Bekenntnis im Konflikt: Streitgeschichten im reformierten Protestantismus. Vorträge der 12. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des re-formierten Protestantismus [1 ed.] 9783788734909, 9783788734886


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German Pages [229] Year 2020

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Bekenntnis im Konflikt: Streitgeschichten im reformierten Protestantismus. Vorträge der 12. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des re-formierten Protestantismus [1 ed.]
 9783788734909, 9783788734886

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Thomas K. Kuhn / Hans-Georg Ulrichs (Hg.)

BEKENNTNIS IM KONFLIKT STREITGESCHICHTEN IM REFORMIERTEN PROTESTANTISMUS Vorträge der 12. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus

Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus Herausgegeben vom Vorstand der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V.

Band 18

Thomas K. Kuhn / Hans-Georg Ulrichs (Hg.)

Bekenntnis im Konflikt Streitgeschichten im reformierten Protestantismus Vorträge der 12. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus unter Mitarbeit von Gianna Zipp

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9716 ISBN 978-3-7887-3490-9

Vorwort

Die 12. Internationale Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus befasste sich vom 17. bis zum 19. März 2019 unter dem Titel „Bekenntnis im Konflikt“ mit „Streitgeschichten im reformierten Protestantismus“. Anlass war das Erinnern an die Dordrechter Synode 1618/1619. Sie gilt wirkungsgeschichtlich als das herausragende Exempel für einen Bekenntniskonflikt im reformierten Protestantismus. Mit ihr beschäftigt sich ein Beitrag, der als öffentlicher Abendvortrag der Tagung gehalten wurde. Gleich mehrere Beiträge widmen sich den Auseinandersetzungen um das Bekenntnis in der Schweiz. Nach dem 16. und 17. Jahrhundert kam es vor allem im 19. Jahrhundert zu breiten und kontroversen Debatten über die Bindung an und die Freiheit vom Bekenntnis einerseits und über die Ordination und Liturgien andererseits, die für zahlreiche eidgenössische Kantone weitreichende Folgen wie die Bekenntnisfreiheit brachten. Ein Hauptvortrag thematisiert mit der Aufklärung eine konfessionsgeschichtlich immer noch weniger gut erforschte Epoche. Die aktuellen Auseinandersetzungen werden anhand von Auseinandersetzungen im 20. und 21. Jahrhundert traktiert. Das ausführliche Grußwort vom Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-Oberschlesische Lausitz, Dr. h.c. Markus Dröge, greift zahlreiche Herausforderungen für ein „Bekenntnis in einer säkularen Welt“ auf und eröffnet deshalb den vorliegenden Band. Beschlossen wird der erste Abschnitt mit dem zusammenfassenden Festvortrag, den der Träger des J.F. Gerhard Goeters-Preises, Dr. Christian Mühling, während der Preisverleihung gehalten hat. Seine Fach-, Länder- und Sprachgrenzen überschreitende Studie untersucht die europäische Debatte über den Religionskrieg zur Zeit Ludwigs XIV. Die meisten der Kurzvorträge, die Themen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert aufgreifen, befassen sich ebenfalls mit der Themenstellung im engeren Sinn. Wir danken allen Beiträgern und Beiträgerinnen. Zu großem Dank verpflichtet sind wir Gianna Zipp, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Universität Greifswald, die mit großem Fleiß und Akkuratesse die redaktionelle Hauptlast getragen hat.

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Vorwort

Wenn nach zwei Dekaden bereits die zwölfte Tagung, die die Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. verantwortet, hat stattfinden können, ist das ein Grund zur Dankbarkeit. Wir danken den Mitarbeitenden der Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden für ihr Engagement. Gleichfalls gilt unser Dank den Mitarbeiterinnen des Reformierten Bundes in Deutschland e.V. für ihre Verwaltungsdienste. Ohne unsere Vereinsmitglieder könnte unsere Gesellschaft diese und andere Tagungen nicht ausrichten. Auch bei ihnen bedanken wir uns. Ein besonderer Dank ergeht an die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg-Oberschlesische Lausitz für ihre großzügige Förderung der Tagung. In zeitlicher Nähe zur 12. Internationalen Emder Tagung mussten wir von drei Personen Abschied nehmen, derer wir mit Dankbarkeit gedenken. Unser langjähriges Vereinsmitglied Peter Brockhaus (1961–2017) hat zwar nicht selber geforscht und publiziert, sammelte jedoch voller Leidenschaft wertvolle Literatur aus der Geschichte des reformierten Protestantismus. Obwohl er, aus dem Westfälischen stammend, in Wien lebte, waren ihm die Wege nach Emden nicht zu weit, selbst als er bereits von seiner Krankheit gezeichnet war. Er hat nicht nur die Kollekte des Trauergottesdienstes für unsere Gesellschaft bestimmt, sondern ihr ein Legat anvertraut, mit dem mittelfristig der J.F. Gerhard Goeters-Preis und andere Forschungsvorhaben finanziert werden können. Unser Ehrenvorsitzender Prof. Dr. Günther van Norden (1928–2018), der in der Gründungsphase eine wichtige Rolle gespielt hat und unsere Arbeit fortan mit Sympathie begleitete, verstarb im hohen Alter von 90 Jahren. Günther van Norden war ein engagierter, kritischer, bisweilen auch provozierender Historiker, wie bereits seine 1963 erschienene Dissertation zum Kirchenkampf des Jahres 1933 zeigt. Er lehrte von 1961 bis 1993 in Wuppertal, zunächst als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Rheinland und später an der Gesamthochschule Wuppertal. Über Jahrzehnte hat er die Zeitgeschichte, die rheinische Kirchengeschichte und die Geschichte des reformierten Protestantismus mitgeprägt. Dankbar hat er seinen 90. Geburtstag erlebt, zu dem ein wichtiger Band mit seinen Arbeiten erschien.1 Kurz danach verstarb Günther van Norden am 21. November 2018. Mit Bestürzung erfuhren Teilnehmende der Tagung von der schweren Erkrankung von Dr. h.c. Walter Schulz (1955–2019). Walter Schulz war bereits als junger Pastor in einer reformierten Dorfgemeinde unmittelbar bei Emden verantwortlich für die seit dem Zweiten Weltkrieg eingelagerte Bibliothek der Großen Kirche Emden, die 1943 zerstört wurde. Mit visionärer Kraft und Begeiste1 Günther van Norden, Gottes Wort ist Zuspruch und Anspruch. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte, Leipzig 2018. – Vgl. Volkmar Wittmütz, Günther van Norden (1928–2018), in: Jahrbuch für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 68 (2019), 391–396.

Vorwort

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rung gelang es ihm, den auch architektonisch so gelungenen Wiederaufbau der Großen Kirche und die Rückkehr der Bibliothek zu organisieren. So erhielten die Stadt Emden, Ostfriesland und die deutsch-niederländische Grenzregion am Dollart ein bedeutendes Tagungs- und Forschungszentrum für die Geschichte des reformierten Protestantismus von europäischem Rang. Walter Schulz verstarb nur drei Tage nach unserer Tagung am 22. März 2019. Greifswald und Karlsruhe, im Sommer 2020 Thomas K. Kuhn und Hans-Georg Ulrichs

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Dröge Bekenntnis in einer säkularen Welt

5

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Judith Engeler Bekenntnis oder Bündnis? Die Confessio Helvetica Prior von 1536 . . . .

25

Mirjam van Veen Wie es mit Sebastian Castellio weiter gegangen ist

. . . . . . . . . . . . .

41

Martin Rothkegel Theologische Kontroversgespräche zwischen Reformierten und Schweizer Brüdern. Spuren einer transterritorialen täuferischen Untergrundkirche des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Fred van Lieburg Die Dordrechter Synode (1618–1619) als öffentliches Ereignis . . . . . . .

67

Marco Stallmann Aufgeklärtes Bekenntnis? Voraussetzungen und Bedeutung des „Symbolstreits“ im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Thomas K. Kuhn Bekenntnisfreiheit in der Schweiz. Historische Entwicklungen im 19. Jahrhundert und aktuelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . .

97

Hauptvorträge

10

Inhalt

Matthias Freudenberg Glauben bekennen im 20. und 21. Jahrhundert. Erkundungen in dünner Höhenluft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Christian Mühling Die europäische Debatte über den Religionskrieg . . . . . . . . . . . . . . 149

Kurzvorträge Kai-Ole Eberhardt Bekenntniskonflikte zwischen Anfechtung und Perseveranz. Reformierte und lutherische Deutungsansätze konfessioneller Streitfälle . . . . . . . . 159 Dennis Schönberger Streit um die Inkarnation. Betrachtungen zu Johannes a Lascos Verteidigungsschrift gegen Menno Simons . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Markus M. Totzeck Bekenntnis im Recht. Juristische Aspekte zur Bekenntnisfrage in der Frühen Neuzeit und der Genfer Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Ulf Lückel „Streit zwischen Schwestern und Brüdern!“. Die Auseinandersetzungen im reformierten Berleburg zwischen 1700 und 1702 . . . . . . . . . . . . . 201 Marco Hofheinz Urteilsbildung und Entscheidungsfindung im (Bekenntnis-)Konflikt. Karl Barths Beitrag zur Rationalisierung des innerkirchlichen Streits . . . . . . 211 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Markus Dröge

Bekenntnis in einer säkularen Welt1

1.

Einleitung

„Bekenntnis im Konflikt. Streitgeschichten im reformierten Protestantismus“ – so lautet das Thema der 12. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus. Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung, in diesem Rahmen einen Beitrag zu geben und über das Thema „Bekenntnis in einer säkularen Welt“ zu sprechen. Ja, ich komme aus einer säkularen Welt. Ich komme aus Berlin, aus Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz. Mag sich in der schlesischen Oberlausitz noch teilweise eine traditionelle Frömmigkeit gehalten haben, und mag es in einigen Stadtteilen Westberlins noch volkskirchliche Verhältnisse im traditionellen Verständnis der westdeutschen Landeskirchen geben, so gehört Brandenburg mit Tschechien zu den Regionen, in denen im weltweiten Vergleich das geringste religiöse Selbstverständnis der Bevölkerung zu finden ist. Bekenntnis in einer solchen Welt? Oder anders gefragt: Wie kann ein bekennendes Christsein in einer solcher Welt aussehen? Und – wenn ich dazu den Horizont der Fragestellung Ihrer Tagung mit aufmache: Gibt es bei uns auch ein streitbares Bekennen, das den Konflikt nicht scheut? Bekenntnismut, der sich öffentlich artikuliert? Zunächst: Ich spreche hier nicht als Vertreter der reformierten Gemeinden meiner Kirche. Dafür haben wir in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) das Moderamen und die Moderatorin. Aber es liegt mir am Herzen, die reformierte Tradition unserer Kirche zu bewahren. Denn ohne diese reformierte Tradition kann unsere Kirche nicht uniert bleiben. Und eine unierte Kirche wollen wir sehr bewusst sein und bleiben. Ich selbst, in der Rheinischen Kirche religiös sozialisiert, richte meine Amtsführung nach der Barmer Theologischen Erklärung aus, und ich fühle mich in der EKBO mit dieser Haltung gut beheimatet, da unsere Grundordnung diese 1 Der Vortragsstil wurde für diesen Beitrag beibehalten.

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Markus Dröge

Erklärung als „ein schriftgemäßes, für den Dienst der Kirche verbindliches Bekenntnis“ bejaht.2 Von dieser Grundorientierung ausgehend, verstehen wir die EKBO als eine „Volkskirche“ im Sinne der VI. Barmer These, also als eine Kirche, die ihre Botschaft an alles Volk ausrichtet. So haben wir es in den Zehn Thesen „begabt leben – mutig verändern“, eine Art Leitbild, per Synodalbeschluss 2014 festgeschrieben.3 Und allein dies schon – nämlich, dass wir den Begriff „Volkskirche“ fortschreiben im Sinne einer gesellschaftlich engagierten Kirche mit politischem Anspruch auch wenn wir kleiner werden – ist im säkularen Umfeld eine Kampfansage an diejenigen, die genau diesen Anspruch zurückschrauben wollen, sei es aus einer links-ideologischen oder einer rechts-populistischen Haltung heraus. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in der EKBO in der Tradition Barmens gerade heute wieder neu und verstärkt eine bekennende Kirche sein müssen und nicht nur eine moderierende Kirche, die die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen, die sich bekanntlich ja auch immer in der Kirche zeigen, miteinander harmonisch zu verbinden hat. Unter einer bekennenden Kirche verstehe ich eine Kirche, die den Mut hat, in ihren Gremien und Synoden miteinander darum zu ringen, was sie aktuell als bezeugte und gelebte Antwort auf das Bekenntnis Gottes zu uns Menschen in Jesus Christus zum Ausdruck bringen will, und die dann auch den Mut hat, diese ihre aktuelle Botschaft öffentlich zu bezeugen und zu verteidigen. Eine bekennende Kirche gibt eine Antwort auf die Fragen: Wer ist Jesus Christus für uns heute? Und wie verstehen wir deshalb gelebtes Christsein heute? Eine bekennende Kirche ist also eine Kirche, die das Bekenntnis zu Jesus Christus immer wieder neu aktualisiert und konkretisiert und durchaus streitbar die erkannte Wahrheit in den öffentlichen Diskurs einbringt. Von diesem Ansatz aus, der – das wird Ihnen nicht verborgen geblieben sein – durchaus die Züge eines reformierten Bekenntnisses trägt, will ich nun das Thema „Bekenntnis in einer säkularen Welt“ in drei Schritten weiter entfalten: Was ist und wie erlebe ich Säkularität? Vor welchen aktuellen Herausforderungen stehen wir als EKBO? Wo ist eine Bekenntnishaltung heute in besonderer Weise gefragt?

2 Grundordnung der EKBO, Grundartikel I, 7. 3 Die Zehn Thesen aus dem Jahr 2014 „begabt leben – mutig verändern“ sind das Ergebnis einer umfassenden Umfrage in der EKBO unter der Fragestellung „Welche Kirche morgen?“. Die Thesen finden sich unter https://reformprozess.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/kirchen tag2017-ekbo.de/Flyer_10_Thesen_EKBO.pdf.

Bekenntnis in einer säkularen Welt

2.

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Was ist und wie erlebe ich Säkularität?

Der Begriff „Säkularität“ vereinigt sehr unterschiedliche Phänomene, je nachdem in welchem Kontext er verwendet wird.

2.1

Säkularität als Rückgang von religiösem Bewusstsein

Ganz generell wird er benutzt, wenn vom Bedeutungsverlust der Religion die Rede ist. Säkularisierung ist für viele meiner Gesprächspartner, besonders im journalistischen Bereich, die – oft unhinterfragt als Tatsache angenommene – abnehmende Bedeutung der Religiosität für die Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft. Diese Haltung begegnet mir in fast jedem Interview. Die Fragenden gehen durchgehend von der These aus, dass ich als Bischof gegen diesen Bedeutungsverlust anzukämpfen hätte, der als solcher nicht in Frage gestellt wird. Vielfach stehen Konzept und These der Interviewerin oder des Interviewers bereits fest, bevor ich die erste Frage beantwortet habe. Man möchte einen Bischof erleben und darstellen, der sich mit der Tatsache der zunehmenden Säkularisierung auseinanderzusetzen hat. Interessant ist, wie er das tut: Ist er naiv, wagemutig oder verzweifelt? Lebt er immer noch mit der Illusion, den Bedeutungsverlust der Religion aufhalten zu können, gar die Kirche zu einem „Wachsen gegen den Trend“ motivieren zu können? Oder ist er ehrlich und realistisch und akzeptiert die Tatsache des zunehmenden Bedeutungsverlustes der Religiosität und stellt sich darauf ein. Ich nenne ein Beispiel: Ständig werde ich gefragt, wie viele Kirchen wir denn schon geschlossen hätten. Dass die Zahl minimal gering ist und dass wir wunderbare Konzepte haben, wie wir die große Zahl von Gemeindehäusern aus den 1960er und 1970er Jahren in gemeinwesenorientierte Stadtteilzentren umbauen und damit in einer neuen Weise unser christliches Zeugnis leben, – dafür Interesse zu wecken ist wesentlich schwieriger. Für mich ist jede öffentliche Äußerung dann ein großer Erfolg, wenn es gelungen ist, Interesse für eine andere Sicht der Dinge zu wecken als die, die ein undifferenziertes und plattes Säkularisierungsverständnis vorgibt.

2.2

Säkularität als Trennung von Kirche und Staat

Als ein anderes Element der Säkularität wird die Trennung von Kirche und Staat gesehen. Hierbei begegnet mir im gesellschaftspolitischen Umfeld meiner Kirche vielfach die Überzeugung, dass wir in unserem Staat und mit dem geltenden Religionsrecht die Trennung von Kirche und Staat noch nicht klar durchgeführt hätten. Ein Anpassen der kirchlichen Rolle in der Gesellschaft an die fort-

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Markus Dröge

schreitende Säkularisierung sei deshalb notwendig. Demgegenüber verstehen wir es kirchenleitend als unsere Aufgabe, in politischen Diskussionen, in öffentlichen Stellungnahmen und in den offiziellen Gesprächen zwischen der Kirchenleitung und den Parteien und mit den Landesregierungen das Religionsrecht unserer Staates zu erklären und – trotz aller Notwendigkeit einer moderaten Weiterentwicklung – als ein Erfolgsmodell für die Gestaltung des Verhältnisses von Religionsgemeinschaften und Gesellschaft zu verteidigen, nicht ohne gleichzeitig zwei Dinge immer zu betonen: Erstens weisen wir darauf hin, dass wir kein Staatskirchenrecht haben, sondern ein Religionsverfassungsrecht, das in gleicher Weise für andere Konfessionen und Religionen gilt. Und zweitens sind wir anderen Konfessionen und Religionen behilflich, in diese gute Ordnung zunehmend hineinzuwachsen.

2.3

Säkularisierung als Rückgang des Einflusses von religiösen Institutionen

Damit bin ich bei der dritten Facette des Verständnisses von Säkularität: Säkularisierung als der Prozess des Rückgangs des Einflusses der Religionsgemeinschaften als Institutionen. Vielfach begegnet mir die Auffassung: Der Einfluss der beiden großen Kirchen sei ungebührlich groß. Weder ihre Mitgliederzahl noch ihre inhaltliche Botschaft rechtfertigten den Einfluss, den die beiden großen Kirchen als Institutionen heute hätten. Es seien allein die überholten, sogenannten „Privilegien“, die diesen Einfluss aufrechterhalten: Kirchensteuersystem, staatlich finanzierte theologische Fakultäten und refinanzierter Religionsunterricht, Mitgliedschaft in den Rundfunkräten und vieles mehr. All dies seien letztlich Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Demgegenüber gilt es deutlich zu machen, dass es sich nicht um „Privilegien“ handelt, sondern um bewährte Formen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Religionsgemeinschaft und Staat, die auch allen anderen Religionsgemeinschaften offenstehen (sofern sie die Bedingungen erfüllen, die Voraussetzung für die Wahrnehmung dieser Rechte sind), und die dazu beitragen, dass wir in unserem Land ein selbstreflexives, aufgeklärtes, den Menschenrechten verpflichtetes Christentum kultivieren können.

2.4

Trotz Säkularität – großes Vertrauen und starke Erwartungen

Die säkulare Welt ist also sehr differenziert zu betrachten. Es gibt keineswegs eine zunehmende Säkularisierung im Sinne eines gradlinigen Bedeutungsverlustes. Es gibt durchaus auch gegenläufige Phänomene. Es gibt das unerwartet große Vertrauen in christliche Personen und Institutionen. Es gibt starke Erwar-

Bekenntnis in einer säkularen Welt

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tungshaltungen gegenüber der Kirche, der Diakonie, den evangelischen Schulträgern, den evangelischen Trägern gemeinwesenorientierter Arbeit. Wir werden als kulturelle Fachleute für Gedenkkultur angesehen, als Fachleute für den interreligiösen Dialog, und nicht zuletzt auch als wichtige ethische Stimme in den gesellschaftlichen Diskussionen. Die diesbezüglich eindrücklichsten Erfahrungen der letzten Jahre haben wir im Kontext unseres Engagements in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ gemacht, die nur insofern eine Krise war, als die Verwaltungsstrukturen der öffentlichen Hand – besonders in Berlin – vorübergehend überfordert waren. Das große Engagement unserer Kirchen, auf allen Ebenen und in erfreulich guter Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie – hat dieses Vertrauen in die Kirche und hat die Erwartungshaltungen noch einmal sehr verstärkt. Erstaunlich aber ist, dass es oft dieselben Personen sind, die einerseits öffentlich die Beschneidung der sogenannten „Privilegien“ der Kirchen fordern, die aber andererseits in der praktischen Arbeit sehr vertrauensvoll auf uns zurückgreifen, ohne selbst die Widersprüchlichkeit ihrer Haltung zu erkennen oder zuzugeben. So begegnet mir zum Beispiel bei manchen linksorientierten atheistischen Politikern eine hohe Wertschätzung der Kirche, da – so die Auffassung – die Kirche die letzte funktionierende Institution sei, die dem ungezügelten Kapitalismus noch eine kräftige soziale Stimme entgegensetzen könne. Gleichzeitig aber werden alle Forderungen unterstützt, um die Kirche als Institution einzuschränken. Offensichtlich gibt es viele Wundergläubige auch unter den Atheisten: Sie glauben an das Wunder, dass wir auch ohne verlässliche Ressourcen und stabile Strukturen eine wirkmächtige Institution bleiben können. Die Bereiche, in denen wir verstärkt aktiv sein könnten, weil uns großes Vertrauen entgegengebracht wird, sind schier unbegrenzt und umfassen alle klassischen Bereiche des gesellschaftlichen Wirkens der Kirche: – Evangelische Schulen: Wir haben weit mehr Anmeldungen als Plätze. – Religionsunterricht: Es gibt weit mehr Bedarf, als für uns finanziell und personell realisierbar. – Kulturarbeit: Es gibt ein großes Interesse von Künstlern mit uns als einem spirituellen, an Transzendenz interessierten gesellschaftlichen Player zusammenzuarbeiten. – Es gibt einen hohen Bedarf an Gemeinwesenarbeit, Jugendarbeit, Seelsorge in Krankenhäusern, Altenheimen, Justizvollzugsanstalten. – Wir sind gefragt bei der Gestaltung der Gedenkkultur, sei es, wenn es um aktuelles Gedenken bei gesellschaftlichen Ereignissen, besonders bei erschütternden Ereignissen, geht, sei es beim Gedenken an historische Ereignisse. – Bei der Inszenierung des interreligiösen Dialoges sind wir gefragt. – Sehr stark braucht man uns für die Unterstützung der Integration von Flüchtlingen.

16

Markus Dröge

– Wir leisten Hilfe bei der Bewältigung des Strukturwandels in unserer Braunkohleregion Lausitz, wo unser „Zentrum für Dialog und Wandel“ innerhalb von allerkürzester Zeit ein erstaunliches Vertrauen und eine immense Ausstrahlung gewonnen hat. Und vieles mehr. Von den Erwartungshaltungen aus gesehen kann von einem Bedeutungsverlust der Kirche als Institution also keinesfalls die Rede sein.

2.5

Ein intuitives Gefühl für den Wert religiöser Anschauungen und Haltungen

Meine These ist, dass wir als Kirche in der säkularen Welt nicht nur rein funktional gesehen werden in dem Sinne, dass man uns nur wegen der gesellschaftlichen Funktion, die wir in den verschiedenen Bereichen wahrnehmen, schätzt – dies würde das uns immer wieder unerwartet begegnende Vertrauen nicht erklären. Vielmehr ist auch in der säkularen Welt, in der wir leben, ein Gespür dafür geblieben, dass bei religiösen Menschen und sogar auch bei Institutionen, die von religiösen Menschen getragen werden, ein besonderes Menschenbild, ein besonderes Sozialverhalten, eine besondere Spannkraft und eine besondere Hoffnungskraft erwartet werden können. Von der Kirche wird erwartet, dass sie zusätzlich zu ihrer funktionalen Bedeutung auch eine Versöhnungsbotschaft und Moderationsfähigkeiten einbringen kann, die den gesellschaftlichen Frieden in Situationen ernster Zerreißproben bewahren helfen.

3.

Vor welchen aktuellen Herausforderungen stehen wir?

Ich habe bisher versucht, darzulegen, wie ich die säkulare Welt erlebe, in der wir unser christliches Zeugnis zu leben haben. Das konnte nur eine sehr holzschnittartige Skizze sein. Ich hoffe aber, dass deutlich geworden ist, wie vielschichtig ich diese säkulare Welt erlebe. Ein einfaches oder gar einliniges Verständnis von Säkularisierung ist meines Erachtens nicht angemessen. Die bekanntermaßen überholte These von der immer weiter fortschreitenden Säkularisierung, von der oft gesagt wird, sie gelte zwar weltweit nicht mehr, aber doch noch für Mitteleuropa, kann ich für unsere Situation nicht mehr bestätigen. Und dabei habe ich die neue Religiosität durch Einwanderung noch gar nicht berücksichtigt. Es gibt zu viele divergierende Phänomene und Entwicklungen. Und nach meiner Einschätzung ist durchaus noch nicht ausgemacht, ob es nicht auch bei uns wieder verstärkt ein Interesse an einem transzendent begründeten Selbstverständnis und einer transzendent begründeten Ethik geben könnte. Ich nenne einige Indizien:

Bekenntnis in einer säkularen Welt

17

– Unsere Beauftragten für unser weitreichendes Umweltkonzept erzählen immer wieder, dass gerade bei den nicht-christlichen Gesprächspartnern ein hohes Interesse daran besteht, wie wir unser Engagement theologisch begründen: Warum reden wir von Schöpfung, nicht nur von Umwelt? – Als das Siemenswerk in Görlitz vor gut einem Jahr geschlossen werden sollte und als wir als Kirche die Arbeitnehmer bei ihrem Kampf für die Zukunft ihrer Arbeitsplätze mit unserem „Zentrum für Dialog und Wandel“ unterstützt haben, gab es eine große Demonstration kurz vor Weihnachten: Auf ausdrücklichen Wunsch der Gewerkschaften wurde ein Gottesdienst gefeiert, der von der Gewerkschaft sogar mit plakatiert wurde. Und auf ausdrücklichen Wunsch wurden in diesem Gottesdienst die christlichen Weihnachtslieder gesungen. Die Angestellten, so hieß es von Seiten der Gewerkschaft, brauchten gerade jetzt diese Hoffnungsbotschaft. – Im Reformationsjubiläumsjahr habe ich große Offenheit für die Kernbotschaft der Reformation erlebt, die ich zugespitzt habe auf die Begriffe „Gewissensfreiheit“ und „Verantwortung für das Gemeinwohl“. Vor vollen Stadthallen in Brandenburg habe ich anlässlich der Eröffnung von Ausstellungen gesprochen und habe diese – ich gebe zu säkularisierte Form – der Reformationsbotschaft in Grußworten vertreten. Ich habe oft gehört: „Herr Bischof, ich bin Atheist, aber diese Botschaft brauchen wir heute.“ Die transzendente Dimension der Botschaft wird nicht unbedingt mit nachvollzogen, aber sie wird respektiert, sonst hätte man uns nicht in ungeahnt großzügiger Weise im Jubiläumsjahr 2017 die Türen für Ausstellungen, Projekte und Aktionen geöffnet. Wir wollen als EKBO in diese differenziert-säkulare Situation hinein mit einem weiten Missionsbegriff unser Zeugnis ablegen. Formuliert haben wir ihn in These 1 unserer Zehn Thesen: „Wir sind Kirche mit Mission“: „Wir stehen in unserer Landeskirche mit ihren Kirchenkreisen, Arbeitszweigen und Gemeinden gemeinsam mit der weltweiten Christenheit im Auftrag Jesu Christi. Wir leben aus der Kraft des dreieinigen Gottes und sind getragen von der Gewissheit, dass der auferstandene Christus seine Kirche begleitet. Wir wollen den Heiligen Geist in seiner Vielfalt neu entdecken. Er motiviert und stärkt uns, „Salz der Erde“ zu sein und unsere Mission zu erfüllen: das Evangelium zu verkündigen, zur Gemeinschaft einzuladen, die Lehre Jesu weiterzugeben, Seelsorge zu üben und zur tätigen Nächstenliebe zu motivieren. Wir setzen uns ein für die Bewahrung der Schöpfung und die Achtung der Menschenrechte.“4

4 Grundordnung der EKBO (wie Anm. 2).

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Markus Dröge

Diese These, in der wir uns mutig dazu bekennen, eine „Kirche mit Mission“ zu sein, hat für mich Bekenntnischarakter in einer Zeit, in der der Begriff „Mission“ vielerlei Missverständnissen ausgesetzt ist.5 Ich denke etwa an die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte. Sie wird in Berlin noch deutlich an Dynamik gewinnen, wenn das Humboldt-Forum im wiedererrichteten Stadtschloss eröffnet wird. Dort werden die in Berlin in der Kolonialzeit gesammelten Kulturschätze aus aller Welt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Streit um die Frage, ob das Schloss auf seiner Kuppel wieder das Kreuz tragen dürfe, wie der ursprüngliche Bau, weil dies doch das Zeichen des triumphalistischen Christentums sei, und weil es ein Affront sei, dieses Zeichen über einem Haus aufzurichten, in dem die außereuropäischen Kulturen der Welt auf Augenhöhe dargestellte werden sollen, gibt schon eine Vorahnung dessen, was an Diskussionen bevorsteht. Sich in unmittelbarer Nachbarschaft des HumboldtForums bewusst als eine „Kirche mit Mission“ zu verstehen, hat für mich Bekenntnischarakter.

4.

Wo ist eine Bekenntnishaltung heute konkret gefragt?

Konkret sehe ich drei große Herausforderungen, in denen wir aktuell und mittelfristig besonders gerufen sind, uns als erkennbar bekennende Kirche zu positionieren: Im Gespräch mit den Konfessionslosen, im interreligiösen Dialog und in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus

4.1

Im Gespräch mit den Konfessionslosen

In meiner Skizze der säkularen Welt, in der wir in der EKBO leben, habe ich versucht deutlich zu machen, dass wir zwar zweifellos in einer wenig religiös geprägten Umwelt leben, dass diese Situation aber viele Facetten hat. Die große Herausforderung besteht allerdings – trotz dieses Facettenreichtums – darin, schlicht zu akzeptieren, dass wir es bei der Gestaltung des kirchlichen Lebens in fast allen Bereichen (bis auf den engsten Kreis gottesdienstlichen Lebens) mit vielen Konfessionslosen zu tun haben. Wie verstehen wir dort unsere „Mission“? Es kann nur darum gehen, im Sinne der Kommunikation des Evangeliums unser Selbstverständnis als Menschen, die ihr Leben als Antwort auf die Selbster5 Wir haben den Begriff „Kirche mit Mission“ bewusst gewählt, weil er, aus dem englischsprachigen Bereich kommend, weniger Assoziationen an die Missionsgeschichte weckt, als an Personen, Gruppen und Unternehmen, die klar ihren Auftrag verdeutlichen. So wirbt ein Berliner Reinigungsunternehmen mit dem Slogan: „Putzen und Wischen, that’s our mission.“

Bekenntnis in einer säkularen Welt

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schließung Gottes in Jesus Christus verstehen, ins Gespräch zu bringen. Die Formel „Rede nur, wenn Du gefragt wirst, aber lebe so, dass Du gefragt wirst“, ist mir dabei allerdings zu defensiv. Natürlich ist die Bezeugung des Glaubens nicht nur ein Sprachgeschehen. Die Art des Lebens redet eine sehr klare non-verbale Sprache. Aber dennoch kommt es darauf an, Räume zu schaffen, in denen überhaupt die Gelegenheit entsteht, über das persönliche Bekenntnis des Glaubens zu reden. Sonst findet die Kommunikation des Evangeliums nur sehr eingeschränkt statt. Die Gelegenheiten, solche Räume zu schaffen, sind sehr viel häufiger, als vielfach erwartet. Hier spielt das vorherrschende Grundvertrauen, das ich in meiner Skizze beschrieben habe, eine große Rolle: Man traut uns zu, dass wir ein barmherziges Menschenbild haben, dass wir dem Gemeinwohl dienen wollen; dass wir uns für Versöhnung einsetzen, Frieden suchen und die Umwelt aus tiefer Überzeugung schützen wollen. Weil dieses Vertrauen da ist, auch in der säkularen Welt, können unsere Schulen solche Räume sein, in denen die Kommunikation des Evangeliums mit Konfessionslosen stattfindet; ebenso der Religionsunterricht; das Engagement für die Umwelt; die Förderkreise zur Erhaltung von Dorfkirchen; die Aktionsgruppe, die sich um die Integration von Flüchtlingen kümmert und die diakonischen Einrichtungen, in denen mehrheitlich NichtChristen arbeiten. Offenheit für die säkulare Welt heißt, solche Räume zu gestalten und in ihnen das Evangelium zu kommunizieren.

4.2

Im interreligiösen Dialog

Die zweite große Herausforderung sehe ich im interreligiösen Dialog. In unseren Thesen heißt es in These 3: „Wir nehmen die Herausforderungen der pluralistischen Gesellschaft an“: „Unsere Gesellschaft ist vielfältig und wird noch vielfältiger werden. Unterschiedliche Kulturen und Religionen, areligiöse und atheistische Weltanschauungen sowie unterschiedliche Ansichten über die Rolle der Religionen in der Gesellschaft prägen öffentliche Diskurse. Wir nehmen diese Situation als Herausforderung an, vertreten unsere Botschaft aktiv und setzen uns im Geist der Versöhnung für den gesellschaftlichen Dialog der Weltanschauungen ein.“

Aktiv eintreten für die eigene Botschaft und gleichzeitig versöhnend zu leben – das ist die Herausforderung. Dazu gehört es, im genuinen Sinne „apologetisch“ den eigenen Glauben zu bekennen. „Apologetisch“ in dem Sinne, dass wir lernen müssen, für Nicht- oder Andersgläubige unser Bekenntnis nachvollziehbar zu erklären. Wenn ich einem muslimischen Mitbürger die Trinitätslehre erklären will, dann geht dies nach meiner Erfahrung nur, wenn ich ihm deutlich mache,

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Markus Dröge

was sie für mich bedeutet, wie ich sie verstehe, wie ich mit meinem Verstand und meinem Leben auf die Selbstoffenbarung des dreieinigen Gottes antworte, also bekennend: Ich bekenne, dass ich das Wirken Gottes vielfältig erlebe und dass ich dieses Erleben mit meinem Bekenntnis zum dreieinen Gott auf den Begriff bringe. Ich habe noch die erstaunten, aber hochinteressierten Gesichter vor Augen, als ich diese schlichte Weise der Erklärung der Trinitätslehre in einem Vortrag vor muslimischen Studierenden dargeboten habe. Erstmalig, so sagte mir einer, habe er verstanden, dass die Christen wohl doch keine Polytheisten sind. In Berlin erlebe ich es, dass das gemeinsame Bekenntnis der drei monotheistischen Religionen im säkularen Umfeld von immenser Bedeutung ist, um überhaupt Glaubwürdigkeit für religiöse Bekenntnisse zu ermöglichen. Gestern haben wir aus aktuellem Anlass den Imam des zukünftigen House of One von Berlin zusätzlich zu den nigerianischen Pastoren und Gemeindegliedern zu unserem Reminiscere-Gottesdienst zum Gedenken an die verfolgten Christen in Nigeria in meiner Bischofskirche St. Marien am Alexanderplatz eingeladen, um auch der Opfer des Attentates des Anschlages auf die Moschee in Christchurch, Neuseeland, zu gedenken. Er hat Trostverse der muslimischen Tradition nach einer Schweigeminute gelesen. Das war für die Öffentlichkeit glaubwürdig. Das hat zu einer Meldung im Leitmedium der Hauptstadt, dem Tagesspiegel, geführt.

4.3

In der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus

Ich halte es für eine der größten Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Bewahrung der menschenrechtsbasierten Werte in unserem Land, dass wir dem Rechtspopulismus gegenüber eine klar bekennende Kirche sind. Dieses Thema näher zu beleuchten wäre ein eigenes Vortragsthema. Aber so viel möchte ich dazu sagen: Dort, wo der christliche Glaube mit dem Begriff „Christliches Abendland“ in Anschlag gebracht wird, um völkisches Denken zu begründen, um Menschenfeindlichkeit zu legitimieren, um den Dialog der Religionen zu diffamieren, um die Gedenkkultur zu pervertieren, damit die europäische Versöhnungsgeschichte abgewertet werden kann, um die Sorge um die Schöpfung zu bagatellisieren – da sind wir ganz ursprünglich zum Bekenntnis gerufen. Wir müssen deutlich machen, wie wir uns mit unserem Glauben auf Jesus Christus beziehen, und dass es nicht legitim ist, sich auf Jesus Christus zu berufen, um eine neonationalistisch-völkische Ideologie zu begründen.

Bekenntnis in einer säkularen Welt

5.

21

Ein Hoffnungszeichen: Neue bekenntnishafte Erklärungen entstehen

Es ist ein ganz großes Hoffnungszeichen, dass zurzeit in unterschiedlichen Kontexten neue, bekenntnisartige Texte entstehen, die – meist mit christologischer Begründung – die aktive Auseinandersetzung in gesellschaftlichen Kontexten suchen. Ich nenne drei Beispiele: Erstens: In Amerika bietet der Text „Reclaiming Jesus“ in sechs Thesen mit sechs Verwerfungen, ganz im Stile der Barmer Theologischen Erklärung, eine Auseinandersetzung mit dem Trumpismus.6 Wir haben diesen Text, der circa ein Jahr alt ist, durch unsere Partnerschaft mit der United Church of Christ in den USA sehr aufmerksam wahrgenommen. Zweitens: Ende letzten Jahres ist die Herrnhuter Brüdergemeine in Bad Boll mit einer politischen Erklärung gegen Rechtspopulismus an die Öffentlichkeit gegangen.7 Das ist ein Novum, was sie folgendermaßen begründet: „Die Brüdergemeine hat sich in der Vergangenheit politischer Äußerungen in der Öffentlichkeit enthalten. Manchmal mag das weise gewesen sein, manchmal sind wir einander aber auch Orientierung schuldig geblieben. Angesichts dessen, dass heute grundlegende Werte in Europa auf dem Spiel stehen, können wir als Leitung der Evangelischen Brüder-Unität nicht schweigen.“

Drittens: In meiner Kirche werden wir auf der Landessynode am 5. und 6. April 2019 einen Text diskutieren, den unser Theologischer Ausschuss, angeregt durch „Reclaiming Jesus“, formuliert hat. Wir haben ihn nicht so schroff formuliert – mit Thesen und Verwerfungen – wie die Geschwister in den USA, sondern in Drei-Schritten: Was beobachten wir? Was glauben wir? Wofür setzen wir uns ein?8 Es ist ein gutes Zeichen, dass an verschiedenen Orten ein bekennender Geist wach wird. Denn nur als Antwort des Glaubens können wir als Christen glaubwürdig die notwendigen Auseinandersetzungen führen. Wenn wir dies wagen, da bin ich mir sicher, werden wir in der säkularen Welt ein kraftvolles Zeugnis leben können. Die reformierte Tradition mit ihrem Bekenntnisverständnis, als je aktualisierte Antwort auf das Bekenntnis Gottes zu uns Menschen in Jesus Christus, hat bei dieser Aufgabe einen wichtigen Beitrag einzubringen. Lassen Sie uns also die Streitgeschichten weiterschreiben!

6 Vgl. https://www.reformiert.de/files/reformiert.de/Bilder/artikelbilder/startseite/FriedensGDOS/Reclaiming_Jesus_deutsch.pdf. 7 Vgl. https://www.ebu.de/aktuelles/erklaerung-gegen-rechtspopulismus/. 8 Inzwischen erschienen unter dem Titel „Haltung zeigen“: https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/ mandant/ekbo.de/0._Startseite/03._PDFs_und_Audios/D_Haltung_zeigen_Beschluss_Landessyn ode.pdf.

Hauptvorträge

Judith Engeler

Bekenntnis oder Bündnis? Die Confessio Helvetica Prior von 1536

1.

Einleitung

„Ich zweifle nicht, dass wir, die wir Christus in den schweizerischen Kirchen predigen, uns in allen Dingen einig sind.“1 So schrieb Heinrich Bullinger (1504– 1575), Zürcher Antistes, an seinen Amtskollegen Oswald Myconius (1488–1552) in Basel am 20. Januar 1536, kurz vor dem Beginn der Verhandlungen über das Erste Helvetische Bekenntnis, das auch Confessio Helvetica Prior genannt wird. Als erstem gemeinsamen Bekenntnis der reformierten Schweizer Kirchen kommt ihm ein hoher Stellenwert zu, denn es gab im Gebiet der Eidgenossenschaft mit und nach der Einführung der Reformation großen theologischen Klärungsbedarf. Die reformierten Gemeinden und Kirchen standen vor der Herausforderung, ihr Verständnis des christlichen Glaubens neu auszuformulieren. Sie mussten in Worte fassen, wie sie das Evangelium von Jesus Christus verstanden und damit Rechenschaft über ihren Glauben ablegen. Gleichzeitig war mit der Bekenntnisformulierung nicht nur eine Trennung von den „Altgläubigen“ verbunden, sondern oft auch ein innerprotestantischer lehrmässiger Abgrenzungsprozess verknüpft.2 Dieser Dissens in Lehrfragen entzündete sich insbesondere dort, wo es „konkret“ wurde, nämlich an den Sakramenten. Gerade an der Frage, wie die Präsenz Christi im Abendmahl zu verstehen sei,3 schieden sich 1 Original: „Nil ambigo nos, qui per Helveticas ecclesias Christum praedicamus, convenire per omnia.“ Hans Ulrich Bächtold/Rainer Henrich (Hg.), Heinrich Bullinger Briefwechsel (HBBW). Briefe des Jahres 1536, Bd. 6, Zürich 1995, Nr. 731, 90, 24f.; Übersetzung J. E. Vgl. auch: „Respondi eadem omnibus esse dogmata, in ritibus quoque nil esse discordiae, tametsi non omnes eosdem et eodem modo observemus; at libertatem in his esse servandam etc.“ Ebd., Nr. 731, 90, 27–29. 2 Vgl. Heiner Faulenbach, Einleitung, in: Eberhard Busch/Heiner Faulenbach u. a. (Hg.), Reformierte Bekenntisschriften (RBS), Bd. 1/1: 1523–1534, Neukirchen-Vluyn 2002, 1–67, hier 2f. 3 Der Streit geht nach Zwingli nicht um die Realpräsenz des Leibes Christi, sondern um den Modus dieser Präsenz. Er legt das Gewicht darauf, dass in der gläubigen Besinnung im

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Judith Engeler

die Gemüter, und dieser Konflikt führte schließlich zur Trennung von schweizerischer und wittenbergischer Reformation. In diesem Beitrag über die Bekenntnisbildung in der Schweiz wird nun aber das Augenmerk nicht auf das Trennende, sondern auf das Verbindende gelegt: Können Bekenntnisse auch verschiedene, sich gegenüberstehende Parteien einigen? Gerade in der höchst umstrittenen Abendmahlsfrage gab es dafür zahlreiche Versuche, erfolgreiche und weniger erfolgreiche: Aus Schweizer Sicht waren das Marburger Religionsgespräch von 1529 und der Consensus Tigurinus von 1549 wohl die wichtigsten. Dazwischen fällt 1536 der Abschluss der Wittenberger Konkordie, ein „Meilenstein“ in der Abendmahlsverständigung zwischen den wittenbergischen und den oberdeutschen Kirchenvertretern. Und wo positionierten sich die Schweizer? Wenn wir Bullingers Aussage gegenüber Myconius ernst nehmen, gab es innerhalb der schweizerischen Kirchen zu Beginn des Jahres 1536 keinen größeren Dissens; weder in der Abendmahlsfrage noch in anderen Lehr- und Glaubensfragen. Da stellt sich nun die Frage, warum dieses Erste Helvetische Bekenntnis abgefasst wurde. Ging es primär um die Überwindung von Lehrstreitigkeiten mit Martin Luther (1483–1546) oder darum, Rechenschaft über den eigenen Glauben abzulegen? Oder anders gefragt: Wie wichtig war ein mögliches Bündnis mit den deutschen Protestanten, wofür eine theologische Einigung mit Luther Voraussetzung gewesen wäre? Und welcher Stellenwert konnte einem eigenen, innereidgenössischen Bekenntnis überhaupt zukommen? Für die Klärung dieser Fragen werden Briefe beteiligter Theologen, insbesondere Bullingers, herangezogen und die Motive der Ratsherren anhand der Abschiede, also der Protokolle und Memoranden von Tagsatzungen, herausgearbeitet. Zum besseren Verständnis sollen zuallererst neben den Spezifika reformierter Bekenntnisse auch überblicksartig die Bekenntnisbildung in der Schweiz vor 1536 thematisiert werden. Dem Hauptteil zum Ersten Helvetischen Bekenntnis folgt ein Ausblick.

2.

Bekenntnisbildung in der Schweiz

Bekenntnisschriften sind „eine Zusammenfassung der maßgeblichen Lehrstücke (articuli fidei) beziehungsweise Glaubensnormen (regulae fidei)“4, die in einer verfassten Kirche offiziell anerkannt worden sind. Spezifisch nun für reformierte Bekenntnisschriften sind ihre Partikularität und Pluralität in räumlicher und Abendmahl, der Memoria (vgl. hier das Abendmahl als Erinnerungsfeier), der ganze Christus, auch seine Leiblichkeit, gegenwärtig ist, nämlich „in mente fidelium“. Vgl. Gottfried Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, 222f. 4 Vgl. Johannes Wirsching, Art. Bekenntnisschriften, in: TRE 5 (1980), 487–511, hier 488.

Bekenntnis oder Bündnis?

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zeitlicher Hinsicht.5 Schon aufgrund ihrer Genese, nämlich oft territorial oder national entstanden, hatten reformierte Bekenntnisschriften räumlich eine beschränkte Geltung. Dazu kommt die prinzipielle Überbietbarkeit: Es herrscht die Überzeugung, dass eine bessere Einsicht in die Heilige Schrift eine neue Bekenntnisschrift erforderlich machen könnte. Diese Betonung der eigenen Kontextualität hat zur Folge, dass die Untersuchung der Begleitumstände bei der Abfassung der Bekenntnisschriften eine grosse Rolle spielt. Gerade weil die Aktualität der reformierten Bekenntnisschriften betont wird, ist es wichtig zu fragen, in welchem Umfeld und zu welchem Zweck sie abgefasst worden sind. Allerdings tut diese Geschichtlichkeit dem Anspruch der reformierten Bekenntnisschriften auf universale Reichweite keinen Abbruch.6 Das alles gilt selbstverständlich auch für die Bekenntnisbildung in der Schweiz.

2.1

Zwinglis 67 Thesen von 1523

Die erste Stufe dieser Bekenntnisbildung repräsentieren die 67 Thesen. Ulrich Zwingli (1484–1531) hatte sie zuhanden der Ersten Zürcher Disputation vom 29. Januar 1523 verfasst, die vom Zürcher Rat ausgeschrieben worden war. Weil viel „tzwittracht unnd tzweyung“7 wegen Zwinglis Predigttätigkeit entstanden sei, forderten der Bürgermeister, der Kleine und Grosse Rat die Pfarrer, Prädikanten und Seelsorger von Stadt und Landschaft auf, im Rathaus zu erscheinen. Dort wollten sie darüber befinden, ob das von Zwingli gepredigte „gotswortt“8 rechtens oder ketzerisch sei; ihren allfälligen Einspruch hätte sie in deutscher Sprache und „mit warhaffter göttlicher geschrifft“9 kundzutun. Von den 67 Thesen war im Ausschreiben nicht die Rede, Zwingli hatte sie von sich aus in die Versammlung eingebracht. Ihr Sinn war die Benennung der strittigen Punkte und zugleich die Darlegung, dass Zwinglis Sicht durch die Heilige Schrift gerechtfertigt sei.10 Diese Thesen waren für die öffentliche Disputation bestimmt, christozentrisch angelegt und erkannten einzig das Wort Gottes als Maßstab an. So schrieb Zwingli in der dritten These: „[…] der einig weg zur säligkeit [ist] 5 Vgl. Georg Plasger/Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, 9f. 6 Vgl. Marco Hofheinz, Mit der Tradition zum Aufbruch, in: Marco Hofheinz/Georg Plasger/ Annegreth Schilling (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung. FS für Michael Weinrich zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2015, 147–170, hier 159ff. 7 Busch, Zwinglis Thesen von 1523, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 68–101, hier 96, 14. 8 Ebd., 96, 15. 9 Ebd., 97, 5f. 10 Vgl. ebd., 68.

28

Judith Engeler

Christus“11, und fährt in These vier fort: „Welcher ein andre thür su˚cht oder zeygt, der irt, ja ist ein mörder der seelen und ein dieb.“12 Sehr schön zeigt sich am Beispiel der 67 Thesen die Kontextualität: Zwingli hatte bei der Abfassung insbesondere seine altgläubigen Gegner im Blick. Denn es fällt auf, dass er in den Artikeln mehrheitlich „äußerliche“ kirchliche Bräuche kritisiert. So werden zum Beispiel das Zölibat, die Fastengebote und die Heiligenverehrung als unbiblisch abgelehnt.13 In der Frage der Messe spricht sich Zwingli lediglich gegen den Opfergedanken aus: „Daß Christus sich selbs einest uffgeopfert, in die ewigheit ein wärend und bezalend opfer ist für aller gloubigen sünd; darus ermessen würt, die meß nit ein opfer, sunder des opfers ein widergedechtnuß sin und sichrung der erlösung, die Christus unß bewisen hatt.“14

Es ging Zwingli also negativ gesehen um die Abgrenzung von den Altgläubigen, positiv um die erstmalige Darstellung „seines“ Glaubens, verbunden mit der Bereitschaft, sich aufgrund der Heiligen Schrift eines Besseren belehren zu lassen15 – eben ein Spezifikum reformierter Bekenntnisschriften. Bei der Beurteilung der Bedeutung der 67 Thesen darf nicht übersehen werden, dass diese im Abschied des Rates als einzige Begründung dafür angegeben wurden, dass Zwingli nicht widerlegt worden sei und in der bisherigen Predigtweise fortfahren solle.16 E. F. Karl Müller urteilt folgerichtig: „Das als richtig anerkannte Schriftverständnis war […] in den Thesen niedergelegt, sodass dieselben gewissermaßen als erste offizielle Lehrurkunde der schweizerischen Reformation zu gelten haben.“17 Dennoch, und auch dieser Aspekt ist wieder „typisch“ für eine reformierte Bekenntnisschrift, blieb die Wirkung dieser kurzgefassten Thesen lokal begrenzt.

11 12 13 14 15

Ebd., 86, 13. Ebd., 86, 15f. Vgl. Art. 18 (Messe), 19–21 (Heiligenverehrung), 24 (Fastengebot), 28–30 (Zölibat). Busch, Zwinglis Thesen von 1523, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 68–101, hier 88, 6–9. „Wo ich ietz beruerte geschrifft nit recht verstu˚nde, mich bessers verstands, doch uß egedachter geschrifft, berichten lassen.“ Busch, Zwinglis Thesen von 1523, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 68–101, hier 86, 5–7. 16 „[…] so hat sich uff sin erbietten unnd offnen siner fürgehaltnen articklen niemans wider in erhept oder mit der gerechten göttlichen geschrifft in unnderstanden zu˚ überwinden“. Faulenbach, Einleitung, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 1–67, hier 100, 2–4. 17 E. F. Karl Müller (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register, Leipzig 1903, ND Waltrop 1999, XVII.

Bekenntnis oder Bündnis?

2.2

29

Berner Thesen von 1528

Ähnlich verhält es sich mit den Berner Thesen von 1528: Sie markierten die Einführung der Reformation in Bern und waren für die öffentliche Disputation im Januar 152818 ausgearbeitet worden. Hintergrund für deren Ausschreibung war das Erstarken der evangelischen Bewegung in Bern im Jahr 1527 und die damit verbundene Weigerung einiger Pfarrer, die Messe zu lesen. Die Berner Pfarrer Berthold Haller (1492–1536) und Franz Kolb (1465–1535) verfassten für die Disputation zehn Thesen in deutscher Sprache. Interessant ist besonders Artikel vier über das Abendmahl. Haller und Kolb hielten fest: „Das der lyb und das blu˚t Christi waesenlich und liblich in dem brot der Dancksagung empfangen werde, mag mit Biblischer geschrifft nit bybracht werden.“19 Die Akten der Disputation zeigen, dass darüber heftig diskutiert wurde. Der St. Galler Pfarrer Benedikt Burgauer (1494– 1576), der lutherisch geprägt war und übrigens 1536 ebenfalls bei den Verhandlungen zur Abfassung des Ersten Helvetischen Bekenntnisses dabei war, wandte sich gegen dieses Abendmahlsverständnis, woraufhin sich eine lange Diskussion zwischen ihm auf der einen, und Zwingli, Johannes Oekolampad (1482–1531) und Martin Bucer (1491–1551) auf der anderen Seite entspann. Letzterer argumentierte, dass wegen der menschlichen Natur des Leibes Christi dieser jeweils nur an einem Ort sein könne: „Christus [kann] lyplich im Sacrament nitt sin […] syder denn er gen himmel gefaren ist“.20 Die Betonung der Unvermischtheit der beiden Naturen Christi, dem Hauptargument der Schweizer zu Beginn des Abendmahlsstreits, zeigt, dass es um die Abwehr von Luthers Abendmahlsverständnis ging. Diese schweizerische Sichtweise, während der Berner Disputation auch vom Straßburger Bucer vertreten, setzte sich durch. Am Ende der Disputation fanden die Thesen bei der Mehrzahl der Anwesenden Zustimmung. Daraufhin erklärte der Berner Rat die Thesen als schriftgemäß, die damit in der Folge die offizielle Lehrgrundlage bildeten. Wegen ihrer Situationsgebundenheit erhielten sie aber kaum überregionale Bedeutung. Nichtsdestotrotz wurde in den späteren Abendmahlsdiskussionen insbesondere der Artikel vier der Berner Thesen immer wieder angeführt, um etwa unliebsame Abendmahlsauffassungen abzulehnen21 oder diejenigen, die die Thesen unterschrieben hatten, darauf zu behaften.22 18 6.–26. Januar 1528. 19 Wilhelm H. Neuser, Berner Thesen von 1528, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 197–205, hier 203, 16–18. Lateinisch: „Quod corpus et sanguis Christi per essentiam corporalem in pane gratiarumactionis edatur, scriptura biblica probari nullo modo potest.“ Neuser, Berner Thesen, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 197–205, hier 205, 4f. 20 Handlung oder Acta gehaltner Disputation zu˚ Bernn in uechtland, Zürich, 1528; VD16 H502, CLVIIIr. 21 Dies war z. B. im Berner Abendmahlsstreit 1536/37 der Fall. 22 Vgl. S. 35.

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2.3

Erstes Basler Bekenntnis von 1534

Als drittes Beispiel sei das Erste Basler Bekenntnis genannt. Dessen zwölf Artikel wurden am 21. Januar 1534 erlassen. Grund dafür war die im Vorwort des Bürgermeisters Adelberg Meyer (1482–1548) benannte Gefahr, dass in „disen schwaeren, widerwertigen und gefarlichen zyten“23 die Gläubigen vom Evangelium abfielen, nachdem man seit der Einführung der Reformation 1529 doch viele Missbräuche abgeschafft hätte und Gottes Wort rein verkündigt worden sei. Außerdem verbat sich Bürgermeister Meyer den Vorwurf, sie seien „von Gottes warheyt und der kylchen Christi abgetretten“.24 Im Namen der Obrigkeit wurde also eine doppelte Überzeugung geäussert: Erstens stehe das Erste Basler Bekenntnis in Übereinstimmung mit der Schrift und zweitens handle es sich bei der Reformation um kein Schisma innerhalb der Kirche.25 Der Text des Bekenntnisses selber stammt von Myconius, der sich auf einen Text seines Vorgängers Oekolampad aus dem Jahr 1531 stützte. Inhaltlich werden die klassischen theologischen Loci wie zum Beispiel Gott, Christus und Kirche besprochen. Der sechste und längste Artikel ist dem Abendmahl gewidmet: „[…] der war lyb und das war blu˚t Christi durch den diener der kylchen fürbildet und angebotten würdet, blybt brot und win. […] Darumb so bekennend wir, das Christus in sinem heyligen nachtmal allen denen, die da warhafftigklichen gloubend, gegenwurtig sye. Und schliessend aber den natürlichen, waren, waesenlichen lyb Christi […] nit in des herren brot noch tranck.“26

Zusammengefasst heisst das: Leib und Blut Christi werden durch die Pfarrer im Brot und Wein bildlich dargestellt und angeboten. Es handelt sich um eine geistliche Speise, die nur von der gläubigen Seele gegessen wird. Der natürliche, wahre und wesentliche Leib Christi ist nicht im Brot und Trank eingeschlossen, so die Aussage im Ersten Basler Bekenntnis. Die Ausführlichkeit, in der das Abendmahl hier besprochen wird, führt uns nochmals einen wichtigen Aspekt vor Augen: Bekenntnisse entstehen immer in einem historischen Kontext und haben eine bestimmte Absicht, manchmal auch Gegnerschaft, vor Augen. Während Zwingli sich elf Jahre zuvor insbesondere gegen altgläubige Bräuche wie Fastengebote, Heiligenverehrung und Zölibat ausspricht und deren Abwehr in den 67 Thesen noch einen Hauptteil einnimmt,

23 Heiner Faulenbach, Das Basler Bekenntnis von 1534, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 571–583, hier 576, 27. 24 Faulenbach, Das Basler Bekenntnis, in: RBS, Bd. 1/1 (wie Anm. 2), 571–583, hier 577, 6f. 25 Vgl. Richard Stauffer, Das Basler Bekenntnis von 1534, in: Hans R. Guggisberg/Peter Rotach (Hg.), Ecclesia semper reformanda, Vorträge zum Basler Reformationsjubiläum 1529–1979, Basel 1980, 28–49. 26 Faulenbach, Das Basler Bekenntnis (wie Anm. 23), 571–583, hier 579, 34–580, 11.

Bekenntnis oder Bündnis?

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kommt der Artikel „Von gebott und nit gebot“27 hier in Basel an zweitletzter Stelle. Nicht mehr die Altgläubigen – wie noch bei Zwingli – waren 1534, fünf Jahre nach der Einführung der Reformation in Basel, die Hauptgegnerschaft. Vielmehr wurde das Abendmahl innerprotestantisch sehr kontrovers diskutiert, weshalb sich Überlegungen zu diesem Thema auch prominent im Ersten Basler Bekenntnis spiegeln. Diese Abendmahlskontroverse sollte auch in der folgenden Zeit das bestimmende Thema sein, so ebenfalls im Jahr 1536.

3.

Confessio Helvetica Prior von 1536

Das Erste Helvetische Bekenntnis war das erste überregionale, ja gesamtschweizerische Bekenntnis. Es wurde im Februar 1536 abgefasst und verabschiedet und hat eine längere Vorgeschichte. Schon seit 1534 hatte Bucer versucht, die reformierten Schweizer Städte in Verhandlungen zu einer gemeinsamen Abendmahlsformel zu bewegen.28 Eine solche Stellungnahme war notwendig geworden, weil anfang 1531 der Schmalkaldische Bund gegründet wurde, der der Verteidigung des Glaubens evangelischer Fürste und Städte dienen sollte. In der Schmalkaldischen Bundesurkunde waren keine beschränkenden Bestimmungen über den Glauben der Verbündeten aufgenommen worden, die künftigen Mitglieder mussten nur das Evangelium „angenommen haben“.29 Aber unter der Hand wurde als Voraussetzung eines allfälligen Beitritts der Schweizer die Anerkennung der Confessio Tetrapolitana gefordert.30 Die Berner und Zürcher Theologen wollten aber nicht von den klaren Berner Thesen zum „dunklen“ Vierstädtebekenntnis wechseln; Basel sah das zwar anders, schloss sich aber den anderen Schweizer Städten an.31 Und im Grunde genommen hatten sie ja ihr eigenes Bündnis, nämlich das Christliche Burgrecht, dass sie mit Straßburg und Hessen geschlossen hatten.32 Nach der Niederlage der Schweizer

27 Faulenbach, Das Basler Bekenntnis (wie Anm. 23), 571–583, hier 582, 10. 28 Gute Darstellung bei Martin Friedrich, Bullinger und die Wittenberger Konkordie. Ein Ökumeniker im Streit um das Abendmahl, in: ZWA 24, (1997), 59–79. 29 Vgl. Walther Köhler, Zwingli und Luther. Ihr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen, Bd. 2, Stuttgart 1953, 251. 30 Bekenntnis der oberdeutschen Reichsstädte Straßburg, Memmingen, Lindau und Konstanz für den Augsburger Reichstag. 31 Vgl. Köhler, Zwingli und Luther (wie Anm. 29), 270f. Es ging eben nicht, wie Basel fälschlicherweise meinte, darum, „daß wir unser mitburger bekanntnus unverworfen und christenlich halten.“, sondern um positive Zustimmung. 32 Zwischen 1527 und 1529 wurden folgenden Bündnisse geschlossen: Zürich und Konstanz, Bern und Konstanz, Zürich und Bern untereinander sowie mit den Städten St. Gallen, Biel, Mülhausen, Basel und Schaffhausen. Anfang 1530 gelang Zürich das Bündnis mit Straßburg und am 18. November 1530 das Bündnis Zürichs, Basels und Straßburgs mit Hessen, wobei

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Reformierten in Kappel und am Gubel im Herbst 1531 musste dieses Bündnis aber aufgelöst werden. Damit hatte sich auch der im Raum stehende Gedanke eines oberdeutschen-schweizerischen Sonderbundes erledigt.33 Ab 1532 war die reformierte Eidgenossenschaft also politisch und theologisch weitestgehend isoliert. Unter anderem zeigte sich das in Luthers Galaterbriefkommentar, erschienen 1535. Dort hatte sich der Wittenberger wieder einmal scharf gegen die „Sakramentierer“, zu denen er Zwingli zählte, geäußert.34 Zusammen mit der Ausschreibung eines Konzils nach Mantua auf Mai 1537 gaben diese Faktoren den Anstoss für konkretere Verhandlungen über ein allgemeines Bekenntnis der Schweizer. Diese trafen sich zunächst im Rahmen eines Theologenkonvents am 1. Dezember 1535 in Aarau. Im Vorfeld hatten die Pfarrer in Basel, Bern und Zürich versucht, das Treffen möglichst geheim zu halten. „Je heimlicher [der Konvent] geschehen kann, desto freier werden wir anwesend sein“,35 schrieb der Berner Pfarrer Haller an Bullinger Ende November. Man fürchtete sich vor den Störmanövern der beiden Straßburger Wolfgang Capito (1478–1541) und Bucer. Diese wollten beim Zusammentreffen, das in ihren Augen dringend nötig war, unbedingt dabei sein.36 Aber das Vertrauen, gerade in Bucer, war nach Luthers Angriffen auf den Nullpunkt gesunken. Argwöhnisch betrachteten die Schweizer Theologen dessen emsiges Treiben in Sachen Abendmahlskonkordie und verdächtigten ihn, den Dissens zwischen der schweizerischen und der wittenbergischen Abendmahlslehre bloß herunterzuspielen. Und so blieben die Straßburger aussen vor, als sich Leo Jud (1482–1542), Konrad Pellikan (1478–1556) und Theodor Bibliander (1506–1564) im Namen der Zürcher und Myconius und Simon Grynäus (1493–1541) im Namen der Basler in Aarau auf eine Abendmahlsformel einigten. Während Bullinger die Formel begrüsste, lehnten die Berner sie als unklar und zu lutheranisierend ab.37 Also gab es, zumindest vorläufig, keine schweizerische Übereinkunft in Sachen Abendmahl.

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das Abseitsstehen Berns andeutet, dass mit diesem weit ausgreifenden Bündnis der Bogen überspannt war. Vgl. Hanspeter Stucki, Art. Christliches Burgrecht, in: HLS online. Vgl. Köhler, Zwingli und Luther (wie Anm. 29), 287. Das Resultat der Tagung der Evangelischen in Schweinfurt am 30. März 1532 war, dass die Gleichberechtigung der beiden Konfessionen einer Überordnung der Augustana Platz gemacht hatte. „Ein Zusammengehen mit den Zwinglianern in der Abendmahlslehre war dadurch ausgeschlossen.“ Vgl. Köhler, Zwingli und Luther (wie Anm. 29), 291. Vgl. Köhler, Zwingli und Luther (wie Anm. 29), 400f. Vgl. „Et quanto occultis unquam fieri potest, tanto libentius adfuturi sumus.“ B. Haller an Bullinger am 29. November 1535, in: Hans Ulrich Bächtold/Rainer Henrich/Kurt Jakob Rüetschi (Hg.), Heinrich Bullinger Briefwechsel (HBBW). Briefe des Jahres 1535, Bd. 5, Zürich 1992, Nr. 690, 446, 13f. Vgl. z. B. Capito an Bullinger am 9. November 1535, in: ebd., Nr. 672, 414f. Vgl. „Im geheimnisvollen Mahl des Herrn wird der Leib Christi, der für uns in den Tod gegeben ist, und sein Blut, das für uns am Kreuz vergossen ist, von den Gläubigen wahrhaft

Bekenntnis oder Bündnis?

