch und Abhängigkeit unterschieden. Nach ICD-10 liegt nur dann ein Substanzmissbrauch vor, wenn der Konsum zu körperlichen oder psychischen Schäden führt. Nach DSM-IV gelten zusätzlich die Kriterien Vernachlässigung von Pflichten, körperliche Gefährdung, Probleme mit dem Gesetz und soziale und zwischenmenschliche Konflikte.

7 Klassifikation nach ICD-10: F48.0 Neurasthenie. 8 Klassifikation nach ICD-10: F10.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol; F11.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide; F12.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide; F13.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika; F14.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Kokain; F15.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch andere Stimulanzien, einschließlich Koffein; F16.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Halluzinogene; F17.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak; F18.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch flüchtige Lösungsmittel; F19.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen.

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Wenn über zwölf Monate ein starker Wunsch oder Zwang zum Konsum, die Verminderung der Kontrolle über den Konsum, Entzugserscheinungen bei Nicht-Konsum, Vernachlässigung anderer Aktivitäten, anhaltender Konsum trotz offensichtlicher Schädigung und der Wunsch, den Konsum zu verringern oder zu beenden auftreten, wird im klinischen Sinn von einer Abhängigkeitserkrankung gesprochen (Dilling et al. 2000). Angststörungen9 Angststörungen (oder auch phobische Störungen) bezeichnen die psychischen Störungen, bei denen entweder unspezifische Angst oder aber konkrete Furcht (Phobie) vor einem Objekt bzw. einer Situation bestehen. Wenn Ängste zu Panikattacken führen, wird von einer Panikstörung gesprochen.Die Betroffenen von Angststörungen leiden unter übermäßig starken Ängsten vor Dingen, vor denen Menschen ohne Angststörung keine oder in weit geringerem Maß Angst oder Furcht empfinden. Zeitweise erkennen die Personen, dass ihre Ängste unangemessen groß sind. Angststörungen beeinträchtigen den Alltag der Betroffenen ausgesprochen und der Leidensdruck kann sehr groß werden (Dilling et al. 2000). Nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen sucht medizinische Hilfe. Generelle diagnostische Probleme prägen den Umgang mit psychischen Erkrankungen. Wie in der vorangegangenen kurzen Beschreibung deutlich geworden sein dürfte, sind die Bilder psychischer Erkrankungen überaus komplex und häufig nicht trennscharf voneinander abgrenzbar. Labordiagnostik spielt eine eher untergeordnete Rolle und die subjektiven Äußerungen der Patienten können die Diagnostik erschweren. Außerdem bestehen zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen komplexe Wechselwirkungen, deren Zusammenhang nicht immer transparent ist. Dabei können psychische Erkrankungen sowohl Ursache als auch Folge körperlicher Leiden sein (Härter/ Baumeister 2007). Es bestehen vielfältige Wechselwirkungen mit anderen Krankheiten (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenbeschwerden, Schlafstörungen) und arbeitsbedingten Unfällen, die in Zusammenhang mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit bei psychischen Erkrankungen stehen können.

9 Klassifikation nach ICD-10: F40.0 Agoraphobie; F40.1 Soziale Phobien; F40.2 Spezifische (isolierte) Phobien; F40.8 Sonstige phobische Störungen; F40.9 Phobische Störung, nicht näher bezeichnet; F41.0 Panikstörung, episodisch paroxysmale Angst; F41.1 Generalisierte Angststörung; F41.2 Angst und depressive Störung, gemischt.

