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German Pages 226 Year 2008
Christian Hiebaum Bekenntnis und Interesse
Christian Hiebaum
Bekenntnis und Interesse Essay über den Ernst in der Politik
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Universität Graz und des Landes Steiermark.
ISBN 978-3-05-004455-2
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Definieren läßt sich der Mensch hingegen als Dogmen verfertigendes Tier. In dem Maß, wie er Lehrsatz auf Lehrsatz und Schlußfolgerung auf Schlußfolgerung setzt, um die gewaltige Ordnung der Philosophie oder Religion zu schaffen, wird er – in dem einzig legitimen Sinn, den das Wort haben kann – immer mehr zum Menschen. Läßt er als ausgefuchster Skeptiker eine Lehre nach der anderen fallen; lehnt er es ab, sich an ein System zu binden; behauptet er, er habe fertige Definitionen; erklärt er, er glaube nicht an Zweckbestimmung; sieht er sich in Gedanken als Gott, der selbst keinerlei Glauben hat, aber auf alle Religionen hinabblickt – dann sinkt er nach und nach zurück in die Unentschiedenheit der streunenden Tiere und die Bewußtlosigkeit der Gräser. Bäume haben keine Dogmen. Rüben sind extrem weitherzig. Gilbert Keith Chesterton
I can’t be wrong about everything. I can’t be, it’s impossible. Morrissey
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung: Lust/Unlust – Ernst/Unernst . . . . . . . . . . . 13
I. Bekenntnis 1. Formaler Aberglaube . . . . . . . 2. Die Einbettung des Aberglaubens . . . 3. Der Preis der Kulturalisierung . . . . 4. Der metaethisch-ontologische Irrweg 5. Wahrheit, Rationalität und Dissens . . 6. Objektivismus, Skepsis und Toleranz . . 7. Der wechselseitige Respekt und das Gute 8. Resümee . . . . . . . . . . . .
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. 37 . 48 . 65 . 76 . 84 . 100 . 114 . 131
1. Macht und Interesse . . . . . . . . . . . . . . 2. Interessen, Wünsche und Wohlbefinden . . . . . 3. Objektivität und Wertbezug von Interessen . . . . . 4. Interessen, Identitäten und Kontexte . . . . . . . . 5. Objektive Interessen, wahre Interessen und Autonomie . 6. Politisierung von Interessen . . . . . . . . . . . 7. Individual- und Kollektivinteressen . . . . . . . . 8. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Interesse 137 144 152 163 173 181 184 194
Nachtrag: Symbolpolitik – Wie aus moralischem Ernst politischer Unernst werden kann . . . . . . . . . . . . . . 197 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Vorwort
Die Politik ist ein oftmals schmutziges Geschäft. Es wird gelogen, gedroht, geheuchelt, verleumdet, intrigiert und höchst selektiv moralisiert. Unschöne Emotionen werden geschürt, und wenn argumentiert wird, dann nicht sel ten strategisch, d. h. man verwendet Argumente, von deren Gültigkeit man selbst nicht überzeugt ist, von denen man aber annimmt, dass sie andere überzeugen. Und zuweilen nicht einmal das: Über weite Strecken dominiert eine berechenbare Phraseologie die öffentliche Debatte, hinter der niemand mehr interessante und vor allem aufrichtig vertretene Positionen vermutet. Wo keine rechtsstaatlichen und demokratischen Institutionen existieren, ist noch Schlimmeres an der Tagesordnung. Das ist trivial. Weniger oder nur vordergründig trivial ist, was aus dem realistischen Befund bisweilen abgelei tet wird: der metapolitische Skeptizismus und die Empfehlung, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren und politische Positionen schlicht als Ausdruck partikularer Interessen anzusehen. Auf diese Weise würden Konflikte abge kühlt und die Erwartungssicherheit, womöglich sogar der wechselseitige Respekt, befördert. Als Hauptfeind gilt der Dogmatismus, und diesem komme man, so der normative Realist, am ehesten mit einer Brise Nüchternheit bei. Damit kann er durchaus an den Common Sense anschließen. Wer sich heute in der Politik zu einer „Wahrheit“ bekennt, macht sich verdächtig – als verblendeter Ideologe oder als bloßer Selbstdarsteller. Eine entpolitisierte Sprache, in der Begriffe wie „Netzwerk“, „Offenheit“, „Zusammenarbeit“ und Slogans wie „Arbeiten statt streiten“ dominieren, scheint wesentliche Vorbedingung für Wahlerfolge zu sein (die Zahl der Nichtwähler wird dadurch allerdings auch nicht kleiner). Explizite politische Positionierungen dagegen (die nicht mit dem Zusatz versehen werden, man glaube das, weil man eben eine katholi sche Erziehung genossen habe, ein Kind der Aufklärung sei oder das eigene Herz links trage) geraten leicht in den Ruf, Ausdruck einer „fundamentalis tischen“ Grundhaltung zu sein, und als fundamentalistisch möchte niemand gelten. Es herrscht nur Uneinigkeit darüber, wo der Fundamentalismus der zeit hauptsächlich zu Hause ist: Während die einen meinen, bei den ledig lich scheinbar undogmatischen Neoliberalen, verorten ihn die anderen bei den linken Globalisierungskritikern und den religiösen Fanatikern.
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Vorwort
Der realistische Blick (auf sich und die Umwelt) kann aber auch zu einer zynischen Einstellung führen. Der Zyniker weiß, was er tut, und er tut es dennoch. Gelegentlich spielt er auch den Empörten und sogar den Dogmatiker. Ernsthaft rechtfertigen lässt sich eine solche Haltung natür lich nicht. Doch der Zyniker will ohnehin nichts ernsthaft rechtfertigen. Allenfalls verweist er noch auf die Komplexität der Verhältnisse, angesichts derer Verantwortlichkeit lediglich eine Illusion sei, die sich einem anachro nistischen moralischen Vokabular verdanke. Soweit er seinen Zynismus als Ausdruck der Distanz sowohl zur offiziellen Ideologie als auch zu ihren häs slicheren Kehrseiten begreift, dürfte er sich allerdings selbst einer Illusion hingeben. Und wenn er moralisch allzu sehr drangsaliert wird, überkommt auch ihn so etwas wie authentische Entrüstung, und er beharrt dann auf seiner „Freiheit“. In der vorliegenden Abhandlung möchte ich zwar nicht den Dogmatismus (was immer das genau ist), aber den Objektivismus verteidigen, insbesondere gegen den Vorwurf, er sei die philosophische Grundlage des Puritanismus und der Intoleranz. Der Text oszilliert zwischen Gesellschaftsanalyse, poli tischer Theorie und theoretischer Philosophie. Dabei spiegelt er weniger ein Bemühen um „Interdisziplinarität“ wider als die unsteten intellektuellen Interessen des Autors. Geeint werden diese Interessen durch etwas, was man – vorsichtig – ein „Unbehagen in der postmodernen politischen Kultur“ nennen könnte. Und doch wird den meisten Lesern das Problem, das hier behandelt wird, ziemlich formal erscheinen. Das ist es auch. Was folgt, lässt sich jedenfalls kaum als polemische „Intervention“ in das politische Geschehen lesen, schon gar nicht als Intervention, mit der bestimmte grö ßere Hoffnungen verbunden wären. Überhaupt braucht nicht angenommen zu werden, dass die Philosophie viel gegen hohle Phraseologien, Resignation und Zynismus ausrichten kann. Sie kann aber zumindest die Schwachstellen in den mehr oder weniger theoretischen Vorbehalten gegenüber bekennt nisgeleiteter Politik aufzeigen, mögen diese auch mehr Wirkung als Ursache sein, sozusagen Ausdruck „kognitiver Adaption“. Für die Erforschung der sozialen Ursachen von Resignation und Zynismus (sowie der diversen Rückkoppelungsmechanismen) oder die Entwicklung von Gegenstrategien ist die Philosophie nicht primär zustän dig. Einige Vermutungen drängen sich aber auf: Liberale Verfassungen und die durch sie rechtlich abgesicherte Trennung sozialer Sphären (Privatsphäre, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Politik) tragen natur gemäß zu einer Komplexität der Verhältnisse bei, die nicht nur kollektives Handeln, sondern schon die Formulierung umfassender und kohärenter politischer Utopien und Programme deutlich erschwert. Hinzu kommt, dass das demokratische politische System offensichtlich mit den anderen, sich zunehmend globalisierenden Sphären der Gesellschaft nicht Schritt halten konnte; als System der Findung kollektiv verbindlicher Entscheidungen ist es bislang weitgehend auf den Nationalstaat beschränkt geblieben. Zugleich
Vorwort
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ist dessen Politik an immer mehr politische und rechtliche Vorgaben interoder supranationalen Ursprungs gebunden. Jenseits des Nationalstaats ist die Entscheidungsfindung aber noch stärker als im Inneren durch Verhandlungen geprägt, in denen lediglich Interessen abgeglichen werden und Geltungsansprüche kaum oder bloß als allseits durchschaute rhetorische Geste eine Rolle spielen. Innerhalb des Staates werden dann immer öfter Theaterstücke für ein mehr oder weniger gelangweiltes Publikum aufgeführt und – wenn es nützlich erscheint – vorhandene Ressentiments abgerufen. Eine wichtige Rolle spielt schließlich auch das übertriebene Vertrauen in freie Märkte. Nicht nur geht dieses Vertrauen einher mit einem generellen Misstrauen gegenüber politischen Steuerungs- und Planungsambitionen, es inspiriert außerdem zu einer Bildungs-, Wissenschafts- und Medienpolitik, die ernsthafter und dabei halbwegs lauterer Politik zunehmend das kulturel le Wasser abgräbt. Für zahlreiche Gespräche, Aufklärungen, Bedenken und Anregungen danke ich Herta Forcher, Peter Koller, Bernhard Murauer und Michael Pölzl. Besonderen Dank schulde ich Elisabeth Hödl und Peter Strasser, die eine frühere Fassung des Manuskripts gelesen und wohlwollend-kritisch kommentiert haben. Graz, im November 2007 C. H.
Einleitung: Lust/Unlust – Ernst/Unernst
Welche Rolle sollten Wahrheitsansprüche und aufrichtige Überzeugungen in der Politik spielen? Wie viel Ernst ist gut für den Einzelnen und die Gesellschaft? Was für eine Art von Ernst zeichnet einen Menschen aus, der weder einem kurzsichtigen Hedonismus noch einem asketischen Dogmatismus verfallen möchte? Denn wie es scheint, sind beide Haltungen vernünftiger Politik abträglich. Doch was bedeutet es, einen Mittelweg zu gehen: Wahrheitsansprüche erheben und zugleich mit den Augen zwinkern? Ausgangspunkt der Überlegungen soll eine Beobachtung sein, die – wenn sie zutrifft – jeder Theorie der Politik eine besondere Herausforderung sein müsste: In den letzten Jahren ist der so genannte Wohlfahrtsstaat unter Druck geraten. Das klassische Argument zur Rechtfertigung seines Rück- oder Umbaus lautet: Sparzwang (im Sinne der Notwendigkeit einer „Sanierung“ der öffentlichen Haushalte). Ob es sich dabei um ein gutes oder schlechtes Argument handelt, braucht uns nicht weiter zu interessieren. Interessant ist auch weniger, dass das Argument viele Leute überzeugt, sondern vielmehr, dass der „Sparzwang“ von den Massen eine Zeit lang geradezu genossen wurde, und zwar nicht zuletzt von Leuten, denen man eigentlich eher ein Interesse an einem weiteren Ausbau der staatlichen Systeme sozialer Sicherung unterstellen muss. Die Leute waren augenscheinlich nicht nur überzeugt, sondern darüber hinaus auch noch begeistert. Die Idee, in einem „schlankeren“ Staat zu leben, konnte offenbar selbst denjenigen so etwas wie Lust verschaffen, die in einem solchen Staat mit deutlich weniger Unterstützung aus dem öffentlichen Haushalt auskommen müssten. Applaudiert wurde jenen, die, wie der österreichische Finanzminister in seiner Budgetrede im Jahr 2000, der Bevölkerung einen „Verlust von Annehmlichkeiten“ in Aussicht stellten; das Ressentiment hingegen richtete sich gegen die, die durch eine solche Politik in wahrhaft existenzielle Nöte gerieten oder gegen diese Politik opponierten. So meint Robert Pfaller: Die Beschwerlichkeiten der rechten Politik verwandeln sich … in Attraktionen. Schwächen werden zu Stärken, Nachteile zu Vorteilen. Und die Bevölkerung scheint gleichsam „Jenseits des Lustprinzips“ zu agieren. Nicht, daß sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließe. Aber die Unruhe nimmt regelmäßig die verkehrte Form an. Die Bevölkerung empört sich – und sie empört sich auch in dem zu erwartenden Ausmaß – aber nicht gegen die Ursachen der Empörung, sondern gegen das, was diese Ursachen beseitigen könnte. … Diese Verkehrung
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Einleitung
macht den charakteristischen Zug dessen aus, was wir als „reaktionäre Affekte“ bezeichnen möchten. Reaktionär sind Affekte … dann, wenn sie sich quantitativ, in ihrer Stärke, entsprechend zu bestimmten Interessen erheben, aber sich qualitativ, in ihrer Ausrichtung, gegen diese Interessen wenden.
Diese Lust in der Unlust scheint zu korrelieren mit Phänomenen wie der Anti-Raucher-Hysterie, der Verbreitung von geschmacklich signifikant redu zierten „Light“-Limonaden und dem professionalisierten Casting von glatten, durchtrainierten Boy- und Girlgroups, die vor allem eine Botschaft vermitteln: Entertainment erfordert harte Arbeit und Disziplin; je leichter es aussieht, des to mehr Schweiß wurde investiert. Parallel zum Erstarken einer neoliberalen „Mitte-Rechts“-Ideologie in der Sphäre der Politik lässt sich jedenfalls nach Pfaller das „massive Vordringen asketischer Tendenzen“ auch an der hegemonialen US-amerikanischen Pop- und Alltagskultur deutlich beobachten. Diese Entwicklung ist relativ jung. Denn noch bis etwa Anfang der achtziger Jahre schien die US-amerikanische Kulturproduktion eine mehr oder weniger offizielle Propaganda von „Sex and Drugs and Rock’n Roll“ zu betreiben. Erst seither verfällt sie in eine Reihe von befremdlichen Passionen. Schönheitschirurgie, Ordnungsfanatismus bei Zähnen, Haaren und Kleidung, sorgfältigste Hautbräunung sowie -bleichung, Bodybuilding, Jogging-Epidemien, penibelst gehandhabte, diskriminierende Rauchverbote und kleinliche Beschränkungen wie z. B. die, daß Flaschen mit Alkoholika nicht im Fahrgastraum, sondern nur im Kofferraum eines PKW transportiert werden dürfen. Kleine Kinder, die man beim Doktor-Spielen erwischt, werden in Handschellen abgeführt. Selbst die Intimsphäre des Präsidenten ist nicht geschützt vor dem Eifer ermittelnder Sonderstaatsanwälte, die ihre für wer weiß wen prickelnden Entdeckungen monatelang vor einer zunehmend fadisierten Öffentlichkeit ausbreiten dürfen. Prüderie und fundamentalistisches Christentum scheinen in einer Ausbreitung begriffen, der keine Grenzen gesetzt sind.
Wenn diese Beobachtungen tatsächlich auf mehr beruhen als nur auf einer durch bestimmte Ideologietheorien induzierten Einbildung, müsste die Schlussfolgerung für den Antineoliberalen lauten: Mehr Hedonismus! Und in der Tat: Wäre es nicht besser, ein wenig Luft aus hochtrabenden und dabei lustfeindlichen Idealen einer „Hochleistungsgesellschaft“ zu lassen und spielerischer an die Dinge heranzugehen? Dafür plädieren auch Bettina Dessau und Bernulf Kanitscheider – und halten es für subversiv: Es ist leicht einsehbar, dass sich eine Pflichtethik gut in die Staatsräson einfügt. Intellektuelle, die sich immer an das Geziehmende … gebunden fühlen, die keine bizarren, eigenwilligen Verhaltensweisen an den Tag legen und mehr an die Gemeinschaft als an ihre Selbstverwirklichung denken, sind dem Staat willkommen. Der mehr auf seine individuelle Differenz zu den Mitmenschen
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/M. 2002, 230. Ebd., 223f.
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pochende Epikureer ist gerade wegen seiner Unberechenbarkeit und geringen Lenkbarkeit ein unerwünschter Zeitgenosse – bis auf den heutigen Tag.
Nicht zuletzt könnte der Hedonismus Kriegen vorbeugen. Denn: Ein Volk, das gern gut isst und trinkt, ist friedliebender und weniger leicht zu chauvinistischen Aktionen gegenüber seinen Nachbarn zu motivieren; wenn man ihm nicht gerade die Genussmittel wegnimmt, ist es auch leichter zu regieren. Ein Volk, das für politisches Pathos anfällig ist, für hochtrabende idealistische Ziele, ist dagegen leichter zu revolutionären und kriegerischen Auseinandersetzungen zu verführen. Kriegstreiber und auf militärische Expansion erpichte Volksführer müssen auf die Bereitschaft jedes Einzelnen zum asketischen und entbehrungsreichen Leben an der Front bauen können. … Universeller hedonis tischer Materialismus wäre eine Friedensgarantie, asketischer Idealismus birgt in sich die latente Gefahr von Aggression.
Lassen wir einmal den Widerspruch beiseite, dass Hedonisten wenig lenkbar und gleichzeitig leichter zu regieren sein sollen, dann scheint darin ein Körnchen Wahrheit zu stecken. Ganz allgemein und grundsätzlich ist es zweifellos auch aus der Perspektive der Moral wünschenswert, dass die Menschen sich zu allererst um die Qualität ihres eigenen Lebens kümmern und aus diesem das Beste machen wollen. Und was die Friedensgarantie des Hedonismus im Besonderen betrifft, so gilt zumindest, dass sich islamistische Terroristen, wären sie Hedonisten, wohl kaum zu Selbstmordattentaten überreden ließen. Ja, sie wären nicht einmal Islamisten. Ob noch viel mehr Wahrheit darin steckt, ist schwer zu sagen. Dass „universeller hedonistischer Materialismus“ eine Friedensgarantie wäre, mutet aber krass übertrieben an. Das kann nur glauben, wer – wie Dessau und Kanitscheider – lediglich jene Spielarten des Hedonismus als kohärent ansieht, in denen das Luststreben immer schon durch Normen der Gerechtigkeit gezügelt ist und mit Freundlichkeit einhergeht. Nach dieser Auffassung verhält sich beispielsweise der de Sade’sche Lüstling, der nichts von Gegenseitigkeit hält, sondern seine Lustobjekte quält und sogar tötet, nicht bloß ungerecht, er verhält sich auch unklug, eben nicht Lust maximierend. Als Begründung wird eine simple spieltheoretische Überlegung angeboten, derzufolge es für Egoisten regelmäßig besser wäre, mit anderen zu kooperieren, als ständig zu versuchen, sie auszubeuten. Dem ließe sich freilich entgegenhalten, dass vor allem in größeren sozialen Zusammenhängen immer wieder Kooperationsprobleme von der Art des berühmten Gefangenen-Dilemmas auftreten. In diesen Konstellationen hat der Hedonist keinen Anreiz zum Ausbeutungsverzicht,
Bettina Dessau/Bernulf Kanitscheider, Von Lust und Freude. Gedanken zu einer hedonistischen Lebensorientierung, Frankfurt/M./Leipzig 2000, 50. Ebd., 227. Peter Koller, „Klugheit, Moral und menschliches Handeln unter Unrechtsverhältnissen“, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Klugheit, Weilerswist 2005, 271. Bettina Dessau/Bernulf Kanitscheider, Von Lust und Freude, 101.
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Einleitung
mit einem für alle schlechteren Ergebnis. Allein mittels individueller Lustkalküle lassen sich fundamentale Normen wie jene der Reziprozität nicht begründen. Genauer: Eine solche Norm kann in großen Gesellschaften aus lauter hedonistischen Egoisten nicht Geltung erlangen, auch wenn sie im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder läge. Und selbst wenn es hedonistischen Egoisten gelänge, ein stabiles System von Normen zu etablieren, wäre dieses System, wiewohl möglicherweise für jedes Gesellschaftsmitglied besser als ein normenloser Zustand, nicht unbedingt gerecht. Spätestens jetzt müssten also ernsthafte Zweifel am Hedonismus als umfassendem Lebensideal aufkommen, vor allem wenn er radikal naturalistisch gefasst und immer wieder mit fragwürdigen soziobiologischen Erwägungen unterfüttert wird. Fragwürdig sind solche Erwägungen, insoweit sie nur das Eigeninteresse als Handlungsursache gelten lassen. Der Altruist, der das nicht wahr haben will, täuscht sich nach Auffassung der plumperen Soziobiologen selbst. Letztlich sei auch er ein Egoist, nur eben ein noch unaufgeklärter. Doch dieser Reduktionismus ist eine offenkundig unangemessene Form der Erklärung menschlichen Verhaltens und sozialer Entwicklungen. Er verwechselt Wirkung mit Ursache, schließt das, was für eine Population gut ist, allzu unvermittelt kurz mit dem, was für ein Individuum gut ist, und ist blind für „Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind“. Das sind Zustände (wie z. B. Vergessen oder Anerkennung), die man nur erreicht, wenn man sie gerade nicht (direkt) anstrebt. Auch das Glück – wenigstens in vielen seiner Facetten – gehört dazu. Von Naturalismus und Biologismus sowie funktionalistischen und aggregativen Fehlschlüssen findet sich bei Pfaller freilich keine Spur. Auch schlägt er nicht vor, sich hauptsächlich der Maximierung der eigenen Lust zu widmen. Was er jedoch konstatiert, ist ein Trend zur Askese, der ein politisch eher regressives Klima erzeuge. Damit dürfte er durchaus richtig liegen – wenigstens richtiger als Dessau und Kanitscheider, die einen befreienden Hedonismus im Vormarsch sehen und als Indizien für das bevorstehende Idyll unter anderem „[s]elbstbewusste junge Frauen wie Madonna (Claudia Schiffer, Naomi Campbell oder Prinzessin Diana)“ nennen, die für sie „Freiheit, Jugendlichkeit und Schwung, eine gewisse Dominanz und gelassene Selbstbestimmung [verkörpern]“. Schließlich verdanken sich die Erfolge von Madonna und Models wie Schiffer und Campbell eher Disziplin sowie genetischem und sozialem Glück als hedonistischer Gelassenheit. Diana wiederum hatte Medienberichten zufolge lange Zeit mit Essstörungen zu kämpfen. Was wie Hedonismus aussieht, könnte also genauso gut als zufälli
Siehe Jon Elster, Subversion der Rationalität, Frankfurt/M./New York 1987, Kap. III. Zuvor prognostiziert Elster noch, dass „Ethologie und Soziobiologie in den nächsten Jahren einen stetigen Strom pseudowissenschaftlicher Arbeiten produzieren werden“ (ebd., 36). Bettina Dessau/Bernulf Kanitscheider, Von Lust und Freude, 259.
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ge oder mühsam erarbeitete Angepasstheit an die Bedingungen des Marktes und der Massenmedien interpretiert werden. Oder: Wenn die Genannten den schlechthinnigen hedonistischen Lebenswandel repräsentieren, dann wird dieser wohl immer – vor allem im globalen Maßstab – ein Minderheitenprogramm bleiben, von dem allerdings wieder mehr oder weniger rigide Imperative für alle anderen ausgehen. Pfaller würde deshalb wahrscheinlich noch ergänzen, dass die Ideale „Freiheit“, „Jugendlichkeit“ und „Schwung“ genau das sind, was die neue Askese von der alten, religiös inspirierten unterscheidet.10 Gerhard Schulze erläutert diese Differenz im Ideologischen, die keinen Unterschied im Praktischen macht, anhand Tania Blixens Novelle Barbettes Fest. Darin wird den lust-ungewohnten Bewohnern einer streng protestantischen Gemeinde in Norwegen von einer Köchin, die sie einst als Flüchtling aufgenommen hatten, ein opulentes Dankesmahl bereitet. Mit kleineren, aber entscheidenden Modifikationen könnte man die Geschichte, meint Schulze, auch in die Gegenwart verlegen: Viele modernen Menschen hätten Barbettes Fest nicht weniger gefürchtet als die Dorfbewohner, nur aus anderen Motiven. Ihre Beweggründe leiten sie nicht aus der Religion ab, sondern aus Schönheits- und Gesundheitsidealen. In unseren Tagen würden die Gäste von Babettes Fest das Fett vom Braten wegschneiden, zweimal Salat nehmen und den Nachtisch verweigern. Viele Zeitgenossen behandeln Nahrungsmittel mit hoher Cholesterinkonzentration wie Giftmüll. Sie lesen nicht die Bibel, sondern Ernährungsratgeber; an die Stelle des Morgengebets ist das Ritual des Wiegens getreten; und statt zu pilgern, joggen sie. … Rauchern wird ihre Todsünde EU-weit von Amts wegen mit drastischen Worten und Bildern auf der Zigarettenpackung bescheinigt. Ob das Foto einer vom Krebs zerfressenen Lunge oder der Anblick eines mit glühenden Zangen gefolterten Sünders auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch: beide Bilder zielen auf die gleichen Regungen – schlechtes Gewissen und Furcht.11
Überhaupt ist bemerkenswert, dass etwa Chestertons Verteidigung der christlichen Orthodoxie (Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxy, New York 2001) unendlich mehr Leichtigkeit, Optimismus und Witz vermittelt als so manches Plädoyer für einen paganen Hedonismus. 10 Hans Georg Zillian konstatiert in diesem Zusammenhang auch eine semantische Verschiebung im Flexibilisierungsdiskurs. Zielte die Flexibilisierung der Arbeitszeit zunächst auf die Freiheit der Arbeitnehmer ab, „auf ein größeres Ausmaß von Zeitsouveränität“, so wurde daraus mittlerweile eine Forderung der Arbeitgeber bzw. eine Zumutung für die Arbeitnehmer selbst. Siehe Hans Georg Zillian, „Einleitung: Flexibilisierung – Eine Lösung, die zum Problem wird?“, in: ders./Jörg Flecker (Hg.), Flexibilisierung – Problem oder Lösung?, Berlin 1998, 10f. Umfassend zu den Überlebenskämpfen in der „postmodernen“ Gesellschaft sowie zu den individuellen und sozialen Kosten der neuen Freiheit Hans Georg Zillian, Unglück im Glück. Überleben in der Spaßgesellschaft, Graz/Wien/Köln 2005. 11 Gerhard Schulze, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, München/Wien 2006, 27f.
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Einleitung
Der moderne (oder vielleicht: postmoderne) Hedonismus ist zumindest auffällig gebrochen. Wir sind nicht rundum permissiv, es gibt die Lust beschränkenden Verbote noch in großer Zahl. Allerdings haben sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch und vor allem ihre Form geändert: „Du darfst, aber du musst wissen …“ Das Rauchverbot existiert freilich nach wie vor auch in der traditionellen Gestalt, und zwar umfassender denn je. Zwar wird es seinerseits hedonistisch gerechtfertigt, nämlich mit dem (zukünftigen) Wohlbefinden der Raucher und Nichtraucher, aber dieser Hedonismus wirkt alles andere als gelassen und befreiend. Doch Pfaller geht noch weiter und hat damit den entscheidenden Anstoß zur vorliegenden Abhandlung gegeben. Er stellt eine Verbindung her zwischen der lustvoll unlustvollen Askese mit dem „Bekenntnis“ an sich, soll heißen: mit der authentischen Überzeugtheit. Feste Überzeugungen würden zwar die Selbstachtung erhöhen, aber dabei handle es sich im Wesentlichen um eine „trübsinnige Leidenschaft“ (Gilles Deleuze), eine Leidenschaft, die mit Unlustgefühlen und Ressentiments einhergehe. Wäre es nicht besser, so ließe sich daher mit Pfaller weiter fragen, wenn die Menschen nicht bloß indirekt – aus einem Bekenntnis (etwa zur Notwendigkeit einer Budgetkonsolidierung) – Lustgewinn zögen, sondern die unmittelbaren eigenen Interessen im Blick behielten? Zumal es den Anschein hat, dass feste Überzeugungen leicht überheblich machen und den Anderen zu einem Objekt des Bedauerns oder gar des Hasses. Und zumal der Gedanke tatsächlich nahe liegt, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Überzeugung, dass eine Sparpolitik notwendig sei, und der Begeisterung, mit der die Ankündigung eines „Verlusts von Annehmlichkeiten“ aufgenommen wurde. Plädoyers gegen den Überschwang der Bekenntnisse und für nüchterne Interessenorientierung in der Politik sind keine Seltenheit. In der Regel kommen sie ohne psychoanalytischen Überbau aus. „Politik ist nur als kompromissfähiges Interessenkalkül möglich, mit Leuten, die ‚mit sich reden lassen‘, nicht als Durchsetzung absoluter Positionen. Sie ist ein lautes ‚Entweder‘, das sich auf ein leises ‚Oder‘ eingestellt hat“, schreibt beispielsweise Rudolf Burger.12 Auch diese Position mutet zunächst plausibel an, ja nachgerade trivial. Jedoch ist nicht ganz klar, was „mit sich reden lassen“ genau bedeuten soll. Ist hier „reden“ im Sinne von „verhandeln“ oder im Sinne von „argumentieren/diskutieren“ gemeint? Verhandeln („Bargaining“) zielt tatsächlich nur auf einen Kompromiss ab, Argumentieren hingegen auf einen Konsens.13 Wenn politische Kommunikation von Anfang an lediglich die Konfrontation verschiedener Interessenkalküle wäre und nichts anderes als Kompromisse zum Ziel hätte, wäre sie schwerlich von beliebigen Vertragsverhandlungen zu unterscheiden. 12
Rudolf Burger, „Re-Theologisierung der Politik?“, in: Wespennest 134 (2004), 85. Zu dieser Unterscheidung Jon Elster, „Introduction“, in: ders. (ed.), Deliberative Democracy, Cambridge 1998, 5 ff.
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Nur dass die Absprachen zwischen den Akteuren immer auch Unbeteiligte binden würden. Damit hätten wir eine rein instrumentalistische Charakterisierung politischen Sprechens und Handelns, und eine solche ist naturgemäß niemals vollständig. Denn wie wir wissen, sind Vorstellungen über die jeweils eigenen Interessen dem politischen Diskurs nicht einfach äußerlich, sondern können im Zuge der Auseinandersetzung revidiert werden. Mitunter werden solche Revisionen sogar durch Argumente veranlasst. Die These, dass Interessenkonzeptionen der Politik (partiell) endogen sind, ist eine der wesentlichen Pointen jeder Kritik an nonkognitivistischen Theorien, welche die Demokratie auf ein Verfahren der Präferenz- und Interessenaggregation reduzieren. Susan Hurley charakterisiert diese folgendermaßen: First, people should vote on the basis of their preferences rather than their beliefs about what should be done. Knowledge about what should be done is not the aim of democracy. The aim is rather to satisfy preferences, which of course requires a way of deciding conflicts between them. This noncognitivist assumption dominates social choice theory, which is concerned with how to aggregate individual preference orderings. Secondly, the justification of political decisions and procedures should be neutral with respect to the conflicting conceptions of the good held by different citizens, and should not derive from the aim to learn the truth about how such conflicts should be resolved. 14
Derartige Konzeptionen der Demokratie eignen sich gut als wissenschaftliches Unterfutter des politischen Realismus. Dieser wendet sich nicht nur gegen Versuche einer Re-Theologisierung der Politik, wie sie heutzutage wieder an Wirkungsmacht zu gewinnen scheinen; manche Realisten hätten auch die Moral gerne aus der Politik verbannt. Als Ratgeber, etwa bei internationalen Krisen, sei sie nämlich mehr als fragwürdig. Moralisch motivierte Politik wird dabei interessengeleiteter Politik gegenübergestellt. Erstere sei naiv oder heuchlerisch – und im schlimmsten Fall sogar gefährlich. Anders als interessengeleitete Politik leiste sie nämlich – wie die Religion – einer Emotionalisierung und Radikalisierung des jeweiligen Konflikts Vorschub; erhitzte Gemüter wiederum seien wenig gesprächs- und kompromissbereit, dafür aber umso skrupelloser. Jene, die letztlich die maßgeblichen Entscheidungen zu treffen haben (etwa über eine militärische Intervention) und im öffentlichen Diskurs die Moral bemühen, würden dies aus strategischen Gründen tun oder seien verrückt und damit „politikunfähig“. Dass solche Plädoyers für Interessen und gegen die Moral in der Politik gewöhnlich ihrerseits von einer bestimmten moralischen Einstellung getragen werden, liegt auf der Hand. Doch ebenso auf der Hand liegt die Tatsache, dass jede halbwegs komplexe Moral Präferenzen für moralisch subopti14
S. L. Hurley, „Cognitivism in Political Philosophy“, in: Roger Crisp/Brad Hooker (eds.), Morality and Well-Being: Essays in Honour of James Griffin, Oxford 2000, 192 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch S. L. Hurley, Natural Reasons: Personality and Polity, New York/Oxford 1989, 323f.
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Einleitung
male Zustände begründen, mithin in vielen Fällen ihre eigene zwangsweise Durchsetzung als illegitim ausweisen kann. Dass ich moralisch richtig liege und der Andere falsch, heißt nicht, dass ich das Recht habe, meine Überzeugungen mit Zwangsgewalt durchzusetzen. Der „Absolutismus“ ist kein Wesensmerkmal der Moral. Er erfordert daher auch keinen antimoralistisch-skeptizistischen Widerstand. Weniger klar ist, was es eigentlich bedeutet, Handlungen auf Interessen zu gründen. Genauer: Der Anschein der Klarheit löst sich auf, sobald wir uns die Frage stellen, was Interessen überhaupt sind. In der Alltagskommunikation, vor allem in der massenmedialen Berichterstattung über politische und militärische Auseinandersetzungen, werden Interessen gerne mit dem gleichgesetzt, was die Akteure „eigentlich“ wollen. Zwar sagt uns unsere individualistische Intuition, dass die einzelnen Akteure selbst bestimmen, was ihre Interessen sind. Aber schon dieses „eigentlich“ deutet darauf hin, dass Interessen nicht restlos mit beliebigen Wünschen zusammenfallen. Wer also für interessengeleitete Politik plädiert, muss noch lange nicht an ein simples Streben nach Lust denken. Schon gar nicht sollte jedes Handeln auf das Eigeninteresse des Handelnden zurückgeführt werden. In diesem Fall hätte der Begriff des Interesses nämlich jeglichen Witz verloren. Wir könnten dann genauso gut durch „Interesse“ kürzen, ohne dadurch irgendeines Informationsgehaltes verlustig zu gehen. Überhaupt kann kollektives Handeln in einer Massengesellschaft selten nur durch das motiviert sein, was die Einzelnen als ihr Interesse begreifen. Allzu oft würde man an Kooperationsproblemen von der Art des Gefangenen-Dilemmas scheitern. Kollektive Akteure, ob politische Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen oder Staaten, brauchen als Bindemittel typischerweise noch etwas anderes als das individuelle Interessenkalkül. Mit Letzterem allein lässt sich bekanntlich nicht einmal eine Teilnahme an Wahlen erklären – selbst wenn diese im Wesentlichen nur Zeitaufwand verursacht.15 Wenn Pfaller meint, dass die neoliberale Masse eine Politik will, die ihren Interessen zuwider läuft und lediglich Unlust befördert, wird es noch ein wenig komplizierter. Damit kommt eine Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Lust ins Spiel. Pfaller meint aber auch, dass Letztere, also die Lust, welche durch die Unlust generiert und in der Regel gar nicht als solche bemerkt wird, stärker motivieren könne als Erstere. Und dafür argumentiert er auf eindrucksvolle Weise. Allerdings hat es den Anschein, dass die Diagnose, die Massen würden heute tendenziell Genuss aus der Askese ziehen, zwar nicht falsch, aber auch nicht vollständig ist. Zumal sie offenkundig nicht die Askese an sich lieben, sondern eher als Mittel zu einem Erfolg, der nur im Wege der Askese 15
Siehe Brian Barry, Sociologists, Economists and Democracy, Midway Reprint, Chicago/London 1988.
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erreichbar sei. Beim oben angesprochenen Zusammenhang zwischen der Überzeugung, dass Sparen notwendig sei, und der Euphorie, mit der solche Verlautbarungen aufgenommen wurden, könnte es sich daher auch um einen bloß mittelbaren handeln. Es könnte sein, dass die Begeisterung ihren Grund in der als solche wahrgenommen und lange Zeit vermissten „Aufrichtigkeit“ von Wahlwerbern hatte. „Endlich“, so könnten die euphorisierten „kleinen Leute“ gedacht haben, „spricht jemand jene harten Wahrheiten aus, die einmal zur Kenntnis genommen werden müssen, wenn alles besser werden soll.“ Schon deshalb liegt der Verdacht nahe, dass es nicht die Überzeugtheit an sich ist, was zur Askese verleitet, sondern der besondere Inhalt der neoliberalen Überzeugung. Diese wiederum beruht bei den Wenigsten auf einer kritischen Beurteilung empirischer Belege und normativer Argumente. Ihre Grundlage dürfte vielmehr so etwas wie der Gemeinplatz sein, dass die Wahrheit selten angenehm sei. Und Wahlwerber, die Unangenehmes versprechen, erscheinen von vornherein vertrauenswürdiger als windige Autoverkäufer, deren Informationen allzu offensichtlich von einem eng definierten Eigeninteresse diktiert werden. Nähere Analysen des zweiten Präsidentschaftswahlerfolgs George W. Bushs legen sogar den Schluss nahe, dass viele Wähler gar nicht auf der Grundlage eines ernsthaften Bekenntnisses zu irgendwelchen policies gewählt haben, sondern sich hauptsächlich von ihrem Selbstverständnis als nicht-dekadent, nicht-intellektuell, heterosexuell etc. leiten ließen und den „einfach gestrickten“ Bush als einen von ihnen betrachteten, der ihnen eine attraktiv erscheinende Selbstwahrnehmung ermöglichte. Man könnte natürlich auch hier von Bekenntnissen sprechen, aber das wären dann keine Bekenntnisse im Pfaller’schen Sinne mehr.16 In jedem Fall wäre Askese allein wohl zu wenig. Ein mönchisches Dasein ist nicht das, was den „verführten Massen“ vorschwebt. Näher liegt die Annahme, dass die Massen sich selber gerne im „rechtschaffenen“ Streben nach Erfolg sehen.17 Dem würde auch nicht die Tatsache widersprechen, dass am Anfang dieser Einstellung die Resignation steht, die zu Anpassung der je 16
Siehe dazu die Debatte zwischen Andrew Hacker, Paul Cohen und Mark Danner in der New York Review of Books vom 10. 3. 2005. 17 Freilich ist es durchaus möglich, dass aus diesem rechtschaffenen Streben nach Erfolg und dem damit verbundenen Aufschub des Genusses am Ende eine Lebensform wird, die ein Ankommen am Ziel geradezu ausschließt. So konstatiert schon Max Weber in seiner berühmten Abhandlung über die Funktion der protestantischen Ethik für den Kapitalismus, dass in den USA „das seines metaphysischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben“ dazu neige, „sich mit rein agonalen Leidenschaften zu assoziieren“ (Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 3. Aufl., Weinheim 2000, 154). Damit erhalte das Erwerbsstreben einen sportlichen Charakter. Vielleicht sind diese agonalen Leidenschaften aber nichts anderes als die trübsinnigen Leidenschaften, von denen Pfaller spricht.
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eigenen Konzeption des guten Lebens an die als quasi unverfügbar erlebten Verhältnisse führt. Für strategisch denkende Ideologen bedeutet dies: Ein politischer Diskurs, der vorherrschend werden soll, muss es den Leuten ermöglichen, sich selbst als liebens- oder achtenswert bzw. bewunderungswürdig wahrzunehmen. Einfach Vorschläge zur Lösung tatsächlicher Probleme oder zur Befriedigung gerade bestehender Bedürfnisse zu unterbreiten genügt offenbar nicht. Genauso wenig wie eine bloße Erzählung ohne jeglichen Realitätsgehalt. So stellt Renata Salecl mit Bezug auf den Thatcherismus (und in Anlehnung an eine entsprechende Analyse Stuart Halls) fest: Ein wesentlicher Teil der ideologischen Wirksamkeit des Thatcherismus bestand darin, daß es einer Handvoll Leuten tatsächlich gelang, durch individuelles Unternehmertum reich zu werden – solche Erfolge wirken wie „ein kleines Stück Realität“, welches allen anderen die Hoffnung gibt, dass auch sie eines Tages Erfolg haben werden.18
Dem hatte die Labour-Party seinerzeit nichts entgegenzusetzen außer nüchtern-öde „Sachpolitik“ und lähmenden Realitätsbezug. Was ihr nicht gelang, war eine Veränderung der Problemwahrnehmung. Vor allem aber, und dieser Aspekt scheint noch bedeutsamer, konnte sie keine Hoffnung vermitteln, sondern bestenfalls den Eindruck, die Dinge ein wenig besser zu verwalten.19
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Renata Salecl, Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse, Wien 1993, 48. 19 Eher rationalistisch angelegte politische Theorien haben dem Faktor Hoffnung bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt (dazu Mary Zournazi, Hope: New Philosophies for Change, New York 2003). Die aus der Hoffnung gespeiste politische Leidenschaft sollte man freilich nicht in einen Widerspruch zur rationalen Einschätzung und Bewertung sozialer Entwicklungsmöglichkeiten setzen. Auch wenn sie, wie die Erfahrungen mit den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts gelehrt haben, in einen solchen Widerspruch geraten kann. Nach wie vor hat die Linke Schwierigkeiten, Hoffnung auf größere Veränderungen zu erzeugen, die mehr ist als Sozialromantik. Sie muss vorerst auf die Selbstachtung der Einzelnen bauen, mithin auf folgende Überlegung: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es mit der Gesellschaft den Bach hinunter geht, aber wenn ich nicht zu einem selbstzufriedenen Amoralisten werden will, der sich im Kulturpessimismus allzu wohl fühlt, muss ich so tun, als ob ich noch Chancen für die soziale Gerechtigkeit sehe.“ Zu viel mehr als „Widerstand“ kann eine solche Überlegung nicht motivieren. Die hegemoniale neoliberale Rechte dagegen kann sich mit dem Hinweis begnügen, dass die ohnehin im Zustand der permanenten Reformation befindlichen Verhältnisse jedem Einzelnen Grund zur Hoffnung auf Vorankommen geben. Dass zwischen „jedem Einzelnen“ und „der Masse der Bevölkerung“ ein Unterschied besteht, wird zumindest nicht expliziert – spielt aber auch keine große Rolle, wenn man noch die „Sachzwänge“ auf seiner Seite hat.
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Zumindest in Österreich verbindet sich die Erzählung von Freiheit, Mündigkeit und Selbstverantwortung noch mit einer infantilisierenden Rhetorik der „kleinen, fleißigen Leute“ und der „Hausaufgaben“, die „wir“ beispielsweise in einem „vereinten Europa“ zu erledigen hätten. Dies scheint der These zu widersprechen, dass eine Ideologie nur hegemonial werden kann, wenn sie den Menschen ein attraktives Selbstbild anzubieten vermag. Allerdings dürften alle erfolgreichen Ideologien von mehr oder weniger widersprüchlichen Bildern durchzogen sein. Doch sollte immer zwischen dem Haupttext der Erzählung und diversen Nebenmotiven unterschieden werden – mögen die Nebenmotive auch, wie Dekonstruktivisten sagen würden, notwendige Supplemente sein. Während die Ideale der Freiheit, Mündigkeit und Selbstverantwortung derzeit das Leitmotiv bilden, kommen die „kleinen Leute“ dann zur Sprache, wenn ein Ressentiment geschürt werden soll. Mit Ressentiments allein lässt sich indes, wie der Fall FPÖ gezeigt hat, kein Staat machen – allenfalls für einige Zeit (wenn auch immer wieder aufs Neue) Oppositionspolitik, welche den Regierenden Themen vorgibt und argumentative Beschränkungen auferlegt. In jedem Fall kommt man mit Analysen wie der eben zitierten auch einer Erklärung des Umstands näher, dass jemand – wie in Österreich einige Jahre Jörg Haider – sich als „Anwalt des kleinen Mannes“ verkaufen kann, der selbst ständig in Designerkleidung und teuren Sportwägen unterwegs ist. Wenn es aber zutrifft, dass man sogar Enttäuschungen, Erniedrigungen und dergleichen genießen kann, bestätigt der Fall Haider nur die allgemeine „Lust-in-der-Unlust“-These. Eine dieser irgendwie genossenen Erniedrigungen könnte eben auch in der Titulierung als „kleiner Mann“ oder „kleine Supermarktkassiererin“ bestehen. Die meisten „kleinen Leute“ dürften durchaus wissen oder wenigstens ahnen, dass ihre Chancen auf ein Leben in Designerkleidung und Sportwägen nachgerade lächerlich gering sind. Sie hoffen also, wenn man so will, gegen die (eigene) Vernunft. In gewisser Weise bewundern sie ihre schicken Anführer für deren Glück.20 Die damit verbundene Frustration wird verdrängt und kehrt als Hass gegen Dritte wieder.21 20
Vermutlich haben wir es hier mit einem Fall von „delegiertem Genießen“ zu tun. Im Alltag begegnen wir diesem Phänomen ständig. Man denke nur an das „Dosengelächter“ in TV-Sitcoms, das uns offenbar von der Last des eigenen Amüsement befreit und uns passiver als passiv sein lässt; an den Spleen, alles Mögliche auf Video aufzunehmen, ohne es später anzusehen („Hauptsache, der Videorecorder hat es gesehen“); oder an die Institution des Kurators, der für uns die Mühen der Sichtung und Rezeption schwieriger moderner Kunst, die Mühen des Genusses, übernimmt. Siehe dazu Robert Pfaller (Hg.), Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien 2000. 21 Übrigens nahm auch der prononcierte Antihedonist Kant eine (indirekte) Pflicht an, „Wohlhabenheit für sich selbst zu suchen“, da Armut der Nährboden für aller lei Laster sei (Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. 8, 10.
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Aber warum entsteht dabei selten Neid auf die Erfolgreichen oder die schicken Wortführer des Populismus? Dass der Neid mit dem sozialen Abstand abnimmt, ist keine neue Erfahrung. Nach der altbekannten „neighborhood-envy“-These entwickeln wir Neidgefühle nur gegenüber solchen, die uns in der sozialen Hierarchie hinreichend nahe sind; gegenüber denjenigen, die hinsichtlich ihres sozialen Erfolgs allzu weit über uns stehen, mögen wir allerlei Gefühle hegen, typischerweise jedoch nicht Neid. Jon Elster hat diese These etwas präzisiert. Demnach können wir bei einem Anwachsen der sozialen Distanz zu unserem Nachbarn zwar üblicherweise auch mit einem Anwachsen des Neids rechnen, allerdings nur bis ein bestimmter Punkt erreicht ist. Dann lassen die Neidgefühle wieder nach: If my neighbor earns a hundred dollars more per year than I do, it’s hard to get excited about it, unless I care more about the ordinal rank than about the cardinal difference. On the other hand, the strength depends on how plausibly I can tell myself that „it could have been me“. If he earns ten times as much as I do, it may be hard to come up with a plausible story. We would expect, therefore, envy to increase with distance up to a point and to decrease thereafter.22
Eine Minimalbedingung für Neid könnte folgendermaßen lauten: Um gegenüber einer anderen Person Neid empfinden zu können, muss man in der Lage sein, einen Kausalzusammenhang zwischen ihrer glücklicheren Lage und irgendwelchen äußeren sozialen Umständen herzustellen. Glück, das aus einer Überzeugung oder Haltung resultiert, die ich nicht teile, oder aus einer Eigenschaft des Anderen, die zu einem großen Teil naturgegeben ist, lösen möglicherweise negative Emotionen aus, aber keine Neidgefühle. Auch Menschen, die ständig im Licht der Öffentlichkeit stehen, lösen eher andere Gefühle als Neid aus. Das dürfte mit der besonderen Entrückung zu tun haben, die massenmediale Aufmerksamkeit bewirkt. Wer im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, ist für die meisten kein „Nachbar“ mehr. Etwaige negative Emotionen der Mittelmäßigen und Unterdurchschnittlichen gegenüber den allgemein bekannten Erfolgreichen lassen sich mit rhetorischem Geschick und Charisma ablenken auf andere, eben noch Erfolglosere.23 Aufl., Frankfurt/M. 1993, 518). Allerdings macht es einen Unterschied, ob man dieser Pflicht nur durch entbehrungsreiches Engagement im Privaten nachkommt oder auch dadurch, dass man sich zumindest gegen Politiken wendet, die dem eigenen materiellen Interesse zuwider laufen. 22 Jon Elster, Alchemies of the Mind: Rationality and the Emotions, Cambridge 1999, 170. 23 Damit ist aber nicht gesagt, dass sich der Egalitarismus wirklich auf nichts anderes als Neid gründet. Das ist die Auffassung klassischer Konservativer und neoliberaler „Modernisierer“. Zumindest in ihrer Ablehnung eines „übertriebenen“ Egalitarismus sind sie sich einig. Dieser sei „leistungsfeindlich“ und basiere letzten Endes auf bloßem Neid. Wer also Ungleichheiten in der Einkommens- und Ver-
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Pfaller zufolge besteht aber ein direkterer Zusammenhang zwischen Bekenntnissen und dieser seltsamen „Lust in der Unlust“ bzw. der Unterdrückung der eigentlichen eigenen Interessen. Und da die Bekenntnisse für ihn derzeit vorherrschen, lautet seine Schlussfolgerung: „Die Vorherrschaft der Bekenntnisse zu brechen würde bedeuten, die derzeit übermächtig scheinenden neoliberalen Politiken ihrer wichtigsten ideologischen Stütze zu berauben.“24 Im Folgenden werde ich auf psychoanalytische Spekulationen weitgehend verzichten und mich – vorwiegend aus der Perspektive der jüngeren analytischen Philosophie – eingehender mit der Frage befassen, wie es sich mit Wahrheitsansprüchen in der Politik verhält und wie sich diese zu Interessen verhalten. Ohne die theoretische Substanz von Pfallers ingeniösem Werk radikal infrage stellen zu wollen, möchte ich doch einige Zweifel an seiner Präferenz für eine so genannte „Kultur des Aberglaubens“ (im Gegensatz zu einer „Bekenntniskultur“) anmelden. Sie erinnert ein wenig an Richard Rortys Lob der Ironie.25 Tatsächlich scheint mir schon diese Dichotomie etwas zu grob. In einer Kultur des Aberglaubens, so die gegenständliche These, sei das öffentliche Leben durch magische Überzeugungen geprägt, d. h. durch Überzeugungen, die tatsächlich von niemandem vertreten werden. In einer Bekenntniskultur dagegen dominierten der aufrechte Glaube und ein verbissener Ernst. Die daraus resultierende Unlust wird nach Pfaller – in Form des Ressentiments – vorzugsweise an sozial Schwächere weitergegeben. Was aber, wenn die magischen Überzeugungen überhaupt keine nennenswerten Handlungsbeschränkungen mehr auferlegen? Hängt nicht doch mehr vom Inhalt ab als von der Form? Und was soll mit denen geschehen, die sich nicht an den jeweiligen magischen Praktiken beteiligen wollen? Zur Untermauerung seiner Thesen beruft sich Pfaller unter anderem auf den Lehrsatz 42 aus Spinozas Ethik, der da lautet: „Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; und wir erfreuen uns ihrer nicht, weil wir die Lüste einschränken, sondern umgekehrt, weil wir mögensverteilung kritisiert und für mehr Umverteilung eintritt, gerät heute leicht in den Verdacht, lediglich als Stimme der „Neidgesellschaft“ zu fungieren. 24 Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 317. 25 Siehe Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992. Mittlerweile hat sich Pfaller jedoch auch vom dekonstruktiven Skeptizismus und der damit korrelierenden Spaßkultur explizit abgegrenzt. Postmoderne Spaßkultur und Dekonstruktivismus seien lediglich das „seitenverkehrte Spiegelbild“ der christlichen Askese. Mit dieser verbinde sie „die grundlegende metaphysische Operation …, Wahrheit und Freiheit irgendwo anders anzusiedeln als auf der Welt und im Glück“ (Robert Pfaller, „Die Komödie und der Materialismus“, in: ders. [Hg.], Schluss mit der Komödie. Zur schleichenden Vorherrschaft des Tragischen in unserer Kultur, Wien 2005, 112f.). Was von dieser These zu halten ist, lassen wir einmal dahin gestellt.
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uns ihrer erfreuen, können wir die Lüste einschränken.“26 Das heißt wohl: Gegen eine Einschränkung der Lüste ist nicht prinzipiell etwas einzuwenden. Gerechtigkeits- und Gemeinwohlerwägungen werden eine solche Einschränkung oft verlangen. Genauso wie Erwägungen über das eigene Glück. Denn immerhin besteht wenig Zweifel daran, dass ungebremster Hedonismus nicht nur die Gesundheit schädigen und das Leben signifikant verkürzen kann, sondern auch die Erfahrung bestimmter Lüste ausschließt, nämlich jener, die eine Investition gewisser Mühen voraussetzen. Wer die Lust am eigenen Geigenspiel sucht, wird sich vorher minimale Instrumentenbeherrschung aneignen müssen. In so einem Fall ist es jedenfalls nicht ein asketisches Selbstbild, welches Genuss verschafft. Gleichwohl ist die These nicht von der Hand zu weisen, dass die Glückssuche nicht unbedingt im Streben nach jener Selbstachtung bestehen sollte, die aus der Gewissheit resultiert, über lauter rationale Überzeugungen zu verfügen. Wiewohl Selbstachtung in einer gewissen Dosis sicher unverzichtbar ist für ein gelingendes Leben, birgt das Streben danach nicht zu unterschätzende Risiken in sich, führt es doch nicht selten – da hat Pfaller wohl Recht – zu jenen „trübsinnigen Leidenschaften“, die gegenwärtig als Bindemittel im Gebräu aus emphatischem Wirtschaftsliberalismus und rechten Ressentiments wirken. Denn, wie Tom Robbins’ weise Maestra meint: „Wer … versucht, den reinen Funken des Geistes mit der bombastischen Lupe des Ego zu vergrößern, riskiert, sich ein Loch in die Seele zu brennen.“27 Dennoch bezweifle ich, dass der Ratschlag, Bekenntnisse nach Möglichkeit in Aberglauben umzuwandeln, wirklich nützlich ist. Was für die Kunst gilt, die heute tatsächlich eher selten sinnlichen Genuss verspricht, sich dafür umso öfter auf politisch völlig harmlose Weise bekenntnishaft, inhaltsfixiert und aufklärerisch gibt28 und mitunter sogar als Sozialarbeit auftritt, gilt jedenfalls nicht für alle Bereiche der Gesellschaft. Pfaller nennt zunächst wohlweislich auch keine bestimmten Überzeugungen. In seinem Plädoyer für die Komödie und den Materialismus findet sich aber immerhin eine Andeutung: Der Idealismus – und mit ihm die Tragödie – hält die Individuen … für Subjekte und operiert folglich mit dem Begriff der Schuld. Die Komödie hingegen legt, hellsichtiger, den Blick auf die determinierende – sei es soziale, sei es unbe-
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Benedictus (Baruch) de Spinoza, Die Ethik, Stuttgart 1977, 699. Tom Robbins, Völker dieser Erde, relaxt!, Hamburg 2003, 74. Im Übrigen scheint Maestras Enkel, der witzige und auch sonst ausgesprochen attraktive Romanheld Switters, ziemlich genau dem aufgeklärten Abergläubischen zu entsprechen, wie er Pfaller vorschwebt. 28 Siehe Robert Pfaller, „Politics of Belief and Politics of Faith: Formen des gesellschaftlichen Imaginären und ihre Wirkungen in Kunst und Politik“, in: Badischer Kunstverein (Hg.), Kritische Gesellschaften, Nürnberg 2006, 228ff. 27
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wusst-psychische – Mechanik dort frei, wo die Figuren sich für selbstbestimmt halten.29
Sehen wir uns das etwas näher an: Sollen wir also Autonomie und Schuld für eine Illusion halten? Und sollen wir diese Begriffe, wenn wir einmal unsere Determiniertheit durchschaut haben, beibehalten und weitermachen wie bisher, nur eben entspannter? Das alles mutet ein wenig mysteriös an. Pfallers Lob der Komödie, des Materialismus und am Ende auch des Determinismus wirkt so simpel gestrickt, dass es schon wieder verwirrt. Immerhin werden nun schon seit Jahren auch in einer breiteren Öffentlichkeit die naturalistischen Theorien einiger Gehirnforscher diskutiert, wonach Willensfreiheit lediglich eine Illusion ist. Nicht wenige Philosophen beziehen dabei einen kompatibilistischen Standpunkt. Sie leugnen gar nicht, dass alles, was wir denken und denken können, neuronal determiniert ist, glauben aber, dass diese Erkenntnis die Ideen der Autonomie, Schuld und Verantwortung nicht untergrabe. Natürlich könnte es sein, dass sie falsch liegen. Aber um das zu zeigen, müsste man sich auf die mittlerweile atemberaubend subtilen Debatten in der Philosophie des Geistes einlassen.30 Jedenfalls sind Fragen der Autonomie, Verantwortung und Schuld selbst für den nicht erledigt ist, der annimmt, dass wir – um eine gängige, gleichwohl höchst fragwürdige Formulierung zu verwenden – letztlich nichts weiter als unsere Gehirne sind. Der Punkt ist nicht einfach, dass die Zuschreibung von Autonomie und Verantwortung oder einfach Entscheidungsfähigkeit ihrerseits kausal wirksam werden, mithin bestimmte Gehirnzustände und Verhaltensweisen hervorrufen kann. Was immer man von ontologischen Geist/ Körper-Dualismen halten mag, eine Theorie des Bewusstseins, welche dem Unterschied zwischen erster und dritter Person nicht Rechnung trägt, ist fundamental defekt. So wäre zweifellos ein Spaßvogel oder Besorgnis erregend verschroben, wer einen Kellner, der auf die Bestellung wartet, mit der Bemerkung hinhält, dass man erst abwarten und sehen müsse, was man bestellt.31 Dem würden auch (die meisten) Gehirnforscher nicht ernsthaft widersprechen. Ein Gehirnforscher mag neurochemische Vorgänge beobachten und diese als den Entscheidungsprozess im Gast identifizieren. Dazu muss der Gast allerdings überlegen, was er bestellen soll; er kann eben nicht selbst einfach abwarten und beobachten. Wenn der Gast denkt, stellt er Begründungsbeziehungen her zwischen Überzeugungen, Wünschen, Hoffnungen, Befürch29
Robert Pfaller, „Die Komödie und der Materialismus“, 120f. Eine gute Einführung in die jüngere Diskussion innerhalb der analytischen Philosophie bietet Jürgen Schröder, Einführung in die Philosophie des Geistes, Frankfurt/ M. 2004; aus der Perspektive der „kontinentalen“, insbesondere hegelianischen Philosophie Robert Pippin, Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt/M./New York 2005. 31 John R. Searle, Freiheit und Neurobiologie, Frankfurt/M. 2004, 18. 30
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tungen etc. Um komplexere Gedankengänge dieser Art haben zu können, muss der Gast nicht zuletzt vertraut sein mit dem Begriff der Überzeugung und also mit der Unterscheidung zwischen „wahr sein“ und „für wahr gehalten werden“. Andernfalls könnte er sich beispielsweise nicht fragen, ob sein Budget tatsächlich für ein mehrgängiges Menu ausreicht und ob ein mehrgängiges Menu tatsächlich dem gegebenen sozialen Setting angemessen oder seiner Gesundheit zuträglich ist. Eine Sprache, die Begriffe wie „Überzeugung“ und „Hoffnung“ enthält, lässt sich aber nicht restlos übersetzen in die naturwissenschaftliche Sprache des Gehirnforschers, die bloß Kausalrelationen zwischen physischen Entitäten kennt – mag das Haben einer bestimmten Überzeugung auch ontologisch identisch sein mit einem bestimmten Gehirnzustand. Wenn Handlungen immer auf Gründen beruhen, dann gibt es keine rein naturwissenschaftlichen Handlungserklärungen. Das heißt, man kann Handlungen nicht erklären, ohne sie einem Subjekt zuzurechnen oder zugerechnet zu haben. Ohne diese Zurechnung blieben nur sinnentleerte Ereignisse. Die Rechtfertigungsbeziehung zwischen Gründen und Handlungen entzieht sich dem naturwissenschaftlichen Blick. Die „Rechtfertigung“ ist nicht unbedingt moralischer Natur. Sie kann auch in einer bloßen Zweckmäßigkeitserwägung bestehen, wobei die Zwecke und die Wahl der Mittel durchaus (langfristig) unklug oder unmoralisch sein können. Wer sagt, er habe so und so nur gehandelt, weil ihn dieser oder jener Gehirnzustand dazu bestimmt hätte, sagt eigentlich, er habe gar nicht gehandelt, sondern sich bloß als physische Entität auf eine bestimmte Weise verhalten. Und wer das permanent tut, spricht sich selbst den Subjektstatus ab. In der Regel wird es sich dabei um bloße Schutzbehauptungen handeln, die als Rechtfertigungen sogar performativ widersprüchlich sind: Die Aussage wird gewissermaßen durch das Aussagen widerlegt. Wenn es sich also bei der Zuschreibung eines Subjektstatus und in weiterer Folge von Verantwortung oder Schuld um ein idealistisches Manöver handelt, dann ist der Idealismus mehr als bloß Merkmal einer Kultur, die den Sinn für die Komödie verloren hat und tendenziell der Tragödie frönt. In ähnliche Probleme schlittern die postmodernen Kritiker des modernen politikphilosophischen Denkens, wie es etwa von John Rawls oder Jürgen Habermas repräsentiert wird. Für sie steht fest, dass es politisch-moralische Überzeugungen sind, deren essenzielle Grundlosigkeit und bloße Konventionalität wir uns ständig vor Augen halten müssten. So meint etwa Chantal Mouffe, dass dieses Kontingenzbewusstsein das Ethos des Demokraten konstituiere, ja sogar die „Ethik der Demokratie“. Alles andere laufe auf eine Verdrängung „des Politischen“ hinaus.32 Selbst der post-postmoderne Einwand Slavoj Žižeks dagegen will sich nicht mehr geradlinig objektivistisch geben: Obgleich [Mouffes] Kritik völlig gerechtfertigt ist, weicht sie doch dem Paradox der Komplementarität insofern weiter aus, als sie die Illusion … einer auf jede 32
Siehe Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London/New York 2000.
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Bezugnahme auf ein außerpolitisches Fundament verzichtenden Politik beinhaltet: als wäre es möglich, das reine Spiel des Antagonismus zu spielen, als wäre … eine Bezugnahme auf irgendein nicht-antagonistisches, neutrales Fundament, so illusorisch es auch ist, nicht eine irreduzible, notwendige Bedingung einer politisch effizienten prise de position. In diesem präzisen Sinne ist die Ethik ein Supplement des Politischen: Es gibt keine politische „Parteinahme“ ohne eine minimale Bezugnahme auf eine ethische Normativität, die den Bereich des rein Politischen transzendiert – anders gesagt, ohne eine minimale „Naturalisierung“, die in der Legitimierung unserer Position über eine Bezugnahme auf eine außerpolitische (natürliche, ethische, theologische …) Instanz beinhaltet ist.33
Auch hier wird noch behauptet, dass das notwendige „außerpolitische“ Fundament der Politik nur illusorisch sein könne.34 Antiessenzialisten sprechen in diesem Zusammenhang gern von der Unausweichlichkeit eines bloß „strategischen Essenzialismus“. Doch worin genau soll die Illusion bestehen? Wer nicht an Astrologie glaubt, hat eine ziemlich präzise Vorstellung davon, was das Illusorische astrologischer Überzeugungen ist. Aber worin besteht das Illusorische im Fundament der Überzeugung, soziale Gerechtigkeit erfordere (unter den gegebenen Verhältnissen) die Einführung eines allgemeinen, staatlich zu gewährleistenden Grundeinkommens? Wohl nicht darin, dass die dieser Überzeugung zugrunde liegenden normativen und empirischen Annahmen nicht einhellig vertreten werden oder dass diejenigen, die die Überzeugung vertreten, sie nicht vertreten würden, hätten sie andere Erfahrungen gemacht und wären sie anderen Einflüssen ausgesetzt gewesen. In diesem Fall würde, angesichts der immer zahlreicheren Kreationisten, auch dem Glauben, dass die Erde einige Milliarden Jahre alt ist, etwas Illusorisches anhaften. Das Illusorische könnte noch im Anspruch der Begründung bestehen, besser zu sein als ihre Negation. Aber das müsste dann eben gezeigt werden können. Und genau darum geht es Žižek offenbar nicht. Er bezieht sich nicht auf einzelne normative und empirische Grundannahmen, sondern auf Begründungen von Gerechtigkeitsforderungen als solche. Andernfalls hätte er geschrieben: „… so illusorisch es auch sein mag“. Somit kann das Illusorische nur in der Annahme bestehen, Moral sei mehr als das, was wir historisch-zufällig für Moral halten, mehr als der Name für eine Konvention. Die letztendliche Verweigerung des Bekenntnisses, die auch in einem Übermaß an Inkonsistenzen und Widersprüchen zum Ausdruck kommt, dürfte ein Grund dafür sein, dass Žižek sich immer öfter radikal antiliberal und antikapitalistisch geriert, ohne jemals den Versuch zu unternehmen, 33
Slavoj Žižek, Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Wien 1996, 209 (Hervorhebungen im Original). 34 Zumindest entspricht diese Interpretation der jüngsten Hinwendung Žižeks, der sich als „altmodischer, bedingungsloser Atheist (dialektischer Materialist gar)“ deklariert, zum Christentum, dessen „symbolische Struktur“ er der Linken anempfiehlt (Slavoj Žižek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt/M. 2001).
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Alternativen zum Kapitalismus und zur liberalen Demokratie auch nur in groben Umrissen zu skizzieren.35 Er macht nicht einmal den Versuch anzugeben, was genau er eigentlich ablehnt, wenn er die Überwindung des Kapitalismus oder des liberal-demokratischen Modells der Politik predigt. Seine Kritik des Zynismus ist selbst noch zynisch.36 Bei Žižek sind wohl etwas zu viele Illusionen im Spiel: Das außerpolitische Fundament der Politik soll illusorisch sein, genauso wie der Verzicht darauf. Der Objektivismus, wie ich ihn hier verstehe und verteidige, zeichnet sich durch drei Thesen aus: 1) Werturteile und Urteile über die inhaltliche Richtigkeit von Normen können objektiv wahr oder falsch sein. 2) Die Orientierung der Akteure an dem, was sie für objektive Werte und objektiv gültige Normen halten, ist auch in der Politik prinzipiell gut. 35
Ian Parker trifft den Nagel auf den Kopf: „Žižek … has succeeded in so thoroughly desubstantialising any political project that he ends up believing in nothing himself.“ (Slavoj Žižek: A Critical Introduction, London/Sterling 2004, 104) 36 Gelegentlich räumt Žižek aber auch seine eigene Ratlosigkeit ein (so etwa in einem Gespräch mit Eric Dean Rasmussen, http://evans-experientialism.freewebspace.com/rasmussen.htm, abgefragt am 26. 7. 2006). Mit vielen einzelnen Beobachtungen und Analysen hat er ohnehin recht. Nicht selten propagiert er sogar ausdrücklich genau jene universalistische Haltung, die dem hier vertretenen Objektivismus zumindest sehr nahe kommt, z. B. in einem von Doug Henwood geführten Interview: „My opponent … is the widely accepted position that we should leave behind the quest for universal truth – that what we have instead are just different narratives about who we are, the stories we tell about ourselves. So, in that view, the highest ethical injunction is to respect the other story. All the stories should be told, each ethnic, political, or sexual group should be given the right to tell its story, as if this kind of tolerance towards the plurality of stories with no universal truth value is the ultimate ethical horizon. I oppose this radically. This ethics of storytelling is usually accompanied by a right to narrate, as if the highest act you can do today is to narrate your own story, as if only a black lesbian mother can know what it’s like to be a black lesbian mother, and so on. Now this may sound very emancipatory. But the moment we accept this logic, we enter a kind of apartheid. In a situation of social domination, all narratives are not the same. For example, in Germany in the 1930s, the narrative of the Jews wasn’t just one among many. This was the narrative that explained the truth about the entire situation. Or today, take the gay struggle. It’s not enough for gays to say, ‚we want our story to be heard‘. No, the gay narrative must contain a universal dimension, in the sense that their implicit claim must be that what happens to us is not something that concerns only us. What is happening to us is a symptom or signal that tells us something about what’s wrong with the entirety of society today. We have to insist on this universal dimension.“ (http://bad.eserver.org/issues/2002/59/zizek. html, abgefragt am 26. 7. 2006)
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3) Zur angemessenen Bestimmung individueller Interessen braucht es eine Vorstellung vom objektiv guten Leben. Um den Objektivismus nicht allzu exotisch oder gar närrisch erscheinen zu lassen, seien schon zu Beginn einige Dinge (die in der Folge noch näher ausgeführt werden) klargestellt: Der Objektivismus schließt nicht notwendig die These ein, dass strikte Wahrheitsorientierung und Aufrichtigkeit immer „all things considered“ besser sind als Abweichungen von diesen Postulaten. Der Objektivist weiß, dass, wie Bernard Williams schreibt, it is a predictable and probable hazard of public life that there will be these situations in which something morally disagreeable is clearly required. To refuse on moral grounds ever to do anything of that sort is more than likely to mean that one cannot seriously pursue even the moral ends of politics.37
Auch siedelt der Objektivist die Wahrheit nicht irgendwo an, weder im Diesseits noch im Jenseits. Er versteht Wahrheit nicht als eine Entität, die einen Ort bräuchte. Er versteht sie aber auch nicht, wie etwa Alain Badiou, als ein radikal kontingentes, die Koordinaten des Denkens umstürzendes Ereignis – was immer das genau bedeuten mag.38 Weiters schließt der Objektivismus zwar eine moderaten Rationalismus ein, aber nicht notwendig die Idee der Möglichkeit einer Letztbegründung von Überzeugungen, genauso wenig wie die Annahme, politische Kommunikation habe letztlich auf rationalen Konsens abzuzielen. Und der Grund dafür ist nicht einfach ein pessimistisches Menschenbild. Die Leugnung der Möglichkeit einer Letztbegründung 37
Bernard Williams, „Politics and Moral Character“, in: Stuart Hampshire et al., Public and Private Morality, Cambridge 1978, 62. Überhaupt schlägt Bernard Williams’ spätes Werk Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Frankfurt/M. 2003) in eine ähnliche Kerbe wie diese Abhandlung. Allerdings ist es um einiges breiter angelegt und enthält auch subtile Analysen zu Fragen, die im Folgenden höchstens kurz angeschnitten werden. 38 Siehe Alain Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien 2003, 61–65; ders., Über Metapolitik, Zürich/Berlin 2003. Freilich lassen sich zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Badious Sicht der Dinge kaum leugnen. Allerdings kann ich Badious ausgeprägte Vorliebe für das Disruptive und seine unverblümte Verachtung für den Mainstream des ethischen Denkens nicht nachvollziehen, zumindest nicht gänzlich. Für eine treffende und doch wohlwollende Kritik siehe Terry Eagleton, Figures of Dissent. Critical Essays on Fish, Spivak, Žižek and Others, London/New York 2003, 246–253. Vor allem aber verblüfft der polemische Nachdruck im Kampf gegen das ethische „Geschwätz“ von Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit – umso mehr, als Badious luftig abstrakte Philosophie sich sämtlichen Orientierungserwartungen radikal verweigert. Sein konkretes politisches Engagement im Rahmen der Organisation politique wiederum unterscheidet sich, wiewohl strikt außerparlamentarisch angelegt, inhaltlich oftmals so gut wie gar nicht von dem vieler konventionellerer Linker (siehe das Nachwort Peter Hallwards in Alain Badiou, Über Metapolitik, 163–191).
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und die Anerkennung der Tatsache, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse bei der Bildung und Verbreitung von Überzeugungen eine kausale Rolle spielen, machen den hier vertretenen Objektivismus weitgehend kompatibel mit der sozialontologischen Annahme (von Mouffe, Laclau, Žižek und anderen) eines unhintergehbaren Antagonismus, der für politische Ideen niemals mehr zulasse als Hegemonie. Wirklich weit trägt diese Annahme aber – soweit sie in all ihren tiefgründigen Details überhaupt verständlich ist – nicht. Jedenfalls fällt es nicht gerade leicht zu verstehen, weshalb sich als politisch ambitioniert Verstehende in die Entwicklung einer philosophischen Hegemonietheorie so viel Energie investieren, wie dies manche deklariert linken Denker tun.39 Schließlich sollte der Objektivismus nicht mit jenem Realismus gleichgesetzt werden, der zwar mit Wahrheitsansprüchen operiert, dabei aber institutionelle Beschränkungen weitgehend naturalisiert und zu „Sachzwängen“ erhebt. Wahrheit bedeutet für den Realisten soviel wie Anpassungserfolg. Dem Objektivisten sind Sachzwangrhetoriken prinzipiell verdächtig. Allzu oft, meint er, sollen sie lediglich Entscheidungsträger von der Verantwortung befreien. Die Orientierung an der Wahrheit und die Orientierung am Gegebenen fallen nicht restlos zusammen, zumal das Gegebene sich im Lichte objektiver Werte als ausgesprochen unzulänglich erweisen kann. Tatsächlich ist schon eine strikte Orientierung am Gegebenen immer mehr als nur das: Sie leistet zugleich einen Beitrag zum Erhalt des Gegebenen oder – regelmäßig nicht intendiert – zu dessen Transformation. Auch der zynische Realist glaubt „objektiv“ vieles (indem er das soziale Spiel mitspielt und ziemlich angepasst lebt), nur glaubt er nicht, dass er glaubt.40 Natürlich kann sich auch der Objektivist in Bezug auf seine Überzeugungen täuschen, d. h. er kann sich ernsthaft zu Überzeugungen bekennen, die in Wirklichkeit gar nicht seine Überzeugungen sind. Oft erkennt er diesen Irrtum, wenn er in eine Situation gerät, in der er, ohne lange nachzudenken, zwar tut, was er für richtig hält, aber nicht im Einklang mit seinem Bekenntnis (dem, was er bis dahin zu glauben glaubte) handelt. Das Leben kann uns auch darüber aufklären, was wir eigentlich denken. Und manchmal tut es die Theorie der Ideologie. Doch auch die Haltung des Theoretikers, der Realismus und politischen Antiobjektivismus als Stützen der herrschenden Ideologie beschreibt, wird leicht vom Zynismus ununterscheidbar – nämlich dann, wenn der Theoretiker sich abstrakt gegen den noch immer stark realitätsbezogenen Reformismus wendet, ohne sich um normative Argumente und ein politisches Programm zu bemühen. Der Analytiker und Kritiker 39
Siehe etwa Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000. 40 Das ist eine der wesentlichen Pointen von Žižeks Ideologietheorie (siehe Adrian Johnston, „The Cynic’s Fetish: Slavoj Žižek and the Dynamics of Belief“, in: Inter national Journal of Zizek Studies 1 2007, 71–76).
Lust/Unlust – Ernst/Unerst
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des Zynismus, der vor lauter Wald keine Bäume mehr sieht, den „das Politische“ viel mehr interessiert als einzelne Politiken (z. B. Gesetzesvorschläge), gleicht praktisch seinen Gegnern. Der Objektivismus ist in verschiedenen Stärkegraden denkbar, wobei Vertreter der stärksten Version von allen drei Thesen überzeugt sind. Für diese stärkste Version möchte ich argumentieren. In der Wirklichkeit hat der Objektivist nicht mit gänzlich überzeugten Antiobjektivisten zu kämpfen, sondern mit Unentschiedenen. Viele sprechen von ihren moralischen „Überzeugungen“ und assimilieren diese bei der nächsten Gelegenheit an geschmackliche Vorlieben. Oft geht die pauschale Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen einher mit einer gewissen Freiheits- und Toleranzemphase. Vor allem bezeichnet der Antiobjektivismus weniger eine ausgetüftelte philosophische Position als eine stärker oder schwächer ausgeprägte Gestimmtheit, die mitunter aber rationalisiert und dadurch gefestigt wird. Nicht zuletzt deshalb erscheint eine Analyse der verschiedenen anti-objektivistischen Argumente lohnenswert. Im ersten Teil dieser Abhandlung werde ich den Objektivismus gegen sozialphilosophisch-kulturalistische, ontologische, epistemologische und ethische Anfechtungen verteidigen. Einige Motive meiner Argumentation werden dabei öfter anklingen. Das hat auch mit gewissen Verflechtungen zwischen den antiobjektivistischen Argumenten zu tun. Zuvor möchte ich aber die Frage nach der Existenzform von Überzeugungen und nach dem Zusammenhang zwischen diesen Existenzformen etwas ausführlicher erörtern. Scheint es doch tatsächlich wirkungsmächtige Überzeugungen zu geben, die eigentlich niemandes Überzeugungen sind. Allerdings – und das ist meine ergänzende These – sind sie immer eingebettet in Bekenntnisse. Zudem wird sich ergeben, dass die Gruppe der Bekenntnisse nicht nur Überzeugungen umfasst, die man für wahr hält, sondern auch Akte, denen überhaupt kein Wahrheitswert unterstellt werden kann – und die gerade deshalb Selbstachtung versprechen. In einem gewissen Sinne kann aber auch der Objektivist formal abergläubisch agieren. Er kann politische Akteure beim Wort nehmen, auch wenn er weiß, dass sie es mit ihren Proklamationen und Argumenten nicht ganz ernst meinen. Dies wäre ein Fall von strategischer Naivität. Vor allem aber ist er nicht unbedingt ein intoleranter Dogmatiker, genauso wenig wie Kulturalisten, Relativisten, Subjektivisten und Skeptiker über die solideste emotionale und intellektuelle Grundlage für jene Art von Toleranz verfügen, die wir aus guten Gründen (insbesondere aus Gründen der Gleichheit) für wertvoll halten. Während der erste Teil von den objektivistischen Thesen (1) und (2) handelt, ist der zweite Teil der These (3) gewidmet, also einer Analyse des Interessenbegriffs und der Frage, welche Rolle der ethischen Objektivität bei der Bestimmung von Interessen zukommt. Auch das ist keine rein akademische Frage. Schließlich hängt davon ab, was man als Machtbeziehung ansehen
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Einleitung
und damit einem Rechtfertigungsdruck aussetzen soll. Entgegen hedonistischen und subjektivistischen Reduktionismen möchte ich zeigen, dass ohne ethische Vorannahmen (und damit auch Wahrheit) keine halbwegs subtile Interessenbestimmung möglich ist. Tatsächlich beruht schon der subjektivistisch-hedonistische Interessenbegriff auf ethischen Vorannahmen, allerdings nicht gerade auf solchen, die zu tiefschürfenden Analysen gesellschaftlicher Machtverhältnisse anregen. Gleichwohl denke ich, dass partikulare Interessen noch in der schönsten „deliberativen“ Demokratie der Motor des politischen Geschehens bleiben. Der zweite Teil nimmt einige Argumente des Interessen-Kapitels meines Buches Die Politik des Rechts41 auf, ergänzt und vertieft sie. Am Ende werde ich noch auf die symbolische Dimension der Politik und das zu sprechen kommen, was gemeinhin „Symbolpolitik“ genannt wird. War bis dahin vom Ernst und den Objektivitätsansprüchen die Rede, so soll abschließend noch auf die Möglichkeit hingewiesen werden, dass der moralische Ernst in den politischen Unernst kippt. Während Interessenpolitik ohne den Überernst der Bekenntnispolitik auskommen soll und gerade deshalb gerne als vorzugswürdig ausgegeben wird, mutet die Symbolpolitik allzu unernst an. Ironischerweise sind es gerade die besonders lauten Bekenntnisse, die das ernsthafte Gemüt abstoßen. Kritisiert wird dabei der mit ihnen verbundene Aufschub „realer“ Konsequenzen. Oft wird der Symbolpolitik sogar eine Verschleierung oder Befestigung der Realität nachgesagt. Nicht immer sind diese Vorwürfe gerechtfertigt. Manchmal aber doch, und bisweilen bemerken wir, ergriffen von großen Gefühlen und Ernst, den politischen Unernst gar nicht – so wie nach Pfaller die Menschen oft nicht bemerken, dass sie glücklich sind.
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Christian Hiebaum, Die Politik des Rechts. Eine Analyse juristischer Rationalität, Berlin/New York 2004.