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So wurde Capitos frühere Idee eines größeren Konvents der oberdeutschen und schweizerischen Kirchen in Basel wieder aktuell. Der Basler Ratsherr Hans Rudolf Frey (ca. 1475–1551) wurde nach Zürich und Bern geschickt, um dort dafür zu werben. Die Berner waren einverstanden, wollten aber an einem neuen Konvent nicht mehr nur über das Abendmahl, sondern über alle kirchlichen Gebräuche verhandeln, weil man auf einem christlichen Konzil mit einer Stimme reden wollte.38 Deshalb schlugen die Berner vor, dass nicht nur Vertreter von Bern, Basel und Zürich zusammenkommen sollten, sondern auch St. Gallen, Schaffhausen und Biel eingeladen würden, nicht aber die Straßburger. Diesen Gedanken nahm Bullinger nur zu gerne auf. Am 19. Dezember 1535 schrieb er an seinen Amtskollegen Myconius: „Ich will aber nicht, dass die Strassburger [also Capito und Bucer] beim ersten Treffen dabei sind. […] Erst, wenn wir [Schweizer] […] uns unter uns verständigt und einfache und deutliche Artikel bezüglich Dogmen und Riten aufgeschrieben haben, kann man die Strassburger zum Gespräch, an dem [nur] Gelehrte beiwohnen, zulassen.“39

Mit anderen Worten: Bullinger wünschte sich einen erneuten Theologenkonvent, wobei den Straßburgern nur eine beratende Rolle am Rande zukommen sollte. Dass sich dieser Plan in verschiedener Hinsicht nicht realisieren ließ, zeigte sich aber ziemlich rasch. Es könne der Verdacht der Spaltung aufkommen, wenn die Schweizer ohne die Straßburger und Konstanzer konferieren würden, so die Befürchtung des Basler Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hirzen (1473–1541).40 Und Johannes Zwick (1496–1542), Pfarrer in Konstanz, schrieb an Bullinger, dass die evangelische Sache grössten Schaden nehmen würde, „wenn wir versuchen sollten, gegen den Willen oder ohne Wissen der Fürsten und Magistraten zusammen zu kommen.“41 Das alles machte Eindruck: Bullinger lud Bucer nun

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gegessen und getrunken zur Kräftigung der Seele und zum Wachstum des geistlichen Lebens.“ Lateinisch: „In coena Domini mystica corpus Christi, quod pro nobis traditum est in mortem, et sanguis eius, qui in remissionem peccatorum nostrorum in cruce fusus est, a fidelibus vere manducatur et bibitur in vigorem animae et in spiritualis vitae incrementum.” Confessio ecclesiae Tigurinae et Basileiensis in Zürich StA E II 337, 116v, gedruckt in Ernst Bizer, Studien zur Geschichte des Abendmahls, Gütersloh 1940, 90, Anm. 5; Übersetzung J. E. Die Ablehnung tat B. Haller Bullinger am 14. Dezember kund, vgl. Bächtold/Henrich/Rüetschi (Hg.), HBBW 5 (wie Anm. 35), Nr. 701, 472–474. Vgl. B. Haller an Bullinger am 14. Dezember 1535, in: ebd., Nr. 701, 473, 5–9. Lateinisch „Verum nolim ego primo conventui interesse Argentoratenses. […] Caeterum si nos, quibus una est confessio, primum inter nos conspiremus sancte conscribamusque dogmatum et rituum capita simplicia et plana, demum in colloquium Argentoratenses admittere fuerit tutum, in colloquium, inquam, cui literati modo intersint.“ Bullinger an Myconius am 19. Dezember 1535, in: ebd., Nr. 703, 477, 5f.16–20. Übersetzung J. E. Vgl. Myconius an Bullinger am 4. Januar 1536, in: Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 713, 40, 4–11. „Nos vero non dubitamus, quin maximam invidiam simus conflaturi rei evangelicae, si conemur vel invitis vel insciis potestatibus convenire.“ J. Zwick an Bullinger am 7. Januar

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doch auf den 1. Februar ein, im Wissen darum, dass der Beginn der Basler Zusammenkunft auf den 30. Januar festgesetzt worden war, die Schweizer also zwei Beratungstage für sich hatten. Das Schicken einer von Capito erbetenen Liste mit den zu besprechenden Punkten zuhanden des Basler Rats lehnte er ab, dies sei die Aufgabe der einladenden Obrigkeit.42 Diese sollten den Delegierten erklären, dass man im Hinblick auf das geplante Konzil festhalten müsse, worin sich die eidgenössischen Kirchen bezüglich Lehre und Gebräuche einig seien.43 Gleichzeitig bekräftigte Bullinger auch sein Misstrauen gegenüber den Straßburgern: „Sie werden uns Formulierungen vorschlagen, damit es so aussieht, als stimmten wir mit Luther überein. Sie werden über die Kraft und Würde des Dienstes am Wort, über die Gewissensüberprüfung durch den Pfarrer vor dem Abendmahl, Zugeständnisse an die Päpstler usw. sprechen. […] Das ist mein Verdacht, wenn ich mich doch irrte!“44

Dass Bullinger mit seiner Vermutung nicht falsch lag, zeigte sich bald. Am 30. Januar trafen sich Theologen und Ratsvertreter (die übrigens in der Überzahl waren) der Städte Bern, Biel, Konstanz, Mühlhausen, Schaffhausen, St. Gallen und Zürich im Augustinerkloster in Basel.45 Basels Ratsvertreter eröffneten die Versammlung mit dem Hinweis auf das bevorstehende Konzil. Die „oberlendischen evangelischen stetten“46, also die Versammelten, sollten bei diesem Anlass „einmündenklich und eintrechtenklich gefasst erschinen und mit glichförmigen fürtregen unsern heiligen glouben bekennen, anzöigen und erhalten“.47 Von einer möglichen Konkordie mit Luther oder dem Beitritt zum Schmalkaldischen Bund war nicht die Rede. Die Theologenkommission, die Bullinger, Myconius und seinen Basler Amtskollegen Grynaeus umfasste, machte sich

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1535, in: ebd., Nr. 716, 55, 7–9. (Übersetzung in: Köhler, Zwingli und Luther [wie Anm. 29], 410) Zwick spricht da zwar von einem Theologenkonvent mit Luther, aber das Prinzip ist das gleiche: Ohne die Zustimmung der Obrigkeit sei keine Konkordie möglich. Vgl. ebd., Nr. 731, 90, 18. Vgl. S. 25: In der Lehre sei man sich einig und in den Riten herrsche kein Zwiespalt, wenn sie auch nicht überall gleich seien. Vgl. Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 731, 90, 24f. Lateinisch: „Iam ergo si stat sententia illos audire, praescribent illi nobis nescio quos loquendi modos, ut concordare videamur cum Luthero. Disputabunt multis de vi et dignitate ministerii verbi, de scrutinio conscientiarum, hoc est, quomodo indagandae et explorandae sint conscientiae hominum per ministrum verbi, priusquam accedant ad coenam; quid condonari possit pontifitiis, ad quae dissimulari etc. […] Haec mea suspitio est; utinam fallar!” Bullinger an Myconius am 20. Januar 1536, in: Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 731, 90, 33–91, 40. Übersetzung J. E. Das Verhältnis war 11:9, da weder Biel noch Konstanz einen Prädikanten geschickt hatten. Karl Deschwanden (Hg.), Die Eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume von 1533 bis 1540, in: Jacob Kaiser (Hg.), Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede (EA), Bd. 4, 1c, Luzern 1878, Nr. 378, 616. Deschwanden, EA 4, 1 (wie Anm. 46), Nr. 378, 617.

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daran, ein Bekenntnis in lateinischer Sprache aufzustellen. Doch bevor sie ihre Arbeit beenden konnten, trafen Bucer und Capito ein. Zusammen mit Jud und dem Berner Kaspar Megander (1495–1545) wurden die Artikel Erbsünde, vom freien Willen, vom Ziel und Zweck des Evangeliums, vom Dienst des göttlichen Wortes und derjenige von der Kraft und Wirkung der Sakramente neu durchgesprochen und insbesondere der Abendmahlsartikel neu gestaltet.48 Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Artikel deutlich in zwei Teile zerfällt und unter dem Blickpunkt der Balance zwischen Luther, Bucer und Zwingli steht. Die von Jud ins Deutsche übersetzte Endfassung, übrigens an den einen oder anderen Stellen noch deutlich zwinglianisiert,49 wurde am 4. Februar den Delegierten vorgelesen und jeder Bote erhielt eine Abschrift. Danach hielten Capito und Bucer eine ausführliche Rede, wiesen auf die bevorstehende Erweiterung des Schmalkaldischen Bundes hin, baten die Schweizer, eine Konkordie anzunehmen und „zu einem [allfälligen] Concil oder einer Versammlung der christlichen Fürsten und Städte“50 Abgeordnete zu schicken; gemeint war damit natürlich die Schmalkaldische Bundesversammlung.51 Doch für einen solchen Beschluss hatten die Abgeordneten keine Kompetenzen. Im Basler Schlusswort war zwar vom Interesse an Einheit zu hören, aber auch, dass keine „neuen und abgesonderte[n] Bündnisse“52 gewünscht seien. Dafür wurde beschlossen, am Bekenntnis nichts ohne die Zustimmung der anderen zu ändern oder es drucken zu lassen. Leider kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht auf die Artikel einzeln eingegangen werden. Im Nachhinein ist auch nicht mehr zu bestimmen, wer welchen Anteil hatte. Und doch geben einige spätere Briefzeugnisse tieferen Einblick. Als erstes sei der Brief eines verärgerten Grynaeus an den Konstanzer Ambrosius Blarer (1492–1564) genannt: „Bucer und Capito haben es erreicht, dass wir die von Luther gewünschten Formeln ausdrücklich in unsere Konfession einfügten; sie hoffen dadurch Luther besänftigen zu können.“53 Um welche „Formeln“ es sich dabei handelt, wird in einem Brief der in Basel versammelten Pfarrer an 48 49 50 51

Vgl. Köhler, Zwingli und Luther (wie Anm. 29), 413. Vgl. unten Anm. 62. Deschwanden, EA 4, 1 (wie Anm. 46), Nr. 378, 617. Der Bundestag zu Frankfurt vom 24. April–11. Mai 1536 wurde von Landgraf Philipp von Hessen am 21. März1536 ausgeschrieben. Vgl. Ekkehart Fabian (Hg.), Die Schmalkaldischen Bundesabschiede 1533–1536: mit Ausschreiben der Bundestag und anderen archivalischen Beilagen, Tübingen 1958, 79. 52 Original: „nüwen und sondere püntnussen“ Deschwanden, EA 4, 1 (wie Anm. 46), Nr. 378, 618. 53 „In synodo nostra sic est actum: quas formas Lutherus requirit, eas ut in nostram confessionem, quam commune et generalem eclesiis Helvetiae comprehendimus, expresse inseramus, Bucerus et Capito obtinuerunt; sperant posse his Lutherus placari.” Grynaeus an A. Blarer am 7. Februar 1536, in: Traugott Schieß (Hg.), Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer 1509–1548, Bd. I, Freiburg i. Br. 1908, Nr. 678, 779; (Übersetzung in: Köhler, Zwingli und Luther [wie Anm. 29], 418).

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diejenigen in Appenzell ausgeführt.54 Hinsichtlich einer Einigung mit Luther hätte die Kommission auf Bitten der Straßburger bestimmte Ausdrücke angepasst, allerdings ohne von ihrer bisherigen Lehre abzuweichen.55 Konkret wurde im Bekenntnis „die Taufe als Bad der Wiedergeburt“56 und „das Sakrament des Abendmahls als Leib und Blut Christi“57 bezeichnet.58 Damit ist genau das passiert, was Bullinger vorhergesehen und befürchtet hatte, nämlich die Umsetzung konkreter Formulierungswünsche seitens der Straßburger. Doch Bullinger zeigte sich überraschend positiv: Das Erste Helvetische Bekenntnis sei in Zürich dankbar begrüsst worden, gerade auch wegen der durch Bucer in Aussicht gestellten Anerkennung durch die Wittenberger Theologen, schrieb er Mitte Februar an den Straßburger.59 Dafür opponierten die Konstanzer Theologen, die nicht an den Verhandlungen über das Erste Helvetische Bekenntnis teilgenommen hatten. Zwick zeigte sich misstrauisch gegenüber den gewundenen Formulierungen und befürchtete, dass diese Unklarheiten bedenkliche Folgen haben könnten.60 Und Thomas Blarer (1499–1567) hörte aus dem Bekenntnis sogar papistische Anklänge heraus.61 Ebenso kam Kritik aus St. Gallen und Schaffhausen. Das tat seine Wirkung. Bullinger und Jud schlugen nun diverse Änderungen am Bekenntnis vor und äusserten die Bitte, die lateinischen, „lutheranisierenden“ Artikel sollten den deutschen „zwinglianisierten“ angepasst werden.62 54 Diese wurden wegen ihrer gemischtkonfessionellen Obrigkeit nicht eingeladen, aber nun über die Tagung informiert. 55 Vgl. Die in Basel versammelten Pfarrer an die Pfarrer in Appenzell am 5. Februar 1536, in: Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 743, 118, 23–119, 27. 56 „[…] baptisma regenerationis lavacrum […].“ Die in Basel versammelten Pfarrer an die Pfarrer in Appenzell am 5. Februar 1536, in: ebd., Nr. 743, 119, 30; vgl. Art. 12 der Confessio Helvetica Prior (CHprior). 57 „[…] Sacramentum coenae vocemus corpus Christi sanguinemque.“ Die in Basel versammelte Pfarrer an die Pfarrer in Appenzell am 5. Februar 1536, in: ebd., Nr. 743, 119, 30f.; vgl. Art. 13 der CHprior. 58 Die Bezeichnung der Taufe als Bad der Wiedergeburt stammt aus Tit 3, 5. Luther hat in seinen Schwabacher Artikeln vom September 1529 diese Begrifflichkeit aufgegriffen. Vgl. Volker Leppin, Die Confessio Augustana. Texte und Kontexte, in: Irene Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien (BSELK), Bd. 1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers, Göttingen 2014, 37–220, hier 40, 18. 59 Vgl. Bullinger an Bucer am 18. Februar, in: Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 748, 131, 6–12. Das Problem: Bullinger schwebte die Anerkennung der CHprior durch die Wittenberger vor, nicht eine unmittelbare Konkordie mit diesen. Bucer hatte natürlich etwas anderes im Auge (vgl. Köhler, Zwingli und Luther [wie Anm. 29], 418). 60 Vgl. J. Zwick an Bullinger am 23. Februar 1536, in: Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 751, 140–145. 61 Vgl. T. Blarer an Bullinger am 19. März 1536, in: ebd., Nr. 765, 168–173. 62 Als ein Beispiel sei genannt: Der Satz „Nam in rebus ipsis totus fructus sacramentorum est.“ (Ernst Saxer [Hg.], Confessio Helvetica Prior von 1536, in: Eberhard Busch/Heiner Faulen-

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Dem wurde aber nicht entsprochen. Am Tag der evangelischen Räte am 27. März 1536 erklärten die eidgenössischen Ratsvertreter die Annahme der Confessio Helvetica Prior, und zwar in ihrer unveränderten deutschen Fassung. Allerdings unterzeichneten weder Straßburg noch Konstanz den Beschluss. Sie begründeten dies damit, dass sie mit der Tetrapolitana schon ein anderes Bekenntnis unterschrieben hätten. Ihr Vorschlag: Die Schweizer Prädikanten sollten die Tetrapolitana, die vom sächsischen Kurfürsten anerkannt war, prüfen und wenn sich diese als gleichförmig mit der göttlichen Lehre erweise, ihr zustimmen. Damit war das Erste Helvetische Bekenntnis hinsichtlich einer Konkordie mit Luther nicht mal zwei Monate nach seiner Abfassung schon wieder überflüssig geworden, da nicht einmal die Straßburger und Konstanzer dazu stehen wollten. Die evangelische Schweiz wusste sich zwar vordergründig in der deutschen Fassung des Bekenntnisses geeint, gleichzeitig beschloss man, die Confessio Helvetica Prior nicht zu drucken und prüfte stattdessen wie vorgeschlagen die Anerkennung der Tetrapolitana.63 Ganz offensichtlich war jetzt für die Ratsherren nicht mehr die theologische Einigung innerhalb der Eidgenossenschaft das Hauptziel, sondern eine Konkordie mit Luther.

4.

Nachwirkungen

Wie aus dem weiteren Verlauf der Geschichte ersichtlich ist, wurde daraus nichts. Die Schweizer nahmen weder an den Verhandlungen zur Wittenberger Konkordie im Mai 1536 teil, zu denen sie allerdings auch nicht offiziell eingeladen bach u. a. (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften [RBS] Bd. 1/2: 1535–1549, NeukirchenVluyn 2006, 33–68, hier 64, 12) wird von Jud mit „[…] und in disen wesenlichen geystlichen dingen stat die gantze krafft, würkung und frücht der sacramenten“ (Saxer, Confessio Helvetica Prior, 52, 11f.) übersetzt. 63 Diese war bereits vom sächsischen Kurfürsten gutgeheißen und mit einer Apologie Bucers versehen. Vgl. auch Bullinger an Myconius am 4. April 1536, in: Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 783, 209f. Die Zürcher waren der Tetrapolitana gegenüber aufgeschlossen, ganz im Gegensatz zu Myconius. Die Zürcher hielten fest, dass die Tetrapolitana dem Ersten Helvetischen Bekenntnis nicht widerspreche und legten ein entsprechendes Gutachten auch dem Zürcher Rat vor. Vgl. Vortrag vom 24. April 1536: „Demnach das nützid darynn [in der Tetrapolitana] / dann unser confession leer und glouben nitt zu˚ gægen / ia heyliger gschrifft gemæß ist. Dorumb wir sy wol mœgend tulden und in ræchtem christlichem verstand annemmen.“ Rainer Henrich (Hg.), Stellungnahme zum Gespräch mit Luther in Eisenach. Stellungnahme der Pfarrer zuhanden des Kleinen Rates, in: Hans Ulrich Bächtold/ Ruth Jörg/Christian Moser (Hg.), Heinrich Bullinger. Schriften zum Tage, Zug 2006, 71–78, hier 76f. Das kam bei den Bernern schlecht an: Am 12. Mai 1536 musste sich Bullinger gegenüber Johannes Pellikan rechtfertigen und stellte richtig: „Non subscripsimus confessioni 4 urbium ita, ut Basileiensem reiecerimus. In Basileiensi enim confessione perseveramus. Istam autem urbium 4 ferre possumus et agnoscimus ut nostrae non adversam.“ Bächtold/ Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 817, 281, 4–7.

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worden waren, noch unterschrieben sie später diese theologische Kompromissformel Luthers und Bucers. Damit war gleichzeitig mit der theologischen Einigung auch ein mögliches politisches Bündnis vom Tisch. Denn der Schmalkaldische Bund, zunächst ja zwar protestantisch, aber abgesehen davon konfessionsneutral, knüpfte die Aufnahme neuer Mitglieder seit Dezember 1535 an folgende Bedingung: Die Interessierten sollten „[…] dem hailwertigen gots wort und ewangelion anhengig, demselbigen und der raynen lehr unser confessionn zu Augsburg kayserlicher Maiestat und allen stenden des Reichs ubergeben, in iren landen und gebieten gleichformigk lehren und predigen lassen […].“64 Diese Bedingung war nicht so eindeutig, wie sie heute erscheinen mag: Denn mit der „Confession“ meinten die Straßburger „ihre“ Tetrapolitana, die Wittenberger „ihre“ Confessio Augustana, und mit dem Wort „gleichförmig“ gab es noch einen gewissen Spielraum, den insbesondere Straßburg nutzen wollte. Aber spätestens an der Beratung der deutschen Evangelischen über die Konzilsfrage im Februar 1537 wurde klar, dass die Konkordie im Konsens über die Confessio Augustana geschlossen worden war. Nur die Anerkennung der Tetrapolitana reichte nicht mehr und die Confessio Helvetica Prior hatte Luther zwar gefallen, aber mehr eben auch nicht.65

5.

Ausblick

Es ist typisch für die frühe Neuzeit, dass politische und religiöse Motive nicht zu trennen sind. Gerade in der Schweizer Reformation verschmelzen Kirche und Politik, was nicht nur am Beispiel der Confessio Helvetica Prior ersichtlich wird, sondern auch an den vorher genannten Bekenntnissen. Die Obrigkeiten hatten jeweils zur Abfassung eines solchen aufgefordert, hatten zur Disputation oder Verhandlung eingeladen und das Resultat öffentlich gebilligt. Das Erste Helvetische Bekenntnis stellt nun insofern einen Sonderfall dar, als es hier nicht mehr nur um die Rechtfertigung der Durchführung der Reformation 64 Fabian, Die Schmalkaldischen Bundesabschiede (wie Anm. 51), 69. 65 Luther antwortete auf den Brief der Schweizer (im Januar 1537 abgegangen) erst am 1. Dezember 1537 (vgl. WA Br. Bd. 8, Nr. 3191, 149–153). Am 4. Mai 1538 schrieben die Schweizer wieder an Luther, von der Annahme der Wittenberger Konkordie war keine Rede. Man hoffte, Luther würde keinen Anstoss an den Formulierungen der Schweizer nehmen. Vgl. WA Br. Bd. 8, Nr. 3224, 211–214. Dieser blieb freundlich, aber es reichte ihm nicht. Vgl. Luthers Antwort an die Abgeordneten der reformierten Schweizer Orte vom 27. Juni 1538 in WA Br. Bd. 8, Nr. 3240, 241f. Im März 1539 konstatierte Bullinger, dass er die Verhandlungen über eine Konkordie mit Luther wegen dessen wiederholten Angriffen auf Zwingli für gescheitert erachtete. Vgl. Bullinger an Eberhard von Rümlang am 8. März 1539, in: Hans Ulrich Bächtold/Rainer Henrich (Hg.), Heinrich Bullinger Briefwechsel (HBBW). Briefe das Jahres 1539, Bd. 9, Zürich 2002, Nr. 1237, 77–79.

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in einem einzelnen Gebiet ging, sondern um die Darstellung der Dogmen und Riten der gesamten evangelischen Eidgenossenschaft. Mit diesem Dokument wollte man für das ausgeschriebene Konzil vorbereitet sein. Einigkeit war zumindest vor der Tagung das oberste Ziel für die Schweizer Theologen. Bezüglich der Räte ist die Motivlage meines Erachtens nicht ganz so eindeutig: Auch sie legten den Schwerpunkt auf eine Verständigung hinsichtlich des Konzils, dachten diese aber größer. Ihnen schwebte eine Einigung innerhalb der Eidgenossenschaft und mit den oberdeutschen Städten vor. Hinzu trat noch ein weiteres Motiv: Die beiden Straßburger Capito und Bucer machten vor und während der Tagung Hoffnung auf eine Einigung mit Luther und damit auf ein mögliches Bündnis mit den evangelischen Fürsten und Städten, nicht nur mit den oberdeutschen, sondern mit allen Mitgliedern des Schmalkaldischen Bundes. Das bewegte sowohl die Theologen als auch die Ratsherren zu Zugeständnissen. Diese äusserten sich bei Ersteren im Entgegenkommen bei gewissen Formulierungen, bei Letzteren in der späteren Beurteilung der Confessio Helvetica Prior. Noch im Jahr 1547, also mehr als zehn Jahre nach der Verabschiedung des Bekenntnisses, beklagten sich die Zürcher Pfarrer gegenüber Bucer, dieser hätte versichert, dass die speziellen Formulierungen, die in der Confessio Helvetica Prior verwendet wurden, nicht das Ziel hatten, die helvetischen Kirchen von ihrer Berner Disputation abzubringen, sondern nur um der Einheit mit Luther willen gebraucht worden waren. Die Zürcher behielten sich das Recht vor, diese Formulierungen in ihrem Sinn auszulegen.66 Bucer wurde der Vorwurf gemacht, er habe seinerzeit die Berner Thesen ebenfalls unterschrieben. Also sei er derjenige, der „abgefallen“ sei.67 Wir sehen: Die Theologen hatten sich von der „Euphorie“ über eine mögliche Einigung mit Luther anstecken lassen und darum konkrete Formulierungen verwendet, von denen man glaubte, dass sie ihm gefielen. Ganz offensichtlich bereute aber zumindest Bullinger dieses Entgegenkommen. Entgegen der in der Eröffnungsrede des Basler Rats am 30. Januar 1536 geäusserten Absicht schien für die Ratsherren nach der Abfassung des Ersten Helvetischen Bekenntnisses eine Konkordie mit Luther an erster Stelle zu stehen. So nahm der Zürcher Rat die Confessio Helvetica Prior in der Hoffnung auf eine 66 Vgl. Pfarrer von Zürich an Bucer und Schulherren von Strassburg am 10. Januar 1547, in: Guilielmus Baum, Eduardus Cunitz, Eduardus Reuss, Ioannis Calvini opera quae supersunt omnia, CR 40, Braunschweig 1874, Nr. 872, 464. 67 Zum Vergleich: In der 4. Berner These wurde folgendermassen formuliert: „Das der lyb und das blu˚t Christi waesenlich und liblich in dem brot der Dancksagung empfangen werde, mag mit Biblischer geschrifft nit bybracht werden.“ (vgl. Anm. 19). Dagegen einigten sich Luther und Bucer in Wittenberg im Mai 1536 auf diesen Satz: „Demnach halten vnd lere sie, das mit dem brot vnd wein warhaftig vnd wesentlich zu gegen sey vnd dargereicht vnd empfangen werde der leib vnd das blut Christi.“ vgl. Wilhelm H. Neuser (Hg.), Die Wittenberger Konkordie von 1536, in: RBS, Bd. 1/2 (wie Anm. 62), 67–88, hier 86, 6ff.

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Einigung mit den Wittenbergern sehr positiv auf. Als der Wind sich bei der Zusammenkunft der Ratsherren Ende März wieder drehte, verzichteten die Delegierten dann aber ohne weiteren Einspruch auf die Drucklegung des Bekenntnisses und ließen eine Annahme der Tetrapolitana prüfen. In Basel übte der Rat im Sommer desselben Jahres starken Druck auf seine Prediger aus, die Wittenberger Konkordie anzunehmen.68 Die Bemühungen des Rats waren erfolgreich, was ein Blick in die Briefzeugnisse von Myconius belegt. In Bern war mit Megander ein vehementer Gegner der Wittenberger Konkordie im Amt, der aber infolge des Katechismusstreits 1537 die Stadt verlassen musste. In diesem Aufsatz sollte gezeigt werden, dass es bei der Ausarbeitung des Ersten Helvetischen Bekenntnisses nicht um Abgrenzung, sondern um Annäherung und Einigung ging. Der Wunsch nach einem klaren Bekenntnis und nach einem starken evangelischen Bündnis waren die hauptsächlichen Triebkräfte für die Abfassung der Confessio Helvetica Prior. Dies gilt sowohl für die Bestrebungen der Ratsherren als auch der Theologen. Die Unionspläne haben gegenüber den Abgrenzungstendenzen gesiegt. Im Zentrum stand aber bald nicht mehr die theologische Einigung innerhalb der Eidgenossenschaft, sondern diejenige mit Luther. An der späteren harschen Beurteilung der Confessio Helvetica Prior zeigt sich allerdings, dass ein in diesem Sinn geschriebenes Bekenntnis aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit Lehr- und Glaubenseinheit ist.

68 Vgl. Brief von Myconius am Bullinger am 15. Juni 1536, in Bächtold/Henrich (Hg.), HBBW 6 (wie Anm. 1), Nr. 863, 362f.; v. a. aber Brief von Myconius an Bullinger, Bibliander und Pellikan am 19. Juli 1536, in: ebd. (wie Anm. 1), Nr. 866, 367ff.

Mirjam van Veen

Wie es mit Sebastian Castellio weiter gegangen ist

1.

Einleitung

Die Frage, wie die Radikale Reformation die Aufklärung beeinflusst oder vorbereitet hat, ist von Historikern beziehungsweise Historikerinnen schon häufig diskutiert worden. Sie haben auf verschiedene Themenfelder hingewiesen, die während der Aufklärung wichtig geworden, aber von der Radikalen Reformation sozusagen vorbereitet worden sind: Dämonologie, Anthropologie, Bibelwissenschaft, religiöse Toleranz und religiöse Autorität.1 Die Beantwortung der Frage, ob und wie die Radikale Reformation die Aufklärung beeinflusst hat, ist jedoch problematisch: Die Ähnlichkeiten zwischen Radikaler Reformation und Aufklärung sind offensichtlich, aber diese Ähnlichkeiten beweisen natürlich noch nicht, dass es einen Einfluss gegeben und dass die Aufklärung die Ideen der Radikalen Reformation aufgegriffen hat. Überhaupt lassen sich Einfluss oder Ähnlichkeit nur schwer definieren. Gegner haben zum Beispiel Balthasar Bekker (1634–1698), einen Vertreter der Aufklärung, beschuldigt, vom radikalen Reformator David Joris (1501?–1556) beeinflusst worden zu sein, weil er die Position ablehnte, dass der Teufel als reale Entität auf Menschen einwirken könne. Obwohl sowohl David Joris als auch Balthasar Bekker nicht glaubten, dass der Teufel als objektive Realität existiere, ist zu fragen, ob die beiden dasselbe meinten. Balthasar Bekker benutzte die Philosophie René Descartes (1596–1650), um zu zeigen, dass es eine satanische Macht, die die körperliche Welt beeinflusste, nicht geben könne; David Joris hingegen benutzte ekstatische und mystische Argumente, um darzulegen, dass der Teufel Teil des menschlichen 1 Vgl. Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650– 1750, Oxford 2001; Douglas H. Shantz/David Joris, Pietist Saint: The Appeal to Joris in the Writings of Christian Hoburg, Gottfried Arnold and Johann Wilhelm Petersen, in: MQR 78 (2004), 415–432. Vgl. auch Gary K. Waite, A Reappraisal of the Contribution of Anabaptists to the Religious Culture and Intellectual Climate of the Dutch Republic, in: August den Hollander u. a. (Hg.), Religious Minorities and Cultural Diversity in the Dutch Republic: Studies Presented to Piet Visser on the Occasion of his 65th Birthday, Leiden 2014, 6–28.

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Geistes wäre und also nur innerhalb des Menschen lebe. Man muss sich also fragen, ob ein Vergleich überhaupt Sinn macht. Bei der Beantwortung der Frage, wie die Radikale Reformation die Aufklärung beeinflusst hat, entsteht außerdem das Problem, dass Aufklärer oft darauf verzichteten, ihre Quellen zu erwähnen, weil sie sich als Neuerer verstanden. Die methodischen Herausforderungen bei der Untersuchung der Kontinuität zwischen Radikaler Reformation und Aufklärung sind also offensichtlich.2 Die Relevanz dieser Untersuchungen ist allerdings groß, helfen sie doch zu verstehen, welche Ideen der Radikalen Reformation einflussreich gewesen sind und welche Gedanken die europäischen Gesellschaften angesprochen haben. Ein besseres Verständnis der Quellen der Aufklärung wird wahrscheinlich auch unser Bild der Aufklärung modifizieren. Jonathan Israel hat stark die philosophische Herkunft und die säkularisierende Tendenz der Aufklärung betont. Seine These, dass die Aufklärung in Holland mit Baruch Spinoza (1632–1677) angefangen habe, war zum Teil neu.3 Sie ging einher mit dem gängigen Bild der Aufklärung als einer rationalen Bewegung. Falls die Radikale Reformation tatsächlich die Aufklärung vorbereitet hat, stellt sich auch die Frage der Rationalität der Aufklärung erneut, denn die Radikale Reformation war alles andere als eine rationale Bewegung. Mystiker und Propheten waren wichtige Teile dieser Bewegung. Wenn die Wurzeln der Aufklärung teilweise in der Radikalen Reformation liegen, stellt sich die Frage, wie es präzise um die Rationalität der Aufklärung steht.4 Um die oben erwähnten methodischen Probleme zu umgehen, beschränke ich mich in meinem Aufsatz auf die Frage, wie folgende Generationen Sebastian Castellio wahrgenommen und rezipiert haben. Sebastian Castellio war während seines Lebens ein wichtiger Vertreter der Radikalen Reformation. Nachdem ich seine Biographie kurz skizziert habe (2.), analysiere ich, welche Teile des Gedankenguts Castellios von Geschichtsschreibern rezipiert worden sind und wie spätere Generationen seine Ideen ihren Bedürfnissen angepasst haben (3.) – bis hin zur Aufklärung (4.). Somit lasse ich die Frage außer Acht, ob zum Beispiel Castellios methodischer Zweifel sich mit dem Skeptizismus der Aufklärung

2 Vgl. Mirjam van Veen, Johan Jakob Wettstein’s (1693–1754) use of Sebastian Castellio (1515– 1563), in: Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.), Sebastian Castellio (1515–1563). Dissidenz und Toleranz. Beiträge zu einer internationalen Tagung auf dem Monte Verità in Ascona 2015, Göttingen 2018, 575–588. 3 Vgl. Israel, Radical Enlightenment (wie Anm. 1); Jonathan I. Israel, Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity and the Emancipation of Man 1670–1752, Oxford 2006. 4 Vgl. Douglas H. Shantz, Religion and Spinoza in Jonathan Israel’s Interpretation of the Enlightenment, in: den Hollander (Hg.), Religious Minorities (wie Anm. 1), 208–211.

Wie es mit Sebastian Castellio weiter gegangen ist

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vergleichen lässt.5 Mein Ziel ist es zu zeigen, welche Traktate Castellios – und welche Teile seines Gedankenguts – spätere Generationen auf welche Weise aufgegriffen haben. Dabei konzentriere ich mich auf die niederländische Rezeption; eine vollständige Analyse ist bei dem heutigen Forschungsstand nicht möglich.

2.

Sebastian Castellio

Sebastian Castellio, der von 1515 bis 1563 lebte, ist vor allem als Gegner Johannes Calvins (1509–1564) bekannt geworden. Der Humanist war in Straßburg und Genf einige Zeit Mitarbeiter Calvins, aber schon rasch stellte sich heraus, dass die beiden Männer unterschiedliche Ziele verfolgten. Das Hohelied Salomos war der konkrete Anlass für ihren Streit, aber wichtiger war, dass Castellio mit der Institutionalisierung der reformierten Kirche nicht einverstanden war. Castellio war mit Calvin von Straßburg nach Genf gezogen, aber als Calvin in Genf damit beauftragt wurde, die junge Kirche zu organisieren, empfand Castellio diesen Prozess als eine neue Tyrannei, die mit dem apostolischen Elan eines Paulus nicht in Einklang zu bringen sei. Castellio siedelte daraufhin nach Basel um, wo er als Korrektor von Johannes Oporinus (1507–1568) sein Brot verdiente.6 In Basel lernte er auch den Täufer David Joris kennen. David Joris war vor den Verfolgungen in den Niederlanden geflohen und beanspruchte eine Position als Prophet. Seine Träume und Visionen verschafften ihm spezielle Einsichten und deshalb fühlte er sich berechtigt, seine Sympathisanten zum Gehorsam aufzufordern.7 Castellio ließ sich von David Joris beraten, wie ein vollkommenes Leben ohne Sünde zu erreichen wäre, und war bereit, die Schriften von David Joris ins Französische zu übersetzen. Die zwei Männer waren offensichtlich Seelenverwandte. Castellio teilte mit David Joris das Interesse an der mittelalterlichen Mystik und war mit ihm davon überzeugt, dass es eine geistliche und eine fleischliche Welt gebe. Der Gegensatz zwischen Fleisch und Geist sei wichtig, um die Bibel zu verstehen. Die Buchstaben der Bibel gehörten der äußerlichen, fleischlichen Welt an. Dahinter versteckt lag die wahre geistliche Bedeutung, die 5 Vgl. Irene Backus, The Issue of Reformation Scepticism Revisited: What Erasmus and Sebastian Castellio did or did not know, in: Gianni Paganini/José R. Maia Neto (Hg.), Renaissance Scepticisms, Dordrecht 2009, 63–89. 6 Vgl. Ferdinand Buisson, Sébastien Castellion. Sa vie et son oeuvre. Edité et introduit par Max Engammare, Genève 2010. Buisson veröffentlichte seine Arbeit im Jahr 1892. Sein Buch ist für die Castellioforschung noch immer grundlegend. Siehe auch: Hans R. Guggisberg, Sebastian Castellio. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz, Göttingen 1997; Mirjam van Veen, Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio. Wegbereiter der Toleranz (1515–1563). Eine Biographie, 2015. 7 Vgl Gary K. Waite, David Joris and Dutch anabaptism, 1524–1543, Waterloo 1990.

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aber nur von geistlichen, wiedergeborenen Menschen verstanden werden könne. Gläubige sollten die fleischliche Welt hinter sich lassen, um geistliche Menschen zu werden. Dazu sei es nötig, dass Menschen sich selbst und ihren eigenen Willen vernichteten. Die Mystik war ein wichtiger Teil von Castellios Gedankengut. Er war von der Theologia Deutsch und von der Imitatio Christi begeistert und hat diese Schriften auch übersetzt.8 Vor allem beschäftigte sich Castellio damit, die Bibel zugänglich zu machen. Seine biblischen Dialoge waren als pädagogische Hilfsmittel gemeint: Es wäre seines Erachtens besser, anhand der Bibel Latein zu lernen, als anhand nichtchristlicher Philosophen wie Homer. Denn während die Bibel eine zuverlässige Quelle der Moral wäre, lehrten die heidnischen Philosophen eine fragwürdige Moral, die die Jugendlichen nur all zu leicht vergiften könne. Seine Bibelübersetzung zielte darauf, Moral und christliche Lehre zugänglich zu machen und zu fördern. Um diese Ziele zu erreichen, war es Castellio nach notwendig, dass die biblischen Hauptfiguren wie Mose ein normales Latein sprachen. Castellio vermied die Gräzismen und Hebraismen und ließ Mose so sprechen, wie er gesprochen hätte, wäre nicht Hebräisch, sondern Lateinisch seine Muttersprache gewesen.9 Anders als Johannes Calvin und Theodore Bèza (1519–1605) glaubte Castellio nicht, dass auch die Grammatik vom Heiligen Geist inspiriert worden war. Ihm war der tiefe Graben zwischen der biblischen und seiner eigenen Zeit bewusst und er seufzte, dass schon deswegen das Verständnis der Bibel schwierig sei: Bei der Überlieferung der Texte der Bibel dürfte sich im Laufe der Zeit einiges geändert haben und außerdem war die Bedeutung von einigen Wörtern unklar geworden. Manche Pflanzen und Bäume, von denen die Bibel sprach, waren im Europa Castellios manchmal unbekannt. Die Bibelübersetzungen Castellios waren sowohl von einem spiritualistischen wie von einem humanistischen Bewusstsein geprägt. Er strebte einen Text im ciceronianischen Latein an und benutzte die philologischen Methoden, wie man sie bei den klassischen Texten verwendete. Seine spiritualistische Überzeugung, dass die wahre Bedeutung nicht im Buchstaben, sondern hinter dem Text zu finden sei, machte es relativ einfach, auch die biblischen Texte als normale Texte zu behandeln. Die Buchstaben der biblischen Texte gehörten zu der äußerlichen, fleischlichen Welt. Diese Bewer8 Für die Bibliografie Castellios vgl. S. Ferdinand Buisson, Sébastien Castellion. Sa vie et son eouvre, Genève 2010, 365–367; vgl. Mirjam van Veen, „Contaminated with David Joris’s blasphemies“. David Joris’s contribution to Castellio’s De haereticis an sint persequendi, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 69 (2007), 313–326. 9 S. Castellio, Moses Latinus ex Hebraeo factus, et in eundem praefatio, qua multiplex eius doctrina ostenditur: et annotations, in quibus translationis ratio, sicubi opus est, redditur, et loci difficiliores explicantur, Basel [1546], b5v-b6v. Für Castellios Bewertung der Klassiker siehe auch: David Amherdt/Y. Giraud (Hg.), S. Castellio, Dialogues sacrés, Dedikatie, Genève 2004; Bruno Becker und Marius Valkhoff (Hg.), S. Castellio, De l’impunité des hérétiques. De haereticis non puniendis, Genf 1971, 21f.

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tung der Buchstaben ermöglichte Textkritik, denn Textkritik bedeutete keineswegs, dass man die göttliche Botschaft kritisierte oder relativierte.10 Nachdem Miguel Servet (1511–1553) hingerichtet worden war, wurde die Polemik gegen Calvin ein wichtiger Teil der Arbeit von Castellio. Als Martin Bellius veröffentlichte Castellio De Haereticis an sint persequendi, eine Sammlung von Aussagen verschiedener Herkunft gegen Verfolgungen. Castellio oder Bellius protestierte vehement gegen die Entscheidung, Ketzer zu verfolgen und sogar zu töten, und wendete ein, dass Calvin und die Reformierten, als sie früher selbst verfolgt wurden, für sich selbst Toleranz beansprucht hätten. Sobald sie sich aber eine Mehrheitsposition erworben hatten, wurden die damaligen Verfolgten selbst zu Verfolgern. In anderen Traktaten beschrieb Castellio ausführlich, wie sehr Calvin Servet gehasst hatte und wie er an der Verfolgung gegen ihn beteiligt gewesen war. Calvin habe über Guillaume de Trie (?–1561) Informationen nach Vienne geschickt, um den katholischen Inquisitor dort wegen der Anwesenheit Servets zu alarmieren.11 Auch in der Toleranzdiskussion war Castellios spiritualistisches Anliegen offensichtlich. Die Obrigkeit war Teil der fleischlichen Welt und konnte schon deshalb nicht über geistliche Sachen urteilen. Dass Castellio erst wegen der Hinrichtung Servets die Feder ergriff, war bemerkenswert. Ketzerprozesse hat es in Genf schon vor der Servetaffäre gegeben; die Affäre Gruet (1547–1550) ließe sich etwa dafür anführen.12 Castellio war mit dem Kreis Servets wahrscheinlich bekannt; Mediziner, die zusammen mit Servet in Paris studiert hatten, gehörten zu dem Kreis Castellios. Jedenfalls war die Wut Castellios in seinen Traktaten offensichtlich. Calvin benahm sich wie ein Tyrann und ein Unterschied zwischen Rom und Genf gab es nach Castellios Ansicht nicht mehr. Während dieser Polemik griff Castellio auch Calvins Prädestinationslehre an, wahrscheinlich um dessen Position innerhalb der reformierten Welt zu unterminieren. Die Prädestinationslehre Calvins war mit der optimistischen Anthropologie Castellios nicht zu vereinbaren. Castellio hielt fest, dass ein Mensch sich von Sünden frei machen könnte und ein vollkommenes Leben anstreben sollte. Die Idee, dass ein Mensch sich verbessern könnte und dass ein Mensch danach streben sollte, die Sünden los zu werden, war mit dem Gedanken einer göttlichen Erwählung nicht in Einklang zu bringen. Sünde gehörte laut Castellio nicht zur menschlichen Existenz, sondern war eine Krankheit, die man heilen könnte. Weil 10 Vgl. Max Engammare, Qu’il me baise des baisiers de sa bouche. Le Cantique des Cantiques à la renaissance. Étude et bibliographie, Genève 1993; Caroline Skupien Dekens, Traduire pour le peuple de Dieu. Le syntaxe française de la traduction de la Bible par Sébastien Castellio, Bäle 1555, Genève 2009. 11 Frans P. van Stam, The Servetus Case. An appeal for a new assessment, Genève 2017, 32–36. 12 François Berriot, Un procès d’athéisme à Genève: l’affaire Gruet (1547–1550), in Société de l’histoire du Protestantisme français 125 (1979), 577–592.

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die Reformierten sich über die Prädestinationslehre alles andere als einig waren, war genau dieses Thema geeignet, um Calvin anzugreifen und seine Position zu schwächen.13 Daneben war Castellio als Philologe tätig. Er publizierte die Sibyllinischen Orakel, lehrte Griechisch an der Universität Basel und übersetzte Homer. Begeistert war er von dieser Arbeit nicht, da wie bereits erwähnt die heidnischen Autoren seiner Ansicht nach eine fragwürdige Moral pflegten; es wäre besser, sich auf das Wort Gottes zu konzentrieren, als Zeit mit Homer zu verschwenden.14 Für Calvin und seinen Kreis war die Seelenverwandtschaft zwischen Castellio und den Spiritualisten wichtig. Sie glaubten, dass in Basel ein Kreis von Bellistae (nach Martin Bellius) tätig war, der darauf zielte, die Reformation zu unterminieren.15 Auch ein Historiker wie Joseph Justus Scaliger (1540–1609) wies darauf hin, dass Castellio den Täufern nahe gestanden hätte. Das Urteil Calvins und Scaligers war zwar richtig, aber andererseits einseitig. Obwohl Castellio Genf durchgehend kritisierte, hat er sich selbst bis zum Ende seines Lebens als reformiert verstanden. Castellio dürfte wohl ein illustres Beispiel der Ambiguität der religiösen Landschaft des 16. Jahrhunderts sein. Diese Ambiguität ist wahrscheinlich auch die Erklärung dafür, dass es ein einheitliches reformiertes Urteil über Castellio damals nicht gegeben hat. Während Calvin und Beza Castellio hassten – so darf man das Verhältnis wohl zusammenfassen –, waren andere Reformierte positiver: Pierre Loyselier de Villier (1534?–1590) wertete Castellios Bibelübersetzung zwar als eine Paraphrase, aber seine anderen Arbeiten beurteilte er positiv.16 Petrus Bloccius lobte Castellios De Haereticis an sint persequendi.17 Martin Bucer (1491–1551) wiederum schätzte seine Arbeit als Bibelübersetzer.18 Philipp Melanchthon (1597–1560) stellte sich während des Prozesses gegen Servet entschieden auf die Seite Calvins, warb aber später um die Freundschaft Castellios.19

13 Vgl. van Veen, Freiheit des Denkens (wie Anm. 6), 89–138. 14 Vgl. Henk Jan de Jonge, The Sibyls in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, or Ficino, Castellio and „The Ancient Theology“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 78 (2016), 7–21. 15 Vgl. Gulliaume Farel an Ambrosius Blaurer, Neuchatel, 4. Juni 1555 (Ioannis Calvini Opera quae Supersunt omnia, Bd. 15, Braunschweig 1576, Brief 22 16, 634). 16 Vgl. van Veen, Freiheit des Denkens (wie Anm. 6), 216–217. 17 Mirjam G. K. van Veen, „Vermaninghe ende raet voor de Nederlanden.“ De receptie van Sebastian Castellio’s geschriften in de Lage Landen tot 1618, Amsterdam 2012, 18–19. 18 Vgl. van Veen, Freiheit des Denkens (wie Anm. 6), 87. 19 Vgl. van Veen, Freiheit des Denkens (wie Anm. 6), 150.

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3.

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Castellio: Sprachrohr der Libertiner

Durch die niederländischen Veröffentlichungen, die am Ende des 16. Jahrhunderts und am Anfang des 17. Jahrhunderts erschienen, wurde Castellio vornehmlich als ein religiöser Dissident rezipiert.20 Diese niederländischen Veröffentlichungen sind für die Castellio-Rezeption außerordentlich wichtig gewesen, denn ein Teil seiner Traktate wurde erst nach seinem Tod von Jasper Tournay in Gouda publiziert. Dass wir diese Traktate überhaupt kennen, ist seinem Interesse zu verdanken: Offensichtlich hat alles, was die Reformierten hassten, auf ihn eine große Anziehungskraft ausgeübt.21 Der Streit zwischen Arminianern und Gomaristen verstärkte das Interesse an Castellios Schriften über die Prädestination. Kritiker der calvinischen Prädestinationslehre übersetzten Castellios Traktate und benutzten seine Schriften, um die reformierte Orthodoxie zu kritisieren. Ein Libertiner wie Dirck Volckertsz Coornhert (1522–1590) hat dafür gesorgt, dass Castellios Dialoge über die Prädestination und den freien Willen in Niederländisch erschienen. Seine Übersetzung eines Teils von De Arte Dubitandi zeigt, dass er einige Manuskripte der Traktate von Castellio gekannt hat. Den Kritikern der calvinischen Prädestinationslehre lag viel daran zu zeigen, dass es schon immer Kritik an und Alternativen zu Calvins Lehre gegeben habe.22 Außerdem benutzen die Kritiker des Calvinismus Castellio, um vor der Tyrannei der Reformierten zu warnen. Täufer, Arminianer und Libertiner fürchteten, dass die Reformierten nicht besser wären als die Papisten; dafür wies man auf die Einführung der Inquisition in Genf hin. Ihres Erachtens war Freiheit das Erbe des Niederländischen Aufstandes. Die Versuche der Reformierten, die Niederländische Republik reformiert umzugestalten und Mitglieder der Kirche an diese Konfession zu binden, sahen sie als eine Bedrohung der gerade erworbenen Freiheit an. Diese Kritiker des Calvinismus benutzten Castellios Argumente für die Gewissensfreiheit. Außerdem wären sein Schicksal, seine Armut und die Versuche Calvins und Bezas, seine Traktate zu verbieten, eine klare Warnung gegen die calvinische Tyrannei. Schließlich war er für diese Vertreter der protestantischen Minderheiten ein klares Beispiel, wie man die Gewissens-

20 Eine vollständige Übersicht der Castellio-Veröffentlichungen haben wir leider nicht. Hilfreich ist nach wie vor Hans R. Guggisberg, Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt vom Spa¨ thumanismus bis zur Aufkla¨rung, Basel/Stuttgart 1956. 21 Vgl. Paul H. A. M. Abels, Spreekbuis voor dissenters. De drukkerij van Jasper Tournay, in: Nico D. B. Habermehl u. a. (Hg.), In de stad van die Goude, Delft 1992, 221–262. 22 Van Veen, „Vermaninghe“ (wie Anm. 17), 21–23.

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freiheit verteidigen sollte. Neben seinem Gedankengut war seine Biographie für diese Dissidenten wichtig.23 Castellio wurde während des Streites quasi „ent-reformiert“. Für die niederländischen Reformierten in der Mitte des 17. Jahrhunderts gehörte Castellio eindeutig zu den Feinden der Orthodoxie: Johannes Cloppenburg (1592–1652) schrieb 1652, dass Castellio nicht Mitglied der christlichen Gemeinschaft sein könne, weil er Antitrinitarier gewesen war. Abraham Coster (1575–1658) machte klar, dass Castellio die Bibel überhaupt nicht ernst genommen hätte. Dass Castellio sich selbst als Mitglied der reformierten Bewegung identifiziert hatte, wurde überhaupt nicht mehr wahrgenommen.24 Ob Castellio nun als reformiert oder nicht angesehen wurde – die niederländische Castellio-Rezeption im 16. und frühen 17. Jahrhundert war umfangreich. Während der Periode bis 1618 erschienen etwa 40 Castellio-Traktate auf dem niederländischen Buchmarkt. Obwohl in der Polemik gegen den Calvinismus vor allem Castellios Traktate über religiöse Toleranz und Prädestination benutzt wurden, blieb auch das Interesse an seinen Arbeiten über die Bibel und über die mittelalterliche Mystik bestehen. Betrachtet man die niederländischen Veröffentlichungen zu Castellio, dann darf angenommen werden, dass – außer seinen Arbeiten über die klassische Philosophie – der „ganze“ Castellio rezipiert worden ist. Die Zahl der niederländischen Castellio-Schriften lässt sich durchaus mit der Zahl der Calvin-Veröffentlichungen vergleichen. Castellio war also in der niederländischen religiösen Landschaft ein wichtiger Name.

23 Schon Dirck Volckertsz Coornhert warnte, dass die Calvinisten bereit waren, eine neue Inquisition einzuführen. Über Coornhert: Ruben Buys, De kunst van het weldenken. Lekenfilosofie en volkstalig rationalisme in de Nederlanden (1550–1600), Amsterdam 2009, 254. Diese Warnung wurde sowohl in der arminianischen wie in der täuferischen Polemik ein Stereotyp. Siehe z. B. [H. Slatius], Monsterkens van de nieuwe Hollandsche Inquisitie, o.O. 1620. Geeraert Brandt, Historie der Reformatie, en andre kerkelyke Geschiedenissen, in en ontrent de Nederlanden: met eenige Aentekeningen; naerder oversien, merkelyk vermeerdert, en vervolgt tot het jaer 1600, Bd. 2, Amsterdam/Rotterdam 1671–1704, 83–84; Geeraert Brandt, Historie der Reformatie, en andre kerkelyke Geschiedenissen, in en ontrent de Nederlanden: met eenige Aentekeningen; naerder oversien, merkelyk vermeerdert, en vervolgt tot het jaer 1600, Bd. 3, Amsterdam/Rotterdam 1704, 335–336; Geeraert Brandt, Historie der Reformatie, en andre kerkelyke Geschiedenissen, in en ontrent de Nederlanden: met eenige Aentekeningen; naerder oversien, merkelyk vermeerdert, en vervolgt tot het jaer 1600, Bd. 4, Amsterdam/Rotterdam 1704, 847. 24 Vgl. van Veen, „Vermaninghe“ (wie Anm. 17), 27.

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Vertreter der Aufklärung und Castellio

Die Wahrnehmung Castellios änderte sich während der Aufklärung. Pierre Bayle (1647–1706) erwähnte in seinem Dictionnaire historique et critique Castellio ausführlich; er widmete ihm mehrere Folioseiten. Das von Bayle skizzierte Bild ist nuanciert, obwohl er von Castellios Beziehungen zu David Joris augenscheinlich nicht gewusst hat. Bayle erwähnt aber alle Themenfelder, die Castellio bearbeitet hat: Mystik, Prädestination, Toleranz, Bibelübersetzungen und Philologie.25 Das war bei Johann Jakob Wettstein (1693–1754) nicht der Fall. Seine Wahrnehmung Castellios war einseitig. Wettstein wurde wegen seiner Textkritik und seiner Edition des Neuen Testaments bekannt. Er arbeitete am Remonstrantischen Seminar Amsterdam, wo er sowohl Kirchengeschichte als auch Philosophie lehrte. Castellio war ihm offensichtlich wichtig, sammelte er doch dessen Manuskripte. Es ist Wettstein zu verdanken, dass heutzutage noch immer wichtige Teile von Castellios Erbe von der Bibliothek des Remonstrantischen Seminars aufbewahrt werden. Sowohl für Wettsteins kirchengeschichtliche Arbeit wie für seine textkritische Arbeit war Castellio wichtig. Wettstein legte in seinen Arbeiten zur Kirchengeschichte den Schwerpunkt auf die Reformation. Die erhalten gebliebenen Manuskripte seiner Kirchengeschichtsvorlesungen gestatten uns einen Einblick, was er seine Studenten gelehrt und welche Sichtweisen er gepflegt hat. Er verwandte etwa 200 Seiten darauf, die Kirchengeschichte bis Luther zu beschreiben; dann beschrieb er auf 100 Seiten die Geschichte der Reformation. Offensichtlich hat Castellio laut Wettstein während der Reformationszeit eine Hauptrolle gespielt: Er widmete ihm 80 Seiten. Wettstein nahm einen Gegensatz zwischen der Radikalen Reformation und der Reformation wahr. In seiner Geschichte repräsentierte die Radikale Reformation das revolutionäre Element; Castellio hingegen vertrat Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Wettsteins Beschreibung des Lebens Castellios konzentrierte sich hauptsächlich auf die Toleranzdiskussion. Er zitierte Castellios Historia de morte Serveti ausführlich und kombinierte Castellio und Hieronymus Bolsec (?–1584), um Calvin dunkel erscheinen zu lassen.26 Bei Wettstein wird Calvin der Mann, der im Häretikerprozess gegen Servet agiert; Castellio dagegen wird als der Mann gezeichnet, der seine Stimme gegen den 25 Vgl. Pierre Bayle, Art. Castellio, Dictionnaire historique et critique, Bd. 4, nouvelle édition, Paris 1820, 526–558. 26 Historia de morte Serveti [1553]. Erstdruck ohne Titel in: Contra libellum Calvini. [Niederlande] 1612, fol. M2r–M4v. Eine moderne Edition steht dank Uwe Plath zur Verfügung: Bericht über den Tod Servets. Historia de morte Serveti. Aus dem Lateinischen übersetzt und kommentiert von Uwe Plath, in: Wolfgang F. Stammler (Hg.), Das Manifest der Toleranz. Sebastian Castellio: über Ketzer und ob man sie verfolgen soll – De haereticis an sint persequendi, Essen 2013, 39–48.

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Häretikerprozess laut werden ließ. Somit hat Wettstein nicht nur das Bild Castellios beeinflusst, sondern auch das Calvins. Dem von Wettstein wahrgenommenen Gegensatz zwischen Radikaler Reformation und Castellio entspricht die historische Realität nicht. Wie schon erwähnt, waren Castellio und der Prophet David Joris einander nah und haben zusammen gearbeitet. Castellio wird von Wettstein aber quasi rationalisiert: Seine Arbeiten über die mittelalterliche Mystik werden von Wettstein ebenso wenig erwähnt wie seine mystischen Motive, um gegen religiöse Intoleranz zu streiten. Die gleiche Tendenz sehen wir bei Wettsteins Verwendung von Castellios textkritischen Arbeiten. Für die textkritische Arbeit Wettsteins bildete Castellio die theoretische Grundlage. Castellios Einsicht, dass hinter den Buchstaben des Textes die Wahrheit stecke und dass Wahrheit und Text nicht dasselbe seien, gab Wettstein den Spielraum, den er brauchte. Textkritik war, wenn man diesen Argumentationsstränge folgt, mit dem (reformierten) Glauben in Einklang zu bringen und musste den Glauben an einen inspirierten Bibeltext laut Castellio nicht untergraben. Die Suche nach einem zuverlässigen Text schwächte die Bedeutung der Bibel nicht. Auch hier hat Wettstein aber offensichtlich Castellios Motive für die Unterscheidung zwischen Text und Wahrheit außer Acht gelassen. Zum Teil waren es philologische Motive, die Castellio dazu brachten, einen Unterschied zwischen Text und Wahrheit zu sehen: Ihm waren die Probleme der Textüberlieferung klar bewusst. Schon deshalb konnte er göttliche Wahrheit nicht mit dem literarischen Text identifizieren. Ebenso wichtig war ihm der Unterschied zwischen Geist und Fleisch. Genau wie etwa David Joris identifizierte er die Buchstaben mit dem Fleisch, das man hinter sich lassen sollte, um zur Wahrheit zu gelangen. Die mystischen und spiritualistischen Anteile am Gedankengut Castellios hat Wettstein nicht rezipiert. Das Castelliobild Wettsteins finden wir auch bei seinen Zeitgenossen. Sein Kollege Philippus van Limborch (1633–1712) erwähnte in seiner Geschichte der Inquisition ausführlich die Causa Servet. Dass Calvin über Wilhelm du Trie den Inquisitor Viennes gewarnt hatte, zeigte laut van Limborch die Wut und den Fanatismus des Genfer Reformators. Castellio hingegen sei moderat und fromm gewesen. Auch bei van Limborch wird ein einseitiges Bild Castellios skizziert. Die beiden Hauptthemen der Polemik zwischen Castellio und Calvin seien die Prädestinationslehre und die Toleranz gewesen. Van Limborch erwähnte dagegen nicht die Motive, die hinter Castellios Polemik gegen das Bestreben der Obrigkeiten, Ketzer zu verfolgen, und gegen die Prädestinationslehre steckten.27

27 Vgl. Philip van Limborch, A History of the Inquisition (Translated into English by Samuel Chandler), Bd. 1, London 1731, 62.

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Auch für andere Historiker war Castellio eine wichtige Quelle ihres Wissens in Sachen Servets. Henrik van Alwoerden (1703–?) etwa verwendete die Traktate Castellios, um beschreiben zu können, was genau mit Servet passiert war. Das Periodikum The Arminian Magazine publizierte im Jahr 1789 die Geschichte Castellios und Servets. Die ersten Sätze dieses Aufsatzes fassen die Perspektiven des Autors knapp zusammen: „John Calvin was both in principle and practice a persecutor. So entirely was he in the persecuting measures, that he wrote a treatise in defense of them, maintaining the lawfulness of putting heretics to death.“28

Johann Conrad Füeßlin (1704–1775) widmete im Jahr 1775 Castellio ein kleines Buch.29 Füeßlin bedauerte die Streitigkeiten zwischen Calvin und Beza einerseits und Castellio andererseits. Zwar schreibt Füeßlin über die Sache Servets, dass man darüber aufgrund ihrer Vielschichtigkeit so einfach nicht urteilen könne, aber seine Sympathie ist offensichtlich auf der Seite Castellios. Beza und Calvin seien nicht im Stande gewesen, Kritik hinzunehmen, denn sie „glaubten allein in dem Besitz der wahren, rechten und untrüglichen Lehre zu seyn“. Auch wenn er über Castellios Bibelübersetzung redet, war seine Sympathie auf dessen Seite. „Es ist Thorheit und Aberglaube, wenn man verlanget, andre Bücher, nach dem Genius und der Schönheit der Sprache zu übersetzen, hingegen bey der Bibel die hebräische und griechische Sprachart bey zu behalten“.30

Anders als Wettstein und van Limborch erwähnte Füeßlin kurz die mystischen Motive Castellios. Das Lob für Castellios Bibelübersetzung war im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Man lobte die Schönheit der Sprache und seine Entscheidung und Fähigkeit, im Stil Ciceros zu schreiben.31

28 The Arminian Magazine consisting of Extracts and original treatises on general redemption, Bd. 1, 1789, 211–218. 29 Vgl. Johann Conrad Füeßlin, Sebastian Castellios öffentlichen Lehrers der Griechischen Sprache auf der Universität zu Basel Lebensgeschichte, zur Erläuterung der Reformationsund Gelehrtenhistorie, Frankfurt und Leipzig 1775. Siehe auch: Ralph Häfner, Sebastian Castellio im Zeitalter der Aufklärung. Beobachtungen zur Biographie von Johann Conrad Füeßlin (1775), in: Mahlmann-Bauer (Hg.), Castellio (wie Anm. 2), 589–600. 30 Füeßlin, Sebastian Castellios…Lebensgeschichte (wie Anm. 29), 54. 31 Vgl. Johann Bünemann (Hg.), Biblia Sacra Ex Sebastiani Castellionis: Interpretatione Et Postrema Recognitione … Chartae Geographicae … Versionem Et Adnotationes …, Leipzig 1738.

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Mirjam van Veen

Bilanz

Die Frage, wie die Radikale Reformation und Castellio die Aufklärung vorbereitet haben, kann freilich mit dem heutigen Forschungsstand kaum beantwortet werden. In den Niederlanden wird Castellio während des Streites zwischen Arminianern und Gomaristen wie erwähnt „ent-reformiert“: Da primär die Dissenter auf Castellio rekurrierten, wurde er mehr und mehr als Dissenter beschrieben.32 Eine weitere Frage ist, ob Castellio in den Niederlanden auch später in der Wahrnehmung Dissenter geblieben ist. Laut Gisbert Voetius (1589–1676) waren Castellios Gedanken über Toleranz extrem, während die reformierten die richtige Mitte beibehalten hätten; andere niederländische Reformierte haben dies positiver eingeschätzt. Deutlich ist, dass in der Rezeption zwei Themen Castellios wichtig sind: seine Bibelübersetzungen und sein Plädoyer für Toleranz. Das Bild eines Spiritualisten Castellio dagegen verschwindet allmählich. Dass hinter seinen Bibelübersetzungen spiritualistische Überzeugungen steckten, wird nicht erwähnt. Castellio wird als der Mann der schönen Bibelübersetzung wahrgenommen, der Torheit und Aberglauben hinter sich ließ. Castellios Einsicht, dass die Bedeutung des Textes hinter den Buchstaben lag, konnte die Textkritik legitimieren. Die Frage, wie Castellio die Toleranzdebatte der Aufklärung genau beeinflusst hat, ist schwer zu beantworten. Als Wettstein und van Limborch am Remonstrantischen Seminar arbeiteten, gehörte auch John Locke (1632–1704) zum Kreis dieser Neuerer. Ob Locke von den Ideen Castellios beeinflusst wurde, ist aber fraglich. Lockes Ansichten etwa über die Kirche sind von Castellios Ansichten grundverschieden. Jedenfalls ist klar, dass Castellio Jahrhunderte hindurch das Bild Calvins beeinflusst hat. Wie erwähnt war der Ketzerprozess gegen Servet an sich nichts Besonderes: Ketzerprozesse hatte es in Genf schon vorher gegeben. Dass dieser Ketzerprozess aber für Aufregung sorgte, war Castellio zu verdanken. Dass die nächsten Generationen sich fragten, wie es möglich sein konnte, dass Verfolgte zu Verfolgern wurden, hat nicht zuletzt mit Castellios Polemik zu tun. Auch die Kritik, dass Calvin in Genf ein neues Papsttum etabliere, wurde dank Castellio verbreitet. Diese Kritik haben sich die Reformierten des 17., 18. und 19. Jahrhunderts angeeignet. Die reformierten Schriftsteller betrachteten das Vorgehen gegen Servet offensichtlich als Fehler. Schon Jacobus Trigland (1583–1654) unterließ in seiner Kirchengeschichte eine Verteidigung des Prozesses gegen Servet. Pierre Jurieus (1637–1713) wies im 17. Jahrhundert darauf hin, dass Calvin in der katholischen Kirche geboren und aufgewachsen war. Es wäre Calvin einfach nicht 32 Ob diese Entwicklung beispielsweise auch in der Schweiz wahrgenommen werden kann, ist eine offene Frage.

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gelungen, sich völlig vom alten päpstlichen System zu lösen. Abraham van der Corput (1599–1670) versuchte im 17. Jahrhundert klar zu machen, dass Castellio mit seinem Werk De Haereticis an sint persequendi die Mehrheitsansicht der Reformierten vertrat. Damit wiedersprach er dem Urteil von Voetius. Man kann sagen, dass Castellio innerhalb und außerhalb der reformierten Kirche die kritische Beurteilung Calvins beeinflusst hat. Manche Autoren übernahmen Castellios Sichtweise des Ketzerprozesses gegen Servet; viele Autoren stützten sich auf seine Informationen über Calvins Vorgehen gegen Servet. Die Position Castellios hat sich wohl in der Wahrnehmung der folgenden Generationen geändert. Für die reformierte Orthodoxie des frühen 17. Jahrhunderts gehörte Castellio eindeutig der Welt der Radikalen Reformation an; um 1700 waren reformierte Autoren allerdings bereit, sich Castellios Gedanken anzueignen. Die Analyse der Rezeption Castellios macht klar, wie die Ideale einer Minderheit zur Sichtweise der Mehrheit wurden. Für die eingangs gestellte Frage nach der Kontinuität zwischen Radikaler Reformation und Aufklärung konnte deutlich gemacht werden, dass eine Beantwortung nur mithilfe einer Untersuchung der Rezeption möglich ist. Zumindest Castellio und sein Gedankengut wurden den Bedürfnissen der Aufklärer angepasst. Das muss keine bewusste Entscheidung gewesen sein, aber klar ist, dass Castellio in der Wahrnehmung der Generation von Wettstein und Johannes Clericus (Jean Leclerc, 1657–1736) als ein rationalerer Mensch skizziert wurde, als er es historisch gewesen ist. Ihr Bild Castellios hat die moderne Castellio-Forschung tief beeinflusst. Buissons „image moderne“ von Castellio vom Ende des 19. Jahrhunderts war keine Neuerung, sondern passte durchaus ins tradierte Bild.33 Buisson ist keine Ausnahme: Castellio wurde weitgehend zum Vorläufer der modernen Zeit stilisiert. Die Beziehungen zwischen Castellio und David Joris sind in der modernen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben. Wichtige Forschungsdesiderate bleiben also, was die Aufklärer genau aus der Radikalen Reformation gemacht und wie sie das heutige Bild der Radikalen Reformation mitgeprägt haben.

33 Vgl. Buisson, Sébastien Castellion (wie Anm. 6), XV.

Martin Rothkegel

Theologische Kontroversgespräche zwischen Reformierten und Schweizer Brüdern Spuren einer transterritorialen täuferischen Untergrundkirche des 16. Jahrhunderts

1.

Kontroversgespräche zwischen Reformationsdisputation und Ketzerprozess

Im Folgenden wird eine bestimmte Gruppe von Gesprächen zwischen Theologen reformierter Kirchentümer in der Schweiz und im Reich und Vertretern des Täufertums aus den Jahren 1532 bis 1571 in den Blick genommen, und zwar nicht in inhaltlich-theologischer Hinsicht, sondern mit der Frage, wer die täuferischen Gesprächspartner waren, denen die reformierten Theologen gegenüberstanden. Dabei soll die Wahl des sperrigen Begriffs „theologische Kontroversgespräche“ anstelle von „Religionsgespräche“ verdeutlichen, dass sich die Gespräche zwischen Reformierten und Täufern grundsätzlich von den altgläubig-protestantischen und den innerprotestantischen Religionsgesprächen des Reformationsjahrhunderts unterschieden, obwohl diese wie jene in den Quellen als Gespräch, Disputation oder Colloquium und in der Forschungsliteratur meist unterschiedslos als Religionsgespräche bezeichnet werden.1 Die formale Voraussetzung der altgläubig-protestantischen und der innerprotestantischen Religionsgespräche war das akademische Disputationswesen, also ein geregeltes Verfahren zur Erweiterung von Wissen durch die Verifikation und Falsifikation von Thesen mithilfe der scholastischen Dialektik. Das strenge Regelwerk der akademischen Disputation wurde dabei jedoch in dem Maße modifiziert oder durchbrochen, in dem die evangelische Seite den Geltungsan1 Vgl. Irene Dingel, Art. Religionsgespräche IV. Altgläubig – protestantisch und innerprotestantisch, in: TRE 28 (1997), 631–681; dies./Volker Leppin/Kathrin Paasch (Hg.), Zwischen theologischem Dissens und politischer Duldung. Religionsgespräche der Frühen Neuzeit, Göttingen 2018. Eine Übersicht über die theologischen Kontroversgespräche zwischen Täufern und obrigkeitlich autorisierten protestantischen Theologen bietet: Hanspeter Jecker, Art. Religionsgespräche, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Mennonitisches Lexikon, Bd. 5: Revision und Ergänzung, online: www.mennlex.de (4. 9. 2019).