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Datenlage Harte Fakten zu psychischen Erkrankungen sind schwer zu erheben und leicht anzugreifen. Das ist einerseits der schwierigen Diagnostik geschuldet. Psychische Erkrankungen sind – wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt – in vielen Fällen nicht trennscharf einzuordnen. Andererseits spielt eine Tabuisierung nach wie vor eine erhebliche Rolle. Dem großen Interesse folgend, haben sich die Untersuchungen zu Ausbreitung und Bedeutung psychischer Erkrankungen in den letzten zehn Jahren gehäuft, zunächst vor allem vonseiten der Krankenkassen, aber auch im wissenschaftlichen Kontext. Durch das vorliegende Zahlenmaterial lassen sich erste empirische Einsichten zu Verbreitung und Größenordnung gewinnen. Bundes-Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts Repräsentative Daten zur Gesundheit deutscher Erwachsener werden in einem Panel des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Verfügung gestellt. Mit dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 (BGS98) wurden erstmals repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung Deutschlands die wichtigsten Merkmale zur Beschreibung der gesundheitlichen Lage, der Morbiditätstrends und der regionalen Differenzen (z. B. Ost-West) erhoben. Dazu zählten unter anderem Angaben zu Krankheiten und Risikofaktoren, zu gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen und Lebensbedingungen sowie zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Das Untersuchungsprogramm umfasste schriftliche Befragungen von Patienten/innen und behandelnden Ärzten/innen, medizinisch-physikalische Untersuchungen und Labordiagnostik von Blut- und Urinproben. Die Studie wurde von 1997–1999 vor Ort in 120 Städten und Gemeinden durchgeführt. 7124 Personen im Alter zwischen 18 und 79 Jahren nahmen an der Kernstudie teil (Bellach 1998). Eine Teilpopulation dieses Surveys (4775 Probanden im Alter von 18–65 Jahren) nahm an der Teiluntersuchung „Psychische Störungen“ teil. Die Teilnehmer/innen dieses Moduls waren 3051 screeningpositive, d. h. nach den Ergebnissen der Kernstudie psychiatrisch auffällige Personen und 1130 psychiatrisch unauffällige Personen, die einem vertieften psychiatrischen Interview unterzogen wurden. Damit wurde erstmals eine bundesweite epidemiologische Studie zur verlässlichen Prävalenzabschätzung psychischer Störungen in der Bundesrepublik Deutschland erstellt (Wittchen et al. 1999). Dabei wurde ermittelt, dass affektive, Angst- und somatoforme Störungen in der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren weit verbreitet sind. 17, 2 % der Befragten waren zu dem Erhebungszeitpunkt von einer der untersuchten psychischen Störungen betroffen. Die Prävalenzbefunde fielen in allen Altersgruppen ähnlich aus. Die häufigste Einzeldiagnose entfiel auf die typische Depression (Major Depression). Frauen waren (außer bei den 18-35jährigen mit affektiven Störungen) von jeder Störungsgruppe signifikant häufiger betroffen als Männer. Eindrücklich zeigten die Daten zur vollständigen bzw. eingeschränkten Arbeitsproduktivität bei allen Formen psychischer Erkrankungen eine ralative Größenordnung und damit auch eine relevante gesundheitsökonomische Bedeutung (Wittchen et al. 1999).