I. Bekenntnis
1. Formaler Aberglaube
Am Anfang der Kultur steht das Spiel, jener Teil des Lebens, der für gewöhnlich dem „Ernst des wirklichen Lebens“ gegenübergestellt wird. Dabei wird freilich der Ernst unterschätzt, der dem Spiel innewohnen kann. Und die Funktion, die das Spielerische für die soziale Integration erfüllt. Das ist zumindest die These von Johan Huizinga42, die von Pfaller philosophisch-psychoanalytisch ausgedeutet und erweitert wird. Anhand zahlreicher Beispiele und mit Rekurs auf die Theorien Octave Mannonis und Sigmund Freuds entwickelt Pfaller den Begriff der „Überzeugungen ohne Eigentümer“. Darunter sind Überzeugungen zu verstehen, die das individuelle Verhalten und das soziale Leben organisieren, ohne dass sie von jemandem ernsthaft vertreten werden. Es handelt es sich dabei nicht einfach um Überzeugungen, die irrtümlich anderen zugeschrieben werden. Dass von niemandem vertretene Überzeugungen gesellschaftlich wirksam sein können, steht ohnehin außer Frage. Denn was wir tun, hängt zu einem guten Teil davon ab, welche Überzeugungen und Absichten wir anderen zuschreiben, und es ist durchaus denkbar, dass wir alle mit solchen wechselseitigen Zuschreibungen falsch liegen. Wenn niemand Rassist ist und dennoch alle denken, dass die meisten anderen Rassisten sind, wird in einer Demokratie möglicherweise eine Politik betrieben, die nicht existierenden rassistischen Einstellungen Rechnung trägt. Es gibt dann, was wir „Rassismus ohne Rassisten“ nennen könnten. Dieser Fall mag nicht sehr wahrscheinlich sein, jedenfalls ist er theoretisch völlig uninteressant. Interessanter wäre der noch extremere Fall, dass es weder jemanden gibt, der selbst rassistische Überzeugungen vertritt, noch jemanden, der sie realen Anderen unterstellt, und dass solche Überzeugungen trotzdem die Politik bestimmen. Doch ist das überhaupt möglich? Können wir Überzeugungen haben, die von einem besseren Wissen begleitet und deshalb nicht mit einem ernsthaften Wahrheitsanspruch ausgestattet werden, uns aber dennoch zu Handlungen motivieren? Könnten wir in diesem Fall überhaupt noch von „Überzeugungen“ sprechen, oder wären hier bereits ganz andere Kräfte am Werk, Kräfte, die sich dem rationalen Nachvollzug entziehen? Zweifellos wären es nicht Überzeugungen im herkömmlichen Sinne. Nennen wir solche Überzeugungen uneigentlich. 42
Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1987.
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I. Bekenntnis
Der Unterscheidung zwischen eigentlichen und solchen uneigentlichen Überzeugungen entspricht bei Pfaller die Unterscheidung zwischen Aberglauben und Bekenntnis. Damit weicht er natürlich vom Alltagssprachgebrauch ab: Während die Alltagssprache im „Aberglauben“ die gegenüber dem „Glauben“ dümmeren, verächtlicheren Auffassungen mancher Leute bezeichnet, verstehen wir unter „Aberglauben“ … ausschließlich eine Einbildung, die niemand für sich reklamiert – im Unterschied zum Bekenntnis, bei dem sich immer Leute finden lassen, die erklären, daß sie an die jeweilige Sache glauben oder zu ihr stehen.43
Hier einige Beispiele für Aberglauben in der modernen Gesellschaft: Wir beschimpfen lautstark unseren Computer, wenn er abstürzt – als ob wir ihn für ein zurechnungsfähiges Subjekt halten, das sich durch Tadel irgendwie beeindrucken lässt; wir lesen Horoskope, obwohl wir nicht an solchen Unsinn glauben; wir lachen im Theater, wenn ein Schauspieler, der einen Toten spielt, plötzlich niest – als ob damit eine Illusion der anderen zerstört worden wäre, und das, obwohl wir ohnehin nicht glauben, dass sich irgendjemand ernsthaft dieser Illusion hingegeben hat. Eines der schönsten Beispiele, mit denen Pfaller aufwartet, sind die „objektiv interessanten“ Bücher, die eigentlich niemand interessant findet und von denen auch kaum jemand annimmt, dass andere sie interessant finden, die im Regal stehen zu haben daher nicht einmal einen nennenswerten Distinktionsprofit verschafft und die dennoch – vor allem zu Anlässen wie Weihnachten – guten Absatz finden (Bücher, schreibt Pfaller, mit Titeln wie „Die Etrusker“). Die Wirtschaft befördert ebenfalls abergläubische Einstellungen: Im Wesentlichen standardisierte Produkte werden aus der Masse durch Unterschiede hervorgehoben, von denen alle wissen, dass sie eigentlich keinen Unterschied machen, und die dennoch Konsumentscheidungen signifikant beeinflussen. Oftmals bestehen die Unterschiede in nichts anderem als durch Werbung erzeugtem Flair (etwa von Luxus und Weltläufigkeit). Elektronische Geräte wiederum (wie z. B. iPods, Videorecorder und Handys) beeindrucken mit Funktionen, die für die meisten Menschen völlig nutzlos sind, aber eine Illusion von Potenz erzeugen, die jeder vernünftige Mensch ohne weiteres durchschaut.44 Marxisten werden vielleicht darauf hinweisen, dass Marx der modernen Geldwirtschaft als solcher (mitsamt ihrem „Warenfetischismus“) einen abergläubisch-magischen Zug attestiert habe: „Wir wissen, dass Geld nur Wert hat, weil wir ihm Wert zuschreiben, aber dennoch ist es für uns wertvoll.“45 43
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 61. Siehe Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2005, 115–125. 45 Siehe Adrian Johnston, „The Cynic’s Fetish“, 93f: „[T]he social efficacy of money as the universal medium of exchange (and the entire political economy grounded upon it) ultimately relies upon nothing more than a kind of ‚magic‘, that is, the 44
1. Formaler Aberglaube
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Doch wenn wir hier einen Fall von Aberglauben annehmen, dann muss für uns jede als solche erkannte soziale Institution auf Aberglauben beruhen. Sinnvoller erscheint es, den Begriff des Aberglaubens für Einstellungen einzelner Personen zu reservieren (und sei es die Einstellung jedes Einzelnen) und nicht aller Gesellschaftsmitglieder zusammen. Ich bin geneigt zu sagen: „Ich weiß, dass Geld nur Wert hat, weil wir ihm Wert zuschreiben“. Ich würde allerdings nicht hinzufügen: „Aber dennoch ist es für mich wertvoll“. Eher würde ich sagen: „Weil zu diesem Wir hinreichend viele andere gehören, ist es auch für mich wertvoll. Und wir haben gute Gründe, bestimmte Objekte als universelle Zahlungsmittel anzuerkennen.“ Abergläubisch-fetischistisch wird demnach, wer den Wert von Geld allzu weit von dem entkoppelt, wozu finanzielle Ressourcen gut sind. Lange Zeit wurde Aberglaube aber vor allem mit den so genannten „Primitiven“ verbunden. Schließlich wird das Gemeinschaftsleben vieler „primitiver“ Völker durch allerlei Mythen strukturiert, die uns geradezu abstrus erscheinen. Und lange Zeit wurden diese Völker deswegen für rückständig und naiv gehalten. Nach neueren kulturwissenschaftlichen Untersuchungen aber glauben oft nicht einmal die betreffenden Völker selbst, dass diese Erzählungen wahr sind. Danach gefragt, geben sie üblicherweise Antworten wie: „Unsere Ahnen dachten, dass …“ oder: „Mein Volk denkt, dass …“ Auf eine gewisse Weise orientieren sie sich zwar an dem, was „ihre Ahnen“ dachten, selbst glauben sie jedoch nicht, dass Leoparden zur Fastenzeit die Hausviehherden verschonen. Jedenfalls bewachen sie ihre Viehherden, obwohl das ihrem Mythos zufolge eigentlich unnötig wäre.46 Für Chesterton war die Idee, Mythen und Rituale seien unmittelbarer Ausdruck ernsthaft vertretener Überzeugungen, immer schon offenkundiger Unsinn: Der Mann der Wissenschaft, der nicht begreift, daß rituelles Verhalten im Kern etwas ist, das keinen rationalen Grund hat, muß für jedes Ritual einen solchen Grund finden; wie zu erwarten, ist dieser Grund zumäußerst absurd – absurd deshalb, weil er nicht dem schlichten Geiste des Barbaren entspringt, sondern dem hoch komplizierten Geiste des Professors. Zum Beispiel wird der gelehrte Mann erklären: „Die Eingeborenen von Mumbojumbo hegen die Vorstellung, daß ein Toter essen kann und für seine Reise ins Jenseits Proviant braucht. Das wird durch die Tatsache belegt, daß sie auf dem Grabe Nahrung deponieren und daß sich jede Familie, die dieses Ritual nicht befolgt, den Zorn der Priester und des Stammes zuzieht.“ Jeder, der mit den Menschen vertraut ist, weiß, wie völlig verkehrt diese Darstellung ist. Genauso gut könnte man sagen: „Die Engländer des 20. Jahrhunderts hegten die Vorstellung, daß ein Toter riechen kann. Das wird durch die Tatsache belegt, daß sie das Grab stets mit Lilien, Veilchen oder anderen Blumen bedeckten. Die Vernachlässigung dieses Brauchs zieht offenbar einigen Unwillen von Seiten der Priester und des Stammes nach sich, denn uns belief in money’s social efficacy by using it in the process of exchange.“ Ob Johnston selbst das auch glaubt, wird nicht ganz klar. 46 Siehe Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, Frankfurt/M. 1987, 9.
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I. Bekenntnis
liegen Berichte über mehrere alte Damen vor, die außer sich waren, weil ihre Kränze nicht rechtzeitig zum Begräbnis eintrafen.“47
Auch Wittgenstein hat in seiner Kritik an James George Frazers Auffassung der Magie auf den „ethnozentrischen“ Fehlschluss hingewiesen, dass die Mythen der „Primitiven“ nichts anderes seien als unzutreffende Theorien, deren Anspruch mit dem Anspruch moderner wissenschaftlicher Theorien konkurriere. Zugleich verweist er auf zahlreiche Praktiken aufgeklärter Menschen, die ebenfalls nur als „magisch“ bezeichnet werden können: In effigie verbrennen. Das Bild des Geliebten küssen. Das basiert natürlich nicht auf einem Glauben an eine bestimmte Wirkung auf den Gegenstand, den das Bild darstellt. Es bezweckt eine Befriedigung und erreicht sie auch. Oder vielmehr, es bezweckt gar nichts; wir handeln eben so und fühlen uns dann befriedigt. … Der selbe Wilde, der, anscheinend um seinen Feind zu töten, dessen Bild durchsticht, baut seine Hütte aus Holz wirklich und schnitzt seinen Pfeil kunstgerecht und nicht in effigie.48
Für Wittgenstein beruhen magische Praktiken freilich überhaupt nicht auf etwas, das man „Überzeugung“ nennen sollte. Sie sind vielmehr Teil eines ein völlig anderes „Sprachspiels“. Auch dem religiösen Symbol liege „keine Meinung zu Grunde“.49 Magie wird häufig in Form von Riten praktiziert. Und für Wittgenstein ist das „Charakteristische der rituellen Handlung keine Ansicht, Meinung, ob sie nun richtig oder falsch ist“. Doch der Satz geht weiter: „obgleich eine Meinung – ein Glaube – selbst auch rituell sein kann, zum Ritus gehören kann“.50 Wittgenstein hält es also durchaus für möglich, dass bei der Magie bzw. dem Ritus Überzeugungen im Spiel sind. Was immer Wittgenstein genau meint, es liegt die These nahe: dass Aberglaube, Rituale, magische Praktiken und dergleichen immer in ein System von Überzeugungen eingebettet sind (bzw. mit solchen verwoben sind), für die sehr wohl Wahrheitsansprüche erhoben werden. Ob sich alle diese Überzeugungen in eine klare sprachliche Form bringen lassen, ist eine andere Frage. Ansätze zum Aberglauben und zur Magie können wir auch in der Politik beobachten. Es wird, so hat es vielfach den Anschein, auf Unterschieden beharrt, von denen die meisten wissen, dass sie kaum einen Unterschied machen. Linke und rechte Mainstream-Parteien unterscheiden sich heute hauptsächlich in ihrer Rhetorik und in ihren Positionen zu „Randthemen“. Sozialdemokraten (vorzugsweise des „Dritten Weges“) wettern gegen die 47
Gilbert Keith Chesterton, Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit, Frankfurt/M. /Leipzig 2004, 128. 48 Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt/M. 1989, 32 (Hervorhebungen im Original). 49 Ebd. (Hervorhebung im Original) 50 Ebd., 35.
1. Formaler Aberglaube
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Übel des Neoliberalismus und betreiben in der Regierung eine Politik, die derjenigen konservativer Parteien zum Verwechseln ähnlich sieht. Zudem nimmt die politische Debatte in der Öffentlichkeit immer deutlichere Züge eines Rituals oder Spiels an. Nicht nur ist sie auf vielfältige Weise rechtlich reguliert (etwa durch die Geschäftsordnungen der gesetzgebenden Körperschaften), auch die Debattenbeiträge selbst muten zunehmend wie – leider ziemlich vorhersehbare – Spielzüge an. Man denke nur an die üblichen (Miss-)Interpretationen von Wahlergebnissen durch die Parteizentralen oder an „Fernsehduelle“, in denen bekanntlich nur selten die inhaltliche Substanz entscheidet. Im Anschluss an diese Duelle wird dann von professionellen Beobachtern die „Performance“ der Akteure beurteilt, ja nachgerade rezensiert. Ob hier aber allseits durchschaute Illusionen im Spiel sind, ist fraglich. Und wenn doch, so dürften diese Beispiele bereits erste Zweifel am Wert des Aberglaubens aufkommen lassen. Das Überhandnehmen des (fraglos unhintergehbaren) spielerischen Moments der Politik sieht eher aus wie ein Krisensymptom als wie ein Zeichen höheren Reifegrades. Und offenbar bewirkt die Teilnahme am politischen Spiel weniger, dass aus (scheinbar) durchschauten Illusionen aufrichtig vertretene Überzeugungen werden, als vielmehr umgekehrt, dass einstige „Idealisten“ sich in zynische Heuchler verwandeln. Wer vom Wert der liberalen Demokratie überzeugt werden will, dem ist jedenfalls mit der pascalianischen Empfehlung, an den politischen Routinen liberaler Demokratien teilzunehmen, auf dass sich der Glaube an die liberale Demokratie von selbst einstelle, wenig gedient. Womöglich basieren (mittlerweile) sogar die liberal-demokratischen Institutionen als solche weitgehend auf Aberglauben. In diesem Fall würden sie „funktionieren“, obwohl niemand wirklich an Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und die Gerechtigkeit demokratischer Verfahren der Entscheidungsfindung glaubt. Dies kann zweierlei bedeuten: zum einen, dass die genannten Institutionen nur als Fassade des in Wahrheit schmutzigen politischen Geschäfts angesehen werden (aber besser schöne Fassaden als gar nichts); und zum anderen, dass diese Institutionen nur als Elemente der je eigenen kontingenten Tradition verstanden werden. Offenbar gibt es aber einen Zusammenhang zwischen den beiden Interpretationen: Wem der Fassadencharakter liberal-demokratischer Institutionen zu überwiegen scheint, der wird, soweit er diese Institutionen überhaupt noch zu verteidigen bereit ist, geneigt sein, sie als bloßen Bestandteil der eigenen Kultur anzusehen und nicht mehr als (wenn auch unzulängliche) Realisierung objektiver Werte. Inwieweit nun liberal-demokratische Einrichtungen auf die eine oder andere Weise „durchschaut“ werden, vermag ich hier mangels empirischer Befunde nicht mit Bestimmtheit zu beurteilen. Wir liberale Demokraten (im weitesten Sinne) entrüsten uns nur ziemlich unregelmäßig und in unterschiedlicher Intensität über bekannt gewordene Verstöße gegen die politische Moral der liberalen Demokratie (Korruption, „dirty campaigning“
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I. Bekenntnis
etc.). Aber immerhin: Gelegentlich kommt bei den meisten doch eine Empörung auf, die auf Bekenntnisse schließen lässt, also darauf, dass dem politischen Spiel ein Ernst zugrunde liegt, der sich vom Ernst, den Spiele sonst hervorbringen können, unterscheidet. Zumindest verbindet sich mit der Empörung ein Unbehagen, welches ein Betrug beim Kartenspiel oder die Fehlentscheidung eines Fußballschiedsrichters nicht auszulösen vermag. Die Politik wird sicher nicht durchwegs als ein Spiel betrachtet, das dem „realen Leben“ gegenüber gestellt werden könnte. Fallweise gerieren wir uns als Objektivisten. Wie es aber scheint, ist die ernsthafte politische Überzeugung eher eine Option für diejenigen, für die der Kampf um Stimmen und Ämter weniger beruflich-existenziellen Charakter hat. Von diesen kann dann zumindest Druck auf die offiziellen Funktionäre des politischen Systems ausgehen. Es macht einen großen Unterschied, ob weite Teile der Öffentlichkeit Verständnis für taktisch motivierte Verstöße gegen die politische Moral aufbringen oder nicht. Oft ist aber nicht klar, um was für eine Art von Empörung es sich handelt. Und nicht selten haben wir es mit Empörungen beiderlei Art zu tun. Als etwa der Bundessprecher der österreichischen Grünen Alexander van der Bellen in einem Interview meinte, dass ein Ausstieg aus dem Abfangjägerkaufvertrag für seine Partei nach den nächsten Wahlen keine Koalitionsbedingung sei, ging ein Aufschrei durch die Reihen der GrünSympathisanten, die diesem Geschäft von Anfang an ablehnend gegenüber standen. Von opportunistischer Anbiederei an die regierende ÖVP war die Rede. Auch die Nüchterneren unter den Kritikern waren verärgert. Doch worüber? Weil er eine banale Wahrheit ausgesprochen hatte, nämlich dass man aus Verträgen nicht ohne weiteres aussteigen kann und letztlich alles von den Kosten eines solchen Ausstiegs abhängt? Hat er damit eine Spielregel der Politik verletzt, die da lautet, man habe so zu tun, als hätte man „klare“ Positionen, auch wenn diese Positionen sich nur um den Preis der Irrationalität durchhalten lassen? Manche waren also zweifellos aufrichtig entrüstet und sahen in van der Bellens Aussage eine Aufgabe politischer Prinzipien. Andere aber mokierten sich lediglich über das strategische Ungeschick, die „Instinktlosigkeit“ des grünen Bundessprechers (im Zivilberuf Ökonomieprofessor), der doch mit diesen Reaktionen hätte rechnen müssen. Für diese hat van der Bellen offenbar wie das Kind in Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider agiert, welches offen ausspricht, was ohnehin jeder vernünftige Mensch weiß (oder wissen sollte), und damit die soziale Kohäsion gefährdet.51 Ist die Orientierung an den Illusionen der anderen das Realitätsprinzip in der Politik? Augenscheinlich sind hier zwei Begriffe von „Realität“ im Spiel. Für den politischen Realisten bilden weit verbreitete Illusionen einen Teil der maßgeblichen Realität. Das wiederum 51
Freilich, im Märchen geht der Kaiser nach außen hin ungerührt weiter. Was weiter passiert, bleibt offen.
1. Formaler Aberglaube
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bestärkt ihn nur in seiner Auffassung, dass, was die Politik angeht, gar nichts objektiv bzw. der politische Objektivismus inkompatibel mit dem politischen Realismus sei. Er hält den Objektivismus oft nicht nur für praktisch, sondern auch für theoretisch unangemessen. Ein Objektivist, der prinzipiell (wenn auch nicht ausnahmslos) Ernst und Wahrheit gegenüber dem SpielerischKonventionellen favorisiert, hätte anders reagiert als van der Bellen. Er hätte nicht zerknirscht einen „taktischen Fehler“ eingeräumt, sondern darauf bestanden, ohnehin nur eine triviale Wahrheit ausgesprochen zu haben. Vielleicht wäre er auch in die Offensive gegangen und hätte seinen Kritikern Verlogenheit oder Dummheit vorgeworfen. Ob er selbst richtig gelegen hätte und in der Abfangjäger-Frage tatsächlich keine Irrationalität in Kauf zu nehmen ist oder Prinzipien hier einfach Kostenerwägungen ausstechen, das wäre noch einmal eine andere Frage (wenn auch eine, die sich, ohne die Kosten zu kennen, schwerlich vernünftig entscheiden lässt). Zivilisatorisch nützlich dagegen erscheint ein politischer Aberglaube, der sich nicht auf die Gültigkeit normativer Vorgaben bezieht, sondern auf die Aufrichtigkeit und die Qualität der Motive politischer Akteure. Ich habe diese Haltung eingangs „strategische Naivität“ genannt, und wie mir scheint, ist gerade sie es, die durch die zynische oder resignative Affirmation des Spielcharakters der Politik nach und nach an Effizienz verliert. In diesem Sinne etwa ließen sich nominell „christlich-soziale“ oder „sozialdemokratische“ Parteien kritisieren, die tatsächlich eine Politik der Entsolidarisierung betreiben, auch wenn ohnehin für alle klar ist, dass es Parteien realiter mit ihren programmatischen Festlegungen nicht allzu genau nehmen. „Strategisch“ ist eine solche Naivität, weil sie nicht auf schlicht gutgläubiges Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der politischen Akteure hinausläuft. Sie dient einem Zweck. Doch ist sie nicht in dem Sinne strategisch, dass sie auf einem bloßen Nutzenkalkül beruhen würde. Sie ist vielmehr Teil eines politischen Habitus, eben einer Ernsthaftigkeit, die man nur zusammen mit einer politischen Moral erwirbt. Zu dieser Moral gehört unter anderem die Zumutung der Konsistenz. Im Grunde handelt es sich dabei nur um eine normative Erwartung. An normativen Erwartungen hält man fest, auch wenn sie enttäuscht werden. Doch während andere normative Erwartungen gewöhnlich revidiert oder zumindest infrage gestellt werden, wenn sie permanent enttäuscht werden, bleibt die Konsistenzzumutung aufrecht. Sie ist für den ernsthaften Charakter ein Essential der politischen Kommunikation. Und gerade das lässt ihn gelegentlich naiv erscheinen. Ein interessanter Fall in diesem Zusammenhang ist das Geständnis des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, der auf einer Sitzung der Sozialistischen Partei am 26. Mai 2006 verkündete, dass er und seine Genossen die letzten Jahre hindurch gelogen und die Bevölkerung über die geplante Belastungspolitik getäuscht hätten. Als dieses, mit allerlei Obszönitäten gespickte, Eingeständnis öffentlich bekannt wurde, kam es zu massiven Unruhen in der Hauptstadt. Mögen die Ausschreitungen auch zu
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I. Bekenntnis
einem guten Teil von der Opposition organisiert oder gar inszeniert gewesen sein, was ist das Problem? Dass ein Regierungschef gelogen hat, kann man auch aus der Differenz zwischen seinen Versprechen und seiner tatsächlichen Politik erschließen. Dass Wahlwerber regelmäßig Versprechen machen, die sie nicht einhalten können oder einzuhalten gedenken, ist ebenfalls keine Neuheit. Hat Gyurcsány wie ein Kaiser agiert, der selbst seine Nacktheit konstatiert? Nicht wirklich, immerhin waren seine Aussagen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Was aber wäre gewesen, hätte sich der ungarische Ministerpräsident direkt und vollkommen unzerknirscht an die Öffentlichkeit gewendet? Hätte man ihn dann für seine letztendliche Ehrlichkeit loben sollen? Oder wäre es gerade seine Pflicht gewesen, den Schein zu waren, das Spiel weiter zu spielen? Was immer die korrekte Antwort auf diese Frage sein mag, ein Ja wäre zumindest nicht absurd. Die Wahrung des Scheins hätte nämlich durchaus auch als Ausdruck eines letzten Restes an politischer Moralität gelesen werden können: Noch schlimmer als zu lügen sind die Gleichgültigkeit gegenüber der Lüge und die Empfehlung an das Wahlvolk, sich ebenfalls politischen Lügen gegenüber gleichgültig zu verhalten. In jedem Fall gibt es Momente des Spiels in der Politik, denen ein hoher moralischer Wert zukommt. Doch um diesen Wert bestimmen zu können, braucht es Überzeugungen, die ihrerseits nicht einfach als durchschaute Illusionen verstanden werden können. Für den Zyniker dagegen sind auch Verletzungen der politischen Moral immer Teile des Spiels. Nach dieser Auffassung gehorcht schon die Festlegung politischer Spielregeln der Logik des Spiels. Doch was für ein Spiel könnte das sein: eines ohne Regeln? Ein solches Spiel kann nicht wirklich ein Spiel sein. Die Bezeichnung „Spiel“ für das politische Geschehen kann dann wenig mehr als eine Metapher sein. Denn wie Huizinga schreibt: Jedes Spiel hat seine eigenen Regeln. Sie bestimmen, was innerhalb der zeitweiligen Welt, die es herausgetrennt hat, gelten soll. Die Regeln eines Spiels sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel. Paul Valéry hat es einmal beiläufig gesagt, und es ist ein Gedanke von ungemeiner Tragweite: Gegenüber den Regeln eines Spiels ist kein Skeptizismus möglich. Ist doch die Grundlage, die es bestimmt, unerschütterlich gegeben. Sobald die Regeln übertreten werden, stürzt die Spielwelt zusammen. Dann ist es aus mit dem Spiel. Die Pfeife des Schiedsrichters hebt den Bann auf und setzt die „gewöhnliche Welt“ für einen Augenblick wieder in Gang.52
Gerade dadurch, dass die Spielregeln der Politik selbst Gegenstand der Politik sind, unterscheidet sich die Politik von jenen Spielen, mit denen sie zweifellos am meisten gemeinsam hat, den kompetitiven. So bemerkt Stanley Cavell: 52
Johan Huizinga, Homo ludens, 20.
1. Formaler Aberglaube
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It is as though within the prosecution of a game, we are set free to concentrate all of our consciousness and energy on the very human quests for utility and style: if the rules can be taken for granted, then we can give ourselves over totally to doing what will win, and win applause. (The idea that freedom is achieved through subjection to the law is fully true to the conduct in games.)53
Solange in solchen Spielen die Regeln und damit eine kollektive Intention diskutiert werden müssen, ist das Spiel unterbrochen. Diese Diskussion ist nicht Teil des Spiels. Im Gegensatz dazu ist die Diskussion über den Gegenstand und die Regeln der Politik Teil des politischen Geschehens selbst. Unter anderem deshalb spielt Moral in ihr ganz unvermittelt eine Rolle, sodass wir ohne die Zuschreibung individueller moralischer Verantwortung nicht auskommen. Insoweit aber die Politik ein moralisches Geschehen ist, gilt auch für sie, was Cavell für die Moral feststellt: [T]here is precisely no equivalent in the moral life of the defining rules of games. … To imagine another who is, say, about to break a promise because of a change of mind about the importance of his own wishes, or who refuses to help a friend when the cost of doing so is some slight inconvenience, or who dismisses a person’s assertion that he cannot on live the current minimum wage, as if there is some rule the person did not know, is to imagine him as morally incompetent. Instruction in morality is instruction about the moral life itself, about, say, the seriousness of promising, the worth of friendship, the importance of fairness, the separate and equal existence of others and of oneself (one’s desires as well as duties).54
Allerdings gilt dies für die institutionalisierte Politik nur mit signifikanten Einschränkungen. Immerhin muss über ziemlich viele Regeln ziemlich breiter Konsens bestehen, damit die Politik auch als soziale Institutionen existieren kann. Aber die Idee, politische Kompetenz bestünde in der Kenntnis sämtlicher Regeln des jeweiligen Systems, mutet einigermaßen absurd an. Dadurch unterscheiden sich Recht und Politik von Spielen wie Baseball oder Schach, für die es klare, wenn auch mitunter komplexe Regeln gibt, die einem prinzipiell vollständig mitgeteilt werden können – Regeln, deren Einhaltung das Spiel erst zu dem Spiel machen, das es ist, und Regeln, die das Verhalten im Spiel normieren. Wer sagt, in der Politik gehe es lediglich darum, möglichst viel Zustimmung oder einfach nur Macht zu erlangen, sagt nur, dass Politik eine kompetitive, agonale oder antagonistische Angelegenheit ist. Er gibt aber keine Spielregel oder gar eine „Logik“ an. Und wenn wir jemanden als „politisches Talent“ bezeichnen, dann meinen wir nicht unbedingt, dass er besser als andere die Spielregeln beherrscht. Wir meinen vielmehr, dass 53
Stanley Cavell, The Claim of Reason: Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tradegy, New York/Oxford 1979, 308. 54 Stanley Cavell, „The Incessance and the Absence of the Political“, in: Andrew Norris (ed.), The Claim to Community: Essays on Stanley Cavell and Political Philosophy, Stanford 2006, 293f. Ausführlicher dazu ders., The Claim of Reason, 303–312.
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I. Bekenntnis
er ein Gefühl dafür hat, welche Konvention er wann und auf welche Weise verletzen muss, um den gewünschten Erfolg zu haben. So wie eine sozial besonders kompetente Person sich in vielen unterschiedlichen Milieus leichtfüßig bewegt, gerade weil sie weiß, welche Regeln sie missachten darf. Dieses Wissen aber lässt sich seinerseits nicht vollständig als Wissen um Regeln beschreiben. Zumindest gehört es zum Wesen solcher Regeln, nicht genau angegeben werden zu können. Man könnte also sagen: Die Politik ist irgendwo zwischen dem Spiel und der Moral angesiedelt. Ein (kompetitives) Spiel ist eine soziale Institution, wie sie kompletter nicht sein könnte; die Moral dagegen ist überhaupt keine soziale Institution, auch wenn sie in allen Institutionen auf die eine oder andere Weise zur Geltung kommt, regulativ oder sogar (teil)konstitutiv. Sie verläuft quer zu den Institutionen und enthält Maßstäbe zur deren Bewertung sowie zur Bewertung von Handlungen innerhalb der Institutionen, ohne dass sich diese Maßstäbe in einem Regelbuch vollständig zusammenfassen ließen. Es ist zunächst also kein guter Grund ersichtlich, weshalb wir politische Überzeugungen prinzipiell nicht ernsthaft als unsere Überzeugungen ansehen sollten. Was wäre gewonnen, wenn jemand nicht wirklich, aber irgendwie doch, eben nur uneigentlich, von der „Selbstregulierung der Finanzmärkte“ überzeugt wäre?55 Lediglich könnten diejenigen, die nicht einmal uneigentlich davon überzeugt sind, mit Argumenten noch weniger ausrichten. Wer ständig seine Distanz zu dem, was er sagt, mitkommuniziert, macht sich noch weniger angreifbar. Was den Neoliberalismus so stark macht, ist gerade die Tatsache, dass sich niemand zu ihm bekennen muss. Tatsächlich betreiben heute auch diejenigen (gemessen an den Vorstellungen Friedmans, Hayeks und erst recht Nozicks inkonsequente) neoliberale Politik, die das Wort „neoliberal“ hauptsächlich zu Diskreditierungszwecken verwenden. Sie sagen oder denken Dinge wie: „Ich weiß, wenn wir neoliberale Theorien ernst nehmen würden, hätte das katastrophale soziale Auswirkungen, aber dennoch müssen wir, um wettbewerbsfähig zu bleiben, unseren Sozialstaat schlanker machen.“ Oder: „Über Theorien sollen sich die Theoretiker streiten. Vermutlich gibt es keine wirklich befriedigende Theorie. Mein Problem ist aber nicht die Theorie, sondern die Wirklichkeit. Und hier zeigt sich, dass dem Staat prinzipiell zu misstrauen ist.“ Oft braucht gar nicht so seltsam argumentiert zu werden, weil sich einfache Rationalisierungen geradezu aufdrängen. Nehmen wir das Beispiel der Europäischen Union: Unter Bedingungen eines liberalisierten Wettbewerbs in Verbindung mit strikten Antidiskriminierungsregeln fällt es zunehmend schwerer, eine Politik der Solidarität zu betreiben. Was immer man auf nationalstaatlicher Ebene macht, man gerät schnell in den Verdacht der gemeinschaftsrechtswidrigen Ungleichbehandlung. Der Aufbau sozialstaatlicher Strukturen auf europäischer Ebene wiederum scheitert regelmäßig am 55
Siehe Robert Pfaller, „Politics of Belief and Politics of Faith“, 223.
1. Formaler Aberglaube
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Widerstand einzelner Staaten. Nicht einmal den Unternehmenssteuerwettla uf nach unten kann man abstellen. Doch der Widerstand gegen eine weitere politische Integration Europas braucht nicht mit neoliberalen Argumenten begründet zu werden. Dafür finden sich immer auch irgendwelche „nationalen Interessen“. Das bestätigt nur die bekannte Einsicht, dass Ideologie mehr ist als ein bloßer Bewusstseinszustand. Sie ist in Institutionen materialisiert und wird von diesen Institutionen im Wege zahlreicher (wenn auch nicht unüberwindbarer) Handlungsbeschränkungen aufrechterhalten, etwa dadurch, dass zur Kooperation gezwungene Regierungen unterschiedlichen Wählerschaften verantwortlich sind. Dass ich mich in der Folge ein wenig in die Tiefe begebe und viel über religiöse Überzeugungen spreche, hat weniger mit gegenwärtigen Tendenzen einer Theologisierung der Politik zu tun. Schon gar nicht ist mir an einer Apologie dieser Tendenzen gelegen, die mir deutlich mehr Probleme zu schaffen als zu lösen scheinen. Der Grund liegt vielmehr in der Vermutung, dass fundamentalen politischen und moralischen Überzeugungen, sofern es sich dabei nicht um Aberglauben im Pfaller’schen Sinne handelt, Gewissheiten zugrunde liegen oder korrespondieren, die religiösen Einstellungen zumindest sehr ähnlich sind.56 Der atheistische Menschenrechtsaktivist und egalitaristische Globalisierungskritiker steht dem religiösen Glauben in einem gewissen Sinne sogar näher als derjenige Gläubige, der die Dogmen seiner Kirche beim Wort nimmt und glaubt, für sie naturwissenschaftliche Belege sammeln zu müssen. Doch der Glaube des atheistischen Menschenrechtsaktivisten und Egalitaristen hat nicht unbedingt die Form des Aberglaubens: „Ich weiß, die Menschen sind nicht gleich an Würde, sie sind nichts weiter als Biomaschinen, aber dennoch ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, ihnen gleiche Würde zuzuschreiben und damit gleiche Entfaltungschancen zu sichern.“ Genauso gut könnte sein Unglaube diese Form haben: „Ich weiß, ohne religiös-metaphysische Fundierung oder Einbettung ist meine Überzeugung, dass die Menschen gleich an Würde sind, nichts weiter als bloßes Sentiment, aber dennoch halte ich es für nötig, sich von religiös-metaphysischen Überzeugungen frei zu machen.“ Wenn ich im Zusammenhang mit solchen (quasi-)religiösen Gewissheiten und den mit diesen verwobenen politisch-moralischen Annahmen von „Bekenntnissen“ spreche, dann beziehe ich mich ungefähr auf das, was Stanley Cavell unter „Anerkennen“ versteht: eben ein Anerkennen von (vermeintlichen) Tatsachen, das mehr ist als eine bloße Kenntnisnahme, näm56
So liegt es auch für einen Liberalen wie Jeremy Waldron keineswegs auf der Hand „that we – now – can shape and defend an adequate conception of basic human equality apart from some religious foundation“. (God, Locke, and Equality: Christian Foundation in Locke’s Political Thought, Cambridge 2002, 13, Hervorhebung im Original)
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I. Bekenntnis
lich konstitutiv für unsere Beziehung zur Welt und anderen Menschen.57 Irreversibel sind diese Bekenntnisse deswegen noch nicht. Bisweilen sind Veränderungen sogar rational motiviert, d. h. beruhen auf Gründen. Bekenntnisse und Weltbilder, mit denen allzu viele konkrete Überzeugungen konfligieren, sind wenigstens instabil. Oft leben sie dann als Aberglaube fort. Manchmal verändern sie aber bloß ihren Gehalt.
2. Die Einbettung des Aberglaubens Religiöse Überzeugungen scheinen besonders geeignet, eine abergläubi sche Form anzunehmen. Typischerweise erwirbt man sie nämlich im Wege der Teilnahme an entsprechenden Ritualen. Zumindest gilt dies für kon fessionsspezifische, dogmatisch kodifizierte Überzeugungen. So gut wie nie erwirbt man sie, indem man diskursiv davon überzeugt wird, dass die Nichtanerkennung von Glaubenswahrheiten auf einem Irrtum beruht. Und wenn man sie einmal erworben hat, ohne verdummt zu sein, nimmt man sie oft nicht beim Wort: Man glaubt an den Schöpfungsbericht im Buch Genesis zumindest nicht so wie an eine überzeugende wissenschaftliche Theorie über die Entstehung der Arten. Vorausgesetzt, ein wörtliches Verständnis kollidiert mit allzu viel von dem, wovon man sonst noch überzeugt ist. Uneigentliche Überzeugungen und religiöse Rituale, über deren Ratio nalität man gar nicht nachdenkt, können zweifellos Lust bereiten. Doch als religiös lassen sie sich nur identifizieren, wenn sie mit echten Überzeugungen einhergehen, auch wenn sich für diese keinen zwingenden Argumente finden lassen, welche ihrerseits als Ursache für die Überzeugungen infrage kommen. Dass dies regelmäßig der Fall ist, hat mit einer Eigentümlichkeit der Sprache zu tun, in der religiöse Grundüberzeugungen abgefasst sind: Wir scheinen sie nur zu verstehen, wenn wir bereits glauben – und können als Gläubige einem ungläubigen Menschen mit den Mitteln der Sprache nicht wirklich begreiflich machen, woran wir genau glauben. (Das nimmt dem Begriff des Aberglaubens einiges von seiner Schärfe.) So heißt es bei Wittgenstein, den die Religion zeit seines Lebens beschäftigte: Wenn du mich fragst, ob ich an das Jüngste Gericht glaube oder nicht, und zwar in dem Sinn, in dem religiöse Menschen daran glauben, so würde ich nicht sagen: „Nein, ich glaube nicht, daß es so etwas geben wird.“ Es erschiene mir völlig verrückt, so etwas zu sagen. Und dann gebe ich eine Erklärung: „Ich glau
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Siehe Stanley Cavell, Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, Frankfurt/M. 2002, 39–73.
2. Die Einbettung des Aberglaubens
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be nicht an …“, aber tatsächlich glaubt der religiöse Mensch niemals das, was ich beschreibe.58
Wenn er sagen würde, dass er nicht an das Jüngste Gericht glaube, wäre das lediglich „wahr in dem Sinn, dass ich diese Gedanken oder irgend etwas damit Zusammenhängendes nicht habe. Aber ich könnte der Sache nicht widersprechen.“59 Wittgenstein meint, er wisse in diesem Fall nicht einmal, ob er sagen könne, dass er den religiösen Menschen nicht verstehe. Das wiederum kommt ihm seltsam vor: „Meine gewöhnliche Sprachfähigkeit läßt mich im Stich.“60 Nun wird freilich unklar, was er mit „verstehen“ meint. Bezweifelt werden darf auch, ob er – oder ein beliebiger Ungläubiger – Wörter wie „Gott“ tatsächlich versteht. Er mag einiges über den konven tionellen Gebrauch des Wortes wissen, aber das dürfte nicht genügen, um sagen zu können, er verfüge über den vollen Begriff, er kenne seine volle Bedeutung. Etwas später räumt Wittgenstein ein, dass er, nachdem er mit tels Bildern und Katechismen entsprechend unterwiesen worden wäre, auf die Frage, ob er denn nun verstanden habe, was „Gott“ bedeute, antworten würde: „Ja und nein. … Ich könnte Fragen beantworten, in verschiedener Weise gestellte Fragen verstehen – und in diesem Sinne könnte gesagt wer den, daß ich verstanden habe.“61 In einem anderen Sinne offenbar nicht. Wie wir allerdings noch sehen werden, wird die Kluft, die Gläubige von Ungläubigen zu trennen scheint, dadurch relativiert, dass sie notwendig eine Menge anderer Überzeugungen teilen und dass diese Überzeugungen auch bei den Ungläubigen ein Weltbild konstituieren, das sich als Ganzes weder rechtfertigen noch gezielt infrage stellen lässt. Zudem versteht oft auch der Gläubige selbst nicht, was dem Ungläubigen dunkel bleibt. Wenn wir über profanere Dinge sprechen, sind wir jedenfalls durch aus in der Lage, zu verstehen und das Gesagte zu bestreiten. Wir kön nen davon ausgehen, dass wir eine Metasprache besitzen, in der sich die Wahrheitsbedingungen für einzelne Sätze des Gegenübers angeben lassen. Und normalerweise können wir, wenn wir die Wahrheitsbedingungen frem der Äußerungen ausgemacht haben, auch einzelne Irrtümer des Sprechers erkennen. Wir müssen uns mit ihm nicht in vorab bestimmten Punkten einig sein. Das besagt zumindest die Theorie von Donald Davidson. Demnach hat man die Bedeutung eines Satzes verstanden, wenn man seine Wahrheitsbedingungen kennt. Und so schlägt Davidson folgende Definition einer angemessenen Bedeutungstheorie für die Äußerungen eines Anderen vor: Eine in der Metasprache formulierte B-Theorie für eine Objektsprache 58
Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Frankfurt/M. 2001, 78. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., 83.
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I. Bekenntnis
(das ist die Sprache des Sprechers) ist dann angemessen, wenn aus ihr alle Sätze folgen, die man aus dem Schema (B) s ist wahr genau dann, wenn p
gewinnt, indem man für das Symbol „s“ eine Bezeichnung irgendeines Satzes der Objektsprache und für das Symbol „p“ einen Satz der Metasprache ein setzt, der genau dann wahr ist, wenn s es ist. Auf den ersten Blick mag dies etwas seltsam erscheinen, zumal ja Äquivalenzen denkbar wären wie: „Grass is green“ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist. Diese Äquivalenz ist zwar wahr, jedoch hat die rechte Seite nichts mit den Wahrheitsbedingungen für den Satz auf der linken Seite zu tun. Eine Theorie, die derartige Äquivalenzen zulässt, kann also, ist man vielleicht geneigt einzuwenden, nicht angemessen sein. Ein solcher Einwand übersieht jedoch die holistischen Restriktionen, die Konvention B impliziert. Eine Theorie kann demnach nur dann als interpretativ gelten, wenn alle aus Schema B zu gewinnenden Äquivalenzen wahr sind. Damit wären Äquivalenzen wie die obige jedoch ausgeschlos sen – mögen sie auch wahr sein. Denn es ist unmöglich, dass eine Theorie, die solche Äquivalenzen enthält, zugleich noch wahre Äquivalenzen für die Sätze „This is green“, „This is grass“ oder „This is snow“ enthält. Grund dafür ist, dass die Wahrheitsbedingungen immer im Rekurs auf die Struktur von Sätzen angegeben werden, mithin in Abhängigkeit von den darin ent haltenen Wörtern. Davidson bringt seinen Bedeutungsholismus folgender maßen auf den Punkt: Sofern Sätze hinsichtlich ihrer Bedeutung von ihrer Struktur abhängen und wir die Bedeutung jedes Elements in der Struktur nur als Abstraktion von der Gesamtheit der Sätze, in denen es vorkommt, begreifen, können wir die Bedeu tung eines Satzes (oder eines Wortes) nur angeben, indem wir die Bedeutung jedes Satzes (und Wortes) der betreffenden Sprache angeben. Frege hat ein mal gesagt, nur im Zusammenhang des Satzes habe ein Wort Bedeutung; in der gleichen Einstellung hätte er hinzufügen können, nur im Zusammenhang der Sprache habe ein Satz (und daher ein Wort) Bedeutung.62
Was die Bildung einer Bedeutungstheorie in diesem engeren Sinne einer Theorie, die uns sagt, was die Äußerungen anderer bedeuten, angeht, so sei en nur zwei Charakteristika dieses Prozesses hervorgehoben. Zum einen ist die Entwicklung einer solchen Theorie ein quasi-empirisches Unternehmen der Hypothesenbildung und -verwerfung.63 Zum anderen „konstruiert“ der Interpret den Sprecher dabei insofern, als er gar keine andere Wahl hat, als von dem auszugehen, wovon er selbst überzeugt ist, und die se Überzeugungen auf den Anderen zu projizieren. Der Interpret bezieht die Äußerungen des Sprechers auf eine gemeinsame Wirklichkeit, von der 62
Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1986, 47. „Quasi-empirisch“ deshalb, weil dabei, wie wir noch sehen werden, auch (norma tive) Rationalitätsstandards eine Rolle spielen.
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er selbst einiges weiß. Mit den Überzeugungen des Interpreten sind aber auch Objektivitätsansprüche ins Spiel gebracht. Es gibt demnach für den Interpreten keine Chance, die Äußerungen anderer zu verstehen, ohne dass er von dem ausgeht, was er selber für wahr hält. Und auch dem Sprecher muss unterstellt werden, im Großen und Ganzen wahre und konsistente Überzeugungen zu haben. Er muss also schon aus methodischen Gründen wohlwollend interpretiert werden: Der methodologische Ratschlag, in einer Weise zu interpretieren, in der die Einigkeit optimiert wird, sollte nicht so aufgefaßt werden, als beruhe er auf einer nachsichtigen Voraussetzung mit Bezug auf die menschliche Intelligenz, die sich auch als falsch herausstellen könnte. Wenn wir keine Möglichkeit finden, die Äußerungen und das sonstige Verhalten eines Geschöpfs so zu interpretieren, daß dabei eine Menge von Überzeugungen zum Vorschein kommt, die großen teils widerspruchsfrei und nach eigenen Maßstäben wahr ist, haben wir keinen Grund, dieses Geschöpf für ein Wesen zu erachten, das rational ist, Überzeu gungen vertritt oder überhaupt etwas sagt.64
Überzeugungen müssen, damit sie zu Recht als solche gelten, prinzipiell dem Anderen verständlich gemacht werden können. Auch der der Andere kann uns nur verstehen, wenn er unterstellt, dass die meisten unserer Überzeugungen wahr sind. Nur so kann er unsere Aussagen „verarbeiten“, also seine eigenen Überzeugungen ins Spiel bringen. Dann aber müssen wir auch selber davon ausgehen, dass unsere Überzeugungen im Großen und Ganzen wahr sind. Andernfalls wüssten wir nicht, was wir überhaupt glauben. Diejenigen, die sich prinzipiell nicht an dieses methodologische Prinzip halten, gelten in der psychoanalytischen Theorie als Psychotiker bzw. Paranoiker.65 Nun sind Psychotiker aber nicht Menschen, die besonders tief sinnig sind, weil sie mehr Gespür als andere für die Grenzen der Vernunft haben. Es sind vielmehr Menschen, die in der symbolischen Ordnung, die sie umgibt, mithin in den Äußerungen und Überzeugungen anderer sowie in den verschiedenen Kommunikationsprozessen, aus denen die Gesellschaft besteht, zu wenig Rationalität erkennen und im Gegenzug selbst allzu viel wirres Zeug sprechen. Wer gänzlich außerstande ist, anderen größtenteils wahre und konsistente Überzeugungen zuzuschreiben, der ist sowohl für andere als auch für sich selbst vollkommen unverständlich, d. h. der hat kei ne Überzeugungen, von denen er wissen könnte. Er wäre ein extremer klini scher Fall. Wenn der Interpret die Kommunikationspraxis der ihm zunächst unver ständlichen Sprecher beobachtet, beobachtet er aber nicht nur diese Praxis (den Gebrauch von Lauten und Lautfolgen), sondern immer zugleich die Wirklichkeit, auf die sich die Praxis bezieht: 64
Donald Davidson, Wahrheit und Interpretation, 199. Slavoj Žižek, „The Obscene Object of Postmodernity“, in: Elizabeth Wright/Ed mont Wright (eds.), The Žižek Reader, Oxford 1999, 51.
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Ein Interpret, der ganz von vorn anfängt – der die Sprache des betreffenden Sprechers also noch nicht versteht –, kann nicht so vorgehen, daß er das Thema der Überzeugungen eines Akteurs unabhängig herausfindet und anschließend fragt, ob sie wahr seien. Das liegt daran, daß die Situationen, welche normaler weise zu einer Überzeugung Anlass geben, auch die Bedingungen der Wahrheit dieser Überzeugungen bestimmen.66
Das heißt: Um magische Überzeugungen der anderen überhaupt erst als sol che erkennen zu können, müssen wir bereits eine Vielzahl von Überzeugungen mit ihnen teilen, und zwar Überzeugungen, von deren Wahrheit wir (mehr oder weniger fest) überzeugt sind. Dass uns manche Völker (insbesonde re der Vergangenheit) so völlig fremd erscheinen, obwohl wir uns auf ihr Leben im Großen und Ganzen durchaus einen Reim machen können, hat mit unserer Fokussierung auf relativ kleine Bereiche ihrer Kultur zu tun. Dabei übersehen wir leicht die große Masse der trivialen Gemeinsamkeiten mit ihnen. Vor allem lassen wir uns durch unser Interesse an ihren Ritualen und ihrer Religion täuschen. Gerade die Religion des Anderen erweist sich aber regelmäßig als ziemlich interpretationsresistent. Im Falle religiöser Äußerungen nämlich scheint, wie bereits angedeutet, die Erfassung einer Bedeutung nicht nur die Überzeugung vorauszusetzen, dass die meisten der Überzeugungen des Sprechers wahr sind, sondern auch die Überzeugung, dass dies jedenfalls für bestimmte Überzeugungen gilt. Nicht dass es zwischen katholischen Theologen keine Meinungsverschiede nheiten geben könne, aber bestimmte Überzeugungen – etwa dass Gott exi stiert, und zwar als Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, dass Jesus von den Toten auferstanden und das Evangelium das Wort Gottes ist – müssen geteilt werden. Man könnte das alles vielleicht auch so zum Ausdruck bringen: Aussagen wie „Es gibt Gott“ sind keine Hypothesen, keine Erfahrungssätze, zumin dest keine gewöhnlichen. Einmal vergleicht Wittgenstein die Aussage „Es gibt Gott“ mit der Aussage „Es gibt Gegenstände“: Das Leben kann zum Glauben an Gott erziehen. Und es sind auch Erfahrungen, die dies tun; aber nicht Visionen, oder sonstige Sinneserfahrungen, die uns die „Existenz dieses Wesens“ zeigen, sondern z. B. Leiden verschiedener Art. Und sie zeigen uns Gott nicht wie ein Sinneseindruck einen Gegenstand, noch lassen sie ihn vermuten. Erfahrungen, Gedanken, – das Leben kann uns diesen Begriff aufzwingen. Er ist dann ähnlich dem Begriff „Gegenstand“.67
Also kann nach Wittgenstein der Glaube an Gott durchaus auf Erfahrungen gegründet sein. Und dennoch muss es sich bei diesem Glauben um etwas Besonderes handeln. Einen Satz wie „Es gibt physikalische Gegenstände“ 66
Donald Davidson, Der Mythos des Subjektiven, Stuttgart 1993, 71. Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band 8, Frankfurt/M. 1984, 571 (Hervorhe bungen im Original).
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hält er nämlich für „Unsinn“.68 Etwas später in Über Gewissheit wieder um heißt es: „Die Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unse rem Bezugssystem.“69 Klar ist aber, dass „Bezugssysteme“, „Weltbilder“ etc. nicht unabhängig von einzelnen Überzeugungen bestehen können. Eine klare Trennung zwischen einer Verschiebung des „Flussbetts der Gedanken“ und der „Bewegung des Wassers im Flussbett“ gibt es auch und gerade für Wittgenstein nicht.70 Nur sind manche Überzeugungen fundamentaler als andere. Bisweilen lassen sie sich nicht einmal direkt in Zweifel ziehen, weil wir uns gar nicht vorstellen können, wie es wäre, wenn sie nicht wahr wären – wie es z. B. wäre, wenn es keine vom Bewusstsein unabhängige Außenwelt gäbe. Und sei es nur, weil uns unsere Sprache und das, was wir mit ihr mit ihr tun, auf gewisse ontologische Annahmen fest legen. Dass diese Annahmen der Sprache vorausgehen, ist damit nicht gesagt – allerdings steht im Fall der physischen Außenwelt schon fest, dass das, wovon die Annahmen handeln, vor seiner Beschreibung existieren muss. Auch der Glaube an die Existenz Gottes könnte so eine Überzeugung sein. Denn jemand, der an Gott glaubt, kann sich in der Regel nicht wirk lich vorstellen, wie alles ohne Gott wäre, und ein entschieden Ungläubiger hat keine Ahnung, wie es wäre, wenn Gott (in nicht bloß mythisch per sonifizierter Gestalt) existierte. Während man sich ohne weiteres eine Welt mit Einhörnern oder ohne Bäume vorstellen kann. Freilich sind an den Glauben oder Nichtglauben bestimmte Haltungen, moralische Einstellungen, Gefühlslagen, Praktiken und Rituale geknüpft. Zumindest wer sich im landläufigen Sinne zu einer Religion bekennt und nicht bloß eine philosophische Gotteslehre vertritt, glaubt nicht nur an die Existenz Gottes, sondern auch an Gott selbst (er vertraut ihm, hofft auf ihn, etc.) Aber die damit verbundenen Einstellungen, Haltungen und Praktiken begründen den Glauben typischerweise nicht. Gleichwohl verwenden wir in diesem Zusammenhang den Begriff des Irrtums, mag es sich dabei auch um einen ganz speziellen Irrtum handeln, der sich nicht einfach aufklären lässt. Gläubige schreiben Ungläubigen eine Art Blindheit zu, Ungläubige wiederum unterstellen den Gläubigen, dass sie etwas „zu viel“ wahrneh men und dort Sinn zu erkennen meinen, wo definitiv keiner sei. Das Problem ist, wie Peter Strasser scharfsinnig herausgearbeitet hat: „Wir können wissen, dass Gott existiert, doch wir können nicht sagen, was dieses Wissen bedeutet.“71 Soll der Gottesglaube aber nur deshalb nicht den 68
Ebd., 126. Ebd., 136 (Hervorhebung im Original). 70 Ebd., 140. 71 Peter Strasser, Der Weg nach draußen. Skeptisches, metaphysisches und religiöses Denken, Frankfurt/M. 2000, 169 (Hervorhebungen im Original). Eine sophistizierte logische Reformulierung von Anselm von Canterburys ontologischem Gottesbe weis entwickelte etwa der Mathematiker Kurt Gödel (siehe Hao Wang, A Logical 69
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Status einer Überzeugung verdienen, weil der Versuch, ihn sprachlich zu explizieren, bedeutet, „das Unsagbare zu sagen“, weil alle Begriffe und Metaphern, die wir verwenden, wenn wir vom „absolut Vollkommenen“ sprechen, im Grunde unangemessen sind?72 Nicht einmal Davidson, der die Sprache als notwendige Voraussetzung für Gedanken betrachtet, nimmt an, dass jeder einzelne Gedanke einen sprachlichen Ausdruck haben müsse. Auch für ihn besteht kein Grund zur Annahme, wir könnten nur denken, was wir auch zu sagen imstande sind.73 Ganz ohne Überzeugungen und damit verbundene Wahrheitsansprüche kommen auch religiöse Rituale in der Regel nicht aus. Ein spezifischer „Glaube, dass …“ ist wohl immer auch im Spiel. In diesem Sinne argumen tiert Strasser gegen das, was er „performative Theologie“ nennt: Ihr zufolge dürfen Glaubenserzählungen nicht als Erzählungen verstanden wer den, sondern müssen als Teile einer ebenso spezifisch religiösen wie universell gültigen Kommunikation begriffen werden. Demgegenüber ist festzuhalten: Alle Kommunikation, die selbst nicht im Aufstellen von Behauptungen besteht, ist Kommunikation nur deshalb, weil sie die Wahrheit von Behauptungen voraussetzt bzw. einschließt.74
Für einen nichtgläubigen Interpreten scheint es jedoch unmöglich zu sein, den genauen Gehalt der religiösen Überzeugungen zu bestimmen. Die Philosophie kann ihn allenfalls davor warnen, den Gläubigen vorschnell allzu unplausible Überzeugungen zuzuschreiben, etwa die Überzeugung, dass zwischen einem Regentanz und Regen oder zwischen einem groben Verstoß gegen die Moral und einem schweren Schicksalsschlag ein kausaler Zusammenhang besteht. Oder um ein politisch relevanteres Beispiel zu neh men: Sie kann darauf hinweisen, dass nicht nur die Annahme, im Jenseits wür den 10, 40 oder 72 Jungfrauen auf jeden muslimischen Selbstmordattentäter warten, einigermaßen absurd erscheint und daher besonderer Begründung bedarf, sondern auch die Annahme, islamistische Selbstmordattentäter wür den ebendies wirklich glauben und sich hauptsächlich davon motivieren las sen. Manchmal dürften tatsächlich uneigentliche Überzeugungen im Spiel sein. Diese Überzeugungen können auch bei Ritualen und sonstigen Praktiken wie Fasten der Fall zum Tragen kommen. Mit dem Fasten doku mentieren die Gläubigen dann (sich und anderen) ihre Zugehörigkeit zu einer Glaubengemeinschaft, deren charakteristische Gebräuche sie aber Journey: From Gödel to Philosophy, Cambridge, Mass./London, Engl. 1996, 111– 121). Man darf jedoch vermuten, dass ein solcher Beweis – mag auch formal nichts an ihm auszusetzen sein – keinen Ungläubigen wirklich eines Besseren belehrt. 72 Peter Strasser, Der Weg nach draußen, 177. 73 Siehe Donald Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, 100. 74 Peter Strasser, Der Gott aller Menschen. Eine philosophische Grenzüberschreitung, Graz/Wien/Köln 2002, 28 (Hervorhebungen im Original).
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nicht mehr in einem religiösen oder moralischen Sinne für verbindlich hal ten. Insoweit sie das tun, kulturalisieren sie ihre Praxis und fordern allen falls „Respekt“. Gleichwohl können die abergläubisch Fastenden ernsthaft an Gott glauben und ihr Fasten lediglich als einen Ausdruck ihres Glaubens begreifen. Aber wenn sie das tun, glauben sie nicht einfach (jedenfalls nicht notwendig) an die Wahrheit einer Hypothese, die ein Ungläubiger ohne weiteres – und ohne von ihr überzeugt zu sein – verstehen kann. Ein sinnvoller Diskurs zwischen Gläubigen und Ungläubigen ist damit nicht ausgeschlossen. Allerdings gebietet es die Klugheit, wenn es um die Religion geht, dem Anderen auf andere Weise als durch irgendwelche Ableitungen „die Augen zu öffnen“. Ein Gutteil der Debatte zwischen Gläubigen und Ungläubigen erscheint sogar ziemlich witzlos, nämlich inso weit allzu unvermittelt über die letzten Dinge gesprochen wird. Es erscheint ungefähr so witzlos wie die Frage, warum Gerechtigkeit gut ist. Auch die fundamentalsten religiösen Überzeugungen sind nicht in dem Sinne funda mental, dass sie als Weltbild den profaneren Überzeugungen vorausgingen. Weder kann man sie unabhängig von jenen erwerben, noch lassen sie sich einfach von ihnen deduzieren. Und selbst wenn Letzteres doch der Fall wäre, hätte man keine objektive Gewissheit, da die profaneren Überzeugungen ja teilweise falsch sein könnten. Aber nicht nur der mit Glauben konfrontierte Ungläubige hat Verständnis probleme. Es könnte – was zugleich ein Trost wäre – noch etwas kompli zierter sein, nämlich dass ernsthaft religiösen Menschen selbst, wiewohl sie nicht nicht wirklich glauben, nicht ganz klar ist, woran genau sie eigent lich glauben, wenn sie an Gott glauben und Dinge sagen wie „Gott ist die Liebe“. Dieses Phänomen scheint recht weit verbreitet zu sein. Ja, womög lich ist ein nagender Zweifel an den Inhalten des eigenen Glaubens und vor allem daran, dass man wirklich glaubt, sogar essenzieller Bestandteil dessel ben (wenigstens des christlichen).75 Doch deshalb handelt es sich dabei nicht um Aberglauben, auch nicht um einen uneingestandenen. Schließlich liegt keine Illusion vor, die durch besseres, aber womöglich unbewusstes Wissen aufgehoben wäre. Der Abergläubische ringt nicht mit sich. Das Ringen des Gläubigen muss aber nicht unbedingt qualvoll sein. Es kann auch ziemlich 75
Siehe etwa die Tagebuchaufzeichnungen von Mutter Teresa, deren katholischer Fundamentalismus offenbar einherging mit Zweifeln, wie sie sonst die rabiatesten Atheisten auszeichnen (Komm, sei mein Licht, herausgegeben und kommentiert von Brian Kolodiejchuk, München 2007). Chesterton weist auf die Besonderheit des Christentums hin, dass in ihm Gott selbst für einen Augenblick Atheist gewe sen zu sein scheine, nämlich unmittelbar vor Jesu Tod am Kreuz (Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxy, 145). Nur kirchenpolitisches Kalkül könnte aber erklären, weshalb jemand, der dauerhaft zweifelt, als Vorbild im Glauben gepriesen wird, erst recht, wenn angenommen wird, dass wahrhaft religiöser Glaube über mo ralisches Engagement hinausgeht und mehr ist als „eine Art religiöser Haltung“ (Peter Strasser).
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gelassen vonstatten gehen und darin zum Ausdruck kommen, dass Ironie und Ernst zusammenfallen. So wissen aufgeklärte Gläubige, dass ihre Gebete aus kontingenten Traditionsbeständen schöpfen und in der buchstäblichen Bedeutung das verfehlen, worum es geht.76 Das Ringen kann freilich auch in Gewaltausbrüche münden – bis hin zum selbstmörderischen Mord zur abschließenden Vergewisserung der eigenen Rechtgläubigkeit. In diesen Fällen wird sich der Zweifel aber hauptsächlich auf den Gläubigen und das Glauben selbst und weniger auf die Glaubensinhalte beziehen. Allerdings können schwerlich alle religiöse Lehren jederzeit solche Selbstzweifel und Schuldgefühle auslösen, die dann ihrerseits zu Gewalt motivieren. Mitunter erweist sich gerade die Dunkelheit, Vieldeutigkeit oder vordergründige Absurdität einer Lehre als entscheiden der Faktor. Diejenigen, die sich um eine solche Lehre nicht kümmern, kön nen leicht allzu sehr faszinieren. Jedenfalls stellen sie eine Herausforderung, eine „Versuchung“, dar. Kurz: Nicht immer entfaltet der Zweifel eine zivi lisierende Kraft, manchmal tut dies nur die unerschütterliche Gewissheit. Man denke etwa an friedfertige Fundamentalisten wie die Amish People in Pennsylvania. Was Gewissheit sowie bewusste oder unbewusste Zweifel in Bezug auf den eigenen Glauben und dessen Inhalte bewirken, hängt also von zahlreichen weiteren Bedingungen ab, nicht zuletzt von den ethischen Überzeugungen, die zum jeweiligen religiösen Weltbild gehören. Das alles hat Beobachter augenscheinlich religiöser Praktiken – ver ständlicherweise – immer wieder dazu veranlasst, gar nicht mehr nach dem genauen Inhalt der Überzeugungen von Gläubigen, sondern nach Kausalzusammenhängen (neurophysischer, ökonomischer und sonstiger Natur) zu fragen, mithin den Versuch aufzugeben, die Gläubigen als ratio 76
So wie dem postmodernen Katholiken Gianni Vattimo dürfte es vielen Gläubigen gehen – auch solchen, die Vattimos Weichzeichnung des Christentums nichts ab gewinnen können: „Wenn ich das Glaubensbekenntnis spreche, oder auch wenn ich bete, haben die Worte, die ich benutze, für mich nicht den realistischen Klang, den die Vertreter eines metaphysisch konzipierten Glaubens meinen ihnen zu schreiben zu müssen. So lade ich, wenn ich Gott ‚Vater‘ nenne, diesen Ausdruck mit einem Geflecht von Bezügen auf, die mit meiner geschichtlichen Erfahrung, aber auch mit meiner Biographie zu tun haben und die auch den problematischen Charakter der Ausstattung Gottes mit menschlichen Zügen, die noch dazu an ein bestimmtes Modell der Familie gebunden sind, nicht ignorieren. Wenn ich an all diese Dinge denke, dann weiß ich sicherlich nicht mehr recht, was ich sage, wenn ich das Vaterunser spreche. Aber auch diese Desorientierung ist, wie ich glaube, Teil meiner Erfahrung des Glaubens als Antwort auf die Offenbarung der kenosis. Bleibt beim Gebrauch des Ausdrucks ‚Vater‘ nur das übrig, was Schleiermacher das reine Gefühl der Abhängigkeit genannt hat? Wahrscheinlich ja, und wiederum ist dies der Kern, von dem ich glaube, dass er nicht Gegenstand von Reduzierung und Entmythologisierung sein kann; den Grund dafür weiß ich nicht …“ (Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997, 86f.)
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nale Subjekte zu verstehen. Nicht dass derartige Beobachtungen von außen nichts Interessantes zu Tage befördern könnten. Feststeht aber, dass sie auf diese Weise die spezifisch religiöse Dimension ihres Gegenstands nicht erfassen. Terry Godlove Jr. beschreibt das Problem sehr prägnant: Suppose that, for whatever reason, we have come to doubt that the apparently religious practices before us are in fact motivated by what we had once taken to be the agents’ religious beliefs, desires, and the like. We are able to describe the movements we see before us in great detail, but none of these details rests on the religious self-understanding of the agents themselves. Under these conditions, are we still viewing the movements as religious? … Certainly we may find it convenient to continue to label these movements „religious“; that is, we might (with, for example, Freud), want to continue to use the term „religious ritual“ to pick out these movements even as newly perceived (for Freud, as acts of dis placement). … But that would be merely to attach a label to movements viewed physically. Since there is nothing plausibly religious about this merely physical context, it makes no sense to say that we are seeing the practice in question as religious.77
Man denkt hier sofort an einen Hirnforscher, der die neurochemischen Prozesse im Gehirn einer gerade denkenden Person beobachtet. Wüsste er nicht unabhängig davon, dass diese Person gerade denkt, hätte er keinen Anhaltspunkt für die Annahme, er beobachte ein Denken. Erst recht nicht kann er an den Gehirnströmen ablesen, was genau die Person denkt und ob das, was sie denkt, wahr oder falsch ist. Im Fall der Religion könnten frei lich gerade die beschriebenen Interpretations- bzw. Explikationsprobleme wichtige Anhaltspunkte für die Natur einer Praxis oder eines Denkens bil den. Doch sie wären – selbstredend – nicht Anhaltspunkte dafür, was die Gläubigen wirklich denken und wahrnehmen. Was im Fall von religiösen Grundüberzeugungen, wenn sie nicht mit Herrschaftsansprüchen verbunden werden, noch ohne weiteres hingenom men werden kann, nämlich die Unfähigkeit, halbwegs genau anzugeben, was man eigentlich glaubt, sieht Terry Eagleton mittlerweile auch im nichtreligi ösen Alltag verbreitet: A certain postmodern fondness for not knowing what you think about anything is perhaps best reflected in the North American speech habit of inserting the word „like“ after every three or four words. It would be dogmatic to suggest that something actually is what it is. Instead you must introduce a ritual tentativeness into your speech, in a kind of perpetual semantic slurring.78
Pfaller bezieht den Begriff des Aberglaubens nicht nur auf Rituale, deren abergläubische Elemente oft auf der Hand liegen. Für ihn ist der Aberglaube 77
Terry F. Godlove Jr., „Saving Belief: On the New Materialism in Religious Stud ies“, in: Nancy K. Frankenberry (ed.), Radical Interpretation in Religion, Cambridge 2002, 20f. 78 Terry Eagleton, After Theory, London 2004, 104 (Hervorhebung im Original).
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nicht unbedingt eine Praxis, sondern etwas, das auch über einen von Ritualen unabhängigen propositionalen Gehalt verfügen kann: „Eine durch besseres Wissen aufgehobene Illusion muss nicht notwendigerweise auf der Ebene der Handlungen liegen; sie kann auch auf der Ebene der Erzählungen ange siedelt sein.“79 Die Lektüre von Horoskopen oder den Tobsuchtsanfall beim Absturz des Computers wird man auch kaum als Ritual betrachten können. Rituale sind eher Unterbrechungen – und eben nicht bloße Gewohnheiten. Für gewöhnlich sind sie an irgendwelche Schwellen im Lebensverlauf des Einzelnen oder der Gemeinschaft gebunden.80 Nichtsdestoweniger muss auf der Ebene der Erzählungen insgesamt wesentlich mehr angesiedelt sein als Illusionen – eben besseres Wissen, wel ches bei Bedarf auch kommuniziert wird. Die Masse der „Erzählungen“ muss wohl wahr sein und für wahr gehalten werden, wenn eine Kommunikation möglich sein soll, aus der Überzeugungen hervorgehen, die niemand für sich reklamiert und die daher unter Pfallers Begriff des Aberglaubens fallen. Dies schließt übrigens ein allzu und direkt instrumentalistisches Verständnis von Überzeugungen aus. Wir können uns zwar oft dazu bringen, bestimmte Überzeugungen abzulegen oder anzunehmen, wir können aber nicht belie big über das, was wir denken, disponieren. Wir können uns nicht einfach dazu entschließen, von dem, wovon wir überzeugt sind oder was wir wissen, abzurücken. Schon gar nicht können wir über alle Überzeugungen zusam men disponieren. Wer im Wesentlichen Davidson folgt, wird nicht umhin kommen, nicht nur den Wahrheitsbegriff, sondern auch das Bekenntnis für fundamental zu halten – mindestens so fundamental wie den Aberglauben. Gleichwohl kann der Theorie des Aberglaubens große Bedeutung zukommen als Instrument bei der Interpretation anderer. Schließlich erleichtert eine solche Theorie, von vorschnellen Irrationalitätsunterstellungen Abstand zu nehmen. Doch nicht allen vordergründig absurden Überzeugungen kann man damit bei kommen. Manche solcher Überzeugungen werden nicht einfach nicht ernst haft vertreten (d. h. bilden nicht einfach kein Bekenntnis), sondern haben einen anderen als den augenscheinlichen Gehalt. Wahrscheinlich sollte man innerhalb der Klasse abergläubischer Praktiken einige Unterscheidungen machen oder überhaupt ein Kontinuum zwischen Aberglauben und Bekenntnis annehmen. Damit meine ich kein Kontinuum der Festigkeit von Überzeugungen. Viel scheint vom Kontext abzuhängen, in den Überzeugungen und Praktiken eingebettet sind. Zwischen der Neigung, den Computer anzuschreien, und der Weigerung, auf einem Foto der eige nen Mutter die Augen auszustechen, besteht offensichtlich ein Unterschied. Zwar könnte auch Letztere unter „Aberglauben“ subsumiert werden, 79
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 84. Siehe Thomas Macho, Das zeremonielle Tier. Rituale, Feste, Zeiten zwischen den Zeiten, Graz/Wien/Köln 2004.
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insofern sie keineswegs von der Überzeugung getragen ist, dass zwischen dem, was mit dem Foto einer Person, und dem, was mit der Person selbst geschieht, ein kausaler Zusammenhang bestehe. Doch nicht selten wird ihr die Annahme eines nicht näher bestimmbaren moralischen Zusammenhangs zugrunde liegen.81 Auch ein analytischer Philosoph wie Davidson, in dessen Arbeiten die Religion nicht vorkommt, hält offenbar Überzeugungen für möglich, die unabhängig von dem, was beobachtet wird, durchgehalten werden.82 Religiöse Überzeugungen wie jene, dass es ist, wie es ist, und dass es gut ist, sind musterbeispielhaft dafür. Angesichts der Absurdität der Annahme, dass menschliches Glück genauso gut ist wie menschliches Leid, oder Folter genauso gut wie ein Akt der Liebe, könnte man vielleicht meinen, hier handle es sich um Aberglauben oder um ein Anzeichen tiefer geistiger Verwirrung. Doch oft genug wird diese Überzeugung ernsthaft von Menschen vertreten, die für verrückt zu halten wir (ansonsten) keinen triftigen Grund haben. In diesem Fall liegt die Vermutung näher, dass sie „gut“ gar nicht im gewöhnlich moralischen Sinne verwenden, sondern in einem religiösen, den zu explizie ren eben ausgesprochen schwer fällt, anderen, aber auch ihnen selbst.83 Das ist weniger verheerend, als es vielleicht den Anschein hat. Abgesehen davon, dass Unverständnis bisweilen auch verbindet, können wir die mit religiösen (Un-)Gewissheiten unterlegten ethischen Überzeugungen regel mäßig ohne weiteres gut genug verstehen, um sinnvoll streiten zu können. Um zu wissen, was ein Katholik meint, wenn er sagt, Homosexuelle soll ten nicht einmal vor dem Standesamt eine Ehe schließen können, bedarf es keiner besonderen religiösen Sensibilität. Allerdings gibt es auch ethi sche Überzeugungen, die wir nur dann hinreichend verstehen, wenn wir auch die Begründung kennen.84 Das Recht auf Leben bedeutet für Christen, Utilitaristen und Kantianer – bei allen Überlappungen – nicht immer das Gleiche. Man denke an die Abtreibungsfrage oder das Problem, ob es zuläs sig ist, ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abzuschießen, bevor mit ihm noch mehr Menschenleben ausgelöscht werden können. Doch selbst die Begründungen der einzelnen Standpunkte enthalten regelmäßig mehr als Aussagen, deren Verständnis eine spezifische religiöse Haltung voraussetzt. So verstehe ich die katholische Doktrin der Beseelung im Zeitpunkt der Befruchtung hinlänglich gut, um das, was aus ihr folgt, akzeptieren oder ablehnen zu können. Es genügt zu wissen, dass nach katholischer Auffassung mit der Befruchtung Leben nach Gottes Ebenbild, mithin voll- und gleich 81
Siehe etwa D. Z. Phillips, Faith After Foundationalism: Platinga – Rorty – Lindbeck – Berger – Critiques and Alternatives, Boulder/San Francisco/Oxford 1995, 328f. 82 Donald Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, 189. 83 Für einen subtilen Versuch siehe Peter Strasser, Theorie der Erlösung. Einführung in die Religionsphilosophie, München 2006, 30–36. 84 Siehe Jeremy Waldron, God, Locke, and Equality, 45–48.
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wertiges menschliches Leben entsteht. Nicht jeder mag über den genau en christlichen Begriff der Seele verfügen (auch die meisten Christen tun dies nicht). Doch wer eine auf einem Basisegalitarismus beruhende Moral vertritt, hat einen hinreichend ähnlichen Begriff, wenn auch vielleicht kein Wort dafür. Wir gelangen in der Moral üblicherweise früher zum argumen tativ nicht auflösbaren Dissens als zum wechselseitigen Unverständnis. Auch grundlegende politische Bekenntnisse wie das zum Sozialismus oder zum Wert der individuellen Autonomie bereiten in der Regel nicht so dra matische Verständnisschwierigkeiten wie religiöse Bekenntnisse, auch wenn vielen Sozialisten und Liberalen selbst nicht immer ganz klar sein dürfte, was ihre Überzeugungen im Einzelnen sind, und manche für das „Gleichheits“und „Freiheitsgeschwafel“ ebenso wenig Geduld aufbringen wie für die Rede von der „Schöpfung“ und der „menschlichen Würde“. Um sich Sozialist nennen zu können, muss man nicht mit der gesamten politisch-ökonomi schen Diskussion über das richtige Verhältnis zwischen staatlicher Planung und marktförmiger Verhaltenskoordination vertraut sein. Erst recht muss man dazu keinen theoretisch begründeten Standpunkt einnehmen. So wie Liberale, um als solche gelten zu können, nicht sämtliche philosophische Explikationen des Freiheitsgedankens studiert und sich für eine klar kon turierte Theorie (libertärer, egalitärer oder sonstiger Bauart) entschieden haben müssen. Wenn Sozialisten und egalitäre Liberale die Ungleichheit in der gegenwärtigen Verteilung von Einkommen, Vermögen und poli tischer Macht kritisieren, weiß auch der im Großen und Ganzen, was sie meinen, der nicht die Ungleichheit, sondern die weit verbreitete Armut als das eigentliche Problem ansieht. Und ganz sicher gibt es keinen zwingenden Grund, die Überzeugung, der Ungleichheit komme ein Eigenunwert zu, für so abwegig zu halten, dass sie nicht ernsthaft vertreten werden könnte (wie etwa die Überzeugung, dass man mit Schimpftiraden den eigenen Computer beeindrucken kann). Damit ist dem Aberglauben im Pfaller’schen Sinne nicht jeder Nutzen im politischen Bereich abgesprochen. Wie gesagt, kann die Anwendung des Prinzips der wohlwollenden Interpretation selbst abergläubischen Charakter haben und sogar ein Gebot der politischen Moral sein. Dann ist sie aber nicht mehr notwendig, um den Anderen richtig verstehen zu können, sondern eine Strategie, um moralische und sonstige Standards der Rationalität sozi al wirksam bleiben zu lassen, auch wenn ihre intrinsische Motivationskraft bereits stark nachgelassen hat. Reine Kulturen des Aberglaubens – also Kulturen, in denen nichts als Magie praktiziert wird, in denen die Praxis nicht von aufrichtig vertretenen Überzeugungen getragen wird – kann es allerdings nicht geben. Tatsächlich baut der Wilde seine Hütte nicht bloß in effigie. Er wird sich vielleicht nicht viel auf sein diesbezügliches Wissen einbilden, also sehr viel Selbstachtung daraus ziehen, aber er verfügt über dieses Wissen; wenigstens teilweise wird er sich dessen auch bewusst sein und sich dazu „bekennen“, außerdem wird
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dieses Wissen kultiviert und an den Nachwuchs weitergegeben. Das ist tri vial, doch was könnten dann jene „undogmatischen, weniger aggressiven Kulturen des alleinigen und offenen Aberglaubens“ sein, von denen Pfaller im Anschluss an Mannoni spricht?85 Und wie erkennen wir, ob wir es mit einer Kultur des Aberglaubens oder einer des Bekenntnisses zu tun haben? Müssen wir nicht schon viele Bekenntnisse mit den Angehörigen „einer anderen Kultur“ teilen, um feststellen zu können, was genau bei ihnen Aberglaube ist und was Bekenntnis?86 Was aus Davidsons Theorie der Sprache, des Sprachverstehens, zunächst einmal folgt, ist, dass allzu radikale „kulturelle Differenz“, welche von vorn herein unüberbrückbare Kommunikationshindernisse schafft, eine inko härente Idee ist. Differenzen zwischen „Kulturen“ können sich demnach allenfalls graduell von interindividuellen Differenzen innerhalb derselben unterscheiden. Wenn tatsächlich jede Kultur im buchstäblichen Sinne eine eigene Welt konstituierte, könnten wir das nicht erkennen. Wir hätten kei nen Grund anzunehmen, dass die „Fremden“ überhaupt sprechen und den ken, mithin über Kultur verfügen. Um das beurteilen zu können, müssen wir schon ziemlich viel von dem, was sie sagen und tun, verstehen.87 Die Anderen ticken also nicht völlig anders als wir, sie leben nicht in einer ganz anderen Welt. Auch der Aberglaube, wie ihn Pfaller verteidigt und pro pagiert, wird wider besseres Wissen praktiziert. Illusionen, die nur Bekenntnisse 85
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 79. Pfaller beruft sich unter anderem auch auf Roland Barthes und dessen in der Tat bestechend schönen Essay über Japan (Das Reich der Zeichen, Frankfurt/M. 1981). Barthes kontrastiert darin das fernöstliche Leben auf der glitzernden Oberfläche der Zeichen mit der westlichen Versessenheit auf Tiefe und Authentizität. Doch dürfte es sich bei diesem Japan letztlich nur um einen weiteren Mythos handeln. Bemerkenswerterweise ist das Japan des japanischen Schriftstellers Haruki Mu rakami um einiges weniger exotisch als das Japan des Franzosen Barthes. Aber selbst wenn letzteres Japan tatsächlich mehr als ein poststrukturalistischer Mythos wäre, bliebe es aufgrund seiner Geschichte so ziemlich das schlechteste Beispiel für eine undogmatische und wenig aggressive Kultur des Aberglaubens. Pfaller in teressiert sich denn auch weniger für die Frage, ob Japan tatsächlich so ist wie von Barthes beschrieben. Ihn bewegt vielmehr die andere Frage, „ob nach Barthes’ eigenen Annahmen überhaupt eine Gesellschaft existieren kann, die so beschaffen ist, wie er sie beschreibt“ (Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 315). Schließ lich bejaht er diese Frage. 87 Dem entspricht, was der Sozialanthropologe Adam Kuper, nicht ohne Ironie, als das eigentliche Problem des Ethnographen ansieht: „Good ethnographers, like successful immigrants, are often struck by the continuities between the most ex otic field setting and their own home towns. At some point they may stop wor rying that cross-cultural understanding is beyond their grasp, and begin to worry rather whether by some malign chance they have landed in a society hardly worth describing, since it is so disconcertingly familiar and prosaic.“ (Culture: The Anthropologists’ Account, Cambridge, Mass./London, Engl. 1999, 244f.) 86
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zu irgendwelchen Unwahrheiten oder gar Dummheiten sind, sind nichts weiter als Illusionen. Begleitet von besserem Wissen können Illusionen aber beträchtlichen Wert entfalten. Ein schönes Beispiel für die zivilisie rende Wirkung solcher Illusionen, das auch von Pfaller überzeugend analy siert wird, ist die Höflichkeit. Wer sich höflich verhält und damit zu einem angenehmen wie Kooperation befördernden Klima beiträgt, tut dies nicht unbedingt, weil er wirklich tiefen Respekt für den Anderen empfindet, und niemand muss dies glauben. Dennoch „funktioniert“ die Praxis und erweist sich regelmäßig als ausgesprochen produktiv. Sie macht, wenn man so will, glücklich und konstituiert Zivilisiertheit, nicht zuletzt im Routinebetrieb der Politik, in Gremien und gesetzgebenden Körperschaften: In der Tat, meint Cavell, a democracy, let alone a royal court, could scarcely function without a heal thy tolerance toward insincerity or the capacity to compartmentalize passions. When a senator from one party speaks of a member of the opposed party as „My good friend senator so-and-so from the great state of such-and-such“, I am perhaps momentarily shocked by the sense of falseness, but quickly enough relieved that, since I know how high feeling runs over the issue on which they disagree, the magic words of formal courtesy acknowledge that there is between them something, a tomorrow that transcends this disagreement. Civil institu tions rely on a measure of civility, say forbearance. … While the measure must not be pushed too far, there are no a priori limits. Lines are to be drawn in each case. The conversation of justice must not be lost.88
Eine allseits durchschaute Illusion kann also materielle Effekte zeitigen. Dasselbe gilt für die Praxis, politische Programme und Deklarationen selbst dann noch ernst zu nehmen, wenn an den Intentionen der einzelnen poli tischen Akteure massive Zweifel bestehen. Auf diese Weise werden eben Anreize geschaffen, mit Versprechungen nicht allzu leichtfertig umzugehen. Insoweit erweist sich der Aberglaube, das Spiel oder, wenn man so will, das kulturelle Moment auch in der Politik als segensreich. Auch die strikte Ablehnung einer Aufweichung des rechtlichen Folterverbots scheint abergläubische Züge aufzuweisen. Doch ob hier wirk lich Aberglaube zum Tragen kommt, ist mehr als fraglich. Der Harvard Rechtsprofessor Alan Dershowitz findet – wie die meisten von uns – Folter abstoßend, kann sich aber – ebenfalls wie die meisten von uns – Fälle vor stellen, in denen die Folter das geringere moralische Übel darstellt. Zudem nimmt er realistischerweise an, dass in solchen Fällen auch tatsächlich gefol tert werden würde. Nur hoffnungslos Naive würden daran zweifeln. Doch Dershowitz geht noch weiter und macht einen beachtlichen rechtspoliti schen Vorschlag: Anstatt die Folter außerhalb des Rechts stattfinden zu las sen sollten wir sie einer rechtlichen Kontrolle unterwerfen. Die Folter sollte von einer richterlichen Genehmigung abhängig gemacht werden. Richter 88
Stanley Cavell, „The Incessance and the Absence of the Political“, 292f.