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spruch der dialektischen Beweisverfahren aufgrund ihres Verständnisses der Schriftautorität in Frage stellte und in dem die Absicht, eine nichtakademische Zuhörerschaft oder Entscheidungsinstanz zu überzeugen, den Gesprächsgang bestimmte. Diese Tendenz ist deutlich zu beobachten bei den Reformationsdisputationen, wie sie nach dem Vorbild der Ersten und Zweiten Zürcher Disputation (1523) in zahlreichen Städten durchgeführt wurden, um Eingriffe weltlicher Autoritäten in die kirchlichen Verhältnisse zu legitimieren. Umso weniger eigneten sich die formalisierten Argumentationsverfahren des Disputationswesens für Kontroversgespräche mit den Täufern, die, abgesehen von einzelnen akademisch gebildeten Personen in der Frühzeit der Täuferbewegung, nicht über die dafür erforderliche dialektische Schulung verfügten. Sie ließen allein explizite Schriftbeweise gelten, die sie, nach Loci geordnet, in großem Umfang zu memorieren pflegten.2 Innerprotestantische Religionsgespräche wie 1529 in Marburg oder 1536 in Wittenberg hatten das Ziel, einen Lehrkonsens zu formulieren. Die altgläubigprotestantischen Religionsgespräche waren mit der Erwartung verbunden, einen Ausgleich oder die geordnete Koexistenz unterschiedlicher konfessioneller Paradigmata zu ermöglichen, so die Reichsreligionsgespräche von Hagenau 1540 bis Worms 1557. In allen Fällen agierten die Gesprächsteilnehmer im Auftrag evangelischer beziehungsweise katholischer Obrigkeiten. Grundsätzlich anders verhielt es sich bei Gesprächen zwischen obrigkeitlich autorisierten Theologen und Täufern, also Personen, bei denen es sich in juristischer Hinsicht durchweg um Kapitalverbrecher handelte, da die Wiedertaufe ein Straftatbestand war, der aufgrund der römischen Rechtstradition (Corpus iuris civilis, Codex 1, 6, 2) und seit 1529 auch laut Reichsrecht mit der Todesstrafe zu ahnden war.3 Auch wenn die jeweiligen Obrigkeiten bei der tatsächlichen Anwendung der Todesstrafe einen erheblichen Handlungsspielraum besaßen und diese häufig zu vermeiden suchten, konnten Gespräche mit Anhängern der Gläubigentaufe von vornherein nur auf die Bekehrung der Täufer oder auf die Legitimierung ihrer Bestrafung abzielen, nicht aber auf Lehrkonsens, Ausgleich oder Koexistenz. In den Anfangsjahren der Täuferbewegung von 1524 bis 1530 kam es zu einer ganzen Reihe von teils öffentlichen, teils nur in Gegenwart der Stadträte durchgeführten Anhörungen von Täufern in evangelischen Städten der 2 Dazu vgl. C. Arnold Snyder/Joe A. Springer (Hg.), Biblical Concordance of the Swiss Brethren, 1540, Ontario u. a. 2001; Martin Rothkegel, Das Verständnis der Heiligen Schrift bei den Täufern in Mähren, in: Ota Halama (Hg.), Amica Sponsa Mater. Bible v cˇase reformace, Praha 2014, 177–225. 3 Vgl. Eike Wolgast, Stellung der Obrigkeit zum Täufertum und Obrigkeitsverständnis der Täufer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Goertz/James Stayer (Hg.), Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert. Radicalism and Dissent in the Sixteenth Century, Berlin 2002, 89–120.

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deutschsprachigen Schweiz, so in Zürich, Basel, Bern und Sankt Gallen, auf die verschiedene Sanktionen folgten.4 Im Reich ließ der Augsburger Rat 1527 vier Prädikanten gegen vier Täuferprediger disputieren. Drei der Täufer blieben nach der Disputation in unbefristeter Kerkerhaft (aus der sie aber, nachdem sie widerrufen hatten, im Lauf der folgenden vier Jahre wieder entlassen wurden), der vierte, Hans Hut, wurde in einem anschließenden Prozess zum Tode verurteilt (starb aber vor der Hinrichtung im Gefängnis).5 Bei der Straßburger Synode von 1533 wurden notorische religiöse Nonkonformisten zu ausführlichen Anhörungen vorgeladen. Anschließend wurden die meisten von ihnen der Stadt verwiesen, einige erhielten Bewährungsstrafen. Einer der vernommenen Täufer, Melchior Hoffman (ca. 1495–ca. 1543), blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1543 in Isolationshaft.6 Diese Gespräche (die Aufzählung ist keineswegs vollständig) orientierten sich teilweise am Vorbild der Reformationsdisputationen, so die Zürcher Täuferdisputation vom 17. Januar 1525, die in Anwesenheit von Räten, Bürgern und Gelehrten auf dem Rathaus stattfand.7 Andere Gespräche hatten eher den Charakter von Verhören. Bei Vorladungen von Personen, die der jeweiligen Obrigkeit untertan waren oder sich in ihrem Amtsbereich aufhielten, oder bei Vorführungen von Personen, die sich bereits in Haft befanden, waren die Grenzen zwischen Religionsgespräch und Straf- oder Ketzerprozess fließend. Sofern sie nicht zu einem Widerruf bereit waren, mussten die täuferischen Teilnehmer der Gespräche mit anschließenden Sanktionen rechnen.

4 Vgl. John H. Yoder, Täufertum und Reformation im Gespräch. I.: Die Gespräche zwischen Täufern und Reformatoren 1523–1538, Karlsruhe1962, 40–126. 5 Vgl. Friedwart Uhland, Täufertum und Obrigkeit in Augsburg im 16. Jahrhundert, Diss. phil. Tübingen 1972, 115–117; Gottfried Seebass, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut, Gütersloh 2002, 131–136. 6 Die Protokolle der Anhörungen und ergänzende Aktenstücke und Briefe sind ediert in: Manfred Krebs/Hans Georg Rott (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 8: Elsaß, II. Teil. Stadt Straßburg 1533–1535, Gütersloh 1960, 21–117; ferner: Robert Stupperich (Hg.), Martin Bucers deutsche Schriften, Bd. 5: Straßburg und Münster im Kampf um den rechten Glauben 1532–1534, Gütersloh 1978. Vgl. John D. Derksen, From Radicals to Survivors. Strasbourg’s Religious Nonconformists over two Generations, 1525–1570, ’t Goy-Houten 2002, 76–83. 7 Edition der einschlägigen Aktenstücke und Berichte: Leonhard von Muralt/Walter Schmid (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 1: Zürich, Zürich 21974, 32–35. Vgl. Urs B. Leu/Christian Scheidegger (Hg.), Die Zürcher Täufer 1525–1700, Zürich 2007, 44f.

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2.

Das Verfahren der täuferisch-reformierten Kontroversgespräche von Zofingen 1532 bis Frankenthal 1571

Einen neuen Weg schlug der Berner Rat 1532 ein. Er setzte für den 1. Juli 1532 eine mehrtägige öffentliche Disputation in Zofingen an, zu der die evangelischen Prädikanten des gesamten Berner Herrschaftsgebiets als Zuschauer einbestellt wurden. Es handelte sich also nicht zuletzt um eine Fortbildungsveranstaltung für die Theologen der Staatskirche, die lernen sollten, mit welchen Argumenten man des Täuferproblems Herr werden könnte. Durch eine öffentliche Ausschreibung wurden die Täufergemeinden im damals bernischen Aargau aufgefordert, Delegierte zu der Disputation zu entsenden, wobei ihnen die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich durch Auswärtige vertreten zu lassen. Den fremden Täufern gewährte der Rat für die Dauer des Gesprächs freies Geleit. Von den fünf täuferischen Predigern, die zu der Disputation erschienen, war lediglich einer ein Berner Untertan, die übrigen waren Auswärtige, hatten also keine nachfolgenden Sanktionen zu befürchten (dagegen wurde der einheimische Täuferprediger im Anschluss an das Gespräch verhaftet). Das Protokoll des Gesprächs ließ der Berner Rat drucken, wobei Wortlaut und Gestaltung des Titelblatts dem vier Jahre zuvor gedruckten Protokoll der Berner Reformationsdisputation von 1528 („Handlung oder Acta gehaltner Disputation zu˚ Bernn“) nachempfunden waren – was wohl als Indiz für den hohen Stellenwert, den die Regierung der Veranstaltung zumaß, zu werten ist.8 Aus dem Verfahren kann man ferner den Schluss ziehen, dass es 1532 im Aargau Täufergemeinden gab, die in eine über das Bernbiet hinausreichende Struktur eingebunden waren. Die transterritoriale Vernetzung ermöglichte es der täuferischen Seite, Vertreter zu dem Gespräch zu entsenden, die von den Aargauer Täufergemeinden als autorisierte Sprecher anerkannt wurden. Ein zweites Täufergespräch dieser Art veranstaltete der Berner Rat vom 11. bis 17. März 1538 in Bern, diesmal allerdings gewissermaßen als letzte Warnung an die Täufer. Anders als 1532 blieb das Protokoll von 1538 ungedruckt,9 und während mit dem Zofinger Gespräch von 1532 ein zweijähriges Hinrichtungs8 Handlung oder Acta gehaltner Disputatio¯ vnd Gespraͤ ch zu˚ Zoffingen inn Bernner Biet mit den Widertoͤ uffern. Geschehen am ersten tag Iulij. Im M.D.XXXII., Zürich: Christoph Froschauer d.J., 1532; moderne Edition mit Erläuterungen: Martin Haas (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 4: Drei Täufergespräche, Zürich 1974, XV–XVI, 69–256. Vgl. Hans Rudolf Lavater, „… nienen böser, dann zu Rockwyl …“. Die Anfänge des Täufertums im Oberaargau, 1527–1542, in: Jahrbuch des Oberaargaus 50 (2007), 145–183; Martin Haas, Profile des frühen Täufertums im Raum Bern, Solothurn, Aargau, in: Zwingliana 36 (2009), 5–33. 9 Nach den handschriftlichen Protokollen ediert in: Haas (Hg.), Quellen, (wie Anm. 8), 259–467. Vgl. Hans Rudolf Lavater (Hg.), „… Lebenn nach der ler Jhesu“ „Das sind aber wir!“ Berner Täufer und Prädikanten im Gespräch 1538–1988, Bern 1989.

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moratorium verbunden gewesen war, ließ die Regierung im Anschluss an das Berner Gespräch von 1538 nicht weniger als 17 täuferische Untertanen, Frauen und Männer, hinrichten (ohne damit jedoch dem Ziel, die Täuferbewegung wirksam zu unterdrücken, näherzukommen).10 Es wäre also verfehlt, den erheblichen Aufwand, den die Obrigkeit für das Zustandekommen dieser Kontroversgespräche trieb, anachronistisch mit ökumenisch-pluralistisch konnotierten Begriffen wie „Gesprächsbereitschaft“ oder „Dialog“ zu interpretieren. Ebenso wenig ist auf Seiten der – freiwillig erscheinenden – Täuferprediger eine Bereitschaft zum Dialog vorauszusetzen. Vielmehr sahen diese es aufgrund von Schriftstellen wie Matthäus 10, 19f. und 1. Petrus 3, 15 als religiöse Pflicht an, ihre Glaubensüberzeugungen vor der Obrigkeit zu bekennen. Mit dem Druck des Zofinger Protokolls von 1532 hatte Bern ein Verfahren vorgegeben, das in den folgenden Jahrzehnten nicht nur von weiteren Obrigkeiten nachgeahmt, sondern offenbar auch von den Täufern selbst als Instrument in der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit akzeptiert wurde. 1540 richtete eine Straßburger Täufergemeinde nach der Verhaftung mehrerer Gemeindemitglieder einen Antrag an den dortigen Rat, zum Erweis der Harmlosigkeit der Täufer eine öffentliche Disputation zwischen den Straßburger Prädikanten und einer Delegation aus einem Straßburger Täuferprediger und zwei auswärtigen Predigern unter Gewährung freien Geleits anzuordnen; der Rat beschied das Ansuchen abschlägig.11 Dagegen ging der Rat von Schaffhausen zweimal auf entsprechende Vorschläge täuferischer Untertanen ein. Dort fanden Kontroversgespräche zwischen Täuferpredigern und reformierten Prädikanten Anfang Februar 1543 öffentlich und am 16. November 1559 vor dem Rat statt.12 1557 lud die Regierung der damals noch lutherischen Kurpfalz durch Plakate und Abkündigungen Vertreter der Täufer unter Zusicherung freien Geleits zu einem öffentlichen Colloquium ein, das am 25. und 26. August 1557 in Pfeddersheim bei Worms stattfand. Dazu erschienen drei aus auswärtigen Territorien angereiste Täuferprediger. Ihnen stand mit den württembergischen Theologen Johannes Brenz (1499–1570) und Jakob Andreae (1528–1590), dem Straßburger Johannes Marbach (1521–1581) und dem pfälzischen Hofprediger Michael Diller 10 Vgl. Hans Rudolf Lavater, „Was wend wir aber heben an …“ Bernische Täuferhinrichtungen 1529–1571. Eine Nachlese, in: Mennonitica Helvetica 37 (2014), 11–63. 11 Die betreffenden Aktenstücke sind ediert in: Marc Lienhard/Stephen G. Nelson/Hans Georg Rott (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 15: Elsaß, III. Teil. Stadt Straßburg 1536– 1542, Gütersloh 1986, 399–402, 405–408. 12 Protokolle sind nicht erhalten. Knappe zeitgenössische Berichte sind ediert in: Heinold Fast (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2: Ostschweiz, Zürich 1973, 136– 138, 172f.; Rainer Henrich/Alexandra Kess/Christian Moser (Hg.), Heinrich Bullinger Werke. Zweite Abteilung: Briefwechsel, Bd. 13: Briefe des Jahres 1543, Zürich 2008, 70–72 (Nr. 1718), 107–111 (Nr. 1731). Vgl. Carl August Bächtold, Die Schaffhauser Wiedertäufer in der Reformationszeit, in: Beiträge zur Vaterländischen Geschichte 7 (1900), 71–118, hier 117f.

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(um 1500–1570), die sich wegen des bevorstehenden Reichsreligionsgesprächs in Worms aufhielten, eine hochkarätige – ebenfalls transterritorial zusammengesetzte – lutherische Delegation gegenüber.13 Nach dem Übergang der Pfalz zum reformierten Bekenntnis fand vom 28. Mai bis 19. Juni 1571 ein weiteres Gespräch in Frankenthal statt. Diesmal fanden sich als Sprecher ihrer pfälzischen Glaubensgenossen 13 auswärtige Täuferprediger ein; zwei weitere Täufer, ein Prediger und ein gewöhnliches Gemeindemitglied, befanden sich in der Pfalz in Haft wurden für die Dauer des Gesprächs nach Frankenthal gebracht. Da von täuferischer Seite bemängelt worden war, dass von dem Pfeddersheimer Gespräch von 1557 kein ordentliches Protokoll veröffentlicht worden war, wurde in Frankenthal dafür Sorge getragen, dass beide Parteien das Protokoll, das im Druck über 700 Seiten umfasst, autorisierten.14 Das Vorbild des Frankenthaler Gesprächs überbietend veranstaltete Graf Johann von Ostfriesland (1538–1591) 1578 das Kontroversgespräch von Emden, bei dem sich reformierte Theologen und auswärtige Prediger der Flämischen Mennoniten, einer der seit 1555 entstandenen mennonitischen Teildenominationen, über zweieinhalb Monate lang gegenüberstanden. Entsprechend übertraf der Umfang des gedruckten Emder Protokolls den des Frankenthaler Gesprächs bei weitem.15 Ganze drei Monate disputierten Prediger der Flämischen Menno-

13 Zwei gekürzte Fassungen des Protokolls sind handschriftlich überliefert: „Acta colloquii habiti cum anabaptistis in Pfedersheim anno 1557, 25. Augusti“, Zittau, Christian Weise Bibliothek, Theol. 4° 610; ferner: Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 94. Die Gothaer Handschrift ist ediert in: John S. Oyer, The Pfeddersheim Disputation, 1557, in: MQR 60 (1986), 304–351. Vgl. Astrid von Schlachta, Der Befehl Christi – Lutheraner und Taufgesinnte im Pfeddersheimer Religionsgespräch, in: Volker Gallé/Wolfgang Krauß (Hg.), Zwischen Provokation und Rückzug. Die Politik der radikalen Reformation im Südwesten, Worms 2016, 157–176; dies., Zwischen Konversionsdruck und Bekenntniseifer. Die reformiert-täuferischen Religionsgespräche in Pfeddersheim und Frankenthal, in: Dingel/Leppin/Paasch (Hg.), Zwischen theologischem Dissens und politischer Duldung (wie Anm. 1), 183–199 (ohne Kenntnis der Zwickauer Überlieferung). 14 Protocoll. Das ist/ Alle handlung des gesprechs zu Franckenthal inn der Churfürstlichen Pfaltz/ mit denen so man Widertaͤ uffer nennet, Heidelberg: Johann Mayer, 1571; ein weiterer Druck erschien ebd., 1573, eine niederländische Übersetzung erschien 1571 in Dordrecht. Vgl. Ernst Friedrich Peter Güß, Die kurpfälzische Regierung und das Täufertum bis zum Dreißigjährigen Krieg, Stuttgart 1960, 73–91; Jesse Yoder, The Frankenthal Debate with the Anabaptists in 1571. Purpose, Procedure, Participants, in: MQR 36 (1962), 14–35; Heinold Fast, Die Täuferbewegung im Lichte des Frankenthaler Gespräches, in: Mennonitische Geschichtsblätter 30 (1973), 7–23; von Schlachta, Zwischen Konversionsdruck und Bekenntniseifer (wie Anm. 13). 15 Vgl. Klaas-Dieter Voß, Das Emder Religionsgespräch von 1578. Zur Genese des gedruckten Protokolls sowie Beobachtungen zum theologischen Profil der flämischen Mennoniten, Leipzig 2018.

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niten und reformierte Theologen 1596 öffentlich in Leeuwarden.16 (Diese beiden Gespräche bleiben im Folgenden außer Acht.) Mit dem Zofinger Gespräch von 1532 war offenbar ein „Format“ geschaffen worden, das sich als Instrument der Auseinandersetzung zwischen Täufern und reformierten Obrigkeiten bewährte (und dessen sich im Fall von Pfeddersheim 1557 ausnahmsweise eine lutherische Obrigkeit bediente). Wer waren die Täufer, die den reformierten Theologen gegenüberstanden? Laut den Protokollen handelte es sich nicht um spontan erschienene Privatpersonen, sondern um Prediger, Lehrer und Älteste, das heißt ordinierte „Amtsträger“ einer irgendwie organisierten täuferischen Kirchenstruktur. Es scheint, dass die täuferischen Teilnehmer der Gespräche von Zofingen 1532 bis Frankenthal 1571 Vertreter ein und derselben täuferischen Gruppierung waren, die offenbar ein die Grenzen politischer Territorien übergreifendes, weit ausgedehntes Netzwerk bildete. Diese These soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.

3.

Eine transterritoriale täuferische Untergrundkirche im Kontroversgespräch mit den reformierten Territorialkirchen

Dass ein Zusammenhang und eine Kontinuität zwischen den täuferischen Delegationen, die zu den Kontroversgesprächen von Zofingen 1532, Bern 1538, Schaffhausen 1543, Pfeddersheim 1557, Schaffhausen 1559 und Frankenthal 1571 erschienen beziehungsweise im Fall von Straßburg 1540 ihr Erscheinen anboten, bestand, verdeutlicht die folgende tabellarische Übersicht: Kontroversgespräch Namen und (soweit bekannt) Herkunfts- oder Wohnorte der täuferischen Teilnehmer Zofingen 1532 Martin Weniger aus Basel, wohnhaft in Schleitheim, Schaffhausen (vgl. Anm. 8) Hans Hotz aus Grüningen, Zürich, wohnhaft im Breisgau Michael Utt aus Stams, Tirol Simon Lantz Christian Brugger aus Rohrbach, Bern Bern 1538 (vgl. Anm. 9)

Hans Hotz (vgl. Zofingen 1532) Michael Utt (vgl. Zofingen 1532) Christian Brugger (vgl. Zofingen 1532) Matthis Wiser aus Bremgarten, Grafschaft Baden Heinrich Wininger aus Schaffhausen Georg Träfer gen. Sattler aus Ammergau, Bayern, wohnhaft im Breisgau

16 Vgl. Samme Zijlstra, Om de ware gemeente en de oude gronden. Geschiedenis van de dopersen in de Nederlanden 1531–1675, Hilversum/Leeuwarden 2000, 352, 367–369.

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(Fortsetzung) Kontroversgespräch Namen und (soweit bekannt) Herkunfts- oder Wohnorte der täuferischen Teilnehmer Straßburg 1540 Peter Walther aus Schlettstadt (vgl. Anm. 11) Hans Hotz (vgl. Zofingen 1532 und Bern 1538) Georg Träfer gen. Sattler (vgl. Bern 1538) Schaffhausen 1543 Georg Träfer gen. Sattler (vgl. Bern 1538 und Straßburg 1540) (vgl. Anm. 12) Markus Brunner Pfeddersheim 1557 (vgl. Anm. 13) Schaffhausen 1559 (vgl. Anm. 12) Frankenthal 1571 (vgl. Anm. 14)

Diepold Winter aus Ingweiler, Elsaß Hans Schoch aus Allmendingen, Württemberg Cyriakus Mör aus Schleiden, Eifel Heinrich Wininger (vgl. Bern 1538) Rauf Bisch aus Odernheim bei Bad Kreuznach oder bei Alzey Diepold Winter (vgl. Pfeddersheim 1557) Hans Büchel aus Muhr, Salzburg Hans Greicker aus Heppenheim Philipp Jößlin aus Heilbronn Anastasius Habermann aus Freinsheim, Pfalz, wohnhaft in Ramberg Peter Scherer aus Lauingen Klaus Sümmerer aus Siebeldingen, Pfalz Leonhard Sommer aus Necklinsberg, Württemberg Peter Walther (vgl. Straßburg 1540) Jodocus Meyer aus Ravensburg Fiacrius Frederer aus Hoffenheim Hans Sattler aus Andernach Peter Hutt aus Kleinbockenheim

Aufgrund der Überschneidungen der Teilnehmerschaft, durch die die aufgeführten Kontroversgespräche miteinander verschränkt sind, legt sich die Vermutung nahe, dass die täuferischen Delegierten ein und derselben täuferischen Gruppierung angehörten. In der Tat ist für die meisten der genannten Personen (bis auf Martin Weniger und Christian Brugger, die widerriefen, sowie Michael Ott und Simon Lantz, über die keine weiteren Quellen vorliegen) in Quellen aus der Zeit ab 1538 bezeugt, dass sie Lehrer (Prediger) oder Älteste der Schweizer Brüder waren.17 Die Bezeichnung „Schweizer Brüder“ taucht erstmals 1538–1540 in Briefen von Predigern der Hutterischen Brüder in Mähren auf. Diese hatten im Sommer 1538 mit drei Predigern der Schweizer Brüder, dem Württemberger Georg Wernlin genannt Scherer, dem Bayern Georg Sattler (einem der Teilnehmer des 17 Der Einzelnachweis für die Zugehörigkeit zu den Schweizer Brüdern, für den zahlreiche ungedruckte und gedruckte Quellen herangezogen wurden, kann an dieser Stelle nicht dokumentiert werden.

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Gesprächs von Bern 1538) und einem gewissen Matthis (wohl Matthis Wiser, der ebenfalls am Berner Gespräch teilgenommen hatte), über eine mögliche Vereinigung der teils in Süddeutschland, teils in Mähren lebenden Anhänger der Schweizer Brüder mit den Hutterern verhandelt. Nachdem die Vereinigungsverhandlungen rasch gescheitert waren, bauten die Schweizer Brüder innerhalb von drei Jahren ein expandierendes Gemeindenetzwerk auf, das Gemeinden vom Elsass bis nach Schwaben und vom Berner Herrschaftsgebiet bis in die Pfalz sowie mehrere Gemeinden in Mähren umfasste und dem sich täuferische Gruppen unterschiedlichen Ursprungs anschlossen.18 In der Forschung herrscht bislang die Auffassung vor, bei den Schweizer Brüdern handle es sich um die 1525 in Zürich entstandene ursprüngliche Form des Täufertums, die sich durch Mission und Migration allmählich über die Grenzen der Schweiz hinaus verbreitet habe.19 Dagegen spricht aber die Tatsache, dass der Gruppenname „Schweizer Brüder“ in Quellen, die im geographischen Bereich der Schweiz entstanden sind, vor 1589 überhaupt nicht belegt ist.20 Es fällt auch auf, dass sich unter den zahlreichen namentlich bekannten Predigern und Ältesten der Schweizer Brüder aus den Jahren 1538–1571 lediglich drei Personen finden, die tatsächlich geborene Schweizer waren, nämlich Hans Hotz aus dem Zürcher Amt Grüningen, Matthis Wiser aus Bremgarten, das zur eidgenössischen Grafschaft Baden gehörte, und Heinrich Wininger aus Schaffhausen. Die ab 1538 bezeugte Untergrundkirche der Schweizer Brüder umfasste zwar sicherlich auch Gemeinden in der Schweiz. Die Aargauer Täufer waren schon beim Gespräch von Zofingen 1532 über die Grenzen des Bernbiets hinaus vernetzt, und mit Hans Hotz, der bereits 1525 die Taufe erhalten hatte, gehörte auch ein prominenter Veteran des frühesten Zürcher Täuferkreises den Schweizer Brüdern an. Dennoch erscheint es irreführend, die Ursprünge der Schweizer Brüder in ungebrochener Kontinuität bis zum Zürcher Täuferkreis von 1525 oder bis zu der

18 Vgl. Werner O. Packull, Hutterite Beginnings. Communitarian Experiments during the Reformation, Baltimore/London 1995, 284–289; ders., Peter Riedemann. Shaper of the Hutterite Tradition, Ontario, 2007, 48–50. 19 Die Bezeichnung der Zürcher Täufer von 1525 als „Schweizer Brüder“ geht erst auf den Freimaurer-Historiker Ludwig Keller zurück. Keller, der in mennonitischen Quellen des 17. Jahrhunderts auf den Begriff „Schweizer Brüder“ gestoßen war, vertrat die These, die Täufer bzw. die Schweizer Brüder seien nichts anderes als der Schweizer Zweig einer bereits im Mittelalter existierenden „altevangelischen“ Waldenser-Bruderschaft, deren böhmischer Zweig die Böhmischen Brüder gewesen seien, vgl. Ludwig Keller, Die Reformation und die älteren Reformparteien in ihrem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1885, 392–412. 20 Die früheste Erwähnung der Schweizer Brüder in Schweizer Quellen findet sich in einem Schreiben der Basler reformierten Prädikanten an den Rat von 1589, vgl. Hanspeter Jecker, Ketzer – Rebellen – Heilige. Das Basler Täufertum von 1580–1700, Liestal 1998, 109–115.

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Schleitheimer Konferenz von 1527, als mit den Schleitheimer Artikeln erstmals eine Grundlage für ein Gemeindenetzwerk entworfen wurde, zurückzudatieren.21 Vielmehr weist der erst 1538, und zwar zunächst nur in Mähren, bezeugte Gruppenname „Schweizer Brüder“ in den sprachlich-kulturellen Kontext Mährens. Dort wurden in Analogie zu den Böhmischen Brüdern (der Brüderunität)22 separatistische Glaubensgemeinschaften gewöhnlich als „Brüder“ bezeichnet, so die zwinglianischen Habrovaner Brüder (nach ihrem Hauptsitz Habrovany)23 oder die täuferischen Austerlitzer Brüder (nach ihrem Hauptsitz Austerlitz),24 die Hutterischen Brüder (nach dem Berufsnamen ihres Gründers Jakob Huter [gestorben 1536]), die Gabrieler Brüder (nach dem Vornamen ihres Gründers Gabriel Ascherham)25 und andere. Über den Ursprung der Bezeichnung „Schweizer Brüder“ brachte ein gewisser Johann Weisenkircher, der 1555 die verschiedenen täuferischen Gemeinschaften in Mähren besucht hatte, in Erfahrung, diese seien nach einem Prediger benannt, der aus der Schweiz nach Mähren gekommen sei.26 Ähnliches berichtete 1627 ein gewisser Jakob Meister, der in Mähren den Schweizer Brüdern angehört hatte und vor der Gegenreformation in die Nie-

21 Den bisherigen Forschungskonsens, wonach die Schweizer Brüder die 1525/27 entstandene ursprüngliche Strömung des Schweizer Täufertums seien, verteidigt C. Arnold Snyder, In Search of the Swiss Brethren, in: MQR 90 (2016), 421–515. 22 Zu diesen vgl. jetzt: Joachim Bahlcke/Jindrˇich Halama/Martin Holý/Jirˇí Just/Martin Rothkegel/Ludger Udolph, Acta Unitatis Fratrum. Dokumente zur Geschichte der Böhmischen Brüder im 15. und 16. Jahrhundert. Bd. 1: Regesten der in den Handschriftenbänden Acta Unitatis Fratrum I–IV überlieferten Texte, Wiesbaden 2018. 23 Vgl. Martin Rothkegel, Mährische Sakramentierer des zweiten Viertels des 16. Jahrhunderts: ˇ ízˇek), Jan Dubcˇanský ze Zdenína und Mateˇj Poustevník, Benesˇ Optát, Johann Zeising (Jan C die Habrovaner (Lulcˇer) Brüder, Baden-Baden 2005. 24 Vgl. Martin Rothkegel, Die Austerlitzer Brüder: Pilgram Marpecks Gemeinde in Mähren, in: Astrid von Schlachta/Anselm Schubert (Hg.), Grenzen des Täufertums. Boundaries of Anabaptism. Neue Forschungen, Gütersloh 2009, 232–270. Während seiner Tätigkeit als Hofmeister in Groningen war es zu folgenreichen Begegnungen mit dem niederländischen Armianismus und insbesondere dem reformierten Naturrechtler und Symbolkritiker Jean Barbeyrac (1674–1744) gekommen, von dessen Gelehrsamkeit Sack nach eigenen Angaben nachhaltig beeinflusst wurde. Vgl. Horst Möller, August Friedrich Wilhelm Sack, in Gerd Heinrich (Hg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 5: Theologen (EHKB 60), Berlin 1990, 129–146, hier 130. 25 Vgl. Martin Rothkegel, Gabriel Ascherham, in: ders. (Hg.), Bibliotheca dissidentium. Répertoire 27, Baden-Baden 2012, 139–180; zu den täuferischen Kirchenbildungen in Mähren insgesamt vgl. ders., Anabaptism in Moravia and Silesia, in: John Roth/James Stayer (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700, Leiden 2007, 163–215. 26 Johann Weisenkircher, „Von den bruderen im lanndt zu Marhen“ (1555), handschriftlich: Regensburg, Stadtarchiv, Eccl. I, No. 58–33 (35021–35028), dort: „Sölchen namen haben sy, das ein vorsteer aus dem Schweitzerlandt [nach Mähren] herabkomen ist.“

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derlande geflohen war.27 Um wen es sich bei jenem eponymen Prediger aus der Schweiz gehandelt haben könnte, ist bislang unklar. Das Gemeindenetzwerk der Schweizer Brüder wurde von ordinierten Lehrern beziehungsweise Predigern und Ältesten geleitet, wobei das Amt des Ältesten den durch mehrjährigen Dienst bewährten Predigern vorbehalten war.28 Die Prediger und Ältesten versammelten sich regelmäßig zu Beratungen. Von 1555 an sind jährliche Synoden in Straßburg bezeugt, die unter strenger Geheimhaltung in angemieteten Räumen durchgeführt wurden.29 Bei der Synode von 1555 wurde der Beschluss gefasst, die Reste der Anhängerschaft Melchior Hoffmans und die zeitweise mit den niederländischen Mennoniten verbundenen, ursprünglich auf die Missionstätigkeit der Münsteraner Täufer 1534 zurückgehenden Täufergemeinden am Niederrhein und in der Eifel in den Gemeindeverband der Schweizer Brüder aufzunehmen.30 Dadurch kam es zu einer beträchtlichen Erweiterung der geographischen Ausdehnung der Gemeinschaft. Besondere Bedeutung erlangten die Gemeinden in Köln und Aachen.31 In einem Bericht über die Synode von 1557 heißt es, dass etwa fünfzig Älteste und Prediger aus Mähren, Schwaben, der Schweiz, Württemberg, dem Breisgau und dem Elsass anwesend waren, die etwa ebenso viele Gemeinden von der Eifel bis Mähren vertraten.32 27 Vgl. Het Brilleken: Waer deur de Eens-gheloofsdoops-gesinde sien mogen/ in wat gevoelen sy met met den anderen stonde¯. Haarlem 1630, 42–47, hier 44: „[…] de Switsersche ghemeynte […], die haren naem voeren van Hans Switser.“ 28 Vgl. die Regelungen in der „Abred der Diener und Ältesten aus vielen Orten in Versammlung zu Strassburg im Jahr 1568, wie auch Anno 1607 in der Strassburger Versammlung wieder erneuert worden“, ediert von: Harold S. Bender, The Discipline Adopted by the Strasburg Conference of 1568, in: MQR 1 (1927), 57–66. 29 Vgl. John S. Oyer, The Strasbourg Conferences of the Anabaptists, 1554–1607, in: MQR 58 (1984), 218–229; Heinold Fast, Wie sind die oberdeutschen Täufer „Mennoniten“ geworden? in: Mennonitische Geschichtsblätter 1986/87, 80–103, hier 88–91. 30 Der Synodalbeschluss über die Aufnahme der Melchioriten und der niederrheinischen Gemeinden ist nur in niederländischer Übersetzung überliefert: „Verdragh ghemaeckt by de Broederen en Ousten tot Straesborgh vergadert van wegen de wetenschap van de herkomst des vlees Christi“, Straßburg, 24. August 1555, ediert in: Samuel Cramer (Hg.), Bibliotheca reformatoria Neerlandica, Bd. 7: Zestiende-eeuwsche schrijvers over de geschiedenis der oudste Doopsgezinden hier te lande, ’s-Gravenhage 1910, 226–228. 31 Zu Schweizer Brüdern in Köln und Aachen vgl. Joseph Hansen, Die Wiedertäufer in Aachen und in der Aachener Gegend, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 6 (1885), 295– 338; Hans H. Th. Stiasny, Die strafrechtliche Verfolgung der Täufer in der Freien Reichsstadt Köln 1529 bis 1618, Münster 1962; Mathilde Monge, Des communautés mouvantes. Les „sociétés des frères chrétiens“ en Rhénanie du Nord. Juliers, Berg, Cologne vers 1530–1694, Genève 2015. 32 Zwei der Anwesenden berichteten: „[…] dat tot Straesborch te samen geweest sijn bij vijftich oudsten ende dienaeren wt Merenlant, wt Swavenlant, wt Switserlant, wt Wirtenburchlant, wt Priskau ende Elsuijten ende vele oorden, omtrent anderhalf hondert mijlen weechs […] noch can ick onsen broeder verberghen, dat sij ons gheseijt hebben, datter vijftich gemeeenten sijn van der Eiffelt aen tot Meerlant toe, ende in sommige ghementen sijn vijf ofte seshondert broederen ende susteren, ende dese ghemeenten staen al met ons in t’gheloof ende beken-

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Martin Rothkegel

Die synodal verfasste Untergrundkirche der Schweizer Brüder, die ab 1555 in niederrheinischen Druckereien heimlich Liederbücher und Märtyrerschriften drucken ließen,33 deren handschriftliche Überlieferung aber weitgehend verloren ist, löste sich in den meisten ihrer Verbreitungsregionen spätestens im Dreißigjährigen Krieg auf. Restgruppen der Schweizer Brüder vom Niederrhein und aus der Eifel schlossen sich im 17. Jahrhundert niederländischen taufgesinnten Gemeinden oder den Mennonitengemeinden in Krefeld und Neuwied an. Lediglich in der Schweiz bestand die Tradition der Schweizer Brüder bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts im Zürichbiet und Bernbiet weiter und breitete sich durch erzwungene Auswanderung von dort wieder ins Elsass und in die Pfalz aus. Da die niederländischen Mennoniten sich einen guten Ruf als vorbildliche und friedliche Untertanen erworben hatten und sich der Protektion durch die Niederländischen Generalstaaten erfreuten, bezeichneten sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch die Schweizer Brüder als Mennoniten. Tatsächlich intervenierte die niederländische Regierung im 17. und 18. Jahrhundert wiederholt bei reformierten Obrigkeiten im Reich und in der Schweiz zugunsten der immer noch als „Wiedertäufer“ verdächtigten und verfolgten Täufergemeinden. Die bis in die Gegenwart bestehenden Mennonitengemeinden in Süddeutschland, der Schweiz und in Frankreich stehen, ebenso wie die seit dem frühen 18. Jahrhundert nach Pennsylvania ausgewanderten Mennoniten und Amischen, in der Tradition der Schweizer Brüder. Angesichts der spärlichen Überlieferung theologischer Texte der Schweizer Brüder aus dem 16. Jahrhundert stellen die Protokolle der täuferisch-reformierten Kontroversgespräche, insbesondere das des Frankenthaler Gesprächs von 15751, wichtige Quellen zur Lehrbildung dieser bislang nur unzureichend erforschten täuferischen Untergrundkirche dar.

tenisse Godts en sijnen Soon onsen Heere Jesu Christi“, Steven Blaupot ten Cate, Geschiedenis der doopsgezinden in Groningen, Overijssel en Oost-Friesland, Leeuwarden/Groningen 1842, Bd. 1, 261f. 33 Einen vorläufigen Überblick enthält: Martin Rothkegel, Daniel Graff über Pomponio Algieri von Nola: Eine Märtyrerflugschrift der Schweizer Brüder von 1565, in: Mennonitische Geschichtsblätter 74 (2017), 44–72.

Fred van Lieburg

Die Dordrechter Synode (1618–1619) als öffentliches Ereignis1

Vom 13. November 1618 bis zum 29. Mai 1619 war die Stadt Dordrecht in der Provinz Holland der Versammlungsort der Nationalen Synode der reformierten Kirche in der Republik der Vereinigten Niederlande. Nur wenige Tage nach Beginn der Synode veröffentlichte ein Graveur aus Leiden, Nicolaas Geelkercken (1585–1656), eine illustrierte Namenliste der Abgeordneten. Seine Zeichnung zeigte den Besprechungsraum mit verschiedenen Bänken für die Teilnehmer: die politischen Gesandten der Generalstaaten, die Pfarrer und Ältesten der unterschiedlichen Provinzen und der Wallonischen Kirchen und die eingeladenen Vertreter einer Vielzahl ausländischer Staaten und Kirchen. Auch die Tafel der Synodenverwaltung (Präses, Assessoren und Sekretäre) wurde abgebildet. Aber ein Teil des Raums konnte in der Komposition des Bildes nur in Worten angegeben werden. „Über dem Eingang gibt es noch zwei Galerien für die Zuhörer“, lesen wir als Ergänzung zur Übersicht des Synodensaales. Diese gedruckte Herausgabe der Abbildung der Dordrechter Synode demonstriert in zweierlei Weise den Charakter der Versammlung als öffentliches Ereignis. Der Hinweis auf die Galerien machte deutlich, dass die Synode für Interessierte von Außen zugänglich war. Daneben behauptete die Veröffentlichung der Flugschrift ein Interesse an aktuellen Informationen zu den Vorgängen in Dordrecht. Bereits nach einer Woche wurde aufgrund hoher Nachfrage eine Neuauflage in Umlauf gebracht. In der ersten Fassung waren die Arminianer oder Remonstranten nicht abgebildet, die wegen ihrer Meinung zur reformierten Lehre zur Verantwortung gerufen wurden und erst am 6. Dezember 1618 vor der Synode erschienen. In der zweiten Fassung wurden ihre Namen genannt, und das Bild zeigte eine Tafel in der Mitte des Saales, wo die Remonstranten Platz nehmen durften. Außerdem wurde den anfänglich eingeladenen französischen Predigern 1 Dieser Beitrag basiert vollständig auf meinem Buch Synodestad: Dordrecht 1618–1619, Amsterdam 2019. Alle primären Quellen zur Geschichte der Synode sind in dieser Arbeit angegeben. Eine englische Übersetzung mit einigen Addenda und Korrigenda ist in Vorbereitung. Ich danke Frau Gianna Zipp und Herrn Hans-Georg Ulrichs für ihre Hilfe bei der Erstellung des deutschen Textes.

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Titelblatt Flugschrift ‚Afbeeldinghe des Synodi Nationael‘, Nicolaes Geelkerck, 1618. Bild: Rijksmuseum Amsterdam, BI-B-FM-057.

die Teilnahme von ihrem König untersagt, so dass die für sie reservierten Bänke leer blieben. Auch diese Tatsache wurde bei der Revision des Bildes mit einer Bemerkung angedeutet.

Die Dordrechter Synode (1618–1619) als öffentliches Ereignis

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Als öffentliche Versammlung mit Bezug auf ein breiteres Publikum war die Synode von Dordrecht mehr als ein selbstständiges Treffen kirchlicher Würdenträger, bei dem Lehre, Leben und Ordnung der niederländisch-reformierten Kirche verhandelt werden sollten. Die Anwesenheit politischer Beobachter und ausländischer Theologen zeigte, dass die Entscheidungen dieser Tagung sich in einem größeren sozialen und kulturellen Raum abspielten als nur in dem Synodensaal. Dieser Beitrag untersucht den kommunikativen Kontext der Dordrechter Synode, der den Verlauf und das Ergebnis der Synode selbst mitbestimmte. Hierfür sollen die praktischen Gegebenheiten der lokalen Konferenz, der Einfluss der Zuhörer auf den Galerien und die Rolle der Medien in der Öffentlichkeitswirkung der Synode betrachtet werden. Die Lücke in der Ikonografie der Dordrechter Synode ist auch eine Lücke in ihrer Historiographie, die bei der Rückschau auf dieses überaus gewichtige Ereignis nach vier Jahrhunderten aufgehoben werden sollte.

1.

Die Organisation der Synode

Die Dordrechter Synode bildete nicht nur einen Interaktionsrahmen zwischen Obrigkeit, Kirche und Volk. Die vormoderne Weltanschauung umfasste auch die himmlische Sphäre, in der Gott mit seinen irdischen Untertanen kommuniziert, indem er gutes Verhalten belohnt und Sünden bestraft. Das kollektive Ritual, bei dem diese Gegenseitigkeit auch in der niederländischen Republik erlebt wurde, war der allgemeine Fasten- und Gebetstag, der fast jedes Jahr von den Generalstaaten ausgerufen wurde. Alle reformierten Pfarrer erhielten eine schriftliche Instruktion mit den dringenden Gebetsanliegen, die oft in Verbindung mit den Religionskriegen standen, die Europa zu dieser Zeit überzogen. In den nördlichen Niederlanden war der Gebetstag ein Appell an die Einheit der christlichen Gemeinschaft, von der inzwischen kaum noch ein Drittel dem traditionellen Katholizismus treu geblieben war und höchstens ein Viertel sich bewusst dem Calvinismus angeschlossen hatte. Eine große Mittelgruppe war immer noch im Zweifel darüber, welcher konfessionellen Strömung sie sich anschließen sollte, weil einzelne Gruppen sich anderen protestantischen Bewegungen wie dem Luthertum, dem Täufertum oder dem Spiritualismus angeschlossen hatten. Auch der Beschluss der Generalstaaten am 29. September 1617, die Nationale Synode zur Beilegung des langen Streits zwischen Remonstranten und ContraRemonstranten abzuhalten, diente ausdrücklich der Ehre Gottes und der Wiederherstellung von Frieden und Einheit in Kirche und Staat. Der erste Punkt des Synodenentwurfs sah vor, dass einige Wochen vor der Eröffnung ein allgemeiner Fasten- und Gebetstag ausgerufen werden sollte. Eine heikle Diskussion betraf die Legitimität der Synode selbst. Tatsächlich war die Einstimmigkeit der sieben

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Provinzen, die nach der Union von Utrecht 1579 in religiösen Angelegenheiten souverän waren, eine Voraussetzung für die Organisation einer Nationalen Synode. In vier Provinzen stimmten wichtige Städte gegen die Einberufung der Synode. Ein Konsens wurde in einem langwierigen Prozess des politischen und militärischen Drucks vom Statthalter und Oberbefehlshaber, Prinz Moritz von Oranien-Nassau (1567–1625), durchgesetzt, wobei die Verhaftung von Landsadvokat Johan van Oldenbarnevelt (1547–1619) und anderen mächtigen Gegnern am 29. August 1618 den Tiefpunkt bildete. Die Nationale Synode war also in Wirklichkeit Teil eines Staatsstreichs oder einer Staatsreform. Unter diesen spannenden Umständen war der öffentliche Zugang zur Nationalen Synode nicht nur ein kirchliches Zeichen der Offenheit, sondern auch von politischem Interesse. Die soziale Unterstützung für die „wahre christliche, reformierte Religion“ musste verstärkt werden. Die erneute Anerkennung des niederländischen Calvinismus durch europäische Verbündete und Schwesterkirchen war das einzig erwünschte Ergebnis der Synode. Auch der internationale Ruf der Republik als stabiler Partner in der Koalition protestantischer Länder musste wiederhergestellt werden, zumal 1621, am Ende des Zwölfjährigen Waffenstillstands, der Krieg mit Spanien wieder aufgenommen werden sollte. Zu Beginn des Jahres 1618 führte der Aufstand in Böhmen zu einer Konfrontation mit der Katholischen Liga. Prinz Moritz unterstützte den Aufstand. Der niederländische „Achtzigjährige Krieg“ wurde mit dem deutschen „Dreißigjährigen Krieg“ verbunden. Dadurch wurde die Dringlichkeit einer Lösung des internen religiösen Konflikts noch größer. Nach der Entscheidung, die Nationale Synode abzuhalten, wählten die Generalstaaten am 20. November 1617 die Stadt Dordrecht als Versammlungsort. Diese Wahl passte zu dem Ziel eines freien und offenen Gipfels des europäischen Calvinismus, zu dem 58 niederländische und 28 ausländische Teilnehmer eingeladen waren. Die Stadt lag auf einer Insel an einer Kreuzung größerer Flüsse und war somit ein sicherer und über Wasser leicht erreichbarer Ort. Aufgrund ihres Alters hatte die Stadt die erste Stimme unter den Staaten von Holland. Lange Zeit hatte der Stadtrat in der Frage der Religion eine neutrale Haltung eingenommen, folgte aber schließlich der Mehrheit in den Generalstaaten und votierte für die Einberufung einer Nationalen Synode. Die sechs örtlichen Pfarrer standen alle auf der contra-remonstrantischen Seite und mit ihnen auch die Mehrheit der Gemeinden. Am 13. Oktober 1618 äußerte Prinz Moritz seine Vorliebe für Den Haag als Versammlungsort der Synode, um sich direkt mit den hohen Staatskollegien beraten zu können. Die Wahl für Dordrecht blieb jedoch bestehen. Inzwischen hatte das große Hafentor von Dordrecht eine neue Fassade mit einer auffälligen aktuellen Inschrift erhalten: Pax civium et concordia tutissime urbem muniunt (Frieden und Einheit unter den Bürgern sind der sicherste

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Schutz einer Stadt). Eine große Anzahl von Gasthäusern und geräumigen Bürgerhäusern erleichterte den monatelang dauernden Aufenthalt der Synodenteilnehmer und den Tourismus vieler interessierter neugieriger Synodenbesucher. Die Nationale Synode wurde am 13. November 1618 mit einem niederländischsprachigen Gottesdienst in der Großen Kirche eröffnet, an dem viele Stadtbewohner teilnahmen. Für die internationalen Gäste gab es einen französischsprachigen Gottesdienst in der Augustinerkirche. Die Sitzungen der Synode fanden in den Kloveniersdoelen statt, einem großen Gebäude der Schützenbruderschaft. Im oberen Raum – 10 mal 20 Meter inklusive Kamin – wurde vom städtischen Schreiner ein spezielles Bankensemble installiert. Die beiden Galerien über dem Eingang des Saals, von denen wir kein Bild haben, vervollständigten das Auditorium. Auch dort gab es Bänke mit Kissen und Öllampen.

2.

Zulauf der Zuhörer

Die Art von Zuhörern, die auf der großen Synode willkommen waren, wurde von einem ausländischen Delegierten kurz nach der Eröffnung treffend als „Leute von Ehre und Literatur“ beschrieben. Eine solche Bezeichnung deutet darauf hin, dass Besucher mit einem anderen sozialen oder kulturellen Profil, zum Beispiel Frauen und Kinder, implizit abgelehnt wurden. Am 28. November 1618 erschien in Dordrecht jedoch eine „Prophetin“, die in Dänemark geborene Anna Walker (1567/1574–1620), die zuvor in Deutschland und den Niederlanden und nun in England lebte. Sie hatte bereits mehrmals Kontakt mit politischen und kirchlichen Autoritäten aufgenommen, um ihre besonderen Offenbarungen des Heiligen Geistes bekannt zu machen. Sie legte der Synodenverwaltung eine Schrift vor und sprach in den Gängen mit den Delegierten über theologische Fragen. Ihre Petition wurde nicht behandelt, blieb aber bis heute erhalten. Wir wissen nicht, ob sie auf der Galerie im Synodenraum selbst zugelassen wurde. Wenige Tage später, am 1. Dezember 1618, wohnte eine adlige Dame, Prinzessin Charlotte Brabantine von Nassau (1580–1631), einer Synodensitzung bei. Sie war eine Halbschwester von Prinz Moritz und die Witwe des Herzogs Claude von Trémoille (1566–1604). Sie hatte viele Kontakte zu französischen Hugenotten und ihr Interesse an kirchlichen Angelegenheiten war weit bekannt. Ihr Besuch auf der Synode wurde von mehreren Anwesenden als ehrenvolle Geste vermerkt. Einige Wochen später saßen einige vornehme Niederländerinnen auf der Tribüne, bei denen Neugier als Motiv für ihren Besuch vermutet wurde. Unter ihnen waren die Ehefrau von Hugo van Muys van Holy (1565–1626), Stadtherr von Dordrecht und städtischer Gastgeber der Synode, zwei Schwestern des Ritters Walraven van Brederode (1596–1620), der wie Muys van Holy die Staaten von Holland in der Synode vertrat, und die Ehefrau von Professor Daniel

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Heinsius (1580–1655), der als Sekretär des politischen Gesandtenkomitees fungierte. Seit ihrem Besuch am 21. Dezember 1618 wurden Frauen regelmäßig auf den Galerien gesichtet. Unter den Besuchern der Synode dominierten die bereits genannten „Leute der Literatur“. Die Kenntnis der lateinischen Sprache war eine praktische Voraussetzung, um den Beratungen folgen zu können, da sie in dieser lingua franca geführt wurden. Besonders die Prediger hegten großes Interesse an Ablauf, Verhandlungen und Entscheidungen der Synode. Obwohl sicherlich in den Anfängen der reformierten Kirche auch Laien zum Predigtdienst zugelassen wurden, hatten inzwischen die meisten ( jüngeren) Pfarrer eine akademische Ausbildung erhalten. Nach dem ursprünglichen Synodenplan der Generalstaaten stand es jedem Prediger sogar frei, in der Synode zu sprechen, aber diese Möglichkeit scheint nicht genutzt worden zu sein. Sie waren jedoch auf den Galerien reichlich vertreten. Pfarrer aus der Stadt und der Classis Dordrecht erhielten ausdrücklich Zugang zur Synode. Auch die Remonstranten waren anwesend, um mit eigenen Augen und Ohren die entscheidende Verhandlung ihrer Angelegenheit zu verfolgen. Eine Gruppe von Synodenteilnehmern, die auf die Galerien verwiesen waren, bestand aus den persönlichen Assistenten der Delegierten, die vor allem Schreibaufgaben übernahmen. Sicherlich hatten die ausländischen Delegierten mehrere Helfer mitgebracht. Die vorgeladenen Arminianer wurden auch von Studenten und Freunden begleitet. Caspar Barlaeus (1584–1648), Professor und Vizedirektor des Statencollege in Leiden, saß vom ersten Tag an auf der Tribüne und beriet die Remonstranten außerhalb der Sitzungen. John Hales (1584–1656), Kaplan der englischen Botschaft in Den Haag, hielt auf der Tribüne ausführliche Notizen für seinen Herrn, Sir Dudley Carleton (1573–1632), bereit. Eine junge und ehrgeizige Hilfskraft war Johann Heinrich Waser (1600–1669) aus Zürich, der als Amanuensis für die Schweizer Delegation arbeitete. Er war einer der ersten, der ein Album Amicorum oder Stammbuch aufnahm, um Unterschriften und Inskriptionen von möglichst vielen Synodalen zu sammeln. Zahlreiche Delegierte und andere Synodenbesucher folgten diesem Beispiel. Die größte Herausforderung war das Interesse der römischen Katholiken, welche die Zwietracht der verschiedenen Gruppen innerhalb des Protestantismus mit großer Schadenfreude verfolgten. Die Ablösung des alten Klerus durch die reformierte Geistlichkeit hatte offenbar zu großen Problemen geführt. In Dordrecht herrschten konfessionelle Spannungen und die Unsicherheit der politischen und religiösen Zukunft der Republik vor, die sich besonders im Verhalten der römischen Kurie manifestierten, die die nördlichen Niederlande als Missionsgebiet betrachtete. Von den südlichen Niederlanden – vor allem von Gent, Antwerpen, Brüssel und Löwen – war die Stadt Dordrecht nicht weit entfernt. Priester zogen umher und missionierten heimlich, wie sich auch in der

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Anwesenheit von Jesuiten und Dominikanern auf den Galerien des Synodensaals zeigt. Für römisch-katholische Theologen waren die Debatten zwischen Calvinisten und Arminianern um die Wiederbelebung der scholastischen Theologie und die Prädestinationslehre von besonderem Interesse.

3.

Interaktion der Teilnehmer

Unten im Sitzungssaal achteten die Synodenmitglieder genau darauf, wer oben auf der Galerie saß oder hinten im Raum stand. Die Moderatoren, insbesondere der Präses Johannes Bogerman (1576–1637), konnten es vom Tisch vor dem Kamin aus deutlich sehen. Bereits zwei Wochen nach Beginn der Sitzungen bereitete die gemischte Zusammensetzung des Publikums gewisse Sorgen. Am 3. Dezember 1618 wandte sich Bogerman an die Kommissare der Generalstaaten mit der Frage, was mit der Anwesenheit von Jesuiten und anderen zu tun sei. Die Politiker antworteten, dass diese bleiben dürften. Also bestätigte die Regierung der niederländischen Republik nachdrücklich den offenen Zugang zur Nationalen Synode. Ein Grund wurde nicht genannt, aber die Herren waren offenbar von der Bedeutung überzeugt. Dies war einige Tage vor der Ankunft der dreizehn herbeigerufenen Remonstranten, die am 6. Dezember 1618 im Synodensaal erschienen. Niemand sah voraus, dass die Zuhörer bald nach dem Eintritt der Remonstranten eine entscheidende Rolle bei einer Eskalation spielen sollten, die den Verlauf der Synode grundlegend änderte. Am Freitagmorgen, dem 7. Dezember 1618, hielt der arminianische Professor Simon Episcopius (1583–1643) eine ungebetene, jedoch berühmt gewordene Rede. Inhaltlich handelte es sich um einen Frontalangriff auf die Kirchenversammlung mit der Strategie, Politiker und Ausländer für seine Partei zu gewinnen. Bogerman bat ihn sofort um den Text und Episcopius händigte ihm nach einigem Zögern ein Manuskript aus. Erst am Ende der Sitzung erstatteten Besucher von der Tribüne dem Präses Bericht, weil sie gesehen hatten, dass der Redner nicht das Exemplar, aus dem er gelesen hatte, übergeben hatte, sondern ein anderes Dokument. Nach einer Untersuchung durch den politischen Sekretär Heinsius erhob die Synode offiziell den Vorwurf der Täuschung. Es folgten langwierige Diskussionen zwischen Bogerman und Episcopius, bis die politischen Kommissare dem ein Ende setzten. Die psychologische „Kriegsführung“ zwischen Bogerman und Episcopius entwickelte sich wörtlich und bildlich in einem Spannungsfeld zwischen der Synode, den Remonstranten und dem Publikum in den Kloveniersdoelen. Die Rede des Episcopius – sowohl ihr scharfer Inhalt als auch die Tatsache, dass offenbar nicht der originäre Text ausgehändigt worden war – verursachte ebenfalls Unruhe unter den Stadtbewohnern, die von den Stadtpredigern ange-

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heizt wurde. Am Sonntag, dem 9. Dezember 1618, übten einige Prediger auf der Kanzel erbitterten Widerspruch gegen die Lehre und das Verhalten der Arminianer. Der Stadtrat veröffentlichte sogar eine Verordnung, um die Agitation in der Stadt unter Kontrolle zu halten. Stadtherr Hugo Muys van Holy gab in seiner Rolle als politischer Kommissar den Türhütern der Galerien den Befehl, die remonstrantischen Besucher im Auge zu behalten. Einige Prediger, die von anderswo kamen, um zuzuschauen und zuzuhören, wurden von den Bänken entfernt. Ihre contra-remonstrantischen Kollegen mussten ebenfalls die Synode verlassen. Die Verhandlungen zwischen der Synode und den angeklagten Arminianern waren äußerst schwierig. Wegen der prozessualen Verzögerungstaktik der Remonstranten war es nicht möglich, die theologischen Positionen zu diskutieren. Die Moderatoren versuchten, teilweise unter dem Druck der politischen Kommissare, dieses Ziel mehrmals zu erreichen. Während einer wiederholten Pattsituation am 28. Dezember 1618 äußerte Präses Bogerman offen seine Verlegenheit gegenüber den hartnäckigen Remonstranten. „Wenn wir sie hier behalten, werden sie ein Hindernis bleiben; lassen wir sie gehen, dann verliert die Synode ihr Ansehen beim Volk“, argumentierte er. Dasselbe Dilemma stand am 31. Dezember 1618 und am 1. Januar 1619 im Mittelpunkt einer langen Diskussion in den Generalstaaten. Nicht umsonst waren die beiden Statthalter, Moritz und Wilhelm Ludwig von Nassau-Dillenburg (1560–1620), bei dieser Krisensitzung im Haager Binnenhof anwesend. Die höchsten politischen und militärischen Autoritäten der Republik haben der Nationalen Synode die Freiheit gegeben, die Remonstranten aus der Synode zu schicken und ihre Doktrin aufgrund ihrer Schriften zu verurteilen. Das Risiko einer negativen Reaktion in der öffentlichen Meinung stieg. Dennoch erhielten die Remonstranten in der nächsten Woche eine weitere Chance, an der Synode mitzuarbeiten und sich mit den politischen Kommissaren zu beraten. Das Scheitern dieses letzten Versuchs führte am Montagmorgen, dem 14. Januar 1619, zur berüchtigten Entfernung der Remonstranten aus dem Synodensaal vor einer vollbesetzten Publikumsgalerie. Die emotionale Art und Weise, in der Präses Bogerman diese Entfernung vollzog, ohne zuvor eine von allen Delegierten gebilligte Erklärung zu verfassen, kam dem Image der Synode nicht zugute. Nicht die Mär über die „widerspenstigen Remonstranten“, sondern über die intoleranten Theologen ging wie ein Lauffeuer durch die Niederlande. Der wütende „Böserman“ wurde zur negativen Ikone der Synode von Dordrecht.

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4.

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Die Beschränkung des Publikums

Die Eskalation der Verhandlungen im Synodensaal gab dem internationalen Interesse an und dem Tourismus nach Dordrecht nur einen neuen Impuls. Die politischen und kirchlichen Führer erkannten, dass die Autorität der Synode wegen ihres fragilen Verhältnisses zur Öffentlichkeit wiederhergestellt werden musste. Am 16. Januar 1619 wurde in einer geschlossenen Sitzung die Frage erörtert, ob die Zuhörer noch zur weiteren Behandlung der Lehre der Arminianer zugelassen würden. Einige Mitglieder der Synode sprachen sich nachdrücklich gegen die störende Präsenz von „allerhand Gesindel“ aus. Die Schließung der Tribüne schien jedoch eine zu riskante Maßnahme zu sein. Die Diskussion führte zu einem Kompromiss. Am Vormittag werde es geschlossene Sitzungen für die Diskussionen der Synodenmitglieder untereinander geben. Die Nachmittage sollten frei bleiben für öffentliche Vorlesungen der Doktoren und Professoren zu den umstrittenen theologischen Themen. Vom 17. Januar 1619 an waren die Zuhörer nur zu diesen Vorlesungen willkommen, die bis zum 20. März 1619 etwa zweimal wöchentlich stattfanden. Sie hatten den Charakter einer akademischen Vorlesung oder einer kirchlichen Predigt. Bald ging der Synodentourismus zum Leidwesen der Gastwirte und Weinhändler in der Stadt zurück. Sie beklagten sich bei den Synodenleitern über die sinkende Zahl der Klientele. Die Synodenleiter schienen bereit zu sein, einen zusätzlichen Kompromiss zu schließen. Ab 1. Februar 1619 durfte jeder zu Beginn der Vormittagssitzungen eintreten und bis zum Eröffnungsgebet des Präses im Raum bleiben. Bernardus Dwinglo (1582–1652), einer der Prediger, die weggeschickt worden waren, bemerkte, dass die Synode so zu einer Art „Theater für alberne Zuschauer“ wurde. Er empfand es als eine Beleidigung für die vielen Menschen, die nach Dordrecht kamen, um durch Worte belehrt zu werden, und nicht durch das Gesicht und die Kleidung eitler Theologen, die ihre Macht und ihren Ruhm demonstrierten, indem sie auf ihren Bänken saßen. Innerhalb der Synode wurde die Frage des öffentlichen Zugangs am 6. März 1619 wieder zur Sprache gebracht, als mit der Lesung der Stellungnahmen aller 19 Delegationen zu den fünf Artikeln der Remonstranten begonnen wurde. Präses Bogerman wollte dies nach Rücksprache mit den Gutachtern tun, aber die britische Delegation protestierte sofort. Ihr Sprecher John Davenant (1576–1641) wünschte, dass insbesondere die Meinungen der ausländischen Theologen, vor allem von Remonstranten, in vollem Umfang gehört werden können sollten. Er sah auch voraus, dass schwierige Standpunkte nicht in die endgültigen Beschlüsse der Synode, in der die niederländischen kirchlichen Synodalen die Mehrheit hatten, aufgenommen würden. Während einer Unterbrechung der Sitzung beschlossen die politischen Abgeordneten, dass keine Zuhörer bei der Vorlesung der Urteile anwesend sein sollten. Anderenfalls könnten die Kritiker auf den Galerien die

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dogmatischen Überlegungen vorzeitig der Öffentlichkeit bekannt machen. Die Delegationen der Synode stimmten diesem vorsichtigen Kurs zu. Die Canones der Synode – die Fünf Artikel gegen die Remonstranten – wurden von einem kleinen Ausschuss drei Wochen lang (28. März–16. April 1619) ausgearbeitet und schließlich von der gesamten Synode (17.–23. April 1619) gebilligt. Danach wurden weitere zwei Wochen für die Ausarbeitung einer Vor- und Nachrede und für zusätzliche Aussagen über das Bekenntnis, den Katechismus und die Lehre des Conradus Vorstius (1569–1622) benötigt. Inzwischen war die Regie der öffentlichen Kommunikation über die Ergebnisse der Synode vollständig von der Politik übernommen worden. Am 28. März 1619 schrieben die Generalstaaten einen allgemeinen Fasten- und Bettag vor, wobei die Verurteilung der Remonstranten auf zweifelhafte Weise vorweggenommen wurde. Am selben Tag beschlossen die politischen Abgeordneten der Synode, dass die Lehrsätze dem Volk öffentlich vorgelesen werden sollten. Am 26. und 27. April 1619 folgte in Den Haag eine Beratung der Abgeordneten mit den Generalstaaten und den beiden Statthaltern über die öffentliche Feier des calvinistischen Sieges in den Vereinigten Niederlanden. Die öffentliche Präsentation fand am Montagmorgen, dem 6. Mai 1619, in der Großen Kirche in Dordrecht statt. Dort wurde zeitgleich der Maimarkt veranstaltet, so dass viele Menschen aus der Stadt und der Region bereits vor Ort waren. Aber auch viele Gäste aus dem Land waren nach Dordrecht gekommen. Moritz und Wilhelm Ludwig waren nicht anwesend, wohl aber der Sohn und vorgesehene Nachfolger des letzteren, Graf Ernst Casimir von Nassau-Siegen (1573–1632) und seine Frau Sophie-Henriette von BraunschweigWolfenbüttel (1592–1642). Darüber hinaus waren Diplomaten, Adlige, Prediger und viele einfache Bürger anwesend. Der Stadtrat nahm an der Prozession der Synodenmitglieder von den Kloveniersdoelen zur Großen Kirche und zurück teil. Später in dieser Woche, am Himmelfahrtstag, dem 9. Mai 1619, wurde die Synode offiziell in einer öffentlichen Sitzung geschlossen und den Teilnehmern ein großes Abschiedsessen geboten. Die niederländischen Delegierten trafen sich noch zwei Wochen lang zu internen kirchlichen Angelegenheiten, woraufhin am Mittwochmorgen, dem 29. Mai 1619, zum Abschluss der gesamten Dordrechter Synode ein weiterer öffentlicher, gut besuchter Gottesdienst in der Großen Kirche stattfand.

5.

Der Einsatz der Medien

Die Bedeutung der Dordrechter Synode als öffentliches Ereignis zeigt sich sowohl in ihrer schriftlichen wie auch in ihrer mündlichen Darstellung. Gerade in den 1610er Jahren erlebte der niederländische Buchmarkt ein enormes Wachstum.