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Der BGS98 wurde durch die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) fortgesetzt. Die zweite Erhebungswelle fand von 2008 bis 2011 statt (Kurth 2012). Auch diese wurde durch eine Modulstudie „Psychische Gesundheit“ ergänzt. Diese Ergänzung der Momentaufnahme des BGS98 dürfte wertvolle Einblicke in die Entwicklung der Bedeutung psychischer Erkrankungen geben. Erste Ergebnisse stellen Hapke et al. (2012) vor. Demnach bestand bei 8,1 % der Teilnehmer/innen eine aktuelle Depression. Frauen (10,2 %) weisen eine höhere Prävalenz auf als Männer (6,1 %). Am häufigsten treten Depressionen in der Gruppe der 18- bis 29-jährigen auf (9,9 %), am seltensten bei den über 65-jährigen (6,3 %). Je höher der sozioökonomische Status (SES) ist, desto seltener treten Depressionen auf. 4,2 % der Befragten gaben an, am Burnout-Syndrom zu leiden (5,2 % Frauen und 3,3 % Männer). Für das BurnoutSyndrom beträgt die Prävalenz bei den 18- bis 29-jährigen 1,4 %, diese steigt bis auf 6,6 % bei den 50- bis 59-jährigen und verringert sich dann wieder (60- bis 69-jährige: 3,3 % und 70- bis 79-jährige: 1,9 %). Die Häufigkeit von Burnout steigt mit dem SES. Besonders häufig wurden Schlafstörungen von mindestens 3-mal pro Woche angegeben: 26,5 %. Wittchen et al. (2012) berichten, dass nach einer ersten statistischen Auswertung der „Zusatzuntersuchung Psychische Gesundheit“ zur DEGS nahezu jeder vierte männliche und jede dritte weibliche Erwachsene im Erhebungsjahr an einer psychischen Erkrankung gelitten habe. Am häufigsten wurden Angst- und depressive Störungen genannt, gefolgt von Substanz- und somatoformen Störungen. Auffällig im Zusammenhang mit psychischen Störungen seien das häufige Auftreten zusätzlicher Erkrankungen (Komorbidität), eine hohe Anzahl von Ausfalltagen im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen und eine niedrige Behandlungsrate. Für 2013 ist eine Basispublikation zum Gesundheitssurvey angekündigt, aus der dann sehr wahrscheinlich auch Trends abzulesen sein werden. Arbeitsunfähigkeitsdaten der Krankenkassen Aus der Arbeitsunfähigkeitsstatistik der Krankenkassen sind Veränderungen ablesbar. Seit mehreren Jahren wird ein konstanter, bisweilen dramatischer Anstieg bei der Gruppe psychischer Erkrankungen registriert. Über die Ursachen der Erkrankungen sagt dieser jedoch nichts aus. Die Aussagekraft der Arbeitsunfähigkeitsdaten der Krankenkassen ist aus verschiedenen Gründen begrenzt. Sie bilden nur einen Teil des Krankheitsgeschehens ab, da sie sich auf die gesetzlich versicherte und erwerbstätige bzw. arbeitslos gemeldete Bevölkerung beziehen. Zusätzliche Verzerrungen sind dadurch bedingt, dass Kurzzeitarbeitsunfähigkeiten von weniger als vier Arbeitstagen, für die kein Krankenschein notwendig ist, nur teilweise registriert werden. Weiterhin werden viele Erkrankungen statistisch nicht erfasst, weil die Betroffenen dennoch (teilweise aus therapeutischen Gründen) ihrer Erwerbsarbeit nachgehen oder die Erkrankungen zu Frühberentungen führen. Daher ist davon auszugehen, dass die tatsächlichen Prävalenzen deutlich höher liegen.

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Aber in den meisten Fällen dürfte eine vorliegende psychische Störung gar nicht erst diagnostiziert werden. Gensichen et al. (2005) stellen in ihrer Studie fest, dass Hausärzte/innen an einem Stichtag 50 bis 75 % der Patienten/innen mit einer behandlungsrelevanten Depression nicht erkannt haben und 50 % der Patienten/innen mit diagnostizierter Depression nicht adäquat behandelt wurden. Ausgangspunkt der hier formulierten Überlegungen ist ein bemerkenswerter Trend. In den jährlichen Berichten der gesetzlichen Krankenkassen10 (AOK, BARMER GEK, BKK, DAK und TK) sind seit der Umstellung auf ICD-10 im Jahr 2000 parallele Entwicklungen zu erkennen (vgl. Abb. 1). $QWHLOSV\FKLVFKHU(UNUDQNXQJHQDQ$UEHLWVXQIlKLJNHLWVWDJHQLQ3UR]HQW           

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Eigene Darstellung nach den Daten von BARMER 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009; BARMER GEK 2010; BARMER GEK 2011; BKK Bundesverband 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2011; DAK Gesundheitsmanagement 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010; DAK Forschung 2011; Techniker Krankenkasse 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2011

Die zunehmende Bedeutung psychischer Erkrankungen zeigt sich durch die zum sinkenden bzw. stagnierenden Gesamtkrankenstand gegenläufige langfristige und deutliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage und Arbeitsunfähigkeitsdauer (Heyde/ Macco 2010).

10 Die gesetzlichen Krankenkassen mit Ausnahme der IKK veröffentlichen jährlich Reporte zum Arbeitsunfähigkeitsgeschehen. Das wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) gibt seit 1999 in Kooperation mit der Universität Bielefeld den Fehlzeiten-Report heraus (Badura/Bäcker 2004, Badura et al. 2000, 2001, 2002, 2002a, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2011). Die Studien der anderen gesetzlichen Kassen sind im Internet verfügbar.