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sollten also unter bestimmten Umständen bestimmte Foltermaßnahmen genehmigen dürfen/müssen. So meint Dershowitz: Under my proposal no torture would be permitted without a ‚torture warrant‘ being issued by a judge. An application for a torture warrant would have to be based on the absolute need to obtain immediate information in order to save lives coupled with probable cause that the suspect had such information and is unwilling to reveal it. The suspect would be given immunity from prosecuti on based on information elicited by the torture. The warrant would limit the torture to nonlethal means, such as sterile needles, being inserted beneath the nails to cause excruciating pain without endangering life. It may sound absurd for a distinguished judge to be issuing a warrant to do something so awful. But consider the alternatives: Either the police would torture below the radar screen of accountability, or the judge who issued the warrant would be accountable. Which would be more consistent with democratic values? 89
Zweifellos bereitet der Vorschlag spontan ein gewisses Unbehagen. Dennoch dürften ihm einige rechtsstaatsbewusste Liberale mit einem Sinn für mora lische Komplexität und die Gefahren des Terrorismus einiges abgewinnen können. Immerhin verbindet sich damit die Hoffnung, dass es auf diese Weise schwerer fallen würde als bisher, die Folter auf andere Fälle auszu dehnen. Diejenigen, die den Vorschlag kategorisch ablehnen, räumen üblicher weise durchaus ein, dass Folter manchmal das geringere moralische Übel ist. Argumentieren sie damit abergläubisch? Sie sagen jedenfalls: „Ich weiß, dass Folter unter bestimmten Bedingungen moralisch zulässig ist, aber dennoch sollte sie strikt verboten bleiben.“ Abergläubisch würden sie argumentie ren, wenn sie dafür keinen anderen Grund hätten als die eigene Tradition oder Kultur, mit sich die Aufweichung des Folterverbots nicht vereinbaren ließe. Gewisse Ähnlichkeiten damit hätte das rechtstheoretische Argument, dass das Verbot bestimmter Behandlungen von Menschen in die eigene Rechtsordnung als Prinzip oder gar „Archetyp“ eingeschrieben sei.90 Doch auch mit diesem Argument werden Objektivitätsansprüche verbunden. Es zielt eben auf eine korrekte Interpretation einer partikularen Rechtsordnung ab. Jene, die die Integrität und Kohärenz der Rechtsordnung ins Treffen führen, führen dies aber gewöhnlich noch auf eine Weise aus, die aus der auf eine partikulare Rechtsordnung bezogene Annahme wieder ein genuines moralisches, nämlich rechtsethisches Bekenntnis macht. Die Argumentation geht in etwa so: „Zum einen dürfte es kaum möglich sein, hinreichen klare Bedingungen zu formulieren und dann auch noch vor ab angemessen verlässlich zu beurteilen, ob diese Bedingungen erfüllt sind. 89
Alan M. Dershowitz, „Want to Torture? Get a Warrant“, in: San Francisco Chronicle vom 22. 1. 2002. 90 Siehe Jeremy Waldron, „Torture and Positive Law: Jurisprudence for the White House“, in: Columbia Law Review 105 (2005), 1681–1750.
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Zum anderen würde schon die darüber zu führende rechts- und verwaltungs technische Diskussion der Folter einiges von ihrem Schrecken nehmen und damit zivilisatorische Standards untergraben. Nicht nur ist die Annahme, eine beschränkte Legalisierung der Folter würde zugleich moralisch unver tretbare Folteraktivitäten eindämmen, durch nichts belegt. Eher ist das Gegenteil zu erwarten. Eine wie immer beschränkte Legalisierung der Folter und schon die Diskussion darüber, in welcher Form diese erfolgen solle, hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine signifikante Desensibilisierung zur Folge. Bestimmte moralische Probleme sollten, wenn irgend möglich, nicht zu Rechtsfragen gemacht werden. Überhaupt gibt es Akte, die moralisch bes ser sind als alle Alternativen, ohne dass man sie auf Regeln gründen könnte oder für sie Regeln formulieren sollte. Man kann zwar sagen, die Prinzipien der Autonomie bzw. Würde und der Leidminimierung würden nicht sel ten kollidieren, doch in der Regel bleibt nach einer Entscheidung zwischen ihnen ein Bedauern zurück, das von der Geltung jedes der Prinzipien zeugt. Eine richterliche Genehmigung aufgrund einer klar definierten Regel würde leicht den moralischen Preis vergessen lassen, mag es auch ein Preis sein, den zu zahlen im Einzelfall vernünftig ist. Damit würde das Prinzip der Würde und Autonomie abstrakt geschwächt. Man schießt gewissermaßen notwendigerweise über das Ziel hinaus.“ Was immer man davon halten mag, hier liegt kein Fall von Kulturali sierung, einem (besser oder schlechter begründeten) Versuch der Transfor mation von Bekenntnissen in Aberglauben, vor. Es handelt sich um die Begründung einer durchaus mit Wahrheitsanspruch ausgestatteten rechts ethischen Position, nämlich, dass es keine Rechtsregel geben soll, nach der Folter unter bestimmten Bedingungen und in bestimmtem Ausmaß erlaubt sein soll – selbst wenn sie im Einzelfall das geringere moralische Übel wäre. Kulturalisieren würde bedeuten, das Folterverbot lediglich als Teil der eigenen Lebensform und Geschichte auszuweisen: „Mein Volk denkt, dass Folter rechtlich strikt verboten bleiben muss. Ich selbst weiß natürlich, dass das nicht wahr bzw. bloß eine Präferenz ohne Wahrheitswert ist, aber dieser Glaube gehört eben zu meiner Identität.“ (Analog zu: „Ich weiß, dass es für Gott ohne Belang ist, ob ich am Karfreitag Fleisch esse oder nicht, aber der Fleischverzicht gehört eben zu meiner katholischen Tradition.“) Auf den ersten Blick erscheint die Kulturalisierung politisch völlig harm los, ja sogar ausgesprochen attraktiv. Und so erfreut sich die Idee der kultu rellen Differenz nun schon sehr lange großer Beliebtheit, sowohl bei Linken als auch bei Rechten, und erst recht bei denen, die sich als „gemäßigte Mitte“ begreifen. Man streitet natürlich über das rechte Ausmaß von kultureller Heterogenität. Allerdings handelt es sich hierbei an sich schon um eine sehr fragwürdige Idee. Zumindest kann die Kultur nicht das letzte Wort behal ten. Doch ist nicht vielleicht gerade deshalb die umfassende, einen selbst einschließende Kulturalisierung der verlässlichste Schutz gegen aggressiven Dogmatismus und dumpfe Ressentiments? Sagt uns der Kulturalismus nicht,
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dass es überhaupt kein letztes Wort gibt, sondern nur historische Kontingenzen? Und steht daher nicht die Beschreibung dessen, was man mit einer gewissen Regelmäßigkeit tut und denkt, als bloßen Ausdruck einer partikularen kulturellen Identität für Abgeklärtheit und Toleranz? Im Folgenden möchte ich die These verteidigen, dass die Kulturalisierung des eigenen Lebens und des Lebens anderer an einem gravierenden Defekt laboriert bzw. mit erheblichen Gefahren verbunden ist. Allzu leicht gräbt sich der, der sie propagiert und betreibt, dort ein, von wo er gerade weg wollte. Die folgenden Ausführungen handeln aber nicht von der Kulturalisierung einzelner Praktiken (etwa bestimmter religiöser Rituale), welche sich in der Tat als nützlich für alle Betroffenen (Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige) erweisen kann, sondern von einer umfassenderen Kulturalisierung des sozialen Lebens.
3. Der Preis der Kulturalisierung In den 1980er und frühen 1990er Jahren wehte dem Universalismus (zumindest im akademischen Bereich) ein rauer Wind entgegen. Kommunitarismus und Postmodernismus spielten – bei allen Meinungsverschiedenheiten, die sonst zwischen ihnen bestanden – das Lied der kulturellen Differenz. Dem Liberalismus wurde vorgehalten, für eben diese eigentümlich blind zu sein. Was von Liberalen für allgemein gültig gehalten werde, müsse, so die Kritik, als Ausformung oder gar Degenerationssymptom einer ganz partikularen „westlichen“ Kultur angesehen werden, die sich anschicke, hegemonial zu werden bzw. alles mit in den Abgrund zu ziehen. Nicht selten jedoch wurde dabei lediglich eine Karikatur des Liberalismus zur Zielscheibe gemacht. Nicht immer war klar, ob wirklich die liberale Theorie oder die liberal geprägte Gesellschaft kritisiert wurde.91 Oft war aber von einer „Inkommensurabilität“ der Kulturen die Rede, was wiederum die liberale Hoffnung auf rationalen Konsens wenigstens in Fragen der politischen Moral untergraben sollte. Während die einen hauptsächlich eine Abkehr vom universalistischen Individualismus einforderten, gedieh bei den anderen ein Diskurs über „das Andere“ und die Übel des „westlichen“ Essenzialismus. Wir müssten weg von essenzialistischen und hin zu antiessenzialistischen Identitäten, weg vom Biologismus und einem ahistorisch angelegten Rassismus, hin zu „kulturellen Erzählungen“. Unsere Identitäten seien, entgegen rassistischer und nationalistischer Propaganda, Ausdruck unserer vielfältigen und wandelbaren Kultur. Doch wie wir gleich 91
Siehe Stephen Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge, Mass. 1993.
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sehen werden, ist die Kulturalisierung kein wirksames Antidot gegen den Essenzialismus, den man bekämpfen will. Ungefähr zeitgleich mit der theoretischen Fixierung auf Differenz geriet der Egalitarismus in der allgemeinen Politik ins Hintertreffen. Aber auch kommunitaristische Hoffnungen auf stärkere Gemeinschaftsorientierung und Solidarisierung jenseits rationalistisch anmutender moralischer Kalküle wurden enttäuscht. Der Kommunitarismus, der von Anfang an großen Wert auf eine immanente Kulturkritik gelegt hatte, wurde einer zusehends auf Wettbewerb eingestellten Gesellschaft immer fremder. Seine obstinaten Hinweise auf die Bedeutung der Gemeinschaft für die Ausbildung individueller Identitäten haben aber, zusammen mit der verstärkten Migration und die Notwendigkeit, kollektive Autonomiebewegungen zu beschwichtigen, in der Realpolitik zu einer erhöhten Sensibilität für Differenz gesorgt. Freilich, soweit das Differenzdenken praktische Relevanz im konstruktiven Sinne entfalten konnte, musste es sich auf ziemlich harmlose Fälle beziehen: vor allem auf sprachliche und religiöse Unterschiede zwischen ohnehin schon liberaldemokratisch prädisponierten Gruppen.92 Nicht dass nicht auch mit diesen erhebliche politische Probleme verbunden sein können, der Differenzgedanke provoziert aber eher eine Pathetisierung der Unterschiede, als dass er die Grundlage für eine halbwegs vernünftige Konfliktlösung bildet. Allzu rasch ist dann von „kulturellen Spannungen“ die Rede, ohne dass genau angegeben wird, was damit eigentlich gemeint ist. Der Begriff der Kultur wird so gut wie nie erläutert. In der Regel steht er für eine (oft als „hybrid“, „heterogen“ oder „diskontinuierlich“ gedachte) Ganzheit, die einzelnen Individuen überformt und deren Identität „konstituiert“. Auch die liberale analytische Philosophie der Politik, in der es der Kulturbegriff mittlerweile – gekoppelt an den Begriff der Toleranz – ebenfalls zu einiger Prominenz gebracht hat, hat sich bisher nur selten mit tiefschürfenden Analysen hervorgetan. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Nicht dass die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten uniform geworden wäre, aber die Rede von einer zunehmenden „kulturellen Diversität“ findet immer weniger Rückhalt in der Empirie. Zur Illustration eine treffende Beobachtung von Kwame Anthony Appiah: When Jews from the shtetl and Italians from the villagio arrived at Ellis Island, they brought with them a rich brew of what we call culture. They brought a language and stories and songs and sayings in it; they transplanted a religion with specific rituals, beliefs, and traditions, a cuisine of a certain hearty peasant quality, and distinctive modes of dress; and they came with particular ideas about family life. It was often reasonable for their new neighbors to ask what these first-generation immigrants were doing, and why; and a sensible answer would 92
Bei Klitorisbeschneidungen hingegen findet typischerweise auch die liberale Gesprächsbereitschaft ihr Ende.
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frequently have been, „It’s an Italian thing“,„It’s a Jewish thing“, or simply, „It’s their culture.“ In America it is striking how much of this form of difference has vanished. … The rhetoric of diversity has risen as its demographic reality has declined. … There are still seders and nuptial masses, still gefilte fish and spaghetti. But how much does an Italian name tell you, these days, about church attendance, or knowledge of Italian, or tastes in food or spouses? Even Jews, who, given their status as a small non-Christian group in an overwhelmingly Christian society, might have been expected to keep their „difference“ in focus, are getting harder to identify as a cultural group.93
Es hat den Anschein, als ob der Begriff der Kultur, genauer: der umfassende anthropologische Begriff der Kultur94, welcher eben nicht nur Kunst und Bildung meint, just zu einem Zeitpunkt in Mode gekommen ist, da sein Gegenstand verschwindet. Je weniger klar die Abgrenzung von „Kulturen“, je nachhaltiger soziale Bereiche wie die Wirtschaft oder die Wissenschaft sich zu globalen Strukturen verfestigen, desto emphatischer „kulturelle Identifikationen“. Das ist zumindest bemerkenswert. Nach systemtheoretischer Auffassung gehört die Unbestimmtheit nachgerade zum „Wesen“ der Kultur, oder wie Niklas Luhmann es ausdrückt: „Kultur ist zunächst einfach eine Verdoppelung aller Artefakte, Texte eingeschlossen. Neben ihrem unmittelbaren Gebrauchssinn gewinnen sie einen zweiten Sinn, eben als Dokumente einer Kultur.“95 Kultur ist demnach nicht einfach ein distinkter Bereich der Gesellschaft. Kultur ist das, was wir sehen, wenn wir soziale Phänomene als kontingente Phänomene beobachten und sie von etwaigen Geltungs- und Rationalitätsansprüchen, mit denen sie ursprünglich verbunden waren, entkleiden. So hat „der Westen“ in der Zerstörung von Buddha-Statuen durch die Taliban in Afghanistan zuallererst eine Zerstörung von Kulturgütern gesehen, während sie für die Taliban selbst eine Aktion gegen ein konkurrierendes Glaubenssystem war.96 Die Taliban haben die buddhistischen Denkmäler in einem gewissen Sinne also ernster genommen als die (meisten) Europäer oder Amerikaner. Letztere würden auch die Taliban als Vertreter einer Kultur, nämlich einer Bekenntniskultur, ansehen, während die Taliban selbst sich nicht bloß als Kultur neben anderen verstehen. Der Schluss, eine kulturalistische Betrachtung der Welt einschließlich der eigenen Person mache freundlicher und toleranter oder sei zumindest ein wesentliches Merkmal des (auch über die Aufklärung) aufgeklärten Menschen, 93
Kwame Anthony Appiah, The Ethics of Identity, Princeton/Oxford 2005, 114f. Für eine deutliche Kritik am grassierenden Kulturalismus aus sozialanthropologischer Perspektive siehe Adam Kuper, Culture. 95 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, 145. 96 So die scharfsinnige Beobachtung bei Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt/M. 2003, 9f. 94
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wäre jedoch etwas voreilig. Wir können durchaus bewusst Kultur in dem Sinne produzieren, dass wir Dinge tun, ohne wirklich an sie zu glauben, und wir können auch vom segensreichen Potenzial solcher Praktiken überzeugt sein. Und zweifellos könnten wir uns auf die Žižek’sche Definition einigen, wonach unsere eigene Kultur eben das und nur das umfasst, was wir ohne echte Überzeugung tun.97 Doch sehr weit wären wir damit nicht gekommen. Schließlich finden wir derartige Praktiken in allen sozialen Bereichen. Elemente des Spiels, d. h. der von sämtlichen Wahrheitsansprüchen befreiten Konventionalität kommen im Rechtsstreit genauso vor wie in der wissenschaftlichen Kontroverse, im politischen Kampf um Wählerstimmen und in religiösen Ritualen. Mit der Kultur würde es sich jedenfalls noch immer ähnlich verhalten wie mit der Moral. Sie würde keinen bestimmten sozialen Bereich konstituieren. Aber während es gute moralische Gründe gegen eine umfassende Moralisierung der sozialen Praxis gibt, gibt es keine kulturellen Gründe gegen eine umfassende Kulturalisierung. Die Kulturalisierung kennt keine Grenzen und wird spätestens dann zum Problem, wenn sie individuelle Identität begründen soll. Zumindest birgt die kulturalistische Selbstrelativierung genau jenen Keim des Ernstes und letztlich sogar des Hasses auf den Anderen in sich, dessen Auslöschung ihr Zweck sein mag. Den ersten Schritt zu dieser Einsicht bildet die triviale Erkenntnis, dass die individuelle kulturelle Identität sich nur über die Vermittlung durch eine kollektive herstellt, Kultur also ein Gemeinschaftsprodukt ist. Allerdings kann ein Kollektiv, welches von seinen Mitgliedern als Kulturgemeinschaft definiert wird, nicht mit seiner Kultur deckungsgleich sein. Denn selbst bei Subsumierung jedweder Lebensäußerung unter „Kultur“ bleibt offen, wie man von einzelnen Praktiken zu halbwegs eindeutig abgrenzbaren Kulturen gelangt, die das individuelle Handeln erklären sollen. So meint Clifford Geertz: Das Bild einer Welt, die gesprenkelt ist mit verschiedenen Kulturen, übersät mit unverbundenen kleinen und größeren Einheiten des Denkens und Fühlens, … ist um nichts weniger irreführend als die Vorstellung einer säuberlichen Einteilung der Welt nach dem regelmäßigen Muster einförmiger Nationalstaaten. … Wir sind vielmehr konfrontiert mit einem nur teilweise entwirrbaren Knäuel von Unterschieden und Ähnlichkeiten.98
Tatsächlich bleibt die Entwirrung dieser Knäuel letzten Endes arbiträr. Mit dem Vergleich von Kulturen wird eine Ebene über dem Verglichenen, welches zugleich unterschieden und gleichgesetzt wird, in Anspruch genommen. Etwa von den Wortführern eines Kollektivs, dessen Angehörige genau ein solches sein möchten. Kein Kollektiv existiert ohne einen derartigen Vergleich. 97
Ebd., 9. Clifford Geertz, Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1996, 73f.
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Es sind immer die Angehörigen einer Kultur selbst, die, soweit ihnen diese Entscheidung nicht gerade durch Stigmatisierungen seitens des sozialen Umfelds abgenommen worden ist, mit ihrer Ein- und Ausschlusspolitik bestimmen, welche Facetten ihrer Lebensverhältnisse schützenswerte und vor allem vergleichbare Kultur sind. Erst mit dieser Entscheidung werden ihre Lebensverhältnisse zum sinnvollen und identitätsstiftenden Kontext. Und da sie eine solche ohne diese Entscheidung nicht wären, sind sie es auch nicht ausschließlich. Was das Kollektiv seiner Kultur voraus hat, ist der vergleichende Blick. Denn wer Kulturen miteinander vergleicht, hat die entsprechenden Kollektive (Mehrheit und Minderheit beispielsweise) immer schon vorausgesetzt, das eine wie das andere. Im Vergleich konstituiert sich das Volk gleichsam rückwirkend. Am deutlichsten kommt das in der Tatsache zum Ausdruck, dass die Streuung der als kulturell ausgewiesenen Praktiken innerhalb einer Gruppe keineswegs gleichmäßig sein muss. Die „gemeinsame Kultur“ muss sich nicht auf alle Mitglieder der Gemeinschaft gleich verteilen. Nicht einmal starre Hierarchien schließt sie aus. Bei größeren Kollektiven wie z. B. Nationen ist es sogar regelmäßig der Fall, dass Praktiken, die lediglich von einer Minderheit zu bestimmten Anlässen gepflegt werden, eine besondere Bedeutung für die „Identität“ des Kollektivs und die nationale Identität der Einzelnen beigemessen wird. Umgekehrt kann jedes Alltagsphänomen, das sich irgendwo innerhalb eines sich als solches begreifenden Kollektivs beobachten lässt, und sei es noch so ephemer oder banal, als Kulturmerkmal zu einem konstitutiven Moment desselben erhoben werden. Nicht selten sind es sogar kleine, lächerliche Ticks oder sprachliche Akzente, die als eine Art Schibboleth aus einer Menge von Personen eine Identität stiftende Gruppe machen. Letzteres wird erst durch die oben angesprochene Unterdeterminiertheit des Kulturbegriffs möglich gemacht.99 Die entscheidende Frage kann also nicht lauten: Was ist die gemeinsame Kultur, die Menschen zu einer Gruppe verbindet? Worauf es ankommt, ist die Funktion des jeweiligen Definitionsaktes. Wie Geertz bemerkt: Serben werden zu Serben, Singhalesen zu Singhalesen, Frankokanadier zu Frankokanadiern, irgendwer zu irgendwem, weil sie und der Rest der Welt begonnen haben, Serben, Singhalesen und Frankokanadier von ihrer jeweiligen Umge99
Besonders signifikante Beispiele solcher Verdoppelungen sind neben den eingangs erwähnten die Versuche, regional eigentümliche Praktiken und Institutionen mit dem Verweis auf ihre identitätsstiftende Funktion gegen Kritik „von außen“ zu immunisieren. Die „gemeinsame Kultur“ kann alles absorbieren, was unterscheidet. So wurde in Österreich die Beibehaltung der hinsichtlich ihrer EU-Rechtskonformität zumindest bedenklichen Anonymität von Sparkonten unter anderem mit dem Argument beworben, diese sei eben Ausdruck heimischer „Sparkultur“. Einige Jahre davor war es die farbliche Gestaltung der Kfz-Kennzeichen, die Österreich von anderen Nationen abheben sollte.
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I. Bekenntnis
bung abzuheben – auch wenn dies nur vorübergehend und zu bestimmten Zwecken und in bestimmten Zusammenhängen der Fall ist.100
Tatsächlich werden aber immer wieder, über lange Zeiträume hinweg, dieselben Abgrenzungsentscheidungen getroffen. Sind diese Entscheidungen also vielleicht selbst „Kulturmerkmal“, insofern sie eine Tradition bilden? Man könnte ja behaupten, der Witz bestünde gerade darin, dass die „eigenen Leute“ das immer schon so gemacht haben. Nach dem oben beschriebenen Modus des Aberglaubens: „Unsere Vorfahren dachten …“ oder „Wir wissen, dass es für diese Entscheidungen eigentlich keinen vernünftigen Grund gibt, aber dennoch …“ In diesem Fall würde sich wieder das Paradox zeigen, dass das Kollektiv, obwohl es sich über sie definiert, nicht mit seiner Kultur zusammenfällt. Erweitert man die „Kultur“ um ein bisschen „Geschichte“, könnte sie sich eventuell konsolidieren, zumal Abgrenzungsentscheidungen ganz zweifellos niemals außerhalb Letzterer getroffen werden. Damit würde man aber übersehen, dass die Geschichte immer noch als eigene identifiziert werden muss, um eine „Quelle des Selbst“ (Charles Taylor) sein zu können, mithin das Dilemma der „eigenen Kultur“ bestehen bleibt. Und diesen Identifikationsakt nimmt ja nicht das Kollektiv als solches vor, sondern jedes seiner Mitglieder als Individuum. Das bedeutet nicht, einem rohen Solipsismus das Wort zu reden; es bedeutet nur, dass man sich seiner Kultur nicht einfach bewusst wird. Man muss schon etwas, mehr tun (bzw. getan haben), wenn auch unmerklich oder unbewusst, eben differenzieren. Man könnte natürlich immer fragen, wie es kommt, dass von den Einzelnen diese und nicht andere Unterscheidungen getroffen werden, wie die Motivationsgrundlage bzw. die „Kostenstruktur“ für die „gewählten“ und die „nicht gewählten“ Optionen aussieht. Hier beginnt auch die politische Analyse, und nicht etwa mit der Feststellung, Konflikte zwischen Gruppen hätten einfach eine sehr lange Tradition. Mit einem berühmten Diktum Jacques Derridas könnte man das Problem der Kultur folgendermaßen zusammenfassen: Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, „ich“, „wir“ oder „uns“ sagen und die Gestalt eines Subjekts annehmen kann, als sie nicht mit sich selber identisch ist … Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst.101
Der Ausdruck „Differenz mit sich selbst“ bezieht sich auf die Tatsache, dass im Fall einer kulturellen Identität ein Definitionsakt als Akt der Erkenntnis ausgegeben wird. Die Kultur formuliert, gerade weil sie potenziell ein Doppel von allem ist, „ein Problem der ‚Identität‘, das sie für sich nicht
100
Clifford Geertz, Welt in Stücken, 74. Jacques Derrida, Das andere Kap, Frankfurt/M. 1992, 12f.
101
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lösen kann“102, was jedoch seinerseits den Rekurs auf „Kultur“ als zentralen Topos einer politischen Theorie problematisch macht. Statt ein Problem zu lösen, formuliert oder schafft die Kultur also ein Problem. Wenn Kultur das ist, was nicht ernst genommen, weil unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz und Wandelbarkeit beobachtet wird, kann sie keine Identität begründen. Das kann nur etwas, das nicht ganz so wandelbar ist: halbwegs feste Überzeugungen oder Rasse. Überzeugungen sind aber typischerweise nicht das Ergebnis einer Identitätssuche. Liberale sind nicht zur Überzeugung gelangt, dass Religionsfreiheit etwas Gutes, ja ein Menschenrecht sei, indem sie die Frage erörterten, was ihrer Identität entspreche. Gleichwohl ist diese Überzeugung einer der Eckpfeiler ihrer politischen Identität. Zu Identität stiftenden Überzeugungen bzw. Werten gelangt man nur dann, wenn man das Motiv der Identität beim Nachdenken ausblendet. Ein Volk, das sich zuallererst um seine Identität Sorgen macht, landet viel eher bei rassistischen Affekten, die es sich dann vielleicht noch kulturalistisch schönredet. Wer von den „unterschiedlichen Kulturen“ spricht, riskiert also immer, etwas mitzukommunizieren, das über das Kulturelle hinausgeht: eine bestimmte weitgehend unveränderliche Substanz. Deshalb befindet sich die Kulturrhetorik – in der Regel entgegen ihren Absichten – in einer verdächtigen Nähe zum Rassismus.103 So meint etwa Will Kymlicka, dass es notwendig sei, die Frage der Existenz einer Kultur von der Frage nach ihren Charakteristika zu unterscheiden. Zu dieser Unterscheidung sieht er sich durch die offenkundige Tatsache genötigt, dass sich Kulturen mit den Entscheidungen ihrer einzelnen Angehörigen verändern.104 Aber damit gerät er in Teufels Küche. Denn wie Appiah betont: „to establish the identity of a culture without reference to the nature of the culture … leads us toward something conceptually congruent to race.“105 Was daraus praktisch folgt, dürfte auf der Hand liegen: die Empfehlung, im politischen Diskurs und bei der politischen Analyse auf den quasi-anthropologischen Kulturbegriff möglichst zu verzichten. Eher blockiert er Einsichten, als dass er sie befördert.106 Natürlich kann weiterhin 102
Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, 41f. Siehe dazu Walter Benn Michaels, „Race into Culture: A Critical Genealogy of Cultural Identity“, in: Kwame Anthony Appiah/Henry Louis Gates jr. (eds.), Identities, Chicago 1995, 32–62. 104 Will Kymlicka, Multicultural Citizenship: A Liberal Theorie of Minority Rights, Oxford 1996, 104. 105 Kwame Anthony Appiah, The Ethics of Identity, 136. 106 So konstatiert der Wirtschaftsgeograph Christof Parnreiter in der Diskussion über die Ursachen der sozialen Probleme Boliviens völlig zutreffend, „dass das Problem, ob und wie ‚Entwicklung‘ und ‚Kultur‘ zusammenhängen, in den Sozialwissenschaften so widersprüchlich diskutiert wird, dass das, was ‚Kultur‘ erklären soll, unklar bleibt. Ja, das Kulturargument ist der völligen Beliebigkeit 103
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I. Bekenntnis
von religiösen und sprachlichen Differenzen gesprochen werden. Die damit verbundenen politischen Probleme sollten aber nicht noch potenziert werden, indem man sie in eine Kulturrhetorik packt. Eine solche impliziert nämlich immer, dass hinter dem, was Menschen denken, sagen und tun, noch etwas mehr steckt, etwas Mysteriöses, das sie – als Repräsentanten einer „anderen Kultur“ – uns auf ewig fremd macht. Möglicherweise ist ein aufrechter Kulturalist tatsächlich weniger geneigt, seine Überzeugungen anderen aufzunötigen. Der Preis dafür wäre jedoch ein hoher. Zum einen verbindet den Kulturalisten noch allzu viel mit dem Rassisten; zum anderen müsste er nicht nur seine einzelnen Überzeugungen relativieren, sondern den Begriff der Wahrheit selbst. Er müsste den Widerspruch aushalten, der im Begriff der relativen Wahrheit enthalten ist (wenn dies überhaupt ein Begriff ist). Und es fällt schwer zu glauben, dass der Zwang zur haltlosen diskursiven Bescheidenheit gar keine Frustrationen erzeugen würde. Außerdem könnte die ständige Konfrontation mit dem „Fremden“ als Bedrohung des „Eigenen“ aufgefasst werden. Der Kulturalist hat vielleicht weniger Missionierungsambitionen, dafür aber einen umso stärker ausgeprägten „Selbstschutzinstinkt“. Wenn der Kulturalist dabei noch „tolerant“ bleiben möchte, muss er einiges an Aggression in Zaum halten. „Gemäßigte“ Kulturalisten, die sich in der politischen Mitte verorten, stehen deshalb ständig an der Kippe zwischen passiver und aktiver Aggression. Und sobald sie das Motiv der „Leitkultur“ von den deklarierten Rechten übernehmen, beginnen sie konfuse Dinge zu sagen. Beispielhaft dafür ist eine Aussage des ÖVP-Generalsekretärs Missethon: „Ich … stehe Minaretten sehr skeptisch gegenüber. Auch wenn unser Wert der Religionsfreiheit von mir nicht infrage gestellt wird. Aber nun wird hier bei uns schon so getan, als ob das alles zu Österreich gehöre.“107 Auch und gerade linke Kulturalisten, „Multikulturalisten“, denen weniger am „Eigenen“ als am Schutz des „Fremden“ gelegen ist, tun sich nicht leicht. Üblicherweise bezieht sich ihre anheim gefallen, wie sich am Beispiel der so genannten ‚asiatischen Werte‘ zeigen lässt: Stellten sie bei Max Weber noch ein Entwicklungshemmnis für Ostasien dar, erfreuten sie sich einige Jahrzehnte später großer Beliebtheit, um den Aufstieg der ‚Tigerstaaten‘ zu erklären. Kaum aber hatte ein Finanzcrash die ‚Emerging‘ in ‚Emergency Markets‘ verwandelt, waren aus den produktiven ‚asiatischen Werten‘ wie Kollektivismus oder Gehorsam plötzlich ‚Freunderlwirtschaft‘ und ‚Tyrannei‘ geworden, die für die Krise verantwortlich gemacht wurden. Und das katholische Mexiko wurde den Thailändern als Vorbild gepriesen . . . Man sieht, auf die Kultur ist kein Verlass. Mit dem Verweis auf angeblich rückständige Mentalitäten können weder Armut als Zustand noch Verarmung als Prozess erklärt werden.“ („Fluch der Kultur? Macht der Gewohnheit?“, in: Der Standard vom 23. 12. 2005) 107 Der Standard vom 14. 9. 2007. Deklarierte Rechte machen für gewöhnlich kein Aufheben um liberale Prinzipien. Dass eine Botschaft konfus vorgetragen wird, heißt freilich nicht, dass sie bei den Adressaten nicht ankommt.
3. Der Preis der Kulturalisierung
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Begeisterung für das Fremde ohnehin nur auf ziemlich Harmloses (Speisen, Musik, Bekleidung etc.), mithin auf das, was von den Fremden selbst schon als Kultur beschrieben wird. Bei Praktiken wie der Klitorisbeschneidung sind hingegen ernsthafte Bekenntnisse im Spiel, wie dumm und unaufgeklärt diese auch immer sein mögen. Und damit hat auch der Multikulturalist zumindest ein Problem. Soweit der von allen ernsthaften Wahrheitsansprüchen absehende Kulturalist also seine Position durchhält, verdankt er dies wahrscheinlich wieder einer Art Lust, die aus der Unlust erwächst. Er bekennt sich nicht mehr direkt zu inhaltlichen Positionen, sondern zu seiner Kultur. Oder aber er bleibt ein – inkonsistenter – Liberaler, der lediglich fremde Kulturen für schützenswert hält. Hätten wir es in einem solchen Fall nicht wieder mit dem Gegenteil von hedonistischer Lustorientierung zu tun, also mit einem klassischen Fall von Selbstdisziplinierung? Und könnte diese Selbstdisziplinierung nicht ihrerseits Überlegenheitsgefühle erzeugen?108 Um Kulturen voneinander unterscheiden zu können, müssen wir also mehr tun, als nur beobachten, was die Menschen regelmäßig tun. Letzteres tun wir ohnehin, wenn wir mit ihnen zusammenleben. Und wir wissen natürlich, dass verschiedene Menschen höchst verschiedene Dinge tun. Soweit wir sie dabei verstehen, können sie uns nicht völlig fremd sein. Wenn wir aber die Praktiken „Kulturen“ zuordnen und daraus irgendwelche politischen Schlussfolgerungen ziehen, haben wir, gerade weil der Begriff direkt auf etwas Historisches und damit Veränderliches verweist, ein ahistorisches Element vorausgesetzt, das dem Beobachteten Einheit verleiht. Nun wird man vielleicht einwenden wollen, auch Praktiken wie arbeiten zeichneten sich nur durch eine gewisse Familienähnlichkeit aus. Indes, im Unterschied zu „Kultur“ bezieht sich der Begriff der Arbeit nicht auf alles, was regelmäßig gedacht und getan wird. Es gibt soziale Praktiken, die wir nicht unbedingt unter „Arbeit“ subsumieren, wie z. B. spazieren gehen, sich mit Freunden unterhalten oder spielen; es gibt aber keine sozialen Praktiken, die – aus einer bestimmten Perspektive betrachtet – nicht auch kulturelle Praktiken sind. 108
In der Wirklichkeit scheint alles noch eine Spur komplizierter. Eine Analyse wert wäre in diesem Zusammenhang sicher der offizielle Diskurs der USA. Einerseits handelt dieser von der Notwendigkeit, den eigenen „way of life“ zu verteidigen; andererseits wird der „amerikanischen Lebensweise“ ein derart großes Universalisierungspotenzial unterstellt, dass man sie auch anderen „anzubieten“ habe. Kulturalismus und Bekenntnis im Sinne von Wahrheitsansprüchen gehen hier Hand in Hand. Das Bindeglied bildet möglicherweise das Motiv des „auserwählten Volkes“. (Ob es wirklich der religiöse Eifer und die kulturelle Identität sind, die die amerikanische Außenpolitik bestimmen, wie viel Bedeutung tatsächlich den Erweckungserfahrungen des „wiedergeborenen Christen“ Bush zukommt, darüber möchte ich nicht spekulieren. Auch nicht darüber, ob man Bush wirklich echten Glauben unterstellen kann. Tatsache ist jedoch, dass der von der Adminis tration gepflegte Diskurs die Massen überzeugt.)
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I. Bekenntnis
Hier kommt, so könnte man mit Blick auf Pfaller hinzufügen, eine spezielle Art von Bekenntnis ins Spiel, nämlich ein Bekenntnis, das gerade deshalb abgegeben wird, weil es im Grunde gar nichts zu erkennen gibt. Wer dieses Bekenntnis zur „eigenen Kultur“ verweigert, wird daher auch eher als Verräter denn als Irrender angesehen. Wer sich aber bekennt, erwirbt genau jene bornierte Selbstachtung, nach der – Pfaller zufolge – Angehörige von Bekenntniskulturen streben und die letzten Endes ebenso dogmatisch wie unglücklich macht.109 Für das Bekenntnis im Sinne der Affirmation einer Überzeugung, die tatsächlich für wahr gehalten wird, gilt dies nicht unbedingt. Ob mich eine Überzeugung unglücklich oder gar dogmatisch und aggressiv gegenüber anderen macht, hängt ab von ihrem Inhalt, von vielen weiteren Überzeugungen, die ich habe, und nicht zuletzt vom Zustand der Welt. Umgekehrt scheinen die starken moralischen Gefühle, wie sie etwa durch die massenmediale Berichterstattung über Gewalt- und Sexualverbrechen provoziert werden, und die damit verbundenen politischen Forderungen kaum von irgendeinem Bekenntnis getragen zu sein. Man könnte sogar vom Vorherrschen einer affektgesteuerten „reaktiven Moral“ in der Bevölkerung sprechen, oder von „moralischem Situationismus“ (Peter Strasser). Je nachdem, ob gerade ein spektakulär abscheulicher Mordfall bekannt geworden ist oder nicht, votiert die Mehrheit für oder gegen die Todesstrafe. Wozu bekennt sich jemand, der wöchentlich seine Einstellung zur Todesstrafe ändert? Aus einem bloßen Bekenntnis zur „eigenen Kultur“ kann aber auch wieder ein Bekenntnis im Sinne des Erhebens eines Wahrheitsanspruchs werden. Nämlich dann, wenn die „anderen Kulturen“, etwa muslimische Fundamentalisten, allzu aufdringlich werden. So konstatiert der Soziologe Schulze ein Anwachsen des Drucks, „neben die elegante Haltung von Selbstironie und lässiger Selbstwidersprüchlichkeit ein positives, explizites und durchaus moralisches Bekenntnis zur westlichen Glückssuche zu stellen“.110 Wenn meine Analyse zutrifft, hat der Kulturalist nur mehr drei Optionen: (1) seinen Kulturalismus aufzugeben und Objektivist zu werden; (2) den Kulturrelativismus durch einen Subjektivismus zu ersetzen; (3) sich offen zu einem rassistischen Obskurantismus zu bekennen. Wenn er sich für (1) entscheidet, muss sich gar nicht viel ändern. Denn der Antidogmatismus und die Fähigkeit, Abweichungen zu ertragen, stehen ohnehin in keinem logischen Zusammenhang mit dem Kulturalismus. Innerhalb der eigenen Kultur verlangt der (rechte) Kulturalist ja wieder Bekenntnisse. Einen moderaten Relativismus, der die Gültigkeit von Urteilen nicht auf kulturelle Ganzheiten beschränkt, aber durchaus von einigen sozialen und damit 109
Siehe Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 257, wo von der als „unlustvoll erfahrene[n] Lust der Selbstachtung“ die Rede ist. 110 Gerhard Schulze, Die Sünde, 231.
3. Der Preis der Kulturalisierung
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veränderlichen Rahmenbedingungen abhängig macht, könnte der vormalige Kulturalist ebenfalls weiter vertreten. Er würde nur nicht mehr sagen „p ist wahr nur in Kultur K“, sondern eher „p ist wahr genau dann, wenn die Bedingungen B1 bis BN erfüllt sind“, und jedenfalls nicht einfach „p ist wahr, weil die Menschen in K p für wahr (in K) halten“. (Wir kommen später noch darauf zurück.) Aber vielleicht stehen besagte Tugenden der Toleranz (soweit sie Tugenden sind) in einem Zusammenhang mit dem Subjektivismus, der den Gültigkeitsbegriff wenigstens für manche Urteile überhaupt verabschiedet. So könnte jemand einwenden: „Gut, der Kulturalismus lässt sich nicht wirklich durchhalten, und eine ‚Entscheidung‘ für (3) wäre ein Schritt in den Irrationalismus, aber warum nicht (2) wählen, vorausgesetzt, der Subjektivismus beschränkt sich auf relativ wenige Überzeugungen – welche dann eben keine echten Überzeugungen mehr wären? Wenn es schon nicht möglich ist, sämtliche unserer Überzeugungen nur ganz locker und spielerisch zu vertreten, wäre uns nicht gedient, wenn wir bestimmte unserer Überzeugungen in bloße Wünsche oder Geschmacksurteile transformieren oder zumindest im Hinterkopf behalten, dass sie nichts anderes sind?“ Doch welche Überzeugungen sollten das sein? Wohl hauptsächlich moralische oder allgemein politische. Sollten wir also normative und evaluative Überzeugungen generell in Zweifel ziehen?111 Die beliebteste und auch gröbste Strategie, die Wahrheit ethischer Aussagen in Zweifel zu ziehen, besteht darin, ihre Wahrheitsfähigkeit anzuzweifeln, indem man fragt, wo denn die Gegenstände (Werte) seien, die moralische Urteile wahr machen könnten. Unvorbereitet bringt einen diese Frage durchaus in Verlegenheit und legt einen Rückzug nahe: In Wirklichkeit seien moralische Aussagen grammatisch verkleidete Bekundungen subjektiver Präferenzen; moralische Überzeugungen seien zwar wichtig, sollten aber eigentlich in der Form des Aberglaubens existieren – nicht unbedingt weil uns das glücklicher machen würde, sondern weil wir nur als bewusst Abergläubische unserem Selbstbild als vernünftige und aufgeklärte Wesen gerecht werden könnten.
111
Von nun an ist Pfaller freilich aus dem Gespräch entlassen. Zum einen denkt er vermutlich nicht an eine bestimmte Klasse von Überzeugungen, von denen wir nicht mehr ernsthaft überzeugt sein sollten; zum anderen richtet sich seine gesamte Argumentation gegen den Rationalismus im philosophischen Mainstream. Insbesondere moniert er die „Glücksvergessenheit“ der heutigen Philosophie, die, so lässt sich diese These vielleicht verstehen, zu sehr an Fragen der Begründung von Normen und Werten interessiert sei (Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 242). Ich denke nicht, dass er allzu viele Einwände gegen das hätte, was folgt. Zumal auch ich gegen rationalistische Überambitioniertheit argumentiere.
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I. Bekenntnis
4. Der metaethisch-ontologische Irrweg Die berühmteste philosophische Version des ontologischen Einwands gegen ethische Objektivität stammt von David Hume. Um nachzuweisen, „dass Laster und Tugend keine Tatsachen sind, deren Dasein wir durch die Vernunft erkennen können“, schlägt er vor, sich einmal einen absichtlichen Mord etwas näher anzusehen: Betrachtet denselben von allen Seiten und seht zu, ob Ihr das tatsächliche oder realiter Existierende finden könnt, was Ihr Laster nennt. Wie Ihr das Ding auch ansehen möget, Ihr findet nur gewisse Affekte, Motive, Willensentschließungen und Gedanken. Außerdem enthält der Fall nichts Tatsächliches. Das „Laster“ entgeht Euch gänzlich, solange Ihr nur den Gegenstand betrachtet.112
Diese Passage ist schon deshalb bemerkenswert, weil sie den zentralen Gegeneinwand nachgerade mitformuliert. Hume verweist darin nämlich auf mentale Zustände wie Affekte und Gedanken, die man genauso wenig „sieht“ wie Werte. Wenn wir eine Tötung als Mord ansehen, haben wir u. a. ausgeschlossen, dass es für sie einen Rechtfertigungsgrund gibt oder dass eine „allgemein begreifliche heftige Gemütserregung“ (§ 76 öStGB) vorliegt. Andernfalls würden wir nur eine Tötung sehen. Einen Mord als solchen zu erkennen schließt gewisse Werturteile bereits ein. In jüngerer Zeit hat John Mackie mit seinem „Argument aus der Absonderlichkeit“ denselben Einwand gegen den Werteobjektivismus erhoben wie Hume: Worin liegt die Verbindung zwischen der natürlichen Tatsache, daß eine Handlung einen Akt absichtlicher „Grausamkeit“ – d. h. ein Zufügen von Schmerzen rein aus Spaß – darstellt, und der moralischen Tatsache, daß sie falsch ist? Es kann sich dabei nicht um eine Schlußfolgerung, nicht um eine logische oder analytische Notwendigkeit handeln. Dennoch ist das Zusammentreffen dieser beiden Eigentümlichkeiten nach Auffassung der Objektivisten auch nicht zufällig. Die Falschheit muß den deskriptiven Eigenschaften dieser Handlung irgendwie „nachfolgen“ [consequential], zu ihnen „hinzutreten“ [supervenient]; eine solche Handlung ist falsch, weil sie ein Zufügen von Schmerzen rein aus Spaß darstellt. Doch was in aller Welt ist mit diesem „weil“ gemeint? Und woher wissen wir um die so charakterisierte Beziehung, wenn es sich dabei um mehr handeln sollte als um die Tatsache, daß solche Handlungen gesellschaftlich – und auch von uns selbst, vielleicht weil wir uns die Einstellung unserer sozialen Umwelt zu eigen gemacht haben – verurteilt werden? Es genügt keineswegs, ein Vermögen anzunehmen, mit dem man die moralische Falschheit erkennen kann; man muß eine Fähigkeit voraussetzen, mit der wir zugleich sowohl die natürlichen Eigenschaften, die Grausamkeit ausmachen, als auch die sittliche Falschheit, als 112
David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch III. Über die Moral, Hamburg 1978, 210 (Hervorhebung im Original).
4. Der metaethisch-ontologische Irrweg
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auch die geheimnisvolle Beziehung zwischen diesen beiden Arten von Eigenschaften erkennen.113
Wäre es nicht fatal, wenn Mackie und Hume recht hätten? Zwar glaubt Mackie, dass wir es hier nur mit einem metaethischen Problem zu tun hätten, welches Nichtphilosophen nicht weiter zu kümmern brauche, doch könnte man genauso gut auch Zweifel haben an seiner Unterscheidung zwischen Ethik (die uns alle angehe) und Metaethik (die nur von philosophischem Interesse sei). In der Tat: Wie könnten wir verfahren wie bisher und gleichzeitig denken, dass wir uns dabei nur einer Illusion hingeben? Dass man sich bewusst einer Illusion hingeben kann, wissen wir bereits. Wir lassen uns von Filmen zu Tränen rühren und in höchste Anspannung versetzen, wir fiebern mit einem Fußballteam mit, dessen Erfolge oder Misserfolge für unser „wirkliches“ Leben belanglos sind, wir sprechen mit unseren Haustieren fast wie mit Menschen. Wir tun dies, obwohl wir es besser wissen. Mit anderen Worten, wir agieren abergläubisch („Ich weiß, aber dennoch …“). Unser Leben wäre ohne Aberglauben bedeutend ärmer. Doch sollten wir unsere moralischen Überzeugungen auch als Aberglauben ansehen und sie beibehalten, ohne sie allzu ernst zu nehmen? Ich bin nicht sicher, wie so etwas gelingen könnte, aber es hat den Anschein, als ob es manchen Menschen gelingen würde. Es scheint Menschen zu geben, die ein lockereres Verhältnis zu ihren moralischen Überzeugungen unterhalten als andere, die vieles „nicht so eng sehen“, mithin weniger dazu neigen, moralisch entrüstet und selbstgerecht zu sein, und zwar ohne nennenswert unmoralisch zu leben – Menschen mit Stil sozusagen. Es scheint, dass solche Menschen sich auf ihre Moral nicht allzu viel einbilden und sie als eine Art Spiel, ein Sprachspiel, betrachten. Doch beruht ein derartiger Antidogmatismus wirklich darauf, dass die moralischen Überzeugungen in der Form des Aberglaubens (und nicht des Bekenntnisses) existieren? Ist es wirklich der Zweifel an der Wahrheits fähigkeit moralischer Urteile, der die Gelassenheit hervorruft? Vor allem: Ist es die Tatsache, dass sie eine metaphysische Illusion durchschauen, die den Zweifel bewirkt? Selbst wenn dem ontologischen Argument eine derar tige Wirkungsmacht zugeschrieben werden kann, ist es ein gutes Argument gegen die Wahrheitsfähigkeit ethischer Urteile? Angesichts der Tatsache, dass ein solcher Zweifel auch unerwünschte Effekte zeitigen könnte, nämlich eine Degeneration der moralischen Praxis in situationistischen Senti mentalismus, ist die Erörterung dieser Frage nicht mit jenem trübsinnigen Streben nach Selbstachtung gleichzusetzen, wie es manchmal dem verzweifelten Bemühen, die Existenz Gottes zu beweisen, zugrunde zu liegen scheint. Wir werden allerdings gleich sehen, dass der bloß ontologische 113
John Leslie Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart 1983, 48 (Hervorhebung im Original).
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Zweifel an der Existenz von Werten analog zur Existenz von Häusern und Bäumen den ethischen Objektivisten nicht zu erschüttern braucht. Tatsächlich stellt, wer sagt, die gegenwärtige Verteilung von Vermögen sei wirklich höchst ungerecht, in der Regel gar keine ontologische Behauptung auf, auch nicht implizit. Insbesondere behauptet er nicht, seine Aussage korrespondiere mit den Tatsachen eines zum natürlichen parallelen moralischen Universums.114 Aber muss er dies nicht, um einen Wahrheitsanspruch erheben zu können? Stellen wir einen auf den ersten Blick etwas waghalsigen Vergleich an: Die moderne Physik beruht zu einem Gutteil auf Mathematik, deren Aussagen genauso wenig offenkundig mit irgendetwas ontologisch Vorgängigem korrespondieren wie moralische Aussagen. Wenn aber die Mathematik nicht objektiv wäre, könnte es die Physik auch nicht sein. So meint Hilary Putnam: Everything about the success of mathematics, and the deep dependence of much contemporary science, including physics, but not only physics, on mathematics, supports taking mathematical theorems as objective truths; but nothing supports taking mathematical theorems as descriptions of a special realm of „abstract entities“, and nothing is gained, in philosophy of mathematics or elsewhere, by doing so.115
Nun könnte jemand erwidern, es seien ja nicht Objekte, mit denen wahre Aussagen korrespondieren, sondern Tatsachen, und es gebe eben keine moralischen Tatsachen in der Welt. Doch „Ein Satz korrespondiert einer Tatsache“ ist lediglich eine etwas geschraubte Formulierung der Aussage, dass der Satz wahr sei. Keine Tatsache ist in der Welt. Mit Peter Strawson gesprochen: „Tatsachen sind das, was Aussagen (sofern sie wahr sind) aussagen; sie sind nicht das, worüber etwas ausgesagt wird.“116 Mit anderen Worten: Korrespondenztheorien der Wahrheit laborieren immer schon daran, nichts Bestimmtes angeben zu können, womit wahre Sätze korrespondieren (so genannte „Wahrmacher“). Sogar Objekte lassen sich nur identifizieren, indem man sie in einen Bezugsrahmen stellt, der dann zu dem gehören müsste, womit der Satz korrespondiert. Wenn also wahren Sätzen irgendetwas korrespondiert, ist es letzten Endes, so der Einwand, die gesamte Welt. Damit wird die Korrespondenzbeziehung völlig uninteressant.117 114
Ausführlich dazu Ronald Dworkin, „Objectivity and Truth: You’d Better Believe It“, in: Philosophy and Public Affairs 25 (1996), 87–139. 115 Hilary Putnam, Ethics Without Ontology, Cambridge, Mass. 2004, 67 (Hervorhebung im Original). 116 Peter Strawson, „Wahrheit“, in: Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1996, 253. 117 Donald Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, 184; ders., Truth and Predication, Cambridge, Mass./London, Engl. 2005, 126–129. Eine epistemische Wahrheitstheorie, wonach wahr ist, was auf eine bestimmte Art und Weise als wahr
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Der ethische Subjektivist könnte aber fortfahren: „Was immer unter ‚Korrespondenz‘ zu verstehen ist, mathematische Aussagen sind, wenn sie wahr sind, aus anderen Gründen wahr als nichtmathematische. Sie sind letzten Endes nichts als Tautologien.“ Der Subjektivist könnte sich dabei auf Moritz Schlick berufen, der die Analogie zwischen ethischen und „logischmathematischen“ Sätzen bereits erwogen und zurückgewiesen hat: Ein Vergleich … von irgendwelchen Aussagen mit den Sätzen der Logik (zu denen wir in diesem Zusammenhang auch die mathematischen rechnen dürfen) führt stets zu Unsinn, weil die Logik schlechthin mit nichts anderm vergleichbar ist. … Die logischen Sätze geben schlechterdings überhaupt keine Erkenntnis, sie drücken keine Sachverhalte aus, sie lehren uns nichts darüber, was in der Welt vorhanden ist, oder wie irgend etwas in der Welt sich verhält oder verhalten sollte. Wären also die Wertaussagen ihnen ähnlich, so würde nur folgen, daß auch sie als bloße Tautologien im strikten Sinne nichtssagend wären: eine Konsequenz, die uns sicherlich den Wunsch eingeben wird, Wertsätze möchten mit den logischen so wenig wie möglich Ähnlichkeit haben.118
Nun mag der Vergleich von ethischen Aussagen mit logischen Sätzen schlechthin in der Tat unangemessen sein. Für den Vergleich mit mathematischen Aussagen gilt dies nicht. Denn wie Gödel gezeigt hat, gibt es durchaus mathematische Aussagen, die innerhalb der Mathematik weder bewiesen noch widerlegt werden können.119 Diese Aussagen sind nicht nichts sagend. Der entscheidende Punkt ist aber, dass demnach auch in der Mathematik „Beweisbarkeit“ und „Wahrheit“ nicht umfangsgleiche Begriffe sind. Zudem sind mathematische Sätze integraler Bestandteil physikalischer Theorien, die uns durchaus etwas über die Welt lehren. Aber ist das nicht ein Argument für die Notwendigkeit einer platonistischen Metaphysik? Und wenn die Mathematik aufgrund der Unmöglichkeit einer vollständigen Formalisierung eine platonistische Metaphysik voraussetzt und die Ethik der Mathematik ähnlich ist, zwingt sie uns dann nicht zu einem Werteplatonismus? Nun, wenn mit „Werteplatonismus“ lediglich die Unterscheidung zwischen der Rechtfertigung eines Werturteils und seiner Wahrheit gemeint ist, dann zweifellos. Aber mit Platonismus hätte das nicht viel zu tun. Ein Platonismus wiederum, der als Ontologie für die Wahrheitsfrage etwas hergeben will, handelt sich das Problem ein, „Wahrmacher“ identifizieren zu müssen. Nur auf diese Weise kann man eine erkannt werden kann, ist damit nicht beschlossen. Nichts spricht dagegen, dass es einige Wahrheiten gibt, die sich prinzipiell nicht feststellen lassen. Was allerdings nicht sein kann, ist, dass wir uns in allem, was wir zu wissen glauben, täuschen. In diesem Fall wüssten wir nicht mehr, was wir überhaupt glauben, d. h. uns würde der Inhalt unserer Überzeugungen abhanden gehen. Genau genommen lässt sich der Wahrheitsbegriff einfach nicht auf noch einfachere Begriffe reduzieren. 118 Moritz Schlick, Fragen der Ethik, Frankfurt/M. 2002, 131. 119 Siehe Ernest Nagel/James R. Newman, Der Gödelsche Beweis, München 2001.
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interessante Korrespondenzbeziehung angeben – eine, deren Behauptung die schlichte Behauptung, etwas sei wahr, erläutert. Ob man solche Versuche für viel versprechend hält oder – wie die Vertreter des oben grob skizzierten „sling-shot-Arguments“ – für müßig: Zumindest wäre nicht einsehbar, dass ein solcher Versuch für die Mathematik weniger Schwierigkeiten bereiten soll als für die Moral. Hume und Mackie könnten also durchaus recht haben, wenn sie Zweifel an der Existenz von werthaften Wahrmachern hegen. Aber wenn sie meinen, es gebe keine ethische Wahrheit, weil nur Tautologien oder Sätze in physikalischer Sprache wahr sein könnten, dann dürften sie falsch liegen. Denn so wie mit Werten verhält es sich nicht nur mit dem, wovon mathematische Aussagen handeln, sondern auch mit Überzeugungen, Absichten, Wünschen, Hoffnungen, sogar mit Farben. „Colors (and so-called other secondary qualities)“, meint Davidson, supervene on the properties a really finished physics needs. Our perceivings and thoughts supervene on the physical properties of our bodies. But of course thoughts and colors do explain things, not in the way physics does, but in other ways. Colors and thoughts aren’t definable in physical terms – that’s why they can explain what physics can’t. … It is true – objectively true – that some things are green and people have certain thoughts. This doesn’t require that there be objects or events in addition to physical events and objects, but it does empower and require explanations of different order.120
Eine Erklärung dafür müsste bei unser Verständigungspraxis und den Bedingungen ihrer Möglichkeit ansetzen. Werte gibt es nur, wenn es Bewusstsein, also Wesen mit Überzeugungen, Wünschen, Hoffnungen etc. gibt. Daraus folgt jedoch nicht, dass wir Werte konstruieren wie soziale Objekte, und schon gar nicht bestimmt der Einzelne quasi privat, was ein Wert ist. Zwar sind Werte in der Tat, wie Strasser bemerkt, „logisch an einen Akt der Bewertung gebunden, der seinerseits ein Subjekt der Wertung voraussetzt“121, aber damit ist nicht beschlossen, dass Werturteile niemals etwas anderes sind als subjektive Stellungnahmen, die von Belieben des wertenden Subjekts abhingen. Immerhin sind sie auch Bestandteil von Theorien, mit denen wir uns Handlungen anderer Menschen erklären. Die Ethik ist selbst dann im Spiel, wenn wir nur auf die je aktuellen Präferenzen der anderen abstellen, da wir diese nur verstehen können, wenn ihre Präferenzen im Großen und Ganzen vernünftig sind (nur so können wir dann unvernünftige Wünsche oder Irrationalitäten erkennen). Und insoweit sie die Überzeugung implizieren, dass etwas Wert besitzt, ist bei ihnen auch die
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Donald Davidson, Problems of Rationality, Oxford 2004, 45 (Hervorhebung im Original). 121 Peter Strasser, Gut in allen möglichen Welten. Der ethische Horizont, Paderborn 2004, 59 (Hervorhebung im Original).
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Wahrheit im Spiel, und zwar ohne dass man deshalb Werte als Objekte mit klarem ontologischem Status begreifen könnte. Wenn Putnam recht hat, dann befasst sich weder die Mathematik noch die Ethik mit Gegenständen, die entweder ontologisch objektiv oder ontologisch subjektiv sind. Diese zunächst völlig plausible Unterscheidung wird von John Searle von einer weiteren unterschieden, nämlich jener zwischen epistemischer Objektivität und Subjektivität.122 Erstere Unterscheidung bezieht sich auf Eigenschaften der Welt, Letztere auf Eigenschaften von Behauptungen. So sind nach Searle soziale Objekte, wiewohl ontologisch lediglich subjektiv, epistemisch durchaus objektiv. Das heißt, sie existieren zwar nicht, wie Berge oder Moleküle, unabhängig von menschlichen Intentionen bzw. Überzeugungen, können aber doch Gegenstand wahrer und falscher Aussagen sein. Wer beispielsweise einem 10-Euro-Schein den Wert von 100 Euro zuschreibt, irrt sich ganz einfach. Nun scheint es für den subjektivistisch bedrängten Objektivisten nahe zu liegen, den eigenen ethischen Überzeugungen zwar epistemische Objektivität zuzuschreiben, aber gleichzeitig zu betonen, dass sie nicht von etwas ontologisch Objektivem handeln. Moralische (und viele sonstige) Werte wären demnach selbst soziale Konstruktionen. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen und sozialen Konstruktionen wie Geld, auf Konventionen beruhen. Wir können nicht gut sagen, unsere Vorfahren hätten sich über den Wert ihres Geldes in der damaligen (heute nicht mehr gebräuchlichen) Währung getäuscht. Wir können aber ohne weiteres sagen, dass Sklaverei zu jeder Zeit ein Übel war, unabhängig davon, wie sie von den Menschen (inklusive Sklaven) empfunden wurde. Allenfalls können wir einem durchschnittlich gebildeten Mitteleuropäer, der noch heute für die Sklaverei votiert, größere moralische Verkommenheit attestieren als seinem antiken Vorfahren. Gleichwohl würde es unsinnig anmuten zu behaupten, das Übel der Sklaverei existiere unabhängig von moralischen Subjekten. Der Punkt ist: Werte passen nicht in das Schema ontologisch objektiv/subjektiv und epistemisch objektiv/subjektiv, wie Searle es für seine Sozialontologie entwickelt hat. Strasser beschreibt den ontologischen Status von Werten auf eine postmetaphysisch-skeptische Zeitgenossen provozierende Weise, aber treffend − und vor allem so, wie er sich aus der Innenperspektive der Ethik darstellt: Da die objektiven Werte bereits im Ursprung auf einen Absoluthorizont bezogen sind, dürfen sie nicht einfach als „Gegebenheiten“, deren Bedeutung wohlumrissen feststeht, begriffen werden. Statt sie als Gegebenheiten zu verdinglichen, muss der Ethiker sie als Eröffnungspotentiale würdigen, die eine Richtung – die
122
John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Hamburg 1997, 17ff.
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axiologische Richtung hin zum guten Leben und, absolut gesprochen, zur Erlösung – andeuten.123
Dieser Gedanke mag antimetaphysisch eingestellten Philosophen allzu extravagant und vielleicht sogar obskur erscheinen, hat aber vor allem denjenigen etwas zu bieten, für die der Hinweis auf die „Supervenienz“ der Werte weniger mehr ist als die Feststellung eines Mysteriums. Davidsons Rede von der Supervenienz macht sich zwar – anders als der Physikalismus Humes und Mackies – auf die Perspektive des ernsthaften Teilnehmers ethischer Verständigung einen vernünftigen Reim, beschreibt jedoch in ihrer Allgemeinheit nicht die spezifisch ethische Haltung. In jedem Fall läuft zumindest der ontologische Einwand gegen die Annahme der Möglichkeit moralischer Objektivität ins Leere. Die scheinbar paradoxe Losung Putnams „Objektivismus ohne Objekte“ ist nicht absurd. Darauf könnte der Skeptiker und Subjektivist nun antworten: „Gut, in der Mathematik mag ein solcher Objektivismus ohne Objekte noch durchgehen. Aber wenn zur Nichtexistenz von Objekten in der Welt noch eine hochgradige soziale Bedingtheit und Wandelbarkeit von Begriffen und Urteilen hinzukommt, dann hat sich eigentlich jeder Objektivismus erledigt. Auch die Annahme, dass Menschen Überzeugungen, Wünsche, Absichten etc. haben und wir prinzipiell herausfinden können, worin sie tatsächlich bestehen, rechtfertigt keinen ethischen Objektivismus. Sie rechtfertigt nur die These, dass Menschen über evaluative Einstellungen verfügen. Diese sind ihrerseits aber nichts weiter als subjektive mentale Zustände – die sich prinzipiell gänzlich physikalisch bzw. neurobiologisch beschreiben lassen.“ Doch so plausibel, wie es zunächst auch klingen mag, so wenig weit trägt dieses Argument. In seiner einfachen Version wird der Subjektivismus gerade jener Tatsache nicht gerecht, die ihn augenscheinlich inspiriert: dem Dissens. Wenn jede ethische Aussage nur ein Bericht über einen mentalen Zustand wäre, dann gäbe es gar keine Meinungsverschiedenheiten. Wenn also A sagt, dass eine militärische Intervention in ein bestimmtes Land gerechtfertigt ist, und damit nichts anderes meint, als dass er eine Intervention gutheißen würde, während B meint, dass er einer Intervention nichts abgewinnen kann, kann, streng genommen, nicht einmal ein Streit entstehen. Jeder bräuchte nur die Präferenz des Anderen zur Kenntnis nehmen. Der Subjektivist kann seine Position natürlich auch etwas subtiler fassen und die These vorschlagen, dass ethische Aussagen keine Berichte über Einstellungen sind, sondern vielmehr evaluative und normative Einstellungen ausdrücken. Ihr praktischer Sinn bestehe lediglich darin, die Einstellungen anderer zu beeinflussen. Das ist die Position des so genannten „Emotivisten“. Für den Emotivisten bedeutet also die Aussage „Eine militärische Intervention durch unser Land ist ethisch nicht vertretbar“ 123
Peter Strasser, Gut in allen möglichen Welten, 15.
4. Der metaethisch-ontologische Irrweg
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nichts anderes als „Unterlassen wir eine militärische Intervention!“. Eine Meinungsverschiedenheit in ethischen Fragen wäre deshalb eine praktische. Der Konflikt entzünde sich an verschiedenen Präferenzen, die nicht gleichzeitig befriedigt werden können.124 Doch wie soll man sich auf dieser Grundlage die Rolle von Gründen bei der Entstehung und Revision moralischer Überzeugungen erklären? Die nahe liegende Antwort lautet: „Alles, was Einstellungen erzeugen, festigen, erschüttern oder beseitigen kann, ist ein Grund.“ Auf diese Weise wird aber der Unterschied zwischen bloßen Ursachen und Gründen völlig eingeebnet. Diese Einebnung kann nur vertreten, wer keine logischen Beziehungen zwischen evaluativen und normativen Aussagen anerkennen will. Wer der Logik hingegen eine Rolle im Bereich der Werturteile und Normsätze zugesteht, der hat sich schon auf die Wahrheitsfähigkeit Letzterer festgelegt. Andernfalls müsste eine Semantik entwickelt werden, in der „und“, „oder“, „nicht“, „wenn … dann“ etc. über keinerlei Wahrheitsfunktionalität verfügen.125 Doch lassen wir den ontologischen Skeptizismus einmal beiseite. Auch wenn das Argument, es gebe keine bewusstseinsunabhängigen Objekte oder Tatsachen, mit denen Werturteile korrespondieren könnten, den Objektivisten nicht wirklich erschüttern sollte, wie steht es mit der Tatsache, dass viele Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf praktische Fragen sich am leichtesten mit den unterschiedlichen Biographien der Parteien erklären lassen? Müsste aus der Tatsache, dass die Urteile anders ausfallen würden, wenn die Urteilenden anders sozialisiert worden wären, nicht etwas folgen für die Frage der Chance, zu wahren politischen Überzeugungen zu gelangen? Sollte uns hartnäckiger Dissens nicht wenigstens dazu veranlassen, unsere Überzeugungen nicht ganz so ernst zu nehmen und etwas „lockerer“ zu werden? Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der Objektivist allenfalls ein moderater Rationalist sein muss und dass Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Vernunft keinen Zweifel an der objektivistischen Haltung als solcher rechtfertigen.
124
Das ist in etwa die Auffassung von Charles L. Stevenson, Facts and Values. Studies in Ethical Analysis, New Haven/Conn. 1963. 125 Donald Davidson, Problems of Rationality, 48. Für eine etwas untechnischere Kritik am Emotivismus siehe Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M. 1995, Kap. 2 u. 3.
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5. Wahrheit, Rationalität und Dissens In seiner stark autobiographisch gefärbten Abhandlung über den wahrhaft egalitaristischen Habitus erzählt Gerald Cohen unter anderem davon, wie er in einem jüdisch-kommunistischen Milieu aufgewachsen ist. Er nennt dieses Milieu bezeichnenderweise eine „culture of conviction“.126 (Wir könnten auch „Bekenntniskultur“ dazu sagen.) Eine solche Gemeinschaft ist geprägt von leidenschaftlich vertretenen Überzeugungen. Eines der Probleme, die Cohen erörtert, ist die Frage, wie kluge Menschen leidenschaftlich Überzeugungen vertreten können, wenn sie wissen bzw. glauben, dass ebenso kluge Menschen vom Gegenteil überzeugt sind. Typischerweise handelt es sich bei solchen Überzeugungen um Überzeu gungen politischer oder religiöser Natur, die nur selten und höchstens teilweise im Wege rationaler Diskussion erworben werden. Dies und die Tatsache, dass diese Überzeugungen gewöhnlich sehr umstritten sind, genügen dem Skeptiker schon, um zu glauben, die Wahrheitsfähigkeit politischer und religiöser Überzeugungen leugnen zu können. Jedenfalls aber zieht er die Rationalität politischer und religiöser Überzeugungen in Zweifel. Das Argument lautet in etwa: „Je schwächer die Gründe, desto größer das emotionale Investment.“ Allenfalls wird noch zugestanden, dass es rational sein mag, eine religiöse oder politische Überzeugung zu haben (z. B. wenn man sich dadurch besser fühlt). Sicher nicht rational jedoch sei die Überzeugung selbst. Ja, sie sei nachgerade irrational. Es gebe also vielleicht einen Grund, sich zu veranlassen, die Überzeugung zu haben, oder eine Überzeugung zu bewahren, aber keinen, der die Überzeugung als solche begründet. Allerdings lässt sich diese Unterscheidung zwischen einer rationalen Überzeugung und dem rational motivierten Erwerb einer Überzeugung nicht strikt durchhalten. Zumindest ist es üblicherweise nicht rational, sich zu Überzeugungen zu veranlassen, die definitiv falsch oder gar irrational sind.127 Wenn Wunschdenken eine Form von Irrationalität ist, dann muss auch als irrational gelten, wer sich mit der Absicht, von einer falschen Lehre überzeugt zu werden, in eine Lage bringt, in der er für ebendiese Lehre anfällig wird. Etwas anders dürfte es sich verhalten, wenn wir uns dazu bringen, etwas zu glauben, das wir zwar nicht für falsch halten, aber bislang einfach nicht verstanden haben. Die These, die ich im Folgenden entwickeln möch126
G. A. Cohen, If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich?, Cambridge, Mass./ London, Engl. 2002, 7. 127 Zugestanden werden kann, dass sich hier bisweilen knifflige ethische Fragen stellen. Etwa: Welches Leben ist ceteris paribus besser: das Leben von dem, der fälschlicherweise denkt, seine Partnerin sei ihm treu, und dabei glücklich ist, oder das Leben von dem, der zu Recht annimmt, dass ihn seine Partnerin betrügt, und darunter leidet?
5. Wahrheit, Rationalität und Dissens
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te, impliziert jedenfalls, dass es nur dann irrational wäre, wenn wir dabei den Verlust gut begründeter Überzeugungen und den Erwerb offenkundig falscher Überzeugungen in Kauf nähmen. Sich dazu zu bringen, an Gott zu glauben, ist eine Sache; mit dem Gottesglauben einen Kreationismus einzukaufen, wonach die Welt nur einige tausend Jahre alt ist, eine andere.128 Dass wir Überzeugungen haben können, ohne einen – auch nach eigenem Urteil – guten Grund für sie angeben zu können, liegt auf der Hand. Und dass bloß wir einzelne Überzeugungen nicht begründen können, macht diese noch nicht irrational – und uns selbst ebenso wenig. Oft haben wir zwar nicht direkte Gründe für eine Überzeugung parat, aber Grund, anderen zu vertrauen. Doch wie steht es mit unseren Überzeugungen, die nach unserer Auffassung prinzipiell nicht zwingend begründet werden können? Und wie steht es mit Überzeugungen, für die wir gute Gründe haben, nur keinen, der auch nach unserem eigenen Urteil besser wäre als die Gründe für widersprechende Positionen? Sollen wir solche Überzeugungen wirklich vertreten oder moderat abergläubisch verfahren – also weder annehmen, dass sie im Grunde falsch sind, noch ganz ernsthaft von ihrer Wahrheit überzeugt sein? Können wir hier überhaupt entscheiden? Wer ernsthaft eine Überzeugung vertritt, glaubt, dass die Überzeugung wahr ist und dass es mindestens einen guten Grund für sie gibt, selbst wenn er ihn nicht genau angeben kann. Gründe für Überzeugungen können aber nur andere Überzeugungen sein; nur Überzeugungen können zu anderen in jener logisch-begrifflichen Beziehung stehen, die wir eine Begründungsbeziehung nennen.129 Da Überzeugungen nicht isoliert, sondern nur im Verbund mit anderen zu haben sind, müssen sie im Großen und Ganzen rational sein, also einander wechselseitig stützen. Eine Person, bei der dies nicht der Fall ist, wüsste selbst nicht, was ihre Überzeugungen sind. Ihre Lautäußerungen blieben auch für andere unverständlich und könnten nicht einmal als ein Fall von Sprechen aufgefasst werden. Zumindest gäbe es keinen Grund für eine solche Annahme. Insofern sind Überzeugungen keine rein subjektive Angelegenheit. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass eine sprachkundige Person mit einer Fülle von Überzeugungen durch und durch rational ist, mithin nichts als Überzeugungen hat, die sie gut begründen kann. Alles, worauf wir als rationale Individuen vertrauen dürfen, ist, dass unsere Überzeugungen im Großen und Ganzen rational sind. Auf diesen Holismus werde ich sogleich noch einmal 128
Umgekehrt gilt: Der Unglaube ist eine Sache, ein allzu starker Affekt gegen die Religion oder Angst vor ihr eine andere. Letztere verführt leicht zu einem recht unreflektierten Naturalismus als Paradigma zur Erklärung alles Menschlichen (siehe Thomas Nagel, Das letzte Wort, Stuttgart 1999, 186–210). 129 Donald Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, 141–144. Sinneswahrnehmungen spielen zweifellos eine wichtige Rolle bei der Begründung von Überzeugungen. Allein vermögen sie aber nichts zu begründen.
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zurückkommen. Er schließt nämlich – ohne uns im Niemandsland des allumfassenden Skeptizismus zurückzulassen – Letztbegründungen von vornherein aus und entdramatisiert das Problem, das uns hier beschäftigt. Wir befinden uns damit zwischen einem Internalismus, demzufolge über die Qualität einer Begründung nur die subjektive mentale Verfasstheit Einzelner den Ausschlag gibt, und einem radikalen Externalismus, der die Rationalität von den Überzeugungen, die Menschen haben, völlig entkoppelt.130 Rationalität ist insofern ein objektiver Maßstab, als wir uns bei der Begründung einzelner Überzeugungen durchaus irren können. Nichtsdestoweniger existiert sie nicht gänzlich außerhalb unseres Überzeugungssystems, da dieses nur ein solches ist, wenn es genügend logische Verbindungen zwischen den Überzeugungen gibt. Die oben dargestellte Position Pfallers hat mit all dem nur entfernt zu tun. Demnach wäre es besser, weil Lust und Glückseligkeit befördernd, bestimmte Überzeugungen lediglich in der Form des Aberglaubens zu besitzen und nicht als Bekenntnisse. Allerdings müssten wir dazu wissen, welche unserer Überzeugungen in diese Form gebracht werden sollten. Und es müsste für besseres Wissen gesorgt werden. Eine umfassende Selbstkulturalisierung, und sei es auf dem holprigen Wege ontologischen Räsonnements, wäre nämlich ihrerseits mit erheblichen Kosten verbunden. Aber könnte uns nicht auch die Reflexion über die Grenzen der Vernunft, wenn schon nicht zu einem lockeren Aberglauben, so doch zu einer weniger strengen Form der Überzeugtheit bringen – wenigstens in Bezug auf manche Dinge? Was, wenn wir unsere ethischen und sonstigen politischen Überzeugungen zwar nicht als eindeutig falsch oder gar wahrheitsunfähig, jedoch auch nicht als einwandfrei rational ansehen würden? Meine Antwort darauf wird lauten: Das allein würde noch nicht viel bewirken. Welchen Stellenwert wir einer Überzeugung in unserem eigenem Leben einräumen und was wir daraus politisch (d. h. für unseren Umgang mit anderen) ableiten sollten, hängt von ihrem Inhalt und einigen weiteren ethischen Erwägungen ab.131 Um eine Überzeugung ernsthaft zu vertreten, mithin uns zu ihr zu bekennen, müssen wir weder annehmen, dass wir sie bis ins Letzte rational begründen können, noch, dass sie prinzipiell einer Letztbegründung zugänglich sind. Letztbegründungen sind nicht nur für religiöse, moralische und politische 130
Siehe auch John McDowell, Mind, Value, and Reality, Cambridge, Mass./London, Engl. 1998, 106. 131 Im Übrigen können wir uns in Bezug darauf, welchen Stellenwert wir einer Überzeugung tatsächlich einräumen, durchaus täuschen. Wir glauben mitunter sogar, nicht zu glauben, obwohl wir es tun, und wir glauben mitunter, etwas zu glauben, was wir tatsächlich nicht glauben. Wir können beispielsweise glauben zu glauben, dass der Embryo voll- und gleichwertiges menschliches Leben darstellt, obwohl wir, vor die Wahl gestellt, hundert Embryonen oder ein geborenes Kind zu retten, nicht eine Sekunde zögern und uns für das geborene Kind entscheiden würden. Genauso sehen wir die Dinge aus der Distanz oft lockerer als aus der Nähe.
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Überzeugungen nicht zu haben. Sie sind generell unmöglich. Schließlich können Überzeugungen nur durch andere Überzeugungen begründet werden, und keine Überzeugung begründet sich selbst. Überzeugungen wiederum erfordern Begriffe, die wir immer nur zusammen mit anderen Begriffen erwerben können. Wir können keinen noch so trivialen empirischen Begriff haben, ohne zugleich über eine Fülle weiterer Begriffe zu verfügen. Um zu wissen, was ein Buch ist, müssen wir Dinge wissen wie, was Papier ist, was ein Heft, was ein Aktenordner, was Schrift und was ein Bild. Vor allem aber müssen wir etwas über die Funktion von Büchern wissen, und damit noch vieles andere mehr.132 Und auch wenn Begriffe zueinander in logischen Beziehungen stehen, erwerben wir sie gewöhnlich nicht, indem wir sie einfach aus anderen Begriffen ableiten. Am geläufigsten ist wohl der Begriffserwerb im Wege der Ostension. Eltern zeigen vor den Augen ihres Kindes auf Gegenstände und geben dabei bestimmte Laute von sich; wenn das Kind diese Laute dann bei passender Gelegenheit nachahmt, wird es gelobt oder sonst wie bestätigt. Sinneseindrücke spielen eine wichtige Rolle. Gleichwohl stehen sie zu Überzeugungen nicht in einer direkten Begründungsbeziehung. Sie sind ein Glied in der Kausalkette, die zur Überzeugung führt. Doch sie können auch täuschen. Bisweilen halluzinieren wir. Auch die Überzeugung, dass ich einen bestimmten Sinneseindruck habe, begründet noch nicht die Überzeugung, dass ich etwas wahrgenommen habe, was tatsächlich existiert. Dazu bedarf es noch weiterer Überzeugungen, etwa die, dass ich mich in einer bestimmten körperlichen Verfassung und bei bestimmten Sichtverhältnissen auf meine visuellen Sinneseindrücke verlassen kann.133 Meistens stellen sich gar keine Begründungsfragen, weil wir keinen Grund zu zweifeln haben. Hartnäckiger Dissens aber fordert unser Vertrauen in unsere Urteilsfähigkeit (in Bezug auf bestimmte Dinge) heraus. Mit der Versicherung, dass wir im Großen und Ganzen schon rational sein müssten, weil wir ansonsten gar keine Überzeugungen hätten, ist uns nicht gedient. Wir fragen uns dann, ob das Selbstvertrauen gerechtfertigt ist. Wir tun dies aber vor dem Hintergrund vieler Überzeugungen, die gerade nicht infrage gestellt werden. Wir treten aus unserem Denken nicht heraus. Und so fällt uns nicht nur die Begründung mancher unserer Überzeugungen schwer, son132
Letztbegründungsskepsis hat nichts mit ontologischem Antirealismus zu tun. Ausgerechnet Richard Rorty bringt den Irrtum vieler postmoderner Konstruktivisten am deutlichsten auf den Punkt. Diese, so meint er, „falsely infer from ‚We can’t think without concepts, or talk without words‘ to ‚We can’t think or talk except about what has been created by our thought or talk‘“ (Consequences of Pragmatism, Hemel Hempstead 1982, 154f.). 133 Für eine ausführliche und zu Unrecht etwas vernachlässigte Rekonstruktion der Unterscheidung zwischen epistemischen und nichtepistemischen Zuständen siehe Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, 3rd Printing, Cambridge, Mass./London, Engl. 2002.