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Wie in anderen Ländern gab es in der Republik keine Pressefreiheit, aber der dezentrale Staatsaufbau und der freie Handelsgeist machten es schwierig, eine politische oder kirchliche Buchzensur beizubehalten. Die Diskussionen über den Frieden mit Spanien und die Spannungen innerhalb der reformierten Kirche führten zu zahlreichen polemischen Veröffentlichungen. 1615 gaben die Generalstaaten eine weitere Verordnung gegen den „unzüchtigen Buchdruck“ heraus. Sie stoppte jedoch nicht den Strom von Pamphleten, Liedern und Karikaturen, mit denen Arminianer und Gomaristen einander bekämpften. Noch nie zuvor war die Macht des gedruckten Wortes in der Öffentlichkeit so groß wie während des Zwölfjährigen Waffenstillstands. Die Regierung fürchtete Aufruhr im Volk und gewalttätige Entgleisungen durch die Verbreitung von pro- und contraArgumenten und Falschdarstellungen. Im Jahr 1618 erschienen in den Niederlanden die ersten Zeitungen, die von ehemaligen Reportern der Armee von Moritz herausgegeben wurden. Inmitten der internationalen politischen Nachrichten enthielten sie auch Berichte über die Synode in Dordrecht. Kaum hatte die Synode begonnen, erschienen auch schon die ersten Bilder und Teilnehmerlisten im Druck. Der am Anfang genannte Geelkercken konnte mit seinem Bild die publizistische Sensation für sich verbuchen, aber andere folgten seinem Beispiel, sogar ein römisch-katholischer Buchhändler in Antwerpen. Natürlich war auch negative Publizität zu erwarten. Am 29. November 1618 breitete sich das Gerücht aus, dass Jesuiten ein Buch „zum Hohn unserer Synode“ in Umlauf gebracht hätten. Der Präses Bogerman sprach das Thema im Zusammenhang mit verschiedenen Aspekten des Konfessionsstaates an. Die ausländischen Delegationen erläuterten ausführlich, wie die Buchzensur in ihrem Land geregelt war. Auf Anraten der Synode richteten die politischen Abgeordneten am 18. Dezember 1618 eine Aufforderung an die Generalstaaten, präventive Maßnahmen zu ergreifen. Vier Tage später erschien tatsächlich eine neue Verordnung gegen den Druck nichtautorisierter Bücher. Genau in diesen Tagen wurde die öffentliche Galerie der Synode von Willem Berends (ca. 1570–ca. 1623), einem Buchhändler aus Kampen, besucht. Dort wurde er als Verdächtiger einer Ausgabe der remonstrantisch gesinnten Tafereel [Szene], in der die Prädestinationslehre sogar mit Korantexten verglichen wurde, erkannt. Stadtherr Hugo Muys van Holy ließ ihn verhaften und verhören. In seiner Tasche fanden sie etwa hundert Exemplare eines weiteren Pamphletes, das er in der Stadt verkaufen wollte. Dieser Fall veranschaulicht, wie schwierig es war, den Buchmarkt zu kontrollieren. Selbst die von der Synode verwiesenen Remonstranten hielten von ihren Unterkünften aus Kontakt zu Korrespondenten und Buchdruckern. Im Frühjahr 1619 zirkulierte ein „blaues Büchlein“ mit einer Liste von 53 Kritikpunkten an der Synode und zusätzlich erschien eine niederländische Übersetzung der zuvor eingereichten Verteidigung der Remonstranten

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gegen ihre Entfernung aus der Synode im Druck. Vergeblich stellten die politischen Ausschüsse Untersuchungen über den Übersetzer und den Drucker an. Wie bei der Proklamation der Canones schien der Gegenangriff die beste Verteidigung gegen die negative Medienaufmerksamkeit zu sein. Das Urteil der Synode markierte zusammen mit dem Urteil über die politischen Gefangenen den Abschluss des Staatsstreichs oder der Staatsreform. Genau eine Woche nach der Vorlesung der Lehrsätze in der Stadtkirche von Dordrecht wurde Oldenbarnevelt im Binnenhof in Den Haag enthauptet. Tausende von Menschen, darunter einige Mitglieder der Synode, wurden am Montagmorgen, dem 13. Mai 1619, Zeugen dieses Dramas. Einen Tag später ordneten die Generalstaaten die Druckaufträge für die Erklärungen der Synode und des Gerichtes in niederländischer, lateinischer und französischer Sprache an. In der Folge wurde die jüngste Verordnung über die Buchzensur in verschärfter Form herausgegeben, um den Handel remonstrantischer Schriften zu verhindern. Zwischenzeitlich hatte ein Verleger von Zeitungen einen Augenzeugenbericht und eine Abbildung der Hinrichtung Oldenbarnevelts herausgegeben. Internationale Publizistik war offenbar Teil der Restaurationsbemühungen des neuen niederländischen Regenten. Freund und Feind mussten wissen, dass die politische, religiöse und militärische Ordnung in der Republik wiederhergestellt worden war. Prinz Moritz schickte sogar seinen Eilboten am 27. Mai 1619 nach Dordrecht, um einen der verantwortlichen Buchdrucker zur Eile zu drängen. Erst am 5. Juli 1619 wurden die synodalen Dekrete von allen provinzialen Staaten ratifiziert. In den Tagen zuvor hatten die Generalstaaten auch Verordnungen über die Verbannung der Remonstranten und das Verbot von Remonstrantenversammlungen verabschiedet. In der zweiten Julihälfte 1619 kamen die verschiedenen Haupttexte in großen Auflagen und in verschiedenen Sprachen auf den Markt – inmitten der unvermeidlichen Pamphlete und Drucke populärer Art. Die Redaktion der Acta Synodi war ein langwieriges Verfahren. Die lateinische Fassung wurde den Generalstaaten am 2. April 1620 überreicht. Später folgten eine niederländische Übersetzung sowie korrigierende und ergänzende Werke von remonstrantischer Seite.

6.

Schluss

Wir können aus dem Dargestellten schließen, dass die Synode von Dordrecht nicht nur eine wichtige Episode in der politischen und kirchlichen Geschichte der Niederlande war, sondern auch in der Geschichte der Kommunikation. Neben der Rolle der Printmedien in großem Maßstab war die Beteiligung des Publikums bemerkenswert hoch. In einer langfristigen historischen Perspektive ist dieser Aspekt mindestens ebenso relevant wie beispielsweise die von der Synode arti-

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kulierte, zunehmende Aufmerksamkeit für das menschliche Subjekt bei der theologischen Rekonstruktion des Heilsplans Gottes oder der wachsende demokratische Gehalt der calvinistischen Kirchen- und Staatsordnung. Der Religionskonflikt in der niederländischen Republik zur Zeit des Zwölfjährigen Waffenstillstands kann als eine der konjunkturellen Konstellationen angesehen werden, die – im Sinne der Theorie von Jürgen Habermas – dem „Strukturwandel der Öffenlichkeit“ im Zeitalter der Aufklärung vorausgingen. Die Dordrechter Synode war eine spezifische Manifestation eines solchen frühmodernen Kommunikationsraums und als solcher ein faszinierender Moment in einem gemeinsamen Lernprozess von Obrigkeit und Volk über die Rolle der neuen Medien in der öffentlichen Meinung. Im Allgemeinen war das kulturelle Universum der Dordrechter Synode durchaus traditionell. Das übernatürliche Universum zeigte sich deutlich bei dem Erscheinen eines Kometen in den ersten Wochen der Synode. Gelehrte und Gläubige berieten über die eigentliche Botschaft des Himmelszeichens, warnten aber auch vor allzu menschlichen Interpretationen zugunsten einer der religiösen Parteien. Die göttliche Vorsehung und die menschliche Politik standen aufgrund des gewagten Staatsstreichs, der durch die Synode zu einem Erfolg gebracht werden musste, in der gleichen verletzlichen Beziehung. Die Regierung benötigte die Unterstützung der Bevölkerung für die radikale Reorganisation des noch jungen reformierten Staates und der Kirche. Dies erklärt sowohl die anfängliche Betonung der Öffentlichkeit der Synode und die Geduld mit den Remonstranten als auch die spätere Beschränkung dieser Öffentlichkeit und die entschiedene Verurteilung der „Zerstörer“ von Kirche und Staat. Die Veranstaltung einer öffentlichen Schlussmanifestation der Synode und die Beteiligung der Presse an der Verbreitung der Beschlüsse spiegelten eine neue proaktive Haltung der Regierung im Streben nach sozialem Frieden wider. Schließlich lässt sich die Dynamik der Synode in Dordrecht als öffentliches Ereignis auch visuell darstellen. Wie wir zu Beginn gesehen haben, hat Nicolaas Geelkercken unmittelbar nach der Eröffnung der Synode ein Bild des Sitzungssaals mit den Delegierten auf ihren Bänken auf den Markt gebracht. Im gleichen Monat stellte sich ein konkurrierender Künstler, François Schillemans (1575–1630), vor. Er war der erste, der im Vordergrund seiner Zeichnung, hinter dem Zaun im Synodensaal, alle Männer, jung und alt, sogar in Begleitung eines Hundes, darstellte. Da es Schillemans gelang, ein Patent von den Generalstaaten zu erwerben, wurde seine Zeichnung auch für die Gedenkmedaille verwendet, die von der Münzfabrik in Dordrecht in Umlauf gebracht wurde. Aber nach der Synode beauftragte der Stadtrat den Maler Pouwels de Weyts (ca. 1590–1629), das lokale Ereignis auf einer großen Leinwand zu verewigen. Dies führte zu einer schönen Darstellung der Synode in Farbe, mit der gleichen Darstellung von Delegierten und Zuschauern wie bei Schillemans, die nun mit

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vier Frauen bereichert wurde. Die Galerien blieben jedoch unsichtbar und damit der Phantasie der Nachwelt überlassen.

Bild: Gemälde der Synode von Dordrecht, Pouwels de Weyts, 1621. Bild: Dordrechts Museum, DM/975/504.

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Aufgeklärtes Bekenntnis? Voraussetzungen und Bedeutung des „Symbolstreits“ im 18. Jahrhundert

„Bekenntnis im Konflikt“ – Dieser Titel benennt nicht nur eine periodisch wiederkehrende Problemkonstellation innerhalb der protestantischen Kirchengeschichte, sondern bringt auch die theologische Debattenlage im Zeitalter der Aufklärung prägnant auf den Punkt.1 In dieser neuzeitlichen Rationalisierungsphase ist der Verbindlichkeitsstatus von Bekenntnisschriften mehrfach in Frage gestellt worden: Spätestens mit der 1767 veröffentlichten Schrift Vom falschen Religionseifer des Berliner Aufklärungstheologen Friedrich Germanus Lüdke (1730–1792) lag eine theologische Neubewertung vor, die in historischer Argumentation der eidlichen Bekenntnisverpflichtung angehender Theologen entschieden entgegentrat. In der Forschung wird diese Schrift als Auslöser einer theologischen Kontroverse verstanden, die man im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der „symbolischen Bücher“ auch unter dem Namen „Symbolstreit“ gefasst hat.2 Allerdings lässt sich zeigen, dass die protestantische Aufklärungstheologie schon vorher durch in- und ausländische Bekenntniskonflikte zu einer grundsätzlichen Positionierung angeregt worden ist. Insbesondere das Reformiertentum stand hier nicht selten im Mittelpunkt.3 Ein Beispiel führt in die freie Reichs- und Hansestadt Hamburg, die seit der 1 Vgl. Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, 254–269; Albrecht Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, Göttingen 2009, 258–260. 2 Die Bezeichnung wird in der Forschung auf Emanuel Hirsch zurückgeführt, allerdings vereinzelt schon von Karl Aner verwendet. Vgl. Albrecht Beutel (Hg.), Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4 (1952), Waltrop 2000, 102; Karl Aner, Friedrich Germanus Lüdke. Streiflicher auf die Theologie und kirchliche Praxis der deutschen Aufklärung, in: JBrKG 11/12 (1914), 160–232, hier 181; Christopher Voigt-Goy, Bekenntnisbindung in der Krise? Vom „Symbolstreit“ zum „Wöllnerschen Religionsedikt“, in: Peter Gemeinhardt/Bernd Oberdorfer (Hg.), Gebundene Freiheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, Gütersloh 2008, 87–107, hier 89. 3 Die im Rahmen der jüngeren Kirchengeschichtsschreibung intensivierte Untersuchung der reformierten Aufklärungstheologie bleibt weiterhin als Forschungsaufgabe bestehen. Vgl. Thomas K. Kuhn, Reformierte Aufklärung – Die Reformation bei Georg Joachim Zollikofer, in: Werner Greiling/Holger Böning/Uwe Schirmer (Hg.), Luther als Vorkämpfer? Reformation,

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Reformation dem lutherischen Bekenntnis verpflichtet war: Dort erschien 1766 ein Ministerialzeugnis, welches das gesellschaftliche Hervortreten und die kirchliche Institutionalisierung der reformierten Gemeinde verhindern sollte. Es erscheint lohnenswert, dieses Quellendokument auf seine provozierende und impulsgebende Bedeutung für den Bekenntnisstreit im 18. Jahrhundert hin zu untersuchen (1). Eine der ersten Reaktionen stammt von dem reformierten Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786), dessen Gelegenheitsschrift zum Thema in besonderem Maße geeignet sein dürfte, die spezifische Argumentationsstruktur der aufklärerischen Bekenntniskritik zu analysieren (2). In einem Ausblick sollen schließlich die Fernwirkungen der Debatte am Beispiel eines namhaften reformierten Gelehrten des 19. Jahrhunderts angedeutet werden (3).

1.

Spätorthodoxe Verteidigung

Das angesprochene Gutachten des geistlichen Ministeriums in Hamburg erschien 1766 unter dem Titel Pflichtmäßiges und auf unbeweglichen Gründen beruhendes Zeugniß der Wahrheit.4 Die Schrift wurde anonym veröffentlicht, wird aber in der Forschung dem seit 1755 als Pfarrer an der Evangelisch-Lutherischen Hauptkirche St. Katharinen in Hamburg amtierenden Johann Melchior Goeze (1717–1786) zugeschrieben, der als Hauptvertreter und -verteidiger der Spätorthodoxie gegen die erstarkende Aufklärungstheologie vorging.5 Goeze nannte sich selbst in einigen Anmerkungen und verteidigte das Ministerialzeugnis später gegen massive Einwände von außen. Bereits der Untertitel machte deutlich, von welchem „höchstgefährlichen und Absichtsvollen Vorgeben [sic]“ auf Seiten der reformierten Einwohner man sich angegriffen fühlte: nämlich, dass diese annähmen, sie könnten „rechtmäßig Gemeinen, Aelteste, Prediger, ja sogar ein vollständiges Consistorium“6 einrichten. Die 1602 gegründete deutschreformierte Gemeinde genoss in Hamburg alles andere als das Recht auf freie Religionsausübung: Infolge der machtpolitischen Neuformierungen des Westfälischen Friedens, auf die sich das Ministerialschreiben berief, wurden ReforVolksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800, Köln/Weimar/Wien 2016, 183–208; ders., Natur – Toleranz – Utopie. Reformierter Protestantismus im Zeitalter der Aufklärung, in: Thomas K. Kuhn/Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Reformierter Protestantismus vor den Herausforderungen der Neuzeit, Wuppertal 2008, 65–90. 4 Hamburger Ministerium, Pflichtmäßiges und auf unbeweglichen Gründen beruhendes Zeugniß der Wahrheit […] zum Unterrichte an das Licht gestellet, Hamburg 1766. 5 Vgl. Harald Schultze, Toleranz und Orthodoxie. Johann Melchior Goeze in seiner Auseinandersetzung mit der Theologie der Aufklärung, in: NZSTh 4 (1962), 197–219, 217 mit Verweis auf die Rezension zum Hamburger „Zeugniß der Wahrheit“ in: AdB 3/2 (1766), 260–262. 6 Hamburger Ministerium, Zeugniß der Wahrheit (wie Anm. 4), I.

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mierte ebenso wie Katholiken und Mennoniten zwar geduldet, durften jedoch weder einen Bürgerstatus annehmen noch ein öffentliches exercitium religionis abhalten. Die Verfassung der Stadt gestattete dies „allein und [a]usschliessungsweise“7 den Augsburgischen Konfessionsverwandten. Der Anspruch, auf dem Boden der Confessio Augustana zu stehen, wurde den Reformierten aber – nicht zuletzt von Goeze – ausdrücklich bestritten.8 Nur unter dem Schutz der holländischen Gesandtschaft war es den Reformierten möglich, Gottesdienste zu feiern. Nun war über das Zeitungswesen an die Öffentlichkeit gelangt, dass sie zum Ausbau ihrer Gemeindeaktivitäten zunehmend Häuser gekauft und als Warenlager getarnt hatten. Mit Verweis auf die „Grundverfassungen dieser Kirche und Stadt“9 verurteilte das Ministerium diese Bestrebungen auf das schärfste und empfahl der lutherischen Obrigkeit, möglichst bald einzugreifen. Das Stillschweigen der Reformierten zur Sache wertete man als Infragestellung der eigenen Autorität und Bekenntnishoheit.10 Wirtschaftlich genossen die Reformierten in Hamburg zur Mitte des 18. Jahrhunderts aufgrund ihrer europäischen Handelsbeziehungen nicht selten sichtbaren Wohlstand. Goeze befürchtete daher, dass die Reformierten einen Staat im Staate anstreben und die Lutheraner verdrängen wollten. Derartigen „listige[n] und gewaltsame[n] Anschläge[n]“ auf die Kirche in Hamburg sei daher nicht nur entschieden entgegenzutreten – sie verdienten die „Erfüllung aller der Drohungen“, welche der „gerechte Gott […] mit so unseeligen Gesinnungen verbunden hat“.11 In einer Art konfessionspolitischer Endzeitrede meldet sich Goeze abschließend zu Wort: „Gottlob! noch sind wir die Einheimischen, und die Catholiken, Reformirten, Mennonisten und Juden, heissen wenigstens noch bisher die Fremden […]. Was wird [aber] unsern Nachkommen übrig bleiben? zuerst Hütten, Säle und Keller, und zuletzt das Joch oder der Wanderstab. […] Und was kann dieses Gericht schneller und unausbleiblicher über eine Stadt füren, als die Geringschätzung [der] wahren Religion?“12

Schon an diesem kurzen, aber aussagekräftigen Dokument zeigt sich die „Fundamentalpolitisierung der Theologie“13 im konservativen Lager der Bekennt7 Ebd., IV. 8 Vgl. Jan Rohls, Die Confessio Augustana in den reformierten Kirchen Deutschlands, in: ZThK 104 (2007), 207–245, hier 234. 9 Hamburger Ministerium, Zeugniß der Wahrheit (wie Anm. 4), I. 10 Vgl. Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Niedernberg 21990, 452–521. 11 Hamburger Ministerium, Zeugniß der Wahrheit (wie Anm. 4), 34. 12 Ebd., 52. 13 Friedrich Wilhelm Graf, „Restaurationstheologie“ oder neulutherische Modernisierung des Protestantismus? Erste Erwägungen zur Frühgeschichte des neulutherischen Konfessionalismus, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Das deutsche Luthertum und die Unionsproblematik im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1991, 64–109, hier 77.

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nisdebatte. Mit ihr verbinden sich insbesondere bei Goeze Elemente der frühneuzeitlichen, kontroverstheologischen Polemik14 wie das aggressive Eintreten für den Schutz der reinen Lehre und die Identitätsvergewisserung durch Ab- und Ausgrenzung Andersdenkender, womit der Hamburger Pastor auch über die Stadtgrenzen hinaus Aufsehen erregte.15 In seiner polemischen Schärfe sah man eine Verunglimpfung solcher reformierter Christen, die im Grunde mit den Lutherischen „Grund und Richtschnur ihres Glaubens und Lebens“16 teilten. So positionierte sich auch der Altonaer Gymnasialprofessor Johann Bernhard Basedow (1724–1790), für den die machtpolitische Überlagerung theologischer Deutungsinteressen einem mittelalterlichen Inquisitionsverfahren gleichkam: „Wenn aber“, so Basedow, „Protestanten andre Protestanten einschränken oder verfolgen; so geschieht es niemals aus Eifer für die Sache GOttes, sondern aus Begierde […], weltliche Macht […] zu erhalten“.17 In seiner Actenmäßigen Vertheidigung des Ministerialgutachtens ging Goeze sodann der Reihe nach gegen die Kritiker des Schreibens vor, wobei er auch hier nicht selten Sachlichkeit gegen schonungslose Polemik eintauschte: So war er sich sicher, dass angesichts der philanthropischen Bildungs- und Toleranzgrundsätze, mit denen Basedow die Angelegenheit beurteilte, „alle Grundgesetze des Reichs, alle Friedensschlüsse […] aufgehoben“18 werden müssten. Und auch in den anderen Gegenschriften und Rezensionen vernahm Goeze die „partheyischen Urtheilssprüche selbstgewachsener und unbefugter Richter“19, die es abzuwehren gelte. In der Abwehr der reformierten Konsolidierungsbemühungen und in der Verteidigung seiner Konfessionsgrundsätze offenbarte sich ein streng territorialistisches Amts- und Kirchenverständnis, nach welchem „nur das einheitliche religiöse Bekenntnis wirkliche Ruhe im Staat garantieren“20 konnte. Goezes kirchenpolitischer Einsatz in diesen Belangen verlief nicht ohne berufliche21 und theologische22 Zugeständnisse und war zwar von unmittelbarem, 14 Vgl. Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997, 21–92. 15 Vgl. Rettung der Unschuld der Evangelisch Reformirten Gemeinde in der freyen Reichs-Stadt Worms, gegen die ungleiche Absichten welche ihr in dem ohnlängst divulgirten sogenannten pflichtmäsigen Zeugniß der Warheit etc. des Evangelisch Lutherischen Ministerii zu Hamburg aufgebürdet werden wollen, Düsseldorf/Frankfurt 1767. 16 Ebd., 5. 17 Johann Bernhard Basedow, Ernst Freimuths Exemplarischer Gebrauch des höchstunbedachtsamen Hamburgischen Ministerial-Zeugnisses, Berlin 1766, 73. 18 Johann Melchior Goeze, Actenmäßige Vertheidigung des im Jahre 1766 an das Licht gestelleten Zeugnisses der Wahrheit E. Hochehrw. Hamburgischen Ministerii, gegen die sogenante Rettung der Unschuld der reformirten Gemeine in Worms, Hamburg 1767, 2. 19 Ebd., 3. 20 Schultze, Toleranz und Orthodoxie (wie Anm. 5), 216. 21 1770 legte Goeze das Seniorat der lutherischen Stadtgeistlichkeit nieder, nachdem er sich in einer gegen den Aufklärungstheologen Julius Gustav Alberti eingeleiteten Disziplinarmaß-

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nicht aber nachhaltigem Erfolg gekrönt. 1785 – ein Jahr vor seinem Tod – hatte er mitanzusehen, wie der Hamburger Senat den Verteidigungsversuchen der Reformierten entsprach und die religiöse Gleichberechtigung verfügte.23

2.

Aufklärerische Bekenntniskritik

Der reformierte Berliner Hof- und Domprediger sowie Oberkonsistorialrat August Friedrich Wilhelm Sack gilt in der Forschung als ein maßgeblicher Gründungsvater24 der Neologie, womit – seit dem 20. Jahrhundert zunehmend wertneutral – die „reife Gestalt der Aufklärungstheologie“25 angesprochen wird. Schon in seiner ab 1748 veröffentlichten religionstheoretischen Apologie26 plädierte Sack entschieden für religiöse Gedanken- und Gewissensfreiheit, womit er der theologischen Aufklärung in Deutschland zu nachhaltiger Etablierung verhalf. Im Preußen Friedrichs des Großen (1712–1786) fiel diese Entwicklung auf fruchtbaren Boden, auch wenn sich dessen konfessionelle Toleranz weniger aus religiöser Einsicht ergab, sondern vielmehr ein Postulat der Staatsräson darstellte.27 Die in den 1760er-Jahren verstärkte Auseinandersetzung der Aufklärungstheologie mit der protestantischen Bekenntnistradition war daher weniger der Freiheitskampf eines unterdrückten Theologenkollektivs, sondern die kritische Antwort auf zeitgenössische Bekenntniskonflikte und deren spätorthodoxe Begründungsversuche. Dies lässt sich an einer von Sack 1768 veröffentlichten Gelegenheitsschrift bestätigen, die den Titel Ein Wort zu seiner Zeit trägt

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nahme von Senat und Geistlichem Ministerium unzureichend unterstützt gefühlt hatte. Vgl. Rose-Maria Hurlebusch, Pastor Julius Gustav Alberti. Ein Gegner Goezes in der eigenen Kirche, in: Heimo Reinitzer (Hg.), Johann Melchior Goeze (1717–1786). Abhandlungen und Vorträge, Hamburg 1986, 75–95. An seinen Diskussionsbeiträgen in der Bekenntnisdebatte konnte man ablesen, „daß seine Orthodoxie, selbst gemessen an der des anhebenden 18., geschweige der des 17. Jahrhunderts, nicht mehr unerweicht [war]“. Aner, Lüdke (wie Anm. 2), 170f. mit Verweis auf: Johann Melchior Goeze, Die gute Sache des wahren Religions-Eifers, überhaupt erwiesen: insonderheit aber gegen den Verfaßer des zu Berlin 1767 herausgekommenen Tractats vom falschen Religions-Eifer, Hamburg 1770. Sein aggressives Vorgehen gegen das Reformiertentum sorgte für ein derartiges Aufsehen, dass der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai die Kontroverse in seinen satirischen BestsellerRoman einband. Vgl. Richard Schwinger, Friedrich Nicolais Roman „Sebaldus Nothanker“. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, Weimar 1897, 29–103. Vgl. Mark Pockrandt, Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817), Berlin 2003, 1–11 mit Verweis auf: Aner, Lessingszeit (wie Anm. 1), 61. Beutel, Aufklärung (wie Anm. 1), 112. Zu Sack vgl. ebd., 116–118. August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen, 8 Stücke, 1748–1751. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Religion und Politik bei Friedrich dem Großen, in: Saeculum 51/ II (2000), 191–211.

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und mit Bezug auf den Hamburger Konflikt einen aufgeklärten Protestantismus profilieren will.28 Dass der Verfasser auf die Provokation der spätorthodoxen Bekenntnisverteidigung reagieren will, ist leicht zu erkennen. Bereits im Untertitel wird eine Stellungnahme zur „Gelegenheit des Zeugnisses der Wahrheit“ angekündigt, die auch Goezes „Aktenmäßig[e] Vertheidigung“29 einbeziehen soll. Im Text selbst nimmt Sack dann auf Goezes polemische Äußerungen direkt Bezug, wobei sich drei Hauptargumente benennen lassen: Mit der „fürchterlichen Stimme der Verketzerung“30 und „Sektirerey“31, so Sacks erstes Argument, werde sich die längst überfällige Annäherung der protestantischen „Confessionsverwandten“32 nicht begründen lassen. Weil sich der Protestantismus mittlerweile von der römisch-katholischen Kirche ausreichend abgegrenzt habe, könne diese ursprüngliche Intention keine innerprotestantische Konfessionstrennung mehr rechtfertigen, sodass in der gegenwärtigen Debattenlage „die Rede gar nicht mehr von lutherisch oder refomirt seyn“33 sollte. Wie bei Goeze besitzt dieser Gedanke auch bei Sack eine politische Dimension: Nicht vom einheitlichen Bekenntnis, sondern vom friedlichen Zusammenleben der Religionsparteien hänge die „Ruhe und die Wohlfahrt der bürgerlichen Gesellschaft“34 wesentlich ab. Goezes politisch instrumentalisierten Konfessionalismus transformiert Sack in einen Unionsgedanken, der sogleich in einem Appell an die Territorialherrschaft zum Ausdruck kommt: „Findet sich unter den Fürsten Deutschlands und ihren Ministern keiner, dem die Sache der beschimpfenden Religion zu Herzen geht, der den Stolz und Eigensinn der Clerisey […] in die Grenzen der Mäßigung und Toleranz weise, und das einreissende Uebel abzuwenden trachte?“35

Doch steht der Name Sack nicht nur für die theologische Lockerung der alten Konfessionsgrundsätze, sondern auch für deren kirchlich-praktische Realisierung: Am 4. September 1770 vermählte der lutherische Propst Johann Joachim Spalding (1714–1804) seine Tochter Johanna Wilhelmina (1753–1832) mit dem Sohn des reformierten Theologen Sack, Friedrich Samuel Gottfried (1738–

28 August Friedrich Wilhelm Sack, Ein Wort zu seiner Zeit, von einem Christlichen Iuristen. Bey Gelegenheit des Zeugnisses der Wahrheit E. Hochehrwürdigen Hamburgischen Ministerii, und desselben Aktenmäßigen Vertheidigung, Cölln [P. Hammer] 1768. 29 Ebd., [1]. 30 Ebd., 12. 31 Ebd., 10. 32 Ebd., 6. 33 Ebd., 10. 34 Ebd., 7. 35 Ebd., 14.

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1817).36 Mit dieser denkwürdigen Eheschließung festigte sich das Bewusstsein einer engen familiären Nachbarschaft zwischen Lutheranern und Reformierten, die sich in der gemeinsamen Verteidigung eines ebenso traditionstreuen wie modernitätsfähigen Glaubens gegen Katholizismus und Atheismus zu bewähren hatte. Zweifellos lassen sich bereits hier die „Wurzeln der preußischen Union“37 erkennen, die ohne die Reformbemühungen der Aufklärungstheologie nicht angemessen verstanden werden kann. Das zweite Hauptargument der Gelegenheitsschrift bezieht sich auf die spätorthodoxe Tendenz, die Bekenntnisschriften „an Ansehen der heiligen Schrift gleich[zusetzen]“ und ihnen damit „die Gültigkeit von Glaubensregeln“38 beizumessen. Diese Dogmatisierung überschätze das geschichtliche Leistungsvermögen sowohl der altkirchlichen als auch der protestantischen Bekenntnistradition und vereitele die wissenschaftlich begleitete Weiterentwicklung von Christentum und Kirche: Die menschlichen Verfasser der Bekenntnisschriften hätten sich „die Lehren des Glaubens so erklärt, wie es ihre damalige Erkänntniß zuließ“, keinesfalls aber den „Weg zu einem fernern Forschen in der Schrift versperre[n]“39 wollen. Aus dieser tiefgreifenden Historisierung ergibt sich bei Sack die Einsicht, dass die Bekenntnisschriften nicht als verbindliche Lehrnorm, sondern als deskriptive Interpretationshilfen der biblischen Wahrheit zu würdigen sind. Das gilt für das Augsburger Bekenntnis ebenso wie für die Helvetische Konsensformel, deren Bedeutungsverlust in der Schweiz Sack vor Augen haben dürfte.40 Die „klaren Aussprüche des göttlichen Worts“, so Sacks Folgerung, „nicht aber Menschensatzungen, sind die einzige Regel des Glaubens der Christen“.41 Damit ist zum dritten Hauptargument übergeleitet: die ausdrückliche Betonung des Schriftprinzips gegen jede rekatholisierende Verfälschung des protestantischen Selbstverständnisses. Indem die altprotestantische Theologie die „Seligkeit an die Rechtgläubigkeit“ gebunden habe, habe sie die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit der „Lehre Christi“42 aufgegeben und sich dem „Joch

36 Vgl. Thomas K. Kuhn, August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817). Religiöse Aufklärung im Verbund der Generationen, in: Albrecht Beutel (Hg.), Protestantismus in Preußen, Bd. 1: Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817, Frankfurt a. M. 2009, 261–285. 37 Albrecht Beutel, Die brandenburgische Landeskirche unter den Kurfürsten Johann Georg (1571–1598) und Joachim Friedrich (1598–1608), in: ders., Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus, Tübingen 2013, 79–100, hier 95. 38 Sack, Wort (wie Anm. 28), 27. 39 Ebd. 40 Vgl. Rohls, Confessio Augustana (wie Anm. 8), 233f. 41 Sack, Wort (wie Anm. 28), 13f. Vgl. BSLK 837. 42 Ebd., 12.

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einer päpstlichen Infallibilität“43 unterworfen. Joseph Schollmeier erkennt in dieser Rückbesinnung auf das reformatorische Schriftprinzip den Kern der aufklärerischen Bekenntniskritik.44 Allerdings habe die Aufklärungstheologie dieses Grundmotiv nicht mehr wie Martin Luther (1483–1546) von der im Bekenntnis formulierten Schriftmitte her verstanden, sondern es im Sinne Johannes Calvins (1509–1564) als rein formales und „nackte[s] Schriftprinzip“45 zur Anwendung gebracht. Auf der Basis dieser Beobachtung will Schollmeier primär das „Reformiertentum als Quelle der Neologie“46 einstufen – eine These, die eine differenzierte Überprüfung erfordert: Auf der einen Seite kann Sack in der Begründung des göttlichen Ursprungs der Schrift durchaus dem pneumatologischen Zugang Calvins folgen, der ja Luthers Rede von der Selbstbeglaubigungsmacht der Schrift eine systematische Gestalt mit seiner Lehre vom testimonium [spiritus sancti] internum verliehen hatte.47 Auf der anderen Seite gibt Schollmeiers Deutung auch einigen Anlass zur kritischen Überlegung – war doch insbesondere Calvin derjenige Reformator, dessen Sympathien sich bei den Aufklärungstheologen am meisten in Grenzen hielten, nicht zuletzt aufgrund der Prädestinationslehre oder des Einsatzes für die Hinrichtung des Humanisten Michael Servetus (1511–1553).48 Drei Einwände sind im Folgenden gegen Schollmeiers Argumentation anzubringen: Erstens ergibt sich bei Sack die Betonung des Schriftprinzips nicht primär aus der konfessionellen Identitätsvergewisserung, sondern aus der Notwendigkeit einer kritischen Gegenwartsverantwortung des Christentums in „Zeiten, da man [es] von allen Seiten angreift“.49 Dabei bezieht sich das Wort „kritisch“ auf die für die Neologie konstitutive Unterscheidung von Theologie und Religion: Die Bekenntnisschriften will Sack einer „unpartheyischen freyen Prüfung“ unterziehen, um festzustellen, „was eigentlich davon in der heiligen Schrift enthalten, und […] 43 Ebd., 14. 44 Vgl. Joseph Schollmeier, Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967, 213–229. 45 Ebd., 223. 46 Ebd., 211. 47 Vgl. August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen. Zweytes Stück, Berlin 1748, 36: „Die Schrift ist mit einer Beweisung des Geistes und der Kraft an die Seelen der Menschen begleitet; damit unser Glaube nicht bestehe auf Menschen-Weißheit, sondern auf Gottes Kraft.“ Zum Schriftverständnis bei Calvin vgl. Gottfried W. Locher, Testimonium internum. Calvins Lehre vom Heiligen Geist und das hermeneutische Problem, Zürich 1964; Peter Opitz, Schrift, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 231– 240. 48 Vgl. Michael D. Bush, Calvinrezeption im 18. Jahrhundert, in: Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch (wie Anm. 47), 474–480; Eberhard Busch, Calvins Lehre vom Bund und die Föderaltheologie, in: Marco Hofheinz/Wolfgang Lienemann/Martin Sallmann (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, Göttingen 2011, 169–181, hier 178. 49 Sack, Wort (wie Anm. 28), 26.

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wie viel davon abzusondern sey, das nur zur Einsicht der Gelehrten, nicht aber auf die Kanzel und zum Unterricht der Jugend gehöre“.50 Diese Untersuchung ist notwendig, „damit die göttliche Lehre Christi mit Verstande und Überzeugung geglaubt“51 werden könne. Damit wird der Gedanke der Schriftmitte in das neologische Theologieverständnis einer gelehrten Christentumstheorie überführt, in der natürliche Religion und biblischer Offenbarungsglaube komplementär aufeinander bezogen sind. Im Gegensatz zum orthodoxen Verständnis der „Gottesgelehrsamkeit“52, dem Goeze noch verpflichtet ist, geht es hier nicht mehr um die Vermittlung objektiven Heilswissens, sondern zunehmend um ein spezifisches Fachwissen zur professionellen Pfarramtsausübung im Angesicht der religiösen Subjektivität. Folgt man einer These Johannes Wallmanns, so liegen die Wurzeln dieses aufklärerischen Theologiebegriffs bereits in der humanistischen Tradition um den Helmstedter Theologen Georg Calixt (1586– 1656).53 Von hier aus wird dann auch verständlich, dass sich Sack mit seiner kritischen Haltung gegenüber jedem polemischen Konfessionalismus insbesondere auf Philipp Melanchthon (1497–1560) beziehen kann, der mit seiner „Sanftmuth und Friedfertigkeit […] den Weg zur einer gründlichen theologischen Gelehrsamkeit gebahnet“54 habe. Die neologische Inanspruchnahme reformatorischer Grundanliegen manifestiert sich im protestantischen „Geist einer freyen Beurtheilung“55, dessen theologiegeschichtliche Wurzeln sich weder auf Calvin noch auf andere Einzelprotagonisten der Reformation monokausal reduzieren lassen.56 Der zweite Einwand gegen Schollmeiers These betrifft deren Ausweitung auf den vielstimmigen Chor der Neologie überhaupt. So möchte er beispielsweise auch das Denken Johann Joachim Spaldings explizit vom Reformiertentum her verstanden wissen: „Wenn man die Neologen Sack und Spalding überhaupt noch als Protestanten […] ansehen will, dann kann man sie nur auf die Seite Calvins, und nicht auf die Seite Luthers stellen“.57 Spalding verwirft laut Schollmeier „jedwedes Bekenntnis als ein gefährliches, mit dem Christentum unvereinbares menschliches Machwerk“.58 Allerdings ist gezeigt worden, dass die konsequente Historisierung, die Spalding ähnlich wie Sack vornimmt, „nicht unbedingt auf 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., 25. Ebd. Goeze, Religions-Eifer (wie Anm. 22), 3. Vgl. Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Tübingen 1961, 2f. Sack, Wort (wie Anm. 28), 11. Ebd., 14. Vgl. ebd.: „Hierauf [auf die Schriftauslegung und freie Prüfung] gründeten Luther, Zwingli und ihre Gehülfen das Recht, die Kirche zu reformieren“. Schollmeier, Spalding (wie Anm. 44), 209. Ebd., 225.

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eine generelle Sistierung jedweder Bekenntnisorientierung hinaus[läuft]“.59 Diese überlässt auch Spalding dem mit der notwendigen historisch-wissenschaftlichen Unterscheidungskompetenz ausgerüsteten Pfarrer, dessen Aufgabe im Zeitalter der Aufklärung nur darin bestehen könne, das mündige Subjekt zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Identität anzuleiten. Deshalb ergibt sich auch hier die Bekenntniskritik nicht in erster Linie aus einem (reformierten) Schriftverständnis, sondern aus der subjekttheoretischen Problemanzeige, der Bekenntniszwang führe zu einer autoritären „Gewaltthätigkeit gegen die Gewissen“60 religiöser Individuen. Dieses Gewissensargument61 steht insbesondere auf dem Boden eines Verständnisses der Kirche als vereinsähnlicher Religionsgesellschaft, die für ihre „öffentlich[e] Gottesverehrung“ keiner „Einschränkung von Seiten des Staats“ bedarf, solange sie „nicht den Vortrag solcher Lehren bei sich duldet, welche […] der religiösen Tugend und der bürgerlichen Pflicht zum Nachtheil gereichen“.62 Die aufklärungstheologische Bekenntniskritik kann auch deshalb nicht alleine vom „nackte[n] calvinischen Schriftprinzip“63 her verstanden werden, weil sie zunehmend einem kollegialistischen Kirchenbegriff verpflichtet ist, in dem die Realisierung von individueller Glückseligkeit und sozialer Wohlfahrt nicht mehr offenbarungstheologisch, sondern gesellschaftstheoretisch begründet wird. Ein dritter Punkt, der von Schollmeier vernachlässigt wird, ist die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmende, dogmengeschichtliche Kritik des Schriftprinzips.64 Spätestens mit Johann Salomo Semlers65 (1725–1791) folgenreicher Unterscheidung zwischen Wort Gottes und Heiliger Schrift war die 59 Albrecht Beutel, Elastische Identität. Die aufklärerische Aktualisierung reformatorischer Basisimpulse bei Johann Joachim Spalding, in: ZThK 111 (2014), 1–27, hier 12. 60 Tobias Jersak (Hg.), Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772–31791), Tübingen 2002, 57. 61 Im Unterschied zu Sack, der die „Gewissensfreyheit der Christen“ (Sack, Wort [wie Anm. 28], 14) auf die reformatorische Bewegung insgesamt zurückführt, beruft sich die theologische Aufklärung an anderen Stellen auch direkt auf Luther als „Schutzengel für die Rechte der Vernunft, der Menschheit und der christlichen Gewissensfreiheit“. Friedrich Germanus Lüdke, Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit, insofern der rechtmäßige Religionseifer sie befördert, und der unrechtmäßige sie verhindert, Berlin 1774, 204. 62 Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes (wie Anm. 60), 57. 63 Schollmeier, Spalding (wie Anm. 44), 223. 64 Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 19ff. 65 Schollmeier möchte auch Semlers Hermeneutik auf das reformierte Formalprinzip im Sinne Calvins zurückführen. Vgl. Schollmeier, Spalding (wie Anm. 44), 223. Wie Gottfried Hornig gezeigt hat, rekurriert Semler aber mit seiner Unterscheidung ausdrücklich auf Luther, um im Rückgriff auf dessen christozentrische Hermeneutik auch den Gedanken der Schriftmitte neu zu beleben. Vgl. Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961, 87ff., 150ff., 190ff. und 198, Anm. 79.

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Verbalinspirationslehre als Begründungsinstanz göttlicher Schriftautorität hinfällig geworden: „[A]ls man, vergessend, daß es sich um das Wort und den Geist Gottes handelte, anfing, sich nach Argumenten umzusehen, um dem menschlichen Geist das historische Wort plausibel zu machen […], da mußte bei aller Treue, mit der man sich an das Bekenntnis der Väter klammerte, der böse Lessingsche Graben zwischen ewiger Vernunftwahrheit und zufälliger Geschichtswahrheit sich auftun, da mußte das reformierte Formalprinzip zu einer ebenso undurchsichtigen und unglaubwürdigen Größe werden, wie es das lutherische Materialprinzip seinerseits geworden ist.“66

Insofern deutet sich in der Gleichzeitigkeit der neologischen Kritik und Inanspruchnahme des reformatorischen Schriftprinzips auch eine problematische geschichtstheoretische Zweideutigkeit an, die erst von Nachfolgegenerationen überwunden worden sein dürfte.67 Zu wenig hat die theologische Aufklärung möglicherweise expliziert, was ihr eigentlich klar war, dass nämlich das reformatorische sola scriptura „nicht eine globale, sondern lediglich eine partielle Exklusivität“ formuliert, die „weder zu einem bildungsfeindlichen Biblizismus noch zu einer antithetischen Konfrontation von Schrift und Tradition“68 legitimiert. Für die Bekenntnisdebatte waren insbesondere die ekklesiologischen Implikationen von Semlers Geschichtshermeneutik von Bedeutung: Zwar konnte er einsehen, dass menschliche Lehrbestimmungen ihre Verbindlichkeitsgrenze im Gewissen des privatreligiösen Individuums finden. Dennoch hielt er eine den Pfarrern auferlegte Bekenntnisbindung im Rahmen der öffentlichen Religion für ein legitimes Interesse der Territorialfürsten.69 Diese Sichtweise ließ ihn im Gegensatz zu anderen Aufklärungstheologen auch das sogenannte Woellnersche Religionsedikt von 1788 ausdrücklich verteidigen, mit dem die Regierung Friedrich Wilhelms II. (1744–1797) den Individualisierungstendenzen einen festen Riegel vorschieben wollte.70 Spätestens hier wird deutlich, dass die neo66 Eberhard Busch (Hg.), Karl Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923, Zürich 1998, 102. 67 Vgl. Walter Sparn, Von der „fides historica“ zur „historischen Religion“. Die Zweideutigkeit des Geschichtsbewußtseins der theologischen Aufklärung, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985), 147–160. 68 Albrecht Beutel, Sola scriptura? Zum Verhältnis von biblischer Exegese und theologischer Theoriebildung beim jungen Luther, in: Lutherjahrbuch 85 (2018), 110–129, hier 115. 69 Vgl. Johann Salomo Semler, Apparatus ad libris symbolicis ecclesiae Lutheranae, Halle 1775. In der kirchenrechtlichen Theoriedebatte dürfte Semlers Standpunkt eine deutlich größere Nähe zu Goezes Position aufweisen als die Sichtweisen von Sack und Spalding. Territorialismus und Kollegialismus standen im 18. Jahrhundert in einem komplexen Wechselverhältnis. Vgl. Roland M. Lehmann, Die Transformation des Kirchenbegriffs in der Frühaufklärung, Tübingen 2013, 342–356. 70 Vgl. Uta Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 2010, 125–153.

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logische Auseinandersetzung mit dem Verbindlichkeitsstatus der symbolischen Bücher keineswegs von positioneller Einheitlichkeit, sondern vielmehr von diskursiver Lebendigkeit geprägt war, durch die sich einseitige Quellenzuordnungen und distinkte Wesensbestimmungen von selbst erledigen. Der mit dem Religionsedikt einhergehende „kirchenpolitische Klimawandel“71 war jedenfalls nur von kurzer Dauer: Entsprechende Disziplinarmaßnahmen blieben auf Einzelfälle beschränkt und so wie die kirchenpolitische Reaktion bald grundsätzlich der Vergangenheit angehören sollte, ging auch das Zeitalter der Aufklärung um die Jahrhundertwende seinem Ende entgegen. Ihrer Nachfolgegeneration hinterließ die Aufklärungstheologie ein differenziertes Problembewusstsein in Bezug auf das Spannungsverhältnis von privater und öffentlicher Religion beziehungsweise protestantischem Freiheitsbewusstsein und theologischer Verbindlichkeit. Mit dem Religionsedikt war die Anfälligkeit des vor allem in Brandenburg-Preußen praktizierten, staatskirchenrechtlichen Rationalismus offengelegt, sodass zu Beginn des 19. Jahrhunderts theologische Modelle für die Weiterentwicklung des aufgeklärten Protestantismus erforderlich waren.

3.

Frühliberale Weiterentwicklung

Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verloren die staatskirchenrechtlichen Regelungen des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens ihre Gültigkeit, womit das Zeitalter des konfessionell einheitlichen Territorialfürstentums auf deutschem Boden beendet war. Vor diesem Hintergrund ist die Überwindung innerprotestantischer Lehrdifferenzen verstärkt in Angriff genommen worden. Kaum ein Theologe konnte diese Annäherungen kirchenpolitisch und theologisch so vorantreiben wie die „Leitgestalt des frühliberalen Protestantismus“72, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834).73 Auch er verstand die Lehrunterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten nicht als kirchentrennend und trat daher 1817 für die königlich 71 Albrecht Beutel, Wider den Bekenntniszwang. Glaubens- und Lehrfreiheit im frühliberalen Protestantismus, in: Hanna Kasparick (Hg.), „Ihr aber seid zur Freiheit berufen“. Von der Freiheit jedes (Christen-)Menschen. Sechs Wegmarken, Wittenberg 2011, 38–63, hier 44. 72 Graf, Restaurationstheologie (wie Anm. 13), 103. 73 Vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989, 138–267; Ilka Werner, „Die Reformation geht noch fort“. Zur Theologie Friedrich Schleiermachers und Johannes Calvins, in: Hofheinz/Lienemann/Sallmann (Hg.), Calvins Erbe (wie Anm. 48), 182–207; Michael Beintker, Reformierte Akzente in der Kirchentheorie Friedrich Schleiermachers, in: Anne Käfer (Hg.), Der reformierte Schleiermacher. Gespräche über das reformierte Erbe in seiner Theologie, Berlin/Boston 2019, 101–121.

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geforderte Union der preußischen Landeskirche ein. Mit den Neologenfamilien Sack und Spalding, deren moderate Denkweise und „Achtung gegen die verschiedenen Ansichten“74 er schätzte, stand Schleiermacher in persönlicher Verbindung.75 Wenngleich er im Kontext von Romantik und Idealismus einen theologischen Neuaufbruch anbahnte, lieferte ihm die Aufklärungstheologie – gerade in der Bekenntnisfrage – wesentliche Impulse. Allerdings ist die Untersuchung von Schleiermachers kritischer Weiterentwicklung aufklärungstheologischer Einsichten in der Forschung „erst anfangsweise“ realisiert und bisher weitgehend auf die Reden und die Glaubenslehre fixiert, wohingegen „[a]ndere Bereiche seines theologischen Wirkens ausgeblendet werden“.76 Ein solcher Wirkungsbereich findet sich im Umfeld des 300. Jubiläums der Übergabe der Confessio Augustana (CA), das im Jahr 1830 gefeiert wurde: In den sogenannten Hallischen Streitigkeiten77 um die vermeintliche Überhandnahme des theologischen Rationalismus an der Universität Halle nahm Schleiermacher unter anderem mit einem Sendschreiben an die Breslauer Theologen Daniel Georg Konrad von Coelln (1788–1833) und David Schulz (1779–1854) Stellung.78 Diese hatten angesichts der geschichtlichen Distanz zur Übergabe der Glaubenserklärung in der abzuhaltenden kirchlichen Gedächtnisfeier eine „verächtliche Heucheley“79 gewittert. Schleiermacher – mit den beiden in der Ablehnung strikter Bekenntnisverpflichtung von Lehrenden im Grunde einig – reagierte mit einer geschichtsbewussten Unterscheidung von Bekenntnisinhalt und Übergabeakt: Die Übergabe der CA habe allein der ausdrücklichen Abgrenzung vom Katholizismus gegolten und den „Entschluß“ zum Ausdruck gebracht, „nur aus 74 Friedrich Schleiermacher, Nekrolog des Bischofs Sack, in: Karl Heinrich Sack (Hg.), Briefwechsel zwischen dem Bischof Sack und Schleiermacher, ThStKr 23/1 (1850), 145–162, hier 149. Vgl. ebd.: „Indeß fühlte auch er [F. S. G. Sack] schon lange, wie wünschenswerth und in mancher Hinsicht nothwendig die Vereinigung beider protestantischer Kirchen sei […]“. Hervorhebung M. S. 75 Vgl. Günter Meckenstock, Einleitung, in: ders., Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, Berlin/New York 1984, IX–XCI, hier X. 76 Claus-Dieter Osthövener, Schleiermachers kritisches Verhältnis zur theologischen Aufklärung, in: Ulrich Barth/Christian Danz/Friedrich Wilhelm Graf/Wilhelm Gräb (Hg.), Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, Berlin/Boston 2013, 513–541, hier 525f. 77 Vgl. Friedemann Voigt, Vermittlung im Streit. Das Konzept theologischer Vermittlung in den Zeitschriften der Schulen Schleiermachers und Hegels, Tübingen 2006, 27–48. 78 Friedrich Schleiermacher, An die Herren D. D. D. von Cölln und D. Schulz. Ein Sendschreiben (1831), in: Hans-Friedrich Traulsen (Hg.), Friedrich Schleiermacher, Theologische-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, Berlin/New York 1990, 395–426 (ursprünglich abgedruckt in: ThStKr 4, 1831, 3–39). 79 Daniel Georg Konrad Coelln/David Schulz, Ueber Theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher. Eine offene Erklärung und vorläufige Verwahrung (1830), in: Schleiermacher, Theologische-dogmatische Abhandlungen (wie Anm. 78), 486–503, hier 487.

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der Schrift Belehrung und Widerlegung annehmen zu wollen“.80 Ebenso wenig wie die Bekenntnisschriften daher eine strikte Einheitslehre vorgeben könnten, müsse auf die Jubiläumsfeier, die eine historische Glaubenstat würdige, verzichtet werden. Mit dieser geschichtlichen Betrachtungsweise trug Schleiermacher zur Differenzierung des Erörterungsgegenstandes bei – strukturell folgte sie einem Argumentationsmuster, das bereits in der aufklärungstheologischen Position Sacks herausgearbeitet worden ist. Schon in der Auflösung kontroverstheologischer Polemik durch konsequente Historisierung wird die „katalysatorische Bedeutung“81 greifbar, die dem aufklärungstheologischen Symbolstreit im Fortgang des 19. Jahrhunderts zukam – auch wenn die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen liberaler Bekenntniskritik in den beiden nachgezeichneten Debatten durchaus unterschiedlich waren. Um diese Hypothese weiter zu stützen, ist die zweite Seite der Medaille in Schleiermachers Unterscheidungsfigur nachzuvollziehen: Aus der historischen Verfahrensweise ergibt sich bei ihm auch eine Kritik der Inhalte der reformatorischen Bekenntnisschriften, die als Zeugnisse des 16. Jahrhunderts ebenso zeitabhängig seien wie die theologischen Schriften der Gegenwart. Sie als allezeit verbindliche „Formeln“ buchstäblich zu fixieren, könne dem Geist der Reformation nicht entsprechen, „weil derselbe Buchstabe nach einer Reihe von Generationen nicht mehr dasselbe bedeutet“.82 Auch Schleiermacher bezieht sich dabei auf Melanchthon, dem die Verbesserungsbedürftigkeit der CA bereits klar vor Augen gewesen sei.83 Dieser Umstand erfordere ein „freies Zusammenwirken zur fortgehenden Berichtigung christlicher Einsicht“, die allein auf kritische „Schriftforschung“84 zu gründen sei. Mit dieser Argumentation antwortet Schleiermacher auch auf den Vorschlag der Breslauer Theologen, nach dem Vorbild der CA ein neues, „im Worte Gottes gegründete[s] Bekenntniß“85 auf der Höhe der Zeit herbeizuführen. Dieses Bekenntnis würde zu neuen Spaltungen führen – ein „sektirischer Sinn“86 sei nicht den theologischen Rationalisten vorzuwerfen, sondern den Vertretern eines entsprechenden Gegenwartskonfessionalismus. Ebenso wenig wäre jedoch das Modell einer völligen Bekenntnislosigkeit anzustreben, weil dadurch der kirchliche Bezug theologischer Ausbildungen verlorenginge und somit Studieninteressierten schlicht der Anreiz zum Studium fehlte. Ein bleibendes Ansehen sei den Bekenntnisschriften zuzuschreiben, weil sie der „Grund aller öffentlichen rechtlichen Verhältnisse unserer 80 81 82 83 84 85 86

Schleiermacher, Sendschreiben (wie Anm. 78), 401. Beutel, Aufklärung (wie Anm. 1), 260. Vgl. Aner, Lessingszeit (wie Anm. 1), 269. Schleiermacher, Sendschreiben (wie Anm. 78), 410. Vgl. ebd., 400. Ebd., 402. Coelln/Schulz, Ueber Theologische Lehrfreiheit (wie Anm. 79), 503. Schleiermacher, Sendschreiben (wie Anm. 78), 414.

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Kirche“ seien und historisch „das Erste“, worin sich „auf eine öffentliche und bleibende Weise der protestantische Geist ausgesprochen“87 habe. Mit dieser vermittelnden Position vollzieht Schleiermacher einen Perspektivwechsel in der Debatte, der ebenfalls ein Kernelement der aufklärungstheologischen Bekenntniskritik aufgreift und weiterentwickelt: Es geht darum, in der jeweiligen Gegenwart das konstruktive Moment der symbolischen Bücher herauszuarbeiten, dabei aber gleichzeitig „das protestantische Pluralitätsbewußtsein zu fördern“88 anstatt zu unterdrücken. Allein im freiheitlichen Disput könne entschieden werden, ob und inwiefern eine bestimmte Glaubenslehre in der Gegenwart Geltung beanspruchen könne, sodass es, wie Schleiermacher feststellt, in der Gelehrtenwelt durchaus „scharf hergeht“, aber „jeder doch wisse und merke, daß Brüder mit einander streiten“.89 Eine „Auflösung des kirchlichen Verbandes“90, wie ihn von Coelln und Schulz befürchteten, kann Schleiermacher in einem solchen theologischen Pluralismus nicht erkennen. Vielmehr repräsentiere die diskursive Lebendigkeit ein Charakteristikum evangelischer Theologie und einen faktisch seit mindestens „dreihundert Jahren“91 laufenden Prozess konfessioneller Identitätsentwicklung. Gegenüber der „katholischen Gebundenheit“92 an das Traditionsprinzip überliefere der Protestantismus dabei ein authentisches Wahrheitskriterium: nämlich, dass in Theorie und Praxis alles „auf Christum zurückgeführt wird“.93 Über Semlers Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion ging Schleiermachers Argumentation hinaus, indem sie kirchliche Identität nicht in der Abgrenzung von privatreligiöser Freiheit, sondern gerade durch die Realisierung von Lehrfreiheit als spezieller Form der libertas christiana herzustellen suchte.94 Wo aber die aufklärungstheologische Professionalisierung des „öffentlichen Lehrers“ darauf hinauslief, „Lutheraner und Reformirte zu Christen zu machen“95, schuf sie für die vermittlungstheologischen Konzepte des 19. Jahrhunderts entscheidende Voraussetzungen. Im Anschluss an die aufklä87 Vgl. ders., Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher, in: Schleiermacher, Theologische-dogmatische Abhandlungen (wie Anm. 78), 117– 144. 88 Beutel, Glaubens- und Lehrfreiheit (wie Anm. 71), 43. Zur Pluralitätsoffenheit der gesellschaftstheoretisch begründeten Religionstheologie der Aufklärung vgl. Arnulf von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 80–88, hier 84. 89 Schleiermacher, Sendschreiben (wie Anm. 78), 425. 90 Coelln/Schulz, Ueber Theologische Lehrfreiheit (wie Anm. 79), 487. 91 Schleiermacher, Sendschreiben (wie Anm. 78), 401. 92 Ebd., 425. 93 Ebd. 94 Zu den geschichtstheoretischen Differenzen (und Kontinuitäten) vgl. Martin Ohst, Dogmenkritik bei Semler und Schleiermacher, in: Barth/Danz/Graf/Gräb (Hg.), Aufgeklärte Religion (wie Anm. 76), 617–646. 95 Sack, Wort (wie Anm. 28), 10.

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rerische Unterscheidung von Theologie und Religion und die damit verbundene, gegenwartssensible Suche nach dem Wesen des Christentums formierte sich das „Grundaxiom liberalen Theologieverständnisses“.96 Im Modus einer historischkritisch reflektierten und diskursiv profilierten Religionstheorie war die Theologie nun als umfassende Wissenschaft des Christentums zu betreiben. Dass Schleiermacher dabei die Bekenntnisschriften keineswegs in die Archivkeller der Kirchengeschichte befördern, ihre Aussagen aber der freien, diskursiven Interpretationspraxis überlassen wollte, ist weniger der Ausdruck eines „pragmatischen Konservatismus“97 als vielmehr die „Vision eines faktisch dogmenfreien Protestantismus“98, der sich schon die theologische Aufklärung verpflichtet wusste.

96 Martin Laube, Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Grundfigur in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, in: ZThK 112 (2015), 449–467, hier 455. 97 Rochus Leonhardt, Die Bedeutung von Bekenntnissen in Theologie und Kirche zwischen Anspruch der Tradition und aktuellen Herausforderungen, in: Jens Herzer/Anne Käfer/Jörg Frey (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik, Tübingen 2018, 55–82, hier 81. 98 Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften (wie Anm. 73), 166.

Thomas K. Kuhn

Bekenntnisfreiheit in der Schweiz Historische Entwicklungen im 19. Jahrhundert und aktuelle Herausforderungen

1.

Bekenntnisschriften und Kirchenverfassungen im deutschsprachigen Protestantismus

1.1

Die Situation in Deutschland und Österreich

Ein Blick in die derzeit gültigen Kirchenordnungen und Kirchenverfassungen1 der deutschsprachigen evangelischen Landeskirchen offenbart hinsichtlich der Rezeption der Bekenntnisschriften einen für den Protestantismus typischen Pluralismus. So nennt beispielsweise die jüngste Landeskirche im Bereich der EKD, die Pfingsten 2012 entstandene Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland2 – wie andere Landeskirchen auch – in der Präambel ihrer Verfassung als Grundlage neben den altkirchlichen Bekenntnissen und den lutherischen Bekenntnisschriften die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen.3 Die zweitjüngste Kirche, die aus der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen hervorgegangene Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, verzichtet im Gegensatz zur Nordkirche aufgrund ihrer Bikonfessionalität in ihrem Namen auf eine konfessionelle Präzisierung, führt aber zunächst als altkirchliche Bekenntnisse das Apostolische, das Nizänische wie das Athanasianische Glaubensbekenntnis und die Reformatoren an, bevor sie im vierten Absatz der Präambel auf die in ihren Gemeinden geltenden zahlreichen Bekenntnisse lutherischer und reformierter 1 Zur Begrifflichkeit siehe Dieter Kraus, Revisionen reformierter Kirchenverfassungen und Kirchenordnungen in der Schweiz – Themen und Tendenzen, in: Ingolf U. Dalferth/Cla Reto Famos (Hg.), Das Recht der Kirche. Zur Revision der Zürcher Kirchenordnung, Zürich 2004, 27–45, hier 28f. 2 Sie entstand als Fusion von Evangelisch-Lutherischer Landeskirche Mecklenburgs, Nordelbischer Evangelisch-Lutherischer Kirche und der Pommerschen Evangelischen Kirche. 3 Siehe dazu https://www.kirchenrecht-nordkirche.de/document/24017#s00000040.

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Traditionen ausführlich verweist.4 Ähnlich detailliert erwähnt die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz ihre Bekenntnisgrundlagen, da auch sie reformierte und lutherische Gemeinden vereint.5 Die EvangelischLutherische Kirche in Bayern zählt in ihrer derzeit gültigen Verfassung im Grundartikel keine weiteren Bekenntnisse auf, sondern verweist allein auf die Heilige Schrift und auf die Barmer Theologische Erklärung.6 Im weiteren Verlauf der Verfassung ist allerdings nicht weiter ausgeführt vom „evangelisch-lutherischen Bekenntnis“ (Art. 18) die Rede. Die unierte Evangelische Kirche im Rheinland notiert in ihrer Kirchenordnung ebenfalls explizit die eben erwähnten drei altkirchlichen Bekenntnisse und erkennt die „fortdauernde Geltung der reformatorischen Bekenntnisse an“ und „bejaht die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche von Barmen“.7 Die konsensus-unierte Evangelische Landeskirche in Baden gibt in ihrer Grundordnung von 2007 als „Kirche der Reformation“ die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse an und „anerkennt, gebunden an die Unionsurkunde von 1821 und ihre gesetzliche Erläuterung von 1855, namentlich und ausdrücklich das Augsburger Bekenntnis als das gemeinsame Grundbekenntnis der Kirchen der Reformation, sowie den kleinen Katechismus Luthers und den Heidelberger Katechismus nebeneinander, abgesehen von denjenigen Katechismusstücken, die zur Sakramentsauffassung der Unionsurkunde in Widerspruch stehen.“8 Dazu kommt noch die Barmer Theologische Erklärung. Im Gegensatz zu den bisher genannten anderen Kirchen verpflichtet sich die badische Kirche dazu, „ihr Bekenntnis immer wieder an der Heiligen Schrift zu prüfen und es in Lehre, Ordnung und Leben zu bezeugen und zu bewähren.“9 Die Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche erwähnt in ihrer Fassung vom 29. April 2017 4 „Dies sind in lutherischen Kirchengemeinden die lutherischen Bekenntnisschriften: die Augsburgische Konfession, die Apologie, die Schmalkaldischen Artikel, der Kleine und der Große Katechismus Martin Luthers, die Konkordienformel, wo sie anerkannt ist, und der Traktat über Gewalt und Oberhoheit des Papstes. In den reformierten Kirchengemeinden gilt der Heidelberger Katechismus; Herkommen und Geschichte der reformierten Gemeinden sind bestimmt von der Geltung der Confessio Sigismundi, der Confession de Foi und der Discipline Ecclésiastique.“ Siehe dazu https://www.kirchenrecht-ekm.de/document/9618#s100001. 5 Siehe dazu Grundartikel I, 6, 3f.: „In den lutherischen Gemeinden stehen als Bekenntnisschriften in Geltung: die Augsburgische Konfession, die Apologie der Augsburgischen Konfession, die Schmalkaldischen Artikel, der Kleine und der Große Katechismus Luthers. 4 In den reformierten Gemeinden stehen als Bekenntnisschriften in Geltung: der Heidelberger Katechismus und in den französisch-reformierten Gemeinden darüber hinaus die Confession de foi und die Discipline ecclésiastique des églises reformées de France.“ Siehe dazu https://www. kirchenrecht-ekbo.de/document/361. 6 Siehe dazu https://www.bayern-evangelisch.de/downloads/ELKB-KirchenverfassungStand2019-PDF.pdf. 7 Siehe dazu https://www.kirchenrecht-ekir.de/document/3060#s10000002. 8 Siehe dazu https://www.kirchenrecht-baden.de/document/27489. 9 Siehe dazu https://www.kirchenrecht-baden.de/document/27489.

Bekenntnisfreiheit in der Schweiz

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„als Urkunden des Bekenntnisstandes“ (§1, 4.1) neben den drei altkirchlichen Bekenntnissen den Heidelberger Katechismus und die Theologische Erklärung von Barmen. Ähnlich wie die Evangelische Landeskirche in Baden eröffnet sie – „vorbehaltlich weiterführender schriftgemäßer Glaubenserkenntnis“ – die Möglichkeit zu einer Revision der Bekenntnisgrundlagen (§1, 4.2).10 Als Bekenntnisschriften der Evangelischen Kirche H.B. in Österreich gelten in der „Verfassung der Evangelischen Kirchen A. u. H.B. in Österreich“ vom 1. Januar 2006 „vornehmlich das zweite Helvetische Bekenntnis und der Heidelberger Katechismus“ sowie die Barmer Theologische Erklärung. Diese Verfassung erwähnt ausdrücklich die Annahme der Leuenberger Konkordie vor der Nennung der Bekenntnisschriften.11 Interessanterweise wissen sich beide österreichischen Kirchen – also auch die Lutheraner – „verpflichtet, ihr Bekenntnis immer neu an der Heiligen Schrift zu prüfen“.

1.2

Die Situation in der reformierten Schweiz

Nach diesen Beispielen aus Österreich und Deutschland rücken im Folgenden die reformierten Kirchenordnungen in der Schweiz in den Fokus. Hier finden wir bezüglich der Rezeption der Bekenntnisschriften eine gänzlich andere Situation vor: In den aktuellen schweizerischen reformierten Kirchenordnungen fehlt die in Deutschland übliche Nennung historischer Bekenntnisschriften als normative Grundlage kirchlichen Handelns.12 Die meisten Verfassungen beziehen sich zwar auf die Reformation, betonen damit ihre geschichtliche Kontinuität, unterlassen es aber, bestimmte Bekenntnisschriften anzugeben.13 So heißt es beispielsweise in der Verfassung der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Glarus aus dem Jahr 1991: „Reformiert ist sie [die Landeskirche] dank ihrer Herkunft aus der Reformation Huldrych Zwinglis und seiner Nachfolger, und durch ihren Willen, sich stets der Heiligen Schrift gemäss zu erneuern“ (Art. 3, 2).14 In der jüngst in Kraft getretenen Verfassung der Evangelisch-Reformierten Landeskirche Graubündens aus dem Jahr 2018 heißt es: „Sie gründet auf Gott 10 Zum reformierten Verständnis der Bekenntnisschrift als „Gelegenheitshandlung“ und als „Erzeugnis irrender Menschen“ siehe Johannes Wirsching, Art. Bekenntnisschriften, in: Theologische Realenzyklopädie 5 (1980), 487–511, hier 502; sowie Jan Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften. Von Zürich bis Barmen, Göttingen 1987. 11 Siehe dazu https://www.kirchenrecht.at/document/39212#s1225842199. 12 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert, dass das dreizehnbändige Historische Lexikon der Schweiz keine Artikel zum „Bekenntnis“ und zu den „Bekenntnisschriften“ bietet. 13 Siehe dazu Rudolf Gebhard, Kirchenordnung und Bekenntnis, in: Dalferth/Famos (Hg.), Das Recht der Kirche (wie Anm. 1), 183–207, hier 197–200. 14 Siehe dazu https://www.ref-gl.ch/gesetzessammlung.