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Belastungsstörung mit System (QWZLFNOXQJGHU$UEHLWVXQIlKLJNHLWVIlOOH $8)lOOH XQGGHU $UEHLWVXQIlKLJNHLWVGDXHU $8'DXHU DXIJUXQGSV\FKLVFKHU (UNUDQNXQJHQLQ7DJHQMH$2.0LWJOLHGHUYRQELV $8)lOOH$8'DXHU 











 











 







 









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Eigene Darstellung nach den Daten des Fehlzeitenreports (Badura et al. 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2011)

Es besteht die Annahme, dass sich die durchschnittliche Dauer einer Krankschreibung nicht nennenswert verändert hat. In den Metastudien von Lademann et al. (2006) und der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK 2010, 2011 und 2012) wird deshalb davon ausgegangen, dass der Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage auf eine Steigerung der Fallzahlen zurückzuführen ist. Jacobi (2009) berichtet, dass sich die Anzahl der durch psychische Erkrankungen verursachten Krankentage seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verdreifacht habe. Dieser deutliche Anstieg, die oftmals langwierigen Krankheitsverläufe und der enorme Leidensdruck der Betroffenen haben nicht nur in Bezug auf betriebliche Abläufe und das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen enorme Bedeutung. Sie verursachen auch beträchtliche Ausgaben für Therapie und Rehabilitation. Bei Weber et al. (2006) ist die Rede von der „Epidemie des 21. Jahrhunderts“. Von Lademann et al. (2006) und der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK 2010, 2011 und 2012) liegen Metastudien vor, die die Daten zu psychischen Erkrankungen aus den Gesundheitsreporten der gesetzlichen Krankenkassen vergleichen. Diese sind v. a. deshalb wertvoll, weil der direkte Vergleich der Daten verschiedener Kassen miteinander durch verschiedene Versichertenklientelen und unterschiedliche Methoden der Datenberechnung schwierig ist. Lademann et al. (2006) dokumentieren für den Zeitraum von 1991 bis 2004 einen absoluten und prozentualen Anstieg psychischer Erkrankungen. In den Erhebungen von AOK, DAK und TK für den Zeitraum von 2000 bis 2004 werden parallele Entwicklungen deutlich. Der relative Anstieg der durch psychische Erkrankungen bedingten Arbeitsunfähigkeitstage beträgt bei allen drei Kassen ca. 20 % (Lademann et al. 2006). Die BKK verzeichnet demnach zwischen 1991 und 2004 einen Anstieg von 93 auf 119 Krankheitstage je 100 Pflichtmitglieder, was einem Anstieg um 28 % entspricht. Die IKK verzeichnet zwischen 1997 und 2004 sogar einen Anstieg um gut ein Drittel