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dern auch die Feststellung, dass die Gründe der anderen gleich gut sind wie die eigenen. Für jemanden wie Cohen, der nicht nur feste politische Überzeugungen weit abseits des Mainstream vertritt, sondern darüber hinaus – als OxfordPhilosoph und Meister der analytischen Sophistikation – über eine beachtliche Reflexionsfähigkeit verfügt, stellen Konstellationen, in denen ihm die Gründe ausgehen, eine besondere Herausforderung dar. Die Frage lautet nicht: Wie kann es sein, dass vernünftige Menschen unterschiedliche Meinungen vertreten? Das wäre die Frage aus der Perspektive der dritten Person und als solche vergleichsweise einfach zu beantworten: „Auch vernünftige Menschen sind nicht vor Irrtümern gefeit.“ Es geht auch nicht darum, wie ich mich ernsthaft zu einer Überzeugung bekennen kann, von der ich weiß, dass ich sie nicht hätte, wenn ich anders erzogen und ausgebildet worden wäre. Auf diese Frage gibt es ebenfalls eine recht einfache Antwort. Aus der Perspektive der ersten Person stellt sich das Wissen um die Kontingenz der eigenen moralischen Überzeugungen als Bewusstsein von „epistemischem Glück“ dar, und darauf sind wir in allen Erkenntnisbereichen angewiesen.134 Nein, die Frage lautet vielmehr: Wie kann ich als vernünftiger Mensch eine Überzeugung fest vertreten, wenn ich zugleich denke, dass die Gegenmeinungen um keinen Deut schlechter begründet sind? Ist es vernünftig, etwas zu glauben und zugleich anzunehmen, dass es letztlich einzig die eigene Erziehung und Ausbildung ist, die diesen Glauben „stützt“, dass es nicht einmal Gewährsleute für diesen Glauben gibt, auf deren Urteil man sich eher verlassen kann als auf das Urteil der besten Gewährsleute widersprechender Auffassungen? Wir werden gleich sehen, dass mit der Frage in dieser Formulierung etwas nicht stimmt. Sehen wir uns Cohens Beispiele etwas näher an: Cohen hat in Oxford studiert; wenn er in Harvard studiert hätte, wo seit den frühen 1950er Jahren Quines Auffassung den Ton angibt, wäre er heute, wie er vermutet, skeptisch in Bezug auf die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen: I think I can say that I believe in the analytic/synthetic distinction because I studied at Oxford. And that is disturbing. For the fact that I studied at Oxford is no reason for thinking that the distinction is sound. Accordingly, if I believe it sound because I studied at Oxford, if that explains why I believe in it whereas, say, Gilbert Harman does not, then my believe in the distinction is ill-grounded. 134
Siehe Joseph Raz, Engaging Reason: On the Theory of Value and Action, Oxford 1999, 155: „What we know and what we do not is partly a matter of the accident of our circumstances, and even the best epistemic justification possible cannot rid our beliefs of an element of luck. But epistemic luck is a feature of the conditions of knowledge in general. It is not a circumstance special to evaluative beliefs, and it does not negate the possibility of knowledge.“.
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But I can’t comfortably believe that a belief of mine is ill-grounded. So I can’t comfortably believe that the only reason I believe the distinction to be sound is that I went to Oxford. I can readily believe that this is how I came to believe it in the first place, but I have to believe that my present reason for sticking to it is that I have good reasons to do so. … Perhaps a deeper case for the distinction was available at Oxford than at Harvard. But that doesn’t make it right for me to believe the Oxford doctrine now, since I can be pretty sure that a commensurately deeper case for rejecting the distinction was available at Harvard.135
Nun hat Cohen nach eigenem Bekunden sein Interesse an dieser Unterscheidung weitgehend verloren. Der Grund ist aber sicher nicht, dass extrem scharfsinnige Menschen in Harvard und Oxford unterschiedliche Meinungen haben und jeweils exzellente Gründe haben (dürften). Dieser Umstand könnte genauso gut zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema anregen. (Gerade ein Argumentationskünstler wie Cohen könnte darin eine Herausforderung sehen.) Der Grund dürfte eher darin liegen, dass von der Unterscheidung für Cohens privates, berufliches und politisches Leben nur wenig abhängt. Man kann – wie Cohen – ein vortrefflicher politischer Denker sein, ohne eine Meinung zur Unterscheidung analytisch/ synthetisch zu haben. Am Problem ändert das freilich nichts: Muss eine Person nicht als irrational gelten, wenn sie eine Überzeugung p hat und zugleich glaubt, dass die Vertreter der Gegenposition q gleich gute Gründe für q haben, dass sich p nur bloßen Ursachen verdanken kann? Solange das Problem sich nur an subtilen philosophischen Meinungsverschiedenheiten entzündet, braucht es niemanden zu beunruhigen. Nicht selten nimmt in solchen Fällen der philosophische Streit auch spielerische Züge an. Die Frage, wie es sich wirklich verhält, rückt in den Hintergrund. Es ist weniger sie, die zu intellektuellen Höchstleistungen anspornt, als eine Art milieuspezifischer Imperativ, nämlich geschickter zu argumentieren als die anderen. Ziel ist dabei nicht unbedingt, eine Position als die einzig richtige zu erweisen, sondern vielmehr, Positionen so interessant und „wasserdicht“ zu machen wie nur irgend möglich, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, zu experimentieren (in und mit Gedanken), scharfsinnig und brillant zu sein etc. Mitunter geht es in diesem Spiel für die Teilnehmer um sehr viel: vor allem um Reputation und Karrierechancen. Wahrheit ist jedoch zweitrangig. Aber bleiben wir bei den echten Überzeugungen. Cohens Problem besteht, wie gesagt, darin, dass wir manchmal nicht einmal auf unsere besonderen Erfahrungen und höhere Urteilskraft verweisen könnten, sondern uns auf die schlichte Tatsache zurückgeworfen sähen, eben auf diese oder jene Weise sozialisiert worden zu sein. Alles, was uns in diesen Fällen zur Verfügung stehen soll, sei der Verweis auf unsere Erziehung. Nicht beliebige Ursachen 135
G. A. Cohen, If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich?, 18 (Hervorhebung im Original).
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lösen Cohens Unbehagen aus, sondern im Einzelfall der Verdacht, dass es nur die Erziehung sei, der er bestimmte Überzeugungen verdanke. So meint Cohen mit Bezug auf Brian Barrys Beispiel zweier Personen, die, obwohl sie sich über die Qualitätskriterien für Theaterstücke einig sind, unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten, wie gut ein bestimmtes Stück nun tatsächlich sei: Each of us might think that his faculty of judgment and/or his sensibility is, in general, superior to the other’s, and this explains why we do not agree. If so, we can comfortably persist in our disagreement, but the case is then not parallel to one where we assign our difference to mere differences in nurture.136
Aber was heißt es überhaupt, sich über Qualitätskriterien für Theaterstücke einig zu sein? Wohl nicht viel mehr als oftmals gleiche und gleich begründete Urteile über Theaterstücke zu fällen. Die Kriterien existieren nur als Abstraktionen konkreter Gründe – welche freilich ihrerseits auf gewisse Abstraktionen angewiesen sind, um Gründe sein zu können. Das heißt, schon darüber, ob wirklicher Konsens über die Qualitätskriterien besteht, wird man streiten können. Und ich sehe nicht, wie die Qualitätskriterien gänzlich außer Streit gestellt werden können, um sich dann die Frage zu stellen, was es mit der Meinungsverschiedenheit auf sich hat. Außerdem erwerben wir die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu erkennen, „wie sie wirklich sind“, nicht selten ebenfalls im Wege der Erziehung und Ausbildung. Letzten Endes haben wir sehr oft nichts anderes als diesen Verweis auf epistemisches Glück, um Auffassungsunterschiede zu erklären. Darauf könnte Cohen erwidern: „Das ist schon richtig, aber manchmal erwerben wir über die Erziehung spezielle Fähigkeiten, auf die wir uns dann verlassen können, und manchmal einfach nur eine Disposition zu bestimmten Urteilen. Es besteht doch ein Unterschied zwischen einer Fähigkeit wie einem geschulten Gehör, mit dem wir Strukturen und Facetten von Musikstücken wahrnehmen, die dem ungeschulten Hörer verborgen bleiben, und unserer Neigung, bestimmte Musikstücke schön zu finden, die andere nur langweilen. Und mein Problem ist, was wir von einer Meinungsverschiedenheit halten sollen, die wir uns gerade nicht mit unterschiedlichen Fähigkeiten erklären können, also damit, dass wir über Fähigkeiten verfügen, die der Andere nicht hat, oder damit, dass unsere Fähigkeiten besser ausgeprägt sind.“ Nun, vielleicht kann ich mir die Meinungsverschiedenheit nicht mit einem Unterschied in den Fähigkeiten erklären, aber damit, dass den Anderen seine Fähigkeit einmal im Stich gelassen habe. Wenn ich kein besseres Argument parat habe als der Andere und dennoch bei meinem Urteil bleibe, muss ich zumindest an einen Grund glauben, den ich gerade nicht angeben kann. Das wiederum kann daran liegen, dass mein gerade verfügbarer Begriffsapparat nicht hinreichend präzise und ausdifferenziert ist. Ich habe nur das Gefühl, 136
Ebd., 16.
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dass da noch etwas ist, das ich nicht hinreichend benennen kann. Dann halte ich zwar vielleicht die expliziten Argumente für gleichwertig (gleich gut oder gleich schlecht), denke aber nicht, dass sie ausreichen für ein Urteil. Und wahrscheinlich bin ich dann nicht mehr so fest überzeugt von meiner Position, wie wenn ich den Grund nennen könnte. Ich habe lediglich eine Ahnung. Zu glauben, dass der Andere prinzipiell über das gleiche Urteilsvermögen verfügt wie ich, schließt nicht aus, zu glauben, sein Urteilsvermögen könne gelegentlich versagen, ohne dass ich dieses Versagen an den Argumenten erkennen könnte. Vielleicht kann man mein Selbstvertrauen in so einem Fall des argumentativen Patts nicht rational nennen, zumal ich ja weiß, dass mich mein eigenes Urteilsvermögen auch im Stich lassen kann und die subtilsten Argumente keine Letztbegründung darstellen. Sicher ist es nicht prinzipiell irrational. Wenn ich tatsächlich denke, dass die Argumente des Anderen gleich gut und seine Fähigkeiten und Gewährsleute absolut gleich verlässlich sind wie meine, dann kann ich gar nicht mit dem Verweis auf meine wie immer geringfügig andere Erziehung mein Urteil aufrechterhalten. Wenn ich nicht einmal die besagte Ahnung habe, transformiert sich mein Urteil von selbst in die bloße Feststellung, dass mich das Stück anders berührt hat. Meinen Genuss oder mein Missfallen kann ich mir dann vielleicht biographisch erklären, aber daraus ergibt sich keine Überzeugung mehr, und somit stellt sich auch nicht die Rationalitätsfrage. Cohens Problem – das Problem von Überzeugungen, die wir nur als das Produkt unserer Erziehung ansehen – existiert praktisch nicht, da eine Überzeugung, die nach eigenem Dafürhalten auf nichts anderem gründet als Erziehung, schon keine mehr ist – jedenfalls keine eigentliche, sondern höchstens Aberglaube im Sinne Pfallers. Die Frage, ob ich mich zu einer solchen Überzeugung bekennen, d. h. von ihrer Wahrheit überzeugt sein soll, stellt sich nicht. Cohens zweites Beispiel ist überdies höchst artifiziell. Zumindest wenn es um politisch-moralische Gewissheiten geht, lässt sich eine Konstellation wie die eben beschriebene zwischen zwei Theaterkennern nur schwer vorstellen. Immerhin handelt politischer Dissens implizit und dabei offensichtlich von einer Fülle weiterer Fragen der Lebensführung. Für das Vertrauen in die eigene Urteilskraft lassen sich wesentlich mehr Gründe finden, wenn man danach sucht, gerade weil der Dissens regelmäßig weiter ist. Schon zur Feststellung eines Patts der expliziten Argumente wird man so gut wie nie gelangen. Vorher stellt sich die Erschöpfung ein. Man überzeugt den Anderen oder eben nicht. In letzterem Fall wird man entweder selbst überzeugt oder verunsichert, oder man findet sich damit ab, dass die eigenen Gründe für einen selbst zwar hinreichend gewichtig sind, aber vom anderen nicht akzeptiert werden. Auch die akademische politische Philosophie ist eine Geschichte nicht ausgeräumter Meinungsverschiedenheiten, und das trotz vergleichsweise günstiger Diskursbedingungen. Freilich, dort, wo berufsmäßig argumentiert wird, sind Konstellationen wie die von Cohen beschriebene weniger unwahrscheinlich. Hier kann
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man gelegentlich sogar ein noch rätselhafteres Phänomen beobachten: Philosophen sind öfter mit zwingend anmutenden Argumenten konfrontiert, die sie nicht wirklich überzeugen. Peter Strasser hält es nachgerade für ein Charakteristikum des Philosophen, etwas zu „wissen“, wovon er nicht überzeugt ist, d. h. zu sehen, dass die besten verfügbaren Argumente für eine Position sprechen, die er trotzdem nicht ernsthaft vertreten, zu der er sich also nicht in einem emphatischen Sinne bekennen kann.137 Aber auch in diesem Fall bleibt das Gefühl, dass mit den Argumenten gegen die eigene Gewissheit etwas nicht stimmt, und seien es bestimmte Prämissen. Da niemandes Überzeugungssystem völlig konsistent und transparent sein dürfte, finden sich für so gut wie alle Argumente irgendwelche Anschlussstellen. Oft vertraut man zu Recht eher der spontanen Intuition als der Vernunft. Manchmal handelt es sich aber tatsächlich bloß um Irrationalität. Zunächst könnte die Überzeugung die Form des Aberglaubens annehmen: „Ich weiß, dass der beeindruckende Gletscher, den ich gerade sehe, noch im Laufe meines Lebens verschwinden wird, aber dennoch kann ich nicht umhin zu glauben, er habe ewigen Bestand.“ Das allein wäre nicht irrational. Immerhin glaube ich nicht wirklich. Wenn mich der Aberglaube aber stärker motiviert als mein Bekenntnis und mich gegen Klimaschutzmaßnahmen opponieren lässt, die ich eigentlich für angemessen halte, dann handle ich irrational. Für gewöhnlich handelt es sich bei den Gewissheiten, die im politischen Streithandel gegeneinander antreten, nicht – wie in Cohens Beispielen – um einzelne Überzeugungen, sondern um Bündel von Überzeugungen, die zusammen eine Einstellung ausmachen, die man dann z. B. „liberal“, „sozialistisch“, „christlich“, „rationalistisch“ oder „szientistisch“ nennt. Solche Gewissheiten können natürlich erschüttert werden. Typischerweise geschieht dies jedoch nicht dadurch, dass die Überzeugungen, aus denen sie bestehen, einzeln und der Reihe nach argumentativ aus dem Überzeugungssystem hinausgeschossen werden. Denn diese Gewissheiten bilden, obwohl sie lediglich aus Überzeugungen bestehen, einen wesentlichen Teil des Hintergrunds oder den Hintergrund selbst, vor dem Argumente beurteilt und Gründe gewichtet werden. Wenn eine solche Gewissheit einmal erschüttert ist, können wir dafür oft Ursachen, aber keine verständlichen Gründe angeben, jedenfalls keinen bestimmten, der den Ausschlag gegeben hätte. Oder vielleicht besser umgekehrt: Wenn die Gewissheiten erschüttert sind, kennen wir immer schon Gründe für unsere Zweifel, ohne dass diese Gründe unbedingt die Ursachen der Erschütterung gewesen wären. Es ist also nicht eine frei schwebende Rationalität, die uns unserer Gewissheiten beraubt. Es sind vielmehr konkurrierende Gewissheiten. Wir vergleichen Gewissheiten aber nicht detachiert, von einem Ort der Vernunft aus, der jenseits unseres Überzeugungssystems und unserer Erfahrungen läge. 137
Peter Strasser, „Mit den Füßen Kopf stehen“, in: Spektrum (Beilage zu Die Presse) vom 18. 12. 2004, I–II.
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Die Konstatierung eines Patts zwischen zwei einander widersprechenden Positionen steht daher weniger am Anfang als am Ende der Auflösung von Gewissheiten. Eine Erschütterung kann natürlich das Resultat vieler kleiner argumentativer Nadelstiche sein. Aber selbst in diesem Fall ist noch etwas anderes im Spiel. Üblicherweise muten die Argumente gegen eine fundamentale Gewissheit zunächst nicht sonderlich überzeugend an, und viele schlechte Argumente ergeben zusammen kein gutes – erst recht nicht, wenn es sich immer wieder um ein und dasselbe Argument handelt. Bisweilen verdanken Argumente ihre empirische Überzeugungskraft nur einem Gewöhnungseffekt. Oberflächliche Kenntnis der politischen Praxis genügt, um das einzusehen. Nehmen wir folgendes Beispiel: Cohen ist Egalitarist sozialistischer Ausrichtung. Als solcher hat er es in Zeiten eines grassierenden Neoliberalismus nicht leicht. Starker Gegenwind ist mittlerweile auch im akademischen Milieu aufgekommen. Dass zwischen den verschiedenen intellektuellen Lagern noch ein sinnvoller und interessanter Diskurs stattfinden kann, hat natürlich damit zu tun, dass egalitaristische Philosophen mit ihren Gegnern viele Überzeugungen teilen. Nicht zuletzt verbindet so gut wie alle ein ganz bescheidener Basisegalitarismus, die Annahme, dass Menschen Achtung als Gleiche verdienen. Damit sind Sklaverei, Apartheid und Kastensysteme von vornherein als ernstzunehmende Optionen ausgeschlossen. Danach gehen die Meinungen allerdings recht weit auseinander. Während die einen meinen, dass Gleichheit jenseits der angesprochenen basalen Gleichheit keinen Wert an sich darstellt, sehen die anderen in der Gleichheit weiterhin jenen Wert, um den sämtliche Gerechtigkeitserwägungen kreisen. Aber auch innerhalb der Gruppe der Egalitaristen gibt es beträchtliche Auffassungsunterschiede. Cohen kämpft also an mehreren Fronten gleichzeitig. Soweit er, der Sozialist, mit egalitär gesinnten Liberalen diskutiert, können noch viele verständliche Argumente hin- und hergereicht werden. Mit Leuten, deren Weltbild handfeste rassistische und sexistische Gewissheiten enthält, wird es schwierig, einen interessanten Diskurs über das beste Verständnis von Gleichheit zu führen. Argumente werden hier jedenfalls kaum den Ausschlag geben. Wie soll sich also jemand, der zumindest besagten Basisegalitarismus vertritt, zu jenen verhalten, die nicht einmal diesen Ausgangspunkt mit ihm teilen. Gibt es einen Grund für die Überzeugung, dass alle Menschen gleich an Würde sind, der sämtliche Begründungen widerstreitender Überzeugungen aussticht? Die meisten von der Aufklärung Geprägten halten Ideologien der apriorischen Ungleichheit (von „Rassen“ oder Männern und Frauen) für groben Unfug. Auch ich tue das. Aber kann ich dafür einen Grund angeben, der mehr als eine bloße Ursache ist? Wäre ich im Mittelalter geboren worden, hätte ich vermutlich eine andere Überzeugung, soviel ist mir klar. Habe ich durch die historisch-sozialen Umstände meiner Sozialisation eine Fähigkeit erworben, die Rassisten und eingefleischte Sexisten zufällig nicht haben? Das wiederum denke ich nicht.
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Gleichwohl ist für mich evident, was diese nur für eine Illusion halten. Ich wiederum halte für ein Phantasma, was diesen evident vorkommt. Ich kann nicht einmal sagen, dass zwischen mir und ihnen ein argumentatives Patt besteht. Ich habe für meine Überzeugung durchaus Gründe, die ich für besser halte als die etwaigen Gründe der Rassisten. Nur handelt es sich dabei um Gründe, die bereits durch die zu begründende Überzeugung, eben die fundamentale Gleichheit, geprägt sind. Mit Wittgenstein gesprochen: „Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.“138 Bei meinen Gegnern sehe ich nur noch direktere Zirkelschlüsse und windigere Generalisierungen, mit anderen Worten: miserable Rationalisierungen. Bisweilen kommen mir diese Rationalisierungen derart schlecht vor, dass ich sie sogar für interessierte Lügen halte, weil ich mir kaum vorstellen kann, dass ein zurechnungsfähiger Mensch heute noch daran glaubt. Wäre ich nun irrational, wenn ich mir nicht eingestehe, dass meine Überzeugung sich nicht ausschließlich meiner Rationalität verdanken? Wäre ein solches Nichteingeständnis nicht ein Fall von rationalistischer Vermessenheit? Vermutlich schon. Doch muss ich daraus auch schließen, dass ich meinen Gegnern mit etwas mehr Großzügigkeit begegnen sollte? Schließlich habe ich keine besondere Fähigkeit erworben. Vielmehr habe ich etwas nicht, nämlich einen Sinn für das, was diese wahrzunehmen meinen. Die Rede von irgendwelchen „rassischen Wesenheiten“ ist für mich nichts weiter als Obskurantismus. Ich kann sie aber insofern verstehen, als ich selbst nicht gänzlich frei von jenen Affekten bin, die solche Annahmen generieren können. Da die Überzeugung der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen religiöse Wurzeln haben dürfte, könnte man nun vielleicht erwarten, ich hätte eine mystische Erfahrung gemacht, die mich annehmen lässt, dass wir alle Kinder Gottes sind usw. Aber nichts dergleichen. Ich kann mich auf kein besonderes Erlebnis stützen, das mir die Erkenntnis eingepflanzt hätte. Ich weiß auch, unter anderen Bedingungen erzogen und ausgebildet, könnte ich der Moral der Aufklärung wesentlich weniger abgewinnen. Über einige moralische Überzeugungen lasse ich mit mir reden, aber nicht darüber, dass rassistische und sexistische Diskriminierungen falsch sind, das Dritte Reich ein verbrecherisches Regime war, etc.139 Genauer: Letztere Überzeugungen sind ziemlich feste und grundlegende Überzeugungen. Ich habe keine Idee davon, wie ein Argument aussehen müsste, das mich von der Falschheit antifaschistischer Überzeugungen überzeugen könnte. Im Gegenteil, jedes Argument, das darauf abzielt, erscheint mir von vornherein defekt – als höhere Dummheit oder als interessierter Taschenspielertrick. Dass ich diese Gewissheiten immer bewahren werde, das kann ich selbstver138
Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band 8, 169. Zugegeben, als Moderner habe ich klarere und festere Vorstellungen vom Bösen als vom Guten (dazu Gilbert Keith Chesterton, Ketzer, 23–34).
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ständlich nicht sagen. Etwaige Erschütterungen werden aber kaum durch Argumente bewirkt – jedenfalls nicht allein durch Argumente. Eher ist es so, dass ich erst nach der Erschütterung beginne, Argumente gegen die gleiche Würde ernst zu nehmen. Die Erschütterung würde ich – aus der gegenwärtigen Perspektive – als eine moralische Ermüdungserscheinung abtun. Und wenn ich nicht täglich gegen schlimme Diskriminierungen ankämpfe, dann hat dies nichts damit zu tun, dass ich über kein „Killerargument“ für meine Überzeugungen verfüge. Nicht die im Wege der Reflexion gewonnene Erkenntnis, dass für meine ethischen Gewissheiten keine restlos befriedigenden Begründungen zu haben sind, ist es, was mich bisweilen sogar gegenüber massivem Unrecht tolerant macht, sondern die Trägheit und die Ratlosigkeit. Was meine Grundeinstellung angeht, so genügt mir die „Erfahrung“ der gleichen menschlichen Würde. Von ihr zu abstrahieren ist mir ganz und gar unmöglich. Andererseits ist dieser Hintergrund nicht unabhängig von konkreteren ethischen Überzeugungen, die zu einem großen Teil auch die Überzeugungen meiner antiegalitären Gegner sind. Schließlich bewohnen wir dieselbe soziale Welt. Bis zu einem gewissen Grad ist der Hintergrund lediglich eine Abstraktion konkreterer Überzeugungen. Aus diesem Grund kann ich auch hoffen, einen eingefleischten Befürworter von Apartheidregimes und ständischen Ordnungen von der Idee der Gleichheit zu überzeugen. Denn dass ich ihm überhaupt Überzeugungen zuschreiben und zwischen uns Meinungsverschiedenheiten ausmachen kann, setzt bereits einen breiten Konsens voraus. In der Argumentation werden wir beide immer wieder von diesem Bestand an geteilten (empirischen und ethischen) Überzeugungen Gebrauch machen. Oftmals stehen dann auch weniger die großen Fragen der Moral direkt zur Debatte als vielmehr handfestere empirische Tatsachen und das, was einer komplexen Gesellschaft, die sich bekanntlich nicht nach Belieben „gestalten“ lässt, angemessen ist.140 Ob es klug ist zu versuchen, rassistische, sexistische und sonstige antiegalitäre Affekte mit Argumenten zu bekämpfen, muss freilich im Einzelfall entschieden werden. Insofern kann die politische Praxis durchaus von psychoanalytischer Aufklärung profitieren. Dass Affekte dieser Art nicht gänzlich unabhängig von Überzeugungen, quasi naturwüchsig, existieren, daran dürfte niemand ernsthaft zweifeln. Doch sind es oft nicht die Rationalisierungen der Affekte selbst, gegen die es sich zu argumentieren lohnt, sondern andere Überzeugungen. 140
Vgl. Andrew Collier, „Language, Practice and Realism“, in: Ian Parker (ed.), Social Constructionism, Discourse and Realism, London 1998, 56: „If you think that capitalism can be given a social conscience and go on growing in perpetuity, you will opt for Blair. If you think that the developmental tendencies of capitalism are such that if they continue to operate, the days of civilized life and perhaps of any sort of life on earth are numbered in decades rather than centuries, you will not.“
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Das Argument, wonach Überzeugungen, als deren Grundlage wir nur unsere Erziehung angeben können, irrational sind, sollte also kein Unbe hagen auslösen. Vielmehr scheint mit dem Argument etwas nicht zu stimmen. Es unterstellt eine allzu klare Trennung zwischen zwei Ursachen von Überzeugungen: Erfahrung/Wahrnehmung und Erziehung. Doch niemand hat eine feste Überzeugung, die sich – aus der Perspektive der ersten Person – auf keinerlei andere Überzeugung, Wahrnehmung oder Erfahrung stützt, sondern nur auf die eigene Erziehung. Erziehung, Welterfahrung und Werterkenntnis gehen Hand in Hand. Eine Gewissheit, die nach eigenem Dafürhalten nichts als Erziehung auf ihrer Seite hat, ist schon keine mehr. Sofern sie besteht, beruht sie für den, der sie hat, noch auf etwas mehr. Oft ist es aber nur eine in eine Fülle von Überzeugungen eingebettete „Erfahrung“. Die Anführungszeichen sollen verdeutlichen, dass es sich eben nicht um eine gewöhnliche empirische Erfahrung handelt, eine Erfahrung, die aber auch nicht notwendig die Qualität eines einschneidenden mystischen Erlebnisses erreicht. Eine solche Erfahrung bildet, wenn man so will, das Komplement zur Hoffnung, jener Grundlage politischer Leidenschaften, welche ihrerseits – ohne irrational sein zu müssen – nicht einfach (schon gar nicht unbedingt) auf rationalen Argumenten beruht.141 Gleichwohl können Argumente im politischen Streit etwas ausrichten. Manchmal erzeugen sie, geschickt vorgetragen, zumindest den Wunsch nach Selbsttransformation. Wenn wir den Begriff hinreichend weit verstehen, kann Argumentation noch mehr. Sie kann uns zu Einstellungen motivieren, indem sie unterstellt, dass wir in gewisser Weise bereits über diese Einstellungen und Werte verfügen – nur eben ohne uns dessen bewusst gewesen zu sein. So befördert sie zugleich Selbsterkenntnis und Selbsttransformation.142 Die Argumentation besteht dann zwar nicht aus strengen Ableitungen. Aber sie bleibt dennoch auf Begriffe wie „Wahrheit“, „Objektivität“ und „Rationalität“ angewiesen. Das Wissen um ihre historische Bedingtheit macht Überzeugungen und Rationalitätsstandards nicht einfach zu durchschauten Illusionen. Jedenfalls wäre dieses abstrakte Wissen kein Grund, sie als solche zu betrachten. Selbst ein prononcierter Antiessenzialist wie Laclau hält nicht viel von Begriffen wie „strategischer Essenzialismus“ oder Žižeks Idee der Notwendigkeit einer, wenn auch illusorischen, Bezugnahme auf ein 141
Der politische Objektivist kann den Wert des Faktors Hoffnung genauso anerkennen, wie Ökonomen den Wert eines Vertrauens zur Kenntnis nehmen können, das sich nicht rationalen Kalkülen verdankt. Siehe Martin Held/Gisela KubonGilke/Richard Sturn, „Ökonomik des Vertrauens – Stellenwert von Vertrauen in der Ökonomik“, in: dies. (Hg.), Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik Jahrbuch 4: Reputation und Vertrauen, Marburg 2005, 7–33. 142 Dieses Motiv der Verschränkung von Selbsterkenntnis und Selbsttransformation steht im Zentrum der Verteidigung des Perfektionismus bei Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome: The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago/London 1990.
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außerpolitisches, objektives Moment. Wie er in einem Gespräch mit Mary Zournazi feststellt, seien beide Ansätze unangemessen: If I assert some demands and I see that these demands at some point incarnate demands for justice and so on … I don’t need to say that there is an essential link between the two. All I need to say is that at this moment, historically, it is worth fighting for these objectives.143
Dem kann der Objektivist ohne weiteres zustimmen. Doch dürfte es ohnehin nicht viele geben, zumindest nicht im Mainstream der politischen Theorie, die meinen, dass die konkreteren Postulate der Gerechtigkeit sich transhistorisch begründen lassen, d. h. ohne Blick auf den jeweiligen sozialen Entwicklungsstand und die darin schlummernden Potenziale. Um von der Geltung einer Norm oder eines Normensystems überzeugt zu sein, benötigen wir zwar den Glauben, dass es einen Grund und nicht bloß eine Ursache für unsere Überzeugung gibt, doch wir müssen nicht von einer unbezweifelbaren Letztbegründung träumen. Am Ende des Prozesses der Begründung von Normen wird man immer auf Evidenzen stoßen, die nichts anderes sind als Überzeugungen, deren Veränderung allzu große Verschiebungen im Ensemble sonstiger Überzeugungen und damit in der eigenen Identität nach sich ziehen würde, als dass man sie überhaupt in Erwägung ziehen könnte. Dass diese Evidenzen, etwa die der gleichen Würde aller Menschen, eine Geschichte haben, beispielsweise die Geschichte des jüdisch-christlichen Abendlandes und der Aufklärung, dieser Nachweis vermag sie keineswegs zu widerlegen. In einem gewissen Sinne ist diese Erkenntnis dazu angetan, jemanden „lockerer“ zu machen. Sie befreit von verzweifelten Absichten einer absoluten Fundierung, deren ständiges Scheitern überdies zu einem Verlust von die eigene Identität stabilisierenden Sicherheiten führen und somit unglücklich machen kann. Insofern dürfte Pfaller richtig liegen. Mit der Frage, was das politisch bedeutet, was daraus für den Umgang mit anderen folgt, werde ich mich im nächsten Kapitel eingehender befassen. Die Rationalität politischer Überzeugungen ist allerdings nicht nur durch die apriorischen Grenzen der Begründbarkeit beschränkt, sondern wird durch Loyalitäten gegenüber bestimmten Personen oder Parteien oft zusätzlich vermindert. So werden liberale Linke dem, was von deklarierten Konservativen kommt, von vornherein mit größerer Skepsis begegnen als dem, was von Ihresgleichen vorgeschlagen wird. Wenn auf der „eigenen“ Seite neue Ideen formuliert werden, wird man, ohne dass man sich dazu bewusst entscheidet, eher geneigt sein, die eine oder andere Überzeugung zu überdenken, als wenn dieselben Ideen von einer Seite in den Diskurs eingebracht werden, mit denen einen auch in solchen Bereichen, die mit der Sache nichts zu tun haben, weniger verbindet. 143
In: Mary Zournazi, Hope, 131.
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Das Phänomen tritt nicht nur in der Politik auf. Auch im wissenschaftlichen Bereich spielen Loyalitäten, Moden und Traditionen eine wichtige Rolle. Auch die wissenschaftliche Betätigung des Einzelnen wird durch zahlreiche arationale und nicht selten unbewusste Faktoren beeinflusst. Auf Reputation beruhende Definitionsmacht ist überall ziemlich ungleich verteilt. Im Großen und Ganzen völlig zu Recht. Jedenfalls ist es für einen Theoretiker oder Forscher unvorstellbar, frei von allen disziplinären Zwängen und traditionsbedingten Bindungen zu arbeiten oder auch nur Probleme zu erkennen. In der Politik ist dies lediglich besonders augenfällig, vor allem bei Wahlwerbenden, deren Erkenntnisinteresse naturgemäß konkurriert mit dem Interesse an öffentlicher Macht. Die Befriedigung dieses Interesses erfordert oft nicht zuletzt, die Positionen des politischen Gegners gezielt falsch darzustellen, also vom Prinzip der wohlwollenden Interpretation abzurücken. Parteigenossen dagegen werden in der Öffentlichkeit regelmäßig mit Glacé-Handschuhen angefasst. Bis zu einem gewissen Grade ist das unvermeidlich oder wenigstens legitim, da politische Parteien ihre Funktion nur erfüllen können, wenn ein Mindestmaß an Parteidisziplin herrscht. Soweit diese Praxis existiert und zugleich als solche durchschaut wird, weist sie in der Tat spielerische Züge auf. Objektivisten, die keine allzu bornierten Rationalisten sind, können dafür durchaus etwas Toleranz aufbringen, allerdings deutlich weniger als der zynische Realist. Sie verweisen darauf, dass Verständnis für die Verfolgung von politischen Karriereinteressen sich ab einem bestimmten Punkt immer weniger vereinbaren lässt mit Vertrauen in die inhaltliche Qualität politischer Entscheidungen.144 Objektivisten müssen aber nicht gleich moralisieren. Ihr Ernst bezieht sich zuerst auf die Definition von Spielregeln. So wird jeder, der glaubt, Politik habe das Gute zum Gegenstand, Praktiken wie systematisches „dirty campaigning“ oder allzu großen Einfluss wirtschaftlicher Macht auf die öffentliche Debatte ablehnen. Letzteres selbst dann, wenn Lobbying integraler und allgemein zur Kenntnis genommener Bestandteil der „politischen Kultur“ sind.145 Denn dass alle wissen, wie die politische Agenda, Entscheidungen und Loyalitäten im Allgemeinen zustande kommen, macht die einzelne Propaganda nicht unbedingt ineffektiv. Solange in der politischen Öffentlichkeit der Ernst dominiert, und sei es ein geheuchelter, mithin an die Politik der Maßstab der Moral und des Gemeinwohls angelegt wird, hat der Objektivist Grund zur Hoffnung, nicht gänzlich auf verlorenem Posten zu stehen. Überhaupt muss er nicht unbedingt (nur) auf die bauen, die Politik hauptberuflich betreiben und durch allerlei systemische Zwänge dazu angehalten sind, unaufrichtig zu agieren. Er kann sich auch an jene halten, die weniger stark in das politische System 144
Bernard Williams, „Politics and Moral Character“, 68. Für eine kognitivistische Rechtfertigung demokratischer Institutionen siehe S. L. Hurley, „Cognitivism in Political Philosophy“, 192–198.
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integriert sind. Zwischen wahlwerbenden Parteien und dem so genannten Publikum gibt es noch zahlreiche weitere Akteure. Man denke hier an Menschenrechtsaktivisten oder globalisierungskritische Initiativen wie ATTAC, welche neben der unverzichtbaren Agitation bisweilen einen recht anspruchsvollen Diskurs pflegen. Diese können das, was als systemischer Zwang erlebt wird, durchaus beeinflussen. Manchmal – das hängt zweifellos auch von ihrer eigenen öffentlichen Reputation ab – gelingt es ihnen, einen Rechtfertigungsdruck zu erzeugen, aus dem sich Entscheidungsträger nicht mehr mit leeren Phrasen befreien können. Der rechte Objektivist baut freilich auf andere „zivilgesellschaftliche“ Akteure, insbesondere die konservativeren Fraktionen von Religionsgemein schaften oder neoliberale „Think Tanks“. Zwischen Neoliberalismus und dem politischen Objektivismus besteht aber insofern ein Spannungsverhältnis, als Ersterer Letzterem tendenziell den Boden entzieht. Und das in einem geradezu buchstäblichen Sinne, indem er kollektive Entscheidungen vorab der Irrationalität und schließlich der Illegitimität verdächtigt und daher die Zuständigkeiten der Politik stark dezimieren möchte.146 Je breiter die Agenda der demokratischen Entscheidungsfindung, so etwa die Annahme Hayeks, desto kürzer der „Weg zur Knechtschaft“; und soziale Gerechtigkeit gilt ohnehin nur als „Trugbild“.147 Was immer man von solchen Theorien im Einzelnen halten mag148, der politische Objektivist ist nicht auf eine bestimmte politische Position festge146
Vielleicht ist es auch bezeichnend, dass es sich über Neoliberale als Neoliberale schwerlich Witze reißen lässt. Wir können uns über George W. Bush, den „wiedergeborenen Christen“, lustig machen, aber, wie es scheint, nicht über Bush, den Privatisierer des Sozialsystems. Der großartige Monty Python Sketch über einen Investmentbanker, der, als besonders vulgäres Exemplar eines rationalen Trottels, nicht über die Begriffe des Spendens und der Freigebigkeit verfügt, trifft nicht den typischen Libertären, wie wir ihn heute kennen. Dieser hält sogar recht viel von privater Wohltätigkeit, er hat nur ein Problem mit politischer Kollektivität. Er hegt ein Ressentiment gegen organisierte Gemeinschaftlichkeit und expliziten Utopismus. Letzterer, ob in nationalistischen oder internationalistischen Versionen, gibt jedenfalls mehr für Witze her als ein expliziter Antiutopismus – mag auch dem neoliberalen Antiutopismus mehr als bloß das handfeste ökonomische Interesse einiger, nämlich eine Utopie der kruderen Sorte zugrunde liegen, die quasi religiöse Idee, dass der Markt, wenn man ihn nur ließe, allgemeinen Wohlstand und sozialen Frieden hervorbringen würde, und sei es in der x-ten Generation nach uns, eben langfristig. 147 Siehe Friedrich August von Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003, 149–303. 148 Instruktiv Peter Koller, „Individualismus und Liberalismus bei Hayek und Nozick“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 81 (2001), 39–57 und Richard Sturn, „Soziale Gerechtigkeit als Trugbild? Ebenen radikaler Wohlfahrtsstaatskritik“, in: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Richard Sturn (Hg.), Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik Jahrbuch 5: Soziale Siche-
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legt. Der Objektivismus, wie er hier verstanden wird, bezeichnet vielmehr die Form einer bestimmten politischen Einstellung – eine, die liberalen Zeitgenossen in Zeiten, da Bekenntnisse immer öfter als Ausdruck einer partikularen Identität oder subjektiven Gestimmtheit angesehen werden und nicht als Anspruch, etwas Wahres und Verbindliches zu sagen, zunehmend anachronistisch vorkommt, auch ohne Zureden ontologisch oder epistemologisch argumentierender Skeptiker. Für den Anti-Objektivismus scheint es nicht zuletzt moralische Gründe zu geben. Aber der Objektivist ist nicht notwendig ein intoleranter oder gar militanter Besserwisser. Im Folgenden möchte ich diese These etwas gründlicher verteidigen.
6. Objektivismus, Skepsis und Toleranz Zuerst möchte ich zeigen, dass der hier vertretene Objektivismus als solcher nichts mit jenem unglückseligen Dogmatismus zu tun hat, gegen den der Skeptizismus gerne in Stellung gebracht wird oder dem gegenüber der Skeptizismus liberal gesinnter Bürger westlicher Demokratien als zivilisatorischer Fortschritt gepriesen wird. Im Anschluss werde ich mich mit dem Verhältnis von Skepsis und Toleranz befassen, welches sich bei genauerer Betrachtung als nicht so eng erweist wie gelegentlich angenommen.149 rung in Marktgesellschaften, Marburg 2006, 13–38. Ein übereifriger Pfallerianer (wohl nicht Pfaller selbst) würde nur antworten: „Na und, wenn uns die Illusion glücklich macht?“ Damit könnte er bei einem Hayekianer aber kaum punkten. Dieser würde darauf bestehen, dass uns die Illusion der gerechten Verteilung eben nicht glücklich macht, sondern ein Leben in Armut und weitgehender Unfreiheit beschert. Zwar könnte man darüber diskutieren, wer von beiden recht hat, aber schon die Diskussion wäre einigermaßen witzlos, zumal es hier kein homogenes Wir, sondern immer nur Glückliche, weniger Glückliche und Unglückliche geben wird. Der linke Werte- und Gerechtigkeitsobjektivist würde also darauf hinweisen, dass es nicht allein auf das Glück, erst recht nicht auf bloß subjektive Empfindungen desselben, sondern auch auf dessen Verteilung ankommt. 149 Toleranz als besondere moralische Einstellung und Praxis, das sei hier bemerkt, ist nicht das Thema von Pfaller. Der undogmatische Charakter, der ihm vorschwebt, erscheint eher als Nebenprodukt einer am Eigeninteresse ausgerichteten Lebensweise. Als Kulturphilosoph mit Hang zur psychoanalytischen Theorie interessiert ihn nicht die Frage, wann wir wem gegenüber tolerant sein sollen; wie bereits festgestellt, ist ihm auch nicht an der philosophischen Begründung jener Haltungen gelegen, die seinen aufgeklärten Spieler auszeichnen. Sein Augenmerk gilt vielmehr den Bedingungen, unter denen sich diese Haltungen kultivieren lassen. Eine wesentliche Bedingung dafür ist für Pfaller die Transformation von Bekenntnissen in Aberglauben. Diese These wird hier bestritten.
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Wie kommen Objektivisten mit der Erfahrung zurecht, dass moralische Urteile sich mit den sozialen Rahmenbedingungen ändern? Was heißt es, eine Relativierung vorzunehmen, ohne in übertriebenen Relativismus oder Subjektivismus abzudriften? Einen moderaten Relativismus, der nicht von kulturellen Ganzheiten ausgeht, vertritt schließlich, wie Davidson meint, jeder halbwegs vernünftige Mensch: We are all moral relativists to some degree; any sane person must be. We acknowledge that it is morally wrong to kill someone in order to inherit their money, but that killing may be permitted, or even right, under certain other conditions. We do not blame children for actions for which we would hold an adult responsible. It may (as Plato remarked) be right to hand a man beset by thieves a weapon, but wrong to give the same weapon to a deranged would-be-suicide.150
Dogmatisch sind Objektivisten demnach nicht per se, sondern dann, wenn sie überhaupt keine relevanten Bedingungen gelten lassen. Man denke nur an jene „abstrakten Pazifisten“, die meinen, dass militärische Gewalt unter keinen denkbaren Umständen ein legitimes Mittel der Problemlösung sei. Freilich dürfte es nicht viele geben, die glauben, man hätte Hitler seinerzeit gewähren lassen bzw. lediglich „politischen“ Widerstand gegen ihn leisten sollen. Der Einwand, die Politik habe schon vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus und dem Amtsantritt Hitlers als Reichskanzler, jedenfalls aber vor dem Ausbruch des Krieges versagt, tut nichts zur Sache. Denn die Frage lautete: Was sollte unter der Bedingung nationalsozialistischer Gräueltaten und Aggression getan werden – wie immer diese zunächst möglich wurden? Anlässlich der Balkan-Krise in den 1990ern wiederum war die Überzeugung weit verbreitet, dass den Opfern der serbischen Aggression geholfen werden müsse, dass die Hilfe aber keinesfalls in Waffenlieferungen bestehen dürfe. Diese Position war schon eher diskutabel. Soweit sie – ethisch betrachtet – vernünftig war, beruhte sie auf Argumenten, die über den luftigen Gemeinplatz „Gewalt erzeugt nur Gegengewalt“ hinausgingen. Dass die Gültigkeit der meisten ethischen Urteile von zahlreichen historisch kontingenten Bedingungen abhängt, spricht also nicht gegen den Objektivismus. Der Objektivist ist nicht weltfremd. Eher noch ist dies ein Kulturrelativist, der sich als Kulturalist standhaft subtilen politischen Analysen verweigert und Konflikte wie jene am Balkan tendenziell als Stammesfehden ansieht, als Eskalationen jahrhundertealter „ethnischer Spannungen“. Hier noch weitere Beispiele für objektivismuskompatible Relativierungen: Wie viel an sozialer Sicherheit ein Gemeinwesen seinen Mitgliedern garantieren muss, hängt davon ab, was es zu finanzieren in der Lage ist. Das wiederum hängt vom ökonomischen Entwicklungsstand ab. Wie dieser auf gerechte Weise verändert werden kann, lässt sich ebenfalls nicht genau 150
Donald Davidson, Problems of Rationality, 40.
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sagen, ohne einiges über die historisch kontingenten sozialen Verhältnisse zu wissen. In einer vorwiegend agrarisch strukturierten Gemeinschaft werden andere politische Maßnahmen angemessen sein als in einer hochtechnisierten Industriegesellschaft. Die Frage, zu welchen direkten materiellen Unterstützungsleistungen wir selbst anderen gegenüber verpflichtet sind, lässt sich genauso wenig ein für allemal beantworten. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, wie das System sozialer Sicherung organisiert ist. Auch historisch kontingente Konventionen können moralische Pflichten entstehen lassen. A priori gibt es natürlich keinen Grund, sich mit seinem Kraftfahrzeug prinzipiell auf der einen und nicht der anderen Straßenseite zu halten. Wenn aber eine Konvention oder eine rechtliche Vorschrift existiert, die dieses Koordinationsproblem löst, dann wird es auch moralisch (und zwar objektiv) verbindlich sein, sich der Norm entsprechend zu verhalten. Wer glaubt, es sei weiterhin objektiv unentscheidbar, ob er rechts oder links fahren soll, der irrt. Viele Konventionen mögen inhaltlich moralisch arbiträr sein und dennoch, wenn sie einmal bestehen, moralische Verbindlichkeit entfalten, weil sie so etwas wie allgemein vorteilhafte Kooperation erst ermöglichen. Sie mögen diese Verbindlichkeit sogar dann entfalten, wenn inhaltlich bessere Konventionen denkbar wären, aber einfach noch nicht existieren. Ein mangelhaftes Steuersystem etwa ist gewöhnlich immer noch besser als gar keines. Dass die bürgerliche Kleinfamilie vielleicht nicht die beste aller denkbaren Institutionen des Zusammenlebens zwischen den Generationen darstellt, ändert nichts an den individuellen Pflichten und der speziellen Verantwortung, die Eltern gegenüber ihren Kindern unter der Bedingung der Existenz dieser Institution haben. Die Verletzung elterlicher Pflichten könnte selbst dann nicht als moralisch unerheblich oder gar geboten erachtet werden, wenn die Einwände gegen die Institution der Familie (ob feministischer oder anarchistisch-libertärer Ausprägung) berechtigt wären. (Der so denkende Gegner „bürgerlicher Familienidyllen“ sagt sich nicht: „Ich weiß, die Institution der bürgerlichen Kleinfamilie ist reaktionär, unterdrückerisch etc., aber dennoch trage ich zu ihrer Erhaltung bei.“ Das Argument lautet vielmehr: „Ich weiß, die Institution ist reaktionär, unterdrückerisch etc., aber mangels einer anderen Organisation der Versorgung, Betreuung und Erziehung von Kindern, sind primär die leiblichen Eltern dafür zuständig.“) Dass ein antiobjektivistischer Relativismus oder Subjektivismus vielen spontan einleuchtet, hat zweifellos auch damit zu tun, dass es oft unangemessen erscheint, über Menschen zu urteilen, ohne zu wissen, wie sie erzogen bzw. sozialisiert wurden. Uns graut vielleicht vor Witwenverbrennungen, aber wenn die daran Beteiligten überzeugt sind, das Richtige zu tun, halten wir sie zumindest nicht für Verbrecher. Doch daraus lässt sich dem Objektivisten kein Strick drehen. Seine These ist ja nicht, dass die moralische Wahrheit für jedermann jederzeit erkennbar wäre; seine These ist auch nicht, dass er selbst unfehlbar wäre. Seine These besagt nur, dass die moralische Wahrheit nicht davon abhängt, ob sie erkannt wird, mithin dass
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man sich auch in moralischen Fragen täuschen kann. Die Bewertung sozialer Verhältnisse als ungerecht impliziert für den Objektivisten also weder das Recht, diese Verhältnisse mit Zwangsgewalt zu verändern, noch eine Antwort auf die Frage, wer dafür verantwortlich ist.151 Die Schuldfrage dürfte insbesondere dann schwer zu klären sein oder gar völlig unangebracht erscheinen, wenn diejenigen, die von den ungerechten Verhältnissen profitieren bzw. aktiv zu deren Erhaltung beitragen, im Einklang mit ihren und den in ihrer Umgebung weithin anerkannten Überzeugungen handeln. Der Objektivismus schließt allerdings auch nicht die Plattitüde ein, die Wahrheit liege immer in der Mitte. So lautet eine beliebte Pseudorechtfertigung der „Gemäßigten“ in der Politik: „Wenn sowohl die Linke als auch die Rechte dagegen ist, dann liegen wir richtig.“ Doch Objektivität ist nicht gleich Neutralität, wie der Sozialist Terry Eagleton treffend bemerkt: Objectivity and partisanship are allies, not rivals. What is not conducive to objectivity on this score is the judicious even-handedness of the liberal. It is the liberal who falls for the myth that you can only see things aright if you don’t take sides. It is the industrial chaplain view of reality. The liberal has difficulty with situations in which one side has a good deal more of the truth than the other – which is to say, all key political situations. … Faced with the poor’s view of history as for the most part wretchedness and adversity, the liberal reaches instinctively to trim the balance: hasn’t there also been a great deal of splendour and value? Indeed there has; but to claim that the two balance each other out is surely to falsify. Even-handedness here is not in the service of objectivity. True judiciousness means taking sides.152
In einem gewissen Sinne kann der Objektivist also kein Liberaler sein, in einem anderen freilich schon. In diesem anderen Sinne ist auch Eagleton ein Liberaler. Der Objektivist ist nämlich nicht nur nicht auf Intoleranz und Anklagen festgelegt, er muss nicht einmal annehmen, dass es für jedes Problem genau eine richtige Lösung gibt. Zweifel und Unsicherheit sind ihm keineswegs fremd. Allerdings schließt er von hartnäckigem Dissens nicht gleich auf die Unmöglichkeit von Objektivität – allenfalls auf die Notwendigkeit der Kompromissbildung im Rahmen halbwegs fairer Verfahren als second-best solution. Für die strikte Unentscheidbarkeit einzelner moralischer Probleme, denkt er, müssten ebenfalls Gründe angegeben werden. Das allgemeine metaethisch-ontologische Argument kann aus den oben angeführten Gründen nicht überzeugen. Außerdem würde man damit in Widerspruch zu einem Gutteil der moralischen Kommunikation geraten – und das spricht weniger für den illusorischen Charakter unseres moralischen Denkens als für die Unangemessenheit antiobjektivistischer Metaethiken, insbesondere 151
Siehe Bernard Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999, 221, 230. 152 Terry Eagleton, After Theory, 136.
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subjektivistischer, die jedes moralische Urteil als Ausdruck einer letztlich privaten geschmacklichen Vorliebe begreifen. Der Objektivist kennt den Zweifel. Vor allem muss er nicht annehmen, dass er über eine Letztbegründung seiner Werturteile verfügt. Er kann durchaus wissen, dass sich sein Wertehorizont sozial bedingten „Erfahrungen“ verdankt, mithin unbegründeten Dispositionen, die er nicht eindeutig von Fähigkeiten unterscheiden kann. Insofern ist er sich der Bedeutung „bloßer“ Bekenntnisse bewusst. Ob solche Bekenntnisse (etwa zur Gleichheit) undogmatischer im Sinne von „toleranter gegenüber Andersdenkenden“ machen, hängt hauptsächlich von ihrem Inhalt ab. Das Metawissen um die historische bzw. soziale Bedingtheit der einzelnen Bekenntnisse (wenn man so will: eine Restskepsis) sollte zwar einerseits vor dem Hochmut bewahren, der aus dem Glauben an den „Besitz der Wahrheit“ resultiert, könnte aber andererseits, soweit es Ergebnis einer gewissen Denkanstrengung ist, auch Grund für ein Übermaß an Selbstachtung sein. Hinzu kommt, dass das Beharren auf den kontingenten historischen Bedingungen für Überzeugungen, der Unmöglichkeit von Letztbegründungen bzw. der Verschränkung von bloßen Ursachen und Gründen leicht zwanghafte Züge annimmt. Die Identität als „undogmatisch“ verlangt nach dem Dogmatiker. Der Antidogmatist ist deshalb immer der Versuchung ausgesetzt, im fest überzeugten Anderen einen „Fundamentalisten“ zu sehen.153 Skepsis kann zwar in der Tat eine Quelle der Toleranz sein. Doch der allgemeine Zweifel an der Letztbegründbarkeit von Überzeugungen bzw. die Negation der Unfehlbarkeit (die „Restskepsis“) allein vermag Toleranz nicht zu begründen. Besser eignet er sich zur Begründung von Institutionen, die bestimmte Formen der Intoleranz unterbinden und die in der Folge vielleicht auch den Habitus der Einzelnen prägen. Per se macht er auch nicht „offener“ gegenüber den Ideen und Argumenten der anderen, zumal deren Bewertung nur vor dem Hintergrund von Überzeugungen erfolgen kann, die gerade nicht infrage gestellt werden. Stanley Fish spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „antifoundationalist theory hope“.154 Darunter versteht er die Neigung, der Einsicht in die „Geschichtlichkeit“ von Überzeugungen und der Leugnung irgendeines privilegierten Zugangs zu einer transhistorischen Wahrheit für sich schon emanzipatorische Konsequenzen zuzuschreiben. In Wirklichkeit folge aus dieser Auffassung jedoch außerhalb des akademischen Diskurses gar nichts. Überzeugungen kämen immer nur in bestimmten Kontexten zum 153
So wie die Selbstbeschreibung als abgeklärt, nüchtern und realistisch den Naiven als Fetisch erfordert. Diesen Fetisch scheint auch der Revolutionär-ohne-Programm zu benötigen, wenn er abstrakt gegen den „bloßen“ Reformismus polemisiert und sich so realistischer als die Realisten vorkommt. 154 Siehe Stanley Fish, Doing What Comes Naturally: Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, London/Durham 1989.
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Tragen, jene der radikalen Kontingenz allen Wissens und jeder Wahrheit eben in philosophischen Seminaren. Wer hingegen von der Historizität der Gerechtigkeit und dem „Befragen“ der eigenen Überzeugungen allzu besessen ist, der wird kaum eine halbwegs gehaltvolle politische Überzeugung ausbilden, zumindest aber keine Position beziehen können, die für die Realität außerhalb des philosophischen Seminars taugt. So meint Stanley Fish mit Bezug auf Judith Butlers Affirmation des „rethinking“ zu Recht, dass die Annahme, dekonstruktive Selbstbefragung würde zu einer besseren Welt führen, bislang nicht begründet wurde: This assumption is not argued for; it is more like an article of faith, a faith that rethinking or revaluing or counter-appropriating will lead to a better world populated by better persons. And it is a universalizing assumption because it is indifferent to outcomes, to how things turn out in the world, and concerned only to enjoy a single activity (rethinking) that is, like virtue, its own reward. … Not constrained or controlled by hegemonic purposes but driven only by the purpose to unsettle the ordinary and the sedimented, deconstructive thinking will bring us to a brave new world of whose outlines we are necessarily (and happily) ignorant.155
Diese Indifferenz der ins Hysterische kippenden LetztbegründungsSkepsis kommt nicht selten in einer starren Fixierung auf „das Politische“ zum Ausdruck, dem die gängigen normativen politischen Theorien nicht gerecht würden. Politik wird dabei, wie Fish bemerkt, als Praxis verstanden, die ihren Wert in sich haben müsste. Diese Idee ist nicht völlig absurd. Tatsächlich scheint die Teilnahme an der Politik das Potenzial zu beinhalten, zur Selbstverwirklichung der Einzelnen beizutragen. Doch dieses Potenzial kann sich nur aktualisieren, wenn der Politik darüber hinaus noch ein instrumenteller Wert zugeschrieben, d. h. wenn sie als Mittel zur Realisierung einiger anderer Werte (Freiheit, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, militärische Sicherheit etc.) verstanden wird. Andernfalls bliebe jede politische Haltung zumindest als politische Haltung inkonsistent.156 Was die expliziten, direkt gegen die Möglichkeit ethischer Wahrheit oder deren Erkenntnis gerichteten Formen der Skepsis angeht, so blockieren sie zwar nicht die politische Positionierung, können aber als Dispens von Rationalitätsanforderungen und als Blankolegitimation affektgesteuerter ethisch-politischer Urteile verstanden werden. Ja, der (selbst auferlegte) Zwang, Überzeugungen in bloße Merkmale der eigenen Identität umzudeuten, der Verzicht auf den Wahrheitsanspruch und die Beschränkung auf die Einforderung von „Respekt“ können, wie es scheint, auch Ressentiments 155
Stanley Fish, The Trouble With Principle, Cambridge, Mass./London, Engl. 1999, 137. 156 Siehe Jon Elster, Subversion der Rationalität, 193–202; ders., „Self-realization in Work and Politics: The Marxist Conception of the Good Life“, in: ders./Karl Ove Moene (eds.), Alternatives to Capitalism, Cambridge 1989, 149f.
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erzeugen, welche dann ihrerseits zu einem politischen Problem werden. (Ich komme auf die Idee des wechselseitigen Respekts noch zu sprechen.) Vor allem legen diese Formen der Skepsis, wenn sie sich eine gewisse Inkonsequenz erlauben und als Begründung demokratischer Institutionen empfehlen, eine Konzeption kollektiver Entscheidungsfindung nahe, die lediglich auf die Aggregation individueller Präferenzen und die mehr oder weniger unreflektierten Wünsche der Mehrheit abstellt. Zur Akzeptanz anderer Überzeugungen führt allenfalls der konkrete Zweifel, die Auflösung einer einstigen Gewissheit. In solchen Fällen kann man üblicherweise auf weitere moralische oder pragmatische Argu mente für Toleranz verzichten.157 Ähnlich wie konkrete Zweifel wirkt die Gleichgültigkeit, die typischerweise einem Gefühl mangelnder Betroffenheit entspringt. Ist sie einmal gegeben und erweist sie sich als politisch segensreich, braucht es keine weiteren moralischen oder pragmatischen Argumente. Dabei hat die Gleichgültigkeit den Vorzug, mit wesentlich geringerem intellektuellem Aufwand hervorgerufen werden zu können. Der materielle Aufwand kann jedoch um einiges größer sein. Schließlich setzt Gelassenheit in der Konfrontation mit „dem Anderen“ bei den meisten Menschen Sicherheit voraus. Permanente Abstiegs- oder gar Existenzängste sind bekanntlich ein schlechter Nährboden für tolerante Einstellungen. Allerdings werden auch Zweifel, die sich nur auf einzelne Überzeugungen beziehen, nur selten so weit gehen, dass wir jede Position als ernstzunehmende Option in Erwägung ziehen. In der Regel ist unsere Unsicherheit immer schon beschränkt. Wir glauben dann zu wissen, was jedenfalls falsch ist, ohne das Richtige punktgenau ausmachen zu können. Bisweilen zweifeln wir auch daran, dass es für eine bestimmte Frage überhaupt genau eine richtige Antwort gibt. Der Dissens allein (auch der zwischen vernünftigen Menschen) rechtfertigt diesen Zweifel aber noch nicht. Im Übrigen wird die Toleranz erst dann zu einer Option (im Gegensatz zu Indifferenz oder Unentschlossenheit), wenn sie trotz der Abwesenheit von Zweifeln geübt wird. Die Abwesenheit von Zweifeln setzt aber Überzeugungen voraus, und seien es Überzeugungen in Bezug auf den Wert der eigenen Lebensform. Für diese Überzeugungen wiederum (bzw. die Lebensform, auf die sie sich beziehen) muss es Konkurrenten geben. Nicht jede Unterdrückung eines Affekts gegen andere ist ein Fall von Toleranz. Das ergibt sich schon aus dem Begriff. Im Folgenden halte ich mich an Rainer Forsts bestechende Begriffsanalyse.158
157
„Üblicherweise“ – denn unter bestimmten Bedingungen liegen für manche auch gewaltsame Strategien der Selbstvergewisserung nahe. 158 Dazu Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart einer umstrittenen Tugend, Frankfurt/M. 2003, 32ff.
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(1) Toleranz impliziert eine Ablehnung des Tolerierten, die auf mehr als einem vagen Gefühl basiert; was toleriert wird, muss im Widerspruch zu bestimmten Überzeugungen stehen. Wem homosexuelle Praktiken als solche vollkommen gleichgültig sind, kann auch nicht sagen, er oder sie sei tolerant gegenüber Homosexuellen. Toleranz gegenüber Homosexuellen zu üben setzt mindestens voraus, dass man Homosexualität für eine Verfehlung hält. Überdies muss sich die Ablehnung auf Praktiken oder Überzeugungen beziehen, nicht einfach auf Personen als solche. Jemand, der überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund für seine Antipathien anzugeben vermag, kann auch nicht tolerant sein. Sonst wäre derjenige am tolerantesten, der am meisten Menschen im Geheimen hasst. Wobei hinzuzufügen wäre, dass Einstellungen wie Antisemitismus und Rassismus ohnehin nicht Fälle gewöhnlicher Vorurteilsbeladenheit sind: Juden werden von Antisemiten nicht deshalb abgelehnt, weil sie für geldgierig, wucherisch, intellektualistisch, unpatriotisch etc. gehalten werden. Vielmehr werden Juden die einschlägigen Negativattribute zugeschrieben, weil sie Juden sind. Im Juden wird etwas mehr gesehen, als er ist. Der Überschuss ist das unbestimmte „Jüdische“, welches seinerseits als Ursache für Geldgier, Heimatlosigkeit etc. angesehen wird. Der Hass bezieht sich nicht auf die Geldgier, sondern „das Jüdische“.159 Bezeichnenderweise sind es auch nicht die auffälligen Eigenschaften von einzelnen Juden, die den Antisemiten erregen, sondern eher kleine, an sich völlig bedeutungslose Ticks – die dann gewissermaßen als Schibboleth „des Jüdischen“ gedeutet werden. Und je weniger Juden auffallen und sich von Nichtjuden unterscheiden, desto verdächtiger erscheinen sie. Deshalb kommt man dem Antisemiten auch so schlecht mit Aufklärung bei. Bloße unzutreffende Vorurteile ließen sich noch relativ leicht beseitigen.160 Der Aufruf, gegenüber anderen „Rassen“ und Juden tolerant zu sein, basiert in der unqualifizierten Form nicht nur auf einem gravierenden Missverständnis. In der wohlmeinenden Rede von „unseren jüdischen Mitbürgern“ offenbaren sich darüber hinaus noch eindeutige Reste rassistischer Wahrnehmungsmuster. Wie überhaupt die Forderung, sich gegenüber Juden oder „Menschen anderer Hautfarbe“ tolerant zu verhalten, das eigentlich zu bekämpfende Übel verkennt und damit reproduziert: die Reifikation 159
Zu diesem „Blick des Hasses“ Peter Strasser, Das Menschenmögliche. Späte Gedanken über den Humanismus, Wien 1996, 97ff. 160 Für den Rassismus gegenüber Schwarzen in den USA gilt dasselbe. Am prägnantesten hat dies Appiah zum Ausdruck gebracht: „It is not black culture that the racist disdains, but blacks. There is no conflict of visions between black and white cultures that is the source of racial discord. No amount of knowledge of the architectural achievements of Nubia or Kush guarantees respect for African-Americans. No African-American is entitled to greater concern because he is descended from a people who created jazz or produced Toni Morrison. Culture is not the problem, and it is not the solution.“ (Kwame Anthony Appiah, „The Multiculturalist Misunderstanding“, in: New York Review of Books 44 [1997], 36)
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einer Kollektividentität (eine Abgrenzung) ohne jeglichen Wert.161 Wem gegenüber Toleranz in Betracht kommt, ist der Rassist selbst bzw. dessen Praktiken und Überzeugungen. Ob und inwieweit sie geboten oder verwerflich ist, ist eine andere Frage. (2) Toleranz beinhaltet aber natürlich nicht nur Ablehnung, sondern auch die Akzeptanz des als falsch, verwerflich oder widerwärtig Er- oder Verkannten. Das bedeutet, es muss neben den Gründen, die für die Ablehnung sprechen, noch positive Gründe geben. Diese übertrumpfen die Ablehnungsgründe zwar, dürfen sie aber nicht aufheben. So könnte es durchaus moralisch geboten sein, moralisch Falsches zu akzeptieren, nämlich dann, wenn die Akzeptanz, verglichen mit bestimmten Unterdrückungsmaßnahmen, das geringere moralische Übel darstellt. Solche Argumentationsweisen finden sich sogar innerhalb religiöser Ethiken. Außerdem braucht der wahre Glaube nur als Geschenk Gottes begriffen zu werden, und schon wird aus der bloßen Ablehnung anderer Überzeugungssysteme und Praktiken ein geduldiges Bedauern der Ungläubigen.162 Nach Forst zwingt dieses Merkmal der Toleranz den, der tolerant sein will, zu einer gewissen Wahrheitsrelativierung, nicht aber zu einem Relativismus.163 (3) Allerdings genügt nicht irgendeine Form der Akzeptanz. Nicht jeder Grund für Akzeptanz ist ein Grund, der Toleranz konstituiert. Das als falsch Erkannte muss aus freien Stücken akzeptiert werden, und nicht etwa, weil gar keine Wahl besteht. Von einer völlig machtlosen Minderheit allein deshalb zu behaupten, sie toleriere die mehrheitlichen Überzeugungen, weil sie sie nicht mit nennenswerter Gewalt bekämpft, ist Unsinn.164 Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass Toleranz immer etwas mit Macht zu tun hat. Wer sich nur aus Gründen der Selbsterhaltung nicht zur Wehr setzt, ist nicht tolerant. Dies erweckt den Anschein, als ob Toleranz immer nur von oben nach unten praktiziert würde. Eine an Strafgefangene gerichtete Forderung, die 161
Dass heute Toleranz zunehmend gegenüber bestimmten „Identitäten“ und nicht gegenüber Überzeugungen und Praktiken gefordert, dass vorschnell von „Kultur“ gesprochen wird, ohne anzugeben, was damit eigentlich gemeint ist (z. B. Sprache, ethische oder religiöse Überzeugungen und einzelne Rituale), könnte schon erste Zweifel an der Toleranzrhetorik begründen. Siehe dazu die schöne, auf Foucault gestützte Analyse bei Wendy Brown, „Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität“, in: Rainer Forst (Hg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt/M./New York 2000, 272ff. 162 Für eine Darstellung möglicher christlicher Argumente für Toleranz siehe z. B. Perry Schmidt-Leukel, „Ist das Christentum notwendig intolerant?“, in: Rainer Forst (Hg.), Toleranz, 185ff. 163 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 37, 630ff. 164 Siehe auch Wendy Brown, „Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität“, 263.
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Praxis des Strafvollzugs zu tolerieren, wäre jedenfalls reichlich grotesk. Und auch die Forderung, Homosexuelle mögen Heterosexualität tolerieren, müsste jedem vernünftig Denkenden seltsam anmuten. Aber eine „ErlaubnisKonzeption“ der Toleranz ist keineswegs die einzig mögliche Elaboration des Begriffs. Es sind auch noch, wie Forst zeigt, „Koexistenz“-, „Respekt“und „Wertschätzungskonzeptionen“ denkbar.165 Nach der Koexistenz-Konzeption wird die wechselseitige Toleranz hauptsächlich pragmatisch begründet. Toleranz erscheint darin als konstitutives Element eines möglichst konfliktarmen modus vivendi oder dient als Grundlage allgemein vorteilhafter Kooperation. Die Etablierung einer solchen Konzeption markierte das Ende der europäischen Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert. Die Beendigung der Kriege war offenkundig durch eine gewisse Müdigkeit motiviert. Michael Walzer bringt es auf den Punkt: „Menschen töten einander in Kämpfen, die sie, und sei’s über Jahre hinweg, solange fortführen, bis jene gnädige Erschöpfung eintritt, die wir als Toleranz bezeichnen.“166 Eine Koexistenz-Konzeption gebietet freilich nicht Toleranz, sondern weist sie unter bestimmten Bedingungen lediglich als opportun aus. Mit einer Veränderung der Machtverhältnisse kann die Toleranz ihre Opportunität aber auch wieder vollkommen einbüßen. Nach der Respekt-Konzeption ergibt sich das Gebot wechselseitiger Toleranz aus der freien Wahl einer Lebensform (liberale Vorstellung), umgekehrt aus der Unmöglichkeit einer solchen Wahl (kommunitaristische Vorstellung) oder, wie Forst meint, aus dem Prinzip der wechselseitigen Rechtfertigung (diskursethische Vorstellung).167 Einigkeit besteht darin, dass man die Konzeptionen des guten Lebens anderer (etwa von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften) für verkehrt halten, im Verbot, diese Konzeptionen zu realisieren, aber ein noch größeres moralisches Übel sehen kann, eben mangelnden Respekt vor dem Anderen. Ob die von manchen Multikulturalisten bevorzugte Wertschätzungskonzept ion, wonach die Überzeugungen der anderen sogar als ethisch wertvoll anzusehen sind, überhaupt noch als eine Toleranzkonzeption gelten kann, ist, legt man obigen Begriff zugrunde, fraglich. Zumindest darf das Tolerierte nicht als ebenso wertvoll angesehen werden wie die eigenen Überzeugungen und Praktiken. Andererseits dürfte auch eine Respekt-Konzeption, wie wir noch sehen werden, nicht ohne Elemente der Wertschätzung auskommen. Im Übrigen darf man vermuten, dass selbst die aufrichtigsten Egalitaristen ihre Toleranz nicht nur auf moralische Erwägungen des gleichen Respekts gründen, sondern oft auch (und vielleicht sogar ausschließlich) auf pragmatische Erwägungen. Soweit Toleranz also etwas Gutes ist, ist sie ein 165
Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 42ff. Michael Walzer, „Politik der Differenz: Staatsordnung und Toleranz in der multikulturellen Welt“, in: Rainer Forst (Hg.), Toleranz, 215. 167 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 590ff. 166
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Gebot der Moral oder der Klugheit. Und da moralische und pragmatische Erwägungen ziemlich komplex sein können, ist auch die Toleranz eine komplexe Tugend. Eines der überzeugendsten Argumente für Toleranz im Sinne der Implementierung von Glaubens-, Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit stammt bekanntlich von John Stuart Mill. Es ist ein Argument, in dem moralische, pragmatische und erkenntnistheoretische Motive ineinander greifen: Zunächst ist es nach Mill schon angesichts unserer eigenen Fehlbarkeit ratsam, die eigene Position dem diskursiven Wettbewerb mit anderen Gegenpositionen auszusetzen. Aber das ist nicht alles. Im interessantesten Teil seiner Abhandlung Über die Freiheit entwickelt und verteidigt Mill die These, dass der Widerstreit der Ideen Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis derselben sei und sie davor bewahre, zu hohlen Phrasen zu verkommen: Selbst wenn die überlieferte Meinung nicht nur die Wahrheit, sondern sogar die ganze Wahrheit enthielte, so würden die meisten derer, die sie teilen, sie nur als eine Art Vorurteil annehmen, mit wenig Verständnis oder Sinn für ihre verstandesmäßige Begründung, wenn man nicht zuläßt, ja sogar darauf besteht, sie in vollem Ernst zu bekämpfen. Und nicht nur dies, sondern … [a]uch der Sinn der Lehre selbst wird in Gefahr sein, verloren zu gehen oder geschwächt und seines lebendigen Einflusses auf den Charakter und die Handlungsweise beraubt zu werden. Das Dogma wird ein rein formales Bekenntnis, wirkungslos für das Gute, doch wird es den Grund überdecken und dadurch das Wachstum einer wirklichen, von Herzen gefühlten Überzeugung aus Vernunft oder Erfahrung verhindern.168
Mill verknüpft also – wie Davidson, wenn auch auf andere Weise – Wahrheit und Bedeutung. Die volle Bedeutung einer Lehre erschließt sich nach seiner Auffassung nur im Zuge ihrer diskursiven Verteidigung. Lehren, die sich nicht ständig im Meinungsstreit (auch um die eigene Auslegung) bewähren müssten, würden früher oder später zu einem Ensemble von Phrasen degenerieren, denen die Menschen dann zwar vielleicht noch zustimmen mögen, aber ohne ihre Lebensführung danach auszurichten. Der Ritualismus kann demzufolge nicht nur, wie Pascal angenommen hat, Bekenntnisse generieren169, sondern auch unterminieren. Doch selbst wenn die Gewissheit der Fehlbarkeit jedes Menschen für die Konstitutionalisierung bestimmter Freiheiten spricht, müssen wir, die wir solche moderaten Skeptiker sind, nicht selten Farbe bekennen: Spätestens 168
John Stuart Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 1988, 73. Und wie zur Bestätigung heißt es beim Verteidiger der (christlichen) Orthodoxie Chesterton: „Wir Chris ten haben nie gewußt, wie viel gesunder philosophischer Menschenverstand im Mysterium des Christentums steckt, bis christenfeindliche Autoren uns darauf hingewiesen haben.“ (Gilbert Keith Chesterton, Ketzer, 258) 169 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und andere Themen, Stuttgart 1997, 227ff.
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wenn diese Freiheiten miteinander kollidieren, überhaupt negiert oder schleichend – im Wege ihres Ge- bzw. Missbrauchs – ausgehöhlt werden, müssen wir reagieren. Zu einer Aushöhlung kann es auch in einer Gesellschaft aus lauter Antifundamentalisten kommen, gewissermaßen als nicht intendiertes Nebenprodukt. Dagegen hilft nur die eine oder andere feste Überzeugung, z. B. die Überzeugung, dass eine durchgängige Ökonomisierung aller Lebensbereiche der sozialen Freiheit abträglich ist. Wenn Meinungen nämlich nur mehr nach ihrem (kommerziell relevanten) Unterhaltungs- und Erbauungswert beurteilt werden, dann ist die Meinungsfreiheit weitgehend entwertet.170 Das diagnostizierte schon – kurz nach Mill – Chesterton, der sich dabei freilich auf die letzten, fundamentalen Überzeugungen bezog: Als die alten Liberalen den Häresien die Knebel abnahmen, erhofften sie sich davon religiöse und philosophische Entdeckungen. Nach ihrer Überzeugung war die ganze Wahrheit so wichtig, daß jedermann aufgerufen war, sich dazu in
170
Diesen Mechanismus unterschlägt Milton Friedman, wenn er für den Kapitalismus ins Treffen führt, dass dieser eher Widerstand gegen sich selbst zulasse als ein planwirtschaftlicher Sozialismus (siehe Kapitalismus und Freiheit, München/ Zürich 2004, 39–42). Das – elegante und dabei völlig plausible – Argument lautet: Die Verbreitung revolutionärer Ideen erfordert Geld. Im Kapitalismus muss der Revolutionär die Geldgeber aber nicht von seinen Ideen überzeugen, sondern nur davon, dass sich mit ihrer Verbreitung Profit machen lässt. Wo hingegen die wirtschaftliche Macht in politischen Institutionen zentralisiert ist, deren Funktionäre ein persönliches Interesse am Fortbestand der Institutionen haben, wird der Revolutionär bestenfalls auf taube Ohren stoßen. Hier endet das Argument Friedmans. Allerdings ist der Kapitalismus keineswegs so schutzlos, wie es nun scheinen mag, auch wenn die Verbreitung radikaler Ideen heute deutlich weniger Kosten verursacht als zu Zeiten, da man auf Verleger angewiesen war. Zumal die Ideen auf dem Markt mit Unmengen an anderen Angeboten konkurrieren. Tatsächlich kann man sich im Großen und Ganzen darauf verlassen, dass die Infragestellung des Kapitalismus auf dem Marktplatz recht bald zu einer leeren Geste verkommt. Im für den Revolutionär günstigsten Fall werden neue marktrelevante Konsumbedürfnisse geschaffen (nach Fair-Trade- und Bio-Produkten, nach Hybrid-Autos u. ä.), und neue Chancen für Unternehmen tun sich auf. Selbst wenn die radikalen Ideen ins politische System gelangen, ändert sich oft nur die Rhetorik der politischen Parteien, nämlich insoweit diese, um Erfolge haben zu können, auf die Kooperation von Interessensvertretern der „Wirtschaft“ angewiesen sind und auf eine überwiegend „realistisch“ eingestellte Wählerschaft zählen können. Immerhin lassen sich mit Kapitalismus- und heute vor allem Neoliberalismuskritik publizistische Karrieren machen und Identitäten stiften. Damit ist das Argument Friedmans jedoch keineswegs widerlegt. Der Zusammenhang zwischen der Streuung wirtschaftlicher Macht und der politischen Freiheit existiert zweifellos. Nur können neoliberale Programme einer umfassenden Vermarktlichung die politische Freiheit auch ziemlich weit einschränken. Dass genau das von „den“ Neoliberalen intendiert ist, braucht man nicht unbedingt anzunehmen.
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eigener Person zu äußern. Heute hält man die ganze Wahrheit für so unwichtig, daß alles, was dazu gesagt wird, gleichgültig ist.171
Ein Sozialmodell, das vom Prinzip des Wettbewerbs geprägt und nachgerade durchdrungen ist, produziert nicht nur trübsinnige, asketische Leiden schaften, sondern auch negative Affekte anderen gegenüber. Und manche dieser Affekte, wie z. B. rassistische, gehen sogar weit über Intoleranz hinaus. Der Wahrheitsglaube an sich tut hier nichts zur Sache. Allerdings übergeht Chesterton die Tatsache, dass auch die Fixierung auf die „ganze Wahrheit“, das Wesen des Menschen und den Sinn des Lebens an sich, eine profunde Gleichgültigkeit hervorrufen kann.172 Und zwar eine, die dem politischen Ernst mindestens genauso abträglich ist wie die Apotheose der Marktgesetze und der Effizienz.173 Im Übrigen mutet das, was als Skepsis angepriesen wird, gelegentlich einfach wie eine Beschreibung eines besonnenen Menschen an, der durchaus ein Objektivist in unserem unspektakulären Sinne sein könnte. So meint Burger etwa, dass der Skeptiker jemand sei, der „nicht aufs Ganze“ geht, nicht nur, weil er nicht weiß, was das Ganze ist, sondern auch, weil es ihn nichts angeht. Er spielt nicht den lieben Gott, auch nicht den Rächer der Enterbten. Er wird mit ihnen sympathisieren, sich vielleicht gelegentlich mit ihnen auch solidarisieren, ganz einfach deshalb, weil er in ihnen Wesen wie sich selbst erkennt und er alle Ideologien der Ungleichheit und Unterdrückung für interessierte Lügen hält. Nur vor der ideologischen Selbstviktimisierung überkommt ihn der Ekel. Der persönlichen Empörung ist er durchaus fähig, aber er sucht sie nicht und wird über ihr nicht zum Propheten.174
171
Gilbert Keith Chesterton, Ketzer, 14. Auch um die Wahrheit über die vorletzten Dinge kümmert man sich heute wenig. Und das hat durchaus praktische Konsequenzen: „The absence of an explicit conception of social justice in political life has the result that arguments about public policy are made without any attempt to explain from the ground up what is their justification. Instead, such arguments as are offered rest on tacit assumptions that would not withstand scrutiny if they were spelt out formally.“ (Brian Barry, Why Social Justice Matters, Cambridge 2005, 10) Vielleicht sollte man hier präzisieren: Einerseits erzeugt die Fokussierung auf einzelne soziale Probleme (im Gegensatz zur Beleuchtung größerer institutioneller Zusammenhänge) den Eindruck, unentrinnbaren Sachzwängen unterworfen zu sein; andererseits bleibt gerade deshalb bei vielen das Gefühl, dass es über umfassende soziale Gerechtigkeit nichts zu sagen gibt, außer dass es so etwas nicht „wirklich“ geben kann. 172 Siehe Manfred Geier, Das Glück der Gleichgültigen. Von der stoischen Seelenruhe zur postmodernen Indifferenz, Hamburg 1997. 173 Das gilt auch für die Fixierung auf die „ganze Wahrheit des Kapitalismus mitsamt seiner liberal-demokratischen Ideologie“, wie sie „radikale“ Denker vom Schlage Žižeks kennzeichnet. 174 Rudolf Burger, Überfälle. Interventionen und Traktate, Wien 1993, 127.