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und auf dem Evangelium von Jesus Christus mit seiner befreienden und wegweisenden Kraft. Sie ging aus der Reformation hervor und erneuert sich stets aus dem lebendigen Dialog mit dem Wort Gottes in der Bibel und mit der Gesellschaft.“15 Für eine neue Tendenz in den deutsch-schweizerischen reformierten Landeskirchen stehen die Ordnungen von Schaffhausen, Thurgau und beider Appenzell.16 Sie nennen weder Bekenntnisse und die Reformation, noch eine spezifische konfessionelle Prägung. Diese Kirchen verstehen sich „als Teil der weltweiten christlichen Kirche“ (Schaffhausen, Appenzell) oder „Teil der gesamten christlichen Kirche“ (Thurgau). In der Verfassung der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Luzern vom 6. Dezember 2015 finden wir immerhin folgende Ausführungen.17 Diese in einem dezidiert katholisch geprägten Kanton existierende Kirche bietet einen eigenen Paragraphen „Herkunft und Bekenntnis“ (§ 2), in dem es heißt: „2 In theologiegeschichtlicher Hinsicht kommt die Landeskirche von der Reformation her und führt diese weiter. 3 Sie versteht sich als Teil der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche. 4 Sie achtet die altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse und bringt den christlichen Glauben auch in zeitgemässen liturgischen Formulierungen zum Ausdruck. 5 Ihre Mitglieder sind in ihrem Bekennen frei.“ In der Zürcher Kirchenordnung, die 2018 einer Revision unterzogen wurde, heißt es im zweiten Artikel: „Die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zu¨ rich besteht auf Grund des Wortes Gottes, das im Evangelium von Jesus Christus Gestalt gefunden hat. 2 Sie führt die von Huldrych Zwingli und Heinrich Bullinger begonnene Reformation weiter.“ Im dritten Artikel wird festgehalten: „Die Landeskirche gehört zur reformierten Kirchengemeinschaft. Sie bezeugt dies durch die Verbundenheit mit den altchristlichen und reformatorischen Bekenntnissen sowie durch den Bezug zu neueren reformierten und ökumenischen Bekenntnisschriften.“18 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Eine Bekenntnisverpflichtung findet sich in keiner dieser genannten Kirchenordnungen.19 Das heißt: Weder 15 Siehe dazu https://gr-ref.ch/app/uploads/2019/03/kirchliche-gesetzessammlung-2019–03– 06.pdf. 16 Siehe dazu https://www.ref-sh.ch/rechtstext/201.100; https://www.evang-tg.ch/filead min/user_upload/downloads/Gesetze_und_Verordnungen/KGS5.1.pdf; https://ref-arai. ch/downloads/gesetze.html. 17 https://www.reflu.ch/kantonalkirche/Service/Download-Center/Gesetzestexte/11.010-Ver fassung.pdf. 18 Siehe dazu http://www.zhlex.zh.ch/Erlass.html?Open&Ordnr=181.10. 19 Eine zusammenfassende Perspektive auf die Bekenntnisgrundlagen schweizerischer Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften bietet Lukas Vischer (Hg.), Was bekennen die evangelischen Kirchen in der Schweiz? Eine Übersicht über die Bekenntnisgrundlagen der evangelischen Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften in der Schweiz, Bern 1987.

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Kirchenverfassungen noch Liturgien enthalten eine obligatorische Verpflichtung auf ein bestimmtes Bekenntnis respektive eine Bekenntnisschrift. Dieses schweizerische Spezifikum, das je nach Sichtweise als Bekenntnisfreiheit oder Bekenntnislosigkeit bezeichnet wird, ist das Ergebnis eines langen Ringens im 19. Jahrhundert und kann als wichtigster Erfolg des theologischen Liberalismus gelten.20 Dieses Erbe des 19. Jahrhunderts21 prägt die schweizerischen Verhältnisse bis auf den heutigen Tag, auch wenn es in der jüngeren Vergangenheit gelegentlich vereinzelte Initiativen bezüglich einer Neubewertung des Bekenntnisses gegeben hat,22 wie beispielsweise in den 1980er Jahren während der Evangelischen Synode (1983–1987) und bei der sogenannten „Zürcher Disputation“.23 Hier forderte man eine klarere Profilierung des Gottesdienstes und auch des Bekennens.24 Zur Jahrtausendwende startete zudem der Zürcher Kirchenrat das Projekt „Bekenntnis“ und zielte auf eine Wiedereinführung des Bekennens als einer obligatorischen gottesdienstlichen Handlung.25 Ohne nun ausführlicher auf diese Initiative, die schließlich erfolglos bleiben sollte, eingehen 20 Zu den theologischen Auseinandersetzungen in der Schweiz siehe Paul Schweizer, Freisinnig – positiv – religiössozial. Ein Beitrag zur Geschichte der Richtungen im Schweizerischen Protestantismus, Zürich 1972; ferner Gottfried Schönholzer, Die religiöse Reformbewegung in der reformirten Schweiz. Vortrag gehalten an der Jahresversammlung des Rel.-lib. Vereins des Kantons St. Gallen den 16. November 1885 in der Aula der Kantonsschule, 2. Aufl., St. Gallen 1886. Zum theologischen Liberalismus generell Manfred Jacobs, Art. Liberale Theologie, in: Theologische Realenzyklopädie 21 (1991), 47–68. 21 Zu den Entwicklungen in Deutschland siehe u. a. Manfred Jacobs, Das Bekenntnisverständnis des theologischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Martin Brecht (Hg.), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, Stuttgart 1980, 415–465; ferner Hans-Jörg Reese, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit, Göttingen 1974; zudem Hanna Kasparick, Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis? Der Kampf um das Apostolikum und seine Auswirkungen auf die Revision der preußischen Agende (1892–1895), Bielefeld 1996; ferner Julia Winnebeck, Apostolikumsstreitigkeiten. Diskussionen um Liturgie, Lehre und Kirchenverfassung in der preußischen Landeskirche 1871–1914, Leipzig 2016. 22 Auch schon in den 1940er Jahren fand das Bekenntnis Interesse. So hielt beispielsweise der zur Richtung der Dialektischen Theologie zählende Berner Professor für Praktische Theologie Albert Schädelin (1879–1961) im Jahr 1942 einen Vortrag auf der Jahresversammlung des Schweizerischen evangelisch-kirchlichen Vereins in Bern, der gedruckt vorliegt: Albert Schädelin, Bekenntnis und Volkskirche, Zürich 1943. 23 Vgl. Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich (Hg.), Zürcher Disputation 84. Beiträge zur Standortbestimmung und Erneuerung unserer Kirche, Zürich 1987. 24 Vgl. Alexander Völker, Den Glauben heute bekennen und leben: Das Zürcher „Projekt Bekenntnis“, in: Martin Klöckener/Arnaud Join-Lambert (Hg.), Liturgia et unitas. Liturgiewissenschaftliche und ökumenische Studien zur Eucharistie und zum gottesdienstlichen Leben in der Schweiz. Etudes liturgiques et oecuméniques sur l’Eucharistie et la vie liturgique en Suisse. In honorem Bruno Bürki, Freiburg (Schweiz), Genf 2001, 398–423, hier 407. Ferner Schweizerische Evangelische Synode, Schlussdokumente, Heft 6: Bekennen, Basel 1987. 25 Zürcher Kirchenrat, Projekt Bekenntnis, in: Matthias Krieg/Hans Jürgen Luibl (Hg.), In Freiheit Gesicht zeigen. Zur Wiederaufnahme des liturgischen Bekennens im reformierten Gottesdienst, Zürich 1999, 9–20, hier 15.

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zu können, sei noch angefügt, dass man beabsichtigte, neben das Apostolikum eine Paraphrase des Credos zu stellen, die in den Gemeinden gemeinsam erarbeitet werden sollte. Man zielte auf eine Änderung des Artikels 46 der Kirchenordnung und schlug als Neuerung vor: „Mindestens einmal im Monat (bei der Feier von Taufe und Abendmahl) sowie an allen kirchlichen Feiertagen wird das im Gesangbuch enthaltene und unveränderliche Apostolische Glaubensbekenntnis liturgisch rezitiert. Die Gemeinde ist antwortend beteiligt mit einer jede Aussage des Bekenntnisses auslegenden und veränderlichen Antwort (Paraphrase). Beide Texte zusammen bilden das Bekenntnis.“26 Die Zürcher Landeskirche sah darin ihren eigenen Beitrag „für das Symboljahr 2000“ und beschrieb die Initiative als „gemeindeorientiert, nachhaltig und kostenfrei.“27 Auf der Ebene des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes wurde im beginnenden 21. Jahrhundert eine Initiative zum Bekenntnis unter der Leitung von Matthias Krieg gestartet, um „ein reformiertes Bekennen in der Schweiz zu lancieren“.28 Als Grundlage diente ein zweisprachiges „Werkbuch Bekenntnis“29, das zwischen Oktober und Januar 2010 allen Kirchgemeinden zugesandt wurde. Von Juli 2010 bis Juni 2011 war eine Online-Vernehmlassung zum Werkbuch offen. Folgende Fragen wurden unter anderem gestellt: „Welche Funktionen können Bekenntnisse aus dem Werkbuch in Gegenwart und Zukunft erfüllen? Soll ein gemeinsam gesprochenes Glaubensbekenntnis in der Schweiz zur Ordnung des Gemeindegottesdienstes gehören?“ Deutlich wurde in dieser Vernehmlassung, dass die Debatten über das Bekennen nicht abgeschlossen, sondern eröffnet worden sind. Von Seiten des damaligen Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) sollen diesbezüglich weitere Projekte angeregt werden.30 Dieses neue Interesse am Bekenntnis hängt unmittelbar zusammen mit der Suche nach einer reformierten Identität in einer „postkonfessionellen und multireligiösen, wenn nicht gar nachchristlichen Epoche“ sowie mit der Frage, ob es überhaupt reformierte Eigentümlichkeiten gibt und wie diese sich artikulie-

26 Ebd., 16. 27 Ebd. Zur Auseinandersetzung mit dieser Initiative siehe Völker, Glauben (wie Anm. 24), ferner Emidio Campi, Bekenntnis oder Bekennen?, in: Krieg/Luibl (Hg.), In Freiheit Gesicht zeigen (wie Anm. 25), 53–61. 28 Siehe dazu https://www.kirchenbund.ch/de/themen/ref-credoch/vernehmlassung-bekennt nis. 29 Matthias Krieg (Hg.), Reformierte Bekenntnisse. Ein Werkbuch als Grundlage für eine Vernehmlassung zum reformierten Bekennen in der Schweiz und zugleich als Geschenk für Jean Calvin zum 500. Geburtstag am 10. Juli 2009, Zürich 2009. 30 https://www.kirchenbund.ch/de/themen/ref-credoch/vernehmlassung-bekenntnis. Seit Anfang 2020 heißt der Zusammenschluss der reformierten Landeskirchen und der Evangelischmethodistischen Kirche in der Schweiz Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS).

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ren.31 Diese Fragen, die wesentlich um Identität und um gesellschaftliche Stellung der Reformierten in der Schweiz kreisen, sind zudem motiviert durch vielfältige Krisenerfahrungen. Der schweizerische praktische Theologe Cla Reto Famos brachte diese Konstellation 2004 folgendermaßen auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Kirche befindet sich in einer kritischen Situation. Es ist nicht mehr wie vor einigen Jahrzehnten das Grollen des Atheismus und der Säkularisierung, sondern die Notwendigkeit, sich in einer auch in religiösen Dingen deregulierten und globalisierten Welt bewegen zu müssen. Der Druck des religiösen Marktes ist zu einer Grundkonstante kirchlichen Lebens geworden.“32 Um auf diesem Markt als religiöser Anbieter erkennbar zu bleiben oder erkennbar zu werden, braucht es ein charakteristisches, unverwechselbares und ansprechendes Profil: „Auf pluralen Religionsmärkten gewinnen die Anbieter mit starker Marke“, betont auch Friedrich Wilhelm Graf.33 Die These, dass Bekenntnisse dazu beitragen können, als religiöser Anbieter attraktiv und wiedererkennbar zu sein, wäre zu diskutieren. In der Schweiz jedenfalls war man mehrheitlich nicht dieser Meinung. Möglicherweise wirkt Karl Barths Votum noch effektiv nach, wonach es keinen Bekenntnisstand, sondern nur Bekenntnissituationen gebe. Allerdings versuchen sich einige reformierte Landeskirchen durch spezifizierende Aussagen zu ihrem Profil in ihren Verfassungen und Ordnungen zu positionieren, indem sie beispielsweise vom Einsatz für die Menschenwürde, von Ehrfurcht vor dem Leben und von Bewahrung der Schöpfung (Zürich) sprechen. Zudem findet das Engagement für Familien und für eine familienfreundliche Gesellschaft an prominenter Stelle in der Verfassung Erwähnung.34 Die Landeskirche beider Appenzell präsentiert sich in ihrer Präambel als „Weggemeinschaft von Menschen“, „die sich in ihrer Unterschiedlichkeit annehmen“, „schwache und benachteiligte Menschen stützen“, sich für den ökumenischen wie interreligiösen Dialog öffnen und „sich für Menschenrechte, für Gerechtigkeit, Frieden und

31 Matthias Krieg, Einleitung, in: Krieg/Luibl (Hg.), In Freiheit Gesicht zeigen (wie Anm. 25), 5. 32 Cla Reto Famos, Anforderungen an eine Kirchenordnung aus praktisch-theologischer Perspektive, in: Dalferth/Famos (Hg.), Das Recht der Kirche (wie Anm. 1), 209–228, hier 226. Zum Begriff des religiösen Marktes siehe Hartmut Zinser, Der Markt der Religionen, München 1997; hier vor allem das Kapitel „Religionsfreiheit – Trennung von Staat und Kirche – Entstehung eines Marktes der Religionen“, 15–32; sowie Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 2. Aufl., München 2004, 15–30. 33 Ebd., 28. 34 „Art. 4. 1 Die Kirche lebt aus dem befreienden Zuspruch Gottes. Aus ihm leitet sie ihre Verantwortung in der Gesellschaft ab. 2 Die Landeskirche nimmt das prophetische Wächteramt wahr. In der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium tritt sie ein fu¨ r die Wu¨ rde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung. […] Art. 6. Die Landeskirche tritt ein fu¨ r die Familie, fu¨ r eine kinderfreundliche Gesellschaft und fu¨ r das Miteinander der Generationen.“ Siehe dazu die Kirchenordnung der Evangelischreformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 2019 (wie Anm. 18).

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Bewahrung der Schöpfung einsetzen.“35 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die reformierten Kirchen der Schweiz im ausgehenden 20. und im frühen 21. Jahrhundert in der Ambivalenz zwischen Bekenntnisfreiheit und der Suche nach neuer Verbindlichkeit leben. Zum Stichwort „Bekenntnisfreiheit“ gehört als weiteres kontrovers diskutiertes Themenfeld neben der Frage nach den liturgischen Glaubensbekenntnissen, vor allem nach dem Apostolikum, das Problem des Zusammenhangs von Ordination und Bekenntnis. In der Geschichte der schweizerischen Kirchen ging diese Problematik in einigen Kantonen – so etwa in Bern und Basel – parallel mit dem Apostolikumstreit einher. In anderen Kantonen wurde die Bekenntnisverpflichtung bei der Ordination schon viel früher und manchmal stillschweigend abgeschafft. Um diese beiden historischen Prozesse soll es im Folgenden anhand von ausgewählten Beispielen gehen. Dabei ist vorauszuschicken, dass die Auseinandersetzungen um das Bekenntnis die Schweiz und die einzelnen kantonalen Kirchen über Jahrzehnte hin zutiefst geprägt haben. Auf diesem Feld trafen die unterschiedlichen theologischen respektive kirchenpolitischen Richtungen aufeinander und lieferten sich verbale wie publizistische Schlachten. Dem theologischen Freisinn, den Liberalen, standen die sogenannten Positiven oder Orthodoxen gegenüber. Zwischen beiden Positionen positionierte sich die sogenannte Vermittlungstheologie.36 Diese drei Richtungen organisierten sich in Vereinen und brachten ein heute schwer vorstellbares breites Spektrum an Zeitungen und Zeitschriften hervor, in denen man sich heftig bekämpfte. Dabei nahm der Streit um das Bekenntnis in der Schweiz weite Teile der politischen wie kirchlichen Öffentlichkeit in Anspruch und wurde wesentlich breiter und intensiver als in Deutschland ausgetragen. In Deutschland setzte er zeitlich später ein und war in seiner öffentlichen Wirkung zunächst begrenzter. Erst als er durch drakonische Strafmaßnahmen im Keim erstickt wurde – ich erinnere nur an die Entlassung des württembergischen Pfarrers Christoph Schrempf (1860–1944)37 – erregte er breites Interesse.38 In der Schweiz hingegen widmeten sich politische wie kirchliche Behörden intensiv diesem Thema, das ebenfalls auf den jährlichen Predigerversammlungen aufgegriffen wurde. Im Zuge vielfältiger liberaler Be-

35 Siehe dazu oben Anm. 16. 36 Vgl. Eduard Buess, Die kirchlichen Richtungen, Zollikon 1953; Schweizer, Freisinnig (wie Anm. 20). 37 Zur Person siehe Andreas Rössler, Christoph Schrempf (1860–1944). Württembergischer Theologe, Kirchenrebell und Religionsphilosoph. Ein Leben in unerbittlicher Wahrhaftigkeit, Stuttgart 2010. 38 Vgl. Kasparick, Lehrgesetz (wie Anm. 21) Daniela Dunkel, Art. Apostolikumstreit, in: RGG4 1 (1998), 650–651.

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wegungen und Demokratisierungsprozesse39, welche die Schweiz seit der Pariser Juli-Revolution prägen und schließlich 1848 zur Annahme einer demokratischen Bundesverfassung40 führen sollten,41 entwickelten sich auch breite diskursive Räume, in denen ein Austausch möglich war, ohne dass immer gleich obrigkeitliche Repressalien zu befürchten waren.42 Im Zuge dieser Demokratisierungsprozesse fanden zudem neue theologische Positionen in der Schweiz Akzeptanz, die jenseits der recht breiten Schleiermacherrezeption maßgeblich aus dem Umkreis der spekulativen Theologie im Gefolge von Georg Wilhelm Hegel (1770–1831) und vorzugsweise aus der Tübinger Schule Ferdinand Christian Baurs (1792–1860) kamen.43 Doch nicht nur solche Gedanken und theologische Positionen importierte die Eidgenossenschaft, sondern auch zahlreiche Personen, die für die theologische und kirchliche Entwicklung prägend werden sollten, entweder durch den eigenen Einsatz oder durch ihre Schüler. Von nicht zu unterschätzendem Einfluss war in diesem Zusammenhang der Württemberger David Friedrich Strauß (1808–1874), der im Januar 1839 nach Zürich berufen, schon vor Stellenantritt nach heftigen Protesten in den Ruhestand verabschiedet wurde, aber für einige junge schweizerischer Theologen – wie beispielsweise für Alois E. Biedermann (1819–1885) – eine überaus prägende Figur war.44 An39 Noch in den ausgehenden 1860er Jahren verhielten sich Zürcher Geistliche mehrheitlich gegenüber der demokratischen Bewegung ablehnend; Jakob Streuli, Der zürcherische Protestantismus an der Wende vom Liberalismus zur Demokratie. Ein Beitrag zum Problem Christentum und Eidgenossenschaft (3 Bde.), Diss. Zürich 1948, 483. Vor allem die liberalen Theologen waren eine starke Stütze des liberalen Repräsentativstaates; ebd., 486. Biedermann beispielsweise bekämpfte die demokratische Bewegung ebenso wie Alexander Schweizer. Noch 1877 erklärte Biedermann: „Ich halte die Prinzipien der Staatsverfassung unter dem ‚alten‘ System, die Repräsentativdemokratie für einen Staat wie Zürich allein für angemessen, und den Fortschritt zur sog. ‚reinen‘ Demokratie für ein sich selbst täuschendes Betreten einer verhängnisvollen schiefen Bahn abwärts dem Ende entgegen, bei dem so viele Republiken ausgemündet haben“; zitiert nach ebd., 492f. 40 Siehe dazu Andreas Kley, Art. Bundesverfassung (BV), in: Historisches Lexikon der Schweiz 3 (2004), 27–35. 41 Zu den Entwicklungen in Zürich und im Zürcher Protestantismus siehe Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39). Das dreibändige Manuskript dieser bei Leonhard von Muralt (1900– 1970) angefertigten ungedruckten Dissertation ist in der Zentralbibliothek Zürich (Ms. Diss. 382) deponiert; gedruckt liegen nur 50 Seiten als Teildruck vor. 42 Irène Herrmann, Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798–1848), in: Georg Kreis (Hg.), Die Geschichte der Schweiz, Basel 2014, 370–421; ferner Regina Wecker, Neuer Staat – neue Gesellschaft. Bundesstaat und Industrialisierung (1848–1914), in: Kreis (Hg.), Die Geschichte der Schweiz, 430–481. 43 Siehe dazu Thomas K. Kuhn, Theologischer Transfer. Die Baur-Schule und die schweizerische Theologie im 19. Jahrhundert, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 105 (2005), 31–50. 44 Zu Strauß siehe u. a. Thomas K. Kuhn, Art. Strauß, David Friedrich, in: Theologische Realenzyklopädie 32 (2001), 241–246; zum Straußenhandel Bruno Schmid, Art. Straussenhandel, in: Historisches Lexikon der Schweiz 12 (2013), 61.Zu Biedermann siehe unten Anm. 78.

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sonsten nenne ich neben dem in Bern tätigen Eduard Zeller (1814–1908)45 vor allem den Württemberger Heinrich Lang (1826–1876)46, der als Pfarrer und als begnadeter Schriftleiter der liberalen „Zeitstimmen aus der reformirten Kirche der Schweiz“, die im Zeitraum vom 1859 bis 1883 erschienen, die religiösen und theologischen Entwicklungen in der Schweiz im Sinne des Freisinns entschieden vorangetrieben hat. Wenn man sich die Intensität der schweizerischen Auseinandersetzungen im Apostolikumstreit sowie deren kirchenpolitische Konsequenzen, die bis in unsere Gegenwart hinein die kirchliche Landschaft in der Eidgenossenschaft prägen, vor Augen führt, dann bleibt es völlig unverständlich, warum dieses Phänomen in der bundesdeutschen Forschung geflissentlich übersehen beziehungsweise nicht zur Kenntnis genommen wird. Sowohl in Monographien wie in theologischen Lexika kommen hinsichtlich des Apostolikumstreites die schweizerischen Entwicklungen nicht vor. Weder die Theologische Realenzyklopädie noch das Evangelische Kirchenlexikon oder das Lexikon Religion in Geschichte und Gegenwart erwähnen die spezifischen, wesentlich früheren und radikaleren Debatten und Entwicklungen in der Schweiz.47 Deshalb lag es nahe, während der 12. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus mit dem Themenschwerpunkt „Bekenntnis im Konflikt. Streitgeschichten im reformierten Protestantismus“ dieses gleichermaßen facetten- wie folgenreichen Stück schweizerischer Kirchengeschichte aufzugreifen.48

45 Zur Person siehe Gerald Hartung (Hg.), Eduard Zeller. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Berlin 2010. 46 Zur Person siehe Alois Emanuel Biedermann, Heinrich Lang, Zürich 1876; sowie Thomas K. Kuhn, Art. Lang, Heinrich, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 16 (1999), 933–940. 47 Vgl. Rudolf Gebhard, Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2003, 16. Er verweist auch darauf, dass die Arbeit von Georg Plasger, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000, 88–110, zwar auf den Apostolikumstreit eingeht, ihn aber wesentlich auf das Jahr 1892 reduziert. 48 Ein früherer und kürzerer Beitrag zu dieser Thematik erschien vom Verfasser dieses Aufsatzes vor gut 10 Jahren: Thomas K. Kuhn, Kirchen ohne Bekenntnis. Der schweizerische theologische Freisinn und seine Folgen, in: Jochen-Christoph Kaiser (Hg.), Vom Ertrag der neueren Kirchengeschichte für Kirche und Gesellschaft. Symposion zum 70. Geburtstag von Martin Greschat, Marburg 2008, 85–104.

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2.

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Historische Entwicklungen in der Schweiz

Schon seit den Anfängen reformierter Bekenntnisbildung wurden dreierlei Eigenschaften betont: Bekenntnisse stehen erstens „unter dem Vorbehalt der besseren Belehrung durch Schriftgründe“.49 Als zweites Merkmal gilt: „Nicht nur die spezifischen Glaubensinhalte sind aus der Schrift als norma normans herzuleiten und an ihr zu messen, sondern auch die äussere Ordnung der Kirche und ihre rechtliche Verfasstheit.“50 Drittens wurden schon von Heinrich Bullinger (1505–1575) beispielsweise die Eigenheiten der lokalen Kirchen betont.51 Diese Relativierungen der Bekenntnisse finden sich im Luthertum in dieser Weise nicht, sie wurden aber für die sich unterschiedlich gestaltenden Entwicklungen in den schweizerischen Kantonen vor allem mit Blick auf die Bekenntnisfreiheit elementar. War im Kanton Basel die Verpflichtung der Pfarrer auf das Basler Bekenntnis von 1534 obligatorisch, so wurde die Zürcher Pfarrerschaft etwa zweihundert Jahre lang, „auf keine Bekenntnisschrift förmlich verpflichtet“, weil das Apostolikum als selbstverständlich galt.52 Erst im frühen 18. Jahrhundert wurde die Verpflichtung 1714 „ohne Wissen des Zürcher Rats als Zusatz im ‚Verzeichnis der Expektanten‘, worin sich Theologen nach ihrer Ordination einzutragen hatten, eingeschmuggelt. Doch die Verpflichtung auf die ‚Consensusformel‘ [von 1675] fiel bereits 1737 wieder dahin, die auf das ‚Zweite Helvetische Bekenntnis‘ dann mit der Synodalordnung von 1803.“53

In Basel rückte das Basler Bekenntnis 1783 in den Blickpunkt. Die politischen Behörden schlugen nach der Niederlassung einiger Wiedertäuferfamilien im Kanton, die sich als überaus umgängliche Einwohner erwiesen hatten, vor, die Ausführungen im Basler Bekenntnis gegen die Wiedertäufer zu streichen. Der mit einer Stellungnahme beauftragte Basler Konvent hielt es aber nicht für angebracht, „daß an der Konfession selbst und den darinnen vorkommenden

49 Gebhard, Kirchenordnung (wie Anm. 13), 186. 50 Ebd., 188. 51 So schrieb Heinrich Bullinger im März 1536 an Oswald Myconius und Simon Grynaeus: „Dise artickel verschribner confeßion sind von unß nütt der meinung gestelt, daß sy ein einige und allgmeine christenliche gloubens form und regel allen anderen kilchen sin söllend oder daß wir yemands inn wortten vahen und in ein besondere artt zereden von hendlen des gloubens zwingen wöllind, sonder wir bekennend vor uß und ab die heiligen biblischen geschrifft für das einig und algemein richtschyt aller kilchen.“ Hans Ulrich Bächtold/Henrich, Rainer (Hg.), Heinrich Bullinger, Briefwechsel. Bd. 6: Briefe des Jahres 1536, Zürich 1995, 182. 52 Gotthard Schmid, Die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Eine Kirchenkunde für unsere Gemeindeglieder, Zürich 1954, 247. Siehe dort das Kapitel „Die Bekenntnisse der Zürcher Kirche“, 241–249. 53 Zürcher Kirchenrat, Projekt Bekenntnis (wie Anm. 25), 11.

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Ausdrücken etwas geändert werde.“54 Anlässlich des 300. Gedenkens der Schweizerischen Reformation stellte der Rat des Kantons Basel den Antrag, „daß um die Feier des Reformationsfestes heilbringender und unsern aufgeklärten Begriffen von Gott und Christenthum anpassender zu machen, die Konfession sowohl als unsere Agenden sollten aufs Neue durchgangen und besser abgefaßt werden“.55 Aber auch dieses Ansinnen blieb ohne Erfolg und das Bekenntnis unberührt. Die Hoffnung auf eine Überarbeitung des Bekenntnisses zerschlug sich ebenfalls, als es 1826 zu einer Erneuerung der Basler Agende kam. Man wünschte wiederum eine Revision der Konfession, die sich aber nur auf die schon 1783 berührten Aussagen zu den Wiedertäufern bezog. Der Kirchenrat beschäftigte sich zwar intensiv mit dem Anliegen, lehnte inhaltliche Änderungen indes erneut ab. Der Artikel zu den Wiedertäufern wurde vom Kirchenrat historisiert und die Praxis des jährlichen Vorlesens als unzweckmäßig aufgegeben. Am 22. April 1826 erfolgte ein Ratsbeschluss, nach welchem die Beibehaltung der Konfession „als eines kirchlichen Glaubensdokumentes“ aufs Neue anerkannt wurde. Auch wenn sich hinsichtlich des Textes des Basler Bekenntnisses nichts verändert hatte, so sind doch die in diesem Zusammenhang geführten grundsätzlichen Debatten von Interesse, weil hier schon die vielfältigen Fragen formuliert werden, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen wurden. Dabei ging es vor allem um die Verhältnisbestimmung vom Bekenntnis als eines geschichtlichen Denkmals zu einer sich verändernden, sich weiter entwickelnden Kirche und Theologie mit ihren neuen exegetischen Erkenntnissen und man fragte: Welche Bedeutung besitzt in diesem Spannungsfeld das Bekenntnis, in welcher Weise kann es ein normativer Text sein?56 Die konservativen Positiven sahen im Bekenntnis die Basis für die jeweilige Kirche, der 54 Karl Rudolf Hagenbach, Kritische Geschichte der Entstehung und der Schicksale der ersten Baslerkonfession und der auf sie gegründeten Kirchenlehre nebst Beilagen und einem Anhange über die Geschichte der Agenden und Katechismen in der Kirche zu Basel, Wohlfeilere Ausgabe, Basel 1857, 187f. 55 Ebd., 189. 56 Der Basler Kirchenrat antwortete in einem Gutachten wie folgt: „Indem sich nun unsre Konfession selbst dem Urtheil der h. Schrift unterwirft, ertheilt sie jedem, der sich zu ihr bekennt das Recht und macht es ihm sogar zur Pflicht, von ihr in allem demjenigen abzugehen, worin sie mit der h. Schrift im Widerspruch wäre. Sie enthält demnach die wahre Grundlage der reformirten Kirche, welche in Sachen des Glaubens die wohlerklärte h. Schrift als Norm annimmt und ist somit als Stiftungsurkunde unsrer Kirche anzusehen, wodurch wir von allen andern reformirten Kirchen als zu ihrer Gemeinschaft gehörend betrachtet werden. – Es ist also bei unsrer, so wie bei jeder protestantischen Konfession nicht sowohl darauf abgesehn, etwas aufzustellen, das zu allen Zeiten von allen Mitgliedern, die sich zu dieser Kirche bekennen, bis in alle Einzelnheiten auf die gleiche Weise angesehen werden soll, als vielmehr die Grundlage anzudeuten, welche bei der Stiftung der Kirche die Seele ihres aufwachenden Lebens und ihr unterscheidendes Merkmal waren und bei welchem sie bleiben muß, so lange sie als eine nach Gottes Wort reformirte Kirche will anerkannt werden.“; zitiert nach ebd., 190f.

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Freisinn stellte diese Haltung zusehends in Frage und sorgte damit nicht nur in Basel für große Unruhe. Aber nicht in allen Kantonen ging es gleichermaßen turbulent zu, wie zu zeigen sein wird. Ohne nun detaillierter auf die andersartigen Entwicklungen in der Westschweiz einzugehen, sollen wenigsten ein paar Hinweise dazu geben werden. Dort standen die Kämpfe um das Bekenntnis vor allem im Zusammenhang mit den aufkommenden Erweckungsbewegungen, dem sogenannten Réveil, und führten in Genf beispielsweise zu einer Kirchentrennung. Dort hatte man schon 1805 beschlossen, die Geistlichen nicht mehr die Bekenntnisschriften unterzeichnen zu lassen.57 Der rationalistisch geprägten Genfer Nationalkirche stand eine erweckte Opposition gegenüber, die für sich in Anspruch nahm, die eigentlichen Grundwahrheiten des Christentums zu vertreten.58 Deshalb machten sich Vertreter dieser oppositionellen Richtung für Bekenntnisschriften stark. Einblick in die Genfer und westschweizerischen Debatten vermittelte Johannes Schulthess (1763–1836), der seit 1816 Theologieprofessor am Zürcher Carolinum und Chorherr am Großmünster war59 und 1820 eine Textsammlung unter dem Titel „Für und wider die Bekenntnisse und Formeln der protestantischen Kirchen“ herausgegeben hatte60. Darin versammelte er widerstreitende Stellungnahmen zum Bekenntnis und bot damit für die Deutschschweiz eine Basis für die folgenden Debatten. Als grundlegende Frage für die wissenschaftliche Theologie sowie für die Verfassungen und Lehren der Kirchen nahm der von der Aufklärung geprägte Theologe das Spannungsfeld von normativen Ansprüchen eines Bekenntnisses sowie den Fortgang der theologischen Erkenntnisse und die sich daraus ergebenden Folgen für das Bekenntnis in den Blick und formulierte damit jene Aufgabenstellung, an der man sich in den folgenden knapp 55 Jahren in der Schweiz abarbeiten sollte.61 Schulthess selbst stand den Bekenntnissen ableh57 Siehe dazu Christoph Ulrich Hahn, Ueber den religiösen Zustand in den Cantonen Genf und Waadt mit Rücksicht auf die Nachricht in der Evang. Kirchen=Zeitung 1829. Nr. 6–8, in: Allgemeine Kirchen=Zeitung. Archiv für die neueste Geschichte und Statistik der christlichen Kirche nebst einer kirchenhistorischen und kirchenrechtlichen Urkundensammlung 8 (1829), 705–711; 713–717; 1273–1296; siehe auch Christoph Ulrich Hahn, Der symbolischen Bücher der evangelisch-protestantischen Kirche Bedeutung und Schicksale, Stuttgart 1833. 58 Vgl. Ulrich Gäbler, Evangelikalismus und Réveil, in: Ulrich Gäbler (Hg.), Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Geschichte des Pietismus, Bd. 3, Göttingen 2000, 27–84, hier 46. 59 Zur Person siehe Christian Moser, Art. Schulthess, Johannes, in: Historisches Lexikon der Schweiz 11 (2012), 224. 60 Johannes Schulthess (Hg.), Für und wider die Bekenntnisse und Formeln der protestantischen Kirchen. Aus dem Westen und Norden der evangelischen Schweiz, Zürich 1820. 61 Ebd., III: „Haben neuere oder ältere, neben den heiligen Schriften und über das neue Testament hinaus gegebene, Glaubens=Formeln bindende und zwingende Kraft, so daß alle und jede, wenn sie Mitglieder einer bestehenden öffentlichen Kirche seyn und bleiben wollen, das in derselben zu allerst abgefaßte Bekenntniß nebst seinen spätern Erweiterungen, Nachträ-

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nend gegenüber. Er beschrieb scharfsichtig das Problem, das sich aus persönlicher Glaubensfreiheit und der normierten öffentlichen Lehre ergab und verwies darauf, dass unter den gebildeten Theologen wohl die Mehrheit in ihren Schriften und Predigten von den Normen der Bekenntnisse abwichen.62 Der Gehorsam unter einen „despotischen Buchstaben“ eines Bekenntnisses, sei es im „Lutherthum oder Calvinismus, oder Papstthum, oder Islamismus“ diene allein und vor allem „despotischen Regierungen und Verfassungen“.63 Neben Genf kam es auch in der Waadt und in Neuenburg zu heftigen Auseinandersetzungen und zu einem Schisma, zur Gründung einer Église libre in der Mitte des Jahrhunderts. In dem Jahr, in dem die Universität Zürich David Friedrich Strauß berufen hatte, beschloss man in der Waadt nach einer 32 Stunden dauernden Großratsdebatte gegen heftigen Widerstand, die Eliminierung des Bekenntnisses, das heißt die Abschaffung der Confessio Helvetica posterior als verbindlicher Richtschnur des Glaubens und Lehre.64 Ein Argument, das auch in anderen Kantonen Karriere machen sollte, zielte auf den unleugbaren kirchlichen Pluralismus. Heterogene Kirchen – so argumentierten die Gegner des Bekenntnisses – könnten kein gemeinsames Bekenntnis haben. In der Waadt erklärte man zudem, dass das Helvetische Bekenntnis einer „ultracalvinistisch-reformierten, nicht aber einer nach dem Geist der Zeit reformierten Kirche“ angehöre.65 Mit einem knappen Stimmenmehr von 67:57 Stimmen erfolgte die Abschaffung des Helvetischen Bekenntnisses.66 Zusammenfassend kann man festhalten, „dass die Auseinandersetzungen um die Bekenntnisse in den Westschweizer Kirchen wesentlich mit der Frage der kirchlichen Lehr- und Verkündigungsfreiheit und der Problematik um das rechte Verhältnis von Kirche und Staat verbunden waren“.67 Wie aber gestalteten sich die Entwicklungen in den deutschschweizerischen Kantonen? Dieser Frage gehe ich im Folgenden nach, indem ich an ausgewählten und aussagekräftigen Beispielen zentrale Prozesse und Entscheidungen aufzeige. Dabei konzentriere ich mich auf die Entwicklungen in Zürich, Bern und Basel

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gen, Zugaben in allen Stücken unbedingt zu unterzeichnen haben, ohne von den seither gewonnenen Erfahrungen und Fortschritten in Kenntniß und Verständniß der heiligen Schriften, in theologischer Gelehrsamkeit und Einsicht, zur Berichtigung und Vervollkommnung des anfänglichen Bekenntnisses, nach bestem Wissen und Gewissen freyen Gebrauch machen zu dürfen?“ Vgl. ebd., 8f. Ebd., IX. Vgl. Klauspeter Blaser, Die Abschaffung des Glaubensbekenntnisses in der Schweiz, dargestellt am Beispiel der Waadt (1839), in: Zwingliana XV (1981), 382–396, hier 390; Rudolf Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz. Dritter Band: Von 1720 bis 1950, Zürich 1985, 251– 254. Blaser, Abschaffung (wie Anm. 64), 389. Vgl. ebd., 388–390. Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 26.

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und somit auf jene deutschschweizerischen Städte, die über Universitäten mit Theologischen Fakultäten verfügten. Die jeweiligen mentalen wie religiösen respektive theologischen Prägungen unterschieden sich in diesen Städten erheblich und prägten auch maßgeblich den Gang der Debatten. Zwei Hinweise sollen diese Differenzen illustrieren: Während Zürich 1839 David Friedrich Strauß berief, dachte man im sogenannten Frommen Basel noch darüber nach, warum das von Bengel für 1836 angekündigte Tausendjährige Reich noch nicht angekommen sei.

3.

Der Fall Biedermann

Die 1830er Jahre waren im Zürich eine überaus bewegte Zeit.68 Seit 1830 besaß der Kanton eine radikal-liberale Regierung, die alsbald eine neue Verfassung schuf und sich dabei an den Grundsätzen eines religiös neutralen Staates orientierte. In Folge dieser politischen Entwicklungen galt in Zürich seit 1831 Glaubensfreiheit69 und das Verhältnis von Kirche und Staat wurde neu geregelt. So erhielt beispielsweise die Kirchgemeinde den Status einer selbständigen Rechtsgröße. Die Kirche insgesamt aber war dem Staat untergeordnet und keinesfalls eine eigenständige Organisation. Den wiederholt geäußerten Wunsch nach einer gemischten Synode lehnte die Regierung jeweils ab, sie kam erst 1895.70 Mit Blick auf unser Thema ist hier erwähnenswert, dass die Zürcher Pfarramtskandidaten seit 1803 nicht mehr auf das Helvetische Bekenntnis ordiniert wurden. Erst 1842 verabschiedete die Synode ein neues, provisorisches Ordinationsgelübde, das aber 1854 immer noch in Gebrauch war. Die angehenden Geistlichen geloben damit, „getreu nach dem Inhalte der Schriften und nach den Grundsätzen der evangelisch-reformirten Kirche zu predigen“.71 Die Revision der Zürcher Liturgie beschränkte sich in den 1830er Jahren darauf, die Agende mit einem neuen Anhang von Festgebeten zu versehen.72 Allerdings diskutierte man zu dieser Zeit schon kontrovers über das Apostolikum, das schließlich 1838 68 Siehe zur Geschichte Zürichs: Gordon Alexander Craig, Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830–1869, München 1988; Niklaus Flüeler/Marianne Flüeler-Grauwiler (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1994, hier vor allem 153–157; sowie Hans Heinrich Schmid, Kirche im Kanton Zürich. Geschichtliche Voraussetzungen der heutigen Situation, in: Alfred Schindler (Hg.), Kirche und Staat. Bindung – Trennung – Partnerschaft. Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, Zürich 1994, 196–218, hier 203–205; ferner Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39). 69 Vgl. ebd., 195. 70 Zu den Debatten siehe ebd., 395–409. 71 Das Gelübde ist abgedruckt bei Georg Finsler, Kirchliche Statistik der reformirten Schweiz, Zürich 1854, 54. 72 Vgl. ebd., 73.

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in der Abendmahlsliturgie nur noch fakultativ vorgesehen war.73 Der eigentliche Zürcher Apostolikumstreit begann erst 16 Jahre später. Dazwischen lag in Basel ein Ereignis aus dem Jahr 1842, das in unserem Zusammenhang deshalb unbedingt erwähnenswert ist, weil es hier einerseits um den Zusammenhang von Ordination und Bekenntnis geht und andererseits, weil darin zwei Personen verwickelt waren, die für den weiteren Verlauf der theologischen Debatten in der Schweiz von zentraler Bedeutung sind. Als in den späten 1850er Jahren74 der studierte Theologe und Lehrer an der Basler Töchterschule, Franz Hörler (1816–1888), lautstark eine Revision des Basler Kirchenwesens anmahnte und dabei eine Revision des Ordinationsgelübdes forderte75, nannte er Beispiele von solchen Personen, die in jüngerer Zeit in deutlichem Widerspruch zur „kirchlichen Rechtgläubigkeit“ gestanden hätten und dennoch in Basel hatten wirken dürfen. Als erstes Beispiel erwähnte Hörler den aus Deutschland stammenden Basler Theologieprofessor Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), der „in der ganzen theologischen Welt als Rationalist“ bekannt gewesen sei und dennoch in Basel als Mitglied des Ministeriums, als Kirchenrat sowie erster Theologieprofessor habe fungieren können.76 Als zweites Beispiel führte er die Ordination zweier Theologen aus dem Jahr 1842 an, die im Vorfeld für einige Unruhe gesorgt hatte.77 Den beiden Theologiestudenten war zunächst aufgrund ihrer theologischen Haltung die Zulassung zum Examen in Basel verwehrt worden. Die mit diesem Fall verbundenen Debatten sind nicht nur für die weiteren Basler Auseinandersetzungen wichtig, sondern schließlich auch für die anderen Kantone. In neueren Darstellungen zu unserem Thema findet dieser Fall allerdings erstaunlicherweise keine Erwähnung. Bei den beiden erwähnten Kandidaten handelt es sich um Alois Emanuel Biedermann (1819–1885) und seinen damaligen Freund und späteren Schwager Christoph Johannes Riggenbach (1816–1890).78 Beide vertraten am Ende ihres

73 Vgl. Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 61. 74 Zum historischen Kontext siehe Markus Mattmüller, Das Evangelium in einer Industriestadt. Die Gründung der Basler Stadtmission (1859), in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 11 (1985), 159–172. 75 Vgl. Emil Bloesch, Geschichte der schweizerisch-reformierten Kirchen, Bd. 2, Bern 1899, 350. 76 Siehe dazu Franz Hörler, Zur Revision unseres Kirchenwesens. Entwicklung des in der Sitzung des Großen Rathes am 18. October 1858 gestellten Anzuges: „Der Kl. Rath wird eingeladen, eine Revision unseres Ordinationsgelübdes einzuleiten, in dem Sinne, daß den verschiedenen Richtungen innerhalb unserer Kirche gebührende Rechnung getragen werde“, Basel 1858, 11. 77 Vgl. ebd., 11f. 78 Zum Folgenden siehe Thomas K. Kuhn, Der junge Alois Emanuel Biedermann. Lebensweg und theologische Entwicklung bis zur „Freien Theologie“ 1819–1844, Tübingen 1997, 313– 353; ferner Thomas K. Kuhn, Alois Emanuel Biedermann (1819–1885) und die Anfänge eines theologischen Liberalismus in reformierter Tradition, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile

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Studiums eine von Hegel und Strauß geprägte spekulative Theologie. Später sollten sich ihre Wege theologisch trennen, denn Riggenbach wurde als Basler Professor zum Führer der Positiven und ein streitmächtiger Gegner des Freisinns. Biedermann hingegen kam nach einem Pfarramt im Kanton Basel-Landschaft im Jahr 1850 als Professor für Systematische Theologie nach Zürich79 und avancierte dort zum Vordenker des theologischen Freisinns und zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten Schweizer Theologen des 19. Jahrhunderts. Schon in seinem Lebenslauf, den er zur Examensanmeldung einzureichen hatte, äußerte er sich zum Verständnis von Schrift und Bekenntnis. In Anknüpfung an Ferdinand Christian Baur konnten für Biedermann dogmatische Entscheidungen der Kirche nur eine historisch bedingte Fassung des Glaubens darstellen. Als objektiv gültiger Beschluss in Form eines Bekenntnisses stünden die kirchlichen Symbole dem sich kontinuierlich entwickelnden Geist entgegen. Biedermann kritisierte zudem, dass die Kirche diese bloß historischen Lehrentscheidungen auch in der Gegenwart zu den einzig legitimen erkläre. Die Bibel konnte er zudem nicht als absolute Norm und Autorität anerkennen, da sie den christlichen Geist nicht rein als solchen enthalte, sondern in unterschiedlichen Formen des theoretischen Bewusstseins, die in ihrer Relativität und Vorläufigkeit schon längst durch die Wissenschaft erkannt worden seien. Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie sei es, den hinter den historisch bedingten biblischen Vorstellungen liegenden Begriff zu erheben.80 Mit diesen Ausführungen legte Biedermann grundsätzliche Überlegungen vor, die er später in seinem Erstlingswerk „Die Freie Theologie“81 breiter präsentieren und das für die Debatten über das Bekenntnis in den späten 1840er Jahren zentrale Bedeutung erlangen sollte. Dass der Basler Konvent, der sich aus vornehmlich positiven Pfarrern zusammensetzte, durch solche Sätze in höchstem Maße aufgeschreckt wurde, liegt auf der Hand. Vor allem provozierte Biedermanns entwicklungsgeschichtliche Deutung mit ihrer konsequenten Relativierung der Autorität von Bibel und symbolischen Schriften den Konvent zum Widerspruch. Sowohl dem Konvent wie dem Petenten musste sich die Frage stellen, wie unter diesen theologischen Voraussetzungen die Verpflichtung auf die Heilige Schrift und auf die Basler Konfession erfolgen könne. Diese Fragen stellten sich einige Jahre später erneut, als man in Basel darüber zu entscheiden

des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des Reformierten Protestantismus, Wuppertal 1999, 131–139. 79 Siehe dazu Konrad Schmid, Die Theologische Fakultät der Universität Zürich. Ihre Geschichte von 1833 bis 2015, Zürich 2016, 70–72. 80 Siehe Kuhn, Biedermann (wie Anm. 78), 318. 81 Alois Emanuel Biedermann, Die freie Theologie oder Philosophie und Christenthum in Streit und Frieden, Tübingen 1844.

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hatte, ob der Kandidat Johann Wilhelm Rumpf (1820–1876)82 ordiniert werden solle, der sich ebenfalls in radikaler Weise theologisch liberal positioniert hatte. Für Biedermann und Riggenbach sollte die ganze Angelegenheit schließlich gut ausgehen. Zwar hatte man überlegt, den aus Winterthur stammenden Biedermann nach Zürich abzuschieben oder ihn nicht zum Examen zuzulassen, doch dann suchte der Konvent das Gespräch mit den beiden Kandidaten. Nachdem sie in einer Aussprache mit dem Antistes anscheinend zufriedenstellend ihre Haltung zur Verpflichtung auf Bibel und Bekenntnis erläutert hatten, erfolgte die Zulassung zum Examen und später zur Ordination am 23. Juni 1842.83 Bei der Ordination sagten beide zu, „die Lehre des Heils nach Anleitung des Wortes Gottes und der aus demselben gezognen Basler Confession rein und lauter zu verkündigen“84. Als basellandschaftlicher Pfarrer gelobte Biedermann wenig später, „das Evangelium Jesu Christi, wie dasselbe in der heil. Schrift enthalten ist, allein nach den Grundsätzen einer, nach evangelischer Wahrheit strebenden Bibelforschung zu verkünden, einzig und allein die verfassungs- oder gesetzmäßigen Behörden des Kantons Basel-Landschaft als ihre Oberbehörden auch in kirchlichen Angelegenheiten anzuerkennen und von keinerlei, ausser dem Kanton Basel-Landschaft bestehenden Behörde irgend eine Weisung in Bezug auf die Erfüllung ihrer Amtspflichten anzunehmen – hingegen alle durch die Regierung des Kant. Basel-Landschaft angestellten Seelsorger nach besten Kräften in ihren Verrichtungen zu unterstützen“85 Zwei Jahre später erschien Biedermanns kirchenpolitische Richtungsanzeige, seine „Freie Theologie“ im Jahr 1844. Dieses Erstlingswerk des jungen Theologen, das der Zürcher Antistes Diethelm Georg Finsler (1819–1899)86 rückblickend 1881 als „eine aufsteigende Rakete, die den Aufmarsch einer neuen Streitmacht, der spekulativen Theologie“ bezeichnen sollte87, wurde nach seiner Veröffentlichung in den theologischen Debatten – beispielsweise auf den jährlichen Ver-

82 Siehe zu Rumpf: Rede gehalten bei der Beerdigung durch Hrn. Pfr. Altherr, in: Zum Andenken an Johann Wilhelm Rump beerdigt in Basel den 13. November 1876, Straßburg 1876. 83 Siehe dazu die handschriftliche „Ordinations-Handlung gehalten den 23ten Juni im Chor des Münsters“; Staatsarchiv Basel-Stadt: Kirchenarchiv 17. 84 Siehe dazu Kuhn, Biedermann (wie Anm. 78), 351. 85 Gesetz über die Beeidigung der einstweiligen Pfarrer und Pfarrverweser und die definitive Besetzung der Pfarrstellen, vom 6. December 1832, § 2, 160. 86 Zur Person siehe Georg Finsler, Diethelm Georg Finsler, der letzte Antistes der zürcherischen Kirche. Erste Hälfte. 116. Neujahrsblatt herausgegeben von der Hülfsgesellschaft in Zürich auf das Jahr 1916, Zürich 1916; sowie Rudolf Finsler, Diethelm Georg Finsler, der letzte Antistes der zürcherischen Kirche. 117. Neujahrsblatt herausgegeben von der Hülfsgesellschaft in Zürich auf das Jahr 1917, Zürich 1917. 87 Georg Finsler, Geschichte der theologisch-kirchlichen Entwicklung in der deutsch-reformierten Schweiz seit den dreissiger Jahren, Zürich 1881, 7.

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sammlungen der Predigergesellschaft – rezipiert.88 Die von Biedermann gemeinsam mit dem liberalen Theologen David Fries (1818–1875) begründete und herausgegebene Zeitschrift „Die Kirche der Gegenwart. Eine Monatsschrift für die reformirte Schweiz“, die in den Jahren 1845–1850 erschien, propagierte nicht nur den theologischen Freisinn, sondern brachte sich gleichfalls in die Debatten über das Bekenntnis ein. So äußerte sich Biedermann sogleich im ersten Jahrgang seiner Zeitschrift zum Apostolikum89, das 1844 in St. Gallen Hauptgegenstand bei den Verhandlungen der Predigerversammlung gewesen war.90 Biedermanns Monatsschrift nahm auch die Auseinandersetzungen um das Apostolikum in Deutschland wahr91 und berichtete beispielsweise über die Leipziger Debatten bezüglich des rationalistischen Glaubensbekenntnisses von Johann Georg Rosenmüller (1736–1815), das bis 1844 in Leipzig in Gebrauch gewesen war, und über die Wiedereinführung des Apostolikums.92 Von besonderem Interesse war für die zeitgenössischen Debatten über Ordination und Bekenntnis ferner die Sammlung der „Ordinations- und Synodalgelübde der reformirten Schweiz“, die David Fries in der Zeitschrift 1847 vorlegte.93 Die akademische Würdigung Biedermanns erfolgte bereits im Jahr 1850 durch den Ruf auf eine zunächst außerordentliche theologische Professur an die Zürcher Universität. In dieser Stellung nahm er sowohl unmittelbar als auch durch seine Schüler Einfluss auf die liturgischen theologischen Debatten in Zürich und 88 So beispielsweise schon 1844 auf der Versammlung der Predigergesellschaft in St. Gallen; siehe dazu Verhandlungen der schweizerisch reformirten Prediger=Gesellschaft in ihrer sechsten Jahresversammlung am 13. und 14. August 1844 in St. Gallen, St. Gallen o. J., 47, 66. 89 Vgl. Alois Emanuel Biedermann, Das apostolische Glaubensbekenntniß und die schweizerische Predigerversammlung in Zürich. (Den 23. Juli 1845.), in: Kirche der Gegenwart 1 (1845), 333–347. 90 Siehe dazu Verhandlungen (wie Anm. 88) sowie den dort abgedruckten Vortrag: Joseph Scherrer, Welches ist die principielle und faktische Stellung der schweizerisch=reformirten Kirche zu ihren Bekenntnißschriften? In wie fern können Liturgien, Katechismen und Gesangbücher dafür gelten oder sie ersetzen? Ist mehrere Gemeinsamkeit in den gegenwärtigen Bestrebungen nach Erstellung der letzern wünschenswerth und wie zu erzielen? Referat, vorgetragen in der Conferenz der Schweizerischen Prediger=Gesellschaft zu St. Gallen, am 13. Aug. 1844, in: Verhandlungen der schweizerisch reformirten Prediger=Gesellschaft (wie Anm. 88), 45–83. 91 In Deutschland trat vornehmlich der Generalsuperintendent in Gotha, der theologische Rationalist Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848) mit einigen Streitschriften gegen den Bekenntniszwang hervor. Für weitere Kritiker und den Protestantenverein sollte wichtig werden: Karl Gottlieb Bretschneider, Die Unzulässigkeit des Symbolzwangs in der evangelischen Kirche. Aus den symbolischen Büchern selbst und deren Beschaffenheit nachgewiesen für alle Freunde der Wahrheit, Leipzig 1841. Siehe dazu Jacobs, Bekenntnisverständnis (wie Anm. 21), 432f. 92 Vgl. Anonym, Der Leipziger Bekenntnißstreit, in: Kirche der Gegenwart 1 (1845), 281–289, hier 281. Dort ist das Bekenntnis abgedruckt. 93 David Fries, Die Ordinations- und Synodalgelübde der reformirten Schweiz, in: Kirche der Gegenwart 3 (1847), 88–99.

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anderen Kantonen. Um die liberalen Anliegen und Positionen offensiv verbreiten zu können, begründete Biedermann mit anderen eine weitere Zeitschrift: Die „Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz“, die im Zeitraum von 1859–1871 unter der Redaktion von Heinrich Lang erschien, kommentiere den Apostolikumstreit gewissenhaft.

4.

Wege zur Bekenntnisfreiheit

4.1

Zürich

In Zürich setzte der eigentliche und langjährige Apostolikumstreit im Jahr 1854 ein, als ein synodales Minderheitenvotum unter der Führung von Biedermann bei Diskussionen über die Revision der Liturgie die Streichung des Apostolikums bei Taufe und Abendmahl forderte.94 Da beide Handlungen schon den Charakter eines Bekenntnisses besäßen, so die Petenten, bräuchte es keine weitere Bekenntnishandlung.95 Diese Position fand zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine Mehrheit, da auch zahlreiche Reformer in der Beibehaltung des Apostolikums das kleinere und durchaus erträglichere Übel sahen. Daraufhin zogen Biedermann und seine Gefolgsleute ihren Antrag zurück. Die Synode nahm schließlich die neue Liturgie mit dem bei Taufe und Abendmahl obligatorischen Apostolikum an. Nach diesem Entscheid sollten weitere zehn Jahre verstreichen, bevor wieder Bewegung in die Debatten über das Apostolikum kam. Anlass war nun zunächst eine obrigkeitliche Initiative, die Agende zu einem umfangreicheren „Kirchenbuch“ zu erweitern, um mehr liturgische Variabilität zu ermöglichen. In Folge dieser Anregung stand auf der Zürcher Synode im September 1864 aber nicht primär das „Kirchenbuch“ zur Diskussion, sondern das Apostolikum und seine Verwendung. Die Liberalen, die eine gemeinsame Liturgie anstrebten, stießen mit ihrer Forderung, das Apostolikum wegzulassen oder freizugeben, bei den Positiven auf erheblichen Widerstand. Daraufhin beschloss die Synode, zur weiteren Klärung der Angelegenheit eine dreizehnköpfige Kommission einzu94 Zu den historischen Kontexten siehe Emidio Campi, Kirche und Theologie im Zürich des 19. Jahrhunderts, in: Emidio Campi u. a. (Hg.), Alexander Schweizer (1808–1888) und seine Zeit, Zürich 2008, 59–76; ferner Emidio Campi, Die Bekenntnisfrage in Geschichte und Gegenwart der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, in: Pierre Bühler/ Emidio Campi/Hans Jürgen Luibl (Hg.), „Freiheit im Bekenntnis“. Das Glaubensbekenntnis der Kirche in theologischer Perspektive, Zürich, Freiburg i. Br. 2000, 75–89. 95 Zur kirchlichen Situation und zur „Christlichkeit des Volkes“ siehe Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39), 81–88.

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setzen.96 Man entschied sich zweifelsohne auch deshalb für ein behutsames Vorgehen, um solche öffentlichen Proteste, wie sie der Straußenhandel 1839 hervorgerufen hatte, zu vermeiden. Antistes Finsler warnte daher davor, „den Apostolikumstreit ins Volk zu werfen“.97 Während die Kommission ihre Arbeit aufnahm, erschien von Pfarrer Friedrich Salomon Vögelin (1837–1888) aus Uster 1864 eine Predigtsammlung unter dem Titel „Gott ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Gott der Lebendigen“.98 Vögelin, der theologisch von Biedermann geprägt worden war, erregte mit dieser Veröffentlichung unter den kirchlich Rechten erbitterten Widerstand. In einer Beilage zum „Zürcher Tagblatt“ erschien eine „Offene Erklärung“ von 78 Mitgliedern des Zürcher Ministeriums, in der sie Vögelin vorwarfen, das Ansehen der Schrift zu untergraben und das Ordinationsgelübde zu brechen.99 Man forderte die kirchliche Behörde nachdrücklich auf, sich mit dem Fall zu befassen. Doch es gab auch zahlreiche Unterstützung für Vögelin. So erklärte beispielsweise Alois E. Biedermann, der Angriff gegen Vögelin gelte der freien und kritischen Theologie überhaupt.100 Es entwickelte sich ein heftiger Streit in der Presse und schließlich auf der schon erwähnten Synode, die ein Jahr später fortgesetzt wurde. Erstaunlicherweise fand der Antrag des positiven Pfarrers Johann Rudolf Wolfensbergers (1827–1883)101, der zuvor Hilfsprediger bei Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) in Elberfeld gewesen war, dass die Landeskirche Verstöße gegen das Bekenntnis verfolgen und ahnden sollte, keine Mehrheit, sondern unterlag deutlich mit 10 zu 143 Stimmen. Dieser hier nur knapp skizzierte Fall Vögelin, der durchaus als Machtprobe der unterschiedlichen kirchlich-theologischen Richtungen gelten kann, ist deswegen erwähnenswert, da er einen wegweisenden Zwischenschritt hin zur Bekenntnisfreiheit

96 Die „Zeitstimmen“ kommentierten den Verlauf der Synode kritisch und setzten sich vor allem mit der unklaren Haltung der Vermittlungstheologen auseinander; siehe Heinrich Lang, Die Herbstsynode in Zürich, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 6 (1864), 349–357; 375–383. 97 Siehe dazu Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39), 100. 98 Friedrich Salomon Vögelin, Gott ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Gott der Lebendigen. Predigten gehalten zu Uster von Weihnachten 1862 bis Pfingsten 1864, Zürich 1864. 99 Gegen diese Erklärung erhob sich breiter Widerspruch – auch aus dem konservativen Lager. Zum Fall Vögelin und zu seiner Person siehe Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39), 88–94; ferner Finsler, Geschichte (wie Anm. 87), 84–87. 100 Vgl. Alois Emanuel Biedermann, Das Glaubensbekenntniß der 78, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 7 (1865), 85–100; 109–128; Peter Schulz, Friedrich Daniel Salomon Voegelin und A. E. Biedermann, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27. April 1969, 51f. 101 Siehe zur Person Emanuel Dejung/Willy Wuhrmann (Hg.), Zürcher Pfarrerbuch, 1519–1952, Zürich 1953, 637.

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in Zürich darstellte.102 Die gerade erwähnte Ablehnung des Antrags von Wolfensberger bedeutete zwar immerhin die Freiheit der Predigt, doch zahlreiche andere in diesem Zusammenhang entstandene Probleme harrten noch ihrer Lösung. Sie sollten bei den weiteren Verhandlungen über eine neue Liturgie103 immer wieder zur Sprache kommen und von den Vertretern der unterschiedlichen theologischen Richtungen kontrovers erörtert werden. Insgesamt gesehen standen in den 1860er Jahre religiöse Fragen durchaus im Zentrum des öffentlichen Interesses, wie Äußerungen von Zeitgenossen belegen, wenn es beispielsweise heißt: „Die ganze Stadt ist in Bewegung, der Kampf in religiösen Dingen ist entbrannt.“104 Ein zentrales Thema dieser Debatten war das Verhältnis von Kirche und Staat respektive der Streit um eine „freie Kirche“, wie sie beispielsweise Heinrich Lang forderte.105 Ohne diese vielschichtigen Diskussion hier im Einzelnen nun nachzeichnen zu können, sei auf eine Stellungnahme des einflussreichen und strategisch versierten Zürcher Antistes Georg Finsler, eines Vermittlungstheologen, verwiesen. Finsler konstatierte 1867: „Die Kirche wird darauf verzichten müssen, ein bestimmt formuliertes Bekenntnis aufzustellen.“ Für ihn vertrug sich ein solches Glaubensbekenntnis nicht mit der Forderung der Glaubensfreiheit.106 Ein Jahr später kam mit der Synode im Oktober 1868 in Zürich schließlich der Apostolikumstreit an sein Ende.107 Die Zürcher Lösung des Problems sah so aus, dass in der neuen Liturgie für Taufe und

102 Zudem ist auf folgenden Aspekt hinzuweisen: „Die geistige Entscheidung, welche die demokratische Bewegung erst möglich machte, ist im Vögelinhandel gefallen, denn der Protest der 78 scheiterte nicht an der liberalen Theologie, sondern am Unglauben. Die demokratische Oppositionspresse zeigte sich dabei erstmals von einer erklärten antikirchlichen Gesinnung.“ Vgl. Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39), 104. 103 Siehe dazu beispielsweise: Entwurf einer revidirten Liturgie für die evangelisch=reformirte Kirche des Kantons Zürich. Der Ehrw. Synode vorgelegt von der liturgischen Kommission, Zürich 1866. 104 Zitiert nach Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39), 98. 105 Ebd., 377. Lang forderte zudem die Entfernung des von Pfarrern erteilten Religionsunterrichtes aus der Schule. Siehe dazu Heinrich Lang, Die religionslose Schule, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 12 (1870), 68–71; 85–87; Heinrich Lang, Der Religionsunterricht in der Volksschule, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 13 (1871), 419–421. Hinsichtlich der Frage nach einer freien Kirche waren sich die Liberalen uneins. Biedermann wollte zwar auch eine freie Kirche, verstand sie aber als Staatsanstalt; siehe dazu Thomas K. Kuhn, „Der Bankrott der Monarchie“. Alois Emanuel Biedermanns reformiertes Verständnis der Revolution von 1848/49 im Kontext zeitgenössischer Deutungsversuche, in: Zwingliana XXVI (1999), 5–22, hier 20f., ferner Streuli, Protestantismus (wie Anm. 39), 395. 106 Zitiert aus den Synodalprotokollen 1867 bei Gotthard Schmid, Die Aufhebung der Verpflichtung auf das Apostolikum in der Zürcher Kirche, in: Schweizerische Theologische Umschau 20 (1950), 83–92, hier 91. 107 Zur Synode siehe Jakob Schmid, Rückblick auf die Zürcherische Synode vom 27. und 28. October 1868, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 10 (1868), 478–480.

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Abendmahl je ein Formular mit Bekenntnis und eines ohne aufgeführt wurde.108 Bei der Konfirmation verzichtete die Liturgie auf das Apostolikum. Damit war insgesamt gesehen die Verpflichtung auf das Bekenntnis in Zürich aufgehoben.

4.2

Bern

Nicht nur in Zürich und Basel, sondern auch in Bern wurden seit den frühen 1840er Jahren immer wieder Stimmen laut, die eine freiere Handhabung der liturgischen Formulare forderten. Wie die Zürcher ihren Straußenhandel so hatten die Berner 1847 ihren sogenannten Zellerhandel, als der wie Strauß aus Württemberg stammende Eduard Zeller (1814–1908), ebenfalls von Hegel und Baur geprägt, an die Theologische Fakultät berufen wurde und die Positiven dagegen lautstark Widerspruch einlegten.109 Auch dieser Fall verdeutlicht die kontinuierlich wachsende Entfremdung zwischen theologischer Wissenschaft und kirchlicher Frömmigkeit, die sich ebenso im Streit um Ordination und Apostolikum in Bern – wie auch in Zürich – zeigen sollte. Im Gegensatz zu Basel befanden sich in Zürich und Bern in der Pfarrerschaft schon zahlreiche Anhänger des theologischen Liberalismus. Am Anfang standen wie in Zürich auch in den Kantonen Bern und Basel Personen und ihre Veröffentlichungen. Sie setzten jene Prozesse in Gang, die in den beiden Kantonen auf unterschiedlichen Wegen zur Bekenntnisfreiheit führen sollten. Im Kanton Bern110, der seit 1852 eine gemischte Synode besaß, war der Anstoß ein Buch zum Religionsunterricht von Eduard Langhans (1832– 1891), ein weiterer von der Tübinger Baur-Schule geprägter Theologe, der zunächst Religionslehrer und ab 1881 als Nachfolger seines Bruders Professor für Systematische Theologie in Bern war. Gemeinsam mit seinem Bruder Ernst Friedrich Langhans (1829–1880) und Albert Bitzius (1835–1882)111, dem Sohn des Schriftstellers Jeremias Gotthelf (1797–1854), gründete Eduard Langhans 1866 den Kirchlichen Reformverein. Im Jahr zuvor war sein „Leitfaden für den Religionsunterricht“ erschienen, mit dem er beabsichtigte, über die Lehrerbildung 108 Vgl. dazu den Entwurf einer Liturgie für die evangelisch-reformirte Kirche des Kantons Zürich. Der Ehrw. Synode vorgelegt von der liturgischen Kommission, Zürich 1868. 109 Siehe dazu: Verhandlungen des bernischen Grossen Rathes vom 24. März 1847, betreffend die Berufung des Herrn Dr. Zeller, Bern 1847; ferner Kurt Guggisberg, Der Zellerhandel in Bern, 1847, in: Zwingliana VIII/1 (1944), 24–55; Rudolf Dellsperger, Eduard Zellers Verdrängung aus der Theologie, in: Ulrich Köpf (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposion, Sigmaringen 1994, 209–225. 110 Siehe dazu die detaillierten Ausführungen von Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 100–161. 111 Vgl. Alfred Altherr, Albert Bitzius. Ein Vorbild freier Frömmigkeit, Zürich 1913.