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(ohne konkrete Zahlenangabe). Noch extremer seien die Steigerungen der Fallzahlen – diese betrügen bei DAK und IKK zwischen 1997 und 2004 70 % bzw. 86 %. Die Berichte der AOK, BKK, DAK und TK weisen nach Lademann et al. (2006) auf die Bedeutung und auffällige Zunahme von Depressionserkrankungen hin. Einen überproportionalen Anstieg an AU-Tagen und AU-Fällen weisen jüngere Personen (zwischen 15-35 Jahren) auf. Bei allen nach Geschlecht differenzierenden Krankenkassen würden (teilweise deutlich) höhere Prävalenzen bei Frauen deutlich. Davon ausgenommen seien schizophrene Erkrankungen (F 20–F 29), von denen Frauen und Männer gleichermaßen betroffen seien, und der Gebrauch psychotroper Substanzen (F 10–F 19), bei denen Männer eine deutlich höhere Prävalenz aufwiesen. Ebenso Suizide, die als Folge psychischer Erkrankungen eingeordnet werden können, sind bei Männern deutlich häufiger: Über 70 % aller Selbstmorde entfallen auf Männer (BPtK 2010). Last, not least seien Dienstleistungsberufe und Arbeitslose am häufigsten von psychischen Erkrankungen betroffen. Zusammenfassend bestätigen Lademann et al. (2006) die in den Reports der Krankenkassen gezeigte hohe Bedeutung psychischer Erkrankungen, die noch deutlicher sein dürfte als die Zahlen nahe legen. Beispielsweise führten Angsterkrankungen selten zu Arbeitsunfähigkeit und seien damit in den Berichten nicht erfasst. Auch die anderen psychischen Störungen würden selten frühzeitig diagnostiziert und noch seltener adäquat behandelt. Auch die Metastudien der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK 2010, 2011 und 2012) bestätigen den ungebrochenen Trend, dass deutsche Arbeitnehmer/innen immer häufiger aufgrund von psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz fehlen. Alle untersuchten Kassen (AOK, BEK, TK, BKK, DAK, GEK) zeigen Anstiege sowohl bei AUFällen als auch bei AU-Tagen. 2011 entfallen bereits ca. 12 % aller Krankentage auf psychische Störungen. Ein wesentlicher Befund der BPtK-Studie von 2011 ist der, dass die durchschnittliche Dauer einer Krankschreibung wegen einer psychischen Erkrankung mit dem Alter des Patienten/innen steigt: Bei der DAK seien 55- bis 60jährige Versicherte fast dreimal so lange krankgemeldet wie 20- bis 25jährige (BPtK 2011). Deutliche Unterschiede zwischen den Kassen zeigen sich bei der Dauer der Krankschreibungen. Die kürzesten Ausfallzeiten zeigen AOK-Versicherte mit durchschnittlich 19,8 Tagen im Jahr 2003. Das Maximum sind durchschnittlich 44,2 Tage bei der TK im Jahr 2005). Diese Unterschiede können u. a. in der unterschiedlichen Klientel der Kassen begründet liegen. Die BPtK-Studie 2010 berichtet eine Häufung von psychischen Erkrankungen bei Beschäftigten in Dienstleistungsberufen. Demnach seien kassenübergreifend erhöhte Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen in der Telekommunikation sowie im Erziehungs- und Unterrichtswesen zu verzeichnen. Unterdurchschnittlich seien dagegen die Fehlzeiten in den klassischen Arbeiterbranchen. Im Bauwesen und in der Land- und Forstwirtschaft lägen die Fehltage durchgängig um 35 bis 50 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt (BPtK 2010).

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In der BPtK-Studie 2012 wird schwerpunktmäßig eine drastische Zunahme der Burnout-Diagnosen (um 700 % bei der Anzahl der Krankschreibungen und um 1400 % bei der Anzahl der Fehltage) thematisiert (BPtK 2012). Diese kann jedoch mit Blick auf die Gesamtzahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen relativiert werden. Depressionen und Anpassungsstörungen sind demnach die weitaus häufigsten Gründe. Im Jahr 2011 entfielen bei 100 Versicherten 9,1 Krankentage auf Burnout, 73 Krankentage auf Depressionen und 39 Krankentage auf Anpassungsstörungen und Belastungsreaktionen. Ähnliche Verhältnisse zeigen sich bei den Krankschreibungsfällen pro 100 Versicherten im Jahr 2011: Burnout – 0,4; Depression – 2,1; Anpassungsstörungen und Belastungsreaktionen – 1,8 (BPtK 2012). Als problematisch für die Auswertung der Arbeitsunfähigkeitsdaten zu Burnout erweist sich zudem der Umstand, dass Burnout in den seltensten Fällen als Einzeldiagnose gestellt wird. Eines zeigt der enorme Anstieg der Burnout-Diagnosen jedoch bestimmt: eine gestiegene Sensitivität der niedergelassenen Ärzte für berufliche Beanspruchungen und deren psychische Folgen. Unterschiedliche Berufe weisen verschiedene psychische Anforderungen und Belastungen auf. Entsprechend sind je nach Tätigkeit auch Unterschiede in den Prävalenzen psychischer Erkrankungen zu vermuten. Im BARMER-Gesundheitsreport 2009 zum Schwerpunkt „Psychische Gesundheit und psychische Belastungen“ werden detaillierte Angaben zu einigen Diagnosen und verschiedenen Berufsgruppen gemacht. Demnach sind Sozialarbeiter/innen, Krankenpflegepersonal, Verkäufer/innen, Bürokräfte und Bankfachleute besonders betroffen: Durchschnittliche Krankheitsdauer in Tagen aufgrund psychischer Erkrankungen nach Berufsgruppen und Diagnosen (bei BARMER-Mitgliedern) 6R]LDODUEHL .UDQNHQSIOH WHULQQHQ JHSHUVRQDO 'HSUHVVLRQHQ  $QSDVVXQJVVWUXQJHQ  %HODVWXQJVUHDNWLRQHQ $ONRKROHUNUDQNXQJHQ 