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Das klingt ganz nach einem Egalitaristen, der sich der Gefahren der Pathetisierung und der politischen Überambitioniertheit bewusst ist, dessen Moral angemessen komplex und der selbst klug genug ist, um zu erkennen, dass die besten Absichten nicht immer zu den besten Ergebnissen führen, ja manchmal diese sogar verhindern. Wenn Burger aber darüber hinaus noch meint, dass der Skeptiker, „anders als der Kritiker, die Lücke in der Beweisführung suchen (wird), … weil er ein praktisches Interesse an der Lücke hat“175, dann wäre jedenfalls interessant zu erfahren, was für ein „praktisches Interesse“ das sein könnte. Die Antwort, die uns geboten wird, spiegelt geradezu exemplarisch wider, was Fish die „anti-foundationalist theory hope“ nennt: Da er (der Skeptiker, Anm.) dieses Spiel (der Lückensuche, Anm.) auch mit allen sich bietenden Alternativen treibt, entschärft er jede Entscheidungssituation und gelangt im Idealfall zur Isosthenie – zum gleichstarken Widerstreit abgeschwächter Meinungen; das gibt ihm die Möglichkeit, in reflexive Distanz von allen Ideologien seiner Zeit zu treten, seine ethische Autonomie vor ihren zudringlichen Imperativen zu bewahren, sein Handeln zu entpathetisieren und eher von den Rändern her zu wirken.176
Am wenigsten leuchtet dabei ein, warum die Isosthenie prinzipiell wünschenswert, gar ein Idealfall sein soll. Natürlich kann der Aufschub von Gewalt, die Abkühlung des Konflikts, die der konkrete Zweifel oft bewirkt, oft als zivilisatorischer Nutzen verbucht werden. Doch das ist keineswegs immer der Fall. Manchmal bewirkt ein Aufschub der Entscheidung noch eine Verschärfung der Situation. Außerdem kann der Zweifel auch paralysieren und von jenen Handlungen abhalten, die tatsächlich geboten oder klug wären. Zu viele Zweifel sind genauso fragwürdig wie zu wenige – moralisch und pragmatisch. Alles hängt davon ab, zwischen welchen Positionen Isosthenie (oder der Anschein einer solchen) hergestellt wird. Überhaupt ist die Isosthenie bisweilen lediglich Symptom einer tiefer liegenden politischen Hoffnungslosigkeit. Eine solche bringt aber bekanntlich nicht nur zivilisierenden Fatalismus hervor, sondern auch Narzissmus und damit gerade die den Burger’schen Skeptiker abstoßende Neigung zur Selbstviktimisierung, sobald der Andere (und sei es nur ein Raucher) in Sichtweite gerät. Forst spricht zutreffend von der Notwendigkeit einer gewissen Selbstrelativierung und meint, den Grund dafür im Gebot des wechselseitigen Respekts zu erkennen. Damit weist er – zu Recht, wie ich meine – der Gleichheit eine entscheidende Rolle zu bei der Bestimmung des moralischen Werts der Toleranz. Aber was vermag der Rekurs auf den wechselseitigen Respekt genau zu leisten? Und was spricht eigentlich dagegen, es bei 175
Ebd., 125. Ebd.
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Gleichheit zu belassen und auf den Toleranzbegriff überhaupt so weit wie irgend möglich zu verzichten?
7. Der wechselseitige Respekt und das Gute Zwei – miteinander verwandte – Vorstellungen von Toleranz auf der Grundlage wechselseitigen Respekts möchte ich näher betrachten: die liberale und die diskursethische. Beginnen wir mit der liberalen Vorstellung. Historisch betrachtet handelt es sich bei der liberalen Vorstellung von Toleranz zunächst um eine Extension des Prinzips der Religions- und Gewissensfreiheit, wie es nach den Erfahrungen der Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten in Europa implementiert wurde.177 Sie nahm ihren Ausgang also bei einer Koexistenz-Konzeption und gründet sich mittlerweile auf die Idee der individuellen Autonomie. Insoweit Lebensformen auf einer autonomen Wahl beruhen, so die These, haben sie – zumindest prima facie – Anspruch darauf, toleriert zu werden. Respektiert wird das autonome Subjekt, toleriert werden seine Entscheidungen. Dass hier bestimmte, durchaus fragwürdige metaphysische Annahmen über die Willensfreiheit und die Möglichkeit autonomer Wahlentscheidungen im Spiel sind, liegt auf der Hand. Fragwürdig erscheint weniger die Vorstellung, dass Individuen mehr oder weniger autonome Entscheidungen treffen, als vielmehr die Auffassung, sie könnten solche Entscheidungen in Bezug auf ihre relativ umfassenden Konzeptionen des guten Lebens treffen. In diesem Sinne wird Liberalen von kommunitaristischer Seite vorgehalten, sie hätten sich auf eine völlig illusionäre Theorie des „ungebundenen Selbst“ eingeschworen.178 Und tatsächlich fällt es schwer zu glauben, man hätte sich für grundlegende ethische Überzeugungen, Werthaltungen und Ziele in irgendeinem interessanten Sinne frei entschieden. Zu meinen politischen Überzeugungen hat mich zwar niemand gezwungen, und doch habe ich nicht den Eindruck, sie mir einfach gewählt zu haben. Genauso wenig habe ich mir mein Interesse für die Philosophie ausgesucht. Natürlich habe ich meine Überzeugungen und Interessen immer wieder revidiert, doch diese Revisionen lassen sich schwerlich als freie Wahlentscheidungen beschreiben. Hinzu kommt, dass der Wert der Autonomie, wie Bernard Williams feststellt, allenfalls als Grundlage religiöser Toleranz taugt: In religiösen Fragen konnte die tolerante Partei im äußersten Fall behaupten, die Vorstellung eines erzwungenen religiösen Glaubens ergebe, soweit wir Gottes 177
Will Kymlicka, Multicultural Citizenship, 155f. Siehe Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982.
178
7. Der wechselseitige Respekt und das Gute
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Ziele verstünden, keinen Sinn. Eine erzwungene religiöse Praxis ohne Glauben müsse daher in Gottes Augen ihre Bestimmung verfehlen. Aber wenn wir die Frage beantworten wollen, ob der Verkauf oder das Ausstellen pornographischer Erzeugnisse toleriert werden sollte, können wir auf keine vergleichbaren Überlegungen zurückgreifen. Und auf den Wert der Autonomie hinzuweisen, wird nicht viel zur Lösung dieses Problems beitragen.179
Das heißt, der Rückgriff auf die Autonomie wird die Gegner der Pornographie, die sich für staatliche Repression aussprechen, ob Feministinnen wie Catherine MacKinnon oder konservative Christen, wenig beeindrucken. Dasselbe gilt, wenn zu entscheiden ist, wie weit die sexuelle Selbstbestimmung reicht oder ob und wie Rollen für Geschlechter per Gesetz verteilt oder etablierte und umstrittene Rollenverteilungen vom Gesetzgeber berücksichtigt werden sollen. Nicht dass der „ethische Liberalismus“ damit erledigt wäre. Er hat nur keine neutrale Grundlage für Toleranz zu bieten. Natürlich gibt er manchmal Liberalen selbst ein moralisches Argument für die Akzeptanz einzelner illiberaler Überzeugungen und Praktiken in die Hand. Oft werden die Gründe, die Liberale oder den liberalen Staat zu Toleranz veranlassen, aber lediglich pragmatische Gründe sein, Gründe des politischen Verstandes, die sich aus dem Wissen um die Kosten des Gebrauchs von Zwangsgewalt ergeben. Jedenfalls ist ein solcher Liberalismus eine um Hegemonie in der Gesellschaft kämpfende Konzeption neben anderen – in der einen oder anderen Ausprägung möglicherweise die richtige, aber das tut hier nichts zur Sache. Daraus könnte man mit Williams schließen, dass „Toleranz auf einer Vielzahl von Haltungen (beruhe), von denen sich keine auf den Wert der Toleranz als solchen bezieht“.180 Einige Liberale haben dieses Problem nicht nur erkannt, sondern auch ernst genommen und wollen den Liberalismus als politische Gerechtigkeits konzeption verstanden wissen, mithin nicht als eine sektiererische Konzeption des Guten neben anderen. Sie führen daher eine, wie sie meinen, essenzielle Unterscheidung ein: „zwischen Werten, auf die einer sich im Kontext seines eigenen Lebens berufen kann, und Werten, an die er appellieren kann, sobald er interpersonelle Zwangsmaßnahmen und den Einsatz politischer Macht begründet“.181 Dies impliziert die Möglichkeit einer Trennung zwischen 179
Bernard Williams, „Toleranz – eine politische oder moralische Frage?“, in: Rainer Forst (Hg.), Toleranz, 111f. 180 Ebd., 117. Doch wie gesagt: Passivität aufgrund von Zweifeln und Unentschlossenheit mag jemandes Charakter auszeichnen, beruht aber auf gar keiner Haltung. Eher ist sie die Unfähigkeit, eine politische Position einzunehmen. Jeder, der gelegentlich nachdenkt, bevor er zur politischen Tat schreitet, ist mit ihr vertraut. Natürlich kann auch sie politische Wirkungen zeitigen. 181 Thomas Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur Politischen Philosophie, Paderborn 1994, 218 (Hervorhebungen im Original).
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I. Bekenntnis
dem Persönlichen und dem Öffentlichen. Es wird verlangt, dass Menschen zwischen ihren privaten Werten und öffentlichen Werten unterscheiden können. Denn, so Nagel: Für die Zwecke politischer Rechtfertigung haben wir jede Beschreibung dessen, was getan wird, auszuschließen, die in der kontroversen Terminologie eines besonderen Glaubens erfolgen würde und vielmehr nach einer möglichen Anwendung des Rollentauscharguments in der Begrifflichkeit bestimmter – von allen rationalen Parteien zu akzeptierender – Kennzeichnungen sowie Werte zu suchen, die dann als Grundlage für eine Regulierung oder Handhabung von Streitigkeiten dienen können, die mit Mitteln der Vernunft nicht zu schlichten sind.182
Eine solche politische (und eben nicht metaphysische) Gerechtig keitskonzeption hat bekanntlich John Rawls vorgeschlagen. Rawls möchte – wie alle Liberalen – die Politik so weit wie möglich von ethischen Idio synkrasien freihalten. Doch für ihn ist auch der ethische Liberalismus nur eine „umfassende Lehre“ neben anderen. Daher könne nicht einmal dieser ein Primat beanspruchen. Allerdings dürften umfassende Lehren, die nicht gänzlich unvernünftig sind, mit staatlicher Toleranz rechnen. In einem gewissen Sinne möchte Rawls also noch neutraler bleiben als andere Liberale. Rechtfertigungen (der Grundstruktur und der „mit ihr verbundenen politischen Vorhaben“) müssen sich demnach „auf gegenwärtig allgemein akzeptierte Überzeugungen stützen … sowie auf die zum common sense gehörigen Formen des Argumentierens und die unumstrittenen Methoden und Ergebnisse der Wissenschaften“.183 Dass dieses Desiderat einer metaphysisch unbelasteten und auf wissenschaftlich unumstrittenen Erkenntnissen gegründeten Politik spätestens dann kaum erfüllt werden kann, wenn es gilt, einzelne politische Maßnahmen zu rechtfertigen, zeigt sich besonders anschaulich in der notorischen Abtreibungsfrage. In einer bereits „wohlgeordneten“ Gesellschaft müssten wir, meint Rawls, „die Frage im Lichte von drei bedeutenden politischen Werten betrachten“: Der dem menschlichen Leben gebührenden Achtung, der ordentlichen Reproduktion der politischen Gesellschaft im Laufe der Zeit (einschließlich der Familie in der einen oder anderen Form) und schließlich der Gleichheit der Frauen als gleichberechtigter Bürger. (Es gibt natürlich andere bedeutende politische Werte neben diesen.) Ich glaube nun, daß jede vernünftige Abwägung dieser drei Werte Frauen ein in gebührender Weise qualifiziertes Recht zuerkennen muß, innerhalb des ersten Drittel selbst darüber zu entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen wollen oder nicht. Der Grund dafür ist, daß während dieses frühen Stadiums der Schwangerschaft der politische Wert der Gleichheit der Frauen ausschlaggebend ist und daß jenes Recht notwendig 182
Ebd., 226. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998, 326.
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ist, um diesem Wert Gehalt und Wirksamkeit zu verleihen. … Zumindest unter bestimmten Umständen mag eine vernünftige Abwägung ein solches Recht auch nach diesem Zeitpunkt zulassen. Ich werde diese Frage hier jedoch nicht allgemein diskutieren, da es mir lediglich darum geht, den Punkt … zu illustrieren, daß jede umfassende Lehre in dem Maß unvernünftig ist, wie sie zu einer Abwägung politischer Werte führt, die dieses gebührend qualifizierte Recht im ersten Drittel der Schwangerschaft ausschließt; je nach den Einzelheiten ihrer Formulierung mag sie darüber hinaus grausam und repressiv sein, zum Beispiel wenn sie dieses Recht für alle Fälle außer Vergewaltigung und Inzest bestreiten würde. Wenn die Annahme zutrifft, daß es sich hierbei entweder um einen wesentlichen Verfassungsinhalt oder um eine Frage grundlegender Gerechtigkeit handelt, würde es deshalb dem Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs widersprechen, wenn wir unsere Stimme zugunsten einer umfassenden Lehre abgäben, die dieses Recht bestreitet.184
Umfassende Lehren (etwa religiöser Natur), die das Ganze etwas anders sehen, so hat man daraus wohl zu schließen, sind bestenfalls zu tolerieren, zumal sie nicht unbedingt als Ganze unvernünftig sein müssen; sie politisch zur Geltung zu bringen würde aber bedeuten, sich einer „kontroversen Terminologie eines besonderen Glaubens“ (Nagel) zu bedienen und also die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Werten zu verkennen. Lassen wir einmal beiseite, dass Rawls sich wohl täuscht, wenn er meint, aus seiner politischen Gerechtigkeitskonzeption ohne weiteres eine Antwort auf die Abtreibungsfrage ableiten zu können, womöglich gar eine metaphysisch unschuldige. Was bedeutet Toleranz in diesem Fall? Wohl nicht mehr, als zu erlauben, darüber ganz anders zu denken (etwa anzunehmen, dass der menschliche Fötus von Anbeginn ein Lebensrecht hat, welches allenfalls hinter das der Mutter zurück tritt). Damit wäre man schon im nächst gelegenen Testfall bei einer bloßen Erlaubnis-Konzeption angelangt, die im Übrigen offen lässt, wie weit die Erlaubnis reicht. Maßnahmen der Gehirnwäsche sind sicher unzulässig, aber wie steht es mit der katholischen Lehrerin, die in einem Ethikunterricht auch ihre Anti-Abtreibungsposition referieren möchte? Darf sie das, oder widerspricht dies bereits der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs? Nun könnte man sagen: „Natürlich darf sie das; schließlich verpflichtet Rawls’ Standpunkt niemanden, Abtreibungen für gut zu halten. Gedanken- und Meinungsfreiheit ist ein essenzielles Postulat des politischen Liberalismus.“185 Was aber, wenn die
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Ebd., 349. Vgl. ebd., 136: „Vernünftige Personen sehen ein, dass die Bürden des Urteilens dem, was vernünftigerweise anderen gegenüber gerechtfertigt werden kann, Grenzen setzen, und deshalb stimmen sie irgendeiner Form der Gewissensfreiheit und der Gedankenfreiheit zu. Es wäre unvernünftig von uns, politische Macht, falls wir dazu in der Lage sind, dazu zu nutzen, nicht unvernünftige umfassende Ansichten zu unterdrücken.“
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Lehrerin meint, dass Abtreibung nicht nur moralisch falsch sei, sondern eigentlich gesetzlich verboten sein müsste? Und was soll Minderheiten veranlassen, Abqualifikationen einzelner ihrer fundamentalen Wertüberzeugungen als der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs widersprechend hinzunehmen, sich also mit der bloßen Erlaubnis, sie außerhalb des politischen Diskurses zu vertreten, zufrieden zu geben? Nach Rawls sprechen für die „politisch-liberale“ Gerechtigkeitskonzeption, für die weitgehende Verdrängung kontroverser Konzeptionen aus der öffentlichen Sphäre, Werte wie gesellschaftliche Stabilität und Einheit.186 Wahrheit könne eine politische Gerechtigkeitskonzeption aber nicht beanspruchen. Vielmehr stelle sie sich als Konzeption dar, „die als Grundlage einer informierten und bereitwilligen Übereinkunft zwischen Bürgern dienen kann, die als Freie und Gleiche betrachtet werden“.187 Eine solche Übereinkunft wiederum gebiete es nicht selten, sich mit dem Zweitbesten zufrieden zu geben und eine Berufung auf bestimmte Wahrheiten bei der Entscheidung über die Anwendung von Zwangsgewalt zu unterlassen.188 Und tatsächlich: Grundrechte haben nicht zuletzt den Sinn, uns vor Zumutungen zu schützen, die mit dem Wahren, Schönen und Guten begründet werden. Jede halbwegs komplexe Moral wird Grundsätze einer politischen Moral enthalten, die mitunter gegen die zwangsweise Realisierung anderer ihrer Werte ins Treffen geführt werden können. Aber wie es aussieht, sollten wir uns zumindest als Freie und Gleiche anerkennen. Und diese Forderung muss doch für gültig gehalten werden, unabhängig von einem Konsens. Natürlich könnte Rawls darauf erwidern, dass dieses Postulat die Verfassung von liberalen Staaten durchdringt und somit als anerkannt vorausgesetzt werden kann; deshalb könne eine weitere metaphysische Untermauerung unterbleiben. Doch was sagt man denjenigen, die das Postulat nicht anerkennen oder gänzlich anders interpretieren als Liberale vom Schlage Rawls’ (außer dass sie insoweit unvernünftig seien)? Beispielsweise Leuten, die meinen, dass Frauen in der öffentlichen Sphäre nichts verloren hätten; dass Behinderte eben ihr Schicksal akzeptieren müssten, ohne irgendwelche Ansprüche gegenüber Menschen zu haben, die nicht zu ihrer Familie zählen; und dass Homosexuelle „in relevanter Hinsicht“ keine Gleichen seien? Soll man ihnen sagen, dass sie liberale Verfassungen, so wie die Dinge nun einmal lägen, im Interesse der sozialen Einheit und Stabilität akzeptieren sollten?
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Dieses Problem wird für Rawls’ spätere Theorie zentral. Zur Idee des „überlappenden Konsenses“ gelangt er hauptsächlich über das Erfordernis sozialer Einheit (siehe John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1994, 293–332). 187 John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, 264. 188 John Rawls, Politischer Liberalismus, 316ff.
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Wenn nicht zumindest für diese beiden Werte ein Gültigkeitsanspruch erhoben wird, dann könnten für ihre Akzeptanz aus der Sicht illiberaler Gruppen nur pragmatische Argumente sprechen. Damit wiederum würde eine Toleranztheorie Rawls’scher Bauart praktisch ununterscheidbar von der Koexistenz-Konzeption – was sie gerade nicht sein soll. Rawls unterscheidet den „übergreifenden Konsens“, dessen Ausdruck seine Gerechtigkeitskonzeption sei, nämlich von einem bloßen modus vivendi: Erstens ist der Gegenstand des Konsenses, die politische Gerechtigkeitskonzeption, selbst eine moralische Konzeption; zweitens wird sie aus moralischen Gründen bejaht, das heißt, sie schließt Konzeptionen der Gesellschaft und der Person ebenso ein wie Gerechtigkeitsgrundsätze und eine Darstellung der politischen Tugenden, durch welche diese Grundsätze im menschlichen Charakter verankert und im öffentlichen Leben zum Ausdruck gebracht werden. Ein übergreifender Konsens ist deshalb nicht lediglich ein auf einer Konvergenz von Eigen- und Gruppeninteressen beruhender Konsens darüber, bestimmte Autoritäten anzuerkennen oder sich an bestimmte institutionelle Regelungen zu halten. Alle, die die politische Konzeption bejahen, beginnen innerhalb ihrer eigenen umfassenden Auffassung und gehen von den darin enthaltenen religiösen, philosophischen und moralischen Gründen aus.189
Nun basiert die Idee des übergreifenden Konsenses und des Werts der Stabilität für Rawls aber auf der Annahme, dass ein gegebenes demokratisches Gemeinwesen „einigermaßen gerecht, zweckmäßig und verteidigenswert“ sei.190 Das heißt, die Stabilität wird nicht einfach als Wert postuliert, sondern damit begründet, dass jegliche Vorstellung einer gerechten Ordnung wertlos werde, wenn sie nicht weit reichende Unterstützung bei freien und gleichen Bürgern finden könne. Die darüber hinaus gehenden moralischen Gründe für die Anerkennung des Konsenses würden aber durchaus den einzelnen umfassenden Lehren entspringen. Und deshalb ist der übergreifende Konsens, wie er Rawls vorschwebt, mehr als ein bloßer Kompromiss.191 Das klingt attraktiv und zunächst auch plausibel: Christen beispielsweise könnten, wie schon gesagt, Freiheit und Gleichheit unter der Annahme für gültige Postulate halten, dass eine geheuchelte Glaubenspraxis keinerlei Wert besitze. Für den politischen Alltag, wo nicht jederzeit, wie im Urzustand, die Grundstrukturen der Gesellschaft zur Diskussion stehen, gibt ein solcher nachmetaphysischer Liberalismus aber nicht allzu viel her. Denn wie gesagt, können hinsichtlich der genauen Interpretation und des Anwendungsbereichs solch abstrakter Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit zwischen den einzelnen umfassenderen Lehren gravierende Meinungsverschiedenheiten bestehen. Wer nun meint, darüber zu stehen und direkt aus der politischen Gerechtigkeitskonzeption, etwa für die Abtreibungsfrage, 189
Ebd., 236. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt/M. 2003, 287. 191 Siehe auch ebd., 286. 190
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konkrete Schlussfolgerungen ziehen und darüber hinaus noch andere Schlussfolgerungen einfach als dem öffentlichen Vernunftgebrauch widersprechend abtun zu können, auf dass sie zu einem Gegenstand der Toleranz werden, überschätzt seine eigene Kompetenz. Das Problem ist nicht, dass jemand glaubt, seine Überzeugung sei wahr und die des Anderen falsch. Es liegt vielmehr in der Auffassung dieser Person, sie stehe prinzipiell auf sichererem, metaphysisch weniger belastetem Boden, eben auf dem Boden der öffentlichen Vernunft. Tatsächlich kann sie dieses Terrain nur abstecken, indem sie Ausschlüsse vornimmt, die mit einem bloßen Rekurs auf die „Bürden der Vernunft“ und den „übergreifenden“, naturgemäß eher vagen Konsens nicht hinreichend legitimiert sind.192 Bezeichnenderweise erfährt man von Rawls nicht viel über den genauen Inhalt von Grundfreiheiten – obwohl er es für die „erste Anforderung“ an eine politische Gerechtigkeitskonzeption hält, den Inhalt der Grundfreiheiten und Grundrechte „ein für allemal“ festzulegen.193 Doch spätestens wenn deren Konkretisierung und Abwägungen zwischen ihnen anstehen, werden die umfassenden Lehren wieder relevant. Eine fein säuberliche Trennung des Anwendungsdiskurses vom Begründungsdiskurs ist nämlich nicht zu haben. Um beispielsweise den Schutzbereich der Kunstfreiheit genau bestimmen, mithin die entsprechende Norm auf einen Einzelfall anwenden zu können, muss man Vorstellungen darüber besitzen, warum die künstlerische Betätigung überhaupt Schutz genießen soll. Und je nachdem, worin man den Wert der Kunst sieht, wird man den Schutzbereich der Kunstfreiheit enger oder weiter ziehen.194 Rawls weiß natürlich, dass vollständige Übereinstimmung nur selten erreicht wird. Was er im Fall eines hartnäckigen Dissenses empfiehlt, ist einerseits, weiter zu diskutieren, und andererseits, abzustimmen.195 Dem ist nicht viel entgegen zu halten. Nur zwei Dinge: (1) Woher kommen für den weiteren Diskurs die argumentativen Ressourcen? Wohl aus umfassenderen Lehren. Das ist auch Rawls klar. (2) Abstimmungen sind letztlich sicher unumgänglich, und sei es darüber, ob eine bestimmte Frage überhaupt per Gesetz entschieden werden soll. Aber klar ist dann auch, dass auf diese Weise einfach die Auffassungen und Präferenzen der Mehrheit zum Tragen kommen. Und wenn das Gesetz sich einige Zeit in Kraft befindet, wird es zweifellos bei nachfolgenden Bestimmungen dessen, was der Inhalt politischer Werte und des übergreifenden Konsenses ist, berücksichtigt werden 192
Für Argumente gegen die epistemische Zurückhaltung politisch Liberaler wie Rawls und Nagel siehe auch Joseph Raz, „Facing Diversity: The Case of Epistemic Abstinence“, in: Philosophy and Public Affairs 19 (1990), 3–46 und Jeremy Waldron, God, Locke, and Equality, 236–240. 193 John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 181, 296. 194 Ausführlicher dazu Christian Hiebaum, Die Politik des Rechts, 167–172. 195 John Rawls, Politischer Liberalismus, 346.
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müssen. Das bedeutet: Die Konkretisierung jener politischen Werte, die der übergreifende Konsens einschließt, kann nicht allein innerhalb der Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs auf der Ebene und mit den Mitteln dieses Konsenses erfolgen. Selbst wenn die unterschiedliche Konzeptionen des Guten vertretenden Menschen sich aus (entsprechend unterschiedlichen) moralischen Gründen auf einige übergreifende Werte einigen, lassen sich mit diesen Werten keine klaren, wiederum konsentierten Grenzziehungen zwischen dem, was dem öffentlichen Vernunftgebrauch entspricht, und dem, was ihm zuwider läuft, vornehmen. Kommen wir noch einmal auf das Abtreibungsbeispiel zurück: Christen mögen der gleichen Freiheit durchaus etwas abgewinnen können. Aber wenn der Schutz ungeborenen, für sie dennoch vollwertigen menschlichen Lebens auf dem Spiel steht, dann könnte sich ihre moralische Wertschätzung der sozialen Einheit aufhören. Nicht dass ihnen die gleiche Freiheit plötzlich nichts mehr bedeuten würde, nur halten sie es für geradezu selbstverständlich, dass auch Ungeborene diese Freiheit genießen. Soweit sie in diesem Fall den Wert des ungeborenen Lebens über die soziale Einheit stellen, ihren „Widerstand“ gegen Fristenregelungen und Ähnliches aber in engen Grenzen halten, tun sie es oft aus pragmatischen Erwägungen heraus. Und insoweit nimmt der „übergreifende Konsens“ auch modus-vivendi-Züge an. Was solche Abtreibungsgegner aber kaum akzeptieren werden, ist die Behauptung, ihre Position sei auf der politischen Ebene deplaziert, weil sie gegen das Prinzip des öffentlichen Vernunftgebrauchs verstoße. Der Punkt ist nicht, dass Rawls’ Position in der Abtreibungsfrage falsch wäre (ich denke nicht, dass sie es ist). Der Punkt ist, dass man sich die Gegner nicht so elegant vom Hals schaffen kann. Entweder kippt eine Respekt-Konzeption der Toleranz rasch in eine Erlaubnis- oder KoexistenzKonzeption oder aber sie vermischt sich mit diesen. Doch selbst bei einer Erlaubnis-Konzeption bleibt offen, was denn nun genau erlaubt ist, etwa inwieweit es religiösen Abtreibungsgegnern gestattet ist, ihre Position zu propagieren, in welchem Rahmen und mit welchen Mitteln. Jedenfalls basiert auch die politisch-liberale Respekt-Konzeption auf Hegemonie.196 Dass sogar eine solcherart weichgezeichnete liberale Politik sich auf eine Hegemonie, also Macht, stützt, kann ihr freilich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jede Politik involviert Macht, und sei es im Rekurs auf irgendeinen gerade bestehenden Konsens. Die bloße Tatsache, dass sich die Durchsetzung einer Position wie immer subtiler Macht verdankt, spricht noch nicht gegen sie. Genauso wenig wie die Tatsache, dass soziale Einflüsse nicht 196
Mit Bezug auf die etwas stärker anmutende frühere Begründung der Rawls’schen Gerechtigkeitskonzeption hat denn auch Cavell die Frage gestellt: „But what if there is a cry of justice that expresses a sense not of having lost in an unequal yet fair struggle, but of having from the start been left out.“ (Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome, XXXVIII, Hervorhebungen im Original)
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ausgeschlossen werden können, die einige Lebensformen begünstigen und andere benachteiligen.197 Allerdings dürfen wir nicht annehmen, dass solche sozialen Konsequenzen prinzipiell unvorhersehbar und damit auch nicht zu verantworten sind. Wenn die Angehörigen einer extrem traditionalistischen Sekte ihre Kinder in öffentliche Schulen schicken müssen, dann wird ihre Gemeinschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit eher früher als später aufhören zu existieren. Dann noch zu behaupten, die herrschende Konzeption sei tolerant gegenüber dieser Gemeinschaft, weil sie deren Auflösung nicht beabsichtige, sondern nur Wert lege auf die Erziehung der Kinder zu freien und gleichen, um ihre Rechte Bescheid wissenden Bürgern198, mutet ein wenig haarspalterisch an. Damit bedient man sich einer Unterscheidung, nämlich der zwischen Verfahren und Ergebnis, die den Angehörigen der Minderheit (wenigstens in diesem Fall) gerade nicht einleuchtet. Sie könnten sagen, auf diese Weise werde die Lösung bereits präjudiziert.199 Gewiss macht es einen Unterschied, ob sich aus einer Konzeption direkt ein Verbot der Existenz traditionalistischer Sekten ableiten lässt oder nicht. Dies kann jedoch bei der Begründung von Maßnahmen, die im Ergebnis – und zwar klar vorhersehbar – die „kulturelle Autonomie“ von minoritären Gemeinschaften beschränken, keine Rolle spielen. Im Übrigen ist Rawls’ politischer Liberalismus, um es noch einmal zu betonen, ohnehin als Gerechtigkeitskonzeption für die Grundstruktur einer Gesellschaft gedacht, so dass er schon von seiner Anlage her zu vielen „Toleranzproblemen“ eigentlich gar nichts zu sagen hat.200 Diskursethiker wie Forst versuchen das Prinzip des wechselseitigen Respekts ethisch noch ein wenig neutraler zu halten als Politisch-Liberale. Die Essenz dieses Prinzips sei „das moralische Grundrecht auf Rechtfertigung“.201 Als Grundlage des Zusammenlebens gilt die „Reziprozität“. Dies bedeute, 197
John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 239. Ebd., 242f. 199 Bernard Williams, „Toleranz – eine politische oder moralische Frage?“, 110f. 200 Siehe auch Brian Barry, Justice as Impartiality, Oxford 1995, 144f. Barry räumt ein, dass seine der Rawls’schen Theorie verwandte Konzeption von „justice as impartiality“ oft nur „outer limits“ für den politischen Diskurs vorgebe, mithin sich als Entscheidungsregel durch eine gewisse Unvollständigkeit auszeichne. Es gebe viele politische Probleme, die zwar in den Zuständigkeitsbereich seiner Gerechtigkeitstheorie fielen, über deren korrekte Lösung jedoch vernünftige Meinungsverschiedenheiten bestehen könnten, weil die Implikationen der einschlägigen Gerechtigkeitsprinzipien eben nicht ganz klar seien. Daneben aber gebe es aber auch noch Fragen, die überhaupt nur im Rückgriff auf partikulare Konzeptionen des Guten entschieden werden könnten. Meine Ausführungen zu Rawls legen hingegen die Vermutung nahe legen, dass bei Meinungsverschiedenheiten, die in mehr bestehen als bloß unterschiedlichen Folgenabschätzungen, immer verschiedene Vorstellungen des Guten im Spiel sind. 201 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 596. 198
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daß niemand bestimmte Ansprüche (auf die Geltung von Normen, auf Rechte oder Ressourcen) erheben darf, die er anderen verweigert (Reziprozität der Inhalte), und daß man den Anderen die eigene Perspektive, die eigenen Wertsetzungen, Überzeugungen, Interessen und Bedürfnisse nicht einfachhin unterstellen darf (Reziprozität der Gründe), indem man beansprucht, im „eigentlichen“ Interesse der Anderen zu sprechen (und entsprechend argumentiert, daß man – „reziprok“ gesehen – froh wäre, würde man wie jene zum eigenen Glück gedrängt bzw. gezwungen werden). Zudem darf eine Partei nicht auf die Autorität „höherer Wahrheiten“ verweisen, deren Anerkennung nicht allgemein erwartet werden kann. … Eine jede Person hat demnach ein moralisches Vetorecht reziprok-allgemeiner Einwände.202
Was die Reziprozität der Inhalte angeht, so drängt sich jedoch die Frage auf, wie es sich verhält, wenn ich Ansprüche erhebe, auf die der Andere ganz und gar keinen Wert legt. So könnte ich für mich ein Recht auf die Produktion, den Vertrieb und den Konsum pornographischer Filme reklamieren und dieses Recht auch einem puritanischen Christen zugestehen, der aber der Meinung ist, dass niemand es haben sollte. Viele Nichtjuden und Nichtmuslime wiederum glauben, dass niemand das Recht haben sollte, Tiere zu schächten; dass ein Recht, Tiere zu schächten, auch ihnen selbst zukommen würde, macht für sie keinen Unterschied. Juden und Muslime andererseits könnten die Auffassung vertreten, dass das Schächten von Tieren nicht generell erlaubt sein soll, sondern nur dann, wenn es auf eine bestimmte Weise religiös motiviert ist. Sie könnten das Recht somit als „Recht auf religiös motiviertes Schächten“ bezeichnen. Zum Inhalt des Rechts würde dann eben auch ein Motiv gehören. Nun ist es zwar mit der Reziprozität der Inhalte nicht getan, aber mit dem Verbot, dem Anderen eigene Wertüberzeugungen und Interessen zu unterstellen, könnte es ebenfalls Probleme geben, zumal jeder, der andere Menschen verstehen will, ihnen bis zu einem gewissen Grad seine eigenen Rationalitätsstandards, Überzeugungen, und Präferenzen unterstellen muss. Das ergibt sich aus dem ganz elementaren methodologischen Grundsatz der wohlwollenden Interpretation, auch im ethischen Bereich. Wie weit solche Unterstellungen reichen sollen, lässt sich vorab wohl kaum bestimmen. Was Forst meint, sind natürlich Fälle des Paternalismus. Aber selbst hier sind die Dinge weit weniger klar, als es die Anwendbarkeit des Reziprozitätsprinzips erfordert. Darf man z. B. die Mitglieder einer Sekte davon abhalten, kollektiven Selbstmord zu begehen, weil sie die Präferenz für die Selbsttötung nicht hätten, wenn sie nicht irgendwelchen bizarren Irrlehren aufsäßen, oder wäre das unzulässig intolerant?
202
Ebd., 594f. (Hervorhebungen im Original). Damit, meint Forst, habe er Scanlons Geltungskriterium für moralische Normen, nämlich die Unmöglichkeit, sie mit vernünftigen Gründen zurückweisen zu können, konkretisiert.
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Auch das Verbot, auf „höhere Wahrheiten“ zu verweisen, versteht sich auch nicht von selbst. Vor allem ist unklar, ob Forst, wenn er von der allgemeinen Erwartbarkeit der Anerkennung von Wahrheiten spricht, kognitive oder normative Erwartbarkeit meint. Kognitiv erwarte ich mir nämlich für die wenigsten meiner moralischen Überzeugungen Anerkennung von allen anderen. Das heißt, mit allgemeinem Konsens rechne ich nicht. Nichtsdestoweniger denke ich, dass alle Menschen meine Überzeugungen teilen sollten. Dass ich nicht jedes zur Verfügung stehende und geeignete Mittel einsetzen würde, um anderen meine Überzeugungen einzupflanzen, und dass ich auch nicht immer für den Einsatz von staatlicher Zwangsgewalt votiere, um andere daran zu hindern, ihren Überzeugungen entsprechend zu leben, hat einerseits damit zu tun, dass ich nicht alle meine Überzeugungen mit gleicher Festigkeit vertrete, und andererseits damit, dass ich Überzeugungen habe, die die umstandslose Anwendung staatlichen Zwangs bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausschließen. Über ein allgemeines und dennoch gehaltvolles Kriterium dafür, wann staatlicher Zwang erlaubt oder sogar geboten ist, verfüge ich leider nicht. Nicht dass Forsts Reziprozitätsprinzip rundum abzulehnen wäre. Mehr als eine vage Faustregel kann es, wie mir scheint, aber nicht sein. Im Übrigen meint Forst zu Recht, dass moralische Gründe nicht allgemein geteilt, sondern lediglich allgemein teilbar sein müssen.203 Doch damit landen wir unweigerlich bei „höheren Wahrheiten“. Wie finden wir heraus, ob wir uns auf teilbare oder nichtteilbare Gründe stützen? Sollen wir uns auf einen Begründungsdiskurs hinsichtlich der Gründe einlassen? Da würde sich nur dieselbe Frage stellen. Das strikte Verbot, auf „höhere“, eben nicht begründbare, beispielsweise religiöse, Wahrheiten zu rekurrieren, überlässt uns also einem infiniten Regress oder Zirkel. Welche Gründe „allgemein teilbar“ sind und welche nicht, ergibt sich aus Auffassungen über das Gute, über die ihrerseits verschiedene Ansichten bestehen können. Das heißt: Die Grenzen der Selbstrelativierung, die Forst einfordert, sind immer schon durch eine partikulare ethische Konzeption bestimmt. Zumindest ethische Konzeptionen, die ernsthaft auf Gleichheit abstellen, nehmen eine solche Selbstrelativierung vor und enthalten auch Kriterien dafür, wo diese Selbstrelativierung zu enden hat. Die Selbstrelativierung wiederum schließt ein Moment der Wertschätzung mit ein. So wird nur jemand für die rechtliche Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften eintreten, der in solchen Formen des Zusammenlebens wenigstens irgendeinen Wert realisiert sieht. Auch Thomas Scanlons berühmte negative Formulierung, wonach nur Regeln verbindlich sind, „which no one could reasonbly reject as a basis for informed, unforced general agreement“204, hilft nicht wirklich weiter. Dazu 203
Ebd., 594. T. M. Scanlon, „Contractualism and Utilitarianism“, in: Amartya Sen/Bernard Williams (eds.), Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982, 110.
204
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sind Kriterien wie „informed agreement“ zu unbestimmt. Ganz besonders problematisch ist Scanlons Erläuterung, wonach das Kriterium „informed agreement“ Einigungen ausschließen soll, die auf Aberglauben und falschen Folgenabschätzungen beruhen, „even if these are ones which it would be reasonable for the person in question to have“.205 „The trouble with this is“, meint Brian Barry, „that one person’s superstition is another’s belief.“206 Und gerade wenn eher säkulare Moralauffassungen auf religiös geprägte treffen, steht der Vorwurf der Abergläubigkeit fast immer im Raum. Jedenfalls aber scheint auch Scanlon anzunehmen, dass mit Vernunft allein keine Moral zu machen ist. Kommen wir nun zu einem „Toleranzkonflikt“, den Forst behandelt, nämlich jenem, den das Bundesverfassungsgericht mit dem so genannten „Kruzifix-Beschluss“ entschieden hat.207 Die Frage lautete: Darf der Staat das Anbringen von Symbolen einer bestimmten Religion per Gesetz anordnen? Müssen die Nicht- oder Andersgläubigen dies tolerieren? Oder müssen vielmehr die Gläubigen (und bilden sie die Mehrheit) tolerieren, dass ihre Religion keinen speziellen staatlichen Schutz genießt? Forst interpretiert die Entscheidung des Höchstgerichts, wonach der Staat in religiösen Angelegenheiten möglichst neutral zu bleiben habe und keinesfalls die zufällig mehrheitliche Gruppe deshalb bevorzugen dürfe, weil sie eben die Mehrheit bildet, als Bestätigung seines Reziprozitätskriteriums. Während das Verwaltungsgericht Regensburg und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine Erlaubnis-Konzeption der Toleranz vertreten hätten, indem sie eine Verletzung des Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie des Neutralitätsgebots verneinten und der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit Vorrang gegenüber der negativen der Minderheit einräumten, habe sich das Bundesverfassungsgericht auf eine Respekt-Konzeption gestützt. Nach der einen Auffassung seien Minderheiten lediglich zu dulden, nach der anderen seien sie als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen, deren Recht auf Religionsfreiheit nicht einfach auf dem Altar des Mehrheitsprinzips geopfert werden dürfe. Gleichberechtigten Bürgern schulde man aber „in Bezug auf Grundfragen der Gerechtigkeit reziprokallgemein nicht zurückweisbare Gründe“: Solche Gründe müssen folglich – und das versuchen die Befürworter des Kruzifixes bzw. Kreuzes auch – auf Prinzipien wie das Recht auf Religionsfreiheit oder auf allgemeine, politisch-normativ unabdingbare Werte rekurrieren. In diesem Fall ist das jenen Befürwortern jedoch nicht gelungen. Die Form der Toleranz, die der Erlaubnis-Konzeption entspricht, welche aus den Urteilen der ersten Instanzen hervorgeht, ist vielmehr dadurch, daß sie von der Minderheit fordert,
205
Ebd., 111. Brian Barry, Justice as Impartiality, 96. 207 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 709ff. 206
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ihren rechtlich ungleichen Status zu akzeptieren und das Vorrecht der Mehrheit zu tolerieren, repressiv.208
Forst nimmt aber auch das Argument ernst, dass der liberale Staat von Wertorientierungen (sogar von solchen mit religiöser Grundlage) abhänge, die er selbst nicht hervorbringen könne. Dieser Einwand hebe zu Recht die Frage hervor, worin die integrierende Substanz einer ethisch-pluralistischen und toleranten politischen Gemeinschaft besteht. Sie besteht … nicht nur aus „prozeduralen“ Prinzipien und dem Willen zur Toleranz. Denn diese Prinzipien sind eingebettet in die Praktiken und die Identität einer politischen Gemeinschaft, die sich als historisch situierte Verantwortungsgemeinschaft begreift, die ebenso eine gemeinsame politische Kultur und gemeinsame Selbstverständnisse hat, wie sie im Streit darüber liegen mag, wie etwa die gemeinsame Vergangenheit zu bewerten ist, um eine gerechtere Zukunft zu schaffen. … Eine gerechte politische Gemeinschaft braucht eine „vorpolitische“ normative Grundlage, doch kann diese nicht selbst wieder aus den ethischen Wertüberzeugungen von nur einer Gruppe bestehen, da die Gemeinschaft sonst weder gerecht wäre, noch zu einer gelingenden Form der Integration finden könnte.209
Der letzte Satz ist bemerkenswert: Er besagt einmal, dass eine gerechte Gemeinschaft nicht auf den ethischen Überzeugungen von nur einer partikularen Gruppe gegründet sein kann, weil sie sonst ungerecht wäre. Diese Begründung ist zirkulär. Die Überzeugung, dass eine gerechte politische Gemeinschaft nicht nur auf den Werten einer von mehreren Gruppen beruhen kann, ist aber auch nicht selbstverständlich. Was, wenn die Gemeinschaft aus einer halbwegs vernünftigen Mehrheit und einigen aggressiv-fundamentalistischen religiösen Sekten besteht? Das zweite Argument Forsts − dass im Fall der angesprochenen Ungerechtigkeit keine Integration gelingen könne − läuft auf die empirische Behauptung hinaus, dass die Form der Integration eine moralische sein muss. Dagegen ließe sich fragend einwenden, warum nicht pragmatische Erwägungen auf Seiten der einzelnen Gruppen genügen. Meistens wird es wohl ein Gemisch aus pragmatischen und moralischen Gründen, arationalen Identifikationsakten und unreflektierten Konventionen sein, das die politische Gemeinschaft zusammenhält. Oder versteht Forst unter einer „gelingenden Integration“ immer schon eine, die auf einem rationalen moralischen Konsens beruht? Um wieder keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich halte die „Kruzifix-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts für richtig und teile Forsts Bedenken hinsichtlich der bloßen Erlaubnis-Konzeption, welche die ersten Instanzen in diesem Streit vertreten haben. Tatsächlich gerät eine Erlaubnis-Konzeption leicht in Konflikt mit jeder halbwegs subtilen Interpretation der Gleichheit. Ich sehe jedoch nicht, wie Forsts Reziprozitätskriterium wesentlich zu begründeten Entscheidungen sol208
Ebd., 716 (Hervorhebung im Original). Ebd., 720 (Hervorhebung im Original).
209
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cher Fälle beitragen kann, enthält es doch eigentlich nicht mehr als die Aufforderung, möglichst gut zu begründen und die Parteien als gleichberechtigte Bürger ernst zu nehmen. Die Gerechtigkeitsprobleme, die Gegenstand des Toleranzdiskurses sind, gibt es natürlich. Sie firmieren heute unter „Probleme der Anerkennung“. Dass Gleichheit nicht die völlige Einebnung der Unterschiede zwischen Lebensformen und damit die direkte Repression abweichender Minderheiten erfordert oder auch nur zulässt, darüber besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit. Gleichheit verträgt sich durchaus mit der in den 1980er und den frühen 1990er Jahren viel beschworenen „Differenz“. Ja, nach einer ganz allgemeinen Charakterisierung ist sie nichts anderes als die „Grenze der Anpassung“.210 So verletzen bestimmte Ungleichheiten deshalb das Gleichheitsgebot, weil es den Benachteiligten unmöglich oder unzumutbar ist, das zu tun, was sie mit den anderen gleichstellen würde. Bestimmte staatliche Zwangsmaßnahmen gegen minoritäre Lebensformen laufen dem Gebot zuwider, weil deren Repräsentanten, um der Repression zu entgehen, sich auf eine Weise verstellen oder der Mehrheit assimilieren müssten, wie es niemand von einem anderen verlangen darf. Das Antonym zu „Gleichheit“ ist eben nicht „Differenz“, sondern „Ungleichheit“. Doch auch wenn Gleichheit nicht mit Identität gleichzusetzen ist, impliziert der argumentative Rückgriff auf sie Vorstellungen darüber, was alle Mitglieder einer Gemeinschaft verbinden sollte. Mit anderen Worten, ganz ohne Konzeptionen des objektiv Guten kommt man bei der Konkretisierung des Gleichheitsrechts im Einzelfall nicht aus.211 Das zeigt sich schon an Begriffen wie „unzumutbar“, die sich schwerlich ethisch neutral interpretieren lassen. Mitunter lassen sich Zumutungen auch mit dem öffentlichen Interesse rechtfertigen. Bevor jedoch Gerechtigkeitsprobleme vorschnell zu „Toleranzkonflikten“ hochstilisiert werden, empfiehlt es sich, genauer hinzusehen und zu prüfen, ob es wirklich die „Identität“ ist, die verteidigt wird, oder ob hinter Forderungen nach Anerkennung nicht vielmehr ein „gewöhnliches“ Verte ilungsungerechtigkeitsdefizit steckt.212 Oft führt der Toleranzdiskurs nämlich, wie Wendy Brown feststellt, zu einer „Ausblendung jener gesellschaftlichen Kräfte, die ‚Differenz‘ konstituieren“.213 Ökonomische und politische 210
Siehe Alexander Somek, Rationalität und Diskriminierung. Zur Bindung der Gesetzgebung an das Gleichheitsrecht, Wien/New York 2001. 211 Allenfalls braucht man nur eine ganz schwache Theorie des Guten, um die Grundstruktur der Gesellschaft am Wert der Gleichheit auszurichten. Auf den Begriff des Interesses und die ethische Imprägnierung jeder Interessenbestimmung komme ich im zweiten Teil dieser Abhandlung noch ausführlicher zu sprechen. 212 Brian Barry, Equality and Culture: An Egalitarian Critique of Multiculturalism, Cambridge 2001, 305–308. 213 Wendy Brown, „Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität“, 276.
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Marginalisierungen tragen wesentlich dazu bei, dass separierte Milieus entstehen, mit denen sich Menschen dann irgendwann einmal identifizieren. Typischerweise ist in solchen Fällen schnell von „Kultur“ die Rede. Eine solche hätten beispielsweise auch Afroamerikaner. Auf diese Weise wird verdrängt, dass etwaige distinkte Praktiken der afroamerikanischen Bevölkerung (z. B. sprachliche Ausdrucksweisen und Geschlechterrollenverteilungen) eine Geschichte haben. Auch kommen muslimische Fundamentalisten oft nicht schon als Fundamentalisten in liberal-demokratische Länder, sondern entwickeln sich zu solchen erst nach zahlreichen Kränkungen (am Arbeitsmarkt, am Wohnungsmarkt, durch populistische Medien, die kulturalistische Propaganda betreiben, etc.). Nicht einmal Vertreter muslimischer Gemeinschaften begründen den Zulauf von Jugendlichen immer mit der inhärenten Attraktivität ihrer Lehre. So meint etwa Hassan Mousa von der österreichisch-islamischen Gesellschaft für Bildung und Kultur, dass der Traditionalismus zuallererst ein Effekt von Ungleichheit sei: Ich selbst habe die höchste Ausbildung genossen, dennoch bleibe ich immer Ausländer. … Die Muslime wollen dieser Gesellschaft liebend gerne etwas geben. Sie zahlen Steuern, leisten Wehrdienst und würden alle gerne bei Wahlen kandidieren. Warum fühlen sich diese Jugendlichen denn ausgegrenzt? Haben sie wirklich die gleichen Chancen? Schauen wir uns doch ihre triste Wohnungssituation an! Schauen wir uns die diskriminierenden Gesetze an, die nur einen Elternteil am Arbeitsmarkt zulassen! Diese Leute wachsen in Armut auf. Sie lernen schlecht Deutsch. Auch in den Medien finden sie sich nicht wieder, deshalb weichen sie auf Satelliten-Programme und ausländische Zeitungen aus. Wenn die Gesellschaft ihnen nicht alle Chancen gibt, werden sie nie ein Teil der Gesellschaft werden.214
In dieser Feststellung mag insofern auch diskusstrategisches Kalkül stecken, als Mousa damit die Bedeutung gezielter Rekrutierungsaktivitäten unterschlägt. Gänzlich von der Hand zu weisen ist sie dennoch nicht. Oft ist es die Diskriminierung, welche die Differenz erzeugt, für die dann Respekt und Anerkennung eingeklagt bzw. auf die mit Abschottung und „Identitätspolitik“ reagiert wird. Jedenfalls aber erleichtern der unmittelbare Rekurs auf Gleichheit und der Verzicht auf eine strikte Trennung verschiedener Gleichheits dimensionen die Erkenntnis des Zusammenhangs von Anerkennungs- und Verteilungsproblemen.215 Die Konzentration auf Toleranz befördert hingegen eine Entpolitisierung der politischen Auseinandersetzung. Dabei werden dann oft erst jene unversöhnlichen Fronten zwischen verschiedenen Konzeptionen des Guten („Kulturen“) konstruiert, die zuvor nicht nur nicht erkennbar, sondern gar nicht vorhanden waren. Rawls hat recht, wenn er 214
Zitiert nach: Falter 15/04 vom 7. 4. 2004. Siehe dazu Nancy Fraser, Justice Interruptus: Critical Reflections on the „Postsocialist“ Condition, New York/London 1997, 11–39.
215
7. Der wechselseitige Respekt und das Gute
129
schreibt, dass sich die Überzeugungen von Menschen für gewöhnlich nicht einfach zu klar abgrenzbaren Konzeptionen systematisieren lassen: Die religiösen, philosophischen und moralischen Lehren der meisten Menschen werden von ihnen nicht als völlig allgemeine und globale Theorien gesehen. Allgemeinheit und Globalität sind etwas Graduelles, und das gleiche gilt für das Maß an Artikuliertheit und Systematizität einer Anschauung.216
Der Empfehlung, Verteilungs- und Anerkennungsprobleme nach Möglich keit nicht voneinander getrennt zu sehen, könnte entgegengehalten werden, sie sei zwar berechtigt, aber wenn es einmal unterschiedliche Lebensformen gebe, mit denen sich Menschen identifizieren, dann sei eben Toleranz gefordert. In einem gewissen Sinne wäre dieser Einwand sicherlich berechtigt. Wenn die „Kopftuch-Frage“, die Klitorisbeschneidung oder das Schächten von Tieren bei den Gerichten zur Beurteilung ansteht, ist es zu spät. Und möglicherweise hätten sich diese Probleme auch nicht durch eine konsequente Politik der Antidiskriminierung verhindern lassen. Dennoch hat es der Toleranzdiskurs an sich, „kollektive Identitäten“ zu ernst zu nehmen. Wenn die Frage, ob in öffentlichen Schulen Kopftücher getragen werden dürfen, die auf die Zugehörigkeit zur muslimischen Religionsgemeinschaft hinweisen, in der Sprache der Toleranz ausformuliert wird, nimmt sie leicht einen allzu grundsätzlichen Charakter an. In die Antwort darauf fließen dann immer gleich übertrieben feierliche Aussagen über das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften ein. Das Kopftuch mutiert in solchen Fällen für viele zu einem Symbol für etwas viel Größeres, das es eigentlich zu bekämpfen gelte, z. B. die Unterdrückung der Frauen durch die islamische Religion. Möglicherweise ist es das auch. Aber selbst wenn dem so wäre, könnten wir nicht unbedingt erwarten, dass eine auf dieses Symbol bezogene Repressalie irgendeinen nennenswerten Beitrag zur Beseitigung der beklagten Geschlechtsdiskriminierung leistet. Was, wenn die Muslime auf ein Verbot des Kopftuches mit weiterer Abschottung und dem Ausbau eines Privatschulsystems reagieren? Dies wäre aus der Sicht der nichtmuslimischen Mehrheit wohl noch weniger wünschenswert. Soviel zum pragmatischen Aspekt. Die Angelegenheit hat aber auch eine moralische Dimension. Schließlich muss eine Rolle spielen, wer aus welchen Gründen ein Kopftuch trägt. Wenn es eine erwachsene gebildete Frau aus Überzeugung tut, muss dies ins Kalkül miteinbezogen werden. Dass sich ihre Überzeugungen zahlreichen nicht rationalen Einflüssen verdanken, ist unerheblich. Das gilt für liberale Haltungen genauso. Niemand erwirbt all seine Überzeugungen im „rationalen Diskurs“. Was einen überzeugt und was nicht, kann man sich nicht frei aussuchen. Um Argumente überzeugend zu finden, müssen wir bereits Überzeugungen haben, an die diese Argumente anschließen können. 216
John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 294f.
130
I. Bekenntnis
Einer Frau, die darauf beharrt, zum Tragen des Kopftuches durch irgendeine heilige Schrift verpflichtet zu sein, zu sagen, dass sie irre, ist eine Sache; ihre Überzeugung für die größere Sache, den Kampf gegen einen „frauenfeindlichen Islam“, zu ignorieren, eine ganz andere. Ob Eltern ihre Töchter dazu zwingen dürfen sollen, (in der Schule) Kopftücher zu tragen, und was man gegen eine solche Praxis unternehmen soll, ist noch einmal eine andere Frage. Forst würde dem vermutlich zustimmen.217 Und doch handelt es sich um eine Argumentation, der nur jemand zustimmen wird, der bestimmte liberale Vorannahmen teilt. Das ist eine empirische Annahme. Eine Entscheidung für den Internalismus und gegen den Externalismus ist damit nicht beschlossen – genauso wenig wie das Gegenteil. Gegenstand der Internalismus/ Externalismus-Debatte ist die Frage, was es bedeutet zu sagen „Jemand hat einen Grund dafür, X zu tun“. Hat jemand nur dann einen Grund, X zu tun, wenn er motivational dazu disponiert ist (Internalismus), oder könnte er auch unabhängig von seiner motivationalen Ausstattung (was immer dies genau bedeutet) einen Grund haben, X zu tun (Externalismus)? Mittlerweile spricht doch einiges dafür, hier keine schlichte Dichotomie anzunehmen, so als ob die Grenze zwischen Gründen, die über eine Verankerung in einem System von Überzeugungen und Motiven verfügen, und solchen, für die das nicht gilt, auch nur einigermaßen klar gezogen werden könnte. Ein Grund dafür ist, dass Überzeugungen, Wünsche etc. in einem gewissen Sinne von vornherein nicht privat sind.218 Niemand kann für andere prinzipiell Unverständliches denken, wünschen, hoffen oder befürchten. Natürlich halte ich meine Gründe für teilbar, aber nur in dem Sinne, dass richtige Überzeugungen eben auch von anderen vertreten werden können. In diesem Sinne halten Islamisten ihre Überzeugungen und Gründe ebenso für teilbar. Würden wir ihnen entgegnen, dass unser System von Überzeugungen einfach nicht genügend Gründe bereithält, um eine muslimische Ethik oder politische Philosophie akzeptieren zu können, würden sie vermutlich darauf bestehen, dass wir eben noch ein bisschen an uns selbst und unserem Überzeugungssystem arbeiten und auf diese Weise ein Konversionserlebnis vorbereiten. Denn dass wir uns in keinem verständlichen und interessanten Sinne frei für Überzeugungen entscheiden, heißt nicht, dass wir nicht so etwas wie Selbstmanagement betreiben können. Wir können uns auch nicht dazu entscheiden, uns zu verlieben; wir können uns aber Situationen aussetzen, in denen man sich leicht verliebt. Genauso können wir uns zwar nicht zum religiösen Glauben entscheiden, jedoch kön217
Auch er wendet sich gegen ein generelles Verbot für muslimische Lehrerinnen, in der Schule das Kopftuch zu tragen (Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 720ff.). 218 Für „dekonstruktive“ Positionen zwischen Internalismus und Externalismus siehe etwa T. M. Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge, Mass./London, Engl. 1998, 363ff.; John McDowell, Mind, Value, and Reality, ch. 5.
8. Resümee
131
nen wir uns – wenn Pascal recht hat – dazu bringen zu glauben, indem wir eine Zeitlang so tun, als würden wir bereits glauben. Wir können demnach unsere Konversion nicht direkt, aber – mit ein wenig Glück – indirekt herbeiführen.219 Neben diesen philosophischen Problemen, mit denen jede Theorie der Toleranz zu kämpfen hat, die zwischen partikularer Ethik und universeller Moral allzu strikt unterscheiden möchte, gibt es noch ein weiteres, eher praktisches Problem mit der Toleranz, oder besser: der Toleranzrhetorik: Diejenigen, denen ausdrücklich „Toleranz“ angeraten oder aufgetragen wird, haben typischerweise das Gefühl, sie müssten etwas ertragen, das sie lieber nicht ertragen wollen. Dieses Gefühl aber kann Aversionen hervorrufen, die ihrerseits wieder zu intoleranten Verhaltensweisen motivieren. Dafür, auf den Begriff der Toleranz im politischen Diskurs so weit wie möglich zu verzichten und gleich direkt auf den Wert der Gleichheit (oder zuvor noch diverse Grundfreiheiten) zurückzugreifen, spricht also auch, dass die Selbstbeschreibung als tolerant immer schon den Keim des Hasses auf den Anderen in sich birgt. Wer etwas tolerieren muss, sieht sich leicht als Opfer. Und wie mir scheint, kann die Übernahme einer Opferrolle gerade zur Initiierung oder Perpetuierung von Hassgefühlen beitragen. Nicht dass solche Aversionen rational wären, aber eine realistische und vernünftige Sichtweise sollte sie bei der Ausbildung von Überzeugungen und Haltungen nicht unterschätzen, zumal niemand von uns vor ihnen gefeit ist. Eine „Erziehung zur Toleranz“ könnte dem zwar entgegenwirken, aber im Rahmen dieser Erziehung spielt der Toleranzbegriff selbst wohl eine eher untergeordnete Rolle. Toleranz erscheint vielmehr als Nebenprodukt einer Erziehung, die direkt abzielt auf die Vermittlung intellektueller Tugenden, zivilisierter Umgangsformen sowie von Rechts- und Rechtstaatsbewusstsein, und in weiterer Folge auch auf ein gewisses Maß an hedonistischer Selbstinteressiertheit.
8. Resümee Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Beobachtung, dass aus der Unlust eine Art Lust entstehen kann und dass der verbleibende Unlustrest oft in Affekte gegen ohnehin schon marginalisierte Gruppen umgewandelt wird. Das ist zweifellos wahr – ob nun die öffentliche Stimmung, welche die Sparpolitiken der letzten Jahre begleitet hat, ein Beleg dafür ist oder nicht. Wahr scheint auch, dass allzu verbissenes Streben nach Selbstachtung eine 219
Siehe Jon Elster, Subversion der Rationalität, 152ff.
132
I. Bekenntnis
solche Lust in der Unlust bereiten kann und dass dieses Streben sich bisweilen in der verzweifelten Suche nach Wahrheit manifestiert. Gleichzeitig existieren sogar in der modernen Gesellschaft zahlreiche Praktiken, die nicht von Wahrheitsansprüchen getragen werden, sondern auf allgemein durchschauten Illusionen beruhen. Das heißt, in der Gesellschaft sind Überzeugungen wirksam, die eigentlich niemandes Überzeugungen sind, zu denen sich also niemand bekennt. Auch in der politischen Praxis kommen solche Überzeugungen zum Tragen – nicht nur in einer Praxis, an der hauptsächlich Zyniker beteiligt sind. Die Schlussfolgerung, wir sollten ethische oder politische Bekenntnisse generell in Aberglauben transformieren, weil auf diese Weise der trübsinnigen Leidenschaft des Hochmuts und dem Dogmatismus entgegengewirkt würde, ist dennoch unzulässig – ebenso wie die Annahme, dass sich (dogmatische) Kulturen des Bekenntnisses und (undogmatische) Kulturen des Aberglaubens halbwegs klar voneinander unterschieden ließen. Letztere Annahme übersieht, dass abergläubische Praktiken, um als solche verstanden werden zu können, immer schon in ein System von echten Überzeugungen eingebettet sein müssen. Überdies könnte die Transformation von Bekenntnissen in einen lockeren Aberglauben leicht zu ganz anderen Bekenntnissen führen, mit denen zwar keinerlei Wahrheitsansprüche erhoben werden, dafür aber umso fragwürdigere Affekte verbunden sind: Bekenntnissen zu partikularen „Kulturen“. Aus der Überheblichkeit des rechtschaffenen Bewusstseins wird dann die Sorge um die eigene Kultur. Insofern macht der Objektivismus als metapolitische Einstellung durchaus einen Unterschied in der Praxis. Wer der Selbstkulturalisierung nichts abgewinnen kann, der könnte sich freilich noch der antiobjektivistischen Philosophie zuwenden. Insbesondere könnte er sich auf subjektivistische und skeptizistische Argumente aus der metaethischen Diskussion einlassen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der ethische Objektivismus robuster ist, als es zunächst den Anschein hat, und dass er weder Dogmatismus einschließt noch die Illusion, Werturteile ließen sich rational bis ins Letzte fundieren. Der Objektivist ist nicht naturgemäß ein hochmütiger Hyperrationalist. Er weiß, gerade wenn er vernünftig ist, um die Bedeutung der Hoffnung und der Leidenschaft für die Politik. Umgekehrt bietet der Skeptizismus keine wirklich tragfähige Grundlage für Antidogmatismus, Gelassenheit und Toleranz, Tugenden, die im Übrigen ihrerseits leicht zu Untugenden werden. So erscheint es auch witzlos, eine normative Theorie der Toleranz zu entwickeln, die von umstrittenen Konzeptionen des Guten abstrahiert. Die Wahrheitsrelativierung, welche mit der Toleranz einhergeht, findet ihre Begründung immer in hinreichend komplexen Vorstellungen vom Guten. Typischerweise sind das Konzeptionen mit einer gewissen egalitären Ausrichtung, mithin solche, die einige Grenzen der Anpassung kennen. Als politische Praxis wiederum speist sich die Toleranz nicht zuletzt aus pragmatischen Erwägungen.
8. Resümee
133
Der Objektivist deklariert sich in der Regel nicht als solcher. Zumal den Satz „Ich glaube, dass p“ mit dem Zusatz zu versehen „Und ich glaube, dass dies objektiv richtig ist“ ohnehin nichts weiter als eine rhetorische Geste sein kann und meistens übertrieben nachdrücklich anmutet. Vermutlich gibt es aber auch viele Objektivisten, die immer wieder so tun, als wären sie gar keine. Sie vertreten ernsthaft politische Überzeugungen und relativieren, sobald die Rede auf die Möglichkeit politischer Objektivität kommt. Niemand, der heute im Rahmen einer liberalen Demokratie politisch erfolgreich sein will, möchte sich gern dem Risiko aussetzen, als „dogmatisch“, „intolerant“ und letztlich „politikunfähig“ zu gelten – wie immer unangemessen diese Charakterisierungen sein mögen. Das heißt, politische Akteure mit starken Überzeugungen stehen vielfach unter einem Zwang. Und so spielen sie nicht einfach, sie spielen vielmehr, dass sie spielen. Strategisch mag das klug sein, es birgt aber auch das Risiko in sich, dass aus dem Spiel Ernst wird, was in diesem Fall bedeutet, dass am Ende nur mehr das Spiel übrig bleibt.
II. Interesse
1. Macht und Interesse
Den (meta)politischen Objektivismus als vernünftige Möglichkeit zu vertei digen bedeutet nicht, die zwei hervorstechendsten Faktoren in der Politik zu unterschätzen: Macht und Interessen. Im Gegenteil, wie ich meine, setzt ein angemessenes Verständnis davon auch einen ethischen Objektivismus voraus. Wir haben eingangs den Objektivismus durch drei Thesen charak terisiert: 1) Werturteile und Urteile über die inhaltliche Richtigkeit von Normen können objektiv wahr oder falsch sein. 2) Die Orientierung der Akteure an dem, was sie für objektive Werte und objektiv gültige Normen halten, ist auch in der Politik prinzipiell gut. 3) Zur angemessenen Bestimmung individueller Interessen braucht es eine Vorstellung vom objektiv guten Leben. (1) und (2) waren Gegenstand der bisherigen Ausführungen. Nun kommen wir zu (3). Dass der ethische Objektivismus nicht mit besonders extrava ganten metaphysischen Annahmen verbunden ist, sollte klar geworden sein. Ebenso klar sollte sein, dass der ethische Objektivismus per se nicht die Forderung enthält, die Menschen mögen sich nicht mehr hauptsächlich um ihre eigenen Belange sorgen. Jede halbwegs vernünftige Moral handelt zuallererst von menschlichen Interessen (und deren Kompatibilisierung). Leugnen muss der Objektivist auch nicht, dass die Etablierung von Wahr heiten in der Gesellschaft die bewusste oder unbewusste Anwendung von Macht erfordert – schon allein aus Zeitgründen. Während noch über das Vorliegen, die Definition und die Lösung von sozialen Problemen disku tiert wird, verändern sich die Dinge. Damit ist auch der Gültigkeitsbereich vieler normativer und evaluativer Aussagen zeitlich limitiert. Zudem wirken entsprechende politische Entscheidungen ihrerseits auf die Gesellschaft ein und verändern die Lage. Der Objektivist träumt nicht notwendig von einer unvermachteten Gesellschaft. Genau genommen kann er nicht einmal ange ben, wie eine solche aussehen würde. Er ist auch nicht auf die Annahme fest gelegt, die wohlverstandenen Interessen aller würden harmonieren. Gerade deshalb kann er darauf bestehen, dass die Reproduktion demokratischer Institutionen durch die rationale Eigeninteressenverfolgung der politischen Akteure allein nicht gewährleistet wird. Freilich wird sich wieder ergeben,
138
II. Interesse
dass der Objektivismus nur einleuchtet, wenn er von LetztbegründungsAmbitionen frei gehalten wird. Er erstreckt sich aber nicht nur auf Fragen der Legitimation, also des gerechten Ausgleichs von Interessen, sondern kann schon bei der Bestimmung von Interessen und Machtverhältnissen zum Tragen kommen. Auch wenn sich noch zeigen wird, dass die einzelne Interessenbestimmung sich niemals mit absoluter (objektiver) Gewissheit als korrekt ausweisen lässt, gilt, dass wir aber im Großen und Ganzen zumin dest unsere eigenen Interessen richtig einschätzen. Andernfalls wäre die Rede von Interessen weitgehend witzlos. Wenn der Realist darauf besteht, dass die Gesellschaft ein Ensemble von Machtverhältnissen ist und die Politik hauptsächlich von Interessen ange trieben wird, kann der Objektivist ohne weiteres zustimmen. Allerdings meint er, dass gerade diejenigen, die die Begriffe „Macht“ und „Interesse“ ins Zentrum ihres politischen Denkens stellen, eigentlich auch zur Skepsis gegenüber der skeptizistischen Attitüde vieler Realisten neigen sollten. Die realistische Sichtweise könnte man in etwa folgendermaßen wieder geben: „In der Politik, ja in der Gesellschaft allgemein, geben Macht und Interessen den Ausschlag. Wer genauer hinsieht, wird sogar dort, wo unbe lastet von jeglichem Entscheidungsdruck nach der Wahrheit gesucht wird, nämlich in akademischen Seminaren, durch Macht und Interessen verzerrte Diskursbedingungen vorfinden.“ Als Objektivist muss man dies nun keineswegs leugnen, aber man könnte Folgendes anmerken: Je umfassender der Machtbegriff, desto anspruchsvoller der Interessenbegriff und desto stärker sind politische Analysen selbst ethisch aufgeladen; und je enger der Machtbegriff, desto anspruchsloser der Interessenbegriff und desto oberflächlicher die poli tischen Analysen. Ethisch neutral sind aber auch Analysen, die auf ganz simplen Macht- und Interessenbegriffen beruhen, keineswegs. Deshalb werden diese Begriffe gelegentlich „essentially contested concepts“ genannt.220 Und deshalb sind philosophische Analysen solcher Begriffe auch keine rein akademische Fingerübung. Im Folgenden möchte ich anhand von Steven Lukes’ Unterscheidung dreier Arten, Macht zu defi nieren, den ethischen und politischen Gehalt von Machtbegriffen näher erläutern. Eine umfassende Rekapitulation der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Debatte über Macht würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Schon gar nicht kann ich hier selbst einen nen nenswerten Beitrag dazu leisten. Angesichts der Schwierigkeiten, sich auf einen Machtbegriff zu einigen, liegt der Gedanke nahe, dass sich über Macht gar nicht rational diskutie ren lässt, dass die Verwendung des Begriffs lediglich polemischen Charakter haben kann. Das wäre dann gewissermaßen noch eine Steigerung des reali 220
Siehe etwa William E. Connolly, The Terms of Political Discourse, 3rd edition, Prin ceton 1993.
1. Macht und Interesse
139
stischen Detachement, die wenn man so will, hyperrealistische Position. Lukes fasst diesen Einwand folgendermaßen zusammen: Power … is a dispositional concept, comprising a conjunction of conditional or hypothetical statements specifying what would occur under a range of circum stances if and when the power is exercised. Thus power refers to an ability or capacity of an agent or agents, which they may or may not exercise. But how can that be explanatory?221
Nun, wer sich von Machttheorien strikte Gesetze erwartet, wird zweifellos enttäuscht. Solche Gesetze sind auch von der schönsten Sozialwissenschaft nicht zu erwarten. Das liegt schon daran, dass wir es hier mit menschlichem Handeln zu tun haben und dieses sich nicht mit einem rein physikalistischen Vokabular angemessen beschreiben lässt.222 Zwar können wir einige der Machtressourcen (etwa militärische Mittel) so beschreiben, aber zum einen müssen Machtressourcen, um solche zu sein, auch als solche anerkannt wer den, und zum anderen zählen zu ihnen auch Ressourcen, die selbst in nichts anderem bestehen als Überzeugungen, z. B. Vertrauen, welches seinerseits wieder auf so schwer fassbare „Dinge“ wie Charisma gründen kann. Dennoch können wir uns das Handeln von Menschen häufig ganz gut erklären. Im Großen und Ganzen fällt es uns nicht allzu schwer herauszufinden, warum jemand diese und keine andere Investitionsentscheidung getroffen hat. Dass wir über keine strikten Gesetze für solche Entscheidungen verfügen, bereitet uns jedenfalls kein Kopfzerbrechen. Und nicht selten ziehen wir bei unse ren Erklärungen und Prognosen eben Machtverhältnisse ins Kalkül. Ja, wir können gar nicht anders: We need to know our own powers and those of others in order to find our way around a world populated by human agents, individual and collective, of whose powers we need to be apprised if we are to have a chance of surviving and flourish ing. And of course our own powers will in part depend on harnessing and evading or diminishing the powers of others. We carry around in our heads maps of such agent’s powers – of their dispositional abilities to affect our interests – usually a tacit knowledge, which allows us to some measure of prediction and control.223 221
Steven Lukes, Power: A Radical View, second expanded edition, Houndmills 2005, 63 (Hervorhebung im Original). 222 Siehe dazu nur Donald Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt/M. 1990, 19–42. Eine Zurückweisung des Machtbegriffs mutet, auch wenn sie von Gesell schaftstheoretikern stammt, wie eine Wiederholung der Vorbehalte gegen die Sozialwissenschaft insgesamt an. Und tatsächlich gilt: Diese ist nicht nur ideolo gisch bedingt, sondern auch ideologisch imprägniert. Das heißt, sie überschneidet sich – bei allen Differenzen – mit der politischen Philosophie und der Ethik im Allgemeinen. Siehe dazu Peter Koller, „Gesellschaftstheorie und politische Phi losophie“, in: Lothar R. Waas (Hg.), Politik, Moral und Religion – Gegensätze und Ergänzungen, Berlin 2004, 359–376. 223 Steven Lukes, Power, 65.
140
II. Interesse
Ich komme auf die in dieser Passage enthaltene allgemeinste Definition von Macht als Gesamtheit der „abilities to affect our interests“ gleich zurück. Zuerst noch zwei weitere Gründe für die Unverzichtbarkeit des Machtbegriffs: (1) Ohne Verständnis von Machtverhältnissen keine Zuord nung von Verantwortlichkeit: Verantwortung für Tun und Unterlassen setzt entsprechende Macht voraus. (2) Die Verteilung von Macht in der Gesell schaft ist immer auch Gegenstand eines Gerechtigkeitsurteils über die Gesellschaft. (Dass eine Ungleichverteilung naturgemäß durch eine darauf abzielende Strategie der Mächtigen verursacht wurde, sollte freilich nicht angenommen werden.) Wer nun nach einer Definition des Machtbegriffs sucht, stößt recht bald auf die fundamentale, von Hanna Pitkin stammende Unterscheidung zwi schen „Macht über“ und „Macht zu“. Ein Gutteil der Debatte bezieht sich auf das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander.224 Während mit „Macht über“ auf das Verhältnis eines Akteurs zu einem anderen Bezug genom men wird, ist mit „Macht zu“ die Fähigkeit gemeint, etwas zu tun oder zu erreichen. Offenkundig besteht ein Zusammenhang, und offenkundig lässt sich keiner der beiden Begriffe auf den anderen reduzieren. Zwar schließt Macht über andere immer ein, etwas tun oder erreichen zu können; doch geht Macht zu etwas nicht immer mit Macht über andere einher, zumindest nicht mit direkter. So wird durch die Macht, etwas zu tun oder zu errei chen, auch bloße Autonomie begründet. Soziale Autonomie hat natürlich viel mit Beziehungen zu anderen Menschen bzw. Akteuren zu tun, insofern sie sich auf soziale Ressourcen wie Geld, Rechte und Anerkennung stützt. Aus der Tatsache, dass bei der Verteilung dieser Ressourcen „Macht über“ in ihren verschiedenen Dimensionen eine wichtige Rolle spielt, erklärt sich wenigstens teilweise die foucaultianische Annahme, dass Macht nicht nur repressiv wirkt, sondern handlungsfähige Subjekte bis zu einem gewissen Grad nachgerade konstituiert.225 Wie viele und welche Ressourcen jemand benötigt, um autonom sein und gegebenenfalls für den Gebrauch seiner Macht zur Verantwortung gezogen werden zu können, ist oft eine schwie rige ethische und juristische Frage. Zumal „Autonomie“ als Begriff ähnlich schillert wie „Macht“. In jedem Fall aber besteht die soziale Autonomie – wiewohl typischerweise abhängig von Macht der anderen Art (etwa der Macht staatlicher Organe) – nicht wesensmäßig darin, andere dazu zu brin gen, etwas zu tun, zu wünschen oder zu glauben. Sie besteht zunächst viel mehr darin, frei von bestimmten gesellschaftlichen Beschränkungen nach 224
Siehe Gerhard Göhler, „Macht“, in: ders./Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, 244–261. 225 Auch in einem anderen Sinne „konstituiert“ Macht die Akteure, nämlich insofern diese ihre Präferenzen und Überzeugungen den sozialen Positionen verdanken, die sie bekleiden, Positionen, die durch Machtpraktiken aufrechterhalten und ver ändert werden.
1. Macht und Interesse
141
den je eigenen Wünschen und Interessen handeln zu können, gleich, ob diese Freiheit rechtlich abgesichert ist oder sich lediglich der Distanz zu anderen Menschen und deren Plänen verdankt. Inwieweit man den Machtbegriff auf Strategien zur Herbeiführung von Präferenzen und Überzeugungen bei anderen anwenden soll, ist überhaupt fraglich. Was soll man etwa von einem Begriff wie „Definitionsmacht“ hal ten? Klar ist nur, dass sich Präferenzen und Überzeugungen üblicherweise nicht direkt aufzwingen lassen. Wir können, solange wir uns nicht in Trance oder irgendeinem vergleichbaren Zustand der Hörigkeit befinden, nicht auf Befehl etwas wünschen, hoffen, befürchten oder glauben. Andererseits liegt auf der Hand, dass Macht bei denen, die ihr unterworfen sind, eine Bedingung für den Erwerb jener Fähigkeiten sein kann, die ihrerseits wieder Voraussetzung dafür sind, Macht zu etwas zu erlangen. Man denke nur an das Verhältnis zwischen Eltern (oder Lehrern) und Kindern. Und damit sind wir schon bei der allgemeinen, natürlich völlig unzurei chenden Charakterisierung von „Macht über“ angelangt, die oben lediglich angedeutet wurde: der Fähigkeit, die Interessen anderer zu berühren. Hier stellen sich sofort zwei Fragen: (1) Handelt es sich nur um die Fähigkeit, intentional die Interessen anderer zu berühren? (2) Was sind Interessen? Nach Max Webers berühmter Definition ist Macht „jede Chance, inner halb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.226 Diese Definition, welche, entsprechend interpretiert, auch den Begriff der „Macht zu“ umfasst, scheint (1) eher zu bejahen, da sie auf die Realisierung eines Willens abstellt. Allerdings ist nur von der „Chance, den eigenen Willen durchzu setzen“ die Rede. Demnach verfügt auch der über Macht, der zwar alles Mögliche bewirkt und dessen Handlungen die Interessen vieler Menschen berühren, der aber aufgrund von Fehleinschätzungen dennoch nicht erreicht, was er will. Tatsächlich ist man geneigt, Akteur X für mächtiger zu halten als Akteur Y, wenn die Handlungen von X die Interessensphären von mehr Menschen berühren als die von Y, ob intendiert oder nicht. (Dass es auch darauf ankommt, in welcher Weise und Intensität andere betroffen sind, bedeutet noch weitere Komplikationen, die hier jedoch nicht inter essieren.) Andererseits: Kann als mächtig gelten, wer aufgrund miserablen Urteilsvermögens trotz ansonsten günstiger Voraussetzungen (z. B. erhebli cher materieller Ressourcen) nie erreicht, was er will, jedoch immer wieder zahllose Menschen ins Unglück stürzt oder, umgekehrt, glücklich macht? Mit Frage (1) eng verbunden ist die Frage, ob es wirklich nur auf die Chance ankommt, seinen Willen durchzusetzen. Angenommen, jemand hat diese Chance und setzt seinen Willen auch regelmäßig durch, ist aber allzu oft nicht in der Lage, einen halbwegs vernünftigen Willen auszubilden. Auch notorisch Willensschwache, die sich ständig wider besseres Wissen und nicht wirklich 226
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5 rev. Auflage, Tübingen 1972, 28.