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die historische Bibelkritik zu popularisieren.112 Die überwiegend konservative Pfarrerschaft und die zahlreichen, vom Pietismus respektive von der Erweckung beeinflussten Berner Bürger sahen in dem „Leitfaden“ einen nicht hinnehmbaren Angriff auf die Autorität der Schrift.113 Deshalb sprach sich die überwiegend konservativ ausgerichtete Synode 1866 gegen Langhans aus. Die liberale Presse bezeichnete diese Entscheidung daraufhin als „Ketzergericht“114 und verwies auf das großzügigere Vorgehen in Zürich gegenüber Vögelin. Für den weiteren Verlauf des Berner Streites um das Bekenntnis wurde in besonderer Weise Albert Bitzius wichtig, der sich 1867 in einem Referat vor dem kantonalen Pastoralverein gegen das Apostolikum ausgesprochen hatte. Denn als die mehrheitlich mit Positiven besetzte Synode gegen eine Bekenntnisfreiheit votiert hatte, vollzog Bitzius bewusst widerrechtlich eine Taufe ohne Verwendung des Apostolikums. Davon gab er umgehend dem Synodalausschuss in einem offenen Brief Kenntnis und forderte: „Ich gewärtige also ein sofortiges Einschreiten des Synodalausschusses gegen mein ordnungswidriges Verhalten.“115 Bitzius ging es dabei weniger um die eigene Person als um die Anliegen des theologischen Freisinns, dem er ein Heimatrecht in seiner Kirche erkämpfen wollte. Ihm folgend widersetzten sich weitere Gemeinden dem synodalen Beschluss. Die Frage nach dem Apostolikum erschütterte die Berner Kirche somit immer mehr. Ein Jahr nach der weithin Aufsehen erregenden Aktion von Bitzius beschloss die Synode, nachdem eine Liturgiekommission eingesetzt worden war, im Sommer 1872 eine Revision der Liturgie. Dabei sollte das Credo nicht mehr als einzig mögliches Bekenntnis gelten. Die Kommission folgte aber nicht dem Zürcher Weg mit zwei liturgischen Formularen. Vielmehr erklärte die Synode im Mai 1875: „Es ist die künftige Liturgie von vornherein als eine solche zu betrachten, bei deren Gebrauch kein bindender Zwang für die Geistlichen u. die Gemeinden stattfinden darf, sofern beide Theile darin einverstanden sind.“116 Die Berner Synode hatte sich damit eindeutig für die Bekenntnisfreiheit ausgesprochen. Den endgültigen Abschluss der ganzen Auseinandersetzungen vollzog die Synode 1877, als beschlossen wurde, das Apostolikum und die Verwendung anderer Bekenntnisse völlig freizugeben und „keine Vorschriften über den

112 Eduard Langhans, Die heilige Schrift. Ein Leitfaden für den Religionsunterricht an höhern Lehranstalten, wie auch zum Privatgebrauch für denkende Christen, Bern 1865. 113 Siehe dazu Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 105–117. 114 Heinrich Lang, Schlußerklärung über die Berner Synode, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 8 (1866), 309–320, hier 310. 115 Das Schreiben ist abgedruckt in: Pfarrer Bitzius und die Kantonssynode in Bern, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 13 (1871), 270–272. 116 Protokoll der bernischen Kantonssynode 1873–1899; Sitzung vom 19. Mai 1875; zitiert nach Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 155f.

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Einführungsmodus allfälliger neuer Bekenntnisse aufzustellen“.117 In den darauf folgenden Verhandlungen über eine revidierte Gemeinde- und Predigerordnung stand die Beschreibung des Glaubensgrundes für die Landeskirche zur Debatte. Hier fiel am Ende die Formulierung „protestantisch“ weg und wurde durch „allgemeine christliche Kirche“ ersetzt. Die bisher übliche Nennung der Confessio Helvetica wurde ersatzlos gestrichen. Mit der Verabschiedung dieser neuen Ordnung im Jahr 1880 besaß die Berner Kirche eine weitgehende Gemeindeautonomie und Bekenntnisfreiheit. In Bern wird man froh und dankbar gewesen sein, trotz der erheblichen Spannungen und Auseinandersetzungen einen gangbaren Weg gefunden zu haben. Ganz anders gestalteten sich nämlich die Entwicklungen im Kanton Thurgau, wo es zu einer einzigartigen Zuspitzung des Apostolikumstreites gekommen war.118 In diesem an den Bodensee grenzenden Kanton herrschten zeitweilig völlig andere Verhältnisse als in den anderen Kantonen, da dort der Gebrauch des Symbols vorübergehend untersagt war. Widerständige Pfarrer und Gemeinden wurden sogar unter Androhung von Disziplinierungsmaßnahmen zum Verlesen des neuen, kürzeren und dem Zeitbewusstsein angepassten Bekenntnisses gezwungen. Im Thurgau kam es im weiteren Verlauf zu einer Abspaltung einer unabhängigen Gemeinde. Eine solche Separation war in der Deutschschweiz allerdings singulär. Man betonte dort auf Seiten der Bekenntnistreuen die Gemeindeautonomie und sah in der Gemeinde, nicht in der Synode die zentrale und entscheidende Instanz. Anders argumentierten die Reformer: Für sie lag bei der Synode die Entscheidungskompetenz.119

4.3

Basel

Ähnlich wie in Bern verlief der Apostolikumstreit in Basel parallel zu den Auseinandersetzungen um die Ordination. Vergleichbar waren zudem Anlass und Beginn der Debatten. Im Jahr 1857 stand der Basler Kirchenrat vor der Frage, ob er den Kandidaten Johann Wilhelm Rumpf, der als Privatgelehrter insgesamt 13 Jahre auf der Liste der Kandidaten für das geistliche Amt gestanden hatte, ohne je ein Pfarramt versehen zu haben, streichen solle, da seine von David Friedrich Strauß beeinflussten Publikationen nicht mehr der offiziellen kirchlichen Lehre entsprächen.120 Nach erfolglos verlaufenen Gesprächen strich ihn der 117 Protokoll der bernischen Kirchensynode 1873–1899; Sitzung vom 13. November 1877; zitiert nach ebd., 158. 118 Siehe dazu ebd., 203–235. 119 Vgl. ebd., 235. 120 Rumpf hatte zunächst 1854 in Stuttgart veröffentlicht „Kirchenglaube und Erfahrung. Ergebnisse der Alterthumskunde, der Sittengeschichte, der Astronomie, Geologie und Na-

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Kirchenrat von der Liste mit dem Argument, dass er mit seinen Ansichten gegen das Ordinationsgelübde und damit gegen das damals noch geltende Basler Bekenntnis verstoße. Da Rumpf Rekurs einlegte, beauftragte der Kirchenrat die Theologische Fakultät, ein Gutachten anzufertigen.121 Dieses Gutachten stützte den kirchenrätlichen Entscheid. Beistand erhielt Rumpf, der Mitglied des Großen Rates war, von einem anderen Kandidaten, und zwar von dem schon erwähnten Franz Hörler, der zu den treibenden Kräften der Basler Reformer zählte. Er bekämpfte zunächst als Einzelner die Ordination der Basler Pfarrer auf die Basler Konfession und stellte als Mitglied des Großen Rates Mitte Oktober 1858 den Antrag122, das Ordinationsgelübde in der Weise abzuändern, dass auch freisinnige Theologen es leisten könnten. Sein Antrag scheiterte deutlich mit einem Stimmenverhältnis von 72 zu 27 Stimmen.123 Danach blieb es zwar hinsichtlich Ordination und Bekenntnisfrage zunächst ruhiger, aber der Richtungsstreit in dem Stadtkanton nahm zu und das religiöse Klima änderte sich zusehends. Als wesentliche Gründe für diesen Wandel ist neben dem rasanten Bevölkerungswachstum die daraus resultierende neue Zusammensetzung der Bevölkerung zu nennen. Der sich kirchlich lange Zeit abschließende Halbkanton Baselstadt musste sich spätestens mit dem Beitritt zum Konkordat im Jahr 1871 öffnen.124 Das Konkordat, das seit 1862 zunächst zwischen fünf reformierten Kantonen bestand,125 galt manchen Baslern wie Christoph Johannes Riggenbach beispielsweise als existentielle Gefahr für die Basler Kirche und er erklärte: „Das Concordat bedroht den christlichen Charakter unserer Kirche“, da es „das Bekenntniß unseres Glaubens rechtlich aufheben, zum wenigsten neutralisieren“

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turgeschichte“ und danach die Zeitschrift „Das freie Wort“. Über diese Schriften schrieb rückblickend Alfred Altherr, der erste liberale Basler Pfarrer, sie seien „ein grober Angriff auf die herrschende Orthodoxie, ein platter Rationalismus, in hohem Grad provozierend“; Alfred Altherr, Ein Abschiedswort an seine Gemeinde und Freunde, Zürich 1911, 4. Gutachten der theologischen Facultät an einen hochwürdigen Kirchenrath von Basel betreffend die Stillstellung des Herrn Cand. Wilh. Rumpf jünger, Basel 1857. Vgl. Hörler, Revision (wie Anm. 76). Vgl. Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 171. Sammlung der Gesetze und Beschlüsse wie auch der Polizei-Verordnungen, welche von Anfang 1869 bis Ende 1872 für den Kanton Basel-Stadt erlassen worden. Zehnter Band, Basel 1873, 364f. Siehe dazu Albert Gustav Kind, Aus der Geschichte des Konkordates betr. gegenseitige Zulassung evangelisch-reformierter Pfarrer in den Kirchendienst, in: Theologische Fakultät der Universität Basel (Hg.), Vom Wesen und Wandel der Kirche. Zum siebzigsten Geburtstag von Eberhard Vischer, Basel 1935, 275–295. Das Konkordat ermöglichte als Staatsvertrag den Pfarramts-Kandidaten, sich in allen zum Konkordat gehörenden Kantonalkirchen auf Pfarrstellen zu bewerben. Es ging um die Schaffung einer möglichst großen Freizügigkeit für die Pfarrer in der Schweiz und um gemeinsame Prüfungen. Die erste Prüfung auf Grund des Konkordates wurde im Juli 1862 abgenommen.

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würde.126 Als Hintergrund dieser Haltung ist die Angst vor dem Eindringen liberaler Pfarrer aus der Ostschweiz zu nennen, wodurch die relativ geschlossene Einheit der orthodoxen Basler Pfarrerschaft aufgebrochen würde. Wie sehr sich Basel theologisch respektive kirchlich abgeschottet hatte, belegen folgende Zahlen: Von den fünfundzwanzig neu gewählten Basler Pfarrern waren in den Jahren 1833 bis 1874 bis auf zwei Basler Bürger.127 Nach dem neuen Pfarrwahlgesetz aus dem Jahr 1874, das im Kirchenrat kontrovers diskutiert worden war,128 änderten sich diese Zahlen schlagartig: Von den in der Zeit von 1874 bis 1899 neu gewählten zweiundzwanzig Pfarrern waren nun nur noch zehn Basler, der Rest stammte aus der Ostschweiz, meist aus St. Gallen und Zürich.129 Mit dem Beitritt zum Konkordat musste das Ordinationsgelübde zwangsläufig revidiert werden – auch gegen den Widerstand der konservativen Basler Kräfte. Schon Ende Oktober 1870 hatte der Ratsherr Karl Burckhardt (1830– 1893) beim Kirchenrat beantragt, er möge „berathen, in welcher Weise das Ordinationsgelübde der Geistlichen abzuändern wäre behufs Aufhebung der Verpflichtung auf unsre Basler Confession.“130 Der Kirchenrat beschäftigte sich Anfang Dezember 1870 umgehend mit dieser Angelegenheit. In der Sitzung führte Burckhardt zunächst seinen Antrag aus, der zunächst das Basler Bekenntnis vor allem als ein historisches Zeugnis qualifizierte, um daran anschließend vorzuschlagen, in Analogie zu anderen reformierten Kantonen eine Formel für das Ordinationsgelübde zu suchen, die die Pfarrer nur „im Allgemeinen auf Lehre u. Wandel nach der Lehre Jesu Christi u. den Grundsätzen der Reformation verpflichtet würden“.131 Dieser Vorschlag rief ein geteiltes Echo hervor. Während die eine Seite des Kirchenrates das Basler Bekenntnis aufgrund problematischer Begriffe und eines Fortgangs der Theologie durch eine neue Formel ersetzen wollte, betonte die konservative Fraktion den bleibenden Wert der Konfession und hob deren besondere Milde im Vergleich mit anderen Bekenntnistexten hervor. Man forderte nach längeren Ausführungen eine Beibe-

126 Christoph Johannes Riggenbach, Zur Beleuchtung des kirchlichen Concordats. Nebst einem Anhang. Als Manuscript gedruckt, Basel 1864, 22. 127 Vgl. Markus Mattmüller, Die reformierte Basler Kirche vor den Herausforderungen der Neuzeit, in: Hans R. Guggisberg/Peter Rotach (Hg.), Ecclesia semper reformanda. Vorträge zum Basler Reformationsjubiläum 1529–1979, Basel 1980, 76–99, hier 82. 128 Siehe dazu die Protokolle des Kirchenrats, in: Staatsarchiv Basel, Kirchenarchiv D 1, 9, vom 11. Juni 1866. Hier wird deutlich, dass vornehmlich der Große Rat darauf gedrängt hatte, die Wählbarkeit sowie die Wählerschaft zu erweitern. Der Kirchenrat problematisierte die Wählbarkeit von auswärts ordinierten Pfarrern, die damit nicht auf das Basler Bekenntnis verpflichtet worden waren. 129 Vgl. Mattmüller, Die reformierte Basler Kirche (wie Anm. 127), 83. 130 Staatsarchiv Basel: Kirchenarchiv D 1, 9: Acta ecclesiastica von 25. Februar 1853–8. Juli 1880, Sitzung vom 27. Oktober 1870, 270. 131 Kirchenarchiv D 1, 9: Acta ecclesiastica, Sitzung vom 1. Dezember 1870.

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haltung.132 Doch konnte sich diese Position nicht durchsetzen. Vielmehr entfiel schließlich der Bezug auf die Basler Konfession zugunsten des Versprechens, das Evangelium zu lehren „gemäß den geschichtlich bezeugten Grundsätzen der evangelisch-reformierten Kirchen“. In der Basler Kirche blieb nach der Streichung des Basler Bekenntnisses nur noch das Credo bei der Taufe als Bekenntnis übrig. Auf dieses Bekenntnis konzentrierten sich nun die Initiativen der Reformer. Der 1866 von Hörler und Theodor Hoffmann-Merian (1819–1888)133 gegründete Kirchliche Reformverein134 reichte Anfang Februar 1871 eine Petition an den Großen Rat zur Abschaffung der obligatorischen Verpflichtung auf das Credo bei der Taufe ein.135 Zuvor war die Schrift von Franz Hörler „Fort mit dem Bekenntnißzwang“136 an alle Mitglieder des Großen Rates gegangen. Dieses politische Gremium hatte zu dieser Zeit und weiterhin bis 1874 über solche grundlegenden theologischen und kirchlichen Angelegenheiten zu entscheiden. Die gesamte Basler Pfarrerschaft 132 Die andere Seite hielt dagegen: „Möge es sein, daß in dem u. Jenem eine beßre Faßung könnte gefunden werden, so gebe die Basler Confession doch die hauptsächlichen Grundwahrheiten heiliger Schrift, auf die unsre Kirche gegründet sei; und zwar zeichne sie sich gerade vor andern Bekenntnißen durch ihre Milde aus. Die Anstöße, die ein evangelisch gesinnter Theologe daran nehmen könnte, seien kaum von der Erheblichkeit, daß sie darum dürfe beschuldiget werden, es werde durch eine Verpflichtung darauf den Gewißen wirklich Gewalt angethan. Das sei um so mehr die wirklich Sachlage, weil sie am Schluß Alles noch einmal zu beßter Belehrung dem Urtheile der Schrift unterstelle. Man dürfe doch ihre Bedeutung u. Wichtigkeit nicht nur so kurzweg fallen laßen. Sie sei das eigentliche Aktenstück, welches über die Grundlage unsrer Kirche Rede u. Antwort gebe; auf diesem Grunde fußend habe unsre Kirche ihre gute u. wohlberechtigte Stellung. Sie sei auch diesem Volk nicht so bekannt, so bilde sie doch die Grundlage unsrer Kirche und auf Grund derselben werde in ihr gelehrt und gepredigt. Es sei ein Vorzug unserer Kirche, daß wir ein Bekenntniß haben. das man annehmen könne, ohne mit den jetzt geltenden evangelischen Überzeugungen in Widerspruch gerathen zu müssen. Es sollte darum unsre Confession bei jeder Ordination ausdrücklich u. offiziell genannt u. darauf hingewiesen werden.“ Kirchenarchiv D 1, 9: Acta ecclesiastica, Sitzung vom 1. Dezember 1870. 133 Zur Person siehe Alfred Altherr, Theodor Hoffmann-Merian. Ein Lebensbild nach seinen eigenen Aufzeichnungen, Basel 1889. Hoffmann-Merian beschreibt anschaulich und selbstkritisch die Anfänge der freisinnigen Bewegung in Basel und berichtet u. a. über die Kontaktaufnahme mit Lang und Biedermann sowie über die Vorträge in der Aula der Universität. Besonders hebt er die instruktive Rolle von Hörler hervor; siehe dazu ebd., 72– 76. 134 Vgl. Bloesch, Geschichte (wie Anm. 75), 378; siehe ferner Altherr, Abschiedswort (wie Anm. 120), 4. 135 Hörler war nach dem Urteil Altherrs ein „scharfer Denker und glänzender Stilist von Lessingscher Art“. Altherr beschreibt die Vorgänge um den Antrag Hörlers; ebd., 6f. Heinrich Lang unterstützte das Anliegen, kritisierte aber, dass diese Angelegenheit vom Großen Rat behandelt wurde; Heinrich Lang, Der Reformverein in Basel, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 13 (1871), 122f. 136 Franz Hörler, Fort mit dem Bekenntnißzwang! Ein Wort zur Beleuchtung der vom kirchlichen Reformverein zu Basel an den Großen Rath gerichteten Petition für Beseitigung des apostolischen Glaubensbekenntnisses aus dem Taufgelübde, o. O. [1871].

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reagierte daraufhin im März mit einer eigenen Stellungnahme und verteidigte darin die Beibehaltung der obligatorischen Verwendung des Credos.137 Eine Antwort der Reformer ließ nicht lange auf sich warten138. Die Großratssitzungen, in denen darüber entschieden werden sollte, ob die Petition an den Kleinen Rat weitergereicht werden sollte, fanden am 1. und 2. Mai 1871 statt. Sie dauerten an den zwei Tagen insgesamt elf Stunden und waren von heftigen Debatten geprägt.139 Zudem avancierten sie zu einem medialen Ereignis, denn die Basler Nachrichten berichteten in der Zeit vom 3. bis 10. Mai 1871 täglich und mehrspaltig, prominent auf der ersten und zweiten Seite von den Sitzungen des Großen Rates. Insgesamt gesehen würde die Berichterstattung sechs großformatige Zeitungsseiten füllen.140 Diese mediale Aufmerksamkeit zeigt, welch hohen öffentlichen und politischen Stellenwert diese Debatte in Basel besaß. Mit einem relativ knappen Stimmenmehr von 63 zu 48 Stimmen überwies der Große Rat den Antrag an die Regierung.141 Diese beauftragte den Kirchenrat daraufhin im Mai 1871 mit zwei Aufgaben: Zum einen sollte die Frage des Glaubensbekenntnisses geklärt und zum anderen Vorschläge für die zukünftige Organisation der Landeskirche gemacht werden.142 Dieser entschied, die beiden Fragen getrennt zu verhandeln und holte zunächst ein Gutachten des Kapitels bezüglich des Credos ein und erstellte selbst eine Stellungnahme.143 In der Folgezeit kam es relativ rasch zu erheblichen Änderungen im städtischen Halbkanton: Am 21. Juni 1871 beschloss der Kleine Rat den Beitritt Basels zum Konkordat.144 Drei Jahre später trat das Gesetz über die Organisation der Basler Kirche145, die nun eine gemischte Synode146 besaß, sowie das neue Pfarr-

137 Vgl. dazu: Die Kirche und ihr Bekenntniß. Ein Wort der Pfarrer von Basel-Stadt an ihre Gemeinen, [Basel] [1871]. 138 Anonym, Die Bekenntnißfrage gegenüber den Basler Pfarrern. Von einem Reformfreunde, Basel 1871. Der Verfasser ist vermutlich Franz Hörler. 139 Siehe dazu Martin W. Pernet, Friedrich Nietzsche und das „Fromme Basel“, Basel 2014, 88– 96. 140 So die Basler Nachrichten vom 10. Mai 1871, 558. 141 Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 186. 142 Siehe dazu Protokolle des Kleinen Rats vom 3. Mai 1871, Staatarchiv Basel-Stadt. 143 Gutachten des Kirchenraths an den Kleinen Rath, Basel 1871; siehe dazu die Kritik von Heinrich Lang, Wieder etwas aus Basel, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 13 (1871), 367–369; sowie Franz Hörler, Die Bekenntnißfrage vor der Basler Kirchenbehörde. Erwiderung des kirchlichen Reformvereins auf die Gutachten des Kirchenrathes und des Kapitels betreffend die Geltung des sog. apostol. Glaubensbekenntnisses, Basel 1872. 144 Sammlung der Gesetze (wie Anm. 124), 364f. 145 Sammlung der Gesetze und Beschlüsse wie auch der Polizei-Verordnungen, welche von Anfang 1873 bis 30. Juni 1875 für den Kanton Basel-Stadt erlassen worden. Elfter Band, Basel 1875, 225–240. 146 Auch in rein kirchlichen Angelegenheiten unterlag die Synode einem Vetorecht des Großen Rates.

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wahlgesetz147 in Kraft. Auch wenn sich zahlreiche Pfarrer weiterhin gegen eine Änderung oder gegen die Aufhebung des Basler Bekenntnisses wehrten, stimmte der Große Rat mit 95 zu 5 Stimmen zunächst am 3. November 1873 für eine Umformulierung der Tauffrage, die nun allgemein vom christlichen Glauben sprach, und somit für eine neue Taufliturgie. Die Konservativen trösteten sich daraufhin mit der Tatsache, dass das Apostolikum noch nicht ganz aus der Liturgie verschwunden sei. In der Folgezeit kam es zu einigen öffentlichen Disputationen. Der Reformverein lud immer wieder freisinnige Pfarrer zu Vorträgen in die Aula der Universität ein.148 Zudem erlaubte der Regierungsrat dem Reformverein, in der Martinskirche drei freisinnige Pfarrer predigen zu lassen, „um jedermann Gelegenheit zu geben, sich zu überzeugen, was denn die schrecklichen Reformer für Leute wären“. Es predigten schließlich Heinrich Lang aus Zürich, Albert Bitzius aus Twann und Alfred Altherr (1842–1918) aus Rorschach.149 Der letztgenannte, Alfred Altherr, sollte schließlich der erste liberale Basler Pfarrer werden. Eine Neubesetzung war deswegen erforderlich geworden, weil der an St. Leonhard tätige Pfarrer Johann Jakob Riggenbach (1824–1908) sich geweigert hatte, die neue Formulierung in der Taufliturgie „vernehmet“ statt „bekennet“ zu verwenden. Als ihm aufgrund dieses gesetzwidrigen Verhaltens Strafmaßnahmen drohten, legte er 1874 sein Amt nieder. Das Pikante an dieser Geschichte ist weniger der Rücktritt des Pfarrers, als vielmehr die Neubesetzung der Stelle. Denn als Nachfolger des positiven Riggenbach wählte die Gemeinde am 28. Juni 1874 den eben erwähnten Liberalen Pfarrer Alfred Altherr.150 Durch das neue Pfarrwahlgesetz waren inzwischen Wahlen auswärtiger Pfarrer möglich geworden. Altherr setzte sich nach seinem Stellenantritt umgehend für größere Freiheit bei der Verwendung der Agende ein. Sein entschiedenes Engagement trug wesentlich dazu bei, dass die Synode am 14. Juni 1875 eine uneingeschränkte und vollständige Bekenntnisfreiheit beschloss. Die Pfarrer waren nun frei, das Basler Kirchenbuch zu verwenden oder es zu unterlassen.151 Mit diesem Entscheid, den 147 148 149 150

Vgl. ebd., 252–257. Siehe dazu Altherr, Hofmann-Merian (wie Anm. 133), 74f. Vgl. Altherr, Abschiedswort (wie Anm. 120), 7. Altherr wäre nach eigenen Angaben lieber nach Zürich gewechselt. Von Rorschach kam er „aus einer lieblichen Idylle voll Frieden und Segen heraus und in hinein in einen theologischen Krieg“; ebd., 8. Am 4. Oktober 1874 hielt er seine Antrittspredigt: Alfred Altherr, Antrittspredigt gehalten in der St. Leonhardskirche zu Basel den 4. October 1874, Basel 1874. 151 „Die gegenwärtig in Gebrauch stehende Agende bleibt das Kirchenbuch für die evangelischreformierte Kirche von Basel-Stadt, immerhin in dem Sinn, dass der einzelne Geistliche nicht an den Gebrauch derselben gebunden ist.“ Antrag des Kirchenrathes betreffend den Gebrauch der Agende vom 20. Mai. 1875; zitiert nach Gebhard, Bekenntnisfreiheit (wie Anm. 47), 199.

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eine mehrheitlich positive Synode getroffen hatte, war in Basel-Stadt ebenfalls der Apostolikumstreit beendet. Man hatte eine für alle Parteien irgendwie passende Lösung gefunden. Insgesamt gesehen fiel der Basler Beschluss im Vergleich mit den anderen Kantonen radikaler aus. Jeder Pfarrer hatte nun die alleinige Verantwortung für Lehre und Verkündigung. Es gab in Basel letztlich keine Entscheidungsinstanz mehr in Sachen Bekenntnisfragen. Das sah in Bern beispielsweise anders aus, wo man zunächst weiterhin eine kirchenrätliche Prüfung und Genehmigung neuer Bekenntnisse praktizierte. Das Ende des Apostolikumstreites und die Bekenntnisfreiheit änderten die kirchliche Situation in der Stadt am Rheinknie in den folgenden Jahren rasch und grundlegend. Anstelle des Parochialsystems entstanden hier klar erkennbare Gesinnungs- und Personalgemeinden. So waren beispielsweise am Basler Münster ein positiver und ein liberaler Pfarrer tätig. Und es wurde durchaus üblich, dass sich Eltern beispielsweise für die Taufe ihrer Kinder den ihnen jeweils theologisch entsprechenden Pfarrer auswählten.

5.

Schlussbemerkungen

Anhand von einigen Beispielen wurde in diesem Beitrag die Genese der Bekenntnisfreiheit in der Schweiz des 19. Jahrhunderts skizziert. Die mit diesem Prozess einhergehenden Auseinandersetzungen in Behörden, Pfarrkonventen, Synoden und Publikationen sind geradezu uferlos und konnten nicht ausführlich berücksichtigt werden. Auf die breiten theologischen Debatten, die sich in vielfältigen Publikationen niederschlugen, bin ich ebenfalls nur am Rande eingegangen. Ihre Rekonstruktion wäre ein eigenes und reizvolles Thema. Es konnte also nur darum gehen, einige Schneisen in dieses Thema zu schlagen, mit dem man sich in den einzelnen Kantonen auf unterschiedliche Weise beschäftigte. Es galt zudem deutlich zu machen, dass der Streit ums Apostolikum für die einzelnen Kantonalkirchen durchaus weitreichende Konsequenzen hatte. Am Beispiel Basels ließ sich zeigen, wie sehr dieser Streit überhaupt zu einer grundlegenden Revision des Kirchenwesens und zu einem neuen Verhältnis von Kirche und Staat führen konnte.152 Auch in anderen Kantonen erlangten die Kirchen in diesen Auseinandersetzungen größere Selbständigkeit gegenüber den Regierungen. Neben den politischen Entwicklungen – ich nenne die Stichworte Liberalismus und Demokratisierung – spielten in diesem Zusammenhang – darauf sei noch hinzuweisen – durchaus auch antirömische Affekte auf dem Weg zur Bekenntnisfreiheit eine Rolle. Die Bekenntnisfrage wurde vor dem Hintergrund 152 Zum Wandel der Basler Kirche siehe beispielsweise Altherr, Abschiedswort (wie Anm. 120).

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eines erstarkenden ultramontanen Katholizismus diskutiert.153 Die Verkündigung der Dogmen von der unbefleckten Empfängnis Mariens (1854) oder von der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870) sowie die Enzyklika Quanta cura und der beigegebene Syllabus (1864) lösten starken Widerspruch bei Liberalen und Positiven aus. Der antirömische Affekt kann deshalb möglicherweise durchaus stärker als der fundamentale Gegensatz zwischen Liberalen und Positiven gewesen sein, wie die heftigen Reaktionen in beiden Lagern auf die genannten päpstlichen Schriften zeigen.154 Deutlich wurde zudem im Streit um das Bekenntnis, dass es nicht um die Abschaffung von Bekennen und Bekenntnis gehen sollte.155 Vielmehr belegen die schweizerischen Debatten des 19. Jahrhunderts wie auch die gegenwärtigen Diskurse, dass das reformierte Bekenntnis immer ein „Referenztext und kein Glaubensdekret“ ist.156 Offen und gleichermaßen spannend bleibt die aktuelle Frage, wie sich zukünftige schweizerische Kirchenordnungen bezüglich konkreter Bekenntnisgrundlagen verhalten werden. Oder anders gefragt: Wie verhalten sich konfessionelle Identität und religiöser Markt zueinander? Oder noch einmal anders: Welches Modell erscheint zukunftsträchtiger: Kirchen ohne formulierte Bekenntnisgrundlagen oder solche wie in Deutschland mit einer präzisen Benennung? Die im 19. Jahrhundert von den Liberalen völlig zurecht aufgeworfene Frage nach Recht und Anspruch historischer Bekenntnisschriften ist auch gegenwärtig immer wieder zu stellen, soll es nicht nur bei ihrer Aufzählung in Kirchenverfassungen bleiben. Viele – wenn auch nicht alle – Gedanken und Argumente aus den Debatten des 19. Jahrhundert bleiben be- und nachdenkenswert: Sie formulieren in ihrer Radikalität bleibende Denkaufgaben.

153 Siehe dazu beispielsweise das Votum des Hrn. Pfarrer [Heinrich] Lang in Zürich über die Frage: Wie hat sich der Verein für freies Christenthum zu verhalten gegenüber der gegenwärtigen Bewegung in der katholischen Kirche?, in: Zeitstimmen aus der reformirten Schweiz 13 (1871), 262–266, der eine Koalition der liberalen Katholiken und Protestanten forderte. 154 Vgl. Campi, Bekenntnis oder Bekennen (wie Anm. 27), 55f. 155 „Man darf und muss keineswegs den Protest der Liberalen gegen das archaische Dokument als prinzipielle Stellungnahme gegen jedes Bekenntnis, geschweige denn gegen das Bekennen als Ausdruck des Glaubens interpretieren.“ Ebd., 56. 156 Krieg, Bekenntnisse (wie Anm. 29), 11.

Matthias Freudenberg

Glauben bekennen im 20. und 21. Jahrhundert Erkundungen in dünner Höhenluft

1.

Zwischen Skylla und Charybdis

Mit der dem Alpinismus entlehnten Metapher „Erkundungen in dünner Höhenluft“ soll ein Dreifaches angedeutet werden. Erstens geschieht das Bekennen des Glaubens in der Neuzeit in einer Atmosphäre, die sich als Wagnis beschreiben lässt. Bekennen will gewagt sein angesichts der Gefahr, zu zwei Seiten abzustürzen: zur Seite einer solchen Normativität des Bekennens, die den Glaubenden zeitlose Wahrheiten diktiert, die sie kaum mehr nachvollziehen und mit ihrem Leben verbinden können. Ein derartiger normativer Anspruch lässt die im Akt des Bekennens angelegte Dynamik und Lebendigkeit erstarren. Der andere problematische Umgang mit dem Bekennen besteht darin, ihm a priori seine Berechtigung abzusprechen und auf eine Freiheit vom Bekennen zu insistieren. Wo das geschieht, unterliegen die Inhalte des Glaubens bestenfalls der Relativierung und im schlechtesten Fall der Eliminierung zugunsten eines selbstkonstruierten religiösen Privatglaubens oder einer narzisstischen religiösen Selbstreferenz. Leben wir im postkonfessionellen Zeitalter? Wir befinden uns in dünner Höhenluft, wenn wir das Bekennen nicht als eine abgelöste Station der Konfessionsgeschichte historisieren, sondern nach seiner Aktualität fragen. Zweitens haftet dem reformierten Bekennen im 20. und 21. Jahrhundert gelegentlich eine aufgeheizte Dringlichkeit und manchmal auch Aufdringlichkeit an. Das trifft vor allem dann zu, wenn reformierte Kirchen sich herausgefordert sehen, einen ethischen beziehungsweise politischen status confessionis (Bekenntnisfall) zu proklamieren, wie es 1982 durch die Friedenserklärung des Moderamens des Reformierten Bundes zu den ABC-Waffen mit den Worten geschehen ist: „Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernich-

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tungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“1 Es ging damals ums Ganze. Lebhaft wurde unter Verweis auf das Christusbekenntnis über eine ethische Konfliktlage gestritten, bei der laut Moderamen nicht weniger als die Bejahung oder Verleugnung des Evangeliums beziehungsweise Jesu Christi auf dem Spiel stand. Das zieht die Frage nach sich, ob eine ethische Konfliktlage dazu geeignet ist, in den Rang einer Entscheidungsfrage über die Integrität des Evangeliums gerückt zu werden. Oder ist es so, dass das Bekennen des Glaubens spätestens seit Barmen weit über theologische Lehrfragen hinaus das bekennende Handeln umfasst? Hier ist die Höhenluft dünn. Und sie ist erst recht dünn, wenn nicht der Frieden, sondern die Weltwirtschaft, wie im AccraBekenntnis von 2004 geschehen, zum Thema des Bekennens wird. Hinzu kommt ein dritter Aspekt. Es ist riskant, zwischen der Skylla einer erstarrten Normativität und der Charybdis der Relativierung oder Infragestellung des Bekennens einen Weg anzudeuten, der etwas Zukunftsweisendes für das Bekennen verspricht. Zwei Fragen stehen im Vordergrund: Erstens: Welche Entwicklungslinien und Akzentuierungen lassen sich im Bekennen des 20. und 21. Jahrhunderts entdecken? Zweitens: Gibt es Wege zwischen Normativität und Relativierung, auf denen das Lebensdienliche des Bekennens neu entdeckt werden kann?

2.

Glauben heute bekennen?

Was Johannes Calvin als Grundlage der persönlichen Frömmigkeit und der Kirche für notwendig hielt und was Karl Barth (1886–1968) als Lebensäußerung der Gemeinden verstanden hat – nämlich den Glauben zu bekennen –, hat heute seine Selbstverständlichkeit eingebüßt.2 Wer kann ohne Einschränkung von sich behaupten, den eigenen Glauben zu bekennen? Sich zu seiner Familie, zu seinen Kindern, zu seinen Eltern, zu Freunden und Freundschaften, zu seinem Beruf, zu einem Hobby, zu einem Fußballverein zu bekennen, scheint viel selbstverständlicher zu sein. Wie aber steht es mit dem Bekennen des Glaubens? Im Herzen Europas jedenfalls scheint Bekenntnismüdigkeit eingetreten zu sein. Wie mühsam Prozesse hin zu einem Neuverständnis des Bekennens sowie einer Neubestimmung von reformierter Identität sind, zeigt das Beispiel der 1 Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche (1982), in: Marco Hofheinz/Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer/Frederike van Oorschot (Hg.), Reformiertes Bekennen heute. Bekenntnistexte der Gegenwart von Belhar bis Kappel, Neukirchen-Vluyn 2015, 99–106 (Bearb. Marco Hofheinz). 2 Vgl. zum Folgenden Matthias Freudenberg, Zuverlässige Erkenntnis. Herzliches Vertrauen. Wie Reformierte ihren Glauben bekennen, in: Margit Ernst-Habib/Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Glaubensleben. Wahrnehmungen reformierter Frömmigkeit, Solingen 2018, 83–107.

Glauben bekennen im 20. und 21. Jahrhundert

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Zürcher Evangelisch-Reformierten Landeskirche. Deren Projektgruppe „Reformierte Identität“ und das davon abgeleitete „Projekt Bekenntnis“ gehen seit 1997 der Frage nach, was es heißt, in einer postkonfessionellen und multireligiösen oder gar nichtchristlichen Epoche reformiert zu sein.3 Das einzige nennenswerte Ergebnis dieses Prozesses war – neben Sammelbänden von Ringvorlesungen – die bearbeitete Übernahme eines Gedichtes von Kurt Marti (1921–2017), das 2008 als Credo von Kappel vorgelegt wurde.4 Sich öffentlich zum eigenen Glauben zu bekennen und das Bekennen in Worte zu fassen, ist eher ein Randphänomen denn eine weit verbreitete Strömung. Es herrscht die Neigung vor, sich in Sachen des Glaubens bedeckt zu halten. Vielfach wird die Meinung vertreten, dass das Bekennen eine Festlegung auf eine bestimmte Lesart des Glaubens sei, die das freie Denken einenge und die persönliche Frömmigkeit zum Erliegen bringe, statt sie zu fördern. Diese Annahme bedarf einer kritischen Prüfung. Ist es wirklich so, dass das Bekennen die Freiheit im Glauben nimmt? Oder ist das Gegenteil der Fall? Dass im Bekennen Räume der Freiheit, sich glaubend zu artikulieren, eröffnet werden. Dass Bekenntnisse Ausdruck christlicher Freiheit sind und zum Denken und Reden über den Glauben einladen. Dass die, welche ihren Glauben bekennen, sich die Freiheit nehmen, diesem auf den Grund zu gehen und dessen Spielräume zu erkunden, um im Glauben gleichsam musikalisch zu werden.5 Christen stehen vor der Herausforderung, sprach-, aussage- und diskussionsfähig zu sein. Das gilt sowohl im Kontext eines Atheismus, der selbstbewusst sein eigenes Bekenntnis propagiert, es gäbe keinen Gott, als auch im Kontext anderer Religionen – insbesondere des Islam –, deren Mitglieder oft sehr genau sagen, was sie glauben und wozu sie sich bekennen. Wie kann plausibel gemacht werden, dass das Bekennen eine wesentliche Lebensäußerung des Glaubens ist, die ihm Lebendigkeit verleiht?

3 Vgl. Matthias Krieg, Einleitung, in: ders./Hans Jürgen Luibl (Hg.), In Freiheit Gesicht zeigen. Zur Wiederaufnahme des liturgischen Bekennens im reformierten Gottesdienst, Zürich 1999, 5; vgl. Pierre Bühler/Emidio Campi/Hans Jürgen Luibl (Hg.), „Freiheit im Bekenntnis“. Das Glaubensbekenntnis der Kirche in theologischer Perspektive, Zürich 2000; Matthias Krieg (Hg.), Reformierte Bekenntnisse. Ein Werkbuch, Zürich 2009. 4 Credo von Kappel (2008), in: Krieg (Hg.), Reformierte Bekenntnisse (wie Anm. 3), 161–166, hier 165. 5 Vgl. Jürgen Habermas, der unter Bezug auf Max Weber bekannte, er sei religiös unmusikalisch (Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001).

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3.

Matthias Freudenberg

Reformierte Kirchen sind bekennende Kirchen

Der reformierte Protestantismus zeichnet sich in seinen Anfängen durch eine signifikante Produktivität hinsichtlich seiner Bekenntnisse aus. In einer Vielzahl von Texten haben die Reformierten ihren Glauben bekannt.6 Weit über den deutschen Sprachraum hinaus steht für diesen Gedankenreichtum der Heidelberger Katechismus von 1563, der seine Kreise in die ganze Welt hinein gezogen hat. Die reformierten Kirchen sind von ihrem Selbstverständnis her bekennende Kirchen. In besonderer Weise gilt das für die Reformationszeit und die reformierte Konfessionalisierung. Damals sahen sich reformierte Christen sowie Gemeinden und Kirchen herausgefordert, ihr Verständnis des Glaubens in Worte zu fassen, die Orientierung, Erkenntnis und Trost vermittelten. Bekenntnisse wurden mindestens in doppelter Absicht geschrieben: einerseits, um sich über den Glauben Rechenschaft abzulegen; andererseits, um gegenüber anderen Kirchen und Konfessionen zu sagen, wie sich eine nach Gottes Wort reformierte Kirche selber versteht. Dieses Selbstverständnis brachte Barth 1925 auf die Formel: „Wir, hier, jetzt – bekennen dies!“7 Im Spannungsfeld von Glaubenserkenntnis und Herausforderungen der Gegenwart fragen Bekenntnisse nach der Zusage und nach dem Willen Gottes. Dadurch reizen sie nicht nur zum Nachsprechen der Texte, sondern auch zur eigenen Stellungnahme. In der reformierten Bekenntnisgeschichte gab es nach der Bekenntnisfreudigkeit der Reformations- und Nachreformationszeit einen markanten Abbruch. Die Helvetische Konsensusformel von 1675 ist einerseits der Höhepunkt der reformierten Bekenntnisbildung in der Schweiz und markiert andererseits eine Zäsur in der Bekenntnisentwicklung. Die Gründe dafür, dass es im Verlauf des 18. Jahrhunderts nur wenige Bemühungen um ein neues Bekennen in den reformierten Kirchen gab, sind vielgestaltig: Erstens nahm die Kritik an Lehrnormen zugunsten der Lehrfreiheit zu. Zweitens herrschte die Überzeugung vor, dass mit den alten Bekenntnissen das Wesentliche über den christlichen Glauben gesagt sei. Drittens verloren die Bekenntnisse ihren Charakter als Glaubensäußerung zugunsten der gehorsamen Zustimmung zur Obrigkeit, welche die konfessionelle Identität ihres Territoriums wahren wollte. So büßte in der Schweiz die Confessio Helvetica posterior von 1566 unter dem Einfluss der vernünftigen Orthodoxie ihre Bedeutung ein mit dem Resultat, dass seit 1803 die Verpflichtung auf dieses Bekenntnis in Zürich aufgegeben wurde und sodann in allen Schweizer Kantonalkirchen die Bekenntnisse sowie die Bindung an diese 6 Vgl. Matthias Freudenberg, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 117–152. 7 Holger Finze (Hg.), Karl Barth, Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekennt nisses (1925), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, Karl Barth GA III, Zürich 1990, 616.

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abgeschafft wurden.8 Weithin wurde das Bekenntnis relativiert und die Bekenntnisbindung aufgelöst. Im Streit zwischen Bekenntnisbindung und Lehrfreiheit erlahmten die Kräfte zur Neuformulierung von Bekenntnissen. Resigniert äußerte Alexander Schweizer: „Unsere Väter haben den Glauben bekannt, und wir haben Mühe, ihr Bekenntnis zu glauben.“9 An die Stelle der ursprünglichen Freiheit zum Bekenntnis trat eine Freiheit vom Bekenntnis. Die unter anderem dem Pietismus und der Aufklärung, der Abkehr von der Orthodoxie, dem theologischen Relativismus und der bürgerlichen Privatisierung des Christentums geschuldete „Bekenntnisschwäche“ (Karl Barth)10 seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ist indes nicht nur ein Schweizer Phänomen, sondern auch anderer reformierter Kirchen – mit Folgen bis heute. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde im Reformierten Weltbund die Überlegung angestellt, angesichts der Vielfalt der reformierten Kirchen und ihrer Lehrentwicklungen ein allgemeines reformiertes Glaubensbekenntnis zu entwerfen. In einer von ihm erbetenen Stellungnahme äußerte Barth sich 1925 skeptisch zu diesem Unternehmen und erinnerte an die Kriterien, die für die Abfassung eines neuen reformierten Bekenntnisses erfüllt sein müssten: „Ein reformiertes Glaubensbekenntnis ist die von einer örtlich umschriebenen christlichen Gemeinschaft spontan und öffentlich formulierte, für ihren Charakter nach außen bis auf weiteres maßgebende und für ihr eigenes Lehren und Leben bis auf weiteres richtunggebende Darstellung der der allgemeinen christlichen Kirche vorläufig geschenkten Einsicht von der allein in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung Gottes in Jesus Christus.“11

Gemessen am Grundsatz der Relativität des Bekenntnisses gegenüber Schrift und Geist war Barth zufolge ein universales reformiertes Weltbekenntnis weder wünschenswert noch möglich. Sein Votum zugunsten der Partikularität des Bekenntnisses und das Kriterium, dass eine konkrete kirchliche Herausforderung das Bekennen unausweichlich machen muss, setzte sich durch. Die neueren Bekenntnisse seit 1934 dokumentieren das aktuelle Bekennen einer Kirche vor Ort und haben ausdrücklich partikularen Charakter. Das schließt allerdings nicht aus, dass andere Kirchen sich die Aussagen etwa der Barmer Theologischen Erklärung zu eigen gemacht und ihre Bekenntnisse in ihren theologischen Spuren verfasst haben.

8 Vgl. dazu den Beitrag von Thomas K. Kuhn in diesem Band. 9 Zitiert nach Hermann Dörries, Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche, Göttingen 1949, 6f. 10 Karl Barth, Das Bekenntnis der Reformation und unser Bekennen, München 1935, 24f. 11 Barth, Wünschbarkeit und Möglichkeit (wie Anm. 7), 610.

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4.

Matthias Freudenberg

Bindung an Jesus Christus – Barmer Theologische Erklärung (1934)

Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 war der Auftakt einer neuen Phase der Bekenntnisbildung in den reformierten Kirchen. Diese strebte keine innerkonfessionelle Identitätssicherung an, sondern hatte einen überkonfessionellen Charakter. Schon das Bekenntnis der Freien reformierten Synode Barmen vom 6. Januar 1934 betonte ausdrücklich, dass die konfessionelle Selbstvergewisserung nicht auf der Tagesordnung stand. Die konfessionellen Belange dürften laut These I/3 keineswegs den „Erfordernissen des gemeinsamen evangelischen Bekennens und Handelns gegen den Irrtum und für die Wahrheit übergeordnet werden“.12 Wenige Monate später löste die Barmer Theologische Erklärung ein Charakteristikum der reformierten Theologie ein, der Suche nach theologischer Erkenntnis den Vorrang vor konfessionellen Partikularinteressen zu geben. Barth formulierte im Bekenntnis der Freien reformierten Synode Barmen die Überschrift bewusst überkonfessionell: „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse“.13 In der Erläuterung zu These I/2 erinnerte er daran, dass die Reformatoren gemeinsam „Rom und Renaissancegeist“ entgegengetreten seien.14 Und in These I/3 argumentierte er, dass angesichts der durch die Deutschen Christen angerichteten kirchlichen Verirrung ein überkonfessionelles Bekenntnis notwendig sei, und zwar „unbeschadet“ der „lutherischen, reformierten oder unierten Herkunft und Verantwortung“ der einzelnen Gemeinden.15 Im Vorwort zur Erklärung heißt es: „Lutheraner und Reformierte können und dürfen heute nicht gegeneinander, sondern sie können und müssen heute evangelisch-lutherisch und evangelisch-reformiert miteinander bekennen.“16 Für die Überzeugung, die wesentliche Einheit des Protestantismus und sein „Einverständnis des Glaubens“17 in den Vordergrund zu stellen und die alten Konfessionsunterschiede in Lehrfragen zurückzustellen, berief Barth sich auf seine eigene Konfession. Im reformierten Protestantismus werde die Vision von der einen christlichen evangelischen Kirche zum Ausdruck gebracht. Nicht konfessionelle Selbstbehauptung oder Identitätssuche, sondern

12 Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart (1934), in: Michael Beintker/Michael Hüttenhoff/Peter Zocher (Hg.), Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten (1934–1935), Karl Barth GA III, Zürich 2017, 73. 13 Ebd., 71. 14 Ebd., 72. 15 Ebd. 16 Karl Barth, Vorwort [zu Gottes Wille und unsere Wünsche] (1934), in: Beintker/Hüttenhoff/ Zocher (Hg.), Vorträge 1934–1935 (wie Anm. 12), 131. 17 Ebd., 132.

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eine gemeinsame Glaubenseinsicht trieb die Reformierten in der herausfordernden Situation des Kirchenkampfes zum Bekennen. Der theologische Bezugspunkt des Bekennens lag in der Bindung an das schöpferische Wort Gottes und Jesus Christus als Haupt der Kirche. In These II/1 ist zu lesen: „Die Kirche hat ihren Ursprung und ihr Dasein ausschließlich aus der Offenbarung, aus der Vollmacht, aus dem Trost und aus der Leitung des Wortes Gottes, das der ewige Vater durch Jesus Christus, seinen ewigen Sohn, in der Kraft des ewigen Geistes, als die Zeit erfüllt war, ein für allemal gesprochen hat.“18

An diese Einsicht hat die Barmer Theologische Erklärung angeknüpft und sich als Bekenntnisäußerung einer streitenden ecclesia militans verstanden, die der ecclesia triumphans der Deutschen Christen und deren Bekenntnissen von 1933 mit christologischer Substanz begegnete. So in These 1: „Jesus Christus […] ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“19 Kirche stand in der Entscheidung und hat sich gegen die „die Kirche verwüstende[n] und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche sprengende[n] Irrtümer der Deutschen Christen“ und zum Bekenntnis von „evangelischen Wahrheiten“ entschieden.20 Der Weg zum Bekennen von Barmen war mühsam und kompliziert – auch deshalb, weil dort erstmals seit der Reformation Unierte, Lutheraner und Reformierte ein gemeinsames Bekennen wagten. Auf diesem experimentellen Weg plädierte Barth dafür, die in allen konfessionellen Traditionen vorhandenen Wahrheitsmomente zu sichten und einer kritischen Beurteilung zu unterziehen.21 Schon früh wandte er sich gegen jede Form eines starren Konfessionalismus. Denn der Konfessionalismus, so Barth in seiner Siegener Predigt auf der Freien reformierten Synode von 1935, gleicht einem von Menschen geschaffenen Gottesbild, das es abzulehnen gelte.22 Aber auch gegenüber einer voreilig erklärten Kirchenunion hielt er die Fortsetzung des Lutherisch-Reformierten Gesprächs für den einzigen Weg zu einer legitimen theologischen Union in der Gegenwart. Das Ringen um die Wahrheit, die „geheimnisvoll einigend und trennend zwischen den beiden großen Typen

18 Karl Barth, Erklärung über das rechte Verständnis (wie Anm. 12), 73. 19 Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche (1934), in: Beintker/Hüttenhoff/Zocher (Hg.), Vorträge 1934–1935 (wie Anm. 12), 196. 20 Ebd., 295. 21 Vgl. Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Hg.), Karl Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1923, Karl Barth GA II, Zürich 1998, 314. 22 Holger Finze (Hg.), Karl Barth, Predigten 1921–1935, Zürich 1998, 428–440, hier 438.

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protestantischen Christentums steht“23, müsse fortgesetzt werden. Barth wollte dem Begriff der Union einen neuen und tieferen Sinn verleihen. In einer „Union der Sachlichkeit“ solle das interkonfessionelle Gespräch wiederaufgenommen werden. Konkret rief er auf dem Weg nach Barmen zu einer „Union zwischen den guten Lutheranern und den guten Reformierten“ auf, die sich „in einem neuen Kampfbekenntnis“ mit überkonfessionellem Charakter Ausdruck verschaffen sollte: „Die ernsthaften Fronten laufen heute wirklich durch die Grenzen der beiden überkommenen Bekenntnisse quer hindurch.“24 Dadurch bereitete Barth einen weitreichenden Erkenntnisprozess innerhalb des Protestantismus vor. Vierzig Jahre vor der Leuenberger Konkordie von 1973 plädierte er dafür, die alten Kontroversfragen zwar „als wichtige Schulfragen[, ] aber nicht als trennende Glaubensfragen zu behandeln“.25 Heute müsse in der Kirche über das erste Gebot gestritten werden.26 Die Überzeugung, angesichts der gemeinsamen Not gemeinsam reden zu müssen und auf jede konfessionelle Selbstbehauptung verzichten zu sollen, spiegelt sich in der Einleitung zur Barmer Theologischen Erklärung wider: „Gemeinsam dürfen und müssen wir als Glieder lutherischer, reformierter und unierter Kirchen heute in der Sache reden. Gerade weil wir unseren verschiedenen Bekenntnissen treu sein und bleiben wollen, dürfen wir nicht schweigen, da wir glauben, dass uns in einer Zeit gemeinsamer Not und Anfechtung ein gemeinsames Wort in den Mund gelegt ist.“27

Die Barmer Theologische Erklärung ist zum einen ein Beispiel dafür, wie ein theologisches Konzept – das Bekenntnis zu Jesus Christus und damit die Christologie – zum Leitgedanken geworden ist. Zum anderen hat die Erklärung darin Maßstäbe für das Bekennen nach Barmen gesetzt, dass vom Christusbekenntnis aus Konsequenzen für das christliche Handeln, die Gestalt und Gestaltung der Kirche, das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und den missionarischen Auftrag der Kirche gesetzt wurden. Im Wesentlichen haben zwei ethische Impulse von Barmen große Wirkung auf neuere Bekenntnisse ausgeübt: erstens der in These 2 formulierte und in Jesus Christus ergehende Anspruch Gottes auf das ganze Leben der Menschen – mit der damit verbundenen „Be23 Karl Barth, Reformierte Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe (1923), in: Finze (Hg.), Vorträge 1922–1925 (wie Anm. 7), 245. 24 Karl Barth, Abschied (1933), in: Michael Beintker/Michael Hüttenhoff/Peter Zocher (Hg.), Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, Karl Barth GA III, Zürich 2013, 510. 25 Karl Barth, Bemerkungen zum Betheler Bekenntnis, in: Beintker/Hüttenhoff/Zocher (Hg.), Vorträge 1930–1933 (wie Anm. 24), 429; vgl. Barth, Vorwort [zu Gottes Wille und unsere Wünsche] (wie Anm. 16), 133. 26 Karl Barth, Bemerkungen zum Betheler Bekenntnis, in: Beintker/Hüttenhoff/Zocher (Hg.), Vorträge 1930–1933 (wie Anm. 24), 429. 27 Theologische Erklärung (wie Anm. 19), 295.

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freiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“28 (munus regale); zweitens das in den Thesen 5 und 6 betonte Wächteramt der Kirche, die „an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ erinnert und „die Botschaft von der freien Gnade Gottes“ allem Volk auszurichten hat (munus propheticum).29 Es ist interessant zu sehen, dass die im engeren Sinne ekklesiologischen Thesen 3 und 4, denen zufolge die Gestalt der Kirche ihrer Botschaft entsprechen muss und das kollegiale Zusammenwirken der Ämter im Sinne von Diensten zu verstehen sind, weniger Aufmerksamkeit fanden.

5.

Schrei nach Gerechtigkeit – Bekenntnisse von Belhar (1986) und Accra (2004)

In den Barmer Thesen haben reformierte Kirchen in aller Welt den verbindlichen Zuspruch und Anspruch des Evangeliums für das Leben ihrer Kirchen entdeckt. In neueren Bekenntnissen finden sich vielfältige Bezüge auf die Barmer Theologische Erklärung. Diese Bekenntnisse reagieren auf aktuelle und vor allem sozialethische Herausforderungen, benennen solche, zeigen Wege des christlichen Zeugnisses auf und verstehen sich als kontextuell. Die Bekenntnisimpulse machen Ernst mit der im 16. Jahrhundert ausgesprochenen Verpflichtung, das Bekennen weiter fortzusetzen. Waren es damals Bekenntnisse europäischer Kirchen, die in andere Kontinente hineingewirkt haben, so wirken heute Bekenntnisimpulse, die wir den aus der Mission hervorgegangenen Kirchen des Südens verdanken, in die Kirchen des Nordens hinein und befördern ökumenisches Lernen. Das bekannteste Beispiel für ein durch Barmen angeregtes erneutes Bekennen ist das 1986 eingeführte Bekenntnis von Belhar in Südafrika.30 Es versteht sich als ein „Schrei aus dem Herzen“ angesichts der Apartheid und ihrer Folgen für die Gesellschaft und Kirche.31 Auch wenn die Apartheid seit 1994 ein Ende gefunden hat, bleibt dieses Bekenntnis weiterhin aktuell und ein Meilenstein der neueren Bekenntnisentwicklung. Inzwischen fand der Text als gemeinsames Bekenntnis der 1994 gegründeten Uniting Reformed Church in Southern Africa (URCSA) Anerkennung. In jüngster Zeit gibt es vor allem in Europa intensive Rezepti28 Ebd., 296. 29 Ebd., 299f. 30 Eine neuere Übersetzung aus dem Afrikaans findet sich in: Evangelisch-reformierte Kirche/ Lippische Landeskirche/Reformierter Bund in Deutschland (Hg.), Für das Recht streiten. 30 Jahre Bekenntnis von Belhar. Texte und Anregungen, Hannover 2016 (Umschlaginnenseiten). 31 Der Begleitbrief von 1982, in: Evangelisch-reformierte Kirche/Lippische Landeskirche/Reformierter Bund in Deutschland (Hg.), Für das Recht streiten (wie Anm. 30), 76f., hier 76.

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onsprozesse, bei denen sich abzeichnet, dass das Bekenntnis von Belhar künftig zu den Bekenntnisgrundlagen deutscher Landeskirchen gehören könnte.32 Eingangs (Artikel 1) wird im Bekenntnis von Belhar das Signal gegeben, dass die Begriffe „Einheit“, „Versöhnung“ und „Gerechtigkeit“ vom Bekenntnis zum Wesen Gottes her, der sich in dreifacher Hinsicht auf die Menschen, die Welt und die Kirche bezieht, zu lesen sind. Als beziehungsreiches Wesen tritt er mit den Menschen in Kontakt, begründet Gemeinschaft und begegnet ihnen als personales Gegenüber. Artikel 2 unterstreicht die Berufung der Gemeinde Jesu Christi aus dem „ganzen Menschengeschlecht“ und wehrt die Ideologie ab, dass Gottes Bund und Ruf nur einem Teil der Menschheit gelte. Sodann wird die Versöhnung der Menschen christologisch im „Versöhnungswerk Christi“ begründet und die sichtbare Einheit unterschiedlicher Menschen in der Kirche bekannt. Artikel 3 argumentiert von der in Jesus Christus vollzogenen Versöhnung her. Gott hat der Kirche die Botschaft von der Versöhnung anvertraut und macht sein Volk durch die lebensschaffende Kraft seines Wortes und Geistes bereit, in einem neuen Gehorsam zu leben. Die kulturellen und natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen dürfen ihrer Versöhnung in Jesus Christus nicht übergeordnet werden. Artikel 4 erinnert an die Gerechtigkeit Gottes, mit der er Gerechtigkeit und wahren Frieden unter die Menschen bringt. In einer Welt, deren Exzesse von Unrecht, Gewalt und Feindschaft zum Himmel schreien, ist er „in besonderer Weise der Gott der Notleidenden, der Armen und der Entrechteten“ und ruft seine Kirche auf, ihm darin nachzufolgen. Schließlich benennt Artikel 5 die prophetische Aufgabe der Kirche, im „Gehorsam gegenüber Jesus Christus“ nicht nur das über Einheit, Versöhnung und Gerechtigkeit Gesagte zu bekennen, sondern gegen alle Widerstände und Repressalien auch zu tun.33 Dem Bekenntnis ist ein Begleitbrief 34 beigegeben, in dem betont wird, dass dieser Bekenntnisakt nicht leichtfertig unternommen werden könne. Das Bekenntnis versteht sich als „Schrei aus dem Herzen“ in einer Situation, in der „das Wesen des Evangeliums selbst auf dem Spiel“ steht. Es folgt ein Schuldbekenntnis, das die Mitverantwortung für Sünde und Schuld benennt. Damit ist das Selbstverständnis des Bekenntnisses verbunden, „ein Aufruf zu anhaltender gemeinsamer Selbstprüfung“ und keine „Tat der Selbstrechtfertigung“ zu sein. Angeregt durch die Barmer Theologische Erklärung werden die Zentralthemen Einheit, Versöhnung und Gerechtigkeit christlogisch begründet und zuwiderlaufende Entwicklungen mit der Antithese „Darum verwerfen wir jede Lehre“ kategorisch abgelehnt. Das Bekenntnis von Belhar wurde zum Impulsgeber 32 Ein entsprechender Rezeptionsprozess findet derzeit in der Lippischen Landeskirche statt. 33 Vgl. Anm. 30. 34 Der Begleitbrief von 1982, in: Evangelisch-reformierte Kirche/Lippische Landeskirche/Reformierter Bund in Deutschland (Hg.), Für das Recht streiten (wie Anm. 30), 76f.

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weiterer Bekenntnisse, Erklärungen und sozialethischer Texte, die Gottes Solidarität mit den Leidenden hervorheben und die Kirchen aufrufen, für soziale und ökonomische Gerechtigkeit zu streiten. Dazu zählt das Bekenntnis von Accra, das unter dem Titel Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit 2004 veröffentlicht wurde. Darin hat die 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes die Folgen der Globalisierung einer schonungslosen Kritik unterzogen und wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit gefordert.35 Während im Hintergrund des Bekenntnisses von Belhar der status confessionis der beiden konfessionellen Weltbünde gegenüber dem Apartheidsystem stand, hat sich der Reformierte Weltbund auf der 23. Generalversammlung 1997 in Debrecen auf „einen verbindlichen Prozess der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) […] bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung“ begeben.36 Dieser Aufruf war mit der Aufgabe verbunden, „auf die Formulierung eines Glaubensbekenntnisses hinzuarbeiten, das Gerechtigkeit für den ganzen Haushalt Gottes ausdrückt, den Vorrang der Armen widerspiegelt und eine ökologisch nachhaltige Zukunft unterstützt.“37 Der zentrale Abschnitt ist in den Artikeln 15–36 ausdrücklich als „Bekenntnis des Glaubens“ betitelt: „Wir haben das Wort Bekennen/Bekenntnis (confession) gewählt, nicht im Sinne eines klassischen Lehrbekenntnisses (doctrinal confession) – denn dazu ist der Reformierte Weltbund nicht befugt –, sondern um auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer aktiven Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit […] hinzuweisen. Wir laden die Mitgliedskirchen ein, sich unser gemeinsames Zeugnis anzueignen und sich damit auseinanderzusetzen.“38

Das Bekenntnis von Accra versteht sich nicht als klassisches Lehrbekenntnis, sondern als Glaubensverpflichtung (faith commitment) und gemeinsamer Akt des Bekennens (confessing).39 Jede Mitgliedskirche soll entscheiden, wie sie sich das Bekenntnis aneignen will. Die Dringlichkeit zum Bekennen wird durch die Formulierung unterstrichen, dass „die Integrität unseres Glaubens auf dem Spiel steht, wenn wir uns gegenüber dem heute geltenden System der neoliberalen 35 Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit (2004), in: Hofheinz/zu HörsteBührer/Oorschot (Hg.), Reformiertes Bekennen (wie Anm. 1), 136–149. 36 Entschließung der Generalversammlung, in: Protokoll der 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes, Genf 1998, Bericht der Sektion II, zit. nach: Reformierter Weltbund (Hg.), Processus Confessionis. Process of recognition, education, confession and action regarding economic injustice and ecological destruction. Background papers No. 1, Genf 1998, 29. 37 Ebd. 38 Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit (2004), Art. 15, in: Hofheinz/zu Hörste-Bührer/Oorschot (Hg.), Reformiertes Bekennen (wie Anm. 1), 144. 39 Vgl. Margit Ernst-Habib, Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition, Göttingen 2017, 88.

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wirtschaftlichen Globalisierung ausschweigen oder untätig verhalten“. Es folgt der Satz: „Darum bekennen wir vor Gott und untereinander.“40 Entsprechend wird in den Artikeln 17–36 mehrfach anaphorisch die Wendung „Wir glauben“ verwendet.41 Darin entfaltet das Bekenntnis die drei Glaubensartikel im Blick auf Gottes Souveränität als Schöpfer und Erhalter (Artikel 18), Gottes Bund mit der ganzen Schöpfung, seiner Option für die Armen und seine Ökonomie der Gnade (Artikel 20) und Gottes Gerechtigkeit mit dem Ziel des Lebens in Fülle für alle (Artikel 26 und 28). Den Glaubensaussagen folgen Zurückweisungen („Darum sagen wir Nein“). Im abschließenden Teil des Bekenntnisses wird unter anderem dieses Ziel benannt: „Wir verpflichten uns, einen globalen Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit im Haushalt Gottes zu suchen.“42 Deutlich tritt zutage, dass sich die wirtschaftsethische Positionierung daran zu orientieren hat, was im Interesse der Armen beziehungsweise der Opfer der Weltwirtschaft zu tun ist. Das verbindet sich mit der ökumenisch profilierten Überlegung einer „vorrangigen Option für die Armen“, die in der Hinwendung Gottes zu den wirtschaftlich Schwachen gründet. Abschließend werden drei unterschiedliche Phasen des processus confessionis benannt, in denen sich die Mitgliedskirchen befinden, und diese aufgerufen, verbindliche Schritte bei der Rezeption des Bekenntnisses zu unternehmen und sich dem Bund für Gerechtigkeit anzuschließen (Artikel 37–42). Dieser Prozess dauert an und hat zu kontroversen Diskussionen geführt. Insbesondere um die Begriffe status confessionis und processus confessionis ist eine intensive bekenntnishermeneutische Debatte entbrannt.43 Der Begriff processus confessionis weist auf den vorläufigen und unabgeschlossenen Charakter des Bekennens im Sinne einer beginnenden Bekenntnisbildung hin, während status confessionis bereits eine abgeschlossene Bekenntnisbildung bezeichnet. Allerdings interpretieren vor allem Kirchen des Südens den Bundesschluss von Accra im Sinne eines status confessionis. Während Ulrich Duchrow für den „Bekenntnischarakter des Wirtschaftssystems“44 plädiert und hier den status confessionis auf dem Plan sieht, versteht Ulrich Möller den status confessionis als ekklesiologischen Begriff, der seine Funktion im Kampf der Kirche um ihre Einheit angesichts der Be-

40 Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit (2004), Art. 16, in: Hofheinz/zu Hörste-Bührer/Oorschot (Hg.), Reformiertes Bekennen heute (wie Anm. 1), 145. 41 Ebd., 145–147. 42 Ebd., 147. 43 Vgl. Marco Hofheinz, Processus und/oder status confessionis? Oder: Kann die Struktur der globalen Ökonomie Anlass eines Bekenntnisses sein?, in: Maren Bienert/ders./Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung, Zürich 2017, 159–185; auch in ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, Göttingen 2017, 209–235. 44 Ulrich Duchrow, Weltwirtschaft heute – ein Feld für bekennende Kirche?, München 1986, 133.