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Eigene Darstellung nach den Daten des BARMER Gesundheitsreports 2009

Die BKK differenziert bei der Darstellung der durchschnittlichen Krankheitsdauer aufgrund psychischer Erkrankungen nach Berufsgruppen und Geschlecht. Nach Arbeitslosen, die die mit Abstand meistens Arbeitsunfähigkeitstage zeigen, sind Telefonisten beiderlei Geschlechts auf Rang 2. Vermutlich sind damit Angestellte in CallCentern gemeint.

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Durchschnittliche Krankheitsdauer in Tagen aufgrund psychischer Erkrankungen nach Berufsgruppen je 100 arbeitslose/beschäftigte BKK-Mitglieder

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Eigene Darstellung nach den Daten des BKK-Gesundheitsreports 2011

Zu den besonders betroffenen Beschäftigtengruppen zählen auch die in der IT-Branche. Software-Entwickler sind viermal häufiger als der Durchschnitt der Beschäftigten in Deutschland von psychosomatischen Beschwerden (chronische Müdigkeit, Nervosität, Schlafstörungen und Magenbeschwerden) betroffen. Über chronische Erschöpfung, die eine deutliche Nähe zu Burnout hat, klagen 40 % und über Schlaf- und Erholungsprobleme berichten 30 % (Latniak/Gerlmaier 2006). Wie auch aus der obigen Tabelle ersichtlich, sind besonders Arbeitslose von psychischen Erkrankungen betroffen. Sie leiden unter Zukunftsängsten und Selbstzweifeln, die zahlreiche psychische und physische Erkrankungen begünstigen (Techniker Krankenkasse/F.A.Z.-Institut 2009, BKK 2011). Auch die Sorge um Angehörige, seien es Kinder oder ältere Pflegebedürftige, weist ein besonderes Stresspotenzial auf. 95 % der Hausfrauen und Hausmänner gaben an, unter Stress zu leiden. Übersicht über weitere Studien Neben dem umfangreichen Zahlenwerk, das die gesetzlichen Krankenkassen und das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) jährlich vorlegen, gibt es zahlreiche kleinere Studien, die den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Arbeitsbedingungen im Fokus haben. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) suchte in ihrer „Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen für das Auftreten von depressiven Störungen“ mögliche Zusammenhänge zwischen psychosozialen Merkmalen der Arbeit und dem Auftreten einer Depression (Rau et al. 2010). In den Ergebnissen wurde deutlich, dass sowohl objektiv gegebene Arbeitsbedingungen als auch deren subjektive Beurteilung durch die Mitarbeiter/innen einen Einfluss auf das Risiko haben, an einer Depression zu erkranken bzw. weitere psychische und physische Fehlbeanspruchung zu erleiden. Dazu wurden psychische Belastungen (z. B. Arbeitsintensität, Tätigkeitsspielraum, Entscheidungsanforderungen, kognitive Informationsverarbeitung etc.) erfasst und ausgewertet. Die Ergebnisse sprechen für die Forderung nach einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz.