142
II. Interesse
beabsichtigt selbst schädigen, handeln aufgrund eines Willens. Man denke an einen drogenabhängigen Milliardär, dessen Erwägungen hauptsächlich um die Beschaffung von Suchtmitteln kreisen. Wie viel Potential zur Ausbildung eines handlungswirksamen vernünftigen Willens muss vorhanden sein? Doch was bedeutet „halbwegs vernünftiger Wille“? Als Minimalbedingung wird man vielleicht angeben wollen, dass ein Wille nur dann halbwegs vernünftig ist, wenn seine Durchsetzung der Absicht entsprechend ein Interesse beför dert oder einen moralisch wünschenswerten Zustand hervorbringt. Dieses Problem möchte ich allerdings nicht weiter vertiefen, zumal die dazu nöti gen Überlegungen unserem Gegenstand kaum noch angemessen wären. Sie würden allzu weit in handlungstheoretische und bewusstseinsphilosophi sche Diskussionen hineinführen. Stattdessen werde ich mich gleich Frage (2) zuwenden. Was unter den durch Machtausübung berührten „Interessen (anderer)“ zu verstehen ist, ist eine praktisch ungleich bedeutsamere Frage. Dies lässt sich zeigen, indem man drei verschiedene Machtbegriffe unter scheidet.227 Der erste Machtbegriff (M1) setzt offene Konflikte voraus und führt zur Frage, wer sich mit seinen Präferenzen durchsetzt. Der zweite Machtbegriff (M2) ergänzt den ersten insofern, als er nicht bloß auf öffent lich ausgetragene Konflikte zwischen Präferenzen abstellt, sondern auch Strategien (bzw. die Fähigkeit dazu) umfasst, zu verhindern, dass gegensätz liche Präferenzen überhaupt artikuliert und somit Konflikte öffentlich wer den. Nach M2 kann Macht also auch in der Fähigkeit bestehen, zu bestim men, was auf die politische Tagesordnung kommt und was nicht. Zwar werden Interessen – wie nach M1 – als subjektive Präferenzen betrachtet, sie müssen aber nicht mehr als Präferenzen ausformuliert und artikuliert sein; es genügt ein Zustand des Unbehagens oder der Unzufriedenheit. Der dritte Machtbegriff (M3) dagegen erfasst auch die Fähigkeit, nicht als solche erkannte Interessen anderer zu befördern oder zu beeinträchtigen, und setzt lediglich potenzielle Konflikte voraus, Interessenkonflikte, die den Beteiligten nicht bewusst sind. M3 erfasst somit außerdem noch (die Fähigkeit zu) Strategien der Einflussnahme auf die Bildung von Meinungen und Präferenzen. Demnach verfügt auch über Macht, wer über die Selektion und Aufbereitung von Informationen kollektive Stimmungslagen erzeugen, verändern und verhindern oder gerade ermöglichen kann, dass Menschen ihre „wahren Interessen“ erkennen. Dabei muss nicht unbedingt an den bös willigen Manipulator gedacht werden. Am Kampf auf diesem Terrain haben alle teilzunehmen, die in einer Demokratie auf die „öffentliche Meinung“ angewiesen sind, auch die Besten, Aufrichtigsten und Anständigsten.228 Wer 227
Siehe nur Steven Lukes, Power, 29. In diesem Sinne unterscheidet Searle zwischen der Macht, die jemand, beispiels weise als Präsident, aufgrund der Verfassung hat, und jenem „Überschuss“, der in der Fähigkeit besteht, den Leuten „Lust darauf zu machen, etwas zu tun, was sie sonst nicht gewollt hätten“ (John R. Searle, Freiheit und Neurobiologie, 83). Letz
228
1. Macht und Interesse
143
in der Politik nur der Macht des besseren Arguments vertraut, ist hoffnungs los naiv. Tatsächlich tut dies aber ohnehin kaum jemand – sicher nicht in der liberalen politischen Theorie, für die der Einbau von „checks and balances“ immer schon essenziell ist. Nun dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass sich mit M1 am leichtes ten empirisch arbeiten lässt und mit M3 am schwersten. Allerdings führt die Beschränkung auf M1 auch meistens dazu, dass die Machtverteilung in der Gesellschaft wesentlich ausgewogener erscheint, als sie sich unter Zugrundelegung von M2 oder gar M3 darstellt. Gegen M3 wird aber gelegent lich eingewendet, dass der Begriff des objektiven Interesses ein Unding sei. Und tatsächlich untergräbt die Verwendung dieses Begriffs das realistische Plädoyer für eine von Wahrheitsansprüchen und Moral weitgehend befrei te Politik. Jedenfalls, wenn sich zeigen lässt, dass im objektiven Interesse die Grenzen zwischen dem individuell Guten und dem ethisch Wertvollen mehr als nur ein wenig verschwimmen. Dann wird nämlich das objektive Interesse einzelner Akteure selbst zum Gegenstand der politischen Debatte. Das objektive Interesse ist also nicht bloß das, was die politischen Akteure durchzusetzen versuchen und von dem sie Abstriche machen, soweit ihnen dazu die Macht fehlt. Das objektive Interesse ist auch etwas, über dessen Inhalt Dissens bestehen kann und um dessen Bestimmung gekämpft wird. Eine Sichtweise, die Interessen mit subjektiven Präferenzen gänzlich identifiziert, hat hingegen Probleme mit der Politisierung von Interessen. Darunter verstehe ich die Universalisierung partikularer Interessen. Wer einen subjektivistischen Interessenbegriff vertritt, kann diese Politisierung nur als Strategie zur Veränderung tatsächlicher Präferenzen beschreiben und wird damit der Perspektive der ersten Person, der Teilnehmerperspektive, nicht gerecht. Allenfalls empfiehlt er noch, die Politisierung von Interessen als eine Art Spiel zu betrachten, also die damit verbundenen Geltungsansprüche nicht ganz ernst zu nehmen. Das aber ist ein fragwürdiges Manöver. Nicht dass die Menschen sich über das, was sie tun, wenn sie Politik betreiben, nicht täuschen können. Aber eine Theorie, die den politischen Akteuren systema tische Selbsttäuschung unterstellt bzw. darüber aufklärt und zugleich emp fiehlt, sich selbst Selbsttäuschung vorzutäuschen, verdient unsere Skepsis. Sie mutet ein wenig zu raffiniert an. Diese Thesen sollen im Folgenden etwas ausführlicher erörtert und ver teidigt werden. Es gilt also, jene Verbindung zwischen Wahrheit, Moral, Interesse und Politik herzustellen, die ein oberflächlicher Realismus allzu leicht übersieht. Überwiegend wird es sich dabei um eine semantische Analyse des Interessen-Diskurses handeln. Doch semantische Analysen ließen sich noch nie strikt von (meta)ethischen oder metapolitischen Erörterungen trennen. Was konkret ein individuelles Interesse bildet, das durch Macht tere Macht könne auch dann erhalten bleiben, wenn der formelle Status bereits aufgegeben ist. Mit ihr werde aus politischer Macht politische Führerschaft.
144
II. Interesse
beeinträchtigt oder gefördert werden kann, ist natürlich nicht mehr bloß eine Frage der Semantik.229
2. Interessen, Wünsche und Wohlbefinden Die Wunschkonzeption des Interesses ist zweifellos die am nächsten liegen de, aber zugleich auch die oberflächlichste und häufig am wenigsten ange messene. Warum? Wodurch unterscheiden sich Interessen und Wünsche für gewöhnlich?230 Inwiefern ist „X ist in As Interesse“ nicht gleichbedeu tend mit „A wünscht sich X“? Eine Antwort liegt auf der Hand: „X ist in As Interesse“ erlaubt die Fortführung „aber A weiß das nicht“, während der Satz „A weiß nicht, dass er sich X wünscht“ meistens bizarr anmutet – d. h. wenn nicht gerade irgendwelche Annahmen in Bezug auf das Unbewusste im Spiel sind. Aber auch unbewusste Wünsche sind nicht unbedingt Interessen. Wenn es heißt, A wisse nicht, dass X in seinem Interesse liegt, dann ist damit jedenfalls nicht gemeint, dass A X unbewusst anstrebt oder befürwortet. In einem anderen Sinne ist die Wunschkonzeption, wie sich noch heraus stellen wird, zwar nicht eine restlos befriedigende, aber doch sehr weitge hend angemessene Konzeption. Nach Brian Barry sind Interessen in meh rerlei Hinsicht ganz besondere Wünsche.231 Menschen, die sich für oder gegen X entscheiden müssen, könnten sich zwar nicht einfach fragen, ob sie X wünschen. Vielmehr fragen sie (unter anderem), ob X in ihrem Interesse liegt. Aber „X liegt in As Interesse“ könnte Barry zufolge dasselbe bedeu ten wie „A wünscht sich die Konsequenzen von X“, nämlich unter der Voraussetzung, dass es sich bei den Konsequenzen um halbwegs kurzfristige Folgen handelt und A eine „durchschnittlich kompetente“ Person ist. Damit ist bereits der „objektivere“ Charakter von Interessen, diesmal als ergeb nisbezogene Wünsche, sichtbar geworden. Man kann sich zumindest schon
229
Metapolitische Erörterungen wiederum sind ihrerseits nicht politisch neutral. Das zeigt sich schon daran, dass sie einen mehr oder weniger anspruchsvollen Macht begriff nahe legen. Und wie soeben dargelegt: Je nachdem, welchen Machtbegriff man verwendet, gelangt man zu mehr oder weniger vorteilhaften Beschreibungen der Gesellschaft. 230 Zur Entwicklung dieser Unterscheidung, insbesondere von Interessen und Lei denschaften, siehe nur Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1987, 39–51. 231 Brian Barry, Political Argument, Reprint, Berkeley/Los Angeles 1990, 178–186.
2. Interessen, Wünsche und Wohlbefinden
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einmal über die Ergebnisse der gewünschten Handlung oder des gewünsch ten Entscheidungsprogramms täuschen. Weiters muss man nach Barry, wenn man Interessen als spezielle Wünsche ansehen will, Wünsche ausschließen, die sich auf Konsequenzen für andere Leute beziehen. Diese Behauptung wäre aber mindestens zu präzisieren: Ich kann zwar wollen, dass jemand anderes leidet, aber dies liegt nicht schon des halb in meinem Interesse, weil ich es mir wünsche. Das Leiden des Anderen würde jedoch in meinem Interesse liegen, wenn es beispielsweise Folge eine Bestrafung wäre und den Anderen in Zukunft davon abhielte, mir Schaden zuzufügen. Die Präzisierung besteht also lediglich in der Einfügung des Wortes „ausschließlich“. Wünsche, die sich ausschließlich auf Konsequenzen für andere beziehen, bilden demnach kein Interesse. Ausschließlich fremd bezogene (auf Neid, Schadenfreude, Sadismus etc. beruhende) Wünsche fallen nicht unter Barrys Interessenbegriff.232 Doch an der relativen Position anderer kann ich durchaus ein Interesse haben. Schließlich hängen davon meine soziale Macht, mein Einfluss und mein Ansehen ab. Nicht zuletzt des halb werden heute in der ökonomischen Theorie verstärkt auch Präferenzen berücksichtigt, die die relative Position von Akteuren betreffen.233 Vielleicht könnte man Interessen als eine Art allgemein antizipierter Wünsche begreifen. Interessen wären, so verstanden, insoweit objektiv, als sie sich bei Menschen, die unter vergleichbaren Bedingungen leben, weitge hend gleichen (was natürlich nicht bedeutet, dass sie harmonieren). Für Barry sind Interessen darüber hinaus generalisierte Mittel zur Erreichung einer Palette von Zielen.234 „X ist in As Interesse“ bedeutet nicht „X erfüllt die unmittelbaren Wünsche von A“. Es bedeutet lediglich, dass X die Erfüllung von As Wünschen begünstigt. Entscheidungen, die einer Person ein höhe res Einkommen verschaffen, mögen daher in deren Interesse liegen. Die Erzielung höheren Einkommens bildet ein Interesse – nicht einfach, weil höheres Einkommen gewünscht wird, sondern weil sich damit für gewöhnlich mehr Wünsche realisieren lassen. Wenn das Einkommen jedoch ausgegeben wird, um irgendwelche Bedürfnisse zu befriedigen (etwa nach Unterhaltung), dann sagt man nicht mehr, die Ausgaben seien im Interesse dieser Person gelegen, es sei denn, die Ausgaben hätten einem weiteren Zweck gedient 232
Zumindest der Neid steht zweifellos nicht für eine Orientierung am eigenen In teresse, sondern kann wohl als Paradigma für eine trübsinnige Leidenschaft ange sehen werden. 233 Eine Standarddefinition von Pareto-Superiorität wie jene bei Jeffrie G. Murphy/ Jules L. Coleman, Philosophy of Law: An Introduction to Jurisprudence, revised edi tion, Boulder/San Francisco/London 1990, 182 trägt diesem Umstand Rechnung: „S1 is Pareto superior to S if and only if no one prefers S to S1 and at least one person prefers S1 to S.“ 234 Siehe auch Theodore M. Benditt, „The Public Interest“, in: Philosophy and Public Affairs 2 (1972/73), 297.
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II. Interesse
(etwa jemanden mit seinen kulturellen Präferenzen zu beeindrucken).235 Sich bloß zu vergnügen mag von jemandem gewünscht werden, liegt aber nicht seinem Interesse. Nur die Möglichkeit, sich Vergnügungen hinzugeben, bildet ein Interesse. Sich zu vergnügen könnte den eigenen Interessen auch zuwi derlaufen, nämlich dann, wenn man sich auf diese Weise der Möglichkeit begibt, andere Wünsche zu realisieren. So könnte ein bestimmtes Vergnügen strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen oder dazu führen, dass man einen wichtigen Geschäftsabschluss versäumt. Wer nach sexuellem Lustgewinn strebt, verfolgt demnach nur dann sein eigenes Interesse, wenn die Lust eine über sich selbst hinausgehende Funktion hat, und sei es nur den Wunsch zu kultivieren, eine intime Beziehung zu einer geliebten Person aufrechtzuer halten. Der Lustgewinn ist dann, so seltsam das auf den ersten Blick erschei nen mag, ein Mittel zum Zweck und gerade insofern ein Interesse. Bisweilen hindert man Personen daran, sich ihre Wünsche zu erfüllen, mit dem Argument, das sei nur in ihrem eigenen Interesse. Hat man damit das Interesse idealisiert, also gänzlich von den Wünschen der jeweiligen Person getrennt? Nach Barry nicht. Barry differenziert lediglich zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Wünschen. Der Schutz von Interessen besteht demzufolge in nichts anderem als in der Sicherung der Möglichkeit, sich zukünftige Wünsche zu erfüllen. Was immer man nun im Einzelnen von diesen Unterscheidungen hal ten mag – sie zeigen doch sehr deutlich, dass zumindest die unqualifizierte Identifikation des Interessenbegriffs mit dem des Wunsches eine allzu gro be Vereinfachung darstellt. Die begriffliche Unterscheidung lässt sich auch empirisch leicht plausibilisieren. Unter bestimmten Bedingungen werden, wie Amartya Sen schreibt, die aktuellen Wünsche von Menschen, nicht aber das, was wir ihre Interessen nennen würden, ganz und gar anspruchslos: A thoroughly deprived person, leading a very reduced life, might not appear to be badly off in terms of the mental metric of desire and its fulfilment, if the hard ship is accepted with non-grumbling resignation. In situations of long-standing deprivation, the victims do not go on grieving and lamenting all the time, and very often make great efforts to take pleasure in small mercies and to cut down personal desires to modest – „realistic“ – proportions.236
Überhaupt sind Menschen oft davor zu bewahren, sich unterdrücken zu las sen. (Die Motive dafür müssen keineswegs paternalistisch sein.) Sich unter drücken zu lassen bedeutet unter anderem (legt man Barrys Interessenbegriff zugrunde), Wünsche zu entwickeln, deren Realisierung der Realisierung zukünftiger Wünsche zuwiderläuft, soweit diese ein hohes Maß an sozialer Autonomie erfordert. In der psychoanalytischen Theorie wird bisweilen 235
Wünsche sind natürlich auch nicht dasselbe wie Bedürfnisse. Aber womöglich lassen sich jene Interessen, die über Wünsche hinausgehen, als Bedürfnisse be schreiben. Ich komme noch darauf zurück. 236 Amartya K. Sen, Inequality Reexamined, Cambridge, Mass. 1992, 55.
2. Interessen, Wünsche und Wohlbefinden
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sogar die Meinung vertreten, dass die Leute prinzipiell nicht den unmit telbaren Lustgewinn anstreben. Mit Bezug auf Brechts Gedicht „Gegen Verführung“ bemerkt Pfaller: Die Leute streben unmittelbar nach ihrem Unglück. Die primitivsten Antriebe sind jene, die sich auf das vermeintlich Allerhöchste richten. Es sind keineswegs etwa egoistische Selbsterhaltungstriebe, sondern vielmehr die dem eigenen Ide alich gewidmeten Bestrebungen – genau jene Antriebe, die selbst noch über die wirkliche eigene Person zugunsten des Ideals großzügig hinwegsehen, ja dafür sogar noch bereitwillig noch über deren Leiche gehen. … Diese idealistischen, asketischen und letztlich suizidären Strebungen sind für Brecht das eigentlich Primitive, Barbarische. Ihnen folgen die Leute unmittelbar; erst mühselige Arbeit der Kultur kann sie dazu bringen, sich mit ihrem Glück anzufreunden, es zu ertragen, glücklich zu sein.237
Pfaller mag hier etwas übertreiben. Wirklich mühselig scheint die „Arbeit der Kultur“ an der Bekehrung zum Egoismus in der Regel nicht zu sein. Doch dass das (individuelle) Glück nicht unbedingt das ist, was die Menschen tat sächlich anstreben, liegt auf der Hand.238 Gerade dann, wenn man – nahe liegenderweise – das individuelle Glück nur als Zustand der Realisierung einer signifikanten Anzahl selbstbezogener Wünsche definiert. Politische Fanatiker zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass es ihnen an selbstbezo genen Wünschen mangelt. Doch auch die Selbstbezogenheit des Wunsches macht noch nicht unbedingt ein Interesse. Der Wunsch muss auf halbwegs korrekten Annahmen über die Welt und das beruhen, was ein individuelles 237
Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 237. Noch mehr als Pfaller übertreibt die Lacanianerin Renata Salecl, wenn sie gegen Rawls’ Annahme, als rationale Wesen hätten wir typischerweise lieber mehr als weniger von den Grundgütern, die Praxis des Potlach ins Treffen führt: „In short, it is not necessarily true, as Rawls presumes, that people rationally choose more goods in order to secure greater success. Lacan draws attention to the fact that even the destruction of goods can perform some special function for the com munity – witness the ceremony of potlach in primitive societies, where goods are systematically destroyed, even those goods which the community rationally needs.“ (The Spoils of Freedom: Psychanalysis and Feminism After the Fall of Socialism, London/New York 1994, 87) Zweifellos stellt der Potlach eine Herausforderung für Theorien der rationalen Wahl dar, doch handelt es sich dabei eher um eine Unterbrechung des Alltags als eine die Grundstruktur besagter Gemeinschaften und das Denken der Einzelnen prägende Praxis. Insbesondere aber in der moder nen Gesellschaft scheint der Potlach keine nennenswerte Rolle zu spielen. Der Lacan-Schüler Alain Badiou konstatiert sogar (ebenfalls ein wenig einseitig und nicht sonderlich originell), dass die herrschende Ethik „unzusammenhängend ist und dass die ganz offen sich zeigende Wirklichkeit die Entfesselung der Egois men, das Verschwinden oder die äußerste Unsicherheit der emanzipatorischen Politik, die Vervielfältigung der ‚ethnischen‘ Gewaltsamkeiten und die Universa lität der wildwüchsigen Konkurrenz ist“ (Ethik, 21).
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II. Interesse
Leben gut macht. Es kommt also oft (wenn auch keineswegs immer) auf die Gründe für unsere Wünsche an sowie auf die (sozialen) Bedingungen, unter denen sie entstehen (ich komme darauf noch zurück). Am nächsten kommen sich Interessen und (aktuelle) Wünsche, wenn wir sagen: „A ist an X interessiert“. In diesem Fall sind Interessen nämlich im Grunde immer noch Wünsche. Wir würden aber nicht sagen „A ist an X interessiert“, wenn A sich der Möglichkeit von X gar nicht bewusst wäre. Wir könnten in diesem Fall allenfalls sagen „A hat ein Interesse an X“. Hier verlassen wir auch Barrys modifizierte Wunschkonzeption des Interesses. Immerhin mutet es keineswegs unsinnig an zu sagen, eine intime Beziehung zu einer geliebten Person bilde ein besonders gewichtiges Interesse, weil eine solche Beziehung ein Wert an sich und also Bestandteil des guten Lebens sei. Und auch ein gewisses Maß an Lustempfinden dürfte zum guten Leben gehören. Ronald Dworkin spricht in diesem Zusammenhang von „kritischen Interessen“ und meint, derartige Interessen würden naturgemäß gar nicht aus Selbstinteresse verfolgt.239 Besser wäre vielleicht: Das Selbstinteresse kann zur prinzipiellen Verfolgung dieser Interessen motivieren, ist aber sel ten das alleinige oder direkte Motiv. Kritische Interessen sind – begrifflich – denkbar weit von Wünschen entfernt. Gleichwohl bildet für Dworkin ein gewisses Maß an Befriedigung bloß „volitionaler Interessen“ (das sind mehr oder weniger schlichte Wünsche) seinerseits ein kritisches Interesse. Der Antiobjektivist muss aber nicht unbedingt Interessen mit Wünschen gleichsetzen, er könnte auch, wie bereits angedeutet, eine hedonistische Konzeption von Interessen vertreten und als im Interesse einer Person gele gen alles ansehen, was ihr aufgrund kontingenter individueller Dispositionen Lust verschafft – unabhängig davon, ob sie Lustgewinn anstrebt oder nicht. Damit träfe er sicher einen wichtigen Punkt, zumal ein Leben ohne nennens werte Lusterfahrungen (auch der trivialeren Sorte) ceteris paribus – nicht zuletzt aufgrund der trübsinnigen Leidenschaften, die es gleichsam kompen satorisch durchziehen – schlechter ist als eines voll solcher Erfahrungen. Doch wer den Hedonismus zur schlechthinnigen Interessen-Theorie macht, handelt sich ein Problem ein. Denn viele Menschen nehmen allerlei Unlusterfahrungen in Kauf, um bestimmte Güter zu erlangen, von denen wir ebenfalls geneigt sind zu sagen, dass sie in jemandes Interesse liegen können: z. B. (posthumer) Ruhm, körperliche Gesundheit und beruflicher Erfolg. Natürlich könnten wir hier noch von spezifischen Lusterfahrungen sprechen, aber dann wäre die hedonistische Theorie ziemlich nichts sagend. Somit gilt: Entweder der Lustbegriff wird erweitert, sodass darunter nicht nur körperliche und ästhetische Genüsse fallen, sondern auch jedes Gefühl der Zufriedenheit, des Stolzes und des guten Gewissens. Damit hätte er sei ne Konturen weitgehend eingebüßt. Oder aber wir müssen die hedonistische 239
Ronald Dworkin, Sovereign Virtue: The Theory and Practice of Equality, Cambridge, Mass./London, Engl. 2000, 243.
2. Interessen, Wünsche und Wohlbefinden
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Konzeption des Eigeninteresses als offenkundig falsch zurückweisen. Und auch hier kommt hinzu, dass zumindest manche unserer Lusterfahrungen die Qualität unseres Lebens noch mehr erhöhen, wenn sie nicht auf Irrtümern beruhen. Die Lust aus der falschen Überzeugung, jemand sei einer echter Freund, trägt weniger zur Lebensqualität bei als die entsprechende wah re Überzeugung. Es ist auch zweifellos besser, tatsächlich Ruhm zu genie ßen, als sich den Ruhm bloß einzubilden.240 Als bloß irgendwie körperli cher Erregungszustand ist die Lust jedenfalls nicht alles, was ein Leben gut macht. Krude hedonistische Theorien des individuellen Guten stehen im Konflikt mit unseren gewöhnlichen Intuitionen in Bezug auf menschliche Interessen.241 Aber auch raffiniertere hedonistische Theorien, die noch die Unlust als Lustfaktor ins Kalkül aufnehmen, können nicht vollends befriedigen, solan ge sie das individuell Gute mit subjektivem Wohlbefinden, mithin als bloß empirische Größe identifizieren. Sie erfassen (wenigstens in einigen Fällen) noch immer nicht genau das, worauf wir uns mit der Rede von Interessen beziehen, nämlich das, was ein individuelles Leben gut macht. Nicht dass ich eine alternative Theorie hätte. Meine These ist vielmehr, dass der Begriff des Interesses fundamental ist, genauso wie der mit ihm untrennbar verbun dene Begriff des objektiv guten Lebens sich nicht auf einfachere Begriffe zurückführen lässt. Will man den Glücksbegriff beibehalten, muss man einräumen, dass zumindest „langfristiges Glück“ keine affektive Bedeutung mehr hat.242 Umgekehrt ist die empirische „happiness“ nicht unbedingt das Resultat der Befriedigung von Interessen und erst recht nicht der Erfüllung von Wünschen. Das macht ein Beispiel von Žižek deutlich: Wann genau kann man davon sprechen, daß Menschen glücklich sind? In einem Land wie der Tschechoslowakei waren die Menschen Ende der 1970er und während der 1980er Jahre tatsächlich glücklich, denn es waren dort drei grundlegende Bedingungen für das Glück erfüllt: (1) Ihre materiellen Grund bedürfnisse waren befriedigt, wenn auch nicht zu sehr, denn übermäßiger Kon sum kann an sich Unglück hervorrufen. Es ist gut, gelegentlich und für kurze Zeit einen Versorgungsmangel zu erleben (zunächst gibt es für einige Tage keinen Kaffee, dann kein Rindfleisch, dann keine Fernsehgeräte). Denn diese 240
T. M. Scanlon, What We Owe to Each Other, 112. Siehe in diesem Zusammenhang auch das berühmte Gedankenexperiment von Robert Nozick (Anarchy, State, and Utopia, New York 1974, 42–45) einer Maschi ne, die uns alle wünschenswerten subjektiven Erlebnisse verschafft, ohne dass wir mehr machen müssten, als uns an sie anzuschließen. Nur die wenigsten würden sich dauerhaft an eine Maschine anschließen, auch wenn sie, bereits an eine solche Maschine angeschlossen, weiterhin die Beibehaltung des Anschlusses bevorzugen würden. Ex ante schreckt gerade dieser antizipierte Autonomieverlust ab. Zumin dest ist die These, dass der Anschluss an eine solche Maschine im Normalfall unseren Interessen zuwider laufe, ohne weiteres verständlich. 242 So hat es Peter Strasser in einem persönlichen Gespräch treffend formuliert. 241
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II. Interesse
kurzen Versorgungsengpässe erinnerten die Bevölkerung daran, wie glücklich sie sich schätzen durfte, daß diese Güter normalerweise erhältlich waren. Wenn etwas ständig vorhanden ist, beginnt man es als Selbstverständlichkeit aufzu fassen und weiß das eigene Glück nicht mehr zu schätzen. Das Leben in der Tschechoslowakei verlief daher in regelmäßigen und vorhersehbaren Bahnen, ohne sonderliche Anstrengungen oder Schocks, so daß die Menschen sich in ihr Privatleben zurückziehen konnten. (2) Eine zweite, äußerst wichtige Bedin gung: Es gab den Anderen (die Partei), dem man alles, was schief lief, vorwer fen konnte, so daß niemand wirklich selbst verantwortlich war. … (3) Und last but not least gab es einen Anderen Ort (den konsumorientierten Westen), von dem man träumen und den man gelegentlich auch aufsuchen konnte. … Doch dann wurde dieses fragile Gleichgewicht gestört. Aber wodurch? Durch nichts Geringeres als das Begehren. Das Begehren war jene Kraft, die die Menschen veranlaßte, noch einen Schritt weiterzugehen, mit der Folge, daß sie jetzt in einem System leben, in dem die große Mehrheit der Menschen definitive weniger glücklich ist.243
Was immer man nun über den empirischen Gehalt dieser Passage denken mag, die Glücksbedingungen, die Žižek anführt, sind keineswegs unplausibel, wenn man „Glück“ so definiert, dass auch bestimmte Unglückserfahrungen noch darunter fallen können. Und tatsächlich könnte es sein, dass die Tschechen und Slowaken nun nach der Realisierung ihres Veränderungswunsches (von einem „Begehren“ aufgezwungen oder nicht) mehrheitlich weniger glück lich sind als vorher. Doch selbst wenn wir genau das annehmen, sagen wir noch nicht, dass sie, wiewohl „tatsächlich glücklich“, in den 1980er Jahren ein besseres Leben geführt haben als heute. Zumindest wäre es nicht absurd zu glauben, dass sie heute mehrheitlich weniger Grund zum Unglücklichsein haben als heute. Ob eine derartige Behauptung wahr wäre, hängt davon ab, wie die Lebenssituation der Mehrheit beschaffen ist und wie man diese bewertet. Womöglich haben viele an Sicherheit verloren, aber an Chancen und sozialer Freiheit gewonnen. Die Sicherheitseinbußen mögen für sie nun den Zugewinn an anderen Gütern überwiegen. Doch hier kann sie ihr Gefühl trügen.244 Eine Politik, die beansprucht, auf den Interessen des Wahlvolkes zu grün den, ist somit nicht unbedingt eine Politik, die auf die Maximierung des als empirische Größe verstandenen Glücks in der Gesellschaft abzielt. Genau das fordert aber der Ökonom Richard Layard: 243
Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg, 46 (Hervorhebungen im Original). Natürlich muss man nicht so weit gehen wie ein neoliberaler Extremist und jegliche Wertschätzung von Sicherheit bzw. Solidarität jenseits von Nahbeziehungen noch dort als totalitäres Sentiment abtun, wo sie aus der Erfahrung größter Existenznöte entstanden ist. Wie eine vollständige Identifikation des guten Lebens mit subjek tivem Glücklichsein in eine zynische Rechtfertigung autoritärer Systeme münden kann, so kann das Lob unwillkommener Flexibilisierungszwänge die Funktion ha ben, über schlimmste ökonomische Ausbeutung hinwegsehen zu lassen.
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2. Interessen, Wünsche und Wohlbefinden
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Warum sollte das größte Glück aller ein Ziel unserer Gesellschaft sein? Warum nicht ein anderes oder viele andere? Wie steht es mit Gesundheit, Autonomie, Bildung oder Freiheit? Das Problem bei einer Vielzahl von Zielen ist, dass sie sich oft widersprechen und wir eines gegen das andere abwägen müssen. Sinn voller ist es, ein übergreifendes Ziel zu formulieren und dann zu überlegen, inwieweit die anderen dazu beitragen. Glück ist dieses übergreifende Ziel, denn, anders als alle anderen, ist es ganz offensichtlich gut.245
Doch wenn man um Abwägungen herumkommen möchte, dann liegt es nahe, einfach noch mehr Geld in die Entwicklung nebenwirkungsarmer Stimmungsaufheller zu investieren und diese Drogen leicht zugänglich zu machen oder überhaupt zwangsweise zu verabreichen. Wenn man hingegen, wie Layard, Glück als Effekt der Verfügung über eine Vielzahl von Gütern (Rechten, Chancen etc.) ansieht, dann sind Abwägungen unvermeidlich. Und wenn man weiters nicht nur auf der Rationalität dieser Abwägungen, sondern auch darauf besteht, dass es für die Einzelnen den einen oder anderen Grund, glücklich zu sein, geben soll, dann sind Vorstellungen vom Guten gefragt, die deutlich über empirische Annahmen hinausgehen.246 Gleichwohl können wir bei der Bestimmung von Interessen und der Bewertung der Qualität von Leben nicht gänzlich von Wünschen und Empfindungen abstrahieren. Im Großen und Ganzen müssen die Menschen durchaus an dem, was in ihrem objektiven Interesse liegt, interessiert sein. Das heißt, ihre Interessen müssen meistens als rationale Handlungsmotive oder Motive für die Affirmation fremder Entscheidungen infrage kommen. Andernfalls bliebe der Begriff des Interesses unverständlich. Dies ergibt sich aus der Notwendigkeit, Menschen, mit denen wir kommunizieren, mög lichst viel Rationalität zu unterstellen. Es ist Ausfluss des bereits erwähnten „principle of charity“. Jede (oder fast jede) einzelne Interessenbestimmung kann natürlich falsch sein. Wären wir jedoch generell außerstande, unsere eigenen Interessen und die der anderen korrekt zu bestimmen, hätte der Begriff des objektiven Interesses keinerlei Bedeutung. Nur weil wir mit unse rem eigenen Leben typischerweise besser vertraut sind als mit dem Leben anderer, können wir auch unsere eigenen Interessen regelmäßig (wenngleich keineswegs immer) besser beurteilen.247 245
Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft. Kurswechsel für Politik und Wirtschaft, Frankfurt/M. 2005, 128. 246 Im Übrigen tendiert eine Politik des als Wohlbefinden verstandenen Glücks dazu, paternalistisch-therapeutisch und zugleich moralisierend in die individuellen Le ben einzugreifen. Institutionelle und strukturelle Zusammenhänge geraten dabei leicht aus dem Blick. Eine ausführliche Kritik dieser Tendenzen (im angelsächsi schen Raum) bietet Frank Furedi, Politics of Fear: Beyond Left and Right, London/ New York 2005, ch. 8. 247 Daraus ergibt sich auch ein Argument gegen den Paternalismus (siehe John Stuart Mill, Über die Freiheit, 105).
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II. Interesse
Im Folgenden gilt es, die These eines essenziellen Zusammenhangs zwischen Interessen und dem objektiv guten Leben etwas weiter auszuführen. Dabei sollte noch klarer werden, was es bedeutet, Interessen als objektiv anzusehen, und warum objektive Interessen nicht als quasi-empirische Positivitäten gedacht werden können. Dass ich nicht mit einer Taxonomie objektiver Interessen oder einer für alle Zeiten gültigen Theorie des objektiv Guten aufwarte, versteht sich von selbst. Die Erstellung einer solchen Liste wäre nicht nur ein allzu bürokratisches Unterfangen, sondern überdies von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn dazu müsste man mindestens das soziale Leben anhalten können.
3. Objektivität und Wertbezug von Interessen Wenn von objektiven Interessen die Rede ist, denken die meisten zuerst an Bedürfnisse, deren Befriedigung notwendig ist zum Überleben: nach Nahrung, Schlaf, medizinischer Grundversorgung etc. Und tatsächlich fallen Interessen nicht selten mit solchen Bedürfnissen zusammen. Zweifellos hat jeder ein Interesse an körperlicher Integrität und Gesundheit. Wer das leugnet, so würden wir meinen, unterliegt keinem Irrtum in Bezug auf das, was ein gutes Leben ausmacht, sondern verfügt einfach nicht über den Begriff des Interesses. Doch nehmen wir nur einen Sklaven, der sich so an seinen Status gewöhnt hat, dass er gar kein Bedürfnis nach Freiheit mehr empfindet. Will man diesem Sklaven erklären, dass die Freiheit bzw. als Gleicher anerkannt zu werden in seinem Interesse liegt, kann man sich natürlich nicht mit einem Verweis auf körperliche Grundbedürfnisse aller Menschen behelfen. Allerdings hat sich damit eine Gleichsetzung von objektiven Interessen und Bedürfnissen noch nicht erledigt. Unter „Bedürfnisse“ fallen schließlich nicht nur die trivialsten körperlichen Bedürfnisse. Doch je höher wir in der Bedürfnispyramide gehen, desto offensichtlicher wird auch der ethische Gehalt der empirischen (medizinischen, psychologischen und soziologischen) Theorien, die zur Identifikation von Bedürfnissen notwendig sind. Das zeigt schon jene verbreitete Definition des Begriffs, wonach als Bedürfnis – in den Worten Christian Bays – „any behavior tendency“ gilt, „whose continual denial or frustration leads to pathological responses“.248 William Connolly erläutert die Pointe dieser Definition folgendermaßen: Needs are not reducible to wants here, for wants are specifically oriented to particular goals, while an unmet need may find expression as malaise, vague anxiety, 248
Zitiert nach William E. Connolly, The Terms of Political Discourse, 59.
3. Objektivität und Wertbezug von Interessen
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or unfocused tension. Bay, for example, takes suicide, alcoholism, psychosis, delinquency, and drug addiction to be among the symptoms of need frustration. And he holds that these pathologies sometimes develop when ‚higherlevel‘ needs are frustrated, such as those to develop cognitive capacities, to act as responsible agents, and to enter into intimate relationships with others.249
Connolly meint nun, dass, selbst wenn diese Definition völlig angemessen wäre, der Bedürfnisbegriff nicht mit dem Interessenbegriff zusammenfalle, da die Politik oftmals gar nichts zur Bedürfnisbefriedigung beitragen könne.250 Doch genauso gut könnte man sagen, dass die Politik nicht zur Beförderung jedes Interesses in der Lage ist. Manche Interessen entziehen sich ihr, und sei es nur in dem Sinn, dass ihre Beförderung kein vernünftiges politisches Ziel ist. Zwar haben meine Chancen, einen „Partner fürs Leben“ zu finden, viel mit sozialen Rahmenbedingungen zu tun, jedoch dürfte es kaum ein Ziel der Politik sein, gerade dieses Interesse zu befriedigen. Aber auch wenn es sich bei besagtem Interesse nicht (oder nur in einem äußert eingeschränkten Maße) um ein politisch relevantes und vor allem direkt relevantes Interesse handelt, so handelt es sich doch um ein Interesse. (Ein direktes politisch relevantes Interesse wäre zweifellos das Interesse, solidarische Nahbeziehungen aufrechterhalten zu können – ein Interesse, dem beispielsweise allzu umfassende Flexibilitätszumutungen zuwider laufen). Auch das zweite Argument Connollys kann nicht wirklich überzeugen. Connolly schlägt vor, sich eine Situation vorzustellen, in der sämtliche Bedürfnisse befriedigt sind und die Menschen sich auch tatsächlich wohl fühlen, ohne irgendwelche Pathologien aufzuweisen. Was den Menschen allerdings fehle, sei die Fähigkeit zum Nachdenken über verschiedene Handlungsoptionen und zum Ausdruck komplexer Einstellungen wie Liebe, Scham, Trauer, Hass etc. Doch letztere Fähigkeiten würden, so Connolly, ebenfalls im Interesse dieser Menschen liegen, auch wenn kein Bedürfnis danach bestehe.251 Das Problem ist nun weniger die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Situation, als dass wir uns Menschen der beschriebenen Art kaum vorstellen können. Das Sklavenbeispiel (ebenfalls von Connolly) eignet sich besser, um den Punkt klar zu machen. Der Sklave kann ein ausgeglichener, rundum glücklicher Mensch sein und hat dennoch ein Interesse an seiner Freiheit. Freilich könnten Bedürfnistheoretiker dagegen einwenden, dass dies gar nicht möglich sei, dass dauerhafte persönliche Unfreiheit notwendigerweise bestimmte Defekte und Pathologien nach sich ziehe. Das mag zutreffen, doch stellt sich dann die Frage, ob ein hinreichend subtiler Begriff des Defekts oder der Pathologie ethisch neutral gefasst werden kann. Vielleicht 249
Ebd. (Hervorhebung im Original) Ebd., 60. 251 Ebd., 60f. 250
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II. Interesse
gilt dies für körperliche Defekte und Behinderungen, aber zumindest bei der Bestimmung psychischer Störungen sowie kognitiver und emotionaler Mängel kommen wir um ethische Annahmen nicht mehr herum. Für Connolly zeigt sich dieser Umstand an einer begrifflichen Verschiebung im Zuge des Aufstiegs von basalen körperlichen zu psychisch-emotionalen Bedürfnissen. Während anfangs typischerweise von „Bedürfnissen“ die Rede sei, wechsle später der Diskurs zu dem, was Menschen bedürfen, um „normale“ Personen zu sein. Aus dem Substantiv werde ein Verb. Dem wäre hinzuzufügen, dass erst auf diese Weise dieselbe Struktur entsteht, wie sie nach Barry den Interessenbegriff kennzeichnet. Connolly zufolge sind „need statements“ nämlich immer triadisch: „Person A needs x in order to (do, be, or become) y.“ And y in this triad is always the crucial variable. One might need something in order to survive, to survive comfortably, to develop the capacity to act responsibly, to polish his shoes, or to eliminate all sexual urges. Thus when we translate need statements into this form we can see that to say „A needs x“ is not necessarily to say that A is inclined towards x nor that it is a worthy object for him to pursue. Such statements must await consideration of what x is needed for.252
Und solche Überlegungen sind letztlich ethischer Natur. Das heißt, am Ende hängt alles davon ab, was wir unter einem „guten“ bzw. einem „gelungenen Leben“ verstehen. Der Wunsch, ein gutes Leben zu führen, ist jedoch nicht selbst schon ein Interesse. Sätze wie „Ich bin an meinem Leben interessiert“ oder „Ich habe ein Interesse an der Qualität meines Lebens“ sind Metaphern, die eine Einstellung zum eigenen Leben ausdrücken. Sie sind keineswegs sinnlos, zumal es Menschen zu geben scheint, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet.253 Im Folgenden wird unter „Selbstinteresse“ daher nicht ein partikulares Interesse verstanden, sondern eine prinzipiell positive Einstellung zum eigenen Leben. Das „Selbstinteresse“ wird − entgegen dem verbreiteten Sprachgebrauch − vom „Eigeninteresse“ unterschieden. Unter „Eigeninteresse“ verstehe ich das partikulare Interesse einer Person. Manche Eigeninteressen können aber, wie wir noch sehen werden, nur befriedigt werden, wenn ihre Verfolgung (noch) auf andere Weise motiviert ist als durch die Sorge um sich selbst, das Selbstinteresse. Der kluge Selbstinteressierte lässt sich nicht ausschließlich durch das Selbstinteresse motivieren. Sein Gegenstück, der unkluge Selbstinteressierte, ist der „rational fool“ (Amartya Sen). Die selbstinteressierte Haltung zeichnet sich durch drei Komponenten aus: den Wunsch nach dem eigenem Guten, das aktive Streben nach dem eigenen Guten 252
Ebd., 62. Damit sind nicht Selbstmordattentäter gemeint, sondern eher „gewöhnliche“ Fatalisten, die es natürlich in vielerlei Abstufungen und Schattierungen gibt. Selbstmordattentäter messen ihrem Leben durchaus Wert bei, allerdings hauptsächlich als Mittel zu einem höheren Zweck.
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3. Objektivität und Wertbezug von Interessen
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und die Befriedigung durch die Realisierung des eigenen Guten.254 Der selbstinteressierte Mensch ist nicht notwendig ein Egoist. Den Egoisten kennzeichnet auch weniger ein exzessives Selbstinteresse als vielmehr eine bestimmte Entkoppelung seines Selbst von den anderen.255 Bisweilen ist er sogar ein veritabler Trottel. Jedenfalls gilt: Eine liebe Familie zu haben bildet ein Interesse, insofern das Familienleben Bestandteil eines guten Lebens ist, d. h. die Qualität des individuellen Lebens steigert. Hier schimmert noch Barrys Interessenbegriff durch, auch wenn wir es nicht mehr mit einem Mittel zum Zweck zu tun haben. Das Leben als Ganzes bildet aber kein Interesse. Das Überleben (wie sprechen auch von einem „Überlebensinteresse“) ist ein schwierigerer Fall. Aber insofern das Überleben Voraussetzung für ein gutes Leben ist, dürfte es sich dabei um ein genuines Interesse handeln und nicht bloß um ein Interesse im metaphorischen Sinne. Dagegen ist ein gutes Leben zu haben trivialerweise weder Voraussetzung für ein gutes Lebens noch dessen Bestandteil, und schon gar nicht ein Mittel dazu. Oder besser: Nur wenn es eine göttliche Norm gäbe, die ein gelungenes Leben vorschreibt und für den Fall des Misslingens Sanktionen vorsähe, könnte man hier von einem genuinen Interesse sprechen. Doch wie gesagt: Eine Vorstellung vom guten Leben ist notwendig, um Interessen identifizieren zu können. Solche Vorstellungen sind auch im Spiel, wenn im Rahmen prinzipiell empirischer Theorien elaborierte Bedürfnishierarchien entwickelt werden. Dies bedeutet nicht, dass alles, was ein individuelles Leben zu einem guten Leben macht, unter das handlungsmotivierende Eigeninteresse der fraglichen Person subsumiert werden kann. Mutter Teresa etwa führte nach allem, was man weiß, ein gutes Leben, und man darf annehmen, dass sie ihr eigenes Leben (trotz ihrer Glaubenskrisen und nicht zuletzt aufgrund der Anerkennung, die sie erfuhr) als gut ansah. Dennoch bestand ihr Leben zu einem großen Teil in der Verfolgung nicht ihrer eigenen, sondern fremder Interessen. Nun könnte jemand fragen, ob dieser Rekurs auf die Ethik nicht ein wenig über das Ziel hinausschießt. Versteht es sich nicht von selbst, dass die maßgeblichen Interessen von Menschen jenseits der Grundbedürfnisse jene nach Macht und Geld sind, dass alle anderen Interessen darauf zurückgeführt werden können? Zumal Macht und Geld das sind, was die Realisierung der meisten denkbaren Wünsche ermöglicht oder erleichtert. In der Tat, gewöhnlich liegt es im Interesse einer Person, eher mehr Geld als weniger zur Verfügung zu haben. Aber es versteht sich keineswegs von selbst, dass 254
Siehe Thomas Hurka, „Self-Interest, Altruism, and Virtue“, in: Ellen Frankel Paul/Fred D. Miller, jr./Jeffrey Paul (eds.), Self-Interest, Cambridge/New York/ Melbourne 1997. 255 Siehe Kelly Rogers, „Beyond Self and Other“, in: Ellen Frankel Paul/Fred D. Miller, jr./Jeffrey Paul (eds.), Self-Interest, 1–20.
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II. Interesse
dies immer so ist. Es könnte nämlich sein, dass sich eine Person, die zu materiellem Reichtum gelangt, von ihrer sozialen Umgebung entfremdet und darunter leidet. Natürlich könnte sie immer noch einen großen Teil ihres Vermögens verschenken oder einer karitativen Einrichtung spenden. Doch möglicherweise zementiert sie damit nur einen Sonderstatus ein, auf den sie keinerlei Wert legt. Womöglich bringt sie das Vermögen in ein Dilemma: Behält sie es, muss sie mit Neid rechnen, gibt sie es her, gilt sie als exzentrisch, gönnerhaft oder sogar irrational.256 Was die Macht betrifft, so machen misslungene Action-Filme wie Ghost Rider (USA 2006; Sony Pictures; Regie: Mark Steven Johnson) deutlich, wie schwierig es prinzipiell ist, sie als ein fundamentales Interesse oder gar das fundamentale Interesse schlechthin zu verstehen. In Ghost Rider kämpft der Teufel gegen seinen Sohn um die Seelen, die sich ihm einst verschrieben haben. Beiden Kontrahenten geht es um nichts als die Macht. Und weil aus dem Film nicht hervorgeht, wozu sie die Macht einzusetzen gedenken außer um Böses zu tun, bleiben sie so blass, wie Filmfiguren nur sein können, und der Film selbst ausgesprochen langweilig. Sie treten zwar in Menschengestalt auf, haben aber keinerlei über die Aneignung von Seelen hinausgehende Ambition. Eine solche wird nicht einmal vorgetäuscht, wie es die Teufel in anderen Filmen tun, die z. B. als Anwälte auftreten und damit in einem reichhaltigeren Kontext agieren.257 Damit ist nicht gesagt, dass soziale Macht kein Interesse darstellt bzw. die Beförderung der eigenen Interessen nicht oft mit dem Streben nach Macht gleichzusetzen ist. Auch das Streben nach sozialer Freiheit lässt sich als Machtstreben beschreiben. Ich habe bereits angedeutet, dass zwischen Macht und sozialer Freiheit ein Zusammenhang besteht. Ebenso erfordert die Aneignung vieler anderer Güter Macht. Deshalb können wir reales Machtstreben in der Regel gut verstehen, selbst dann, wenn wir es nicht billigen. Machtstreben kann aber nicht nur moralisch verwerflich oder wenigstens fragwürdig sein, es ist für den nach Macht Strebenden nicht selten, vor allem in der habitualisierten Form, mit erheblichen Kosten verbunden. Hier ein Auszug aus einem Interview mit dem Sozialforscher Harald Katzmair, der sich hauptsächlich mit Netzwerkanalysen befasst: 256
Siehe Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985, 246 und dazu Jon Elster, Alchemies of the Mind, 201. 257 Anders verhält es sich mit Filmen wie Death Proof von Quentin Tarentino, der nicht einmal vorgibt, über eine interessante Handlung mit einem Spannungsbogen zu verfügen, sondern eine virtuose, extrem textlastige Hommage an die BMovies der Siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts darstellt. Die Frage, warum Stuntman Mike es nur darauf abgesehen hat, Mädchen mit seinem Auto totzufahren, und nach welchen Kriterien er seine Opfer auswählt, mithin was für ein Interesse er verfolgt, ob er durch und durch böse ist oder verrückt, stellt sich gar nicht bzw. erweist sich als vollkommen irrelevant.
3. Objektivität und Wertbezug von Interessen
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Katzmair: Unter den Top-100-Managern finden wir in Österreich vier Frauen, in den USA 20. Ich habe viel nachgedacht, warum es so ist. STANDARD: Verraten Sie mir das Ergebnis? Katzmair: Aber ja: Um in den Zirkeln der Macht mithalten zu können, muss man die Fähigkeit haben, Geschäfte mit Leuten zu machen, die einander nicht mögen und die man selbst nicht mag. Das muss man erst einmal aushalten. STANDARD: Wieder ein Klischee: Frauen halten das nicht aus. Katzmair: Frauen haben einen anderen Zugang. Um das auszuhalten, verbrauchen sie extrem viel Energie nach innen, die ihnen dann aber für die Peripherie fehlt, sie kommen aus der Balance. STANDARD: Und Männer balancieren natürlich besser aus . . . Katzmair: Trösten Sie sich, Männer halten das auch nicht aus. Viele werden vor lauter Machterhalt kaputt, aber nach außen hin zeigen sie das nicht. STANDARD: So gesehen sollte ja froh sein, wer keine Macht-Netzwerke aufbauen und erhalten muss. Katzmair: Leider kann man ohne Netzwerke nicht leben – da kann man noch so g’scheit sein und viel wissen: Ohne Netzwerk ist das alles nicht zu verwerten. STANDARD: Sie selbst sind sicher perfekt vernetzt. Haben Sie auch viel Macht? Katzmair: Ich? Nein danke. Ich strebe nach Wissen, will forschen und verstehen, wie die Strukturen der Macht funktionieren. Mit der Macht selbst habe ich gar nix am Hut, die Nähe zur Macht reicht mir. Ich kenne die Mächtigen alle, ich weiß, wie sie unter den Machtspielchen leiden. Ich weiß, dass ich nichts versäume.258
Man muss Katzmairs psychologistisch anmutende (und sogleich relativierte) Erklärung für das eklatante Missverhältnis von Männern und Frauen in Macht-Netzwerken nicht teilen oder gar Mitleid mit den Mächtigen empfinden, um das Problem zu sehen. Auch im Wissenschaftsbetrieb kann man Leute beobachten, die sich im „Networking“ und im Kampf um Einfluss aufreiben. Und zwar auch dann, wenn sie „in terms of power“ erfolgreich sind. Bisweilen merken sie es gar nicht. Manchmal liegt es im eigenen Interesse, sich mit dem, was man als seine Interessen versteht, nicht durchsetzen zu können, oder vielmehr: gar nicht erst durchsetzen zu wollen, etwa, weil man nur auf diese Weise unbelastete Freundschaften und andere soziale Beziehungen aufrechterhalten kann.259 258
Der Standard vom 11. 1. 2006. Ein schönes Beispiel dafür, wie soziale Diskriminierung sogar dem Interesse von Personen zuwiderlaufen kann, die auf den ersten Blick zu den Profiteuren der Diskriminierung zählen, liefert Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2002, 35ff. Der Autor beschreibt hier seine Beziehung zu einer schwarzen Philosophiestudentin, die letzten Endes an den sozialen Verhältnissen, genauer: an der durch diese belasteten Kommunikation von Achtung und Respekt scheitert: „Ungleichheit kann Unbehagen verursachen, und Unbehagen mag den Wunsch auslösen, eine Verbindung herzustellen, auch wenn diese Verbindung zurückhaltender und schweigsamer Art ist. Die Gefühlskette erschwert das Vor-
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II. Interesse
Und könnte man nicht auch sagen, dass bestimmte soziale Beziehungen konstitutiv für ein gutes Leben sind, selbst wenn sie einer Person völlig gleichgültig sind? Dass sich diese Person einfach in Bezug auf den Wert von freundschaftlichen Beziehungen zu anderen täuscht? In einem antiobjektivistischen kulturellen Klima wird eine solche These selten explizit vertreten. Andererseits treten rasch Psychopathologen auf den Plan, deren Diagnosen über verschroben wirkende Einzelgänger und Beziehungsgestörte aber nur vor dem Hintergrund der Annahme Sinn ergeben, dass sich zumindest objektivieren lässt, was dem Gelingen des individuellen Lebens jedenfalls abträglich ist. Wer sich heute aber zu gehaltvolleren und vor allem positiven Vorstellungen vom Guten öffentlich bekennt, macht sich verdächtig. Chesterton hat dies scharfsinnig beobachtet: Alle früheren Zeitalter haben sich geplagt und schier umgebracht im Bemühen, herauszufinden, was das wahrhaft rechte Leben ist, was der wahrhaft gute Mensch war. Ein bestimmter Teil der modernen Welt ist ohne Frage zu dem Schluß gelangt, daß es keine Antwort auf diese Fragen gibt, daß wir äußerstenfalls an Orten, an denen augenscheinlich Gefahr droht, ein paar Warnschilder aufstellen können, um zum Beispiel die Menschen davon abzuhalten, sich zu Tode zu trinken oder die Gleichgültigkeit gegenüber dem Nachbarn auf die Spitze zu treiben.260
Freilich wird man den angesprochenen „Teil der modernen Welt“ nicht mehr dadurch zu verbindlichen Konzeptionen des Guten verhelfen, dass man ihm vorrechnet, was wir mit dem Verzicht darauf verlieren oder schon verloren haben. Der Glaube an katholische Dogmen lässt sich nicht mit dem Verweis auf die von Liberalen, Subjektivisten und Hedonisten verkannten (latenten) Funktionen dieser Dogmen wieder herstellen. Doch selbst heute ist die ethische Imprägnierung des individuellen Interesses keineswegs bloß philosophisches Wunschdenken. Obwohl kaum jemand mehr große Begriffe wie „das gute Leben“ in einem Atemzug mit „Interesse“ verwendet, lässt sich die Verbindung zwischen ihnen auch empirisch untermauern: Die meisten Menschen haben bestimmte moralische Normen so weit verinnerlicht, dass sie ihr eigenes Wohl immer schon im Lichte von Gerechtigkeitsannahmen und dem, was sie allgemein für gut halten, definieren. Oft befördern sie ihr Wohl gerade dadurch (und zwar keineswegs versehentlich), dass sie nicht selbstinteressiert handeln, sich an moralischen Normen orientieren oder diese sogar übererfüllen. So meint Peter Koller mit Verweis auf zahlreiche entwicklungs- und sozialpsychologische Studien: haben, jemandem ‚Respekt zu erweisen‘, der auf der sozialen oder ökonomischen Stufenleiter tiefer steht. Die Menschen mögen diesen Respekt durchaus empfinden, fürchten aber, herablassend zu erscheinen, und halten sich deshalb zurück. Auch das Wissen um die eigenen Privilegien kann Unbehagen erzeugen.“ (ebd., 37) 260 Gilbert Keith Chesterton, Ketzer, 29f.
3. Objektivität und Wertbezug von Interessen
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Unter der Voraussetzung einer halbwegs gelungenen Sozialisation und Erziehung sind … schon unsere selbstbezogenen, auf unseren Vorteil zielenden Präferenzen in größerem oder geringerem Grade mit internalisierten moralischen Vorstellungen durchtränkt, die umso eher motivieren, je tiefer sie im Triebwerk unserer Emotionen und Empfindungen verankert sind. So ist zum Beispiel erklärbar, dass wir uns manchmal entschließen, anderen, völlig unbekannten Menschen Gutes zu tun, ohne dazu irgendwie verpflichtet zu sein oder daraus irgendeinen Vorteil ziehen zu können, sondern einfach nur deshalb, weil wir Freude an der Freude der Anderen haben.261
Aber was genau bedeutet, dass das, was für eine Person gut ist, mithin in ihrem Interesse liegt, nicht allein von ihren Präferenzen abhängt? Zunächst bedeutet es, dass die Präferenzen einer Person ihrerseits durch das bestimmt werden, was diese Person für gut hält. Könnte es noch mehr bedeuten, nämlich, dass sich das individuelle Interesse gänzlich objektiv bestimmen lässt? Gibt es eine Liste objektiv erstrebenswerter Güter? Wenn man darunter Güter versteht, deren Wert sich unabhängig von seiner subjektiven Anerkennung vollständig realisiert, dann mutet eine solche Theorie zweifellos ein wenig extravagant an – und scheint außerdem dem Paternalismus Vorschub zu leisten. Doch abgesehen davon, dass der Wertobjektivismus ohne weiteres mit den Annahmen vereinbar ist, dass es eine Vielzahl von Werten gibt, die sich nicht gleichzeitig oder innerhalb eines individuellen Lebens realisieren lassen, und dass nicht für alle dasselbe gleich gut ist, könnte die Objektivität dieser Güter auch anders verstanden werden, nämlich gleichsam als bedingte. Demnach ist das Interesse einer Person weder durch bloße Präferenzen bestimmt, die der Werterkenntnis vorausgingen, noch aus Werten ableitbar, die der Person völlig äußerlich sind. Diese Option zieht beispielsweise Derek Parfit in Betracht: We might … claim that what is best for people is a composite. It is not just their having knowledge, engaging in rational activity, being aware of true beauty, and the like. What is good for someone is neither what Hedonists claim, nor just what is claimed by Objective List Theorists. We might believe that if we had either of these, without the other, what we had would have little or no value.262
Somit sind auch liberale Individualisten keineswegs auf einen Antiobjektivis mus festgelegt. Was sie freilich betonen müssen, ist, dass zur vollständigen Realisierung des Guten dessen subjektive Anerkennung notwendig ist. 261
Peter Koller, „Klugheit, Moral und menschliches Handeln unter Unrechtsverhältnissen“, 284. Man denke nur an Phänomene kooperativer Großzügigkeit zwischen Autofahrern, welche allen Betroffenen üblicherweise ein „gutes Gefühl“ verschaffen. Wer einem anderen altruistisch die Vorfahrt lässt oder ihm das Einreihen in eine Schlange ermöglicht, dem erwachsen daraus allerdings auch nur selten nennenswerte Kosten. 262 Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1987, 502 (Hervorhebungen im Original).
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II. Interesse
Doch allzu weit können unsere Vorstellungen vom Guten ohnehin nicht divergieren. Andernfalls könnten wir Handlungen anderer so selten verstehen und prognostizieren, dass wir selbst nicht mehr in der Lage wären, in der Gesellschaft zu planen und rational Ziele zu verfolgen. Auch wenn wir uns zur Erklärung und Prognose von Handlungen anderer auf das stützen müssen, was wir für ihre tatsächlichen Präferenzen halten, kommen wir nicht umhin, unsere eigenen Vorstellungen vom objektiv Guten ins Spiel zu bringen. Würden Präferenzen in der Regel nicht Überzeugungen der Form beinhalten „A ist (für mich) besser als B“, blieben sie ziemlich mysteriös. Nicht nur Davidsonianer wie Samuel Wheeler können der Idee der Präferenz als factum brutum nichts abgewinnen: We need not regard differences in preferences as brute, just as we need not treat idio-rationalities as making „rationality“ relative to persons. Just as we do not generally identify beliefs with truth, so there is no reason to identify preference with our good or with the good. … The decision-theoretic tradition has taken preferences as just brute facts about which nothing is rationally required but coherence, whereas beliefs are true or false. But in interpretation, we clearly take some preferences to be irrational, such as the simple preference for pain over lack of pain. Some preferences can only be assigned to an agent on the basis of very strong evidence.263
Auf die Präferenzen anderer schließen wir von deren Angaben darüber, ihren (vergangenen) Handlungen und den Handlungsumständen. Dabei können wir gar nicht anders, als unsere ethischen Überzeugungen auf die anderen zu projizieren. Wenn wir fremdes Verhalten verstehen wollen, müssen wir ziemlich viel Gemeinsamkeit unterstellen. Zur Erklärung allzu gravierender Unterschiede in den Präferenzen bleibt uns dann oft tatsächlich nichts anderes übrig, als den Anderen (teilweise) zu pathologisieren. Das ist auch der Fall, wenn sich ein Verhalten nicht mehr mit einer Theorie erklären lässt, die Menschen eine Präferenz für das Wohlergehen wenigstens bestimmter anderer Menschen zuschreibt.264 Wir haben es dann mit einem Soziopathen zu tun, der sich zwar trefflich als extremer Egoist beschreiben lässt, aber nicht als durchschnittlich autonom und rational. Doch selbst dieser soziopathische Egoist kann um den Wert von Freundschaften und anderen Nahbeziehungen Bescheid wissen. Nur dass es ihm eben nicht möglich ist, solche Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, weil ihm immer wieder seine Neigung zum kleinkrämerischen Kosten/Nutzen-Kalkül in die Quere kommt. Annahmen über das (objektiv) Gute sind also auch dann im Spiel, wenn wir Handlungen über subjektive Präferenzen der Akteure lediglich zu erklä263
Samuel C. Wheeler, „Davidson’s Rationality and Ethical Disagreement between Cultures“, in: Bo Mou (ed.), Davidson’s Philosophy and Chinese Philosophy: Constructive Engagement, Leiden/Boston 2006, 179f. 264 Ebd., 182.
3. Objektivität und Wertbezug von Interessen
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ren suchen und es gar nicht darauf abgesehen haben, objektive Interessen zu bestimmen. (Allerdings ist der Begriff der subjektiven Präferenz weiter als der des Interesses, da Menschen auch andere Präferenzen haben können als den Wunsch, das eigene Wohl zu befördern.) Peter Strasser, der einen dezidierten Wertobjektivismus vertritt, ist, was die subjektive Anerkennung betrifft, noch um einiges subtiler. So gibt er zu bedenken, dass die bloße Anerkennung grundsätzlich nicht ausreicht. Ich könnte (ohne manipuliert worden zu sein) nachträglich paternalistischen Maßnahmen zur Beförderung meines Wohls inhaltlich zustimmen; ich könnte zur Auffassung gelangen, dass ich, wäre ich nicht, wodurch auch immer, daran gehindert worden, die gleiche Entscheidung für mich getroffen hätte, wie sie der „Sachwalter des Glücks“ für mich getroffen hat – und doch würde etwas für mich nicht stimmen. Nach Strasser könnte ich mein Unbehagen in etwa folgendermaßen begründen: Was ich wirklich will, ist nicht dasjenige, was ich wirklich gewollt hätte für den Fall, dass ich mir die Sache, die zu überlegen mir nicht gestattet wurde, überlegen hätte können. Was ich wirklich will, ist dasjenige, was ich will, weil ich es mir überlegt habe. Mit anderen Worten: Ich reklamiere, dass ein Wesenszusammenhang besteht zwischen einerseits dem, was ich wirklich will, und andererseits dem Umstand, dass mein Wollen nicht beliebig verursacht oder „motiviert“ ist, sondern die Folge davon, dass ich rational motiviert bin, etwas Bestimmtes zu wollen und zu tun.265
Auf der Hand liegt die für die Realisierung des individuell Guten mehr oder weniger notwendige Bedingung der subjektiven Anerkennung und der subjektiven Zurechnung bei existenziellen Entscheidungen. Mutter Teresa mag nicht durch ihr Selbstinteresse motiviert gewesen sein, als sie sich zu einem Leben für die Armen entschlossen hat. Dennoch war ihr Leben ziemlich gut. Es wäre aber sicher um einiges schlechter gewesen, wenn sie diese Entscheidung gar nicht selbst und direkt getroffen hätte. Wenn ihr die Entscheidung etwa von jemandem abgenommen worden wäre, auch wenn sie nachträglich erkannt hätte, dass die Entscheidung richtig war. (Ich nehme an, dass sie von niemandem dazu gezwungen wurde und dass sie auch nicht das Los entscheiden ließ.) Was immer genau ihr Eigeninteresse ausmachte, die Möglichkeit, eine solche existenzielle Entscheidung autonom treffen, sie sich also selbst zurechnen zu können, lag jedenfalls in ihrem Interesse. Die autonome Entscheidung war in diesem Fall konstitutiv für die Realisierung des individuellen guten Lebens; die Möglichkeit, sie zu treffen, bildete ein Interesse. Damit haben wir nun aber keineswegs das eigentliche und höchste Interesse gefunden, jenes Interesse, von dem sich alle anderen wie jenes 265
Peter Strasser, Gut in allen möglichen Welten, 150 (Hervorhebungen im Original). Auf die Frage der Autonomie werden wir im übernächsten Kapitel noch einmal etwas ausführlicher zu sprechen kommen.
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II. Interesse
an Geld oder Macht ableiten ließen: zwischen möglichst vielen Optionen wählen zu können. Demnach wäre das perfekte Leben ein vollkommen freies. Doch abgesehen davon, dass es nicht gerade leicht fällt, sich dieses Ideal der vollkommenen Autonomie verständlich zu machen, ließe sich die Feststellung, alles, was uns vor Wahlen stellt, liege in unserem Interesse, schwer mit unserer Erfahrung in Einklang bringen. Zu viele Optionen überfordern uns und unsere Fähigkeit zum vernünftigen Abwägen. Komplexität will immer reduziert sein. Materieller Wohlstand liegt nicht zuletzt deshalb im individuellen Interesse, weil er oft von dem Zwang, zu wählen und unangenehme Entscheidungen zu treffen, befreit. Unter Bedingungen hinreichenden Wohlstands muss man nicht unbedingt entscheiden, welchem seiner Kinder man ein Universitätsstudium finanziert. Allgemein aber gilt: Freiheit erwächst aus Beschränkungen. Nicht einmal künstlerische Kreativität könnte sich ohne Beschränkungen entfalten. Wer mit diversen Genreregeln nicht das Auslangen findet, muss sich selbst noch weitere Beschränkungen auferlegen (etwa ein besonders knappes Budget für die Produktion eines Films).266 Auch Abenteuer und Romantik, für viele wesentliche Bestandteile eines guten Lebens, sind, wie Chesterton betont, auf Beschränkungen angewiesen: I could never conceive or tolerate any Utopia which did not leave to me the liberty for which I chiefly care, the liberty to bind myself. Complete anarchy would not merely make it impossible to have any discipline or fidelity; it would also make it impossible to have any fun. To take an obvious instance, it would not be worth while to bet if a bet were not binding. The dissolution of all contracts would not only ruin morality but spoil sport.267
Nicht jeder Wert scheint in gleichem Maße von der autonomen Anerkennung durch den Einzelnen abzuhängen. So wird der Wert der physischen und psychischen Gesundheit nicht unbedingt dadurch beeinträchtigt, dass jemand Zwang anwendet, um zu verhindern, dass sein Freund vollends dem Alkohol verfällt. Und natürlich variiert der Wert einer autonomen Anerkennung oder Entscheidung („autonom“ im landläufigen Sinne von freiwillig) auch mit den Optionen, die einem offen stehen. Für Mutter Teresa hätte es keinen großen Unterschied gemacht, wenn sie nur wählen hätte können zwischen den Armen in Kalkutta und den Armen in Kairo. Oder man denke an die geläufigen Phänomene von Präferenzadaption angesichts beschränkter Optionen. Dass Frauen beispielsweise oft eine gut begründete Präferenz für Teilzeitarbeit und Sozialberufe entwickeln, ist für sich noch kein Beweis dafür, dass diese Karrieren tatsächlich in ihrem Interesse liegen. Unter der Voraussetzung eklatanter Chancenungleichheit, der Tatsache, dass es Frauen 266
Siehe Jon Elster, Subversion der Rationalität, 178–187. Dem, was Elster darin über die Entwicklung der Improvisation im Jazz schreibt, muss man jedoch nicht zustimmen. 267 Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxy, 127.
4. Interessen, Identitäten und Kontexte
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schwerer fällt, in „typische“ Arbeitsverhältnisse zu gelangen oder in männlich dominierten Berufsfeldern zu reüssieren, ist es durchaus rational für sie, ihre Wünsche und Hoffnungen zurückzuschrauben.268 Schon die Auswahl von realisierbaren Lebensentwürfen kann also im Interesse einer Person liegen oder ihm zuwider laufen. Sie sollte weder zu groß noch zu klein sein. Gegen das bisher Gesagte könnte nun eingewendet werden, dass Interessen zwar durchaus objektivierbar seien, doch wesentlich vom Kontext abhängen würden, so dass sich ethisches Räsonnement weitestgehend erübrige: „Wenn wir Interessen analysieren“, so der Einwand, „haben wir dann nicht immer schon einen bestimmten Kontext vor Augen, welcher die Interessen der Akteure mehr oder weniger eindeutig determiniert? Was brauchen wir dann noch die Ethik? Denken wir nur an die geschäftlichen Interessen von Unternehmen, die Interessen Israels im Krieg mit den Palästinensern, die Interessen einer jungen Romanautorin oder die Interessen eines Bundesp räsidentschaftskandidaten. Zweifellos sind deren Interessen etwas anderes als bloß subjektive Vorlieben. Dafür sind sie aber von der sozialen Identität des Akteurs und dem Kontext vorgegeben. Und soweit sie das nicht sind, ist die Rede von objektiven Interessen Schall und Rauch.“ Dieser Einwand hat etwas für sich, und doch scheint es Interessen zu geben, die weniger stark vom Kontext abhängen als andere, nämlich diejenigen, die ich „wahre Interessen“ nennen möchte.
4. Interessen, Identitäten und Kontexte Interessen ergeben sich größtenteils tatsächlich aus sozialen Identitäten. Soziale Identitäten wiederum sind Positionen in einem Netzwerk sozialer Beziehungen – und damit differentiell konstituiert. Dass Identitäten nichts weiter als Differenzeffekte sind, bedeutet aber auch, dass sie über keinen stabilen Kern verfügen.269 Was eine Universitätsprofessorin ist und welche Interessen sie als solche haben kann, versteht nur jemand, der mit dem 268
Ausführlicher zu den verschiedenen Formen der intentionalen und nicht-intentionalen Präferenzadaption (auch zu Präferenzwandel durch Lernen, Verpflichtung und geplante Persönlichkeitsveränderung) Jon Elster, Subversion der Rationalität, Kap. IV. 269 Wir sprechen hier, wohlgemerkt, von sozialen Identitäten, nicht von personaler Identität, die nicht auf Rollen oder Subjektpositionen reduziert werden kann, aus der sich aber, soweit es sich nur um eine „Basisidentität“ handelt, auch noch keinerlei bestimmtes Interesse ableiten lässt, das über einige Grundbedürfnisse hinausgeht.
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II. Interesse
Bildungssystem als Ganzes ein wenig vertraut ist, der u. a. weiß, welche Aufgaben Professoren haben, was Studenten sind und welche ungefähre Rolle die Ministerialbürokratie als Dienst- und Geldgeber spielt. Wenn sich im Koordinatensystem um den Einzelnen etwas verändert, ändern sich auch dessen Identität und damit seine Interessen. Hier sollte man eine weitere Unterscheidung einführen, nämlich zwischen aktuellen und potenziellen Interessen. Aktuelle Interessen sind (weitgehend) unbefriedigte Interessen; potenzielle Interessen sind Interessen, die jemand zwar hat, die aber zur Erklärung seiner Entscheidungen nur insofern beitragen, als Menschen für gewöhnlich ihre Interessen nicht gefährden wollen. Solange ich gegen meinen Willen Hunger leide, bildet Nahrung ein aktuelles Interesse; in meiner derzeitigen Situation jedoch nicht. Nur habe ich – subjektiv und objektiv – kein Interesse an Politiken, die derartige mein Interesse an Nahrung aktuell machen könnten. Welche Interessen einer Person aktuell und welche lediglich potenziell sind, hängt immer auch von ihrer sozialen Position ab. Zumindest gilt dies für politisch relevante Interessen. Womöglich gibt es gar keine politisch irrelevanten Interessen, weil solche gar keine Interessen mehr wären.270 Aber müssen wir uns mit einmal etablierten Institutionen und sonstigen sozialen Gegebenheiten abfinden, um sinnvoll von Interessen sprechen zu können? Sind Interessen (aktuelle wie potenzielle), soweit sie über die trivialsten Grundbedürfnisse hinausgehen, sozial konstituiert im Sinne von „durch die gesellschaftlichen Verhältnisse umfassend determiniert“? Wohl kaum. Wäre dies der Fall, stünde die Rede von Interessen in einem seltsamen Spannungsverhältnis zu jenem, wenigstens bis vor einiger Zeit üblichen, Verständnis von Politik, wonach Institutionen nicht nur den Rahmen, sondern auch den Gegenstand von Verteilungs- und Anerkennungskämpfen bilden. Dieses Verständnis von Politik ist in einer Zeit, da viele in der Politik – aus welchen Gründen immer – auf fast zwanghaft anmutende Weise bemüht sind, „realistisch“ zu bleiben, und dabei den Blick zunehmend von größeren institutionellen Zusammenhängen abwenden, ein wenig ins Hintertreffen geraten. Gänzlich verschwunden ist es aber nicht, und damit auch nicht die Idee wahrer Interessen, welche nicht ausschließlich durch die 270
Womöglich gibt es aber keine politisch vollkommen irrelevanten Interessen, weil solche gar keine Interessen mehr wären. Das Interesse des irreversibel Gelähmten an der Fähigkeit zu gehen ist beispielsweise kein politisch relevantes Interesse. Und womöglich ist gar kein Interesse im eigentlichen Sinne. Insofern erscheint Barrys Verknüpfung von Interessen mit dem, was der menschlichen Disposition unterliegt, durchaus plausibel. Andererseits: Zu sagen, ein Bergsteiger habe Interesse an schönem Wetter, mutet ganz natürlich an. Zumal dieses Interesse bei der Erklärung einiger seiner Entscheidungen eine Rolle spielen kann. Zum einen könnte der Bergsteiger schönes Wetter als konstitutiv für sein Naturerlebnis betrachten; zum anderen trägt es zur Sicherheit seines Unternehmens bei.
4. Interessen, Identitäten und Kontexte
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jeweilige soziale Position festgelegt sind. Es stimme schon, meint William Connolly, [i]t is … in the interests of the blue-collar worker, relative to the established expectation that he will pay for his family’s housing, health care, food, and recreation out of private earnings in a system where such goods are relatively scarce and income is unequally distributed, to press for higher wages; it is in the interests of the prisoner, relative to the conditions of imprisonment, to have visiting hours expanded; it is in the interests of a prostitute, relative to her need to ply an unlawful trade, to see that the police are not paid so highly that they refuse to accept bribes. But on occasions such as these we also sometimes legitimately ask, ‚Are the background conditions and/or accepted objectives within which those assessments are made in the real interests (or really in the interests) of those persons who now live as blue-collar workers, prisoners, and prostitutes do?‘271
Man bemerke, dass nun nicht mehr von den Interessen der Arbeiter, Gefangenen und Prostituierten die Rede ist, sondern von denen der Personen, die gerade als solche leben. Damit wird deutlich, dass die Bestimmung der wahren Interessen nicht auf der Grundlage jener Perspektiven erfolgen kann, die die jeweiligen durch die sozialen Umstände begründeten Identitäten kennzeichnen. Die sozialen Umstände können lediglich darüber entscheiden, was die aktuellen und was das potenziellen Interessen einer Person sind. Connolly schlägt nun folgendes Kriterium zur Bestimmung wahrer Interessen vor: Ein Programm X liegt mehr im wahren Interesse von Person A als Programm Y, wenn A, würde sie die Ergebnisse von X und Y kennen, X Y für sich selbst vorziehen würde.272 Dieses Kriterium impliziert erstens, was sich schon aus Barrys Ausführungen ableiten lässt, nämlich die Notwendigkeit, Programme bzw. deren Auswirkungen zu vergleichen. Auf diese Weise erfährt der Diskurs über Interessen eine gewisse Rationalisierung. Er wird transparenter. Zweitens stellt Connollys Kriterium auf Entscheidungen ab, die im Wissen um deren Folgen getroffen worden wären. Das bedeutet: Nicht die jeweils aktuellen Wünsche geben den Ausschlag. Drittens werden keine Wünsche ausgeschlossen, die sich auf die Art der Beziehung zu anderen Menschen beziehen oder auf die Fähigkeit und die Freiheit, wohlüberlegt zwischen mehreren nicht trivialen Optionen zu wählen. Insofern das Kriterium aber, viertens, Interessen nicht gänzlich von dem abkoppelt, was jemand für sich will, assimiliert es Entscheidungen, die auf Interessen gründen, auch nicht vollständig an solche, die lediglich ein Verpflichtungsgefühl oder Wohlwollen gegenüber anderen widerspiegeln. Connolly geht es um eine hinreichend komplexe, aber für die empirische Politikwissenschaft dennoch nützliche Begriffsbestimmung. Letztlich aber 271
William E. Connolly, The Terms of Political Discourse, 63 (Hervorhebungen im Original). 272 Ebd., 64.
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II. Interesse
ist ihm, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, nichts weniger als ein simpler Nachweis dafür gelungen, dass der Begriff des Interesses kein rein deskriptiver Begriff ist. Um das zu verdeutlichen, muss man das Kriterium nur etwas präzisieren: Ein Programm X liegt mehr in Person As wahrem Interesse als Programm Y, wenn A, würde sie die Ergebnisse von X und Y kennen, X Y vernünftigerweise für sich vorziehen würde. Anlass für diese Präzisierung ist ein scheinbares Gegenbeispiel: „What if a person, after experiencing the results of a policy that legalizes heroin, chooses that as the result he would rather have?“273 Dagegen wendet Connolly ein, die Frage laute nicht „Was will die Person jetzt?“, sondern „Was würde sie wollen, wenn sie auf der Grundlage des gegenwärtigen Wissens (nämlich dass sie nun ihre Sucht nicht so einfach aufgeben kann) die Entscheidung noch einmal treffen könnte?“. Und die Antwort darauf hängt eben von Annahmen darüber ab, was jemand vernünftigerweise wollen kann. Damit wird sie normativ. Natürlich lässt sich ein Prädikat wie „vernünftigerweise“ auf mehrere Arten deuten. Gesetzt, dass sehr schwache Rationalitätsbegriffe wenig überzeugen,274 kommen jedoch spätestens an dieser Stelle Konzeptionen dessen ins Spiel, was eine Person zur Person macht und was eine gute Gesellschaft bzw. was gute soziale Beziehungen sind. Die Analyse der Interessen von Menschen wird von einem detachiert beobachtenden zu einem ethischen Unternehmen, im entsprechenden Kontext sogar zu einem politischen − insbesondere dann, wenn mit X nicht bloß Detailregelungen, sondern ganze Institutionen gemeint sind. Die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen verschwimmt. Eine anschauliche Darstellung der Beeinträchtigung „wahrer Interessen“ durch umfassende Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen bietet Richard Sennetts Analyse der Kosten des zunehmenden Flexibilisierungsdrucks in der Arbeitswelt. Sogar die in der „postfordistischen“ Wirtschaft im gewöhnlichen Sinne Erfolgreichen könnten demnach Grund haben, ihr Leben als signifikant beschädigt anzusehen. Und manche zweifeln tatsächlich. Von einem solchen „Erfolgreichen“ schreibt Sennett: „Er befürchtete, durch seinen Lebensstil, den der Konkurrenzkampf in der modernen Wirtschaft erzwingt, jede innere Sicherheit zu verlieren, in einen Zustand des Dahintreibens zu geraten.“275 Natürlich gibt es auch Gewinner, die sich in ihrer Situation rundum wohl fühlen. Diese positive Bewertung des eigenen Lebens versteht sich aber keineswegs von selbst. Sie scheint vielmehr ein mehr oder weniger atomistisches Menschen- und Gesellschaftsbild vorauszusetzen. Und ein derartiges Paradigma repräsentiert keinesfalls eine „natür273
Ebd., 66. Siehe James Griffin, Well-Being: Its Meaning Measurement and Moral Importance, Oxford 1993, 49f. 275 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2000, 22. 274
4. Interessen, Identitäten und Kontexte
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liche“ Sicht der Dinge, sondern etabliert sich bevorzugt unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen.276 Unter Bedingungen hypertrophen wirtschaftlichen Wettbewerbs kann schließlich ein Skeptizismus gedeihen, der die Rede von wahren Interessen selbst schon als extravaganten Unsinn abtut. Nicht dass der Neoliberalismus mit seinen Flexibilisierungszwängen die Entfremdung des Einzelnen von kommunitären Sinnstrukturen und somit den Zweifel in Bezug auf ethische Wahrheit erfunden hätte, doch wirkt er wie ein Verstärker.277 Die Bestimmung des eigenen wahren Interesses, ja schon die Neigung, überhaupt von „wahren Interessen“ zu sprechen, hängt mit empirischen sowie individual- und sozialethischen Annahmen zusammen, die falsch sein können und bei näherer Betrachtung oft auch unplausibel werden. So liegt der marxistischen Utopie beispielsweise die bereits beim Evangelisten Markus (8, 36) zu findende Idee zugrunde, dass der größte materielle Profit dem nichts nütze, der dafür an seiner Seele Schaden nehme.278 Ein ähnliches Argument findet sich beim Individualisten John Stuart Mill, und zwar gerade dort, wo er versucht, den Wert der individuellen Entfaltung mit Beschränkungen in Einklang zu bringen, die die Gerechtigkeit erfordert: Soweit Zwang erforderlich ist, die stärkeren Exemplare der menschlichen Gattung vor Eingriffen in die Rechte anderer abzuhalten, kann man das nicht vermeiden, aber dafür ist eine hinreichende Entschädigung hinsichtlich der menschlichen Entwicklung zu erwarten. Die Entwicklungshilfen, die der Einzelne dadurch verliert, daß er seinen Neigungen nicht bis zu einer Schädigung anderer verfolgen darf, würde er hauptsächlich auf Kosten der Entwicklung anderer erwerben. Und selbst für ihn ist ein voller Gegenwert vorhanden in der besseren Entwicklung des sozialen Teils seines Wesens, welche durch Beschränkung seines egoistischen Teils ermöglicht wird.279
Diese Auffassung mutet ziemlich aristotelisch an, und für die meisten geht die Annahme, im Grunde würden die wahren individuellen Interessen, soweit ihr zentrales Motiv jenes der Selbstverwirklichung sei, harmonieren, wohl allzu weit. Insbesondere Egalitaristen, die der Gleichheit einen Eigenwert zuschreiben, könnten einwenden, dass gewisse Beschränkungen von Selbstentfaltungsaktivitäten schon allein aus Gründen der sozialen Gleichheit geboten seien. Ob die Beschränkten dadurch auch etwas gewinnen, sei nebensächlich. Moderne Aristoteliker (vor allem christlicher oder sozialisti276
Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988, 168ff. 277 Dass der Skeptizismus nicht nur eine Erfindung von Berufsphilosophen ist, sondern für die niemals auszuschließende unheimlich-gewöhnliche Erfahrung steht, von der Welt und den anderen abgeschnitten zu sein, diese Idee stammt von Stanley Cavell, der sie wiederum aus der Wittgenstein-Exegese gewinnt. 278 G. A. Cohen, If You’re an Egalitarian, How Come You’re So Rich, 181. 279 John Stuart Mill, Über die Freiheit, 87.