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drohung durch eine Irrlehre hat.45 Im Ergebnis sieht Möller die Gefahr, dass die Erklärung eines status confessionis den Prozess des Bekennens nicht fördert, sondern behindert – also kontraproduktiv wirkt.46 Stattdessen plädiert er dafür, einen verbindlichen Prozess des Bekennens (processus confessionis) einzuleiten, der auf Kommunikation und Dialog zielt und ein gemeinsames Sich-auf-denWeg-Machen mit dem Ziel einer pluralen Konsensbildung bedeutet. In der Inanspruchnahme eines status confessionis liegt neben der Erschwerung des Dialogs noch eine theologische Gefahr: die religiöse Legitimation der eigenen politischen Position sowie die Tendenz zur Selbstimmunisierung gegen die Argumente der Gegenseite.

6.

Überkonfessionelles Bekennen – Neues aus dem Westen

Ich lenke den Blick auf zwei Bekenntnisse, die in jüngster Zeit in unterschiedlichen kirchlichen Milieus entstanden sind: die Nouvelle Déclaration de foi der Église protestant unie de France von 2017 und das Bekenntnis Reclaiming Jesus. A Confession of Faith in a Time of Crisis aus Kirchen der Vereinigten Staaten von 2018. In der Nouvelle Déclaration de foi fällt beim Titel die Terminologie „Glaubenserklärung“ (déclaration) auf. Offenbar wollte die 2012 aus der reformierten und lutherischen Kirche Frankreichs hervorgegangene Église protestant unie einerseits auf Empfindlichkeiten der lutherischen Kirche wegen deren Bekenntnisbegriff Rücksicht nehmen; andererseits dürfte eine durch den Laizismus und die Minderheitssituation erklärbare Zurückhaltung im Raum gestanden haben, auf den Terminus „Bekenntnis“ zu verzichten. Das Selbstverständnis einer Glaubenserklärung schlägt sich in einer Mischform von beschreibenden Aussagen zum Handeln Gottes und der Kirche einerseits und bekennenden Aussagen, eingeleitet durch „Wir glauben“, andererseits nieder. Die Glaubenserklärung entfaltet in klassischen Einzelaussagen das schöpferische und erlösende Werk des dreieinigen Gottes auf dem Hintergrund einer Welt, die vom Bösen geprägt ist. Herzstück ist eine prägnante trinitarische Entfaltung des Glaubens:

45 Vgl. Ulrich Möller, Folgt dem ökumenischen Prozess des Bekennens jetzt die Feststellung des status confessionis? Standortbestimmung vor der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 2004 in Accra, in: ÖR 53 (2004), 176–189, hier 183. 46 Vgl. Ulrich Möller, Den Glauben bekennen im Zusammenhang wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, in: Ako Haarbeck (Hg.), Leidenschaft für das Recht. Briefe und Beiträge zum Kirchenrecht in der Ökumene. FS für Herbert Ehnes, Detmold 1997, 95–108, hier 107.

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Matthias Freudenberg

„Wir glauben, dass Gott in Jesus, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, das Böse auf sich genommen hat. Als Vater der Güte und Barmherzigkeit wohnt er in unserer Zerbrechlichkeit und bricht so die Macht des Todes. Er macht alles neu! Durch seinen Sohn Jesus Christus werden wir seine Kinder. Er richtet uns unablässig auf: aus der Angst zum Vertrauen, aus der Resignation zum Widerstand, aus der Verzweiflung zur Hoffnung. Der Heilige Geist macht uns frei und verantwortlich durch die Verheißung eines Lebens, das stärker ist als der Tod. Er ermutigt uns dazu, die Liebe Gottes in Worten und Taten zu bezeugen.“47

Neben Einzelaussagen zum Handeln des dreieinigen Gottes und dem Statement, dass das Reich Gottes bereits „unter uns am Werk ist“, fallen Aussagen zur christlichen Verantwortung in der Welt: „Er ruft uns auf, mit anderen, die sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen, die Nöte wahrzunehmen und die vielfältigen Übel zu bekämpfen“ – genannt werden unter anderem soziale Notlagen, Hass, Diskriminierung, Verfolgung, Gewalt, ökologische Ausbeutung der Erde, Maßlosigkeit. Die Erklärung mündet in Aussagen zu den Lebensäußerungen der Kirche als Teil der universalen Kirche. Von ihrem Charakter her ist die Glaubenserklärung nach innen gerichtet und dient als theologische Selbstverständigung einer neu gegründeten unierten Kirche. Konfessionelle Spezifika treten in den Hintergrund; reformiertes Kolorit ist vor allem in den Aussagen zur Gegenwart der Überwindung der Macht des Todes in Wirkung des auferstandenen Jesus Christus und der daraus folgenden Zeugenschaft „in Wort und Tat“ zu erkennen. Aussagen zur persönlichen Schuld, Sünde und Vergebung begegnen nicht; stattdessen wird pauschal von einer Welt des Bösen geredet. Wir wenden unseren Blick auf die andere Seite des Atlantik, auf das Bekenntnis Reclaiming Jesus. A Confession of Faith in a Time of Crisis aus Kirchen der Vereinigten Staaten von 2018. Dieses von Vertretern unterschiedlicher Kirchen – unter anderem der Reformed Church in North America – und Lehrenden der Theologie verfasste Bekenntnis („Confession of Faith“) versteht sich als eine aktuelle theologische Stimme, die auf eine besorgniserregende Entwicklung und Spaltung in der US-amerikanischen Gesellschaft reagiert. Einer der Hauptverfasser des Bekenntnisses, das in einem feierlich inszenierten Akt dem Weißen Haus im Rahmen einer Kerzenandacht übergeben wurde, ist der anglikanische

47 „Nous croyons qu’en Jésus, le Christ crucifié et ressuscité, Dieu a pris sur lui le mal. Père de bonté et de compassion, il habite notre fragilité et brise ainsi la puissance de la mort. Il fait toutes choses nouvelles! Par son Fils Jésus, nous devenons ses enfants. Il nous relève sans cesse: de la peur à la confiance, de la résignation à la résistance, du désespoir à l’espérance. L’Esprit saint nous rend libres et responsables par la promesse d’une vie plus forte que la mort. Il nous encourage à témoigner de l’amour de Dieu, en paroles et en actes.“ In: https:// www.eglise-protestante-unie.fr/actualite/nouvelle-declaration-de-foi-10061 (Abruf 17. März 2019); Übersetzung: Matthias Freudenberg.

Glauben bekennen im 20. und 21. Jahrhundert

143

Bischof Michael Curry, der als origineller Prediger bei der Hochzeit von Harry und Meghan im britischen Königshaus in Erscheinung getreten war. In formaler und inhaltlicher Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung sowie an das Bekenntnis von Belhar werden sechs Bekenntnis- und Verwerfungsabschnitte („We believe“ / „Therefore, we reject“) aneinandergereiht. Schonungslos und konkret werden die aktuellen gesellschaftlichen Zustände unter der Regierung Trump wie Verachtung der Schwächeren, Geflüchteten und Armen sowie Nationalismus und nationaler Egoismus angeprangert: „Wir haben große Sorge um die Seele unseres Landes, aber auch um unsere Kirchen und die Integrität unseres Glaubens.“48 Positiv hebt das Bekenntnis hervor: erstens die Erschaffung des Menschen zum Ebenbild Gottes (gegen Rassismus), zweitens die Gemeinschaft der Glaubenden als Leib Christi (gegen Benachteiligung einzelner), drittens die Solidarität mit den Armen in der Nachfolge Christi (gegen Ausgrenzung der Schwächsten), viertens den Wert der Wahrheit (gegen Fake News), fünftens das dienende Wesen Jesu Christi und der politischen Macht (gegen eine autokratische politische Führung) und sechstens die Ökumenizität der Kirche und Internationalität der Gesellschaft (gegen „America first“). Dem Bekenntnis gelingt es erstens, aus christologischen Aussagen Konsequenzen für das christliche Zeugnis in einer durch Spaltungen gefährdeten Gesellschaft zu ziehen. Das biblisch-theologische Fundament wird auf die Lebenssituation bezogen und daraus Schlüsse gezogen, die weit über den USamerikanischen Kontext hinaus bedenkenswert sind. Zweitens wird die Situation des Bekennens thematisiert: Nicht nur die „Seele unseres Landes“, sondern auch die „Integrität unseres Glaubens“ seien in Gefahr. Darum gelte es, „tiefer zu blicken – tiefer im Blick auf unsere Beziehung zu Gott“ und das erste Gebot und das Doppelgebot der Liebe neu zu bedenken. Weiter soll das Bekenntnis als Anleitung zum Bekennen und neuen Handeln dienen: „Wir haben es dringend nötig, in einer moralischen und politischen Krise wieder die Kraft des Bekenntnisses unseres Glaubens zu entdecken. […] Es ist Zeit für ein neues Bekenntnis unseres Glaubens.“49 Das Bekenntnis ist zum einen ein Ruf nach außen an die Gesellschaft, sich auf die christlichen Wurzeln der Nation zu besinnen. Zum anderen ist es ein Ruf nach innen, um sich den Akt und die Tragweite des Bekennens zu vergegenwärtigen.

48 „We are deeply concerned for the soul of our nation, but also for our churches and the integrity of our faith.“ In: http://reclaimingjesus.org/; Übersetzung: Marcus Tesch (Abruf: 17. März 2019). 49 „Our urgent need, in a time of moral and political crisis, is to recover the power of confessing our faith. […] It is time for a fresh confession of faith. Jesus is Lord. He is the light in our darkness.“ In: http://reclaimingjesus.org/; Übersetzung: Marcus Tesch (Abruf: 29. Oktober 2019).

144

7.

Matthias Freudenberg

„To recover the power of confessing our faith“ – Bekennen wiederentdecken

Ausgehend von Barmen zeichnen sich einige neuere Bekenntnisse durch die Streitbarkeit des bekennenden Glaubens und einen starken sozialethischen Impuls aus, der zuweilen im Gestus des prophetischen Wächteramtes vorgetragen wird. Diese Bekenntnisse unterstreichen den öffentlichen Anspruch des Evangeliums und verstehen sich als biblisch-theologisch begründete Antworten auf soziale, ökonomische und ökologische Herausforderungen. In ihrer Streitbarkeit und Anklage gegen ungerechte Strukturen provozieren solche Bekenntnisse Einverständnis und Widerspruch zugleich und stellen damit auch eine ekklesiologische Herausforderung dar. Bekenntnisse dokumentieren nicht von Grund auf eine Übereinstimmung im Glauben, sondern auch Dissens. Sie changieren zwischen der entschiedenen Haltung eines status confessionis und einem auf das Werben um Einverständnis angelegten processus confessionis. Wiederum andere Bekenntnisse stehen im Zeichen der Herstellung konfessioneller oder überkonfessioneller Identität und verstehen sich als theologische Positionsbestimmungen. Die beiden oben vorgestellten neueren Glaubensäußerungen aus Kirchen des Westens machen darauf aufmerksam, dass die Energie zum aktuellen Bekennen nicht zum Erliegen gekommen ist. Offenbar ist und bleibt das Bekennen eine elementare Lebensäußerung des Glaubens. Identität, Bekenntnis und Lebenszeugnis der Kirchen und Christen sind eng miteinander verwoben, aber ihr Zusammenhang wird unterschiedlich interpretiert.50 Das zeigt sich an der in einzelnen Bekenntnissen formulierten Überzeugung, dass die Integrität des Evangeliums und des Glaubens auf dem Spiel steht, wenn ungerechte Strukturen ohne Widerspruch hingenommen werden. Es ist zu fragen, in welchem Verhältnis solche mit prophetischem Pathos ausgestatteten Bekenntnisse zur weltweiten reformierten Identität stehen: als Ausdruck von Identität oder als Aufruf, die eigene Identität zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern?

7.1

Konfessionslos oder konfessorisch glücklich?51

Weder das Bekennen noch dessen Lebendigkeit sind vollkommen versiegt. Bei aller notwendigen Kritik an der Gesamtanlage von Bekenntnissen und an einzelnen Bekenntnisaussagen kann man sagen, dass Christen und Kirchen bezie50 Vgl. Ernst-Habib, Reformierte Identität (wie Anm. 39), 25. 51 Formuliert in Anlehnung an Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich. Auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein, Gütersloh 2013.

Glauben bekennen im 20. und 21. Jahrhundert

145

hungsweise Konfessionsgemeinschaften es weiterhin für richtig und wichtig erachten, den eigenen Glauben bzw. die ethischen Konsequenzen des Glaubens in Worte zu fassen. Sogar dort, wo Kirchen allenfalls den tradierten klassischen Bekenntnissen Orientierungskraft zutrauen und keine neuen Bekenntnisimpulse setzen, ist das Bewusstsein für die Bedeutung des Bekennens keineswegs abgebrochen. Das Bekennen ist und bleibt eine grundlegende Wesensäußerung des Glaubens, in der mit dem Satz Barths ernst gemacht wird: „Die Kirche bekennt sich zu Gott, indem sie von Gott redet.“52 Darum heißt Bekennen, in der Kirche und in der weiteren Öffentlichkeit von Gott zu reden – aus einer Notwendigkeit heraus, die dem Glauben selbst aufgegeben ist, falls er sich nicht ins Schweigen flüchten will. Ob Glück oder gar Segen aus den Bekennen erwachsen kann, zeigt sich im Vollzug, der gewagt sein will. Wo dem Bekennen Raum gegeben wird, da wird Gott in seiner Präsenz beim Namen benannt. Für das Moment der Präsenz Gottes steht sein Geist.53 An der pneumatologischen Schwäche, welche die evangelische Theologie der Neuzeit kennzeichnet, partizipieren auch die Bekenntnisse. Dass die Kirche die Gemeinschaft derer ist, in der Jesus Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig handelt54, bedarf einer erneuten Akzentuierung. Glauben bekennen heißt, sich zum Wirken des Gottesgeistes zu bekennen, der unter den Christen die neue Existenz wirkt und sie zu einem dankbaren und liebevollen Leben inspiriert.

7.2

Glauben und Leben bekennen

Gottes Geist leitet den Glauben nicht nur zu einem Anerkennen und Erkennen Gottes an, sondern bringt ihn auch dazu, ein sich äußernder und bekennender Glaube zu sein. Er gibt sich öffentlich zu erkennen und bleibt nicht nur eine nach innen gekehrte Gemüts- und Herzensangelegenheit. Er nimmt eine Haltung an, gewinnt Gestalt und zeigt eine Ausstrahlung, die andere wahrnehmen können. Der Glaube ist nicht ablösbar von einer bestimmten Haltung, einem konkreten Verhalten und einem identifizierbaren Lebensstil. Zum einen ist das Bekennen ein belehrtes und kundiges Bekennen der Inhalte des Glaubens und seines Gegenstandes, des dreieinigen Gottes. Wo dem Bekennen Raum gegeben wird, kommen die großen Themen des Glaubens in ihrer existenziellen Bedeutung zum Vorschein. Begriffe wie Versöhnung, Gnade und Vergebung haben glaubens- und lebensgesättigte Themen zum Inhalt, die dazu 52 Karl Barth, KD I/1, Zürich 1932, 1. 53 Vgl. Matthias Freudenberg, Der uns lebendig macht. Der Heilige Geist in Leben, Glaube und Kirche, Neukirchen-Vluyn 2018. 54 Vgl. These 3 der Barmer Theologischen Erklärung (1934), in: Barth, Vorträge 1934–1935 (wie Anm. 12), 297.

146

Matthias Freudenberg

anleiten, über die eigene Existenz zu reflektieren. Christen betreten einen Denkweg im Glauben, nehmen das Bekennen als Sehhilfe wahr und lenken ihre Gedanken auf eine Hoffnung, die das Alltägliche überdauert. Eine solche erfahrungsgesättigte – Erfahrung mit Gott und mit seiner geschaffenen Welt – Form des Bekennens in innovativen, frischen Formulierungen sind unseren Kirchen zu wünschen. Zum anderen ist das Bekennen ein Prozess, um in einer konkreten ethisch relevanten Situation, die um des Evangeliums willen ein christliches Zeugnis verlangt, vom Glauben aus zu argumentieren. Welche theologischen und ethischen Anliegen geben heute Anlass, gemeinsam zu bekennen? Es wird darum gehen, den Innenbezug des geistlichen Lebens – den Glauben – und seinen Außenbezug – die Verantwortung des Glaubens – miteinander in Beziehen zu setzen. Dabei eignet einer Kirche, die sich die Freiheit zum Bekennen nimmt, die Normativität eines autoritären status confessionis nur als Grenzfall. Der Normalfall wird der diskursive Charakter eines processus confessionis sein.

7.3

Relation statt Relativierung

Die Grundhaltung des Bekennens besteht darin, dass der Einzelne („Ich glaube“) beziehungsweise die Gemeinde („Wir glauben“) sich in ein Verhältnis zum dreieinigen Gott als dem Gegenstand des bekennenden Glaubens setzen. Sie antworten auf das Geschehen, dass Gott sich in der Fülle seines Handelns zu erkennen gibt. Im Bekennen begegnen Menschen dem lebendigen Gott. Auf diese existentielle Selbstvergewisserung bleibt der Glaube ein Leben lang angewiesen, um lebendig und dynamisch zu bleiben. Aus der Einsicht, dass die ganze von Gott geschaffene und bewahrte Welt für die menschliche Betätigung in ihr freigegeben ist, leitet sich die kritische Zeitgenossenschaft der Christen ab. Indem sie dankbar Gottes Liebe, Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeit bekennen, tragen sie Sorge dafür, dass die Welt ein Ort ist, an dem ein von Liebe, Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeit bestimmtes Zusammenleben möglich ist. Daher befindet sich das Bekennen in einer doppelten Relationalität: zu Gott und zur Welt als einer Wirklichkeit, die verstanden werden will. Dieser doppelten Relationalität entspricht eine Haltung des Bekennens, die Demut statt Hochmut und Rationalität statt Übereifer kultiviert.

Glauben bekennen im 20. und 21. Jahrhundert

7.4

147

Bekennen und kirchliche Identität

Im Bekennen sprechen die Glaubenden eine Wahrheit aus, die sie miteinander verbindet. Durch Wiederholung entsteht eine Einübung im Bekennen. Zugleich will das Bekannte auch verstanden werden und verlangt nach Erläuterung. Es hat ebenso einen Ort in der individuellen Frömmigkeit wie im öffentlichen Zeugnis in Wort und Tat. So gesehen ist das Bekennen ein wesentlicher Aspekt des individuellen geistlichen Lebens, der gottesdienstlichen Praxis und des öffentlichen Auftrags der Kirche. Hier ereignet es sich, dass Menschen zu einem bekennenden Leben gelangen und ihre Fantasie freigesetzt wird, dem Bekennen redend und handelnd Ausdruck zu geben. Einen hervorgehobenen Ort sollte das Bekennen im Gottesdienst haben. Es ist Fantasie notwendig, um das Bekennen erneut in den Gottesdienst zu integrieren, um es zu einem lebendigen Ausdruck des Glaubens zu machen. Vor einer kirchenstrategischen Maßnahme sei allerdings gewarnt: Man würde den Charakter des Bekennens unterlaufen, wenn man es zur Abgrenzung, zur Selbstprofilierung und zur Behauptung kirchlicher Identität funktionalisieren würde. Das ist allzu oft geschehen. Da das Bekennen ein Akt evangelischer Freiheit ist, stellt sich konfessionelle und überkonfessionelle ökumenische Identität in einem Prozess der Gelassenheit und Besonnenheit ein. Die Freiheit zum Bekennen und die Wertschätzung von Bekenntnissen als Wortmeldungen und Orientierungen in der Lehre sowie die Bekenntnisverpflichtung widersprechen sich nicht grundsätzlich – so wenig wie evangelische Freiheit und ihre Bindung sich konträr zueinander verhalten. „Our urgent need, in a time of moral and political crisis, is to recover the power of confessing our faith. […] It is time for a fresh confession of faith“: Diese Sätze aus Nordamerika sollten ein nachhaltiger Impuls sein, erstens das Bekennen in einem aufgeklärten Sinne zu kultivieren und zweitens das Wagnis neuer und frischer Bekenntnisformulierungen einzugehen.

Christian Mühling

Die europäische Debatte über den Religionskrieg1

1.

Einleitung

Der Religionskrieg ist seit den Jugoslawien-, Tschechenienkriegen und dem Krieg gegen den Terror in aller Munde; die historische Literatur zum Thema Legion.2 Offen bleibt jedoch die Frage, wie sich eine Vorstellung, ein Geschichtsbild und ein Epochensignum vom Religionskrieg etablierten. Der zeitgenössische Begriff des „Religionskriegs“ wurde erst an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert zu einem festen politischen Schlagwort, also eine Generation nach dem sogenannten Zeitalter der Religionskriege. Verantwortlich hierfür waren konfessionelle Auseinandersetzungen, in deren Zentrum die reformierten Kirchen in Europa standen. Die in Frankreich ihren Anfang nehmende Religionskriegsdiskussion wurde durch die publizistische Auseinandersetzung zwischen hugenottischen Pastoren und katholischem Klerus im Vorfeld der Revokation des Edikts von Nantes entfacht.3 Auch wenn es dabei nicht zur militärischen Auseinandersetzung kam, so bestimmte das Thema vergangener und möglicher zukünftiger Religionskriege die öffentliche Debatte. 1702 bis 1705 kam es mit dem Kamisardenaufstand dann tatsächlich zu einem letzten militärischen Konflikt zwischen Reformierten, Katholiken und der französischen Krone, der der Debatte über den

1 Die folgenden Ausführungen stellen eine Zusammenfassung der am 17. März 2019 in der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden mit dem J.F. Gerhard Goeters-Preis ausgezeichneten Dissertation Christian Mühling, Die europäische Debatte über den Religionskrieg (1679– 1714). Konfessionelle Memoria und internationale Politik im Zeitalter Ludwigs XIV., Göttingen 2018, dar. Der Autor bedankt sich für diese Ehrung herzlich beim Vorstand der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. 2 Für eine Diskussion des aktuellen Forschungsstandes vgl. Mühling, Die europäische Debatte (wie Anm. 1), 11–28. 3 Vgl. Jacques Solé, Le débat entre protestants et catholiques français de 1598 à 1685, Lille 1985.

150

Christian Mühling

Religionskrieg erneuten Auftrieb verlieh.4 Die katholischen Verfolgungsmaßnahmen führten zur Flucht von etwa einem Drittel der Hugenotten und heizten dadurch die Religionskriegsdebatte im Ausland an.5 Im Reich mischten sich französische Pamphletisten beider großer Konfessionen aktiv in die Diskussion um den Religionskrieg ein. Dort identifizierten die Protestanten die katholische Erbfolge des Hauses Neuburg in der Pfalz im Jahr 1685,6 die Rijswijker Klausel,7 die Konversion Augusts des Starken (1697–1751) von 16978 und den ungarischen Aufstand von 1703 bis 1711 als Anzeichen eines bevorstehenden Religionskrieges.9 Aus katholischer Sicht erregten die militärische Potenz der protestantischen Fürsten, deren Verbindungen zu England und den Generalstaaten, die Erhebung Hannovers zum Kurfürstentum im Jahr 1692 und Preußens zum Königreich im Jahr 1701 Schreckensphantasien, die in der Furcht vor Enteignung des Kirchenbesitzes10 und einem protestantischen Kaisertum in Folge eines neuen Religionskrieges mündeten.11

4 Vgl. David Crackanthrope, The Camisard Uprising. War and Religion in the Cévennes, Oxford 2016; W. Gregory Monahan, Let God Arise. The War and Rebellion of the Camisards, Oxford 2014. 5 Vgl. Hans Bots, L’écho de la Révocation dans les Provinces-Unies à travers les gazettes et les pamphlets, in: Roger Zuber/Laurent Theis (Hg.), La Révocation de l’Édit de Nantes et le protestantisme français en 1685, Paris 1986, 281–298; Ulrich Niggemann, Die Hugenottenverfolgung in der zeitgenössischen deutschen Publizistik (1681–1690), in: Francia 32 (2005), 59–108. 6 Vgl. Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806. Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684–1745), Bd. 2, Stuttgart 1997, 50f., 143f. 7 Zur Entstehungsgeschichte und den Debatten über die Rijswijker Klausel vgl. Armin Kohnle, Von der Rijswijker Klausel zur Religionsdeklaration von 1705. Religion und Politik in der Kurpfalz um die Wende zum 18. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 62 (2010), 155–174, hier 169. 8 Vgl. Ulrich Rosseaux, Das bedrohte Zion: Lutheraner und Katholiken in Dresden nach der Konversion Augusts des Starken (1697–1751), in: Ute Lotz-Heumann/Jan-Friedrich Mißfelder/Matthias Pohlig (Hg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2007, 212–235. 9 Zum ungarischen Aufstand vgl. Michael Hochedlinger, Austria’s wars of emergence 1683– 1797, London 2003, 154–163, 187–192. 10 Vgl. La fausse clef du cabinet des Princes de l’Europe ou Rome trahie, Osnabruk 1691 [Bibliothèque Nationale de France, G–15966], 35; Lettre d’un Ministre Catholique Deputé à la Diette de Ratisbonne, Ecrite à M. l’Evêque de, [Ratisbonne?] 1689 [Bibliothèque Nationale de France, MP–791], 1f.; Replique du Conseiller aulique. à la Lettre du Gentilhomme Liegeois. Traduite de l’Allemand, in: Lettres et reponses au sujet de la ligue d’Augsbourg et des revolutions presentes jouxte la copie. Amsterdam, Henry Desbordes, 1689 [Bibliothèque Nationale de France, M–21693], 12–20, hier 14, 17. 11 Zum Schreckgespenst des protestantischen Kaisertums vgl. Heinz Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und Altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht, Wiesbaden 1977; Gabriele Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), 445–482.

Die europäische Debatte über den Religionskrieg

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So wie den Katholiken im Reich ein Religionskrieg mit der Wahl eines protestantischen Reichsoberhauptes als Schreckensszenario vor Augen stand, so fürchteten die englischen Protestanten, ein katholischer Thronfolger könne England in einen Religionskrieg verwickeln und den englischen Protestantismus vernichten. Dementsprechend kreiste die Religionskriegsdiskussion in England seit 1679 um den Ausschluss des katholischen Thronfolgers Jakob von York (1633–1701),12 der 1685 als Jakob II. den englischen Thron bestieg. Sowohl seine Rekatholisierungspolitik als auch seine Absetzung in der Glorious Revolution 1688/1689 und seine anschließenden Versuche, den englischen Thron mit französischer Unterstützung zurückzugewinnen, wurden in der englischen Öffentlichkeit mit einem Religionskrieg assoziiert.13 Nach dem Tod Jakobs II. kam es mit dem Act of Settlement 1701 zu einem endgültigen Ausschluss katholischer Prätendenten von der Thronfolge. Die engen Verbindungen des nunmehrigen katholischen Prätendenten „Jakob III.“ (1688–1766) zu Ludwig XIV. (1638–1715) und das Schreckensszenario einer französisch-jakobitischen Invasion schürten auch in der Zukunft in England die Angst vor einem Religionskrieg.14 In England wie im Reich waren hugenottische Pamphletisten wesentliche Träger der Religionskriegsdebatte. Die Religionskriegsdebatte gewann gleichsam eine europäische Dimension, indem sie sich in allen drei Regionen maßgeblich auf die Wahrnehmung der letzten beiden großen Kriege Ludwigs XIV. auswirkte. Sowohl der Neunjährige Krieg als auch der Spanische Erbfolgekrieg wurden als Religionskriege wahrgenommen, wozu die publizistischen Kampagnen, mit denen Ludwig XIV. und die Alliierten ihre Politik rechtfertigten, maßgeblich beitrugen.

12 Zur Exclusion Crisis vgl. James Rees Jones, The first Whigs: the politics of the exclusion crisis 1678–1683. London, New York 1961; Tim Harris, London crowds in the reign of Charles II. Propaganda and politics from the Restoration until the exclusion crisis, Cambridge 1987, 96– 188. 13 Zur Publizistik anlässlich der Glorious Revolution und ihrer Folgen vgl. Tony Claydon, Protestantism, Universal Monarchy and Christendom in William’s War Propaganda, 1689– 1697, in: Esther Mijers/David Onnekink (Hg.), Redefining William III. The Impact of the King-Stadholder in International Context, Aldershot 2007, 125–142; David Onnekink, The Last War of Religion? The Dutch and the Nine Years War, in: ders. (Hg.), War and Religion after Westphalia, 1648–1713, Aldershot 2009, 69–88. 14 Vgl. Karl Tilman Winkler, Wörterkrieg. Politische Debattenkultur in England 1689–1750, Stuttgart 1998, 47, 51f., 72, 356, 359.

152

2.

Christian Mühling

Der Religionskrieg als Zeichen einer Rekonfessionalisierung der öffentlichen Debatte

Eine indifferente oder neutrale Darstellung des Religionskrieges war in der öffentlichen Debatte sehr selten und konnte nur unter erheblichem Druck publiziert werden. Sie stellte in den Augen der beiden großen Konfessionen eine verdammungswürdige Freveltat dar. Die Verurteilung und die Propagation des Religionskrieges im Zeitalter Ludwigs XIV. markierten nicht den Beginn des Prozesses der Säkularisierung. Sie waren vielmehr Bestandteil einer zutiefst religiösen Weltsicht, die sich in der ersten Phase der Konfessionalisierung zwischen dem 16. und dem Beginn des 17. Jahrhunderts ausgebildet hatte. Die in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung noch weit verbreitete Ansicht, dass die Konfession als Faktor der internationalen Beziehungen nach 1648 stark an Bedeutung verloren hätte,15 erweist sich nach Analyse der öffentlichen Debatten als problematisch. Gegen diese These spricht die Vielzahl von Veröffentlichungen über den Religionskrieg im Zeitraum von 1679–1714. Sowohl die Erinnerung als auch die tagespolitischen Debatten kreisten in diesem Zeitraum um konfessionelle militärische Auseinandersetzungen. Die Analyse der Tagespublizistik über den Religionskrieg im Zeitalter Ludwigs XIV. zeigt, dass sich die Bedeutung des Faktors Konfession in den internationalen Beziehungen nicht auf ein bestimmtes Zeitalter begrenzen lässt. Vielmehr erlebte die Bedeutung des Faktors Konfession in den internationalen Beziehungen verschiedene Konjunkturen. Ein zweiter Höhepunkt der Konfessionalisierung der öffentlichen Debatte wurde an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert erreicht, also eine Generation nach dem Ende des Zeitalters der Konfessionalisierung, das gemeinhin Mitte des 17. Jahrhunderts angesetzt wird. Analytisch kann man eine offensive, eine defensive und eine passive Verwendung des Religionskriegsbegriffs unterscheiden. Nur im katholischen Lager, vor allem in Frankreich, existierte eine positive Haltung zu einem offensiv geführten Religionskrieg zur Ausrottung der Ketzerei. Die Mehrheit der Katholiken und Protestanten aber vertrat eine defensive Haltung zum Religionskrieg, der zur Verteidigung des wahren Glaubens gegen die Anfeindungen der jeweiligen Gegenseite geführt werden sollte. Die Absicht zu einem Religionskrieg wurde jeweils dem konfessionellen Gegner unterstellt und mit dem eigenen Recht auf Notwehr und Widerstand gerechtfertigt.16 Die Protestanten lehnten grundsätzlich die Möglichkeit zur Führung eines konfessionellen Bürgerkrieges ab. Eine Minderheit forderte sogar im Falle eines Religionskrieges, der von den Katholiken ver15 So beispielsweise Martin H. Jung, Reformation und konfessionelles Zeitalter (1517–1648), Göttingen 2012. 16 Vgl. Mühling, Die europäische Debatte (wie Anm. 1), 146–193, 236–239, 248–291, 352–363.

Die europäische Debatte über den Religionskrieg

153

ursacht wurde, die passive Unterwerfung, da sie einen solchen Krieg als Strafe Gottes für ihre eigenen Sünden interpretierte.17 Sie betonten die Pflicht der protestantischen Untertanen zum Gehorsam gegenüber ihren katholischen Monarchen. Aber die Mehrheit der protestantischen Autoren fand eine andere Möglichkeit den Widerspruch zwischen dem Recht auf Notwehr und der Verpflichtung zum Gehorsam der protestantischen Untertanen aufzulösen. Sie erklärten durch ihren Widerstand die Rechte und Interessen ihrer jeweiligen katholischen Monarchen gegen die Intrigen schlechter Ratgeber und auswärtiger Mächte in Vergangenheit und Gegenwart zu verteidigen. Das war namentlich bei den Hugenotten der Fall, die sich trotz der Revokation des Edikts von Nantes auch nach 1685 mehrheitlich als zentrale Stützen des französischen Königtums ansahen.18

3.

Die Internationalisierung der Religionskriegsdebatte

Es gab einen starken Austausch der Argumentationsmuster mit dem Religionskrieg innerhalb der großen Konfessionsgemeinschaften, der nationale Grenzen verwischte. Dies hing mit der transkulturellen Rezeption der Religionskriegsmemoria zusammen. Die Diskussion über den Religionskrieg war ursprünglich als eine innerfranzösische Debatte zwischen katholischem Klerus und hugenottischen Pastoren über die historische Legitimität des Edikts von Nantes entfacht worden. Die Debatte um den Religionskrieg wurde durch die Flucht der Hugenotten in hohem Maße europäisiert. Die französische Religionskriegsmemoria wurde in Deutschland rezipiert und adaptiert, während die deutsche Religionskriegsmemoria von französischen Autoren aufgegriffen und für ihre Bedürfnisse umgestaltet wurde.19 Französische und deutsche Religionskriegsmemoria fanden auch Eingang in die historiografischen Debatten auf den britischen Inseln. Für die gesamte Publizistik zum Religionskrieg ließ sich eine starke wechselseitige Rezeption der französisch-, englisch- und deutschsprachigen Debatten feststellen. Das Französische fungierte dabei als Lingua franca zwischen dem Deutschen, Englischen und anderen europäischen Sprachen. Nationale Argumentationsmuster passierten Sprach- und Landesgrenzen und wurden auf die jeweiligen tagespolitischen Bedürfnisse vor Ort angepasst. Von besonderer Bedeutung war dabei die Stellungnahme zu den aktuellen Konflikten der internationalen Politik. Innerhalb der beiden großen Konfessionsgemeinschaften fungierte das Argument des Religionskrieges sowohl als in17 Ebd., 343–352. 18 Ebd., 146–176, 342–363. 19 Mit Quellenbelegen vgl. beispielsweise ebd., 168–176, 179f.

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Christian Mühling

tegrierender als auch konfliktfördernder Faktor. Integrierend wirkten äußere Bedrohungsszenarien, während die Frage, wer die Rolle der Führungsmacht in einem Religionskrieg übernehmen sollte, interne Konflikte verursachte. Die Angleichung konfessioneller Argumentationsmuster über Sprach- und Landesgrenzen hinaus war bei protestantischen Autoren deutlich stärker ausgeprägt als bei den Katholiken. Bei letzteren wurde trotz einer gemeinsamen Religionskriegsmemoria der Gegensatz zwischen Bourbon und Habsburg immer deutlicher und verhinderte nicht nur politisch, sondern auch ideell, eine dauerhafte gemeinsame Frontstellung gegen den Protestantismus. Hierdurch entstand eine überkonfessionelle europäische Religionskriegsmemoria. Diese führte zur Genese eines Epochensignums und eines Geschichtsbildes vom Religionskrieg.

4.

Genese von Epochensignum und Geschichtsbild des Religionskrieges

Einerseits begann sich der Religionskriegsbegriff im Betrachtungszeitraum zu verdichten, andererseits wurde er durch eine besonders große Mehrdeutigkeit charakterisiert. Die Historiografie stellte ein unerschöpfliches ideelles Reservoir für die Debatten der Tagespublizistik über einen Religionskrieg zur Verfügung. Die Zahl mit einem Religionskrieg in Verbindung gebrachter historischer Ereignisse war enorm und ließ sich allenfalls in starke und schwache Erzählstränge unterteilen. Der Religionskrieg fungierte als Begriff, der weitgehend beliebig gefüllt werden konnte. Er war gleichzeitig konfessionell determiniert und konfessionsübergreifend austauschbar. Protestantische Religionskriegsdeutungen waren relativ einheitlich, die katholische Religionskriegsdiskussion hingegen weit heterogener. Während der Katholizismus ein großes Gewicht auf die Tradition des Krieges gegen den Islam legte und seine Religionskriegsmemoria zunächst auf die mittelalterlichen Ketzerkreuzzüge rekurrierte, erinnerte die protestantische Historiografie vor allem an die konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als den Religionskriegen schlechthin. Diese Sichtweise begann sich aufgrund der Dominanz protestantischer Geschichtsschreibung auch im Katholizismus durchzusetzen. Er sah sich genötigt, gegen protestantische Anschuldigungen Stellung zu beziehen und deshalb, wenn auch nur ex negativo, die protestantische Argumentation aufzunehmen. Ein vorherrschendes Bild vom Religionskrieg konnte sich erst in den öffentlichen Debatten um 1700 entwickeln und durchsetzen, ohne randständige Auslegungen vollständig in die Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen. Diese schufen viel-

Die europäische Debatte über den Religionskrieg

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mehr ein ideelles Reservoir für die weitere Entwicklung der modernen Religionskriegsvorstellung. Die europäische Religionskriegsmemoria überwand erst in ihrer tagespolitischen Aktualisierung konfessionelle Grenzen. Während die Geschichtsschreibung Religionskriegsexempla für die Tagespublizistik bot, schuf die Tagespublizistik eine dauerhaft wirksame Memoria des Religionskrieges. Erst in der Aktualisierung der heterogenen Religionskriegsmemoria in den politischen Debatten der Gegenwart des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts entwickelte sich unsere heutige Vorstellung vom Religionskrieg, die den Begriff für ganz bestimmte kriegerische Auseinandersetzungen wie den Schmalkaldischen Krieg, die französischen Bürgerkriege des 16. und frühen 17. Jahrhunderts oder den Dreißigjährigen Krieg20 reserviert wissen will. Auf diese Weise bestimmen die Debatten aus der Zeit Ludwigs XIV. noch heute maßgeblich unser Bild von den Religionskriegen. Protestantische Autoren zogen die tatsächliche religiöse Begründung eines Krieges in Zweifel und beschuldigten in Historiografie und Tagespublizistik den katholischen Klerus, die Religionskriege zur Mehrung seiner eigenen Macht verursacht zu haben. Diese Anschuldigung wurde im Verlauf der letzten beiden großen Kriege Ludwigs XIV. zunehmend auf den französischen König übertragen. Beleg für diese Anschuldigung stellten in ihren Augen das Streben Frankreichs nach der Universalmonarchie und sein fiktives Bündnis mit dem türkischen Sultan dar.21 Als säkularer Vorwurf eignete sich diese Anschuldigung, protestantische und katholische Alliierte im Kampf gegen Ludwig XIV. zu vereinigen. Die katholischen Gegner Frankreichs griffen protestantische Argumentationsmuster auf. Die protestantische Toleranzdebatte und die interkonfessionellen Argumentationsmuster der Wiener Großen und der Haager Großen Allianz trugen so zu einer überkonfessionellen Tabuisierung religiös begründeter Kriegsführung bei, die als Vorwand zur Erlangung weltlicher Ziele diffamiert wurde. Der Religionskrieg war vollends zum Negativbegriff geworden.

20 Zum Dreißigjährigen Krieg vgl. dezidiert Christian Mühling, Wie der Dreißigjährige Krieg zum Religionskrieg wurde, in: Michael Rohrschneider/Anuschka Tischer (Hg.), Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts, Münster 2018, 93–118. 21 Vgl. Mühling, Die europäische Debatte (wie Anm. 1), 470–501.

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5.

Christian Mühling

Ausblick und Bedeutung der Religionskriegsdebatte für die Forschung

In diesen Debatten entstanden die Grundlagen eines noch heute populären Geschichtsbildes vom Religionskrieg, in dem die Religion als Vorwand zur Rechtfertigung politischer Absichten missbraucht wird. Eng damit verbunden war die Ausprägung des Epochensignums vom Religionskrieg, das den Begriff für ganz bestimmte konfessionelle Auseinandersetzungen im 16. und 17. Jahrhundert reserviert. Dieses Geschichtsbild und Epochensignum bilden die Grundlage für die weitere Diskussion über die Geschichte konfessioneller Auseinandersetzungen in den europäischen Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts, in denen sich säkulare und ultramontane Kräfte gegenüberstanden. Sie stellen ein gemeinsames Fundament preußisch-protestantischer, britischer Whig-, französisch-republikanischer und marxistischer Geschichtsschreibung dar. Betrachtet man den Religionskrieg aber stattdessen aus kulturhistorischer Perspektive, die konsequent die Übernahme anachronistischer und essentialistischer Vorannahmen verweigert, so stellt sich die Frage, ob für das 16. und frühe 17. Jahrhundert überhaupt noch vom Religionskrieg gesprochen werden kann. Die vielfach unreflektierte Vermischung von modernem Analyse- und anachronistischem Quellenbegriff und Geschichtsbildern vom Religionskrieg lässt eine solche Verwendungsweise zunächst problematisch erscheinen. Das soll jedoch nicht heißen, dass man für das 16. und frühe 17. Jahrhundert überhaupt nicht mehr von dem Zeitalter der Religionskriege und den Religionskriegen selbst sprechen könnte. Die verschiedenen Implikationen des Begriffes und seine Entstehungsgeschichte sollten jedoch als erkenntnisleitende Prämissen künftig stets bei der Betrachtung dieses Gegenstandes mit einbezogen werden und dabei helfen, eine klarere Definition dafür zu finden, was eigentlich als Religionskrieg bezeichnet werden soll. Eine einfache wie schlichte Schlussfolgerung aus diesen Darlegungen zum Begriff des Religionskrieges wäre jeweils, den Religionskrieg als das zu betrachten, was die Zeitgenossen für einen Religionskrieg hielten. In jedem Fall sollte zukünftig vermieden werden, das Geschichtsbild der Gegenwart, wie es maßgeblich durch die Historiografie vermittelt wurde, unkritisch auf die Vergangenheit zu übertragen. Die diesen Ausführungen zu Grunde liegende Arbeit hat hierzu inhaltlich und methodisch einen Beitrag geleistet, indem sie herausarbeiten konnte, dass die späteren Vorstellungen vom Religionskrieg auf der Genese seines Geschichtsbildes im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert fußen.22

22 Vgl. Mühling, Die europäische Debatte (wie Anm. 1).

Kurzvorträge

Kai-Ole Eberhardt

Bekenntniskonflikte zwischen Anfechtung und Perseveranz Reformierte und lutherische Deutungsansätze konfessioneller Streitfälle

1.

Einleitung: Die Krise der Confessio als Anfechtung

Die Frage nach der „Confessio im Konflikt“ eröffnet ein weites Feld der Dogmengeschichte. Es ist insbesondere die nachreformatorische Zeit, in der sich – nach den endgültigen Spaltungen der europäischen Christenheit – die konfessionellen Identitätsbildungen im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdwahrnehmung vollziehen, und es ist vor allem das 17. Jahrhundert, in dem sich eine akademische Streitkultur über das Bekenntnis herausbildet.1 Selbstredend stehen diese Debatten und ihre Bewältigungsstrategien aber auf dem Fundament der Konflikterfahrungen der Reformationszeit, in der die konfessionellen Identitäten zuerst entfaltet werden mussten. Die Reformatoren und Protestanten der frühen Generationen mussten ihre Auseinandersetzung mit dem Katholizismus vielfach aus einer unterlegenen Position heraus ausfechten. Ihre Bekenntniskrisen hatten daher einen stark existentiellen Charakter und die Deutungs- und Bewältigungsstrategien der Bekenntniskonflikte sind dadurch in der Regel stärker erfahrungsbezogen und von einer weitaus größeren Unmittelbarkeit geprägt als in späterer Zeit. Daher wurde dazu auch auf andere Theologumena zurückgegriffen, die allerdings die reformatorische Theologie in prägender Weise beeinflusst haben. Aus diesen ragt das Verständnis der aus den Bekenntniskonflikten resultierenden Krisen als eine tentatio hervor, also als eine „Versuchung“, oder – vor allem nach lutherischem Sprachgebrauch – eine „Anfechtung“.2 1 Vgl. Mona Garloff/Christian V. Witt (Hg.), Confessio im Konflikt. Religiöse Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Ein Studienbuch, Göttingen 2019 und darin bes. Christian V. Witt, Wahrnehmung, Konflikt und Confessio. Eine Einleitung, 9–19. 2 Vgl. zu dem Themenfeld von Anfechtung und Versuchung neben den zentralen Lexikonartikeln sub voce (bes. TRE) aus den aktuellen Publikationen vor allem die anregenden Sammelbände von Thomas Söding (Hg.), Führe uns nicht in Versuchung. Das Vaterunser in der

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Kai-Ole Eberhardt

Durch seine Beschreibung als tentatio wird ein Bekenntniskonflikt in die Heilsgeschichte eingeordnet und als konstitutives Element der Gottesbeziehung interpretierbar. Zur Anfechtung wird eine Situation dann, wenn sie die Verbundenheit des Glaubenden mit Gott infrage stellt,3 wenn also die erfahrenen Widerstände im Bekenntniskonflikt die Selbst- und Fremdwahrnehmung in Bezug auf Wahrheitsfrage und Gottvertrauen erschüttern. Kann man also Verfolgungen und Anfeindungen aufgrund des eigenen Bekenntnisses als eine Form der tentatio verstehen, wird dadurch die ursprünglich infrage gestellte eigene Confessio tatsächlich sogar bekräftigt, indem sich zugleich biblische und dogmatische Deutungsrahmen für die Erfahrungen ergeben.4 Den Weg dazu hat Martin Luther (1483–1546) durch seine Interpretation der tentatio als Anfechtung für die Reformation geebnet. Anfechtung ist ein fundamentaler Baustein seiner theologia crucis. Luther blickt dabei, besonders geDiskussion, Freiburg i. Br. 2018 (bes. den Beitrag von Michael Beintker, Versuchung als Anfechtung. Das Vaterunser im Fokus der Gottesfrage, 111–124) und Pierre Bühler u. a. (Hg.), Anfechtung. Versuch der Entmarginalisierung eines Klassikers, Tübingen 2016 (bes. die Einleitung der Hg., IX–XIII). Der diesem Aufsatz zugrundeliegende Vortrag wurde im Rahmen der Vorbereitung eines Forschungsprojektes zur Anfechtung ausgearbeitet. Ermöglicht wurde das durch das Hardenberg Fellowship der Johannes a Lasco Bibliothek Emden. Für diese großzügige Förderung und eine überaus angenehme Zeit in Emden danke ich von Herzen. 3 Vgl. diese Bestimmung z. B. bei Wolfhart Pannenberg, Der Einfluß der Anfechtungserfahrung auf den Prädestinationsbegriff Luthers, in: KuD 3 (1957), 109–139, hier 109. 4 Die Reformatoren konnten für die Reflexion dieses Vorganges auf eine breite Tradition zurückgreifen, die sich von altkirchlichen Autoren über die deutsche Mystik der Taulerschule und monastische und scholastische Traditionen erstreckt. Sowohl für Johannes Calvin als auch für Martin Luther ist die Vermittlung der altkirchlichen Tradition über Augustinus zentral, der seinerseits auch die Position Cyprians von Karthago (ca. 200–258), bes. seine Vaterunserauslegung De oratione Dominica (251/252?) mitbespricht. Vgl. für den Kontext der Verfolgungssituation und die Versuchungsbitte des Vaterunsers bes. Augustin, De dono perseverantia (428/429), PL 45, 993–1034, II 2–4; V 9; VI 11f.; XVII 46. (Eine deutsche Übersetzung bietet die Ausgabe Aurelius Augustinus, Schriften gegen die Semipelagianer, lateinischdeutsch: Gnade und freier Wille; Zurechtweisung und Gnade, übertragen und erläutert von P. Dr. Sebastian Kopp O.E.S.A.; Die Vorherbestimmung der Heiligen; Die Gabe der Beharrlichkeit, übertragen und erläutert von P. DDr. Adolar Zumkeller O.E.S.A., in: Sankt Augustin, Lehrer der Gnade, Bd. 7, Würzburg 21987, 328–439). Während die tentatio im Rahmen der mittelalterlichen Scholastik systematisiert und in das dogmatische Lehrgebäude integriert wird, bilden sich in der Mystik eigene Deutungswege heraus. Insbesondere durch die Bezeichnung von tentationes als Anfechtung oder des mittelhochdeutschen bekorunge entwickelt sich über den deutschen Sprachraum ein eigenständiger Zugang zum Versuchungsgeschehen, der für Luther ein konstitutives Element seiner Theologie darstellt, das wiederum – bes. über Luthers lateinische Schriften – in den reformierten Kontext eingeflossen ist und die Deutung von tentationes geprägt hat. Vgl. zum Sprachgebrauch der Mystik z. B. Bernd Moeller, Die Anfechtung bei Johannes Tauler (Inaugural-Dissertation), Mainz 1956 und zur Aufnahme und Transformation mittelalterlicher Anfechtungstraditionen bei Luther bes. Berndt Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 25–64.

Bekenntniskonflikte zwischen Anfechtung und Perseveranz

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lenkt von der Taulerschule und den Anregungen durch seinen Lehrer und Beichtvater Johann von Staupitz (1460–1524), zuvorderst auf die das Gewissen belastende Gottesbeziehung im Spannungsfeld von Gesetz und Evangelium und bezieht erst in einem zweiten Schritt äußere Widerstände, zu denen Bekenntniskonflikte klassischerweise gehören, mit ein.5 Die Theologie Johannes Calvins (1509–1564) jedoch steht unter einem anderen Vorzeichen, denn sie entfaltet sich unter dem Schatten der Hugenottenverfolgung. Sie steht durch dieses Vorzeichen auf dem Grund eines Bekenntnisses, das sich in einer dauernden Konfliktsituation befindet. Sie ist ihrem Wesen nach „Flüchtlingstheologie“6 – nicht nur die Theologie eines Geflüchteten, sondern auch eine Theologie für die „Kirche unter dem Kreuz“7, für Christen also, deren Bekenntnis unter Verfolgung und Todesstrafe gestellt ist.8 Bei Calvin führt diese Grundsituation dazu, dass das Bekennen als Anfechtungsgeschehen zu deuten und auf eine eigene Märtyrertheologie hin zu entfalten ist, in der die Rolle der tentatio bislang wenig Beachtung gefunden hat.9 5 Nicht zu Unrecht betont Hamm, Der frühe Luther (wie Anm. 4), 33, den subjektiven Zug des Anfechtungsbegriffs bei Luther, wenn er damit theologische Selbstdeutungen vornimmt. Der subjektive Zugang zum Anfechtungsgeschehen weitet sich bei ihm zu einem theologischen Interpretament. Es bleibt dabei aber grundsätzlich immer erfahrungsbezogen und entzieht sich dadurch dem lehrhaft-dogmatisierenden Zugriff. 6 Dem Votum von Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und Calvin – Alte und Neue Welt, aus dem Englischen von Christian Wiese. Durchgesehen und mit einem Nachwort von Manfred Schulze, Berlin 2003, 204–210, folgt Marco Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, Stuttgart 2012, 23. Vgl. auch Obermans konsequente Anwendung der Perspektive auf die Refugees in Heiko A. Oberman, John Calvin and the Reformation of the Refugees, Genf 2009. Vgl. zum Terminus der Flüchtlingstheologie den konzisen Überblick von Judith Becker, Migration und Konfession bei westeuropäischen Reformierten des 16. Jahrhunderts, in: Herman Selderhuis (Hg.), Calvinus clarissimus theologus. Papers of the Tenth International Congress on Calvin Research, Göttingen 2012, 258–274, hier 258–260 (mit Bezug auf Heiko A. Oberman und Heinz Schilling). 7 Christian Link, Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, Einführung, 1f. hier 2. Ebenso Jürgen Moltmann, Art. Perseveranz, in: TRE 26 (1996), 217–220, hier 219, und Hofheinz, Friedensethik (wie Anm. 6), 23. Vgl. zum Zusammenhang von Verfolgungssituation und Calvins Theologie auch den unter das Schlagwort von der Kirche unter dem Kreuz gestellten Aufsatz von Peter Opitz, Calvin und die verfolgte Kirche unter dem Kreuz, KuD 56 (2010) 2–17, bes. 3. 8 Vgl. für eine kurze Schilderung der Protestantenverfolgung in Frankreich und Calvins Begleitung der Ereignisse mit weiterführender Literatur Opitz, Kirche unter dem Kreuz (wie Anm. 7), 1–6, oder Hofheinz, Friedensethik (wie Anm. 6), 22–26. Vgl. die konzise Darstellung der rechtlichen Situation in Frankreich nach der Plakataffäre 1534 bei Peter Opitz, Das Martyrium als Element der Spiritualität Calvins, in: Irene Dingel/Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin und der Calvinismus. Europäische Perspektiven, Göttingen 2011, 333–346, hier 335f. 9 Die theologische Reflexion des Martyriums bei Calvin ist insgesamt ein Forschungsdesiderat, wie Mirjam G.K. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“. Die Korrespondenz Calvins mit fünf Studenten aus Lausanne über das Martyrium (1552), in: Peter Opitz (Hg.), Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung, Zü-

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Wie eng Verfolgung und Martyrium mit seinem Verständnis von Glauben und Bekennen verbunden sind, hat Peter Opitz gezeigt: „Für Calvin impliziert der wahre Glaube immer ein Bekennen, bis hin zu einer ‚gewissen Rücksichtslosigkeit‘“10. Da „Bekennen in Frankreich“11 mit Verfolgung geahndet wurde, bedeutete es mitunter sogar, „[d]as Martyrium als Form des Bekennens“12 zu wählen.13 Calvin rät dazu unter gewissen Bedingungen explizit.14 Die Anfechtung wird bei ihm damit weitaus stärker als bei Luther mit der Bedrohung für Leib und Leben verbunden.15 Auch Luther reflektiert intensiv das Martyrium.16 Zur An-

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rich 2003, 127–145, hier 128 ausweist. Neben ihr haben sich auch Opitz, Martyrium (wie Anm. 8) sowie ders., Kirche unter dem Kreuz (wie Anm. 7) und in der französischsprachigen Forschung vor allem David El Kenz, Les bûchers du roi: la culture protestante des martyrs (1523–1572), Seyssel 1997, dem Thema angenommen. Vgl. mit Bezug auf Calvins Auseinandersetzung mit den sog. Nikodemiten Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 334 mit einem Zitat aus dem Brief von Calvin an Goswin Zewel vom 14. März 1558, in CO 17, Nr. 2829, 85–88, hier 87 (vgl. die Übersetzung bei Rudolf Schwarz, Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung, 3 Bde. Neukirchen-Vluyn 1961/1962, hier Bd. 3, Nr. 553, 933–936, Zitat 935. Calvin spricht hier von einer „minime timenda […] importunitas“). Nach dem Titel des Unterkapitels von Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 335f. So lautet der Titel eines weiteren Unterkapitels von Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 341–344. Calvin rät dazu insbesondere dann, wenn Adelige und Personen des öffentlichen Lebens vor die Bekenntnisfrage gestellt waren, da deren Beharren im Glauben und der damit verbundene öffentlich inszenierte Tod für die Agenda der Protestanten ungemein nützlich war, bekundet aber auch die eigene Bereitschaft zum Martyrium. Vgl. Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 341– 344, der die Beispiele von Antoine de Crussol (1528–1573) und François de Coligny-d’Andelot (1521–1569) anführt. Vgl. zu d’Andelot auch van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 135f. Calvin vertritt die Einstellung, dass man das Martyrium nicht suchen solle, ihm aber auch nicht ausgewichen werden dürfe, wenn man in eine Bekenntnissituation geraten ist. Vgl. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 130. Insbesondere die Öffentlichkeitswirksamkeit solcher Fälle hat durchaus einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der protestantischen Sache und kann zum Politikum werden. In jedem Fall sind sie als ein Akt der Evangeliumsverkündigung zu bewerten. Vgl. ebd., 134–137 zur Bedeutung der Martyrien, die nachweist, dass die Reformation aktiv versucht hat, von der öffentlichen Aufmerksamkeit für Märtyrerprozesse zu profitieren. Vgl. mit weiteren Beispielen auch Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 341–344, der allerdings betont, dass die Bekenntnissituation für Calvin eine eigene, zwingende Dynamik hat, so dass für ein strategisches, kirchenpolitisches Abwägen kein Raum bleibe. Das trifft zumindest insofern zu, als dass Calvin nie aus taktischen Erwägungen vom Martyrium abrät. „Die Gemeinden, mit denen Calvin es zu tun hatte, deren Weg er mit zahllosen Gelegenheitsschriften nicht nur zu dogmatischen, sondern oft genug zu politischen Fragen begleitete, fanden sich von Anfang an in der Situation einer bedrängten Minderheit vor. Es war im heutigen Sprachgebrauch eine Untergrundkirche.“ Link, Prädestination und Erwählung (wie Anm. 7), 2. Dort heißt es weiter: „Die Märtyrerchronik des nach Genf geflüchteten Juristen Jean Crespin verzeichnet bis zum Todesjahr Calvins über 3000 Inquisitionsprozesse, die mit Todesurteilen und Hinrichtungen endeten. Die Hugenotten wurden zu einem ganz Europa erschütternden Exempel.“ Vgl. ganz analog ders., Streitbare Theologie. Was ist für Theologie und Kirche heute von Calvin zu lernen?, in: ders., Prädestination und Erwählung (wie

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fechtung werden ihm bereits seit 1518 die Gefahr des eigenen Todes infolge seines Bekenntnisses, sodann das Martyrium von Protestanten, deren Schicksal er sich in Lieddichtung, Trostbriefen und darüber hinaus annimmt, sowie das Ausbleiben seines eigenen Martyriums.17 Jedoch ist der Kern der Anfechtung Luthers eigentlich die Frage nach dem gnädigen Gott und wird erst in nachgeordneter Form durch die äußere Verfolgung bestimmt. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, welche spezifischen Wendungen die Rede von Versuchung und Anfechtung im Unterschied dazu in der Theologie Calvins nehmen. Dazu gehen wir von der These aus, dass Calvin die Hugenottenverfolgung als tentatio deutet und dabei Luthers Anfechtungstheologie weiterdenkt. Dadurch entsteht der theologische Rahmen für sein Märtyrerverständnis. In der folgenden Skizze werden daher zuerst Calvins Deutung der tentatio (Abschnitt 2) und ihre hoffnungstheologische Überwindung (Abschnitt 3) vorgestellt. Danach kann der Anwendung dieser Theologie der Anfechtung und Bewahrung im Rahmen von Calvins Deutung des Martyriums nachgegangen werden (Abschnitt 4).

Anm. 7), 3–32, hier 4. Dieses Vorzeichen unterscheidet die Reformation in Frankreich und der Schweiz von der Situation in Wittenberg in prägender Weise. So urteilt ders., Prädestination und Erwählung (wie Anm. 7), 2. 16 Eine gute Zusammenstellung mit besonderer Berücksichtigung der Anfechtungsthematik bietet Gerhard Ebeling, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997, bes. 384–394. 17 Ebeling, Seelsorge (wie Anm. 16), 386, erinnert an die Verbrennung der beiden Augustinermönche aus Antwerpen 1523, die Luther zum Anlass des Dankes dafür nimmt, dass Christus endlich begonnen habe, die Frucht seines Wortes sichtbar zu machen (Luther an Spalatin, 22. oder 23. Juli 1523, WA B 3; Nr. 635, 115, 14–16). Das erste von Luther komponierte Lied „Eyn newes lied wir heben an“ von 1524 besingt dieses Martyrium als Triumph Gottes über den Satan. (Vgl. den Liedtext in WA 35, 91–97). Ebenso hervorzuheben ist das Martyrium des bayrischen Pfarrvikars und Wittenberger Studenten Leonhard Kaiser (ca. 1480–1527). Luther hatte diesem in der Gefangenschaft einen ungemein dichten Brief geschrieben – ein Vergleich mit Calvins Trostbriefen wäre aufschlussreich –, war von seinem Sterben so tief getroffen, dass dadurch eine eigene Anfechtungskrise ausgelöst wurde und hat Ende 1527 eine Dokumentensammlung zu Kaisers Martyrium eingeleitet und herausgegeben, in der auch sein Trostbrief publiziert wurde (WA 23, [443] 452–476). Vgl. dazu Ebeling, Seelsorge (wie Anm. 16), 388–393, mit einer Paraphrase des Briefes und dem Nachweis der Verbindung von Kaisers Tod und der persönlichen Anfechtung Luthers. Innerhalb des Briefes wird die Situation Kaisers explizit als tentatio bezeichnet. Vgl. Luther an Kaiser vom 20. Mai 1527, WA B 4; Nr. 1107, 204f., hier 205, 20f. Vgl. dazu die Hinweise zur memoria-Kultur innerhalb der lutherischen Erbauungsliteratur von Johannes Schilling, Erbauungsliteratur, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 2017, 336–348, hier 347f.

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2.

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Anfechtung bei Calvin

Wenn wir Anfechtung und Martyrium bei Calvin betrachten, dürfen wir ihn als einen guten Schüler Luthers verstehen, der dessen Theologie innovativ weiterentwickelt und in neue Kontexte überführt hat.18 Auch wenn die deutschen Calvinübersetzungen durchaus von Anfechtung sprechen, ist Calvin Luthers deutsches Wortfeld von Anfechtung, Versuchung und bekorunge freilich fremd. Luthers Anfechtungsbegriff erschließt sich ihm über dessen lateinische Schriften als tentatio. Bereits der Blick auf seine Auslegung klassischer Bibelstellen zur Versuchung (besonders Mt 6, 13a19 und Jak 1, 1220) zeigt, dass er in vielerlei Hinsicht Luthers Verständnis folgt. Calvins Rede von der lateinischen tentatio beziehungsweise französischen tentation hat wesentliche Elemente von Luthers Anfechtungstheologie aufgesogen. Die Bezüge zeigen sich gerade an einem Zentralpunkt von Calvins Denken, nämlich dort, wo die Erfahrungen des Bekenntniskonflikts und seine theologische Reflexion und seelsorgerliche Bearbeitung aufeinandertreffen: Der für Calvin so existentielle Kontext der Hugenottenverfolgung wird von ihm als tentation theologisch fassbar und mit einer für die Anfechtung typischen expliziten Kampfmetaphorik beschrieben. Dies ist ein wesentlicher Ursprungs- und Zielpunkt seiner Theologie, aus dem sie ihren „kämpferische[n] Zug“21 erhält. Insofern ist es grundsätzlich angemessen, dass Calvin-Übersetzer wie Otto Weber (1902–1966) den Begriff der Anfechtung frei verwenden.22 Calvin hat von Luther gelernt, dass man die tentationes grundsätzlich in Gottes Heilshandeln einbetten muss. Den Anfechtungsmächten, wie der klassischen Trias von Fleisch, Welt und Teufel aus Luthers Kleinem Katechismus 18 Vgl. zu diesem Votum, das noch über die zurückhaltendere Darstellung von Herman J. Selderhuis, Calvin und Wittenberg, in: ders. (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 57–63, hier 58–60 hinausgeht, z. B. die Einschätzung in Karl Barths Göttinger Calvinvorlesung von 1922 und dazu mit Belegen, Bertold Klappert, Die Rezeption der Theologie Calvins in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, in: Hans Scholl (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, 46–73, hier 49–51. 19 „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. […]“ (Luther 2017). 20 „Selig ist, wer Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.“ (Luther-Bibel 2017). 21 Link, Streitbare Theologie (wie Anm. 15), 4. 22 Vorbehalte gegen diese durchaus interpretierende Übersetzung müssen freilich von Fall zu Fall diskutiert werden. Der Vorwurf, Calvin dadurch allzu sehr zu „lutherisieren“, kann jedoch nicht pauschal angebracht werden. Eine Verfremdung des „Lutherschülers“ Calvin entsteht dadurch zumindest nicht grundsätzlich. Problematisch sind aber z. B. die bei Weber und anderen Übersetzern durchaus vorkommenden Übersetzungsvariationen, bei denen innerhalb eines Abschnitts derselbe Wortstamm mal mit Versuchung und mal mit Anfechtung wiedergegeben wird. Es muss dann klar bleiben, dass damit nicht zwei verschiedene Vorgänge gemeint sein können.

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(1529),23 weist er zwar eine gewisse Eigendynamik zu, sie erscheinen aber letztlich in Gottes Providenz gefasst. Calvin spricht den Versuchungen vor diesem Hintergrund zuvorderst die Funktion zu, der kontinuierlichen und fortschreitenden Läuterung des Fleisches zu dienen, und erklärt sie damit zu einem wichtigen Bestandteil des Lebens in der Heiligung.24 Damit erhalten sie geradezu Trainingscharakter.25 Anfechtungsmächte wie der Satan und die von ihm in Dienst genommene Welt sowie die menschliche Anlage zur Sünde würden dabei zu Gottes Werkzeugen. Erfolg und Fortschritt in der Konfrontation mit den Versuchungen führt Calvin aber lediglich auf die Gnade Gottes zurück: Nur wer vom Heiligen Geist geführt werde, bestehe in der Versuchung und mache Fortschritte

23 Vgl. Martin Luther, Der kleine Katechismus (1529), in: Dietrich Korsch (Hg.), Martin Luther. Deutsch-deutsche Studienausgabe, Bd. 1: Glaube und Leben, Leipzig 2012, 571–597, hier 588– 591 (WA 30, 306): „Gott versucht zwar niemanden, aber wir bitten in diesem Gebet, dass uns Gott behüten und erhalten wolle, damit uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge und verführe zu falschem Glauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster; und auch wenn wir damit angefochten würden, bitten wir, dass wir doch schließlich gewinnen und den Sieg behalten.“ 24 Bereits in der Erstauflage der Institutio von 1536 ist diese Deutung der Versuchung angelegt und wird im Kontext der Vaterunserauslegung mit Parallelen zu Luthers Katechismen entfaltet. Vgl. Johannes Calvin, Christianae Religionis Institutio (1536), OS I, 113f. (Cap. III, De Oratione: Sexta). Die Versuchungen dienten geradezu als Motivation und Antrieb auf dem Weg der Heiligung. Sie sollen dafür sorgen, dass die Christen nicht „untätig und starr“ würden („ne nimium resides torpeamus“). Calvin, Institutio (1536), OS I, 113 (Vgl. die Übersetzung in der Ausgabe Johannes Calvin, Christliche Glaubenslehre. Erstausgabe der „Institutio’ von 1536, eingeleitet und übersetzt von Thomas Schirrmacher, Hamburg 2008, 121). Vgl. die erweiterte und überarbeitete Version in der Endfassung der Institutio bei Johannes Calvin, Institutio Christianae Religionis (1559) III, 20, 46, OS III, 361–364, Übersetzung in: Matthias Freudenberg (Hg.), Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 2009, 505–507. Vgl. zum Motiv der Freude über die Läuterung des Fleisches durch die Versuchungen zusätzlich Johannes Calvin, Iacobi Apostoli Epistula, cum Ioh. Calvini Commentariis, in: Ioannis Calvini Opera Exegetica XX, Commentarii in Epistolas Canonicas, edidit Kenneth Hagen, Genf 2009, ad Jak 1, 2, 250 (Hagen); CO LV, 383f. (Vgl. die Übersetzung bei Karl Müller [Hg.], Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 14, Ebräerbrief und katholische Briefe, Neukirchen [Kr. Moers] 1914, 409f.) Als die mit Krankheiten („diversis morbis laboramus“) verglichenen Verfehlungen des Fleisches benennt Calvin exemplarisch „ambitio, avaritia, aemulatio, gulae intemperies, nimius mundi amor et innumerae libidines“. Weil Gott in den Versuchungen die Menschen bessere, seien sie auch ein Grund zur Freude. Als Prüfungen im Glauben erfreuten sie gerade deshalb, weil ihr Ergebnis die Geduld („patientia“) sei, so dass sich in den Versuchungen Gottes Fürsorge für unser Heil abzeichne. Calvin, Iacobi Apostoli Epistula, ad Jak 1, 3, 250 (Hagen); CO LV, 384. 25 Vgl. exemplarisch Calvin, Iacobi Apostoli Epistula, ad Jak 1, 12, 257 (Hagen); CO LV, 389, wo Calvin von „certamina, quibus nos Dominus exercet“ spricht.