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In der Whitehall-II-Studie, die zu den wichtigsten arbeitsmedizinischen Langzeitstudien zählt, wurden mehr als 10000 staatliche Angestellte im Londoner Regierungsbezirk Whitehall zu ihrem Lebensstil befragt. Dazu gewährten sie den Forscher/innen Einblick in ihre Krankenakten. Ein zentrales Ergebnis war, dass die Angestellten mit vielen Überstunden, die als sehr ehrgeizig klassifiziert wurden, häufiger an HerzKreislauf-Erkrankungen litten. Zusätzlich stieg für diese Gruppe die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken (Virtanen et al. 2012). Ebenfalls auf Grundlage der Daten der Whitehall-II-Studie wurde der Frage nachgegangen, inwieweit empfundene Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz zu psychischen Erkrankungen beiträgt. Dabei konnte gezeigt werden, dass eine als ungerecht empfundene Behandlung durch Vorgesetzte das Risiko psychischer Erkrankungen erhöht (Ferrie et al. 2006). Der vom Deutschen Führungskräfteverband herausgegebene „Manager Monitor“ berichtet im Januar 2012 von einer Befragung unter 360 Führungskräften zum Thema Burnout. Demnach sei Burnout ein ernst zu nehmendes Risiko für Führungskräfte, dessen Bedeutung in jüngster Zeit zugenommen habe, obwohl die Mehrheit der hochqualifizierten Fach- und Führungskräfte immer noch dazu neigten, ihr Burnoutrisiko zu unterschätzen oder zu verharmlosen. Als maßgeblich für die Entstehung eines Burnouts wurden wachsende Arbeitsverdichtung, Termindruck und fehlende menschliche und soziale Anerkennung durch den Vorgesetzten eingeschätzt (Führungskräfte Institut GmbH 2012).

Fazit Bei der seit mindestens 15 Jahren beständig wachsenden Zahl psychischer Erkrankungen handelt es sich um eine Diagnosegruppe, die sich im Gesamtkrankenstand immer deutlicher auswirkt und die für das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen eine zunehmende Bedeutung hat. Das wahre Ausmaß dürfte dabei nach wie vor unterschätzt werden, da nicht alle Betroffenen Hilfe suchen bzw. nicht in jedem Fall eine angemessene Behandlung erhalten. Wittchen und Jacobi (2002) weisen bereits im Zusammenhang mit dem BGS98 auf eine erhebliche Unterversorgung hin. Der Gesundheitsreport der TK (Techniker Krankenkasse 2008) berichtet, dass nur jede siebte bei der TK versicherte Person mit einer diagnostizierten psychischen Störung unter dieser Diagnose krankgeschrieben war. Über die Ursachen und die Beurteilung dieser Entwicklung besteht in der wissenschaftlichen Diskussion keine Einigkeit. Aber selbst kritische Stimmen, die die Daten als gewachsenen Behandlungsbedarf, jedoch nicht als gestiegene Prävalenz interpretieren, betonen die große Bedeutung psychischer Diagnosen für das Gesamtkrankengeschehen und für die Gesellschaft (Jacobi 2009). Als mögliche Ursache für gestiegene Fallzahlen ohne Steigerung der Prävalenz werden veränderte diagnostische Verfahren, ein verändertes Problembewusstsein und veränderte Therapiemöglichkeiten angeführt (Spießl/Jacobi 2008). Ein Artefakt scheint dennoch, allein durch die Größenordnung

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und die Kontinuität des Anstiegs, unwahrscheinlich. Deshalb sollten kritische Argumente nicht dazu verleiten, die aktuelle Entwicklung zu bagatellisieren. Weitgehende Einigkeit besteht hingegen in Bezug auf mögliche Risikofaktoren. Als zentraler Faktor wird dabei die Zunahme psychosozialer Belastungen moderner Gesellschaften, die sich in einer Ausweitung von Risikofaktoren und schwindenden Schutzräumen zeigen, erachtet (Jacobi 2009). Flexibilität, Unsicherheit, Projektarbeit, Zeitmangel und fragiler werdende soziale Beziehungen prägen den Alltag einer immer größeren Gruppe von Menschen. Diese Veränderungen in Arbeits- und Lebenswelt werden in vielen Studien als eine mögliche Ursache für psychische Belastungen und Erkrankungen diskutiert (vgl. Badura et al. 2000 und 2010, BKK 2008, DAK 2005, TK 2008).