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II. Interesse
scher Prägung) könnten erwidern, dass sie das ohnehin nicht bestreiten, weil für sie soziale Gleichheit nicht einfach ein kalkulierbarer Gewinn, sondern eine Bedingung für Selbstentfaltung sei. Die Rede von „Entschädigung“ und „Gegenwert“ sei lediglich einen Hauch zu technisch und individualistisch, aber immerhin versuche Mill noch, einer wichtigen Intuition Rechnung zu tragen, die uns eine bornierte ökonomische Begrifflichkeit fast schon unverständlich gemacht habe. Selbstentfaltung unter ungerechten Bedingungen wird von ihnen als fundamental defizient angesehen: If happiness is seen in Aristotelian terms as the free flourishing of our faculties, and if love is the kind of reciprocity which allows this best to happen, there is no final conflict between them. Nor is there a conflict between happiness and morality, given that a just, compassionate treatment of other people is on the grand scale of things one of the conditions for one’s own striving.280
Im Wesentlichen gleich wie der Sozialist Eagleton sieht das Strasser. Objektive Werte seien auf einen Absoluthorizont bezogen und ließen daher „das Leben des Einzelnen nicht mehr ohne das Leben aller anderen in den Blickpunkt treten. Mit dem Ideal des guten Lebens wird die Menschheit als Solidarsubjekt schon immer mitgedacht und in der metaphysischen Perspektive der Erlösung schließlich die ganze Welt.“281 Dies bedeutet aber nicht, dass im Begriff des wahren Interesses die Interessen der Menschen zu einer undifferenzierten Masse verschmelzen würden. Die aktuellen wahren Interessen eines Wohlhabenden sind nicht identisch mit denen des Armen. Gleichwohl kann ihre Befriedigung die Befriedigung der Interessen des Armen an materieller Besserstellung erfordern. Mein Leben kann zwar gut sein, während gleichzeitig das Leben anderer Menschen schlecht ist – wenigstens in vielerlei Hinsicht. Wenn das Leben der anderen aber schlecht ist, weil sie unter Ungerechtigkeiten leiden, von denen ich profitiere, ist auch mein Leben „kontaminiert“. Doch selbst wenn die Befriedigung der Interessen des Armen mein Leben besser macht, ist es nicht unbedingt das Selbstinteresse (erst recht nicht direkt), welches mich zur Verbesserung der Lage des Armen motiviert. Wir sollten uns nicht zu dem Kurzschluss hinreißen lassen, politisches Engagement für Gerechtigkeit sei lediglich durch das Selbstinteresse motiviert. Motivierend wirken im Fall des politischen Engagements der Begünstigten für gerechtere Verhältnisse üblicherweise wohl weniger individuelle Interessen als vielmehr die Gerechtigkeitsvorstellungen selbst. Obwohl einiges dafür spricht, dass die Menschen in Ländern mit gleichmäßigerer Einkommensverteilung (über dem Subsistenzniveau) glücklicher sind als in Ländern mit ungleichmäßigerer Verteilung282 und dass auch 280
Terry Eagleton, The Meaning of Life, Oxford 2007, 170. Peter Strasser, Gut in allen möglichen Welten, 15. 282 Siehe Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft. 281
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demokratische Partizipation das Glück befördert283, ist es nicht unmittelbar die Aussicht (oder die Hoffnung) auf das eigene Glück, die Egalitaristen wie Demokraten politisch antreibt. Gerechtigkeitserwägungen verselbständigen sich gegenüber Erwägungen des individuellen guten Lebens umso weiter, je größer der soziale Zusammenhang und je komplexer und mittelbarer die Interdependenzen werden. Allerdings ist es keineswegs absurd zu sagen, dass Profite aus ungerechten sozialen Strukturen die Qualität des individuellen Lebens mindern, und zwar auch dann, wenn diese Minderung subjektiv nicht einmal in einem gewissen Unbehagen zu Buche schlägt. Das subjektive Empfinden ist aus objektivistischer Perspektive eben nicht unbedingt der letztentscheidende Faktor. Auch das Verfügen über bestimmte Sensibilitäten bildet ein Interesse. Zweifellos spielen Dispositionen und Fähigkeiten (etwa zum Mitleiden) für die moralische Motivation und sogar für die moralische Erkenntnis eine wichtige Rolle. Insoweit über sie zu verfügen konstitutiv ist für ein gutes Leben, bilden sie selbst ein fundamentales Interesse. Anders gesagt: Die Fähigkeit, sich nicht bloß durch das Selbstinteresse motivieren zu lassen, liegt im Interesse jedes Menschen. Handeln aus anderen Motiven als dem Selbstinteresse kann wesentlicher Teil der Selbstentfaltung sein.284
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Siehe Bruno S. Frey/Alois Stutzer, Happiness and Economics: How the Economy and Institutions Affect Human Well-being, Princeton 2002. 284 Schwierig wird es, wenn sich die ganze Persönlichkeit einer Person durch Selbstlosigkeit auszeichnet. Handelt eine Person, die es unglücklich macht, sich nicht für andere aufopfern zu können, aus Selbstinteresse, wenn sie ihr Leben so weit wie nur irgend möglich der Beförderung von Interessen Fremder widmet? Was man freilich nicht unterstellen wird können, ist, dass es prinzipiell im individuellen (und zwar durchaus: objektiven) Interesse von Menschen liegt, sich ständig für andere aufzuopfern. Das Problem betrifft eigentlich nur die Qualifikation der subjektiven Handlungsmotivation – allerdings auch und gerade in alltäglicheren Fällen. Was ist beispielsweise die Motivation eines Vaters, der sich für seine Kinder aufopfert? Einerseits identifiziert er sich mit den Kindern; sie sind gewissermaßen Teil seines Selbst. Andererseits gibt es aber auch entsprechende soziale Normen, die er weitgehend internalisiert haben mag. Vielleicht würden wir sagen, man handle nicht aus Selbstinteresse, wenn man sich Menschen widmet, mit denen man sich stark identifiziert. Gleichwohl macht man auf diese Weise auch sein eigenes Leben besser, eben weil es untrennbar mit dem der anderen verbunden ist, weil man leidet, wenn die anderen leiden, und weil man glücklich ist, wenn es die anderen sind. Entschärft wird dieses Problem freilich dadurch, dass derartige Identifikationen niemals vollständig sind. Ab einem gewissen Grad an Identifikation würden wir vermutlich sogar eine Pathologie annehmen. Ab einem gewissen Grad an Separation zwischen den eigenen Interessen und denen von anderen aber genauso. In jedem Fall entbehren wir hier klarer Definitionen. Wir bewegen uns in einer Grauzone.
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II. Interesse
Sehr gut zum Ausdruck kommt die Dialektik von Selbstinteressiertheit und Selbstvergessenheit in Eagletons (von G. A. Cohen übernommenen) Vergleich des guten Lebens mit dem Spiel in einer Jazzband: A jazz group which is improvising obviously differs from a symphony orches tra, since to a large extent each member is free to express herself as she likes. But she does so with a receptive sensitivity to the self-expressive performances of the other musicians. … As each player grows more musically eloquent, the others draw inspiration from this and are spurred to greater heights. … There is self-realization, but only through a loss of self in the music as a whole. There is achievement, but it is not a question of self-aggrandizing success. Instead, the achievement – the music itself – acts as a medium of relationship among the performers.285
Ein Egoist entspricht dem Musiker, dem hauptsächlich daran gelegen ist, andere von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen und der sich deshalb immer wieder in leerer Virtuosität verliert. Und wie das Leben des Egoisten oft flach bleibt, weil er nicht in den Besitz jener Güter gelangt, die kein Gegenstand eines simplen Kalküls sein können, so verfehlt der Virtuose, der nichts will, als sein Können unter Beweis zu stellen, regelmäßig genau das, was er anstrebt: Anerkennung als „großer Musiker“. Er wird zum Zirkuskünstler, der einfach mehr Töne in der Minute und kompliziertere Tonfolgen spielen kann als andere. (Selbstverständlich können auch solche Artisten kooperieren, aber das können Egoisten unter günstigen Bedingungen auch.) Der Vergleich lässt sich noch fortführen: Was im „wirklichen Leben“ ein Streit über den Gehalt wahrer Interessen und zwischen Konzeptionen des guten Lebens ist, ist in der Jazzband die Diskussion über Instrumentierung, Arrangements und das geeignete Repertoire. Dennoch sollte man nicht bis zur völligen Identifikation des individuell Guten und des Gerechten gehen. In diesem Fall bliebe nur mehr ein wahres Interesse übrig, das sich, einem Vexierbild gleich, einmal als Selbstentfaltung und das andere mal als (globale) Solidarität darstellt. Damit hätte man sich allzu weit vom gewöhnlichen Interessenbegriff und der politischen Praxis entfernt. Vor allem aber dient eine solche Reduktion weder dem Gerechtigkeitsdiskurs noch der Reflexion über das je eigene Leben. Es genügt, Verschränkungen anzuerkennen.286 Diese sprengen gleichwohl jenes individualistische Paradigma, das der Kooperation zwar einen 285
Terry Eagleton, The Meaning of Life, 171ff. Zum Verhältnis von („cooler“) Individualität, Reziprozität und Kollektivität, u. a. am Beispiel des Jazz, siehe auch Diedrich Diederichsen, „Coolness: Souveränität und Delegation“, in: Jörg Huber (Hg.), Person/Schauplatz, Interventionen 12, Wien/New York 2003, 243–254. 286 Für eine genauere Analyse des Begriffs der Selbstverwirklichung und einiger Tücken, die bei der Realisierung des Ideals in sozialen Verhältnissen außerhalb des engen Jazzband-Kontextes unweigerlich zu Tage treten, siehe Jon Elster, „Selfrealization in Work and Politics“.
4. Interessen, Identitäten und Kontexte
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mehr oder weniger großen Wert für das individuelle Leben zuschreibt, jedoch nur einen instrumentellen. Der erwähnte Vergleich sollte daher vielmehr als Beschreibung einer Utopie gelesen werden, die ihrerseits allzu leichtfertige und starre Dichotomien (etwa zwischen Selbstinteresse und Solidarität) unglaubwürdig macht. Gänzlich zum Verschwinden lassen sich die Dichotomien auch auf der theoretischen Ebene nicht bringen. Immerhin gibt es eine Vielzahl von Werten, die sich nicht gleichzeitig und von jedem Einzelnen in gleichem Maße realisieren lassen. Die Menschen unterscheiden sich nicht nur in ihren sozialen Positionen, sondern auch in ihren Fähigkeiten und Empfindsamkeiten. Angenommen, wahre Interessen mehrerer Personen können konfligieren (auch wenn der Jazzband-Vergleich den Konflikt theoretisch ein wenig entschärft): Kann man wenigstens noch in Bezug auf einzelne Personen von dem wahren Interesse sprechen? Oder muss man dies sogar? Ist es nicht so, dass nur ein Interesse das wahre Interesse einer Person sein kann? Nun, ob man von dem einen wahren Interesse oder von den wahren Interessen im Plural sprechen soll, hängt davon ab, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zweck die Interessenbestimmung erfolgt. Diskutieren wir das, was Rawls die Grundstruktur der Gesellschaft nennt, werden wir entsprechend der Vielzahl an Gütern, die ein Leben lebenswert machen, von mehreren wahren Interessen auszugehen haben. Je globaler und grundsätzlicher die Gerechtigkeitskonzeption, desto weniger Bedarf besteht an einer punktgenauen Bestimmung des wahren Interesses einer oder mehrerer Personen – und damit einer detaillierten Vorstellung vom guten Leben. Zudem wissen wir, dass die wahren Interessen wenigstens teilweise auch harmonieren und, umgekehrt, dass ihre Beeinträchtigungen einander bedingen. Wir wissen, dass materielle Depravation oft zu kultureller Depravation, politischer Einflusslosigkeit und sogar zu Verschlechterungen des gesundheitlichen Allgemeinzustands führt. Und wir wissen, dass die Verbesserung der Bildungschancen regelmäßig mit einer Steigerung des materiellen Wohlstands einhergeht. Nicht auf jeder Ebene des politischen Denkens sind gleichermaßen subtile Gewichtungen von und Abwägungen zwischen wahren Interessen vonnöten. Für die Bestimmung des wahren Interesses einer Person benötigen wir eine stärkere Konzeption des Guten als für die Fernbestimmung der vielen Interessen, deren Befriedigung ein legitimes Desiderat einer einzelnen Personen darstellen kann. Wer also die Weltgesellschaft in den Blick nimmt und für eine umfassende Veränderung politischer und ökonomischer Institutionen votiert, braucht zwar eine Vorstellung von dem, was die wahren Interessen von Menschen sind, doch um viele Detailfragen muss er sich nicht kümmern. Wer sich hingegen auf eine bestimmte Institution konzentriert, ist mit deutlich mehr Abwägungsproblemen konfrontiert. So muss er, wenn die Institution das Bildungssystem ist, einige konkretere Gewichtungen vornehmen, auch in dem Fall, dass es ihm nur um die schlecht in das System
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II. Interesse
Integrierten geht. Schließlich haben diese neben dem besseren Zugang zu Bildungsangeboten noch weitere Interessen: soziale Freiheit und Sicherheit, Chancen auf einen halbwegs attraktiven Arbeitsplatz, Freizeit etc. Jedenfalls gibt es mehrere wahre Interessen und Solidaritäten, deren Gewicht variiert und deren Befriedigung nicht immer, vor allem aber nicht in gleichem Maße globale Kooperation zur Bedingung hat. Auf der Hand liegt, dass über die korrekte Bestimmung der wahren Interessen von Personen Uneinigkeit bestehen kann. Freilich, wo die Person als solche aus dem Blick gerät und nur mehr – wie Systemtheoretiker sagen – als „Adresse“ innerhalb eines besonderen Systems auftritt (beispielsweise als Mieter oder Vermieter; als Unternehmer, Arbeitnehmer oder Konsument), dort reduziert sich die Politizität der bloßen Beschreibung. Und im Großen und Ganzen verzichten wir auch auf die pathetisch-philosophisch anmuten de Rede von den „wahren Interessen“. Dafür können wir dann umso mehr interpersonelle Interessenkonflikte konstatieren. Der Begriff des wahren Interesses drängt sich uns vor allem dann auf, wenn mehrere eigene Interessen gegeneinander abzuwägen sind – wenn also ein intrapersoneller Interessenkonflikt vorliegt. Das ist kein seltener Ausnahmefall, da wir gar nicht anders können, als eine Vielzahl verschiedener Identitäten zu einer Per sönlichkeit zu integrieren, von der wir glauben oder hoffen, dass sie insge samt ein halbwegs gutes Leben führt. Der Begriff des wahren Interesses spielt aber auch in jeder umfassenderen Gerechtigkeitskonzeption eine Rolle, dann üblicherweise aufgrund der Distanz zum Leben der je Einzelnen im Plural. Um Missverständnisse auszuschließen: Man sollte den Objektivismus und den Verweis auf die Rolle der Ethik bei der Interessenfestlegung nicht mit Hyperrationalismus verwechseln. Zumindest wenn es um unser eigenes Leben geht, lösen wir solche intrapersonellen Konflikte üblicherweise ohne eine elaborierte Theorie des Guten. Wir lassen uns dabei auch noch von anderen Motiven leiten, insbesondere von verinnerlichten Normen der (sozial mehr oder weniger etablierten) Moral und von persönlichen Bindungen – und oft befördern wir gerade dadurch unsere wahren Interessen. Das gute Leben bildet, mit Strasser gesprochen, den „ethischen Horizont“, vor dem die Interessenbestimmung erfolgt. Dieser zwingt uns, über die etablierten Strukturen und Institutionen der Gesellschaft hinauszugehen. Der ethische Horizont hält uns aber nicht dazu an, über elementare Tatsachen der menschlichen Natur und des menschlichen Zusammenlebens hinwegzusehen: etwa, dass moralische Normen oftmals nicht hinreichend stark motivieren, dass Menschen mehr oder weniger irrtumsanfällig sind, dass sich viele Kooperationsprobleme nicht durch Appelle an die Kooperationsbereitschaft lösen lassen und dass die begehrtesten Güter typischerweise knapp sind. Zudem haben Interessenbestimmungen ihren Ausgangspunkt immer im Hier und Jetzt. Der Wunsch nach einem Leben in einer Gesellschaft, in der alle materiellen Wohlstand und sonstiges Glück genießen, ohne irgendwie Schuld auf sich zu laden, bildet somit noch kein
5. Objektive Interessen, wahre Interessen und Autonomie
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wahres Interesse. Träumereien sowie ethische, metaphysische oder religiöse Spekulationen über das absolute Gute mögen Teil oder Hintergrund der Interessenbestimmung sein, erschöpfen können sie diese nicht. Aber hängen wirklich wahre Interessen nicht davon ab, dass ein vollständig autonomes Individuum sie in einem gänzlich unvermachteten Kontext als solche anerkennt? (Connollys Kriterium scheint derartiges nahezulegen.) Und wenn dies so ist, können wahre Interessen dann noch als objektive gedacht werden? Das sind einige der Fragen, die Torben Bech Dyrberg in seiner post-dekonstruktivistischen Analyse des Machtbegriffs erörtert. Mit der Idee objektiver Interessen kann Dyrberg nicht viel anfangen, den Begriff des wahren Interesses hält er dagegen für unverzichtbar, auch wenn das wahre Interesse eher etwas sei, an dem wir ähnlich wie an einer durchschauten Illusion festhalten würden. Dabei bedient er sich der Žižek’schen Idee, dass wir uns bisweilen durchschauten Illusionen hingeben. Pfallers Theorie der Überzeugungen ohne Eigentümer, mit der wir begonnen haben, kreist um eben diesen Gedanken. Nicht zuletzt deshalb verdienen Dyrbergs Überlegungen hier unsere Aufmerksamkeit.
5. Objektive Interessen, wahre Interessen und Autonomie Dyrberg entwickelt seine Thesen im Zuge einer Auseinandersetzung mit Connollys Definition des wahren Interesses, mit der er durchaus sympathisiert. Dabei konzentriert er sich auf die bereits angesprochene zeitliche Kluft, welche Objektivität einfach nicht zulasse. Objektiv seien Interessen beispielsweise dann, wenn man sie einfach aus einer sozialen Position ableiten könne. Doch dann würden wir sie, wie auch wir bereits gesehen haben, nicht mehr „wahr“ nennen. Dyrbergs zentrale These besteht dagegen in einem Paradox: „real interests are at once already there and yet to come: they are a construction of something new, yet a discovery of what is given“.287 Das Prädikat „wahr“ möchte Dyrberg in diesem Zusammenhang nicht mit Objektivität verbunden wissen, sondern mit dem, was jemand eigentlich (und nicht bloß in dieser oder jener sozialen Rolle) will. Da aber die Bestimmung dessen, was man eigentlich will, immer unter kontingenten sozialen Bedingungen erfolge und somit unweigerlich einer Verzerrung unterliege, sei sie streng genommen unmöglich. Was wir als unsere Interessen bestimmen, sei immer durch die Macht, der wir – oft unbewusst – unterworfen 287
Torben Bech Dyrberg, The Circular Structure of Power: Politics, Identity, Community, London 1997, 171.
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II. Interesse
sind, verzerrt. Zugleich aber sei die Bestimmung unserer wahren Interessen notwendig, weil uns die Gesellschaft nicht vollständig determiniere und uns immer wieder zur Reflexion sowie zur Rekonstruktion unserer jeweiligen Identität zwinge. Das Wort „Interesse“ sage im Grunde alles: The word ‚interest‘ stems from the Latin inter + esse, which means between being. The subject exists fundamentally as an inter-esse: as a being who is concerned with its own being, which is not a substance but rather a projection in time and space. The subject thus exists ‚interested‘.288
Doch sehen wir uns Dyrbergs überaus sophistizierte Argumentation etwas näher an. Sie kreist um einen durchaus zutreffenden Grundgedanken und setzt an bei Connollys Kriterium der (hypothetischen) Wahl unter Bedingungen vollständiger Information. Demnach liegt ein Programm X mehr im wahren Interesse von Person A als Programm Y, wenn A, würde sie die Ergebnisse von X und Y kennen, X Y für sich vorziehen würde. Dyrberg meint nun, dass die Entscheidung für X unter diesen Bedingungen dennoch nicht unbedingt die wahren Interessen von A widerspiegle, weil schon das Set von Optionen (X und Y) durch Macht bestimmt sei.289 Das ist zweifellos richtig, doch für Connolly wäre X ohnehin nur das, was dem wahren Interesse von A besser entspricht. Das heißt, Connollys Kriterium unterstellt nicht, dass das wahre Interesse unter Absehung von den historisch-kontingenten sozialen Rahmenbedingungen vollständig bestimmt werden kann. Dies wäre auch gar nicht möglich. Man bedenke nur, dass eine Konzeption des guten Lebens, die unter vorindustriellen Bedingungen noch zur Gänze einleuchten mag, in einer hoch industrialisierten Gesellschaft (teilweise) ziemlich verschroben anmuten kann – es sei denn, die Konzeption besteht nur aus einer Auflistung einiger ganz abstrakter Werte wie Glück, innere Ruhe, materielle Sicherheit, familiäre Geborgenheit oder Anerkennung. Viel hängt am Begriff der Option. Eine Option ist sicher mehr als eine bloße Denkmöglichkeit. Die Einrichtung einer wahrhaft kommunistischen Gesellschaft des allgemeinen Überflusses, in der der Staat bereits abgestorben ist, kann jedenfalls nicht als Option gelten. Allerdings darf „Option“ auch nicht zu eng definiert werden. Das Set von Optionen muss durchaus fundamentaleren institutionellen Wandel beinhalten. Andernfalls würden wir nicht mehr von den Interessen der Menschen oder Personen, sondern wieder von Interessen der Pensionsbezieher, der Arbeiterinnen, der Mütter, der Unternehmer u. s. w. sprechen. Die Rede von den „wahren Interessen“ der Studierenden würde dann etwas pleonastisch anmuten. Da es sich aber immer um ein Set von realen Optionen handeln muss, kann Macht als wichtiger Kausalfaktor bei der Festlegung dieses Sets nicht ausgeschlossen wer288
Ebd., 156 (Hervorhebungen im Original). Ebd., 166.
289
5. Objektive Interessen, wahre Interessen und Autonomie
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den. Es kann aber sinnvoll gefragt werden, welche der Optionen das wahre Interesse einer Person besser befördert. Dyrberg könnte darauf nun antworten, ihm gehe es um etwas anderes. In der Tat gräbt er um einiges tiefer. Die eigentliche Pointe seiner Analyse findet sich gleich darauf in folgender Feststellung: More importantly, there is no guarantee either that A even approaches his real interests by choosing x instead of y since it cannot be made evident that a dynamic is initiated which leads to the elimination of power. Although x represents what A ‚would rather have for himself‘, A may not be ‚himself‘, so to speak, because power has influenced A’s norms, habits, interests and so forth. The relation between power and identity is crucial here: A is A because of power; yet, for the same reason, A is not A! We are caught up in the paradox that by structuring the available options power becomes unavoidable embodied in real interests. … The notion of real interests presupposes that power shapes identity and that it can’t be eliminated in order to achieve a truer identity.290
Hier spricht Dyrberg ein echtes Problem von Connollys Definition an. Indem Connolly auf eine (hypothetische) Wahlentscheidung des Interessenträgers abstellt, wirft er die Frage auf, unter welchen Bedingungen gewählt wird und wie authentisch die Präferenzen sein müssen. Authentizität hängt mit Autonomie zusammen. Doch eine autonome Entscheidung erkennt man nur an den Gründen, die sie motiviert, um nicht zu sagen: die sie verursacht haben. Damit kommen Rationalitätsstandards ins Spiel, die schon deshalb nicht autonom gewählt werden können, weil sie inhärent intersubjektiv sind. Genauer: Die Unterscheidung Freiheit/Zwang ist auf den Erwerb von Rationalitätsstandards üblicherweise nicht direkt anwendbar. Wie ich nicht direkt gezwungen werden kann, bestimmte Überzeugungen zu haben, so kann ich mich auch nicht einfach entschließen, bestimmte Überzeugungen zu haben (etwa, dass mein im Moment unter dem Schreibtisch schlafender Hund gerade nicht unter dem Schreibtisch schläft).291 Wie ich – wenn die diesbezüglichen, an Davidson angelehnten, Ausführungen im ersten Teil zutreffen – nichts für andere prinzipiell Unverständliches denken (und meinen) kann, so verfüge ich auch nicht über höchstpersönliche und also rein private Rationalitätsstandards. Insofern sich unser Denken und unsere Begriffe aber in der Interaktion mit anderen Subjekten (zuerst in der Regel mit den Eltern) ausbilden, bleibt Macht immer ein dafür konstitutiver Faktor. Vermutlich ist es ungefähr das, was Dyrberg meint, wenn er sagt: „A is A because of power; yet, for the same reason, A is not A!“ Niemand ist eine Monade – erst recht nicht als denkendes Wesen. Doch das Paradox „that by structuring the available options power becomes unavoidable embodied in real interests“ ist nur dann eines, wenn wahre Interessen allein unter der Bedingung wirklich wahre Interessen wären, dass 290
Ebd. (Hervorhebungen im Original) Siehe Bernard Williams, Probleme des Selbst, Stuttgart 1978, 217–241.
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II. Interesse
sie sich in einem machtfreien Raum gebildet haben. Nach dieser Auffassung wären sie also wirklich wahr nur qua Entscheidung eines radikal ungebundenen Subjekts. Sie dürften somit nicht als objektiv gedacht werden. Denn das radikal ungebundene Subjekt kann sich über seine Interessen nicht täuschen, weil es sie selbst hervorbringt. Aber weil diese radikale Ungebundenheit für Dyrberg keine reale Option ist, können die wahren Interessen letztlich doch nicht subjektivistisch gedacht werden. Weil der Einzelne selbst dann noch in Machtverhältnisse eingebunden und Mächten unterworfen ist, wenn ihm dies nicht bewusst ist, kann er sich durchaus über seine Interessen täuschen. Darauf besteht auch Dyrberg.292 Bloß entdeckt würden die wahren Interessen freilich auch nicht: „Real interests are those interpretations the subject holds in the encounter between itself and reality. Since it cannot hold on to anything in this encounter, real interests cannot but be a retroactive construction of reality ‚as it is‘.“293 Das Subjekt stützt sich demnach bei der Bestimmung seiner wahren Interessen auf Rationalitätsstandards, die in einem gewissen Sinne heteronom bleiben. Gleichwohl verändert eine auf so bestimmte „wahre Interessen“ gestützte Politik die soziale Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung. Damit wiederum werden neue Bedingungen für zukünftige Interessenbestimmungen geschaffen. Die Wahrheitsfrage in Bezug auf Interessen stellt sich also immer wieder, und zwar nicht, weil sie der Politik gleichsam von außen vorgegeben wäre, sondern weil die Gesellschaft − so würde jemand wie Dyrberg es vermutlich ausdrücken − kein geschlossenes Ganzes, sondern nur mit einer sich immer wieder verschiebenden Leerstelle komplett ist: dem autonomen Subjekt. Denn – so heißt es in der Einleitung: „Autonomy itself is deprived of any substance, but it is nevertheless an idea toward which subjects can direct themselves. Autonomy thereby becomes a vehicle of the political imaginary that pinpoints the contingent and undecidable nature of social constructs.“294 Das nimmt sich ziemlich kryptisch aus, dürfte aber im Wesentlichen nicht viel anderes bedeuten, als dass die Gesellschaft nicht unabhängig von individuellen Entscheidungen existiert, wie sie eben existiert, und den Individuen zugleich Handlungs- und Denkbeschränkungen auferlegt, die über individuelle Entscheidungen verändert werden können (wenn auch oft nicht planmäßig). Die Individuen können laut Dyrberg diesen Sachverhalt und die essenzielle Substanzlosigkeit ihrer Autonomie ohne weiteres durchschauen; sie können wissen, dass es sich bei der vollen Identität, die sie bei Bestimmung ihrer wahren Interessen voraussetzen, um eine Illusion handelt – es ändert sich nichts:
292
Torben Bech Dyrberg, The Circular Structure of Power, 163. Ebd., 175. 294 Ebd., 18. 293
5. Objektive Interessen, wahre Interessen und Autonomie
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[S]uch a positing [of a full identity] is, none the less, essential for political strategies whose hegemonic success depends upon their ability to become poles of identification. Thus we have a situation where, in Žižek’s words, „they know that, in their activity, they are following an illusion, but still, they are doing it“. Political agents have to act as if the fulfilment of identity – say, the elimination of repression and the realization of autonomy – was possible.295
Hier haben wir sie wieder, die Struktur des Aberglaubens. Demnach wissen wir, dass wir niemals „ganz wir selbst“ und unsere Interessen immer schon durch Machtverhältnisse geprägt sind, tun aber so, als ob dem nicht so wäre. Und zwar deshalb, weil wir gar keine andere Wahl hätten. Das wahre Interesse wird auf diese Weise zu einer durchschauten, nun aber notwendigen Illusion. Mit der Anerkennung dieser Illusion scheint sich jeder ernsthafte Interessenobjektivismus erledigt zu haben. Das zu zeigen ist freilich nicht das vordringliche Anliegen Dyrbergs gewesen; zumindest liegt ihm nichts an einer Verteidigung des Subjektivismus. Eher möchte er über die Unterscheidung subjektiv/objektiv hinaus. Fraglich ist, ob ihm das mit der Wahl seiner begrifflichen Mittel gelingen kann. Müssen wir in diesem Zusammenhang wirklich unbedingt die Logik des Aberglaubens bemühen? Wir wissen zwar, dass es solche durchschauten (wenn auch nicht unbedingt notwendigen) Illusionen gibt und dass sie eine wichtige Rolle in unserem alltäglichen Leben spielen können. Doch wie man bei der Theoriebildung ontologisch sparsam sein sollte, so sollte man auch nicht vorschnell Illusionen postulieren. Allzu leicht ist man dann nämlich, wie eingangs festgestellt, bei so vielen Illusionen angelangt, dass man genauso gut durch „Illusion“ kürzen könnte und damit wieder am Anfang stünde. Womöglich meint Dyrberg mit „positing a full identity“ aber gar keinen Denkakt, keine Vorstellung. Andernfalls wird die Crux seiner Argumentation sichtbar, sobald man sich die Frage stellt, was wir eigentlich mit einer „vollen Identität“ imaginieren bzw. was wir denken, wenn wir denken, dass eine Interessenbestimmung unsere volle Identität widerspiegelt. Ich meine, gar nichts Bestimmtes. Nicht dass die Rede von der vollen Identität völlig sinnlos wäre. Wir können durchaus Dinge sagen wie, dass unsere Identität sich zu Lebzeiten nicht vollständig realisiert oder zu einem Abschluss kommt oder dass wir uns im Hier und Jetzt niemals völlig durchschauen („uns selbst transparent sind“). Tatsächlich scheint dieser Sachverhalt sogar eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit zu sein, mit der Interessenbestimmung falsch zu liegen oder Dissens über wahre Interessen zu haben. So hadern viele Menschen am Ende ihres Lebens mit Entscheidungen, die sie einmal getroffen haben, weil diese Entscheidungen sie zu dem gemacht haben, was sie nach eigenem Dafürhalten im Grunde nicht sind. Man denke etwa an einen einstmals hochbegabten Mathematiker, den es zu den Computerprogrammierern 295
Ebd., 155 (Hervorhebungen im Original).
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II. Interesse
und von dort in den Managementbereich verschlug und der, obwohl er immer exzellente Gründe hatte, seine Karriereentscheidungen zutiefst bedauert. Man kann, wie Bernard Williams bemerkt hat, auch rationale Entscheidungen bedauern, die man nach wie vor für rational hält – ohne dass ein solches Bedauern, mag es auch irrational sein, als irrational abgetan werden könnte 296 Wenn Überzeugungen über wahre Interessen letztlich (durchschaute) Illusionen sind, dann gewiss nicht solche im herkömmlichen Sinn. Wenn wir beim Anblick des von Tom Hanks verkörperten sterbenden Aids-Kranken in Philadelphia mit den Tränen kämpfen, obwohl uns klar ist, dass es nur ein (etwas rührseliger) Film ist, wissen wir jedenfalls, welcher Illusion wir erliegen. Genauso wissen wir, welche Illusion durch Gesten und Worte der Höflichkeit erzeugt wird. Und auch bei Voodoo-Praktiken wie dem Durchbohren von Puppen, die den Feind darstellen, ist allen klar, worin die Illusion besteht (vermutlich selbst denjenigen, die solche Praktiken pflegen). Doch welche Illusion ist im Spiel, wenn wir sagen, materielle Sicherheit bilde ein wahres Interesse? Freilich, man kann es mit dem Streben nach materieller Sicherheit auch übertreiben. Der Punkt ist also nicht, dass wir uns bei der Bestimmung unserer Interessen keinen Illusionen hingeben können, sondern, dass die Annahme, wir würden das prinzipiell und – hinreichend aufgeklärt – sogar wissentlich tun, erhebliche Verständnisschwierigkeiten bereitet. Der Objektivist ist auch nicht auf die Behauptung festgelegt, er habe in irgendeiner konkreten Entscheidungssituation absolut festen Boden unter den Füßen und eine transzendente Vernunft auf seiner Seite. Diese Annahme kann er wie Dyrberg bestreiten. Er kann durchaus einräumen, dass ihm am Ende nur so etwas Nicht-Formalisierbares wie seine eigene (natürlich sozial bedingte) Urteilskraft bleibt. Vielleicht wird er noch hinzufügen, dass ihm auch für seine gewöhnlichen empirischen Überzeugungen nur eine hinreichend stabile Grundlage, aber keine rationale Letztbegründung zur Verfügung steht, und dass bei der Genese dieser Überzeugungen ebenfalls Macht im Spiel war. Diese Erkenntnis allein begründet noch keinen Zweifel. Überhaupt scheint Dyrberg ein wenig zu viel aus der Wahrheit von Interessen zu machen, wenn er sie so direkt mit dem Begriff einer vollen Identität und also der Selbsttransparenz verknüpft. Wenn man statt des enigmatischen Begriffs der vollen Identität den Begriff der (halbwegs) kohärenten Identität verwendet und wenn man Autonomie weniger in ihren metaphysischen als in ihren lebensweltlichen Dimensionen betrachtet, dann wird eines klar: Autonomie und Identität bilden ihrerseits (wahre) Interessen 296
Bernard Williams, Probleme des Selbst, 274f. Allerdings geht es Williams nicht direkt um wahre Interessen, sondern um moralische Konflikte, in die wir bisweilen geraten. So ein Konflikt liegt beispielsweise vor, wenn die Einhaltung eines Versprechens großes Leid verursachen würde.
5. Objektive Interessen, wahre Interessen und Autonomie
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von Menschen, aber nicht unbedingt solche, die zu jeder Zeit jedes andere Interesse ausstechen. Ich habe schon erwähnt, dass Autonomie ihren Witz völlig einbüßen kann, wenn die Optionen so zahlreich werden, dass etwas, das den Namen „überlegte Wahl“ verdient, unmöglich wird. Die durch soziale Machtverhältnisse bewirkte Einschränkung der Optionen kann also selbst schon ein Interesse bilden. Wenn die Machtverhältnisse das Set nicht hinreichend beschränken, dann kann man es selbst tun, indem man sich der Macht bedient und sich beispielsweise rechtlich bindet. Das heißt, man könnte anderen Macht verleihen, etwa einer Bank, indem man sein Sparbuch für eine gewisse Zeit sperren lässt, um sicher zu stellen, dass man sein Geld nicht unbedacht für unnützes Zeug aus dem Fenster wirft. In diesem Fall zu sagen, dass die Beschränkung der Optionen nur deshalb im eigenen Interesse liege, weil man sich auch als jemand, der ganz bei sich ist, dafür entschieden hätte, ist so gut wie nichts zu sagen. Ebenso könnte man sagen, dass wahr sei, was eine allwissende Person als wahr anerkennt. Dyrberg hätte dagegen vermutlich nichts einzuwenden, er begibt sich ja gar nicht auf dieses profane Niveau. Doch das ist das Niveau der politischen Reflexion und Diskussion. Dyrbergs Theorie ist eng verwandt mit derjenigen von Žižek. Als aufschlussreich erweist sich daher, wie Adrian Johnston Žižek und dessen lacanianisches Beharren auf dem notwendigen Scheitern der Befriedigung des Begehrens gegen die Kritik verteidigt, dies rege zu Resignation und Konservatismus an: The Lacanian motif of the human libidinal economy as being structures in response to an irreducible „lack“, „failure“, and/or „emptiness“ by no means automatically entails inaction or cynicism apropos prospects concerning concrete socio-political changes. In fact, quite the opposite is the case: What Freud designates as „discontent in civilization“ (and what Lacan traces back to a „discontent prior to civilization“ qua something inherent to human desire) is precisely one of the driving motors compelling human beings perpetually to modify their status quo.297
Interessant ist, wie offensichtlich diese Antwort den Punkt verfehlt.298 Der Einwand lautete ja: Die Theorie, verstanden als Theorie, die uns auch helfen soll, unsere politische Praxis genauer zu verstehen und zu verbessern, nimmt uns jeden Grund zur Hoffnung und zum Engagement. Und die Antwort darauf läuft auf die Feststellung hinaus, dass wir nicht anders können, als zu hoffen und politische Programme zu entwerfen. Sie gleicht strukturell der Verteidigung eines Mörders mit dem Argument, sein Gehirn hätte ihn zur Tat bestimmt. Das heißt, eine Theorie des wahren Interesses und des Begehrens, in deren Mittelpunkt die Motive des Scheiterns und der notwendigen Illusion stehen, ist entweder politisch vollkommen neu297
Adrian Johnston, „The Cynic’s Fetish“, 78f. (Hervorhebungen im Original). Auf den darauf folgenden Seiten formuliert Johnston freilich ähnliche Bedenken wie manche Kritiker Žižeks.
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II. Interesse
tral, oder sie bestärkt uns tatsächlich in Resignation und Zynismus. Neutral bliebe sie, wenn sie klar machen würde, dass es ihr um eine Darstellung jener überwiegend unbewussten affektiven und kognitiven Prozesse geht, die bei der Bestimmung von Interessen und der Formierung politischer Überzeugungen (ob wahr oder falsch) immer auch im Spiel sind. Ohnehin entziehen sich zahlreiche Interessen der Politik. So kann die Politik nicht direkt Selbstachtung herbeiführen, sondern lediglich bis zu einem gewissen Grad das Interesse an jenen sozialen Ressourcen befriedigen, die zur Erlangung und zum Erhalt von Selbstachtung notwendig sind. Aber zumindest die Interessen, welche die Politik direkt zu befördern vermag, sind typischerweise nicht dergestalt, dass wir sie nur verzerrt erkennen könnten oder im Moment ihrer Bestimmung verzerren würden: physische und soziale Sicherheit, medizinische Versorgung, Bildungschancen, ein kulturelles Angebot etc.299 Wahr sind diese Interessen insofern, als sie sich aus der biologischen Natur der Menschen oder der Realität einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft ergeben, über die als solche die Politik entweder gar nicht oder nur um den Preis totalitärer Repression verfügen kann. Besser gesagt: Wir können uns schwer vorstellen, dass ein gutes menschliches Leben in der modernen Gesellschaft unabhängig ist von der Befriedigung solcher Interessen, und wir können uns schwer vorstellen, dass eine halbwegs vernünftige und gerechte Politik an dieser (modernen) conditio humana etwas ändern könnte. Aber könnte man die totalitäre Repression nicht genauso gut als Mittel zur Beförderung noch „wahrerer“, „authentischerer“ Interessen begreifen? Nun, wer das behauptet, hat entweder den Interessendiskurs bereits verlassen und das theologische Terrain betreten (es geht dann ganz unmittelbar um Erlösung, Belohnung im Jenseits und Ähnliches), oder aber er spricht hauptsächlich von den Interessen (noch) nicht existierender Menschen. Festhalten können wir: Darüber, was im wahren Interesse von Personen liegt, kann und wird üblicherweise Dissens bestehen, insbesondere wenn mehrere Interessen kollidieren. Die Dissenswahrscheinlichkeit steigt mit der Notwendigkeit der Konkretisierung wahrer Interessen. Der Dissens kann einerseits ethischer Natur sein, andererseits aber auch in der unterschiedlichen empirischen Einschätzung der Folgen von politischen Maßnahmen bestehen. Die prinzipielle Möglichkeit der Objektivität von Aussagen über wahre Interessen ist damit aber nicht ausgeschlossen – auch wenn es in vie299
An solche Interessen dürfte auch der Theoretiker der durchschauten Illusionen Pfaller denken, wenn er die „reaktionären Affekte“ der durch neoliberale Propaganda Verführten dadurch kennzeichnet, dass sie sich gegen deren eigene Interessen wenden (Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, 230). Für Pfaller ist das sogar ganz evident. Die Gültigkeit des Arguments, „wir“ müssten sparen, damit es „uns“ längerfristig besser oder zumindest nicht schlechter gehe, wird nicht einmal in Erwägung gezogen.
6. Politisierung von Interessen
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len Fällen selbst für den Einzelnen schwierig sein dürfte, zu so etwas wie Gewissheit zu gelangen, erst recht im Wege des rationalen Räsonierens. Gerade darin liegt die – oft verfehlte – Pointe der Beziehung zwischen Interessen und Politik begründet.
6. Politisierung von Interessen Was heißt, dass sich Politik „eigentlich“ immer um Interessen dreht? Ist jede Durchsetzung von Interessen ein politischer Akt? Wenn ein Unternehmen eine Maßnahme setzt, um andere Bewerber aus dem Markt zu drängen, tut es etwas mehr oder weniger Erwartetes und Legitimes, aber betreibt es dabei notwendigerweise Politik? Wenn Arbeiter für höhere Löhne streiken, führen sie damit einen politischen Kampf? Agiert ein Staat notwendigerweise politisch, wenn er einen anderen zur Öffnung seiner Märkte zwingt, um das eigene Wirtschaftswachstum anzukurbeln? Wie wird ein Interesse politisiert? Wenn wir uns an Ernesto Laclau halten, dann muss unsere Antwort lauten: Ein Interesse wird dadurch politisiert, dass es für etwas Universelles eingesetzt wird. Laclau bedient sich in diesem Zusammenhang der eigentümlichen Terminologie der poststrukturalistischen Tradition und spricht von der Notwendigkeit einer „Inkarnation leerer Signifikanten“, welche seiner Auffassung nach für die „Erscheinungsform der Leere“, der Unmöglichkeit „der Fülle der Gemeinschaft“ steht.300 Als solche „leere“ oder „flottierende Signifikanten“ kommen viele in Betracht: z. B. „Modernisierung“, „nationale Einheit“, „Kampf gegen den Terror“, „Demokratie“ und „soziale Gerechtigkeit“. Gemeinsam ist diesen Begriffen, dass um ihren Gehalt gestritten wird, und zum Teil stehen sie – wie „Modernisierung“ oder „Kampf gegen den Terror“ – für wahre Interessen. Ob man Demokratie und soziale Gerechtigkeit als etwas betrachten soll, dessen Wert lediglich darin liegt, dass es wahren Interessen dient, ist fraglich. Wenn man nicht gerade annimmt, dass Interessen nur unter der Bedingung wahre Interessen sind, dass sie letztendlich harmonieren, wird man wohl eher geneigt sein, 300
Siehe Ernesto Laclau, „Inklusion, Exklusion und die Logik der Äquivalenz (Über das Funktionieren ideologischer Schließungen)“, in: Peter Weibel/Slavoj Žižek (Hg.), Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien 1997, 45–74. Dass Laclaus politische Philosophie als Philosophie „des Politischen“ ansonsten hauptsächlich durch fragwürdige Abstraktheit besticht und bei näherer Betrachtung überdies zahlreiche Inkonsistenzen offenbart, zeigt Andrew Norris, „Against Antagonism: On Ernesto Laclau’s Political Thought“, in: Constellations 9 (2002), 554–573.
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II. Interesse
wenigstens der sozialen Gerechtigkeit einen Wert zuzuschreiben, der nicht allein aus der Tatsache resultiert, dass sie das Leben einiger besser macht. Allerdings kann über Gerechtigkeit auch nicht sinnvoll ohne Rekurs auf menschliche Interessen diskutiert und polemisiert werden.301 Doch kommen wir noch einmal auf den Begriff der Politisierung zurück. Lassen wir uns nicht in hegelianisch-dekonstruktivistische Abgründe ziehen und das Thema „Leere“ beiseite. Im Grunde ist alles recht simpel: Wenn Arbeiter nur höhere Löhne und sonstige Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen wollen, kämpfen sie zwar für ihre Interessen, aber sie führen keinen politischen Kampf. Dazu kommt es erst, wenn ihre Forderungen als Symbol oder Metapher für etwas Größeres fungieren, etwa für eine andere als die herrschende Art der Modernisierung oder für die Forderung nach Demokratie. Nicht umsonst wird ein Streik als politischer Streik betrachtet, wenn sein eigentlicher Adressat nicht die Arbeitgeber sind, sondern die Regierung. Oder, um ein Beispiel für eine Politisierung von Interessen von der anderen Seite zu nehmen: „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“ Mit diesem Slogan verknüpft die Wirtschaftskammer in Österreich die partikularen Interessen der Unternehmen mit jenen der Allgemeinheit. Schon die Identifikation der Arbeitgeberseite mit der Wirtschaft ist ein politischer Coup. Die USA wiederum politisieren ihre nationalen Sicherheitsinteressen in dem Moment, da sie deren Verfolgung als Maßnahme gegen die „globale Bedrohung“ ausgeben. Ebenso müsste der Staat, der einen anderen zu etwas zwingt, seine Interessen mit einem Projekt von regionaler oder globaler Bedeutung kurzschließen. Andernfalls agiert er zwar vielleicht völlig legitim, aber nicht anders als ein Unternehmen, das sich im normalen Wettbewerb mit anderen Unternehmen befindet. Es ist kein Zufall, dass die Theorie internationaler Beziehungen innerhalb der Politikwissenschaften seit jeher einen gewissen Sonderstatus genießt. Zumindest in ihrer realistischen Spielart ist sie weniger eine Theorie der Politik als eine der bloßen Interessenverfolgung und der Gleichgewichtszustände, die daraus resultieren (sollen). Damit ist nicht behauptet, dass Politisierungen keine Graduierung zulassen; auch nicht, dass der politische Prozess aus nichts anderem als Politisierungen von Interessen und Konflikten zwischen politisierten Interessen besteht. Verhandlungen im Sinne von „Bargaining“ spielen – ebenso wie der Verweis auf Rechtsnormen oder eine weitgehend anerkannte Moral – sowohl in demokratischen Systemen als auch in der internationalen 301
Dass es dazu einer ausgefeilten Theorie des individuellen Guten bedarf, ist aber keineswegs ausgemacht. Wollten wir uns in der Verfassungspolitik etwa von Rawls’ Theorie der gerechten Grundstruktur inspirieren lassen, würden wir zwar möglicherweise eine stärkere Theorie des Guten benötigen, als Rawls sie uns mitgibt, aber der Bedarf an Sophistikation hält sich auf dieser Ebene noch in recht engen Grenzen.
6. Politisierung von Interessen
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Politik eine wichtige Rolle – in der internationalen Politik aber vorerst noch eine wesentlich bedeutendere. Vielleicht sollte man Bargaining als notwendiges Supplement der Politik begreifen. Weiters hat es den Anschein, als ob Politisierungen nicht immer der ursprünglichen Intention der jeweiligen Akteure entsprechen. Bisweilen sind es Interpretationen von anderen, die aus „gewöhnlichen“ Interessenkonflikten politische Konflikte machen. Das geschieht vor allem dadurch, dass für Akteure, die ihre Interessen verfolgen, ein Rechtfertigungsdruck erzeugt wird. Wenn dann nicht gerade ein Regelsystem existiert, das die Legitimität des Handelns verbürgt, etwa eine Wettbewerbsordnung, dann muss ein solches postuliert werden. Und oft erfolgt dies ausgehend von einem partikularen Interesse, welches mit seiner Einbettung in ein größeres Projekt auch seine Identität verändert. Dieser Begriff der Politisierung ist also dem allgemeinen Sprachgebrauch keineswegs so fremd, wie die theoretische Tradition, der er entnommen wurde, vermuten lassen würde. Und wenn heute von vielen der Verlust politischer Räume und eine grassierende „Entpolitisierung“ beklagt wird, dann ist für gewöhnlich zweierlei gemeint: die Ausweitung von Marktstrukturen mitsamt der entsprechenden Denk- und Verhaltensweisen; und – damit zusammenhängend – die zunehmende Unwahrscheinlichkeit, dass Interessen noch eine Universalisierung erfahren, anders ausgedrückt: der vorschnelle Rückzug von potenziell politischen Akteuren auf so genannte Identitätspolitik und Lobbying, mithin der Verzicht, die eigenen Forderungen für mehr stehen zu lassen als partikulare Interessen. In dieser Universalisierung des Partikularen liegt auch das ideologische Moment der Politik. Denn mit Laclau können wir folgendermaßen zwischen einer Ideologie und einem bloßen Ideensystem unterscheiden: Nehmen wir an, in einem Dritte-Welt-Land wird in einem bestimmten Moment die Verstaatlichung der Grundindustrie als wirtschaftliches Allheilmittel vorgeschlagen. Das ist an sich lediglich ein technischer Vorgang der Wirtschaftsführung, und wenn es dabei bleibt, wird sie nie zur Ideologie werden. Wie kommt es nun aber zur Verwandlung in letztere? Nur wenn die Besonderheit der wirtschaftlichen Maßnahme etwas über sie Hinausgehendes und von ihr selbst Verschiedenes zu inkarnieren beginnt: beispielsweise die Emanzipation von fremder Vorherrschaft, die Eliminierung kapitalistischer Verschwendung, die Möglichkeit sozialer Gerechtigkeit für ausgeschlossene Bevölkerungsteile usw. – kurzum die Möglichkeit, die Gemeinschaft als kohärentes Ganzes zu konstituieren. … Zu Ideologie kommt es immer dann, wenn ein bestimmter Inhalt sich als mehr als dieser darstellt. Ohne diese Horizont-Dimension gäbe es Ideen oder Ideensysteme, niemals aber Ideologien.302
Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob nicht schon die Betrachtung einer wirtschaftlichen Maßnahme als „Allheilmittel“ eine ideologische Dimension 302
Ernesto Laclau, „Inklusion, Exklusion und die Logik der Äquivalenz“, 52 (Hervorhebung im Original).
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II. Interesse
aufweist, so wäre nur noch darauf hinzuweisen, dass „politisch“ ein Prädikat ist, das Abstufungen zulässt. Etwas kann mehr oder weniger politisch sein. Ein Verhandlungsprozess zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern ist insofern weniger politisch als die Auseinandersetzung zwischen zwei sich als Volksparteien verstehenden Gruppierungen, als die Verhandlungsteilnehmer hauptsächlich und offen zugegeben die Interessen ihrer jeweiligen Klientel zu befördern suchen. Der Kampf um und gegen die Einrichtung oder Erhaltung eines solchen Verhandlungssystems und die Argumente, die dafür in Anschlag gebracht werden, sind hingegen politisch, soweit dabei auf etwas Größeres Bezug genommen wird: nationale Einheit, Demokratie, individuelle Freiheit etc. Wenn ich daher mein eigenes Interesse nicht nur als mein wahres Interesse ausgebe, sondern darüber hinaus dieses partikulare Interesse universalisiere, mithin versuche, andere zur Überzeugung zu bringen, dass dessen Befrie digung zwar mehr oder weniger tief greifende Veränderungen des sozialen Institutionengefüges erfordere, aber in jedermanns wahrem Interesse liege, dann agiere ich ideologisch. Und dennoch könnte ich recht haben. Üblicherweise erfolgt die Politisierung von Interessen aber auf eine andere Weise. Für gewöhnlich ist sie mit Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit oder des Gemeinwohls verbunden. Das heißt, es wird nicht behauptet, dass die Befriedigung eines partikularen (wahren) Interesses institutionelle Veränderungen erfordere, die in jedermanns Interesse lägen, sondern dass sie ein Gebot der Gerechtigkeit oder ein Mittel zur Beförderung des Gemeinwohls sei. Dass die Politisierung die Forderung nach institutionellen Veränderungen beinhaltet, unterscheidet sie von der Geltendmachung von Rechtsansprüchen, die bereits im Rahmen der bestehenden Institutionen vorgesehen sind. Doch hat sich mit der Einführung des Gemeinwohlbegriffs nicht jeder Objektivismus erledigt? Ist nicht das Gemeinwohl ein Musterbeispiel für einen Gegenstand, der – mehr noch als die Gerechtigkeit – bestenfalls in der Form einer notwendigen Illusion politischer Akteure existiert?
7. Individual- und Kollektivinteressen „Gemeinwohl“ ist ein schillernder Begriff der Politik. Ja, es besteht der Verdacht, dass sein Schillern nichts anderes als seine Leere anzeigt.303 303
Siehe etwa Frank J. Sorauf, „The Conceptual Muddle“, in: Carl J. Friedrich (ed.), The Public Interest, New York 1962, 183–190; J. D. B. Miller, The Nature of Politics, London 1962. Auch Jon Elsters Definition des Interesses als „any motive, common to the members of some proper subgroup of society, that aims at improving
7. Individual- und Kollektivinteressen
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Doch obwohl wir, wenn wir „Gemeinwohl“, „öffentliches Interesse“ oder „Allgemeininteresse“ sagen, nicht immer dasselbe meinen, ist er, denke ich, nicht nur ein rhetorischer Topos, der zu Verschleierungszwecken eingesetzt wird. Zumindest lassen sich durchaus einige Gemeinwohlbegriffe formulieren, über deren Erfüllung vernünftig gestritten werden kann. Allzu viel sollte man von der politischen Theorie aber nicht erwarten. Auch sie muss, wie schon Aristoteles bemerkte, den Grad ihrer Präzision dem Gegenstand anpassen.304 Doch es besteht kein Grund, die eigenen Überzeugungen in Bezug auf das Gemeinwohl in rein subjektive Präferenzen und Phantasmen umzudeuten. Weder hyperrationalistische Hoffnungen noch resignativer Antirationalismus oder voreilige Affirmation „des Politischen“ sind daher angebracht. Die These lautet somit, dass eine völlige Rationalisierung des öffentlichen Interesses, welche seine Bestimmung zu einer bloßen Rechenaufgabe machen würde, an unüberwindbaren Hindernissen scheitert, dass sich ein moderater Rationalismus aber durchaus aufrechterhalten lässt. Auch der Gemeinwohldiskurs kann bis zu einem gewissen Grad rational strukturiert sein – aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Ich sehe, wie gesagt, keinen Grund zur Annahme, es könne nur einen Begriff des Gemeinwohls oder des öffentlichen Interesses geben. Tatsächlich scheinen mehrere infrage zu kommen. Natürlich wird, wer nicht gerade extravaganten Volksgeistmetaphysiken anhängt, geneigt sein, Kollektivinteressen irgendwie auf Individualinteressen zurückzuführen. Aber je stärker die Idealisierungen, die man dabei vornimmt, und je strenger die Gerechtigkeitsanforderungen an die gemeinschaftsinterne Verteilung von Gütern und Lasten, desto schwächer der aggregative Charakter des Kollek tivinteressenbegriffs. Der Schein einer strikten Aggregativität von demokratiekompatiblen Gemeinwohlkonzeptionen verdankt sich der Tatsache, dass diese in einer Demokratie nämlich mehrheitsfähig sein müssen. Sehen wir uns einige Gemeinwohlkriterien etwas genauer an. Ihre Plausibilität variiert natürlich mit Kontext der Anwendung. Und zweifellos sind weitere denkbar. Im Folgenden ist mir aber weder an einer vollständigen Auflistung aller Kriterien gelegen noch an einer erschöpfenden Analyse der angeführten. Dass es zum Begriff des Gemeinwohls und den einzelnen Kriterien viel mehr zu sagen gäbe, versteht sich von selbst. Der Einfachheit halber gehe ich außerdem – schwach aristotelisch – davon aus, dass mit „Nutzen“, „Vorteil“ und „Wohl“ immer schon moralisch nicht völlig illegitime Zustände gemeint sind. Wie man sein individuelles Wohl durch krasse Ungerechtigkeiten nicht wirklich befördert, so beeinträchtigen eklatante the situation of that subgroup in some respect such as pleasure, wealth, fame, status, or power“ (Alchemies of the Mind, 340) könnte zu dem Schluss verleiten, dass die Rede von einem Allgemeininteresse immer schon an einem inneren Wider spruch laboriert. 304 Siehe Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, 3. Aufl., München 1998, 106f.
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II. Interesse
moralische „Schieflagen“ auch das Gemeinwohl. Wenn das Gemeinwohl zur Diskussion steht, geht es aber nicht bloß um Gerechtigkeit im Verhältnis zu anderen Gemeinschaften. Es geht immer auch um Gerechtigkeit im Inneren. Wenn ein Individuum von seiner Autonomie Gebrauch macht, kann es dabei mehr oder weniger vernünftig vorgehen. Es kann sich aber kaum selbst buchstäblich ungerecht behandeln. Allenfalls täuscht es sich über die Grenzen seiner Autonomie oder unterschätzt seinen eigenen Wert. Man denke nur an den Sklaven, der die Ideologie der Sklavenhalter internalisiert hat.305 Wenn hingegen eine Gemeinschaft im Wege kollektiven Handelns von ihrer Autonomie Gebrauch macht, verändern sich in der Regel zugleich die Beziehungen zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern. Und damit wird aus dem Gemeinwohldiskurs unweigerlich ein Gerechtigkeitsdiskurs. Diesem Aspekt tragen nicht alle plausiblen Gemeinwohlkriterien gleichermaßen Rechnung. Weiters soll unter einer „politischen Maßnahme“ die Instituierung einer Regel verstanden werden, ob sie nun rechtlicher oder sonstiger Natur ist. Eine singuläre Maßnahme, etwa die Entscheidung für einen Kriegseintritt, fällt nur insoweit unter diesen Begriff, als sie einen Präzedenzfall schafft, der eine gewisse Gravitationskraft entfalten kann, mithin das argumentative Koordinatensystem verändert.306 Beginnen wir mit dem einfachsten, gleichzeitig aber am schwierigsten zu erfüllenden Kriterium: (G0) Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn sie allen Gemeinschaftsmitgliedern zum Vorteil gereicht. Und sie dient dem Gemeinwohl umso mehr, je mehr Vorteile sie den Gemeinschaftsmitgliedern bringt.
In größeren Gemeinschaften dürfte dieses Kriterium so gut wie nie zu erfüllen sein. Denn mit fast jeder politischen und also kollektiv verbindlichen Entscheidung wird es wenigstens Gewinner und Verlierer geben. Allenfalls können (rechtliche) Rahmenbedingungen geschaffen werden, die langfristig Gemeinwohlsteigerungen bewirken. Ähnlich würde es sich mit einem etwas modifizierten Kriterium verhalten, wonach zumindest eine Person von der Zustandsveränderung profitieren muss, ohne dass eine ande305
Andererseits: Wenn wir unser Leben als Abfolge gar nicht oder nur schwach integrierter Identitäten ansehen, dann können wir uns auch auf die kantianische Vorstellung von Pflichten gegenüber sich selbst einen neuen Reim machen. Demnach wären wir unserem zukünftigen Selbst ähnlich verpflichtet wie anderen Personen. Unkluge Entscheidungen wären, so betrachtet, vielleicht nicht durch und durch irrational, aber moralisch falsch. Siehe dazu Derek Parfit, Reasons and Persons, 318ff. 306 Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Einrichtung des Nürnberger Straftribunals, welche – aus formal-juristischer Sicht – zunächst durchaus fragwürdig anmuten konnte, aber für die weitere Entwicklung des Kriegsvölkerrechts von immenser Bedeutung war.
7. Individual- und Kollektivinteressen
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re einen Nachteil erleidet.307 Dennoch bliebe das Kriterium recht einfach. Berücksicht man aber noch Präferenzen oder Interessen in Bezug auf relative Positionen, dann wird alles um einiges komplexer. Wenn mein Nachbar aufgrund einer politischen Maßnahme ein höheres Einkommen erzielt und mich an Wohlstand bald schon weit übertrifft, dann fühle ich mich vielleicht deutlich im Nachteil. Das könnte man im politischen Diskurs zunächst ignorieren. Doch werden die ökonomischen Ungleichheiten jedenfalls dann zu einem politischen Problem, wenn sie sich in politische und „kulturelle“ Ungleichheiten übersetzen, wenn sie also mit einer allzu augenfälligen Ungleichverteilung von politischer Macht, Bildungschancen und anderer Grundgüter einhergehen. Unklar bleibt bei der Rede von den (individuellen) Vorteilen auch, ob damit Nettovorteile gemeint sind oder ob es genügt, dass die Gemeinschafts mitglieder in irgendeiner Hinsicht von der fraglichen Maßnahme profitieren. In letzterem Falle wäre der Anwendungsbereich von G0 stark erweitert. Das Kriterium könnte dann auch durch politische Entscheidungen erfüllt werden, die bei einigen Mitgliedern der Gemeinschaft mehr Kosten als Nutzen verursachen – sofern sie nur bei den Verlierern überhaupt einen Nutzen stiften. Wie immer man es interpretiert, G0 verlangt nicht sonderlich viel Gemeinsinn von den Einzelnen.308 Dementsprechend ist auch nicht mit großen Widerständen gegen eine Politik zu rechnen, die dieses Kriterium erfüllt. Ein gewisser Grundgemeinsinn ist aber unabdingbar. Andernfalls wäre nicht einmal dann sicher gestellt, dass ein so verstandenes kollektives Interesse auch tatsächlich verfolgt wird, wenn niemand an der allgemeine Vorteilhaftigkeit zweifeln würde. Wir wären dann, wie die ökonomische Analyse kollektiven Handelns gezeigt hat, auf selektive individueller Anreize angewiesen, die vom kollektiven Interesse verschieden sind, zumal es für den Einzelnen in mancherlei Hinsicht besser ist, von der Kooperation anderer zu profitieren, ohne zu den Kosten beizutragen. Mit anderen Worten: Wir sind immer von Motiven abhängig, die über das individuelle Kosten/Nutzen-Kalkül hinausgehen. Nicht selten sind das (ideologische) Überzeugungen und damit verbundene Hoffnungen, welche aber ihrerseits von den Erfolgsaussichten abhängen. Je höher die Erfolgswahrscheinlichkeit des kollektiven Projekts, desto größer und breiter das individuelle Engagement der Überzeugten.309 (Umgekehrt aber gilt auch, dass der Inhalt politischer Überzeugungen davon 307
G0 in dieser geringfügig modifizierten Version lautet also: „Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn sie zumindest einem Gemeinschaftsmitglied zum Vorteil gereicht, ohne dass irgendein anderes einen Nachteil erleidet.“ 308 „Gemeinsinn“ ist natürlich ein ausgesprochen vager Begriff, der Solidarität aufgrund starker wechselseitiger Identifikation genauso umfasst wie Opferbereitschaft aufgrund universalistisch angelegter moralischer Erwägungen. 309 Siehe Brian Barry, Sociologists, Economists and Democracy, 39f.
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II. Interesse
abhängt, was für möglich oder wahrscheinlich gehalten wird. Deshalb ist das erste Ziel oppositioneller politischer Arbeit typischerweise die Subversion der jeweils etablierten Sachzwangrhetorik. Darin besteht zweifellos eine Dimension von „Emanzipation“.310) Ein, was den erforderlichen Gemeinsinn betrifft, etwas anspruchsvolleres Gemeinwohl-Kriterium lässt sich aus einer qualifizierten Konvergenztheorie ableiten. Demnach müssen die politischen Akteure Unsicherheit simulieren.311 Sie müssten sich vorstellen, dass die einzelnen Gemeinschaftsmitglieder nicht wissen, welches Schicksal ihnen noch widerfahren wird. Jene Entscheidung wäre dann als durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt bzw. gemeinwohldienlich anzusehen, die man vom Standpunkt aller möglichen Lagen aus akzeptieren könnte. Wir hätten somit ein weiteres Kriterium: (G1) Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn die einzelnen auf ihren eigenen Vorteil bedachten Gemeinschaftsmitglieder sie unter Bedingungen der Unsicherheit akzeptieren können. Und sie dient umso mehr dem Gemeinwohl, je größer dieser Vorteil auszufallen verspricht.
Mit G1 wird der Gemeinsinn-Zumutung ebenfalls dadurch eine Grenze gezogen, dass das Gemeinwohl an einen Konsens geknüpft wird. Zwar wird die Grenze durch die Bedingung der Unsicherheit stark aufgeweicht, doch wird, wer wohlhabend, weiß, männlich und heterosexuell ist, kaum annehmen, dass es hinreichend wahrscheinlich ist, diese Eigenschaften einmal zu verlieren.312 Sehr viel an (hypothetischem) Konsens dürfte sich mit der Unsicherheitsbedingung also nicht sicherstellen lassen. Etwas mehr gibt ein Kriterium her, das gar nicht darauf abstellt, ob sämtliche Gemeinschaftsmitglieder – unter welchen Bedingungen auch immer – in irgendeiner Hinsicht profitieren, sondern sich mit einer Mehrheit von Gewinnern begnügt: (G2) Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn sie der Mehrheit der Gemeinschaftsmitglieder zum Vorteil gereicht. Und sie dient dem Gemeinwohl umso mehr, je deutlicher die Vorteile der Mehrheit die Nachteile der Minderheit überwiegen.
Dieses Kriterium entspricht wohl am besten den spontanen Inituitionen der meisten Demokraten, auch und gerade dann, wenn sie einen eher subjektivistischen Interessenbegriff vertreten – freilich nur unter der Voraussetzung, dass „Vorteil“ Nettovorteil bedeutet. Zwar ist dieses zunächst wieder nichts weiter als ein Aggregat individueller Vorteile, G2 schließt aber – wie auch G0 und G1 – Diskussionen und Dissens keineswegs aus. Zumindest kann darüber gestritten werden, ob bestimmte Maßnahmen geeignet sind, die 310
„Emanzipation“ ist mithin ein klassischer leerer Signifikant im Sinne der Laclau’schen Diskurstheorie. 311 Brian Barry, Political Argument, 196f. 312 Ebd., 200.
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Interessen der Mehrheit zu befördern. Tatsächlich schließt das Kriterium aber auch Debatten darüber nicht aus, was die wahren Interessen der Gemeinschaftsmitglieder eigentlich sind. Es verträgt sich also durchaus mit einem objektivistischeren Interessenbegriff und beruht auch nicht auf einem trocken administrativen Politikverständnis. Allerdings sind die um ein so definiertes Gemeinwohl kämpfenden politischen Akteure nach wie vor nur Mitglieder einer Gemeinschaft in einem nicht allzu starken Sinne, vor allem wenn die jeweiligen Verlierer damit rechnen können, nicht dauernd zu verlieren. Deshalb wird das Kriterium der semantischen Fülle des Gemeinwohlsbegriffs auch nicht vollends gerecht. Mit G2 verwandt, wiewohl nicht identisch, ist das utilitaristische Kriterium: (G3) Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn die Gesamtsumme der durch sie hervorgebrachten Nutzen innerhalb der Gemeinschaft die Gesamtsumme der Kosten übersteigt. Und sie dient dem Gemeinwohl umso mehr, je höher die Gesamtsumme des durch sie hervorgebrachten Nutzens ausfällt.
Auch dieses Kriterium verlangt nicht mehr, dass alle Gemeinschaftsmitglieder (in irgendeiner Hinsicht) profitieren. Genauso wenig verlangt es aber, dass die Mehrheit profitiert. Wenn der Nutzen der Minderheit nur hinreichend groß ist, steht er für das Wohl der gesamten Gemeinschaft. Damit stellt sich allerdings die Frage, weshalb diejenigen, die mit ihren Interessen unterliegen, der Maßnahme zustimmen sollten. G2 konnte noch auf ein gewöhnliches demokratisches Ethos, welches die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips einschließt, bauen; G3 kann das nicht mehr – jedenfalls nicht ohne weiteres. Es scheint, wenigstens auf den ersten Blick, vielmehr eine ziemlich radikale Entindivualisierung zu verlangen, insofern die Betonung auf „Nutzen“ und nicht „individuell“ liegt. Dafür hat G3, soweit das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens gilt, egalitäre Verteilungsgerechtigkeitserwägungen im engeren Sinne auf seiner Seite. Es mutet den Einzelnen deutlich mehr Gemeinsinn zu als die beiden anderen Kriterien, indem es recht umfangreiche Solidaritätspflichten nahe legt. Insbesondere lassen sich mit ihm Steuersysteme rechtfertigen, die signifikante Umverteilungen von den Vermögenden zu den weniger Vermögenden bewirken. Allerdings gilt dies nur, wenn und soweit die fraglichen Güter (etwa Geld) von umso geringerem Nutzen für einen sind, je mehr von ihnen man bereits besitzt. Wie schon bei den anderen Kriterien hängt auch hier vieles davon ab, welchen Nutzen- oder Interessenbegriff wir dem Kalkül zugrunde legen. Vor allem hängt davon ab, inwieweit die Gemeinwohlorientierung eine Debatte zulässt bzw. auf bloßes Aggregieren bestehender Präferenzen und resultierender Nutzen hinaus läuft. Auf Gerechtigkeit bezogenen Einwände kann freilich immer entgegengehalten werden, dass Gemeinwohlkriterien
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ohnehin nur innerhalb der von der Gerechtigkeit gezogenen Grenzen zur Anwendung kommen können. (Ich komme darauf noch zurück.) Das offensichtlichste Problem von G3 ist ein praktisches. Nimmt man das Kriterium ernst, so benötigt man eine Unmenge von Informationen und ziemlich effiziente Methoden des interpersonellen Nutzenvergleichs.313 G0 bis G3 liegt ein Verständnis zugrunde, wonach sich das Gemeinwohl aus lauter individuellen oder einzelnen Nutzen zusammensetzt. Unter bestimmten Bedingungen, in bestimmten Entscheidungskontexten, scheint das öffentliche Interesse tatsächlich nicht viel mehr als ein Aggregat gegebener und womöglich wenig reflektierter individueller Interessen zu sein. Aber eine politische Gemeinschaft kann sich nicht immer mit einer bloßen Aggregation begnügen, zumindest nicht mit einer Aggregation kontingenter Präferenzen. Schließlich kann schon die Tatsache, dass die meisten der einzelnen Akteure diese und nicht andere Präferenzen haben, dem öffentlichen Interesse oder Gemeinwohl abträglich sein. Es muss also nicht deshalb im öffentlichen Interesse liegen, dass der immer weiter gehenden Absorption des Kultur- und Mediensystems durch den Markt entgegengesteuert wird, weil durch die Ökonomisierung bestehende Präferenzen nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden könnten. Das öffentliche Interesse könnte auch dadurch beeinträchtigt sein, dass die Gemeinschaftsmitglieder in einer Marktgesellschaft immer anspruchsloser werden und der intellektuellen Ressourcen für halbwegs niveauvolle Auseinandersetzungen um die Zukunft der Gemeinschaft verlustig gehen. Womöglich bis Werte wie Solidarität und Menschenwürde als etwas erscheinen, für das einzutreten lächerlich pathetisch anmutet. So meint David Gauthier: Market society frees individuals from particular affective and coercive bonds. In real quasi-market societies there is a temptation, manifest both in thought and practice, to see the entire social world as falling within the scope of the market, and thus as free from all forms of constraint. On the one hand the ideal of a moral ly free zone is extended to embrace all social interaction, and on the other hand all human relationships are interpreted as self-interestedly contractual, lacking in interpersonal concern. Thus neither the need for moral and political constraints nor the possibility of genuinely affective human ties is sufficiently recognized.314
Insofern Individuen nicht nur private Interessen verfolgen, sondern sich einen Rest von politischem Bewusstsein bewahrt haben, sind sie noch für Argumente zugänglich, die ein öffentliches Interesse formulieren, welches 313
Interpersonelle Nutzenvergleiche werden von manchen sogar für prinzipiell unmöglich gehalten. Doch auch wenn man diesbezüglich weniger pessimistisch ist und die Auffassung vertritt, dass bereits jede Zuschreibung von Präferenzen einen solchen Vergleich impliziert, wird man einräumen müssen, dass wir hier ein Problem haben. Siehe dazu Jon Elster/John E. Roemer (eds.), Interpersonal Comparisons of Well-Being, Cambridge 1991. 314 David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986, 102.
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mehr ist als ein Aggregat aus gerade vorhandenen Präferenzen. Tatsächlich unterscheiden die meisten zwischen ihren privaten und ihren politischen Präferenzen. Bürger und Konsumenten, so Cass Sunstein, wollen nicht dasselbe: Some people may, for example, support nonentertainment broadcasting on television, even though their own consumption patterns favor situation comedies …. The choices people make as political participants are different from those they make as consumers. As political participants, people are choosing for the collectivity rather than for individuals; they are not choosing the same „thing“ as they choose in markets. For this reason, the resulting choice may well be different. Democracy thus calls for an intrusion on markets.315
Diesem Phänomen können die oben erwähnten Gemeinwohlkriterien durchaus gerecht werden. Dazu müsste man nur objektivistischere Begriffe von „Vorteil“ und „Nutzen“ verwenden, vor allem aber weniger auf beliebige Präferenzen abstellen, wie stark sie auch immer sein mögen, als vielmehr auf wahre Interessen bzw. das kritische Wohl. Und unter günstigen Bedingungen einer demokratischen Öffentlichkeit werden wahre Interessen auch als Präferenzen artikuliert, eben als politische. Gleichwohl ist ein Gemeinwohlbegriff denkbar, der insofern noch anspruchsvoller ist, als er eine an die Verteilungsgerechtigkeit angelehnte Struktur aufweist. Über den Rekurs auf kritische bzw. wahre Interessen allein mögen zwar bereits gewisse ethische Erwägungen Eingang in den Gemeinwohldiskurs finden, doch bleibt deren Gerechtigkeitsbezug relativ schwach. Freilich läuft der an die Verteilungsgerechtigkeit angelehnte Gemeinwohl begriff auch auf eine weiter gehende Aufweichung des individualistischen Paradigmas hinaus als die anderen. Wir gelangen zu ihm nämlich, indem wir – ähnlich wie Rawls für seine Gerechtigkeitsprinzipien – eine Entscheidung hinter einem Schleier der Unwissenheit simulieren. Das heißt, wir stellen uns wieder Personen vor, die über ihre eigene Position in der Gesellschaft nichts wissen. Sie verfügen aber über eine gemeinsame Identität als Mitglieder ein und derselben Gemeinschaft. Vor allem wissen sie, dass ihre wahren Interessen und ihr kritisches Wohl enger mit dem Kooperations- und Solidarzusammenhang, der die fragliche Gemeinschaft mehr oder weniger ist, verbunden sind als das Wohl von „Fremden“. Sie haben ein unmittelbareres Interesse an der gerechten Verteilung von Gütern und Lasten, an der Vermeidung von Grundrechtsverletzungen, an einem funktionstüchtigen öffentlichen Verkehrsnetz, an öffentlicher Sicherheit, sozialem Frieden, an einem gewissen Kunstangebot und einem angemessenen demokratischen Diskursniveau innerhalb der Gemeinschaft als andere. Was sie nicht wissen, ist lediglich, wo jeder Einzelne von ihnen innerhalb der Gemeinschaft steht und welche Präferenzen er gerade hat. Unter diesen Bedingungen, können wir annehmen, werden sie sich vernünftigerweise auf folgendes Kriterium einigen: 315
Cass R. Sunstein, Free Markets and Social Justice, New York/Oxford 1997, 21.
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(G4) Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn die aus ihr resultierende Beeinträchtigung des kritischen Wohls der durch sie am meisten benachteiligten Gemeinschaftsmitglieder weniger stark ausfällt als die Beeinträchtigung des kritischen Wohls der durch die Unterlassung der Maßnahme am meisten benachteiligten Gemeinschaftsmitglieder. Und sie dient umso mehr dem Gemeinwohl, je weniger stark sie im Vergleich zu ihrer Unterlassung das kritische Wohl der am meisten benachteiligten Gemeinschaftsmitglieder beeinträchtigt.