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Anhang

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Belastungsstörung mit System

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Belastungsstörung mit System

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Belastungsstörung mit System

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Belastungsstörung mit System

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Belastungsstörung mit System

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403433 — ISBN E-Book: 9783647403434

Belastungsstörung mit System

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Autorinnen und Autoren

Nora Alsdorf

Dipl.-Soz., Projektkoordinatorin der Studie „Arbeit und Leben in Organisationen 2011“ am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main; Doktorandin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema: „Deutungsmuster im Kontext der Bewältigung berufsbiographischer Krisen“. Ullrich Beumer

Dipl.-Päd., Coach/Supervisor (DGSv) und Organisationsberater, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main; Geschäftsführer inscapeinternational, Mitglied der ISPSO (International Society for the Psychoanalytic Study of Organizations) und Mitherausgeber der Zeitschrift „Freie Assoziation“. Julian Simon Fritsch

B.A., studiert Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und begleitet die Studie „Arbeit und Leben in Organisationen 2011“ seit Sommer 2010 als Praktikant. Saskia Maria Fuchs

Dipl.-Soz., studiert im Zweitstudium Psychologie B.Sc. in Hagen; Projektmitarbeiterin im Projekt „Arbeit und Leben in Organisationen 2011“, Projektmitarbeiterin im Projekt „Entwicklung eines individuellen Freiheitsindizes“ der Friedrich-Naumann Stiftung, Promotionsvorhaben in der Korruptionsforschung mit dem Schwerpunkt „Vertrauen und soziales Kapital“. Christoph Handrich

Master of Arts, Studium zunächst der Volkswirtschaftslehre, dann der Soziologie an der TU Dresden und der TU Chemnitz. 2008/09 Mitarbeit als wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt „Arbeit und Leben in Organisationen 2009“, seit 2010 Mitarbeit sowie Projektkoordination im Projekt „Arbeit und Leben in Organisationen 2011“. Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Chemnitz. Rolf Haubl

Prof. Dr. Dr., Professur für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, dort Leiter des Forschungsschwerpunkts „Psychoanalyse und Gesellschaft“. Gruppenlehranalytiker, Supervisor und Organisationsberater (D3G, DGSv).

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403433 — ISBN E-Book: 9783647403434

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Belastungsstörung mit System

Benjamin Kahlert

Dipl.-Soz., seit Oktober 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz, zuvor u.a. Mitarbeiter im Projekt „Ursachen von Demokratiezusammenbrüchen“ am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Anke Kerschgens

Dr. phil., Soz. M.A., Studium der Soziologie, Psychologie und Anglistik in Frankfurt am Main; wiss. Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der GoetheUniversität Frankfurt am Main, Forschungsschwerpunkte: Geschlecht, Subjekt, Arbeit, Familie, Sozialpsychologie und hermeneutische Methoden. Ingo Matuschek

Dr. rer. soc., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitglied des Instituts Arbeit und Gesellschaft (INAG), Chemnitz und München; Arbeitsschwerpunkte: flexibilisierte Arbeit und subjekte qualitative Methoden der Sozialforschung, Soziologie politischen Handelns. G. Günter Voß

Prof. Dr., mehrjährige Tätigkeit als Berufsoffizier, danach Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft in München; seit 1994 Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU Chemnitz; Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Organisation, Beruf und Arbeitskraft, Alltag und Lebensführung, Dienstleistungsarbeit und betriebliche Kundenbeziehungen insbesondere im Web2.0, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit und deren psychosoziale Folgen. Cornelia Weiß

Dipl.-Soz., Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik an der FU Berlin und der TU Chemnitz; 2003-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Industrie- und Techniksoziologie des Instituts für Soziologie der TU Chemnitz; seit 2011 freiberufliche Arbeit mit den Schwerpunkten: Arbeit, Gesundheit, Lebensführung und Entgrenzung; Dissertationsprojekt mit dem Titel: „Gesund unter entgrenzten Arbeitsbedingungen“.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403433 — ISBN E-Book: 9783647403434