Eine Beeinträchtigung des kritischen Wohls von Gemeinschaftsmitgliedern kann demnach auch darin liegen, dass eine Maßnahme unterlassen wird, die deren Interessen befriedigen würde. Zu beurteilen ist also immer eine Entscheidung, eine Entscheidung für eine Maßnahme oder deren Unterlassung, ob Letzteres nun Nichtstun bedeutet oder die Entscheidung für eine alternative Maßnahme. Mit anderen Worten, wir verzichten auf die Annahme eines natürlichen Ausgangszustands. Politische Untätigkeit gilt als nicht weniger unnatürlich als die Entscheidung für eine bestimmte Maßnahme. Allerdings liegt hier eine, wenn auch nur minimale Asymmetrie vor: Ceteris paribus scheint in den meisten Fällen die Beeinträchtigung des Wohls durch Nichtbeförderung weniger gravierend als die Beeinträchtigung durch aktives Tun. Jedenfalls gilt dies, soweit Gewöhnungseffekte und damit verbundene Erwartungen eine Rolle spielen. So wird eine plötzliche Einkommensreduktion typischerweise als größere Belastung empfunden als das Ausbleiben einer bloß möglichen Einkommenserhöhung. Deshalb lässt sich G4 auch nicht einfacher formulieren, ohne nennenswert an Klarheit einzubüßen, etwa folgendermaßen: „Eine Maßnahme dient dem Gemeinwohl, wenn sie das kritische Wohl der größten Gewinner stärker befördert, als sie dasjenige der größten Verlierer beeinträchtigt.“ In diesem Fall müsste zumindest hinzugefügt werden, dass eine aktive Beeinträchtigung des Wohls nicht unbedingt dasselbe ist wie dessen Nichtbeförderung. Wie Rawls müssen auch wir auf Klassen von Gewinnern und Verlierern abstellen, wenn das Kriterium praktische Relevanz entfalten können soll. Und selbstverständlich kann darüber gestritten werden, wie man diese Klassen definiert. Anders als beim Rawls’schen Differenzprinzip interessiert uns hier jedoch nicht die absolute Position des am schlechtesten Gestellten. Mit „Belastung“ ist vielmehr eine Verminderung des kritischen Wohlergehens gemeint. Die Anwendung dieses Kriteriums garantiert daher auch keinen gerechten sozialen Zustand. Trotz seiner starken moralischen Imprägnierung ist das Kriterium noch immer eines des Gemeinwohls. Die existierende Gemeinschaft dient als Ausgangspunkt. Jedoch spielt die bloße Faktizität für an G4 ausgerichtete Gemeinwohlerwägungen eine deutlich geringere Rolle als für Effizienzerwägungen oder an solche stark assimilierte Gemeinwohlerwägungen. Thema von Gerechtigkeitsoder Gleichheitserwägungen wäre, ob eine Benachteilung bestimm-
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ter Personen gegenüber anderen zulässig oder gar geboten ist, während Gemeinwohldiskussionen nach G4 um die Frage kreisen, ob die Befriedigung bestimmter Interessen das kritische Wohl der dadurch am meisten Benachteiligten stärker beeinträchtigt, als der Verzicht auf sie das kritische Wohl der durch ihn am stärksten Benachteiligten beeinträchtigt. (Im Übrigen dürfte klar sein, dass wir ein Kriterium wie G4 nur dann benötigen, wenn die wahren Interessen der Gemeinschaftsmitglieder nicht ohnehin vollständig harmonieren; das wiederum tun sie so gut wie.) Gemeinwohlüberlegungen erscheinen daher prinzipiell konservativer als Gerechtigkeitserwägungen. Das heißt, sie bleiben noch stärker auf den Status quo der Gemeinschaft bezogen. Allerdings weniger stark als Effizienzerwägungen, die lediglich auf tatsächlich bestehende Präferenzen und nicht auf ethisch reflektierte, kritische Interessen abstellen. Mithin bestimmen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlkriterien, wo und inwieweit Effizienzerwägungen zum Tragen kommen können; der Anwendungsbereich von Gemeinwohlargumenten, die für die Realisierung eines moralisch suboptimalen Zustands sprechen, wird durch die Gerechtigkeit limitiert. Doch nicht immer ist das moralische Optimum im strengsten Sinne (also Gewalt legitimierenden Sinne) moralisch geboten. Schließlich hält die Gerechtigkeit für Individuen und Gemeinschaften auch das Recht bereit, sich nicht jederzeit von den hehrsten Motiven leiten zu lassen. Am Ende sei noch auf eine Komplikation hingewiesen: Zwar genießt die Gerechtigkeit insofern ein Primat gegenüber dem Gemeinwohl, als sie mitunter Maßnahmen rechtfertigt oder gar fordert, die sämtliche plausiblen Gemeinwohlkriterien verletzen. Jedoch haben Gemeinwohlerwägungen im Gerechtigkeitsdiskurs nicht selten eine supplementierende Funktion. Denken wir nur an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen mit dem Argument, sie seien den Benachteiligten „zumutbar“. Was zumutbar ist, kann davon abhängen, was im Allgemeininteresse liegt. Denken wir nur an folgende Regelung: X verdient gleichviel wie Y, muss aber weniger Steuern zahlen, weil er die Kosten für den Bau eines Eigenheims absetzen kann. Die Regelung soll die Baukonjunktur ankurbeln. Ob eine derartige Differenzierung in der Besteuerung von Einkommen gerechtfertigt ist, hängt auch und zuerst davon ab, ob eine Belebung der Baukonjunktur das Gemeinwohl befördert und ob die Absetzbarkeit von Investitionen in ein Eigenheim ein geeignetes und erforderliches Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen. Zweifellos sind noch wesentlich kniffligere Fälle einer Verschränkung dieser Diskurse denkbar. Und oft wird sich nicht nur tatsächlicher Konsens als ausgesprochen unwahrscheinlich erweisen, sondern Grund zur Annahme bestehen, dass überhaupt keine einzig korrekte Lösung existiert. Zudem ist sowohl unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls als auch unter dem der Gerechtigkeit auf die Intensität des bestehenden Dissenses Bedacht zu nehmen. Denn wie wir gesehen haben, wohnt auch kritischen Interessen übli-
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II. Interesse
cherweise ein subjektives Moment inne. „Zweitbeste Lösungen“ erscheinen daher nicht selten als die besten, die sich realisieren lassen. Alles andere wäre perfektionistischer Dogmatismus. Macht, Interessen und Pragmatik bleiben somit auch für die Politik von Objektivisten, sogar in einer Gesellschaft aus lauter aufgeklärten, moralisch integren und ernsthaften politischen Akteuren bestimmende Faktoren.
8. Resümee Realisten, die dem Objektivitätsgedanken in der Politik skeptisch gegenüber stehen, verweisen für gewöhnlich auf die Rolle der sozialen Macht. Der Machtbegriff wiederum ist eng verknüpft mit dem des Interesses. Und je nachdem, wie weit das Interesse an kontingente subjektive Präferenzen und Geschmäcker assimiliert wird, gelangt man zu einem mehr oder weniger ausgewogenen Bild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Wer etwa Interessen mit dem gleichsetzt, was Individuen oder kollektive Akteure tatsächlich wollen, wird wesentlich weniger Machtungleichgewichte feststellen als jemand, der Interessen einen objektiven Gehalt zubilligt und meint, dass man zur Bestimmung dieses Gehalts auf Vorstellungen vom (objektiv) Guten angewiesen ist. Die Tatsache, dass jemand die und die Wünsche hat und sie auch gegen Widerstände anderer realisieren kann, ist für Letzteren kein Grund zur Annahme, dass diese Person nicht in signifikantem Maße der Macht anderer unterworfen ist. Schließlich definiert sich für den Objektivisten das Interesse einer Person gerade dadurch, dass es unerkannt bleiben oder missverstanden werden kann – auch wenn wir uns nicht alle ständig über unsere Interessen täuschen können. Soweit Realisten es nur auf die Erklärung politischer Prozesse abgesehen haben und dazu auf die Interessen der Akteure rekurrieren, müssen sie aber noch nicht antiobjektivistisch argumentieren. Sie können die Objektivität der verhandelten Interessen auch aus dem den Akteuren vorgegebenen sozialen Kontext ableiten. Auf diese Weise scheinen sie wenigstens um die Postulierung der Möglichkeit von ethischer Objektivität herumzukommen. Wenn aber die Grenzen des sozialen Kontexts und damit die soziale Identität der Akteure zu verschwimmen beginnen, neigen viele von ihnen spontan zur Annahme, dass Objektivitätsunterstellungen auch nicht mehr weiter helfen. Denn was nützt es zu wissen (zu glauben, dass man weiß), was für jemanden objektiv gut ist, wenn diese Person ganz andere Vorstellungen davon hat? Tatsächlich setzt aber bereits die Möglichkeit einer Zuschreibung von tatsächlichen subjektiven Präferenzen einen recht breiten Konsens in Bezug auf das Gute voraus. Und je mehr wir vom
8. Resümee
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Anderen und dessen Lebensumständen wissen, desto eher werden wir mit unseren Zuschreibungen richtig liegen. Das heißt, bei der Interpretation der Handlungen anderer stützen wir uns – bewusst oder unbewusst – immer schon auf das, was wir für gut halten, und nicht bloß auf das, was wir uns gerade wünschen. Ja, von dem, was wir uns gerade für uns selbst wünschen, können wir durchaus glauben, dass es eigentlich unseren Interessen zuwider läuft. Der Präferenzbegriff ist weiter als der Interessenbegriff, zumindest weiter als der Begriff des Eigeninteresses. Zum einen umfasst er auch das Motiv der Normbefolgung, und zum anderen noch Leidenschaften, denen nicht nachzugeben wir uns bisweilen eben deshalb größte Mühe geben, weil dies unser Leben – nach eigenem Dafürhalten – schlechter machen würde. Gleichwohl kann der Objektivist in Bezug auf menschliche Interessen durchaus die Vielfalt menschlicher Interessen und ein subjektives Moment bei ihrer Bestimmung zur Kenntnis nehmen. Viele Werte bedürfen nämlich zu ihrer vollständigen Realisierung der subjektiven Anerkennung. Dass diese Anerkennung ihrerseits nicht in dem Sinne autonom sein kann, dass sie in einem völlig unvermachteten sozialen Raum erfolgt, spricht nicht gegen die Idee wahrer und objektiver Interessen. Es bedeutet nur, dass wir bei der Bestimmung wahrer Interessen von Individuen nicht gänzlich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abstrahieren können, auch wenn der Begriff des wahren Interesses über den existierenden institutionellen Rahmen hinausweist. Politisiert werden partikulare Interessen nicht einfach dadurch, dass sie öffentlich verfolgt werden, sondern dadurch, dass sie universalisiert werden – entweder direkt oder indirekt. Das heißt, entweder wird die Befriedigung des Interesses als etwas ausgegeben, das in jedermanns Interesse liegt; oder – und das ist der typische Fall – als etwas, das dem Gemeinwohl dient oder Gebot einer in den vorhandenen Institutionen unvollständig materialisierten Gerechtigkeit ist. In jedem Fall wird das partikulare Interesse mit etwas Größerem/Höherem verknüpft. Nun gehört aber der Begriff des Gemeinwohls zu jenen, über dessen Erfüllung sich nach verbreiteter Auffassung besonders schwer diskutieren lässt. Für Antiobjektivisten ist es damit beschlossene Sache, dass Politisierung als ein geradezu paradigmatisch a- oder gar irrationales Unternehmen angesehen werden muss. Doch auch dieses Urteil erweist sich bei näherer Betrachtung als etwas vorschnell. Zwar wird sich schwerlich ein Gemeinwohlalgorithmus finden lassen, doch für gewisse rationale Explikationen ist der Begriff des kollektiven Interesses durchaus zugänglich. Mehr benötigt der Objektivist nicht, um seinen Standpunkt, dass es wahre und falsche Aussagen über das gibt, was dem Gemeinwohl dient, zu verteidigen. Von einem durch und durch rationalen Konsens in umstrittenen politischen Fragen träumt er jedenfalls nicht. Zumal das Gemeinwohl nicht der einzige relevante Legitimitätsmaßstab ist, sondern der Gerechtigkeit
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II. Interesse
untergeordnet bleibt, dabei diese aber gleichzeitig supplementiert. Denn ob eine politische Entscheidung bzw. ein institutionelles Arrangement gerecht ist, hängt nicht selten davon ab, ob damit dem Gemeinwohl gedient ist oder nicht.
Nachtrag: Symbolpolitik – Wie aus moralischem Ernst politischer Unernst werden kann
Politischer Ernst und Objektivismus sind, wie ich zu zeigen versucht habe, auf keine allzu extravaganten ontologischen Annahmen angewiesen. Der Objektivist assimiliert als solcher weder Werte an natürliche Objekte noch die Gesellschaft an die Natur. Insbesondere muss er nicht annehmen, dass die Gültigkeit von Aussagen über individuelle Interessen, das Gemeinwohl oder die soziale Gerechtigkeit nicht von allerlei sozialen Rahmenbedingungen abhängt. Und genauso wenig muss er annehmen, dass sich für gesellschaftliche Entwicklungen strikte Kausalgesetze formulieren lassen. Der Objektivist weiß um seine epistemische Beschränktheit Bescheid; er glaubt nicht unbedingt an die Möglichkeit von Letztbegründungen für irgendetwas, weder für seine empirischen noch für seine evaluativen und normativen Überzeugungen; er ist aber auch kein Antirationalist – ein moderater Rationalismus, der durchaus noch zwischen besser und schlechter begründeten Überzeugungen und politischen Programmen unterscheidet, ist eine wesentliche Implikation der objektivistischen Einstellung. Der Objektivismus steht also ohne weiteres im Einklang mit dem, was wir tagtäglich tun, wenn wir Wertungen vornehmen und Interessen (eigene wie fremde) bestimmen. Vor allem aber mutet er uns nicht zu, einen Großteil unserer Lebenspraxis als lediglich auf Illusionen gestützt anzusehen. Auf diese Weise, so scheint mir, kann er zur Festigung zivilisatorischer Standards beitragen – auch wenn er sie selbst nicht hervorzubringen oder zu definieren vermag. Für das spielerisch-strategische Moment der politischen Kommunikation bietet er durchaus Platz. Wenn er positive Wirkungen in einem System entfalten soll, in dem sich die Akteure von den Programmen, zu denen sie sich öffentlich bekennen, nicht immer hinreichend motivieren lassen, muss der Objektivist gelegentlich so agieren, als wüsste er nicht, dass es sich bei vielen großen Worten nur um hohle Phrasen handelt. So wird er nicht an den Menschenrechten zu zweifeln beginnen, wenn und weil diese von Entscheidungsträgern immer wieder zur bloßen Selbststilisierung und mitunter sogar zur Rechtfertigung groben politischen Unfugs benutzt werden. Damit wären wir bei der symbolischen Dimension der Politik und deren materiellen Effekten. Auch der ernsthafteste Objektivist beteiligt sich bisweilen an der Erzeugung eines Scheins. Damit geht er freilich, wie andere auch, das Risiko ein, den Schein über zu bewerten. Diejenigen, die das tun
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Nachtrag
und etwa allzu großen Wert auf eine „politisch korrekte“ Sprache legen, handeln zwar, so meine These, subjektiv ernsthaft, objektiv aber unernst. Sie handeln abergläubisch im landläufigen Sinne, d. h. ihr Glaube wird nicht von einem besseren Wissen begleitet. Objektiv unernst handeln sie, insoweit ihnen, ohne dass sie es bemerken, nicht an der Veränderung der Gesellschaft, sondern lediglich an der Versicherung gelegen ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Als die akademische Linke in den letzten Jahrzehnten ihre Felle davonschwimmen sah und mit materialistischer Klassenanalyse nichts mehr auszurichten vermochte, vollzog sie, wie schon oft moniert wurde, ihren eigenen „linguistic turn“ und wurde schöngeistig. Das Symbolische rückte vom Überbau ins Zentrum des Welt- und Gesellschaftsbildes; bisweilen wurde es mit dem Sozialen sogar gleichgesetzt. Anstatt Produktionsverhältnisse zu analysieren begann man, „Diskurse“, die „Kultur“ und „Zeichensysteme“ kritisch zu beleuchten.316 Die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wurden immer mehr der Rechten überlassen; in den Geisteswissenschaften durfte man sich dafür einer außerhalb der Akademie weitgehend folgenlosen Hegemonie erfreuen.317 Gleichzeitig hat es den Anschein, als ob auch die traditionelle Politik immer reflektierter mit Sprache und anderen Symbolen arbeiten würde. Wer sich von professionellen Beobachtern des politischen Geschehens nach einer TV-Konfrontation zwischen den Spitzen wahlwerbender Parteien erwartet, was man eine inhaltliche Analyse nennen könnte, wird nicht selten enttäuscht. Geboten werden eher Beurteilungen des „Auftretens“, der Kleidung, der Körperhaltung und rhetorischer Schachzüge. Das hat freilich auch damit zu tun, dass es oft allzu wenig Interessantes gibt, das sich inhaltlich analysieren ließe. Nicht ganz klar ist, ob nun alles komplizierter und subtiler geworden ist oder, im Gegenteil, platter und vordergründiger. Klar ist nur, dass Symbolen und ihren Effekten größere Aufmerksamkeit geschenkt wird, insbesondere der Sprache, wiewohl kaum ein Jahr vergeht, in dem die Phraseologie nicht um einige allgemein als grotesk erkannte Neuschöpfungen angereichert wird. So gilt in Österreich hartnäckige Kritik schnell als „Menschenhatz“, und an Ausländer werden mittlerweile „Einladungen“ ausgesprochen, wieder in die Heimat zurückzukehren. Wenn Repräsentanten politischer Parteien weithin als skandalös empfundene Äußerungen tätigen, glauben Parteifreunde, sich mit der bloßen Zurückweisung der Wortwahl aus der Affäre ziehen zu können – und haben damit oft tatsächlich Erfolg. Man distanziert sich in einwanderungs- und bevölkerungspolitischen Debatten beispielsweise von Ausdrücken wie 316
Für eine differenzierte und zugleich pointierte Analyse dieser Entwicklung siehe Terry Eagleton, After Theory. 317 Siehe z. B. Richard Rorty, Achieving Our Country: Leftist Thought in Twentieth Century America, Cambridge, Mass. 1997.
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„Umvolkung“ und bekräftigt zugleich die dahinter liegenden Bedenken. Die eigene Politik soll für Sorge um das „eigene Volk“ stehen, aber nicht mit Faschismus in Verbindung gebracht werden. Auf der anderen Seite rufen Verstöße gegen umstrittene Standards des geschlechtergerechten Formulierens nicht selten mehr Empörung hervor als Statistiken über das eklatante Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Symbolische Politik, so hat es manchmal den Anschein, ist die einzige Form der Politik, die angesichts der Dezimierung politischer Handlungsund Spielräume noch möglich ist. Für den altmodisch materialistischen Kritiker aber ist sie nicht nur eine Politik des Scheins, sondern letzten Endes nichts anderes als Scheinpolitik. Doch diese Schlussfolgerung gründet, wie unschwer gezeigt werden kann, auf eine allzu einfache Dichotomisierung von symbolischer und sonstiger Politik. Politik ist immer auch eine Politik der Symbole. Unernst und unglaubwürdig wird sie dann, wenn die Symbole beginnen, sich selbst zu genügen. Was das heißt, soll im Folgenden erläutert werden. Unter dem „Symbolischen“ verstehe ich dabei das „Reich der Zeichen“, den „Text“ (Jacques Derrida), die Sphäre der intentionalen Zustände, also jener Zustände, die sich auf etwas anderes beziehen: Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und Gefühle mit irgendeinem propositionalen Gehalt. Bloße Schmerzen, Nervosität, Unruhe oder Hochstimmung zählen nicht dazu. Bewusst müssen intentionale Zustände nicht sein. Die Koppelung des Symbolischen an das, was Menschen denken, hoffen, befürchten und wünschen, scheint mir deshalb legitim zu sein, weil dem Symbolischen unabhängig von menschlichen Symbolisierungsleistungen (beginnend mit Sprechen und Verstehen) keine Existenz zukommt. Alles andere würde auf eine ziemlich fragwürdige Ontologie hinauslaufen.318 Auf die öffentliche Dimension solcher intentionaler Zustände werde ich noch zu sprechen kommen. Besonders interessant, gerade im Hinblick auf unsere Fragestellung, sind die eingangs erörterten Zustände, die sich vielleicht als „uneigentliche intentionale Zustände“ bezeichnen lassen, Zustände wie das Haben von Überzeugungen, die man „eigentlich“ gar nicht hat. Um diese Phänomene angemessen analysieren zu können, benötigen wir – wie Pfaller zeigt – keine allzu aufwendige Metaphysik. Es genügt eine einigermaßen raffinierte psychoanalytische Theorie. Denn auch „Überzeugungen ohne Eigentümer“ sind keine mysteriösen frei flottierenden Entitäten, sondern lediglich Überzeugungen, die der Einzelne öffentlich vertritt und die sein Verhalten beeinflussen, nur eben ohne dass er von ihrer Wahrheit überzeugt ist. So kann ich – um noch einmal ein Beispiel Pfallers zu zitieren – ein Buch für „objektiv“ interessant halten und kaufen, ohne es jemals lesen zu wollen. Die Überzeugungen vieler säkularisierter Christen (etwa, dass am Karfreitag 318
Siehe John R. Searle, Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, Frankfurt/M. 1991, 15–19.
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Nachtrag
kein Fleisch gegessen werden dürfe) fallen ebenfalls in diese Kategorie. Das Paradigma für diese Form des uneigentlichen Glaubens ist die offenkundig falsche und lediglich öffentlich vertretene Überzeugung in Andersens Märchen, dass der Kaiser nicht nackt sei. Unter „Politik“ wiederum verstehe ich, wie zuvor, all jene Strategien („policies“) und Kämpfe („politics“), deren Gegenstand die Organisation der Gesellschaft als solcher oder nicht allzu kleiner gesellschaftlicher Subsysteme ist. Wobei das, was vorgeschlagen wird und durchgesetzt werden soll, für etwas anderes, Größeres, steht. Wo bestimmte Gruppen oder Personen die längste Zeit de-facto-Immunität genossen haben und straflos tun konnten, was sie wollten, kann sogar ein gewöhnlicher Akt der Rechtsanwendung ein politischer Akt sein. Das ist er, insofern er auf die Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse abzielt. Daraus folgt, dass Politik notwendig eine symbolische Dimension aufweist. (Oben haben wir in diesem Zusammenhang von „Ideologie“ gesprochen.) Dennoch verdient die Konjunktion „Symbolpolitik“, näher analysiert zu werden. Der Begriff wird verschieden gebraucht, hauptsächlich aber kritisch, um auf das absehbare Ausbleiben nennenswerter Auswirkungen von bestimmten politischen Interventionen hinzuweisen. Wobei weniger die schlichte Wirkungslosigkeit selbst den Vorwurf begründet als vielmehr die Erweckung des falschen Anscheins eines echten Gestaltungswillens oder Verantwortungsgefühls, eine Art politischer Unernst also. Auch im Fall der Instrumentalisierung des Gedenkens an die Opfer des Nazi-Regimes steht nicht das Symbolhafte per se zur Diskussion. Gegen ein pietätvolles Gedenken mitsamt den dazu nötigen Symbolisierungen wäre schwerlich etwas einzuwenden, insbesondere wenn dies einen antifaschistischen „Grundkonsens“ stärkt, dessen Verletzungen (durch bestimmte Diktionen) Sanktionen nach sich zieht. Was vielen problematisch erscheint, ist eher die dabei betriebene „Sekundärausbeutung der Opfer“ (Rudolf Burger) zwecks Herausstreichung des eigenen moralischen Überlegenheit, „Menschlichkeit“ und „Wärme“. Ähnlich verhält es sich mit jenem Vorwurf der Symbolpolitik, welcher sich gegen Maßnahmen richtet, deren absehbarer Effekt eher Ressourcenverschwendung und/oder Aushöhlung von „Problembewusstsein“ sind. In diesem Fall ist sein Gegenstand regelmäßig etwas, das man „ritualisierte Problematisierung“ nennen könnte. Darunter fallen z. B. Widmungen von Kalendertagen. So bekennen sich am Weltaidstag üblicherweise politische Akteure fast jeglicher ideologischen Ausrichtung zur Bedeutung des Kampfes gegen Aids und die Diskriminierung von Aidskranken, ohne irgendwelche besonderen Verpflichtungen einzugehen. Man könnte hier von spielerischen Bekenntnissen sprechen. Was solche Tage, an denen verstärkt Aufklärungsarbeit betrieben wird, die Massenmedien ausführlicher über das Problem, seine Ursachen und Auswirkungen berichten, darüber hinaus tatsächlich bewirken (ob auf die Weise sensibilisiert oder eher desensibilisiert wird), ist nicht ganz klar.
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Andererseits wird aber auch gerne betont, wie wichtig symbolische Politik ist, wie wichtig es ist, neue „Diskurse“ zu initiieren319, politische Maßnahmen in die richtigen Diskurse einzubetten oder, schlicht, sich gut zu verkaufen.320 So werden Diskussionen darüber, ob das Staatsvolk, dem man angehört, eine eigene Nation oder, wegen diverser „objektiver Merkmale“, eigentlich Teil einer anderen ist, besonders leidenschaftlich geführt. Wenn ein hoher politischer Funktionär etwa behauptet, die österreichische Nation sei eine „ideologische Missgeburt“ und gehöre in Wirklichkeit zur deutschen „Volks- und Kulturgemeinschaft“, so reagieren darauf auch jene pikiert, die ansonsten nicht viel für nationale Identifikationen übrig haben. Ihr – zweifellos plausibles – Argument lautet: Wozu eine nationale Identität auch immer gut ist, eine ethnizistische Selbstbeschreibung der Staatbürger als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft ist der empirischen Verpflichtungskraft liberaler und egalitärer Institutionen eher ab- als zuträglich. Um an eine nach wie vor aktuelle Debatte anzuknüpfen: In Österreich ist die Leugnung des Holocaust unter Strafe gestellt. Mit der Verhaftung und nachfolgenden Verurteilung des berüchtigten Geschichtsrevisionisten David Irving ist dieses Verbot wieder in die Diskussion geraten. Manche Liberale halten es für ausgemachten Unsinn, sowohl aus pragmatischer als auch aus moralischer Perspektive. Ihre Argumente lauten: (1) Leute wie Irving seien Spinner, die man durch Strafprozesse nicht aufwerten oder gar zu Märtyrern machen sollte. (2) Zudem sei es mit der Meinungsfreiheit unvereinbar, den Ausdruck von Überzeugungen über empirische Tatsachen mit staatlicher Zwangsgewalt zu unterbinden. (3) Jedenfalls aber stehe der Strafrahmen, nämlich ein bis zehn Jahre Freiheitsentzug, in keiner Relation zur Bedeutung des Delikts. Einige fügen dem noch (4) hinzu, dass falsche Überzeugungen 319
Freilich initiiert man einen Diskurs für gewöhnlich nicht, indem man ihn einfordert. 320 Wenn ein Regierungsmitglied in Gummistiefeln den Opfern einer Hochwasserkatastrophe bei Aufräumungsarbeiten „hilft“, hat das zwar per se für die Organisation der Gesellschaft und die Machtverhältnisse keinerlei Bedeutung. Aber es ist immerhin denkbar, dass dieses Regierungsmitglied damit seine Popularität oder die seiner Partei erhöht. Soweit dies beabsichtigt ist, haben wir es bereits mit Politik zu tun. Der Vorwurf, derartiges Verhalten sei bloß Symbolpolitik, kann dann nur bedeuten, dass es auf eine Erschleichung von Sympathie und Zustimmung hinauslaufe, dass seine Auswirkungen auf die Gesellschaft absehbar gering sind, es also eher der unlauteren Selbstinszenierung dient. Der prinzipiell vernünftige Kern eines solchen Symbolpolitik-Vorwurfs besteht also im Verdacht der Anbiederei und Unaufrichtigkeit im Interesse der Stimmenmaximierung. Wenn der Vorwurf sich direkt gegen die Verwendung von Zeichen der „Volksnähe“ und das Bestreben richtet, das eigene politische Projekt mit „Menschlichkeit“ und „unbürokratischer Solidarität“ zu assoziieren, ist er unvernünftig. Der Vorwurf muss vielmehr auf das „Wie“ abstellen. Zumindest demokratische Politik muss populär sein wollen.
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Nachtrag
nur mit Argumenten und Aufklärung bekämpft werden sollten. Zumindest (2) und (4) stehen insoweit auf wackligen Beinen, als sie die Leugnung des Holocaust als „bloße Meinung“ darstellen. Gewiss handelt es sich bei der Befürwortung strafrechtlicher Verfolgung von empirischen Aussagen über die Geschichte um Symbolpolitik der radikalsten Sorte. Und doch spiegelt sie weitaus weniger Idealismus wider als die Idee, falsche empirische Überzeugungen ließen sich immer mit Argumenten und wissenschaftlichen Beweisen wirkungsvoll bekämpfen, und die Ansicht, das Interesse an der Freiheit der Meinungsäußerung sei generell höher zu bewerten als das Interesse der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen an einer besonderen Anerkennung der singulären Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren ist. Schließlich wird mit diesen Auffassungen ein Reich der Überzeugungen und Werte postuliert, die in keinerlei kausaler Beziehung zur Wirklichkeit stehen. Nicht zuletzt wird aber die Verbindung zwischen empirischen Überzeugungen und Werturteilen unterschätzt sowie die Aufladung mancher empirischer Überzeugung mit Affekten verkannt. Eine Überzeugung wie die, dass der nationalsozialistische Massenmord an den Juden nicht stattgefunden habe, ist typischerweise mit einer um vieles wohlwollenderen Beurteilung oder gar Affirmation der nationalsozialistischen Ideologie verbunden.321 Würde diese salonfähig, d. h. die Bezugnahme auf nationalsozialistische Ideen zu einer öffentlich akzeptierten Argumentationsstrategie, wäre das für eine Demokratie freilich fatal. Der Schein einer entsprechenden hegemonialen Gesinnung ist für ein 321
Isolde Charim geht sogar so weit, der Holocaust-Leugnung und der damit übli cherweise verbundenen Einstellung zum Nationalsozialismus schon den Meinungscharakter abzusprechen: „Eine Meinung ist eine Haltung für oder gegen etwas, das verhandelbar ist, über das man, abstimmen kann. Es bedarf also eines vorgängigen Konsenses aller – ob Befürworter oder Gegner –, was einer Meinungsbildung zur Disposition steht. Denn Grundlage der Meinungsfreiheit ist nicht die Illusion einer uneingeschränkten, voraussetzungslosen Freiheit, sondern eine Freiheit innerhalb eines abgesteckten Rahmens. Diese Grenzen legt das Recht fest, d. h. der zu Gesetzen geronnene gesellschaftliche Grundkonsens. Das sind die Koordinaten eines demokratischen Gesellschaftssystems, die erst das Feld eröffnen, innerhalb dessen sich gegensätzliche Meinungen konfrontieren können.“ („Verbotsgesetz: Wie meinen?“, in: Der Standard vom 5. 12. 2005) Diese Position ist freilich ebenso wenig nachzuvollziehen wie die Auffassung, jede falsche Überzeugung lasse sich mit Argumenten und Beweisen hinreichend wirksam bekämpfen. Es gibt Meinungen, Haltungen und Einstellungen, gegen die direkt zu argumentieren eher schadet, als dass es etwas Gutes bewirkt. Und es gibt Meinungen, Haltungen und Einstellungen, die fast schon naturgemäß nicht im Wege der Argumentation erworben oder infrage gestellt werden können, weil sie das Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbild des Einzelnen erst konstituieren. Manche dieser Überzeugungen – wie religiöse Auffassungen – lassen sich nicht einmal nicht in eine klare propositionale Form bringen. Aber warum sollte man die Überzeugung, dass Gott existiert, nicht „Überzeugung“ nennen?
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demokratisches System essenziell. Wer offen Sympathien für nationalsozialistisches Gedankengut zu erkennen gibt, der lässt sich schwerlich auf demokratische Werte und Tugenden verpflichten. Wer hingegen insgeheim solche Sympathien hegt, sich aber öffentlich zu demokratischen und rechtstaatlichen Prinzipien bekennt, der stellt zunächst eher ein Problem für sich selbst dar, der muss mit einem ziemlich radikalen Widerspruch zwischen seiner privaten und seiner öffentlichen Identität zurande kommen. Wobei keineswegs feststeht, welche nun seine „wahre Identität“ ist, da die eigene Identität bekanntlich auch von der Wahrnehmung durch andere bzw. der eigenen Wahrnehmung dieser Wahrnehmung abhängt. Jedenfalls muss einigermaßen klar sein, welche Überzeugungen und Affekte in einer demokratischen öffentlichen Diskussion nicht mehr artikuliert werden dürfen. Auch die viel bemühte „offene Gesellschaft“ ist auf Ausschlüsse angewiesen. Zumindest auf der symbolischen Ebene. Das heißt, manche Überzeugungen dürfen nicht ernsthaft zur Debatte stehen, da schon die Diskussion darüber leicht den demokratischen Common sense untergräbt – so wie der verzweifelte und wohl zum Scheitern verurteilte Versuch einer rationalen Letztbegründung der Ablehnung von Sklaverei die individuelle ethische Identität gefährdet. Selbst eine geheuchelte „politische Korrektheit“ kann wesentlicher Bestandteil einer Atmosphäre der Zivilisiertheit sein. Die Aufrechterhaltung dieser Atmosphäre mag ein gewisses Maß an Zwang erfordern, etwas, das gerne als „Tugendterror“ denunziert wird. Aber schon die Tatsache, dass bestimmte Themen nicht Gegenstand ernsthafter öffentlicher Diskussion sind (wie die Frage, ob der nationalsozialistische Massenmord an Juden tatsächlich stattgefunden hat oder Schwarze nicht vielleicht doch weniger intelligent sind als andere), kann als politischer Segen verbucht werden. Mitunter bedürfen diese symbolischen Ausschlüsse sogar einer strafrechtlichen Bekräftigung. Allerdings sollte man hier auch nicht übertreiben. Nicht jede Artikulation einer antidemokratischen Gesinnung rechtfertigt den Ruf nach Strafverfolgung. Ein paar unbelehrbare Stalinisten, Maoisten oder Nazis sollte jedes demokratische System aushalten. Eine Demokratie, die sich permanent in akuter Gefahr wähnt, ist schon allein deswegen in Gefahr. Die Stabilität demokratischer Systeme beruht nicht zuletzt auf einem weit verbreiten Glauben an diese Stabilität, und dieser Glaube kann auch durch überzogene rechtliche Reaktionen erschüttert werden, welche den Anschein der Gefährdung erst erzeugen. Wie immer kommt es also auf den historischen Kontext an – auch für einen vernünftigen Objektivisten. Er ist schließlich kein Dogmatiker ohne jeglichen Sinn für Angemessenheit. Was jemand sagen dürfen soll, hängt also auch von den Chancen ab, andere zu überzeugen oder gar zu entsprechenden Handlungen anzuleiten. Dagegen könnten Liberale nun einwenden, man könne doch fundamentale Rechte wie die Meinungsfreiheit nicht aufgrund derartiger pragmatischer Erwägungen beschränken. Doch in diesem Fall müsste angegeben werden, welcher Wert der Möglichkeit zukommt, Überzeugungen auszudrücken,
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die nicht nur falsch sind, sondern überdies gefährliche antidemokratische Affekte schüren.322 Die weniger radikalen Deontologen unter den liberalen Gegnern einer Bestrafung von Leuten wie Irving werden sich aber ohnehin auf das Argument (1) stützen, man solle Spinner nicht unnötige öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen. Das hat einiges für sich. Allerdings ist auch das Argument nicht von der Hand zu weisen, dass hierzulande allzu viele Holocaust-Leugner sich durch eher informellen sozialen Druck kaum von ihrer Mission abbringen lassen werden. Offen bleibt – wenn das zutrifft – nur, ob der Strafrahmen dem Unwert der Handlung angemessen ist, wobei der Unwert sich auch an der Gefährlichkeit der Handlung bemisst. Hier muss jedenfalls bedacht werden, dass die Anordnung eines allzu hohen Mindeststrafmaßes unbegründete Freisprüche provoziert und somit den Holocaust-Leugnern erst recht wieder politisches Oberwasser verschafft. Symbolpolitik mit Mitteln des Strafrechts ist zweifellos die Ausnahme. Kehren wir also wieder zu alltäglicheren Beispielen zurück. Kürzungen von Sozialleistungen werden für gewöhnlich als „Investitionen in die Zukunft“, als „notwendige Reformmaßnahmen“ und nicht als Schritte zur Demontage des Sozialstaates ausgegeben. Aber nicht nur die Durchsetzung einer neuen Terminologie, die Neubeschreibung von Problemen und die Problematisierung als solche stellen symbolpolitische Unternehmen dar. Auch die Konstruktion von Paradigmen, die für die affektive Unterfütterung ideologischer Diskurse essenziell sind, lässt sich unter „Symbolpolitik“ subsumieren. Beispiele für solche Paradigmen wären die eiskalte egoistische „Karrierefrau“, auf die Abtreibungsgegner gerne zumindest implizit verweisen, der gierige Währungsspekulant als Verkörperung eines zunehmend unproduktiven „Kasinokapitalismus“, die von Konservativen idyllisierte Kleinfamilie, der in der Südsee urlaubende Sozialhilfeempfänger und der schwarze Drogendealer, wie sie von der populistischen Rechten gerne bemüht werden. Bisweilen wird sogar offen ein symbolpolitisches Defizit beklagt, nämlich im Rahmen der Rechtfertigung oder, besser, Verharmlosung von Handlungen und Aussagen, die Unmut verursachen. In solchen Fällen ist dann oft von einer „schlechten Optik“ oder einem „Kommunikationsproblem“ die Rede. Schlecht sei aber nur der Schein, nicht die Wirklichkeit. Hier wird explizit und öffentlich auf das Symbolische rekurriert, um es zugleich vom Realen und Wahren zu unterscheiden. Umgekehrt mutet eine Rechtfertigung mit Verweis auf den rein symbolischen Charakter einer Handlung von vornherein bizarr an. Im Dezember 2003 segnete das österreichische Parlament die „Osterweiterung“ der EU formell ab. Alle bis auf zwei Abgeordnete stimmten den Erweiterungsverträgen zu. Der Umweltsprecher und die Vertriebenensprecherin der Freiheitlichen 322
Siehe dazu Stanley Fish, There’s No Such Thing as Free Speech … and It’s a Good Thing Too, Oxford/New York 1994, 13ff.
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stimmten dagegen. Nicht dass sie damit etwas Konkretes bewirken wollten. Nein, die Aktion sei vielmehr als „symbolische“ zu verstehen, sagten die beiden und ihre Partei. Es gebe bekanntlich Probleme mit Tschechien (das grenznahe Atomkraftwerk Temelin, die Benes-Dekrete), und das wollte man eben zum Ausdruck bringen. Waren die beiden Abgeordneten wirklich gegen Tschechiens EU-Beitritt? Es wäre kein Wunder gewesen, wenn sie darauf geantwortet hätten: „Nein, nicht wirklich, nicht einmal unter den gegebenen Bedingungen. Aber dennoch …“ Eine solche Argumentation wäre ein Musterbeispiel für eine allseits beliebte und trotzdem fundamental defekte Überlegung. Natürlich ist es jedem Abgeordneten und jeder Abgeordneten unbenommen, mit dem Stimmverhalten persönliche Einstellungen, wie es heißt, „auszudrücken“. Dennoch würde hier etwas nicht stimmen. Es ist nicht das Nein an sich oder die Tatsache, dass die beiden Abgeordneten durchaus damit rechnen mussten, in der Minderheit zu bleiben. Es wäre die Begründung: „Wir wollten eigentlich nur ein Zeichen für das und jenes setzen bzw. das und jenes zum Ausdruck bringen.“ Eine sinnvolle Begründung hätte mindestens die Aussage beinhalten müssen: „Wir haben dagegen gestimmt, weil wir dagegen waren.“323 Wenn die beiden Abgeordneten tatsächlich gegen den EUBeitritt Tschechiens zum damaligen Zeitpunkt waren, hätte noch immer der Partei ein Denkfehler angelastet werden können. Nämlich dann, wenn sie eine nicht geschlossene Zustimmung nicht als Preis für innerparteiliche Demokratie und Folge der Freiheit des Mandats, sondern als Strategie ausgegeben hätte. Denn das Wahlvolk kann eine Politik unmöglich ernst nehmen, die gar kein Hehl daraus macht, dass sie in nichts weiter besteht als einem folgenlosen Bekenntnis zu „österreichischen Positionen“. Wer also ein „Zeichen setzen“ möchte, tut gut daran, nicht hinzuzufügen, dass er oder sie nur ein Zeichen setzen will. Ähnliches lässt sich über den Vorschlag sagen, zu „rein symbolischen Zwecken“ einen Gottesbezug in die Verfassung aufzunehmen. Wer so argumentiert, läuft Gefahr, entweder als leichtfertig im Umgang mit dem Gottesbegriff oder als besonders verschlagen wahrgenommen zu werden. Symbole verdanken ihre Kraft und ihre Bedeutung immer der Beziehung zu anderen Symbolen und dem, was sie in weiterer Folge an Nichtsymbolischem bewirken (Schläge, Gefühle der 323
Ein solcherart begründetes Abstimmungsverhalten wäre auch dann rational gewesen, wenn nie ein Zweifel daran bestanden hätte, dass es nichts am Ergebnis der Abstimmung ändert. Insofern die beiden Abgeordneten sich nur selbst treu geblieben wären, hätte es ihnen „symbolischen Nutzen“ gebracht. Sie hätten sich damit vergegenwärtigt, dass sie aufrichtige Abgeordnete sind, die nach eigenem besten Wissen und Gewissen abstimmen. Kurz, sie hätten auf ihren eigenen symbolischen Nutzen bedacht sein sollen. Für eine ausführliche und subtile Erörterung des Begriffs siehe Robert Nozick, The Nature of Rationality, Princeton 1993, 26–35.
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Nachtrag
Sicherheit, physische Behinderungen bei der Ausübung einer Religion). Ein Symbol, das nur sich selbst symbolisiert, ist kein Symbol. Daher konnte im österreichischen Bundespräsidentschaftswahlkampf 2004 auch das „frauenpolitische“ Argument der Kandidatin Ferrero-Waldner nicht überzeugen. Die bloße Tatsache, dass das Amt des Bundespräsidenten von einer Frau ausgefüllt wird, bedeutet – so dürften es jedenfalls die meisten feministisch inspirierten Wählerinnen und Wähler gesehen haben – frauen- bzw. geschlechtergerechtigkeitspolitisch so gut wie gar nichts. Teilweise liegt das natürlich an der bescheidenen Rolle, die Bundespräsidentinnen in der Politik normalerweise spielen können. Zu einem guten Teil aber hat es auch mit zwei weiteren Faktoren zu tun: Einerseits durfte man sich von einer Frau, die sich im Wahlkampf große Mühe gab, nicht als Feministin zu gelten, und die sich als Außenministerin niemals öffentlichkeitswirksam für Geschlechtergerechtigkeit stark gemacht hat, ohnehin nicht allzu viel erwarten; andererseits trägt die bloße Tatsache, dass „der Bundespräsident“ eine Frau ist, höchstwahrscheinlich auch nichts zum Aufbrechen von Geschlechterstereotypen bei. So ist nicht bekannt, dass Margaret Thatchers Amtszeit als Premierministerin den englischen Frauen signifikante Vorteile beschert hätte (das Gegenteil ist wahrscheinlicher). Aber wenn dies stimmt, sind damit nicht auch diverse Quotierungsinitiativen delegitimiert? Nun, abgesehen davon, dass Quotierungen nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) mit dem Verweis auf bloß symbolische Wirkungen gerechtfertigt werden: Es macht, was die „Vorbildwirkung“ auf Mädchen und herrschende „Frauenbilder“ angeht, zweifellos einen großen Unterschied, ob in den Führungsetagen der Verwaltung und der Wirtschaft Frauen angemessen repräsentiert sind oder ob lediglich ein exponiertes politisches Amt (welches ohnehin kaum jemand anstrebt) mit einer Frau besetzt ist. Zumal wenn es sich um ein Amt handelt, von dem für den politischen Alltag geradezu naturgemäß wenig Impulse ausgehen. Die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit, dem Symbolischen und dem Realen, hat durchaus einen guten Sinn. Allerdings schwebt mir dabei keine tiefschürfende lacanianische oder postdekonstruktivistische Theorie vor, wonach das Reale jener traumatische Kern ist, der sich der Symbolisierung immer wieder entzieht, der Antagonismus, der die gesellschaftliche Einheit immer wieder aufs Neue untergräbt. Ich denke, wir können uns mit schlichten Andeutungen begnügen. Das Symbolische verhält sich zum Realen in etwa so wie die Norm zu ihrer Durchsetzung, wie die Rede von der gleichen Würde aller Menschen zur Auszahlung von Ar beitslosenunterstützung, wie das Prinzip der Vergeltung zum Abwurf von Bomben oder wie die kollektive Selbstbeschreibung als Nation zu einzelnen Akten der Solidarität und Diskriminierung. Allerdings – und eben das macht die Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem realen Akt so prekär – muss das Reale (die körperliche Züchtigung, der Abwurf von
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Bomben etc.), wenn es seine Grundlage im Symbolischen haben soll, selbst symbolischen Charakter haben. Ein Akt muss seinerseits seine symbolische Grundlage symbolisieren können. Im Extremfall ist er vollkommen unbegründet und lässt sich gar nicht mehr als Handlung beschreiben, sondern bloß noch als physisches Ereignis. Handlungen existieren immer unter einer Beschreibung, sind also niemals gänzlich außerhalb des Symbolischen angesiedelt. Dennoch sind Handlungsbeschreibungen mehr oder weniger angemessen, und zwar nicht gemessen an einem mysteriösen „wahren Wesen“ der Handlung. Ihre Angemessenheit bemisst sich an Werten sowie an den Intentionen und Erlebnissen der Handelnden und der sonst Betroffenen. Und nicht selten stellt sich heraus, dass eine Handlung etwas ganz anderes repräsentiert als zunächst angenommen. Man denke etwa an Praktiken der sexuellen Belästigung, die lange Zeit nur als (von den Opfern typischerweise außerordentlich unangenehm empfundene) Zudringlichkeiten verstanden wurden, mittlerweile aber als illegitime Form der Machtausübung angesehen wird. Diese Neubeschreibung wiederum, die nun sogar buchstäblich über Gesetzeskraft verfügt, hat nicht nur Einfluss auf das Verhalten potenzieller Täter, sondern auch darauf, was genau von den Opfern empfunden wird: Demütigung und Hass. Die Demütigung durch ein Verhalten, das gegen eine offiziell anerkannte Norm verstößt, fühlt sich anders an als eine sonstige Demütigung. Und der Hass, den die Verletzung einer offiziellen Norm verursacht, hat ebenfalls eine andere subjektive Qualität als der Hass, den eine nicht anerkannte Kränkung gebiert. Ob er intensiver oder weniger intensiv ist, sei dahin gestellt. Darüber hinaus stellt diese Neubeschreibung eine Präzisierung bestimmter allgemeiner Werte dar und bietet sich für Analogie- oder Umkehrschlüsse in anderen Fällen an, wo der Verdacht besteht, dass fundamentale Prinzipien wie jenes des wechselseitigen Respekts verletzt wurden. Man denke in diesem Zusammenhang an rechtspolitische Diskussionen über das Stalking. Der Punkt ist aber gerade nicht, dass es nur auf Beschreibungen bzw. das Sprachliche ankomme. So wäre es Unsinn zu behaupten, dass sexuelle Belästigung oder Arbeitslosigkeit eigentlich lediglich sprachliche Konstrukte seien.324 Der Punkt ist vielmehr, dass zwischen dem Symbolischen und dem Realen eine Interdependenz besteht, welche die Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Realen als prinzipielle vollkommen witzlos macht, zumal wenn mit „Wirklichkeit“ die soziale Wirklichkeit gemeint 324
Dass Arbeitslosigkeit in einem trivialen Sinne ein „soziales Konstrukt“ ist, nämlich ein Ergebnis kontingenter sozialer (und eben nicht natürlicher) Entwicklungen, liegt auf der Hand. Zum Begriff der „sozialen Konstruktion“ und den möglichen Pointen diverser Sozialkonstruktivismen siehe Ian Hacking, Was heißt „Soziale Konstruktion“? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt/M. 1999.
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Nachtrag
ist. Oder anders formuliert: Die Unterscheidung zwischen „echter“ oder „richtiger“ und „symbolischer“ Politik wird innerhalb des Symbolischen getroffen und hat selbst eine symbolpolitische Funktion. Erstere Form der Politik wird dadurch definiert, dass sie „tatsächliche“ Auswirkungen hat, und zwar in einem nennenswerten Ausmaß. Abgeordnete, die eine geringfügige Kürzung des eigenen Gehalts beschließen, um damit Solidarität mit der übrigen Bevölkerung zu signalisieren, tun zwar etwas, das „reale“ Auswirkungen hat, nämlich auf ihr Einkommen. Nichtsdestoweniger überwiegt hier für viele die „symbolische“ Dimension dieses Aktes. Nun stellt sich aber die Frage, ob es nicht doch „echte“ Politik in Reinform ohne symbolischen Gehalt geben kann? Ist unsere von Laclau geborgte Politikdefinition wirklich angemessen? Dass Politik symbolisiert werden muss, um überhaupt verstanden und Gegenstand eines Diskurses werden zu können, versteht sich von selbst. Normen müssen sprachlich formulierbar sein, um Normen zu sein. Und ein Machtkampf, der sich gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure abspielt, mag ein Klassenkampf sein, wie er nach klassisch-marxistischer Auffassung noch in den harmonischsten Gesellschaften stattfindet. Ein politischer Kampf ist er nicht. Nehmen wir aber an, es wird beschlossen, alle Wälder der Republik zu roden. Wäre dies nicht ein Musterbeispiel für eine handfeste, „echte“ politische Maßnahme? Nun, zweifellos wäre es eine Maßnahme mit zumindest einer signifikanten nichtsymbolischen Auswirkung: viele Bäume weniger. Doch eine politische Maßnahme (und nicht bloß eine von Akteuren, die gemeinhin als politische gelten) wäre sie nur, wenn sich auf Gründe stützen würde, die ihrerseits auf etwas anderes, Größeres, verweisen. Das entspricht durchaus dem landläufigen Verständnis von Politik. Die Waldrodung könnte beispielsweise als Maßnahme zur Beförderung des „Fortschritts“ ausgegeben werden. Eine Maßnahme wird erst dadurch zu einer politischen Maßnahme, dass sie eine Überzeugung oder Haltung in Bezug auf die Organisation der Gesellschaft bzw. ein soziales Problem zum Ausdruck bringt. Nicht die Auswirkungen auf die Natur, sondern die Tatsache, dass sie eine Vision der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, eben symbolisiert, macht sie politisch. Der private Waldbesitzer, der seine Bäume beseitigt, weil er Weideflächen für sein Vieh benötigt, betreibt keine Politik. Die spezielle symbolische Dimension ist für die Politizität einer Entscheidung oder Maßnahme entscheidend. Allerdings können Versuche, andere von irgendwelchen natürlichen Gegebenheiten oder den Ursachen solcher Gegebenheiten zu überzeugen, durchaus politisch sein, eben insofern sie in ein umfassenderes Projekt eingebettet sind. Für sich selbst sind sie – verglichen etwa mit Versuchen, ein Steuersystem als ungerecht zu erweisen – wenig politisch. Der Kampf für die Evolutionstheorie und gegen den Kreationismus ist ein solcher politischer Kampf, wenn er als Teil oder eben Symbol des Kampfes für Säkularisierung verstanden wird. „Säkularisierung“ fungiert insoweit als jenes Größere, von dem zu Beginn die Rede war. Deshalb war die allgemeine Wahrnehmung
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der Intervention von Kardinal Schönborn für die Lehre vom „intelligent design“ völlig korrekt. Die Intervention war eine politische. Dass es dem Kardinal um die Wahrheit ging, braucht nicht bezweifelt zu werden. Wenn er aber nicht auch ein praktisches Ziel verfolgt hätte, wenn ihm also nicht auch daran gelegen gewesen wäre, Tendenzen der Säkularisierung in der Gesellschaft entgegenzuwirken, hätte er seine Ausführungen in einem Fachjournal für Wissenschaftstheorie oder Metaphysik und nicht in der New York Times veröffentlicht. Die markantesten politischen Akte sind immer Resymbolisierungsakte, welche die etablierte Beschreibung eines gesellschaftlichen Konfliktes – das, was als „Logik“ einer Situation verstanden wird – durchbrechen. Denken wir nur an den Krieg zwischen Israelis und Palästinensern, der, wie es scheint, durch eine Logik der Vergeltung in Gang gehalten wird. Eine politische Lösung des Konfliktes ist ohne einen Ausbruch aus dieser Logik, etwa durch die Schließung einer Allianz zwischen Israelis und Palästinensern, die sich gemeinsam gegen die Kriegstreiber auf beiden Seiten stellen, gar nicht denkbar. Das Problem müsste zuallererst eine Neubeschreibung erfahren, und eine solche Neubeschreibung müsste sich auch durchsetzen. Etwas später wird von Politik als Intervention in bzw. Kampf um eine „Wir-Intention“ (John Searle) die Rede sein. Als ein erster, vorläufig gescheiterter Versuch könnte vielleicht die Weigerung einiger israelischer Elitesoldaten gedeutet werden, an Bombardements gegen palästinensische Siedlungen teilzunehmen. (Freilich: Soweit diese Weigerung nur der subjektiven Gewissheit geschuldet war, dass es sich dabei um etwas moralisch Verwerfliches handle, darf sie lediglich als – heroischer – ethischer Akt verstanden werden.) Nichtsymbolische Politik, Politik, die nicht von Gründen Gebrauch macht und keine bestimmte Vision der Gesellschaft vor Augen oder zum Streitgegenstand hat, ist also undenkbar. Klar ist auch, dass Strategien nicht schon dadurch aufhören, politisch zu sein, dass sie es zunächst nur auf die Veränderung des „Diskurses“, des „Textes“ oder des „Reichs der Zeichen“, kurz: dessen, was (uneigentlich) geglaubt, gesagt und empfunden wird, abgesehen haben. Rein symbolische Akte von politischen Akteuren, also Akte, die erklärtermaßen nur als symbolische Akte gedacht sind, tendieren jedoch, wie wir gesehen haben, dazu, nicht einmal symbolische Wirkungen zu entfalten (jedenfalls nicht die gewünschten), und sind somit kaum als politische Akte identifizierbar. Sowie ein Versprechen, welches unter dem Vorbehalt der Nichteinhaltung abgegeben wird, kein Versprechen ist. Politische Akte müssen für eine Vision der Gesellschaft stehen. Zwar kann es sich bei einer Strategie, die zuerst auf das Sprechen, Denken und Fühlen abgezielt, durchaus noch um Politik handeln. Allerdings muss dieses Sprechen, Denken und Fühlen darüber hinausgehende Auswirkungen erwarten lassen. Zu solchen Auswirkungen können auch ein bestimmter Schein oder ein bestimmte soziale Stimmung zählen. Beide verfügen nämlich – bisweilen – über etwas, das man eine „materielle Dimension“ nennen könnte.
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Nachtrag
Wir wissen, dass der bloße Schein oft eine ganze Menge ist. Dieses Wissen bildet auch die Grundlage verschiedener politischer Strategien, die auf bestimmte Veränderungen im Sprachgebrauch abzielen. Angestrebt werden vor allem bestimmte Bezeichnungen für minoritäre oder sonst diskriminierungsgefährdete Gruppen bzw. die Delegitimation etablierter Bezeichnungen wie „Neger“ für Menschen mit dunkler Hautfarbe oder „Krüppel“ für körperlich Behinderte. Natürlich wäre es besser, wenn sich auch die durch die bekämpften Bezeichnungen ausgedrückten Affekte beseitigen ließen, aber viel ist schon gewonnen, wenn es gelingt, bestimmte „Diskurse“ aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Zum einen dürfen wir auf die Wirksamkeit eines Mechanismus hoffen, der Pascal zufolge sogar unbegründbaren religiösen Glauben generieren kann. Zumindest diejenigen, die glauben wollen, können dies dadurch erreichen, dass sie eine Zeitlang so tun, als ob sie bereits glauben würden. Mit etwas Glück schlägt die zunächst „äußerliche“ Beteiligung an der religiösen Praxis in jenen „inneren“ Glauben um, mit dem dann die erhofften Stimmungen und Grundbefindlichkeiten (Gelassenheit, Geborgenheit etc.) einhergehen. Freilich dürfte dieser Mechanismus nicht zum Tragen kommen, wenn die fraglichen Personen gar nicht bekehrt werden wollen. Nicht immer verfügt der Schein über eine so ausgeprägte „materielle Dimension“, dass es sich lohnt, großen Aufwand zu betreiben, um ihn zu verändern. Dezidierte Symbolpolitik ist keineswegs naturgemäß selbstzerstörerisch. Bisweilen haben wir es bloß mit einem erhöhten Risiko zu tun, über die erklärte Fokussierung auf das Symbolische politisch unernst zu werden. Auch die aufrichtige moralische Entrüstung, mithin der Ernst selbst, kann uns täuschen, vor allem in Bezug auf die Bedeutung der Sprache, des schlechthinnigen Symbolsystems. Dies scheint beispielsweise bei besonders ambitionierten Verfechtern einer „politisch korrekten“ Sprache der Fall zu sein. Aus der Tatsache, dass am Beginn einer sozialen Diskriminierung regelmäßig eine sprachliche Abwertung steht, schließen sie, dass „sprachliche Gerechtigkeit“ generell notwendige und allererste Voraussetzung für weitere soziale Gerechtigkeit ist. Leicht entkoppelt sich dabei das Streben nach einer gerechten Sprache von jenem nach Umverteilung materieller Ressourcen und Chancengleichheit und trägt seinerseits dazu bei, andere Ungerechtigkeiten in den Hintergrund zu rücken. Das Symbol wird dadurch wieder zum Fetisch und hört auf, über sich hinauszuweisen. Ursache für den bei manchen vorhandenen Sprachfetischismus sind vermutlich Resignation oder politische Bequemlichkeit. Ungerechtigkeiten in der Sprache sind verhältnismäßig einfach zu identifizieren und zu beseitigen. Umso verwerflicher erscheint der Widerstand dagegen. Hinzu kommt eine allzu simple, gleichwohl weit verbreitete, Theorie der Sprache, wonach Bedeutung durch Konventionen gestiftet wird. Zu simpel (wenn nicht gar völlig falsch) ist diese Auffassung, weil sie die Rolle individueller Intentionen unterschätzt. Der Punkt ist nicht, dass ich, wenn ich hier
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etwa immer wieder von „politischen Akteuren“ spreche, Frauen durchaus „mitmeine“. Der Punkt ist vielmehr, dass ich gar nicht an geschlechtlich identifizierte Wesen denke, auch nicht an Männer. Genauso wenig denke ich sofort an Männer, wenn in anderen Texten, die ich lese, von „politischen Akteuren“ die Rede ist. Der nun nahe liegende Hinweis auf meine unbewussten Intentionen kann mich kaum überzeugen – gerade weil er nur ein ganz plumpes Argument kaschiert, nämlich das Argument, dass nach den Regeln der deutschen Grammatik „Akteur“ ein männliches Geschlecht hat. Zudem bin ich – wie die meisten – prinzipiell unangenehm berührt, wenn mir andere sagen, was ich, ohne es zu bemerken, „wirklich“ denke. Mindestens regt sich in solchen Fällen spontaner Widerstand in mir. Umgekehrt scheint verbissen politisch korrektes Sprechen und Schreiben nicht nur allzu viel Energie zu verbrauchen (und zwar auf beiden Seiten, der Autoren genauso wie der Rezipienten), sondern auch von dem, was man sonst noch sagen will, über Gebühr abzulenken. Über die Sprache sollen aber nicht nur Gruppen „sichtbar“ gemacht und anerkannt werden. Noch öfter wird versucht, durch die Wortwahl jede eine Gruppe abwertende Konnotation zu vermeiden. Das Ergebnis ist manchmal das genaue Gegenteil. Man denke an die verzweifelten Bemühungen, geistig Behinderte im Englischen sprachlich zu „integrieren“, indem man sie z. B. als „mentally challenged“ bezeichnet. Auf diese Weise wird die Differenz zwischen Ihnen und Uns nur noch deutlicher – zumal wir alle, genau genommen, ständig „mentally challenged“ sind. Etwas aufbessern lässt sich das schlichte Grammatik-Argument mit sozial ontologischen Erwägungen, insbesondere der These, dass die Gesellschaft eine essenziell symbolische Institution sei und als solche über ein Eigenleben verfüge. „Sprachliche Konventionen mögen“, so könnte das Argument nun lauten, „nicht die Bedeutung der individuellen Rede konstituieren, aber sie begründen soziale Institutionen, deren Logik von dem, was der Einzelne denkt und wünscht, unberührt bleibt. Ja, diese Institutionen bestimmen den objektiven Sinn individueller Gedanken und Handlungen. Wenn man also Institutionen verändern möchte, muss man zuerst die sprachlichen Konventionen ändern.“ Doch was bedeutet das, und wie viel Wahrheit steckt in dieser Annahme? Worte können verletzen, beruhigen, Aufruhr verursachen und vieles mehr. Gedanken und Gefühle wiederum motivieren Handlungsentscheidungen. Das ist banal. Schon weniger banal ist, was John Searle meint, nämlich dass soziale Entitäten wie Geld oder Recht nur als symbolisierte bestehen können. Unabhängig von jeglicher Symbolisierung gebe es sie einfach nicht. Ob ein Stück Papier Geld ist oder nicht, hängt letztlich davon ab, ob es als Geld angesehen wird, mithin von Überzeugungen und Absichten. Jedoch nicht einfach von beliebigen individuellen Überzeugungen mehrerer Menschen, sondern von Überzeugungen, mit denen sich kollektive Intentionen verbinden. Kollektive Intentionen haben die Form „Wir beabsichtigen …“.
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Ich beabsichtige nicht für mich allein, etwas als Geld zu betrachten; und ich beabsichtige auch nicht, etwas als Geld zu betrachten, weil ich glaube, dass der Andere dasselbe beabsichtigt und darüber hinaus glaubt, dass ich es beabsichtige; vielmehr beabsichtige ich, etwas als Geld zu betrachten, weil wir das eben so tun. Auch ein Spaziergang zu zweit enthält eine solche kollektive Intention. Nur deshalb ist er nach Searle eine gesellschaftliche Tatsache und nicht bloß ein Fall von paralleler Fortbewegung zweier Individuen.325 Der Begriff des „gemeinsamen Spaziergangs“ impliziert bereits diese „Wir-Intention“. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass zumindest die soziale Wirklichkeit in ihrem innersten Wesen darin besteht, was die Menschen über sie denken. Wenn also die soziale Wirklichkeit etwas Materielles an sich hat, dann resultiert dieses aus intentionalen Zuständen von Menschen, vor allem aus Überzeugungen. Deshalb kann das, was Menschen über die Gesellschaft denken, zu beeinflussen ein unmittelbar politisches Unternehmen sein. Jedenfalls ist es ein solches, wenn auf die Schaffung einer neuen oder die Veränderung einer bestehenden „Wir-Intention“ abgezielt wird.326 Das scheint für die Sprachaktivisten zu sprechen. Zumal sich bei Searle noch die ebenfalls plausible Behauptung findet, „dass jede Institution auf sprachliche Elemente der Tatsachen innerhalb genau jener Institution angewiesen ist“.327 Mehr noch: Die Intentionen der Individuen (nicht bloß die expliziten „Wir-Intentionen“) sind selbst sozial bedingt. („Wir-Intentionen“ heben sich von den anderen Intentionen nur dadurch ab, dass sie sich auch noch auf eine Gemeinschaft beziehen.) Intentionale Zustände erfordern nämlich Begriffe, Begriffe wiederum konstituieren sich nur in im Wege der Interaktion und schließlich Kommunikation mit anderen Personen. Auch individuelle Intentionen setzen somit Kommunikation voraus. Wer überhaupt Gedanken haben soll, muss, wie wir bereits im Anschluss an Davidson
325
Siehe dazu John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, 34– 37. 326 Das spricht, wie wir bereits gesehen haben, dagegen, die Politik als ein kompetitives Spiel zu begreifen. Die Spieler in solchen Spielen haben es nicht auf die Veränderung einer kollektiven Intention abgesehen. Sie agieren vielmehr auf der Grundlage einer außer Streit gestellten Wir-Intention. Eine Diskussion über die Spielregeln erfordert eine Unterbrechung des Spiels. Zwischen Spiel und Politik liegt das Recht. Der Rechtsstreit weist noch offenkundigere Züge eines Wettstreits und damit des Spiels auf als die Politik, insofern die Zuweisung von Rollen (Richter, Parteien, Anwalt, Zeuge, Sachverständiger) und die Argumentationsformen klarer normiert sind (siehe auch Johan Huizinga, Homo ludens, 89–101). Nichtsdestoweniger stehen dabei gerade in schwierigen Fällen auch immer wieder Wir-Intentionen zur Debatte. Insofern erweist sich die juristische Praxis als Fortsetzung der Politik, wenn auch in einem etwas engeren Korsett. 327 John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, 70.
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bemerkt haben, mindestens in der Lage sein, die von anderen verwendeten Symbole zu interpretieren. Natürlich verdanken wir nur die wenigsten unserer Überzeugungen in Bezug auf die Gesellschaft direkt (symbol)politischen Interventionen. Schließlich werden wir alle in die Gesellschaft hineingeboren und lernen einfach mit der Zeit „by doing“ und/oder in speziellen Bildungsinstitutionen, uns in ihr zurechtzufinden. Doch die soziale Konstitution unserer Sprache und letztlich unserer Gedanken (wenigstens eines Großteils davon) impliziert keinen Determinismus in dem Sinne, dass wir von uns vorgegebenen sprachlichen Konventionen bestimmt wären. Die Konventionen erhalten und wandeln sich nur im Wege einzelner Kommunikationen. Da Kommunikationen in der Regel nicht von sich selbst handeln, verändern sich mit den Gegenständen auch die verwendeten Begriffe, selbst wenn die Wörter gleich bleiben. Solange etwa im politischen System Frauen so gut wie keine Rolle spielen, wird sich mit dem Ausdruck „politischer Akteur“ bei den meisten tatsächlich die Vorstellung von einem Mann verbinden. Wenn Frauen aber einmal in nennenswerter Zahl im System vertreten sind, kann man auch eine Neutralisierung des Begriffs „politischer Akteur“ erwarten. In diesem Fall würden die meisten damit nicht mehr ein geschlechtlich definiertes Wesen assoziieren. Ob sich eine solche Erwartung erfüllt, sodass die Rede von „politischen Akteuren“ (anstatt von: „politischen Akteuren und Akteurinnen“) kein Anerkennungsdefizit für Frauen bewirkt, ist freilich eine empirische Frage, die kaum ein für allemal entscheiden werden kann. Nun könnte eingewendet werden, dass es ohnehin nicht darauf ankommt, was die Einzelnen denken, welche Assoziationen sie haben, wenn sie „politischer Akteur“ und nicht „politischer Akteur oder Akteurin“ lesen. Doch was könnte die zusätzliche Verwendung der weiblichen Form bewirken? Dass die Verwendung der Konjunktion „politische Akteure und Akteurinnen“ einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Repräsentanz von Frauen in der Politik oder sonstigen Netzwerken sozialer Macht und damit zur Gleichstellung der Geschlechter zu leisten vermag, darf bezweifelt werden. Das Gegenargument, wonach eine solche Konjunktion eher Geschlechterdisparitäten verschleiert, erscheint jedenfalls genauso plausibel. Zumindest aber müsste gezeigt werden können, wie die Veränderung sozialer Wirklichkeit sich aus der Veränderung des sprachlichen Ausdrucks ergeben kann. Abwegig ist die Idee freilich ganz und gar nicht. Vielleicht bewirkt der sprachliche Nachdruck, dass Frauen sich eher eine politische Funktion zutrauen und mehr Männer ihre (zum Teil uneingestandenen) Vorbehalte gegenüber Frauen in der Politik aufgeben, einfach weil sie sich Frauen in der Politik besser vorstellen können. Es dürften sich leicht einige Beispiele für soziale Praktiken finden lassen, an deren Veränderung ein Wandel im sprachlichen Ausdruck großen Anteil
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Nachtrag
hatte. Allein die Geschichte des Nationalsozialismus bietet schon einen reichen Fundus. Der Aufstieg des Neoliberalismus, im Zuge dessen z. B. „Anpassungsbereitschaft“ weitgehend durch „Flexibilität“ ersetzt wurde, hält weitere Lehrstücke parat. Allerdings sollte die Beweisführung deutlich über eine ontologische Argumentation hinausgehen. Vom Ontologischen sollte nicht allzu umstandslos auf das Empirische geschlossen werden. Man könnte diesen Schluss den „ontologischen Fehlschluss“ nennen. Dass die Gesellschaft symbolisch konstituiert ist, impliziert nicht, dass einzelne gesellschaftliche Tatsachen einfach das sind, was die Mehrheit sagt oder denkt. Aus der Tatsache, dass es ohne Sprache keine (oder fast keine) Gedanken gäbe, jedenfalls aber keine sozialen Institutionen, folgt daher nicht notwendig, dass sich einzelne Institutionen mit dem Sprechen oder Denken über sie entsprechend verändern. Oder anders formuliert: Sprache ist eine notwendige Bedingung für alle sozialen Institutionen, aber nicht identisch mit den einzelnen Institutionen. Damit ein politisches System als soziale Institution existiert, müssen bestimmten Verhaltensweisen bestimmte Funktionen (wie die Setzung kollektiv verbindlicher Normen und die Kontrolle) und also Bedeutung zugeordnet werden. Dazu bedarf es natürlich der Sprache. Die weitere sprachliche Bezugnahme auf das, was sich innerhalb des einmal etablierten politischen Systems ereignet, kann, muss jedoch nicht den Charakter und die Funktionsweise des Systems beeinflussen. Der nichtsprachliche Überschuss sozialer Institutionen wird sofort deutlich, wenn man sich eine Tatsache vor Augen führt: Regelmäßig hängt viel davon ab, wer etwas über gesellschaftliche Gegebenheiten denkt oder sagt. Wobei es meistens nicht auf ausgefeilte Theorien über soziale Strukturen und Institutionen ankommt, sondern darauf, wie diese Person ihre eigene Position einschätzt und welche Präferenzen sie entwickelt. So kann ein mächtiger Unternehmer sich durch ein profundes volkswirtschaftliches Unverständnis auszeichnen, aber dennoch erfolgreich sein und die Entwicklung der Volkswirtschaft nachhaltig prägen. Umgekehrt kann er ein raffinierter Nationalökonom sein und zugleich einen Verlust nach dem anderen einfahren. Die Mehrheit der Menschen hat überhaupt nur relativ vage oder naive Vorstellungen darüber, wie Märkte funktionieren. An der Funktionsweise der Märkte ändert das wenig.328 Man darf sogar vermuten, dass Märkte schon existierten, bevor es auch nur einen ungenauen Begriff davon gab. Viele soziale Konstellationen bleiben, wie sie sind, unabhängig davon, ob sie verstanden, d. h. begrifflich adäquat erfasst werden oder nicht. GefangenenDilemmata etwa lassen sich typischerweise nicht wegbeschreiben. Sie lassen 328
Was in Führungsetagen großer Firmen, in den Zentralbanken, beim Internationalen Währungsfonds, von Ökonomienobelpreisträgern oder in Regierungen gedacht wird, ist da schon um einiges relevanter, wenn auch nicht unbedingt konstitutiv für den Markt als soziale Tatsache.
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sich vielleicht unsichtbar machen. Aber deshalb hören sie nicht auf zu bestehen. Auch eine Veränderung der Wir-Intention genügt oft nicht, um sie aufzulösen. Diskriminierende Einstellungs- und Kündigungspraktiken auf dem Arbeitsmarkt beseitigt man nicht mit Bewusstseinsbildung. Es reicht nicht aus, Arbeitsgeber und Konsumenten vom Wert der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu überzeugen, um jene Handlungsmotive auszustechen, welche tief in der kollektiven Intention von Marktteilnehmern verankert sind und diskriminierendes Verhalten bewirken. In großen Gruppen braucht es noch Normen, die gegebenenfalls mittels für die Gruppenmitglieder absehbaren physischen Zwangs durchgesetzt werden. Zweifellos ist Sprache notwendig, damit es so etwas wie soziale Konven tionen und Institutionen geben kann. Und zweifellos spielen, wie Searle meint, die „sprachlichen Elemente“ für eine und innerhalb einer Institution eine Rolle. Doch wenn die Institution einmal existiert, wirkt sie selbst auf die Sprache zurück. Schließlich ist sie etwas, worüber gesprochen und nachgedacht wird. Vor allem aber ist sie nicht nur Sprache, und sie lässt sich selbst nicht ohne weiteres durch eine Veränderung des Sprechens über sie verändern. Zumindest nicht gezielt: Je komplexer die Institution, desto unvorhersehbarer die Auswirkungen eines Beschreibungswandels. Der Grund dafür ist simpel: Individuen handeln nicht bloß aufgrund von Beschreibungen der institutionellen Rahmenbedingungen. Sie haben auch noch Wünsche, die von diesen Beschreibungen ziemlich unabhängig sein können. Ob ich den Arbeitsmarkt als Wettbewerb zwischen „Arbeitgeberinnen“ und „Arbeit gebern“ sowie „Arbeitnehmerinnen“ und „Arbeitnehmer“ beschreibe oder lediglich als Wettbewerb zwischen „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“, hat keinerlei Einfluss auf mein Bestreben, einen möglichst guten Job zu bekommen bzw. einen möglichst guten wie kostengünstigen Mitarbeiter einzustellen. Und wenn ein Arbeitgeber aus moralischen Gründen Frauen bevorzugt einstellen möchte, dann ebenso wenig aufgrund einer geschlechtergerechten Beschreibung der Marktverhältnisse. Zweifellos beeinflussen Beschreibungen von Institutionen bis zu einem gewissen Grad deren Funktionieren, doch nur insoweit sie (wahre oder falsche) Informationen beinhalten. Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von der Reflexivität des Wissens, welches die Sozialwissenschaften produzieren. Mit den Worten von Anthony Giddens: „Die Reflexivität des Lebens in der modernen Gesellschaft besteht darin, daß soziale Praktiken ständig im Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert werden, sodaß ihr Charakter grundlegend verändert wird.“329 Ein Organisationssoziologe, der die Entscheidungsprozesse eines Unternehmens analysiert, trägt, wenn seine Ergebnisse bekannt werden, möglicherweise zu Umstrukturierungen bei. Der Systemtheoretiker, der bei jeder Gelegenheit die Vergeblichkeit politischer Versuche, die Gesellschaft 329
Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, 54.
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zu steuern, betont, leistet womöglich Fatalismus und Entpolitisierung Vorschub. Aber auch sozialwissenschaftliche Theorien, die Beschreibung und Erklärung verbinden, „konstruieren“ ihren Gegenstand nicht einfach – jedenfalls nicht in einem interessanten Sinne. Keynes’ Forschungen hatten bekanntlich starken Einfluss auf die Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg; dennoch konnten sie die Entwicklung der Wirtschaft nicht determinieren. Sie konnten es schon deshalb nicht, weil die maßgeblichen Akteure (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände etc.) sich auf eine keynesia nisch inspirierte Politik eingestellt haben. Nur weil das Sprechen über soziale Institutionen, selbst wenn es gänzlich uniform wäre, den Charakter der Institutionen nicht determiniert, können Aussagen über die Gesellschaft auch wahr oder falsch bzw. ihrem Gegenstand angemessener und weniger angemessen sein. Andernfalls wären sie wenig mehr als performativ und könnten lediglich gelingen oder misslingen. Unter dieser Bedingung gäbe es keine Institutionen, die sich sozialwissenschaftlich analysieren ließen. Keinesfalls ändert die Tatsache, dass die Gesellschaft nicht wie Bäume oder Moleküle jenseits der Zeichen existiert und die Zeichen naturgemäß mehr oder weniger stark flottieren, etwas an der Möglichkeit von Objektivität politischer Aussagen und Programme. Politische Objektivität setzt keine ontologische Objektivität voraus. Der Objektivist kann durchaus wissen, dass sich für soziale Ereignisse keine strikten Gesetze formulieren lassen. Das bedeutet für ihn aber nur, dass politische Programme nicht für die Ewigkeit taugen und dass ihre Implementierung irgendwann die Notwendigkeit ihrer Modifikation (oder sogar Transformation) nach sich zieht. Sogar die normativen Standards, an denen er sich bei der Entwicklung seiner Programme orientiert, erfordern immer wieder neue Konkretisierungen und Gewichtungen. Das Ende der Politik, des Kampfes um Machtpositionen und ideologische Hegemonie, ist für den Objektivisten also kein Zustand, den er sich für die Gesellschaft erwartet oder auch nur erträumt – wenn er vernünftig ist.
Personenregister
Andersen, Hans Christian 42, 200 Appiah, Kwame Anthony 66f., 71, 107 Aristoteles 185 Badiou, Alain 31, 147 Barry, Brian 20, 90, 112, 122, 125, 127, 144ff., 148, 154f., 164f., 187f. Barthes, Roland 61 Bay, Christian 152 Benditt, Theodore M. 145 Blixen, Tania 17 Bosch, Hieronymus 17 Brecht, Bertolt 147 Brown, Wendy 108, 127f. Burger, Rudolf 18, 112f., 200 Bush, George W. 21, 73, 99 Butler, Judith 32, 105 Campbell, Naomi 16 Canterbury, Anselm von 53 Cavell, Stanley 44f., 47f., 62, 96, 121, 167 Charim, Isolde 202 Chesterton, Gilbert Keith 17, 39f., 55, 94, 110ff., 158, 162 Ciccone, Madonna 16 Cohen, G. A. 84, 88–93, 167, 170 Cohen, Paul 21 Coleman, Jules L. 146 Collier, Andrew 95 Connolly, William E. 138, 152ff., 165f., 173ff. Danner, Mark 21 Davidson, Donald 49–52, 54, 58f., 61, 78, 80, 82f., 85, 101, 110, 139, 175, 212 Deleuze, Gilles 18 Derrida, Jacques 70
Dershowitz, Alan M. 62f. Dessau, Bettina 14ff. Diana (Princess of Wales) 16 Diederichsen, Diedrich 170 Dworkin, Ronald 78, 148 Dyrberg, Torben Bech 173–179 Eagleton, Terry 31, 57, 103., 168, 170, 198 Elster, Jon 16, 18, 24, 105, 131, 156, 162f., 170, 184 Ferrero-Waldner, Benita Fish, Stanley 104f., 113, 204 Forst, Rainer 106, 108f., 113, 122–127, 130 Foucault, Michel 108 Fraser, Nancy 128 Frazer, James George 40 Frege, Gottlob 50 Freud, Sigmund 37, 57, 179 Frey, Bruno S. 168 Friedman, Milton 46, 111 Furedi, Frank 151 Gauthier, David 190 Geertz, Clifford 68ff. Geier, Manfred 112 Giddens, Anthony 216 Gödel, Kurt 53, 79 Godlove Jr., Terry F. 57 Göhler, Gerhard 140 Griffin, James 166 Gyurcsány, Ferenc 43f. Habermas, Jürgen 28 Hacker, Andrew 21 Haider, Jörg 23
218 Hall, Stuart 22 Hallward, Peter 31 Hayek, Friedrich August von 46, 99 Held, Martin 96 Henwood, Doug 30 Hirschman, Albert O. 144 Hitler, Adolf 101 Holmes, Stephen 65 Huizinga, Johan 37, 44, 213 Hume, David 76f., 80, 82 Hurka, Thomas 155 Hurley, S. L. 19, 98 Irving, David 201, 204 Jesus Christus 52, 55 Johnson, Mark Steven 156 Johnston, Adrian 32, 38, 179 Kanitscheider, Bernulf 14ff. Kant, Immanuel 23 Katzmair, Harald 156f. Keynes, John Maynard 216 Koller, Peter 15, 99, 139, 158f. Kubon-Gilke, Gisela 96 Kuper, Adam 61, 67 Kymlicka, Will 71, 114
Personenregister Mousa, Hassan 128 Murakami, Haruki 61 Murphy, Jeffrie G. 145 Mutter Teresa 55, 155, 161f. Nagel, Ernest 79 Nagel, Thomas 85, 115ff., 118, 120 Newman, James R. 79 Norris, Andrew 181 Nozick, Robert 46, 149, 205 Parfit, Derek 159, 186 Parker, Ian 30 Parnreiter, Christof 71 Pascal, Blaise 41, 110, 131, 210 Pfaller, Robert 13f., 16ff., 20f., 23, 25ff., 34, 37f., 46f., 57f., 60ff., 74f., 86, 91, 97, 100, 147, 173, 180, 199 Phillips, D. Z. 59 Pippin, Robert 27 Pitkin, Hanna 140 Plato 101 Putnam, Hilary 78, 81f. Quine, Willard van Orman 88
Lacan, Jacques 147, 179 Laclau, Ernesto 32, 96, 181, 183, 208 Layard, Richard 150f., 168 Luhmann, Niklas 67, 71 Lukes, Steven 138f., 142
Rasmussen, Eric Dean 30 Rawls, John 28, 116–122, 128f., 147, 171, 182, 191f. Raz, Joseph 88, 120 Robbins, Tom 26 Rogers, Kelly 155 Rorty, Richard 25, 87, 198
Macho, Thomas 58 MacIntyre, Alasdair 83 Mackie, John Leslie 76f., 80 MacKinnon, Catherine 115 Mannoni, Octave 37 Markus (Evangelist) 167 Marx, Karl 38 McDowell, John 86, 130 Michaels, Walter Benn 71 Mill, John Stuart 110f., 151, 167 Miller, J. D. B. 184 Missethon, Hannes 72 Morrison, Toni 107 Mouffe, Chantal 28, 32
Salecl, Renata 22, 147 Sandel, Michael J. 114 Scanlon, T. M. 123ff., 130, 149 Schiffer, Claudia 16 Schleiermacher, Friedrich 56 Schlick, Moritz 79 Schmidt-Leukel, Perry 108 Schönborn, Christoph 209 Schröder, Jürgen 27 Schulze, Gerhard 17, 74 Searle, John R. 27, 81, 142, 199, 209, 211ff., 215 Sellars, Wilfrid 87 Sen, Amartya K. 146, 154
219
Personenregister Sennett, Richard 38, 157, 166 Somek, Alexander 127 Sorauf, Frank J. 184 Spinoza, Benedictus (Baruch) de 25 Stevenson, Charles L. 83 Strasser, Peter 53ff., 59, 74, 80ff., 92, 107, 149, 161, 168, 172 Strawson, Peter 78 Sturn, Richard 96, 99 Stutzer, Alois 169 Sunstein, Cass R. 191 Tarentino, Quentin 156 Taylor, Charles 70, 167 Tocqueville, Alexis de 156 Valéry, Paul 44
Van der Bellen, Alexander 42f. Vattimo, Gianni 56 Veyne, Paul 39 Waldron, Jeremy 47, 59, 63, 120 Walzer, Michael 109 Wang, Hao 53 Weber, Max 21, 72, 141 Wheeler, Samuel C. 160 Williams, Bernard 31, 98, 103, 114f., 122, 175, 178 Wittgenstein, Ludwig 40, 48f., 52f., 94 Zillian, Hans Georg 17 Žižek, Slavoj 28ff., 32, 51, 67f., 96, 112, 149f., 173, 177, 179 Zournazi, Mary 22, 97
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