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bei der Läuterung,26 während andere, aufgrund ihrer Erwählung, durch die Versuchung gezielt zum Abfall von Gott gebracht würden.27 Im Rahmen seiner lehrhaften Schriften deutet Calvin das Versuchungsgeschehen in der Regel zunächst von den Anfechtungsmächten aus und setzt diese dann in einem zweiten Schritt zu Gottes Heilshandeln in Beziehung. Dadurch betont er vor allem, dass die menschliche Anfälligkeit gegen sie selbstverschuldet sei. So wird er Jak 1, 1328 gerecht: Die Sündendisposition des Menschen sei die eigentliche Ursache der Versuchung, so dass deren Notwendigkeit nicht in der Verantwortung Gottes liege.29

3.

Calvins Lehre von der „perseverantia usque ad finem“

Ein Spezifikum der Versuchungsdeutung Calvins und ein wesentlicher Unterschied zu der lutherischen Anfechtungstheologie besteht darin, dass mit klarem Optimismus die Überwindung der Versuchung erwartet werden darf. Eine Theologie der Hoffnung steht der Anfechtung relativierend gegenüber. Calvin kann mit großer Zuversicht das Durchhalten in der tentatio im Glauben betonen. 26 Vgl. bes. Calvin, Institutio (1559) III, 20, 46, OS IV, 363: „Plus autem ista precatio complectitur quam prima specie prae se ferat; nam si Dei spiritus virtus nostra est ad certamen cum Satana depugnandum, victoriam referre ante non poterimus quam illo pleni omnem carnis nostrae infirmitatem exuerimus. A Satana igitur et peccato dum petimus liberari, novis gratiae Dei incrementis locupletari subinde expetimus: donec ad plenum iis referti, de omni malo triumphemus.“ Die Bitte des Vaterunsers impliziere also zwingend die Bitte um die volle Gabe des Geistes, die die Voraussetzung für ihre Erfüllung sei. Vgl. bereits Johannes Calvin, Der Genfer Katechismus von 1545, CStA 2, 106f. (Abschnitt 43, Frage 290): Unter Leitung des Geistes würden die Anfechtungsmächte Sünde, Fleisch und Teufel überwunden. In den Glaubenden erstehe solcher Hass gegen die Sünde, dass Gott „[…] nos a mundo segregatos in pura sanctitate contineat. In spiritus enim virtute Victoria nostra consistit.“ Die Gabe des Geistes und die damit verbundene Heiligung führen demnach über die Versuchungen geradezu hin zu einem Zustand der Unanfechtbarkeit durch die Welt. 27 Vgl. Calvin, Iacobi Apostoli Epistula, ad Jak 1, 13, 258 (Hagen); CO LV, 390: Gott verderbe durch die Versuchung nicht deren Herz, sondern unterwerfe sie aufgrund ihrer selbstverschuldeten Verderbnis in strafender Absicht ihren Begierden. Damit weise er denjenigen, die sich nicht von Gottes Geist regieren lassen wollten, ihren gerechten Lohn zu. Vgl. dazu auch Beintker, Versuchung als Anfechtung (wie Anm. 2), 114. 28 „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde.“ (Luther-Bibel 2017). 29 Vgl. z. B. Calvin, Harmonia Evangelica, ad Mt 6, 13, CO XLV, 202. Vgl. die Übersetzung bei Otto Weber [Hg.], Johannes Calvins Auslegung der Evangelien-Harmonie, übersetzt von Hiltrud Stadtland-Neumann und Gertrud Vogelbusch, Neukirchen-Vluyn 1966, 214. Calvin betont hier, dass mit Jak 1, 14 jeder zuvorderst nicht von Gott, sondern von seiner eigenen Begierde versucht werde. Gott könne allerdings Versuchungen zur Vollstreckung seines auf unserer Sünde beruhenden – und damit ebenso selbstverschuldeten – Urteils zurückgreifen. Vgl. zudem die ausführliche Erörterung bei Calvin, Institutio (1559) III, 20, 46, OS IV, 364 und Calvin, Iacobi Apostoli Epistula, ad Jak 1, 13, 257 (Hagen); CO LXV, 390.

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Er entwickelt dazu das vor allem von Augustin (354–430) geprägte Motiv der göttlichen Perseveranz weiter. Perseveranz meint das geistgestiftete und in Bund und Erwählung Gottes besiegelte Beharren (perserverare) im Glauben, das allen Anfechtungen und äußeren Widrigkeiten trotze.30 Insbesondere Jürgen Moltmann (*1926) hat bewusst gemacht, dass sich von Calvins Verbindung von Glauben und Hoffnung her ein unbedingtes Vertrauen auf die Bewahrung des Glaubens ergibt. „Glauben ist ,meditatio vitae futurae‘, ein Trachten nach dem zukünftigen Leben, eine leidenschaftliche Erwartung der Treue Gottes, aus welcher die Kraft zum Stehen und Bleiben in den zeitlichen Anfechtungen entspringt. Das ist die feste Hoffnung auf die Treue, mit der Gott die Verheißung, die den Glauben erweckt, erfüllen wird.“31

Moltmann verankert die Perseveranz unmittelbar in der Auslegung der Versuchungsbitte des Vaterunsers.32 Sie ist die gebetete Antwort auf die Anfechtung. Moltmann betont dabei die Verknüpfung der Perseveranz mit der Prädestinationslehre auf der einen und der historischen Situation Calvins auf der anderen Seite: „Man kann Calvins Perseveranzgewissheit als Selbstgewißheit mißverstehen. Sie ist aber aus der Erfahrung der verfolgten ‚Kirche unter dem Kreuz‘ in Frankreich und den Niederlanden als Gottesgewißheit in Anfechtung entstanden.“33 Den Konnex zwischen Prädestination und Perseveranz bringt – ausgehend von Moltmann – Christian Link (geb. 1938) auf den Punkt, indem er die Perseveranz als „die andere Seite der Prädestination“34 beschreibt. Prädestina-

30 Nahezu alle aktuellen Darstellungen der Perseveranz gehen zurück auf die Forschungen Jürgen Moltmanns. Vgl. einführend vor allem Moltmann, Perseveranz (wie Anm. 7), 217–220 und ders., Art. Perseveranz, HistWbPhil 7 (1989) 266–268. Grundlage der Artikel ist die lesenswerte Arbeit von ders., Prädestination und Perseveranz. Geschichte und Bedeutung der reformierten Lehre „de perseverantia sanctorum“, Neukirchen (Kr. Moers) 1961. Eine gebündelte Darstellung bietet ders., Erwählung und Beharrung der Gläubigen, in: ders. (Hg.), Hoffen und Denken. Beiträge zur Zukunft der Theologie, Neukirchen-Vluyn 2016, 93– 109. Augustin prägt den Perseveranzgedanken vor allem in der den Terminus bereits im Titel tragenden Schrift De dono perseverantia (wie Anm. 4). 31 Moltmann, Erwählung und Beharrung der Gläubigen (wie Anm. 30), 94f. 32 Von Augustin, Calvin und der reformierten Orthodoxie aus betrachtet sei „die Perseveranzgewissheit gar nichts anderes als die Gewissheit des Gebets: ‚… und führe uns nicht in Versuchung‘.“ Vgl. Moltmann, Erwählung und Beharrung der Gläubigen (wie Anm. 30), 100. Moltmann führt als Vertreter der reformierten Orthodoxie Girolamo Zanchi (1516–1590) und William Perkins (1558–1602) an, von denen er bes. Ersteren auch in seiner grundlegenden Untersuchung ders., Prädestination und Perseveranz (wie Anm. 30), 72–109, bespricht. 33 Moltmann, Perseveranz (wie Anm. 7), 219. 34 Christian Link, Erwählung und Prädestination, in: ders., Prädestination und Erwählung, Neukirchen-Vluyn 2009, 33–54, hier 51. Links Ausführungen stellen die Überarbeitung seines Aufsatzes desselben Titels dar, der in Martin E. Hirzel/Martin Sallmann (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Zürich 2008, 139–158, publiziert ist.

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tion erschöpfe sich nicht in einem „decretum quidem horribile“35 der möglichen Verwerfung, sondern verweise zuvorderst von ihrem christologischen Zentrum her auf die konkret erfahrbare, gnadenvolle Zuwendung Gottes im Bundesschluss.36 Weil Gott in seiner Erwählung treu und verlässlich ist, darf der Glaubende darauf hoffen, dass er ihn bis zum Ende im Glauben bewahrt. Diese Bewahrung (perservatio) ist nach Link das „Ziel der Erwählung“37, insofern sie die Prädestination mit dem christlichen Leben, „dem geschichtlichen Gang und Vollzug der Erwählung“38 verbindet. Pointiert formuliert Karl Barth (1886–1968), dass man Calvin für diese Entfaltung des Perseveranzgedankens danken müsse, denn: „Das Evangelium leuchtet erst, wenn diese Lehre leuchtet.“39

4.

Das Martyrium zwischen Anfechtung und Perseveranz bei Johannes Calvin

Versuchung und Perseveranz beschreiben den Rahmen, in den sich Calvins Auffassung des Martyriums einordnen lässt. Die Tatsache, dass Calvin und die hugenottische Tradition nach ihm trotz der Emanzipation von der Martyrologie der Papstkirche eine eigene Märtyrertheologie ausbildeten, wurde nicht als unproblematisch empfunden und hat insbesondere in Genf durchaus zu Widerständen geführt.40 Der Gefahr, in den Modus der katholischen Heiligenverehrung 35 Calvin, Institutio (1559) III, 23, 7, OS IV, 401. 36 Link nimmt dabei überzeugend die Überlegungen von Wilhelm Neuser, Calvin als Prediger, in: Michael Beintker (Hg.), Gottes freie Gnade. Studien zur Lehre von der Erwählung, Wuppertal 2004, 69–91, auf, der beobachtet, dass Calvin die Prädestinationslehre im Lehrkontext ganz anders einspielt als in der Predigt, nämlich mit Blick auf den erwählten Menschen und im Bewusstsein der Erkenntnisgrenze des Erwählungshandelns Gottes tröstend. 37 Kapitelüberschrift bei Link, Erwählung und Prädestination (wie Anm. 34), 51–54. 38 Link, Erwählung und Prädestination (wie Anm. 34), 53. 39 Karl Barth, KD II/2, Die Lehre von Gott, Zollikon-Zürich (1942) 31948, 367 (zitiert bei Link, Erwählung und Prädestination [wie Anm. 34], 53). Barth, KD II/2, 362–367, bespricht die Perseveranz im Rahmen des §35: Die Erwählung des Einzelnen. Sie ist ein wesentliches Vorzeichen seiner Rezeption des lutherischen Anfechtungsbegriffs. 40 Vgl. dazu bes. Irene Dingel, Lehrer und Märtyrer – „Heilige“ in der reformierten Erinnerung?, in: Thomas K. Kuhn/Nicola Stricker (Hg.), Erinnert, verdrängt, verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des Reformierten Protestantismus, Neukirchen-Vluyn 2016, 3–20, hier 8f., die auf Widerstände in Genf gegen die Verwendung der Begriffe „Märtyrer“ und „Heilige“ im Livre des Martyrs von Jean Crespin (Iohannes Crispinus, 1520–1572) verweist. Vgl. dazu auch El Kenz, Les bûchers du roi (wie Anm. 9), 94–98. Crespin hat mit seinem Werk ein eindrückliches zeitgenössisches Zeugnis über die Verfolgung der französischen Reformierten geboten. Vgl. zur Bedeutung des Märtyrerbuches von Crespin auch Raoul Stephan, Gestalten und Kräfte des französischen Protestantismus, München 1967, 111f. Jean Crespin, Le Livre Des Martyrs : Qvi Est Vn Recveil de plusieurs Martyrs qui ont enduré la mort pour le Nom de nostre Seigneur Iesus Christ, depuis Iea[n] Hus iusques à ceste année

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zu verfallen, stand aber nicht nur der Vorteil gegenüber, theologisch an die Traditionen der Alten Kirche anknüpfen zu können, sondern das Märtyrermotiv bot in Verbindung mit dem Spannungsfeld von Versuchung und Heiligung ein wesentliches Mittel der Identitätsbildung. Die blutige Situation der Hugenottenverfolgung zwang es Calvin geradezu auf, für die konfessionelle Selbstdeutung und in der Seelsorge auf den Märtyrerbegriff zurückzugreifen. Calvin kann daher ohne Problemanzeige von der Heiligkeit und dem Martyrium hingerichteter Protestanten sprechen. Als Vorbilder und Teil der konfessionellen memoria haben diese Märtyrer aber (trotz nicht zu leugnender Analogien) eine in zentralen Punkten anders akzentuierte Bedeutung als im vorreformatorischen Verständnis. In gewisser Weise handelt es sich bei Calvins Märtyrertheologie um eine protestantische Umdeutung der Heiligenverehrung.41

4.1

Das Märtyrerverständnis in der Institutio

Einen systematischen Zugang zu seiner Märtyrertheologie bietet Calvins Institutio. Das Martyrium spielt in seinem bedeutenden Lehrbuch zwar keine große Rolle, es ist aber aufschlussreich, wie Calvin es dogmatisch verortet und welche Schwerpunkte er dabei setzt. Der Aspekt der tentatio kommt in der Institutio in Bezug auf das Martyrium explizit nicht zur Sprache. Stattdessen stellt Calvin den Zeugnischarakter der Märtyrer in den Vordergrund, an dem sich eine Standhaftigkeit bis ans Ende zeige, so dass die Perseveranz des Glaubens der Märtyrer den Glauben ihrer Zeugen stärken könne. Calvin verweist in Institutio I, 8, 13 auf die Gewissheit („securitas“), mit der sich die Glaubenden gerade aufgrund des Märtyrerzeugnisses auf die biblische Lehre einlassen könnten. Durch das Blut so vieler heiliger Männer („tot sanctorum virorum sanguine“42) sei nämlich die Heiligkeit der Bibel klar bezeugt. Die Märtyrer gingen für sie ohne Zögern, bereitwillig und sogar mit Freude in den Tod. Aus der Haltung der Märtyrer, die als eine unmittelbare Wirkung der Bibel erscheint, könnten die Glaubenden Gewissheit gegenüber der Lehre schöpfen. Das Blut der Märtyrer wird so zum Zeugnis, Siegel und Pfand der Wahrheit erklärt.

presente M.D.LIIII. […] [o. O.] 1554. (Digitalisat MDZ: http://mdz-nbn-resolving.de/urn: nbn:de:bvb:12-bsb10179099–7; abgerufen im Juni 2019). Leben und Werk sind mustergültig aufgearbeitet von Jean-François Gilmont, Jean Crespin. Un éditeur réformé du XVIe siècle, Travaux d’humanisme et renaissance 186, Genf 1981. 41 Vgl. zu Calvins Verehrung der Märtyrer van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 137. 42 Calvin, Institutio (1559) I, 8, 13, OS III, 81, 8.

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In Institutio III, 5, 3 verbindet Calvin die Entstehung des Ablasshandels mit der katholischen Märtyrertheologie und setzt dieser ein eigenes Märtyrerverständnis pointiert entgegen.43 Die alten Märtyrer seien dadurch für den Ablasshandel instrumentalisiert worden, dass man ihre Verdienste, die größer seien als sie es für ihr eigenes Seelenheil bräuchten, zusammen mit dem Blut Christi zum Schatz der Kirche erklärt habe. Über diesen unerschöpflichen Vorrat an Gnade meinte diese verfügen zu können, um Sündenschulden anderer ad libitum zu vergelten. Weil das Hauptargument der Vertreter dieser katholischen Märtyrerlehre darin bestehe, dass das Blut der Märtyrer nicht umsonst vergossen sein dürfe, zieht Calvin mit rhetorischen Fragen deren Vorstellung vom Nutzen ihres Sterbens ins Lächerliche. Er fragt, ob denn die Verherrlichung Gottes und die Bezeugung seiner Wahrheit durch ihr Opfer keinen Eigenwert hätten und ob etwa die Verachtung des gegenwärtigen Lebens zugunsten des ewigen an sich nicht von hinreichendem Belang sei. Pointiert setzt er dem seine eigene Wertschätzung des Martyriums entgegen: „Sollte es fruchtlos sein mit der eigenen Beständigkeit [constantia] den Glauben der Kirche zu stärken, die Halsstarrigkeit der Feinde aber zu brechen?“44 Calvin betont abschließend, dass die Kirche aus dem Sterben der Märtyrer „insgemein Nutzen genug [empfängt], wenn sie sich durch den Triumph dieser Männer zum Kampfeseifer entflammen lässt.“45 Er benennt also in der Institutio eine doppelte Funktion des Martyriums, nämlich zum einen die Bezeugung und Besiegelung der wahren Lehre, zum anderen die Stärkung des Glaubens und der Widerstandsfähigkeit der Kirche durch den Vorbildcharakter. Gerade die Kampfmetaphorik dieses zweiten Punktes verbindet das Martyrium mit kirchlichen Anfechtungssituationen. Durch das Opfer der Märtyrer werde man für diese gestärkt. Als Eigenschaften der Märtyrer hebt Calvin die aus ihrem Glauben resultierende Opferbereitschaft und ihren Gotteseifer hervor, der bis hin zur Freude über das eigene Sterben gesteigert werde. Das Motiv der Beständigkeit ihres Glaubens verweist auf die Perseveranz, die für die Glaubensgenossen zur Quelle der eigenen Gewissheit gegenüber der kirchlichen Lehre werde.

43 Im Wesentlichen findet sich dieser Abschnitt bereits in der Institutio von 1536 im Kapitel 5 (De falsis Sacramentis). Vgl. Calvin, Institutio (1536) V, OS I, 190f. 44 Calvin, Institutio III, 5, 3, OS IV, 135, 26–30 (Übersetzung Weber): „Itane? An vero nullus erat fructus glorificare Deum per mortem? veritati eius suo sanguine subscribere? testificari praesentis vitae contempt, meliorem se vitam quaerere? fidem Ecclesiae sua constantia confirmare, hostium autem pertinaciam frangere?“ 45 Calvin, Institutio III, 5, 3, OS IV, 136, 2f. (Übersetzung Weber): „Utilitas autem satis magna in commune ab Ecclesia percipitur, ubi illorum triumphis accenditur ad pugnandi zelum.“

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4.2

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Die Märtyrertheologie der Trostbriefe Calvins

In seinen Trostbriefen an verfolgte Hugenotten lassen sich diese Elemente wiederfinden. Sie werden in der konkreten Notsituation detaillierter entfaltet und im seelsorgerlichen Kontext teilweise um ein Erhebliches gesteigert. Insbesondere kommt in ihnen zum Ausdruck, dass der „Sitz im Leben“ der Märtyrertheologie Calvins in der Seelsorge und insbesondere der Stärkung und Verteidigung der französischen Glaubensgenossen liegt. Dass darin ein Hauptanliegen der calvinischen Theologie insgesamt aufleuchtet, zeigt bekanntlich bereits das Widmungsschreiben der Institutio von 1536.46 Die Märtyrertheologie kommt besonders in einer Anthologie von Briefen Calvins zur Geltung, die Otto Weber 1939 herausgegeben hat.47 Der Titel der Ausgabe „Von der Tapferkeit des Glaubens“ verweist ebenso auf einen erbaulichen Charakter der Briefauswahl wie auf ihren Anfechtungskontext.48 Zwar liegen allen zehn Briefen, die Weber aus46 Vgl. dazu Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 336, und Hofheinz, Friedensethik (wie Anm. 6), 23f. Eine besondere Spielart dieser Funktion liegt vor, wenn Calvin seine Verweise auf das Martyrium selbst zu einer Anfechtung anderer werden lässt, nämlich in der Nikodemitenpolemik, die Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 336–341, bespricht. Opitz, Martyrium, 338, zeigt, dass Calvin den Gläubigen „unter den Papisten“ rät, die Teilnahme an der Messe zu unterlassen. Wer könne, möge in protestantisches Terrain auswandern. Wer gezwungen sei, die Messe zu besuchen, müsse beständig seine Sünden bekennen, um das Gewissen wach zu halten und sei an das Gebet um einen Ausweg aus der untragbaren Situation verwiesen. Vgl. zu Seelsorge und Nikodemitenpolemik als „Ort“ der Märtyrertheologie auch van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 128. Ein weiterer Aspekt der reformierten Märtyrertheologie, den wir hier nicht verfolgen, weil er für Calvin keine große Rolle spielt, auch wenn er wegbereitend dafür gewesen sein mag, ist die konfessionelle Identitätsbildung durch Formen der memoria: Das Andenken an die Märtyrer – gleichsam die Verewigung ihres Vorbildes über die zeitgenössische öffentliche Wirksamkeit hinaus – wird in Märtyrerchroniken wie dem oben erwähnten Buch Crespins bewahrt, deren Bedeutung für die Hugenotten als sehr hoch einzuschätzen ist. Vgl. dazu Dingel, Lehrer und Märtyrer, in: Kuhn/Stricker (Hg.), Erinnert, verdrängt, verehrt (wie Anm. 40), 7–13. 47 Johannes Calvin, Von der Tapferkeit des Glaubens, Briefe Johannes Calvins an Hugenotten, neu übers. und bearb. von Otto Weber, Berlin 1939. Die Briefe sind zum Teil gekürzt, ohne dass dies kenntlich gemacht wurde, und mit kurzem Kommentar versehen. 48 Der seelsorgerliche Aspekt der für ein breites Publikum zusammengestellten Briefsammlung wird zwar von Weber nicht eigens hervorgehoben, ist aber aus dieser Anlage heraus ersichtlich. Marco Hofheinz regte mir gegenüber die Überlegung an, dass sie möglicherweise sogar für Soldaten gedacht waren, die das kleinformatige Büchlein mit an die Front nehmen konnten. Die Mischung aus Trostworten, Appellen zum Durchhalten im (Glaubens-)Kampf, Ermahnungen gegen Nachlässigkeit, die Relativierung der körperlichen Unversehrtheit gegenüber dem Heil etc. ließen sich militärseelsorgerlich sicher instrumentalisieren. Als Mitglied der NSDAP und der Deutschen Christen seit 1933 mag die Zusammenstellung eines solchen Bändchens für Weber durchaus politisch motiviert gewesen sein. Belegen lässt sich diese These aus dem Nachwort der Briefsammlung aber nicht. Vgl. Calvin, Tapferkeit (wie Anm. 47), 45–47. Plausibler scheint mir die Annahme, dass Weber im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Hugenotten 1939 zeigen wollte, welche Bedeutung die reformierte

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sucht, Anfechtungssituationen zugrunde, das Martyrium thematisieren aber vor allem die Briefe, die an gefangengenommene französische Protestanten gerichtet sind – immerhin die Hälfte der Sammlung. Versuchung – oder, wie Weber gerne übersetzt, Anfechtung – ist hier anders als in der Institutio ein häufig gewähltes Deutungsmedium des Martyriums. Gerade das Martyrium der ersten Adressaten Calvins in Webers Sammlung hatte viel Aufsehen in Frankreich und der Schweiz erregt und ist sehr berühmt geworden. Es handelt sich bei diesen Märtyrern um die „Studenten von Lyon“, einer Gruppe von südfranzösischen Protestanten, die außerhalb der französischen Jurisdiktion in Lausanne Theologie studiert hatten und auf der Reise in die Heimat in Lyon am 1. April 1552 wegen Ketzerei verhaftet und nach einem langwierigen Prozess am 16. Mai 1553 zum Tode verurteilt wurden, nachdem Calvin neben anderen Reformatoren und der Genfer Bürgerschaft sich vergeblich für ihre Freilassung eingesetzt hatte.49 Ihr Schicksal wurde zu einer der wichTheologie französischer Prägung für Deutschland insgesamt haben könne. Das war im antifranzösischen Klima der NS-Zeit, an dem sich Weber trotz seiner nationalsozialistischen Irrungen störte, durchaus begründungsbedürftig. Der Trostbrief hatte zu Kriegsbeginn auch für die Daheimgebliebenen seine Funktion und unterstreicht den Wert französischer Theologie. Zugleich konnte Weber ein komplexeres Bild von Calvin und seiner Theologie in der Gesellschaft fördern. Weber ist zudem in dieser Zeit besonders an der Auseinandersetzung mit der Theologie der Hugenotten und ihrer Bedeutung für Deutschland interessiert. Wie Vicco von Bülow, Otto Weber (1902–1966), Reformierter Theologe und Kirchenpolitiker, Göttingen 1999, 204, nachweist, hatte sich Weber, von der Übersetzung der Institutio herkommend, 1938 intensiv mit den Hugenotten beschäftigt. In einem Vortrag bei den Göttinger Hochschultagen 1938 mit dem Titel „Die Hugenotten und das deutsch-französische Problem“ (1938 und 21942) hatte er den positiven Einfluss der hugenottischen Theologie und Freiheitsauffassung für das deutsche Volk hervorgehoben. Sie seien vor allem vom abzulehnenden Freiheitsverständnis der Französischen Revolution ausdrücklich zu unterscheiden. Weber sah sie als in Deutschland gut integriert an. Weber arbeitete den Vortrag im Folgejahr zu einer kleinen Publikation um (Otto Weber, Die Bedeutung der Hugenotten in Geschichte und Gegenwart, Potsdam 1939) und publizierte ihn mehrfach. Vgl. zur Stellung der Hugenotten in NS-Deutschland die Arbeit von Ursula Fuhrich-Grubert, Hugenotten unterm Hakenkreuz. Studien zur Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin 1933–1945, Berlin/New York 1994, bes. 420–463 und zu Weber bes. 126f. Weber will mit der Briefsammlung vor allem ein fehlendes Puzzleteil im Calvinbild seiner Zeit vermitteln und, indem er ihn als Seelsorger zeigt, helfen „zu dem Menschen Johannes Calvin ein Verhältnis zu gewinnen“. Calvin, Tapferkeit (wie Anm. 47), 45. 49 Bei den Studenten handelte es sich um Marcial Alba, Bernard Séguin, Charles Favre, Pierre Navières und Pierre Escrivain. Vgl. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 129, die ihre Untersuchungen u. a. auf die Auswertung des Oeuvres von Jean Crespin stützt. Vgl. auch die Einleitung in den ersten Brief, Johannes Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 10. Juni 1552, CO 14, Nr. 1631, 331–334, hier 331, mit Verweis auf die Anmerkung 6 in CO 14, 317 (Vgl. die Übersetzungen und Einleitung bei Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen (wie Anm. 10), Nr. 340, 597f. und Calvin, Tapferkeit (wie Anm. 47), Nr. 1, 3–5). Vgl. auch die Einleitung von Ernst Saxer zu seiner Briefauswahl „Calvin und die Reformation in Frankreich“ in: CStA 8, 138: Zu der Kerngruppe von fünf Studenten kamen später noch ein in Genf wohnender Pastetenbäcker und ein weiterer Student, die ebenfalls verurteilt wurden.

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tigsten hugenottischen Märtyrerlegenden stilisiert.50 Auch eine Reihe weiterer mit den Studenten inhaftierter Protestanten betreut Calvin noch nach deren Hinrichtung seelsorgerlich.51 Mirjam van Veen hat bereits eine vortreffliche Besprechung der Märtyrertheologie in diesen und weiteren Märtyrerbriefen vorgelegt.52 Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse kann abschließend Calvins Märtyrerthema mit der tentatiound Perseveranzthematik gut verknüpft werden. Zentrum der Märtyrertheologie Calvins ist die Standhaftigkeit (constance / constantia) in den Versuchungen beziehungsweise Anfechtungen (tentations / tentationes) der Glaubenden, durch die sie trotz des diesseitigen Todes am Sieg Christi teilhaben und von Opfern zu Siegern werden.53 Das Martyrium ist zwar immer auch konkret als ein Ringen mit den äußeren satanischen Mächten, die einen durch Verhöre zum Abfall vom Bekenntnis treiben wollen, oder als ein Kampf gegen das eigene Fleisch, dessen Wohlergehen über das Seelenheil gestellt werden will, fassbar,54 aber Calvin betont in seinen Trostbriefen weitaus stärker, dass man hier Gott gegenüberstehe. Das Martyrium sei ein dem Willen Gottes entsprechendes Versuchungsgeschehen. In Analogie zu Luther führt Calvin die Anfechtung auf Gottes Wirken zurück und rät daher immer zu einem geduldigen Ertragen. Man dürfe sein Mar-

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Vgl. zu der Darstellung des Prozesses gegen die Studenten bes. Gonzague Truc, Calvin et les cinq prisonniers de Lyon, in: Revue des études historique 26 (1920), 43–54, und Dingel, Lehrer und Märtyrer, in: Kuhn/Stricker (Hg.), Erinnert, verdrängt, verehrt (wie Anm. 40), 7–11. Die Bedeutung des Martyriums der Studenten geht von der Darstellung in Jean Crespiens Le livre des martyrs (1554) aus. Van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 129 (mit Anm. 8) verweist mit Gilmont, Jean Crespin (wie Anm. 40), 168, darauf, dass Crespin durch das tragische Ereignis erst dazu bewegt wurde, sein Märtyrerbuch abzufassen. Der Stoff wird bis ins 20. Jahrhundert mehrfach literarisch bearbeitet, z. B. von dem deutschen Schriftsteller Servatius Josef Ponten (1883–1940) unter dem Titel Die Studenten von Lyon (1927). Der Roman ist nicht in allen Punkten als literarisch gelungen zu bezeichnen. Eine große Stärke ist jedoch der reizvolle Versuch des Autors, die historischen Briefe an die Studenten insbesondere von Calvins Hand relativ authentisch in den Erzählfluss zu integrieren. Die Briefe sind alle auf Französisch verfasst und an Gruppen von Glaubensbrüdern adressiert, damit sie – selbst wenn z. B. die Studenten konkret angesprochen werden – zugleich als Rundbrief für alle Inhaftierten fungieren und weitergereicht werden konnten. Vgl. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 130f. Vgl. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9). Vgl. mit zahlreichen Belegen aus Calvins Märtyrerbriefen bes. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 131–133. Vgl. z. B. in loser Analogie zu der Trias der Anfechtungsmächte aus Luthers Kleinem Katechismus die Rede von „Teufel, Tod und Welt [le diable, la mort et le monde]“ im Brief von Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 10. Juni 1552, CO 14, Nr. 1631, 332 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 340, 597 und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 1, 4).

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tyrium für gerecht und zuträglich halten, da es unmittelbar auf Gott zurückgehe, wie Calvin vor allem anhand von zwei Punkten demonstriert:55 1. Einerseits betrachtet er die Erfahrungen der Märtyrer selbst. Diese könnten bestätigen, dass sich Gottes Wirken an ihnen bereits erwiesen habe. Der Rückblick auf erfolgreich überstandene Etappen ihres Leidens ließen sich als Beleg für Gottes Führung deuten. Calvin geht davon aus, dass das Martyrium von Gott so eingerichtet worden sei, dass es dem Seelenheil der Märtyrer diene. Von Versuchung zu Versuchung machten sie Fortschritte auf dem Weg der Heiligung. In seinen Trostbriefen wechselt Calvin daher je nach Adressaten zwischen Paränesen zum Durchhalten und Rückblicken auf den Erfolg im Ertragen von Leiden. Je mehr Krisen gemeistert wurden, desto größer ist seine Zuversicht darauf, dass die Märtyrer mit Gottes Beistand das Martyrium als Ganzes sicher würden ertragen können. Bei den Gefangenen von Lyon, von deren Perseveranz im Glauben Calvin aufgrund ihrer bisherigen Bekenntnisakte zunehmend überzeugt ist, dominiert seine Zuversicht auf das Wirken des Geistes schnell.56 Bei „Wackelkandidaten“ wie dem Bruder des Admirals von Coligny, Francoise D’Andelot (1521–1569), der seine Sympathie für die protestantische Sache in Gegenwart des Königs bekundet hatte und dafür in Melun gefangengesetzt worden war, setzt Calvin deutlich stärker auf die Ermahnung. Eine auf das Wirken des Geistes eindeutig verweisende Bewährung des Bekenntnisses im Konflikt hatte hier noch nicht stattgefunden.57 Die Studenten von Lyon hingegen hatten sich schon bewiesen, als Calvin ihnen zu schreiben begann. Ihre ersten Erfolge stellt er daher 55 Vgl. exemplarisch Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 7. Juli 1533, CO 14, Nr. 1754, 561–564, hier 562 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 369, 643; Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 4, 13f.). Vgl. auch Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 7. März 1553, CO 14, Nr. 1708, 490–492, hier 491 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 359, 630 und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 2, 6) und den letzten Brief kurz vor dem sicheren Tode der Studenten, Calvin an die Gefangenen zu Lyon; Ende April 1553, CO 14, Nr. 1746, 544–547 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 365, 636–638; Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 3, 7–12; CStA 8, 138–141), in dem die Spannung von Gott als Urheber des weltlichen Scheiterns und seine Inanspruchnahme der Studenten für die Verkündigung des Evangeliums besonders eindrücklich geschildert wird: Die Versuchungen selbst und das Beharren der Glaubenden dienten der Verherrlichung Gottes, so dass dieser die Verfolgungssituationen gleichsam als eine Form der Verkündigung instrumentalisiere und damit zugleich die Versuchten mehr und mehr dem Heil zuführe. Gott selbst zerbreche den Versuchten alle Waffen und verstelle ihnen so den weltlichen Ausweg aus der Anfechtung. Gleichzeitig rüste er sie mit dem Geist Christi für dessen Nachfolge und führe sie dem geistlichen Sieg zu. 56 Vgl. auch van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 132, mit Belegen aus allen besprochen Briefen Calvins an die Lyoner Gefangenen. 57 Vgl. den Brief von Johannes Calvin an Francoise D’Andelot, Mai 1558, CO 17, Nr. 2883, 192– 194 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 565, 951–953 und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 10, 37–41). Vgl. auch van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 135f.

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nicht nur als erfolgreich absolvierte Übungen und bestandene Prüfungen dar, sondern bereits als Zeichen der Führung des Geistes. Wenn die Gegenwart des Geistes sich erwiesen habe, dürfe sie nicht nur für die zukünftigen Anfechtungen weiterhin angenommen werden, sondern wappne sogar für deren Steigerung. Denn die zunehmenden Erfahrungen dieser Art festigten sukzessiv die Glaubensgewissheit. Wenn also auf ein erstes Standhalten immer weitere Fortschritte im Bestehen der Anfechtungskämpfe folgten, dürfte man darauf hoffen, dass diese sich zu einer Perseveranz bis zum Ende potenzierten.58 Mit Blick auf ihren nahezu sicheren Tod zögert Calvin daher nicht, den gefangenen Studenten kurz vor ihrer zu erwartenden Hinrichtung das Heil mit Gewissheit zuzusprechen.59 Damit geht er in der Märtyrerseelsorge weiter als in anderen Zusammenhängen, in denen er von der Perseveranz spricht. Diese lässt sich scheinbar in derartigen Extremsituationen zur Heilsgewissheit steigern. 2. Das Wirken Gottes im Martyrium wird andererseits auch mit Blick auf seine Wirkung für andere belegt: Das Martyrium dient der Verkündigung und Erbauung des Glaubens, insofern die Märtyrer ethische Vorbilder werden und sich an ihrem Beharren die Stärke Gottes und seiner Wahrheit öffentlich erweist.60 Insofern nützt es nicht nur dem Seelenheil der Märtyrer, sondern – wie bereits in der Institutio entfaltet – der ganzen Christenheit. Damit erweise sich das Märtyrerleid aber zugleich als Gottes eigene Agenda. Das Interesse Gottes wird wiederum ein Trostmoment, denn es garantiert zugleich den beständigen Beistand Gottes, der sich in den Märtyrern selbst verherrlichen wolle. Das Martyrium hat in diesem Argumentationszusammenhang eine ekklesiologische Dimension. Das Martyrium erscheint als Teil der Evangeliumsverkündigung der 58 Vgl. Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 10. Juni 1552, CO 14, Nr. 1631, 332 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 340, 597 und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 1, 4): „Et nous avons assez dexperience, comme il na iamais deffailli à ceux qui se sont laissez gouverner par luy: mesme vous en avez desia approbation en vous. Car il a declare sa vertu en ce quil vous a donne une telle constance pour résister aux premiers assaux.“ („Auch haben wir es oft genug erfahren, daß er die, welche sich von ihm haben regieren lassen, nie im Stich gelassen hat. Ja, das hat sich auch schon an Euch erwiesen. Denn er hat seine Kraft darin erzeigt, daß er Euch die Standhaftigkeit verliehen hat, um den ersten Anläufen zu widerstehen.“ [Weber]). Dass Gott auch ohne eine sukzessive Steigerung der Glaubensstärke der Angefochtenen operieren könne, indem er einen zuvor Ungläubigen bekehrt und unmittelbar zum Märtyrer macht, zeigt sich für Calvin allerdings am Beispiel von dem ebenfalls in Lyon verurteilten Matthieu Dymonet. Ihm sagt er zu, dass Gott manchmal Novizen im Glauben auswähle, um seine Kraft in den Schwachen zu zeigen, indem er sie unüberwindlich mache. Vgl. Johannes Calvin an Matthieu Dymonet, 10. Januar 1553, CO 14, Nr. 1699, 466–469, bes. 467 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 355, 622–624, bes. 623). 59 Vgl. vor allem Calvin an die Gefangenen zu Lyon; Ende April 1553, CO 14, Nr. 1746, 544–547 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 365, 636–638; Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 3, 7–12; CStA 8, 138–141). 60 Vgl. van Veen, „… Les Sainctz Martyrs …“ (wie Anm. 9), 135, mit Beleg bei Johannes Calvin an die Gefangenen zu Lyon, undatiert (CO 14, Nr. 1679, 423–425, hier 424).

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Kirche. Angefochten ist daher immer auch die Kirche als Ganze, die das Leid der Märtyrer teilt und auf ihr Zeugnis geradezu angewiesen ist. Der eine Leib der Kirche wisse sich mit seinem leidenden Teil verbunden. Calvin geht geradezu von einer Synergie von Gemeinden und Märtyrern aus. Letztere bezeugten die Wahrheit der Lehre, während die Gemeinde durch die Fürbitte das Überstehen der Versuchungen fördere.61 Zu diesen beiden Belegen für das Wirken Gottes im Martyrium tritt als zentraler Trostfaktor noch der Verweis auf Christus. Wenn Perseveranz und Versuchung den Rahmen von Calvins Märtyrertheologie bilden, bleibt ihre Mitte christologisch bestimmt. Hoffnung in der Anfechtung biete der Geist Christi, in dessen Nachfolge man im Martyrium berufen sei. Christus ist als Überwinder der Anfechtung am Kreuz Quelle der Hoffnung auf das Heil. Calvin antwortet von der christozentrischen Mitte aus in trinitarischer Breite auf die tentatio: 1. Wie oben dargelegt bestimmt die Providenz Gottes die Anfechtung vollumfänglich, sein Treueversprechen und seine eigene Agenda der Verherrlichung des Evangeliums machen die Märtyrer seines Beistandes und ihres Heils gewiss. 2. Der Geist ist die Gabe Gottes, die die zunehmende Stärkung von überwundener Anfechtung zur nächsten bewirkt. Er ist zudem die Ursache der Perseveranz bis ans Ende.62 3. Gegründet ist all dies im Christusereignis, das Bundesschluss und Versöhnung bedeutet und seinerseits die Perseveranz begründet.63 61 Vgl. die Leibesmetaphorik und das Mitleiden z. B. bereits in Calvins erstem Brief an die inhaftierten Studenten: Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 10. Juni 1552, CO 14, Nr. 1631, 332 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 340, 597 und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 1, 3f.) Die damit verbundene Zusicherung der Fürbitte wiederholt sich in den Trostbriefen immer wieder. Auf die hohe Bedeutung der Fürbitte um Perseveranz für die verfolgten Hugenotten weist Peter Opitz, Kirche unter dem Kreuz (wie Anm. 7), 7, ebenso hin wie Hofheinz, Friedensethik (wie Anm. 6), 113f. (mit Anm. 152). Vgl. dazu grundlegend Hans Scholl, Der Dienst des Gebetes nach Johannes Calvin, Zürich/Stuttgart 1968, 240–248. 62 Vgl. z. B. auch Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 7. März 1553, CO 14, Nr. 1708, 490–492, hier 491 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 359, 630 und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 2, 6): „[…] mais confiezvous que celui su service duquel vous estes, dominera tellement en vos coeurs par son Esprit, que sa grace viendra bien a bout de toutes tentations.“ („[…] aber vertraut darauf, daß der, in dessen Dienst Ihr steht, auf solche Weise durch seinen Geist in Eurem Herzen die Oberhand behalten wird, daß seine Gnade mit allen Versuchungen fertig wird.“ [Weber]). 63 Das Treueversprechen Gottes erweist sich für Calvin als zugänglich über die Bibel und grundgelegt im Christusgeschehen. Die christologische Mitte der Perseveranz bildet die Klimax der seelsorgerlichen Ermahnung Calvins. In Christus ist die „fermeté“ der Glaubenden gestiftet, die zum Beharren gegen eine Trias der Anfechtungsmächte befähigt, wie sie auch Luther gerne bildet. Vgl. Calvin an die Gefangenen zu Lyon; 10. Juni 1552, CO 14, Nr. 1631, 332 (Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen [wie Anm. 10], Nr. 340, 597, und Calvin, Tapferkeit [wie Anm. 47], Nr. 1, 4): „Et de faict il faut bien un plus ferme appuy que les hommes, pour nous rendre victorieux par dessus des ennemis si robustes, comme sont le

Bekenntniskonflikte zwischen Anfechtung und Perseveranz

5.

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Ausblick: Anfechtung Perseveranz in der Ethik der Heiligung

Peter Opitz hat treffend darauf hingewiesen, dass sich die konsequente Bereitschaft zum Martyrium im Bekenntniskonflikt unmittelbar aus der Ethik der Heiligung ergibt, wie Calvin sie im dritten Buch der Institutio vorstellt.64 Die spiritualis vita unter dem Geist der Heiligung ist demnach auf das gehorsame Tun des göttlichen Willens in der Welt zum Heil der Menschen ausgelegt. Die Wirkung des Heiligen Geistes im Menschen als eine Lebensführung ist ihre Grundlage (Institutio III, 1) und mündet in „Selbstverleugnung“ (Institutio III, 7) und tolerantia crucis (Institutio III, 8) sowie einer konsequenten Ausrichtung auf das künftige Leben (Institutio III, 9). Die Märtyrertheologie erweist sich damit also letztlich nur als eine konsequente Zuspitzung dieser Ethik, die in der Anfechtung des Bekenntnisses erforderlich wird. Das Bekennen ist für Calvin untrennbar mit dem Glauben verbunden und geht notwendig aus ihm hervor. Nach Calvins Verständnis drängt „dieser Glaube […] seinem Wesen nach zum Bekenntnis, so sehr, dass im Ernstfall religionspolitische Überlegungen und kirchliche Strategien zurücktreten müssen.“65 Die aus der Kompromisslosigkeit auch gegenüber dem eigenen Leben heraus damals wie heute sperrige Spiritualität Calvins zwischen Anfechtung und Perseveranz mag dem gegenwärtigen Nachdenken über ihn selbst zur Anfechtung werden. Die Theologumena Anfechtung und Perseveranz helfen, diese calvinische Spiritualität zu systematisieren und in seiner Erwählungslehre zu verorten, zwingen aber zugleich, den Blick nicht von ihrer seelsorgerlichen Bedeutung zu nehmen. Sie verweisen zudem auf einen Vergleichspunkt zu Luthers theologia crucis und deren Rezeptionsgeschichte und ermöglichen einen schärferen Blick für die theologische Profilierung der Konfessionen. Einen Ausblick darauf gibt Karl Barth in seiner Calvinvorlesung von 1922, wenn er ausgehend von Calvins Umgang mit der Anfechtung urteilt: „Das sind alles Töne, die sich bei Luther auch finden; der Unterschied ist nur der, daß sie bei Calvin zum Grundton geworden sind. Dem entspricht dann, daß die Linien auch nach der anderen Seite viel kräftiger ausgezogen werden, daß über der Not und An-

diable, la mort et le monde; mais la fermeté qui est en Iesus Christ est assez suffisante a cela, et tout ce qui nous pourroit esbranler, si nous nestions fondez en luy.“ („Es braucht ja tatsächlich viel mehr als Menschenhilfe, um uns siegen zu lassen über so starke Feinde wie Teufel, Tod und Welt es sind; aber die Festigkeit, die in Jesus Christus ist, genügt dagegen und gegen alles, was uns erschüttern könnte, wenn wir nicht in ihm gegründet wären.“ [Die Übersetzung in der oben angewiesenen Ausgabe nach Schwarz]). 64 Vgl. Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 345f. 65 Opitz, Martyrium (wie Anm. 8), 346.

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fechtung des gegenwärtigen Lebens immer wieder der Gedanke aufleuchtet an den Tag der Vollendung des Reiches durch die Offenbarung des göttlichen Gerichts […].“66

66 Hans Scholl (Hg.), Karl Barth, Die Theologie Calvins 1922, Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922. In Verbindung mit Achim Reinstädtler herausgegeben von Hans Scholl, Zürich 1993, 229.

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Streit um die Inkarnation Betrachtungen zu Johannes a Lascos Verteidigungsschrift gegen Menno Simons

Für Christoph Strohm ist Johannes a Lasco (1499–1560) mehr als Kirchengestalter denn als Theologe hervorgetreten1; was seine erste Schrift, die „Defensio“2 betrifft, ist das jedoch nicht zutreffend. Er präsentiert sich darin gleichermaßen als Exeget wie als Dogmatiker. Das ist der erste Grund, warum die Beschäftigung mit dieser Schrift lohnt. Der zweite Grund ist, dass sie inhaltlich nicht aufgearbeitet, also unentdecktes Land ist. Drittens: a Lascos Verteidigung der Inkarnation ermöglicht einen tieferen Einblick in die Kontroverse des Reformators mit Menno Simons (1496–1561). Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es, a Lascos „Defensio“ als gelehrte Apologie der altkirchlichen Inkarnationslehre neu zu entdecken. Folgende Gliederung lege ich vor: 1. Die Disputation von a Lasco und Simons, 2. Simons‘ „Bekenntnis“3, 3. a Lascos „Defensio“, 4. Die „argumentatio“ der „Defensio“, 5. Resümee.

1.

Johannes a Lascos Disputation mit Menno Simons 1544

Die Disputation fand vom 28.–31. Januar 1544 im Emder Franziskanerkloster zwischen a Lasco und Simons statt. Sie behandelte die Themen „Inkarnation“, „Taufe“, „Laienpredigt“.

1 Christoph Strohm, Kirchenzucht und Ethik bei Johannes a Lasco, in: ders. (Hg.), Johannes a Lasco 1499–1560. Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator, Tübingen 2005, 145. 2 Ich verwende die „Defensio verae semperque in Ecclesia receptae doctrinae de Christi Domini incarnationi, adversus Mennonem Simonis, Anabaptistarum Doctorem, per Ioannem a Lasco, Poloniae Baronem, Ministrum Ecclesiarum, Phrisae Orientalis“ aus Bd. 1 der Opera tam edita quam inedita duobus voluminibus comprehensa, ed. Abraham Kuyper, Amsterdam 1866, 1– 60. 3 Menno Simons, „Ein kurzes, klares Bekenntnis und Schriftanweisung“, in: Mennonische Forschungsstelle Weierhof (Hg.), Die Schriften des Menno Simons, Gesamtausgabe, Steinhagen 2013, 489–526.

180 1.1

Dennis Schönberger

Johannes a Lasco als Superintendent von Ostfriesland

Als a Lasco 1542 zum „ersten und einzigen Superintendenten von ganz Ostfriesland berufen wird“4, gelangt ein ehemaliger Priester in eine kirchlich und gesellschaftlich spannungsreiche Situation.5 Hinter ihm liegt die Arbeit mit Erasmus v. Rotterdam (1467–1536), der Austausch mit Albert Hardenberg (1510–1574), mit dem er in Mainz und Löwen studiert6 und die Heirat einer Löwener Bürgerstochter, die dazu führt, dass er von der Inquisition verfolgt wird. 1540 flieht er erstmals nach Emden. Beim Amtsantritt 1543 vollzieht er einen Bruch mit Rom7 und drängt auf „Vereinheitlichung der Lehre und eine Etablierung einer gemeinsamen kirchlichen Ordnung“; „angesichts der kirchlichen und gesellschaftlichen Zerklüftungen“8. Vor allem weil a Lasco keine schriftliche Kirchenordnung vorlegt, misslingt dies reformatorische Vorhaben.

1.2

Auseinandersetzungen

Bezüglich der Auseinandersetzungen während seiner Amtszeit (1543–1549) wäre eine solche schriftliche Kirchenordnung hilfreich gewesen. Seine Maßnahmen gegen Täufergruppen sind, zumindest in den 1540er Jahren, „nicht von Erfolg gekrönt“9. Die Errichtung „einer konfessionell einheitlichen Kirche“10 entspricht zwar Emder Interessen, aufgrund der Beharrlichkeit vieler Altgläubiger und des massenhaften Zustromes der Täufer können die Landesherren nur wenig durchsetzen11. Ihre Haltung gegen die Täufer schwankt zwischen Ablehnung und Indifferenz, was a Lascos Lage erschwert. Die Missionstätigkeit der Täufer macht sie zu a Lascos Rivalen, obwohl er sie ins Gemeindeleben integrieren will.12 Gemeindeglieder kehren ihm den Rücken, was ihn hart trifft.13 Auch a Lasco liegt an der Kirchenzucht. Er deutet sie aber als Instrument zur Umkehr, nicht als In-

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Menno Smid, Art. Laski, Jan, in: TRE 20 (1990), 448–451, hier 449. Vgl. Strohm, Kirchenzucht (wie Anm. 1), 148. Smid, Laski (wie Anm. 4), 448. Henning P. Jürgens, Johannes a Lasco in Ostfriesland. Werdegang eines europäischen Reformators, Tübingen 2002, 147. Strohm, Kirchenzucht (wie Anm. 1), 148. Jürgens, Werdegang (wie Anm. 7), 243. Strohm, Kirchenzucht (wie Anm. 1), 148. Jürgens, Werdegang (wie Anm. 7), 197f. Piet Visser, „A Lasco wedder uns“. A Lasco und die Täufer und Nonkonformisten, in: Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (wie Anm. 1), 299–324, hier 308. Jürgens, Werdegang (wie Anm. 7), 287.

Streit um die Inkarnation

181

strument zur Abgrenzung. Die milde Praxis im Umgang mit den Täufern wird ihm wiederholt zum Vorwurf gemacht.14 Vor der Disputation sind a Lasco und Simons recht optimistisch, sich zu einigen. A Lasco hat sich vorbereitet und nimmt seinen Gesprächspartner ernst. Seine Milde wirkt sich positiv auf die Disputation und die Zeit danach aus: Täufer werden nur dann ausgewiesen, wenn sie sich als notorische Unruhestifter erweisen. Darum ist es a Lascos Ziel, auf dem Boden der Bibel zur „concordia doctrinae“15 zurückzukehren. Er und Simons einigen sich nach der abgehaltenen Disputation darauf, ihre Argumente innerhalb der nächsten drei Monaten auszutauschen.

2.

Simons’ „Ein kurzes, klares Bekenntnis und Schriftanweisung“ von 1544

Melchior Hoffmanns (1500–1543) Christologie prägt diejenige Simons’ erheblich.16 Hiernach ist Christus zwar ganz Mensch, hat aber nicht das Fleisch der Maria angenommen – in seinem sündlosen Wesen hat er nichts mit uns gemein, so Hoffmanns Ansicht.17 A Lasco wählt Simons vor allem darum als Gesprächspartner, weil er in Simons’ Inkarnationsverständnis einen klaren Angriff auf die Zweinaturenlehre (Chalcedon) sieht18. Hier entscheidet sich für a Lasco so ziemlich alles hinsichtlich des Verständnisses der Menschwerdung Gottes. Der Aufbau von Simons’ „Bekenntnis“ ist dreiteilig: Im Vorwort verneint Simons a Lascos „Dialektik“ – er ist nämlich der Überzeugung, dass sein Bekenntnis Gottes Wort ist und das helle Zeugnis der Schrift das beweist.19 Im Hauptteil erwähnt er, dass die Disputation seinen Glauben stark angefochten habe und a Lasco Gottes Wort missdeute. Er formuliert drei Thesen: Christus ist der „Herr vom Himmel“ (1Kor 15, 47), der „verheißene Samen der neuen […] Eva“ (Gen 3, 15) und „in Maria gezeugt“ (Lk 1, 35) – Gott werde „in der Gestalt des sündlosen Fleisches“ Mensch.20 Er begründet die Inkarnation harmatiologisch: Da Adam sündigte, musste Gott Mensch werden. Einsatzpunkt ist die Erbsündenlehre. „Fleisch“ wird hierin als radikale Verderbtheit gedeutet und dualistisch „Geist“ entgegengestellt – Inkarnation meine, so Simons, „Umwandlung des sündigen Fleisches“: Simons entkräftet laut a Lasco jede biblische Aussage, die 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. ebd., 302f. Visser, Täufer (wie Anm. 12), 308. Vgl. Hans-Jürgen Görtz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1980, 37. Vgl. ebd. Vgl. Visser, Täufer (wie Anm. 12), 310. Vgl. Simons, Bekenntnis (wie Anm. 3), 490–496. Ebd., 497–609.

182

Dennis Schönberger

ein reales Eingehen Gottes ins Fleisch nahelegen könnte: Zuerst bestreite er, dass Christus aus einer Jungfrau stamme (er sei vom Geist erzeugt) und dann leugne er die leibliche Abkunft Jesu von Abraham (dessen Ursprung sei im Himmel). Bedingt sind diese Aussagen wohl durch Simons‘ Wunsch nach einer sündlosen Gemeinde.21 Gemeindereinheit und Sündlosigkeit Christi werden auf diese Weise eng verzahnt.

3.

A Lascos „Defensio“ von 1545

Die „Defensio“ zerfällt in drei Teile: Einleitung, Hauptteil, Schluss. Während die Einleitung auf die Disputation rekurriert und der Hauptteil eine Antwort auf Simons’ „Bekenntnis“ (s. o.) darstellt, enthält der Schluss eine Mahnung: Simons möge von der Inkarnation entweder besonnener reden oder besser schweigen, um nicht noch weiter zu verwirren.22 Die „Defensio“ verwendet mehrere Ausgaben des griechischen Neuen Testaments, um Simons Behauptungen zu widerlegen. Das „sola-scriptura-Prinzip“ nimmt dabei eine „Schlüsselstellung“ in a Lascos Zugang zur Reformation ein.23 Das originalsprachliche Quellenstudium dient dazu, der Schrift als Wort Gottes gerecht zu werden. Hierzu gehören a Lascos Erörterungen einschlägiger Stellen zur Inkarnation. Im Gegensatz zu Simons will er Widersprüche in den biblischen Schriften nicht harmonisieren – im Zweifelsfall sind mehrere Bibelstellen zu vergleichen, um Klarheit zu bekommen. Er wirft Simons vor, Bedeutungsvarianten von Worten nicht genug zu prüfen und vorschnell Stellen einen bildlichen Gebrauch zu unterstellen, anstatt eine einfache Auslegung24 zu präferieren, wobei „einfach“ nicht mit simpel zu verwechseln ist, sondern geradlinig meint.

21 22 23 24

Vgl. Görtz, Die Täufer (wie Anm. 16), 37 (Eph 5, 27). Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 60. Strohm, Kirchenzucht (wie Anm. 1), 161. Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 21f., 24.

Streit um die Inkarnation

183

4.

Darstellung des Argumentationsgangs der Inkarnationslehre a Lascos in Grundzügen

4.1

Die Zweinaturenlehre ist das Herzstück der Christologie

Dass die Zweinaturenlehre zum Verständnis der Person Christi von „normativer Bedeutung“25 ist, ist ein christologischer Grundsatz, den der katholische Dogmatiker Helmut Hoping hervorgehoben hat, was freilich nicht heißen soll, dass er der Erste (oder gar Letzte) war, der das getan hat. A Lasco entfaltet diesen Grundsatz dreifach: Christus habe als wahrer Mensch unser Fleisch angenommen, wurde vom Vater gezeugt und von Maria geboren.26 Das Partizip „genitus“ zeige, dass die Zeugung des Sohnes ein Schöpfungsakt des Vaters sei.27 Auch die Arianer lehrten, dass der „λόγος“ (Wort) aus Gottes Willen hervorgehe, sie unterschieden aber nicht klar zwischen dem aus Gott geborenen (ex patre) und dem von Gott geschaffenen (ex spiritu sanctu) λόγος und stellten Gott damit als abstrakte Ein(s)heit vor und verkannten, dass er „von Ewigkeit her in Beziehung“ ist.28 Bei der Begründung des wahren Menschseins Christi setzt a Lasco mit der Vereinigung der beiden Naturen in Christus ein und grenzt sich von jeder Trennungschristologie ab: Simons ordne die göttliche der menschlichen Natur über, dem widerspreche aber der auf Athanasius zurückgehende Begriff „Wesensgleichheit“.29 Mit diesem Begriff verteidigten sich die Konzilsväter 325 gegen Arius, der die Homousie von Vater und Sohn bestritten und eine Subordination des Sohnes unter den Vater lehrte.30 A Lasco argumentiert, dass Sohnschaft sich darin bewähre, dass Gott das sündige Fleisch an- und also in sich aufnehme, uns gleich werde, nur „ohne Sünde“ (Hebr 4, 15).31 Anhand des Philipperhymnus legt er dar, dass „Inkarnation“ nicht Umwandlung, sondern reales Eingehen ins Fleisch meint.32 Drei Begriffe stellt er dabei ins Zentrum seiner Begründung: die „Gestalt“, die „Entäußerung“ und den Namen „Immanuel“ als einer der für ihn wichtigsten Hoheitstitel Jesu (vgl. Mt 1, 20). 25 Helmut Hoping, Einführung in die Christologie, 2. Aufl. Darmstadt 2010, 90. 26 Obwohl zwischen Calvins „Brieve instruction, pour armer tous bons fideles contre les erreurs de la secte commune des Anabaptistes“ (1544) und a Lasco „Defensio“ keine direkte Abhängigkeit besteht, lässt sich nachweisen, dass beide ähnliche Sichtweisen auf die Inkarnation haben (vgl. CO 7, 103.104.106.109.139). Calvin freilich polemisiert viel heftiger gegen die ihm vor Augen stehenden Täufer. 27 A Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 10. 28 Hoping, Einführung (wie Anm. 25), 100. 29 A Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 9–11. 30 Vgl. Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1, 3. Aufl. Freiburg i. Br. 1990, 374–382. 31 Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 13–15. 32 Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 10–13 u. ö.

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Nur schon das Wort „Immanuel“ (Gott mit uns) impliziere, so a Lasco, dass Jesus Christus nicht vom Heiligen Geist geschaffen worden sei und damit also kein „Geistwesen“ ohne Teilhabe an unserem Fleisch sei: Wenn das wirklich zuträfe, so a Lasco weiter, zementiere es die Trennung zwischen himmlischem Gottessohn und irdischem Jesus.33 Simons’ Verweis auf Johannes 4, 24 „Gott ist Geist“ widerlegt a Lasco: die dritte Person der Trinität sei Gottes Geist, das heiße aber nicht, dass sie mit der zweiten Person identisch sei; der Sohn sei sowenig Geist wie der Geist Sohn, denn erst zusammen mit dem Vater seien die drei Gott. A Lasco attestiert also Simons Unkenntnis bezüglich der Trinitätslehre und spricht von Selbstwidersprüchen.34 Um deutlich zu machen, was Simons missverstehe, rekurriert a Lasco auf die in Philipper 2, 6f. erwähnte Entäußerung Gottes. Der Modus der Inkarnation Christi bestehe nie in einer Umwandlung des Fleisches Jesu, sondern im wirklichen Adventus Gottes in das ihm feindlich gesinnte Fleisch (vgl. Röm 5, 10), das Fleisch seines von ihm erwählten Volkes Israel – Philipper 2, 6f. belege somit, dass der Inkarnationsmodus in der Entäußerung bestehe.35 Der Fleisch gewordene Gott nehme nicht irgendeine, sondern Knechtsgestalt an. Diese Gestalt Jesu Christi ist für a Lasco aber spannungsvoll, was der Begriff „μορφή“ anzeige. Dem stimmen auch Neutestamentler zu. Der Begriff „μορφή“ scheint für den katholischen Exegeten Ulrich Müller die „Aussage einer realen Menschenwerdung nicht ausreichend“ abzusichern, denn während jene Gottesgestalt eine Identitätsaussage bezeichnet, ist bei dieser Knechtsgestalt von „Verhüllung“ die Rede und hinzu kommt, dass μορφή häufig mythisch gedeutet wird, somit einen Dualismus befördert.36 A Lasco löst das Dilemma derart, dass er gerade jene Knechtsgestalt als Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in selbstgewählter Niedrigkeit deutet.37 Somit blickt die Inkarnation auf die „Befreiungstat“38 im Kreuz voraus.

33 Vgl. Ulrich B. Müller, Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus, Stuttgart 1990, 88–92: Doketisten machten etwa aus Christus ein Geistwesen und aus seinem Leib einen himmlischen Leib, so Müller. Zu dieser Einschätzung ist a Lasco freilich auch gelangt (s. u.). 34 Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 9–11. 35 Vgl. ebd., 12–15. 36 Vgl. Müller, Menschwerdung (wie Anm. 33), 20ff. 37 Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 15. 38 Knut Backhaus, Der Hebräerbrief, Regensburg 2009, 126ff.

Streit um die Inkarnation

4.2

185

Die Soteriologie ist eine Funktion der Christologie

Die Soteriologie ist für Johannes a Lasco eine Funktion der Christologie und nicht umgekehrt. Das Werk Jesu Christi sei grundgelegt in seinem Sein als Gottesund Menschensohn, so 1. Kor 3, 11. Er begründet dies wie folgt: Christus, der „Fürst unseres Heils“, entstamme Abrahams Samen.39 Dies ist für a Lasco kein Bild, sonst käme es zu einer Allegorisierung des Alten Testaments, wie bei Simons. Eva z. B. dient Simons als Allegorie für die Gemeinde.40 „Fleisch“ heißt für Simons radikale Sündenverfallenheit, was aber auf einen sündlosen Christus nicht zutreffen dürfe. Darum spiritualisiert er den Leib Jesu Christi. A Lasco entgegnet hierauf: „Fleisch“ bedeutet immer auch „Vergänglichkeit“.41 Im Alten Testament steht „Fleisch“ für die „Gesamtheit der sterblichen Lebewesen“, besitzt also keine rein pejorative Konnotation42, wie bei Simons. Im Neuen Testament ist das meines Wissens nicht anders. Mit dem Begriff „Heilsfürst“ verbindet a Lasco im Gegensatz zur Interpretation Simons’ Gottes barmherzige Gerechtigkeit, mit dem „Samen“ die Zugehörigkeit Christi zu Israel: Als Heilsfürst hat ER nicht nur Anteil an den Sündern, die Sünder haben auch Anteil an ihm: Der Skopus der Inkarnation besteht für a Lasco in der Überwindung der „Tyrannei des Teufels“ und damit in der „Vergebung der Sünden“43, so das Resümee mit Verweis auf Hebr 2, 14ff. Das heißt: Die Inkarnation hat eine soteriologische Pointe. Hebr 2, 14ff. lege nicht nahe, Jesus Christus zu den Engeln hin- und vom Menschen abzurücken, denn das negiere die Versöhnung.44 Christus werde uns gleich, um gehorsam zu lernen: „Der Sohn mußte […] Mensch werden, damit er ein mitleidender Hohepriester sein könnte, der für die Seinen vor Gott eintritt.“45 Hebr 2, 14ff. belege, dass Fleischwerdung mehr sei als Menschwerdung, denn die Intention der Stelle bestehe darin, die Inkarnation als Anteil an „Fleisch und Blut“ zu kennzeichnen, denn ein Engelchristus sei ein anderer Christus.46

39 A Lasco, Defensio (vgl. Anm. 2), 15f. 40 Vgl. Klaas-Dieter Voss, Das Emder Religionsgespräch von 1578. Zur Genese des gedruckten Protokolls sowie Beobachtungen zum theologischen Profil der flämischen Mennoniten, Leipzig 2018, 249ff. 41 A Lasco, Defensio (vgl. Anm. 2), 45f. Er spricht von einer Mehrdeutigkeit des Wortes „Fleisch“ (ebd.) sowohl bzgl. dessen Vergänglichkeit als auch bzgl. dessen Sündenanfälligkeit (vgl. ebd., 45ff. u. ö.), wobei er beides auszubalancieren sucht. 42 Gottfried Rau, Art. Fleisch, in: Calwer Bibellexikon, Bd. 1 (²2006), 363f. 43 Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 16ff. 44 Vgl. ebd., 18. 45 Müller, Menschwerdung (wie Anm. 33), 35f. 46 A Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 19ff.

186 4.3

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Die Geburt Christi ist ein Werk Gottes

A Lasco entfaltet im dritten Leitsatz das Wunder der Geburt. Maria ist bei der Geburt Gottes Werkzeug, das vom Heiligen Geist heimgesucht wurde. Ihre Schwangerschaft verdanke sie der Fürsorge und Güte Gottes.47 Anhand des Prophetenwortes Jes 7, 14 belegt a Lasco, dass die Geburt des „Immanuel“ Jesajas Verheißung erfüllt habe: Marias Schwangerschaft sei natürlich, zugleich aber widernatürlich: natürlich sei sie, da Christus von Maria geboren, widernatürlich, weil Maria vom Geist be-/heimgesucht wurde. Diesen Widerspruch löst a Lasco mit Verweis auf Lk 1, 31.35 so auf: Christus sei keine Emanation des Geistes, sondern der geliebte Sohn; weil Simons hier einer bildlichen Auslegung das Wort rede, übersehe er, dass Matthäus und Lukas an der Jungfrau als Werkzeug des schöpferischen Handelns Gottes festhielten48, denn nicht die Person des Heiligen Geistes, sondern eben das Wirken des Heiligen Geistes stehe im Vordergrund, sodass sein Werk ein Werk Gottes ohne Mitwirkung des Menschen sei.49 Christi Geburt zeige, dass er „von den Juden“ (Röm 9, 5) stamme und als Sohn Davids uns „nach dem Fleisch“ gleich sei (Röm 1, 3): Simons’ bildlicher Exegese hält a Lasco den Konsens der ganzen Heiligen Schrift entgegen.50 A Lascos abschließender Hinweis auf Augustins „Enchiridion de fide, spe et caritate“51 dient dazu, die Einheit der zwei Naturen noch einmal zu bestätigen und zugleich zu rechtfertigen.

4.4

Christus ist das fleischgewordene Wort Gottes

Joh 1, 14 ist die strukturelle und inhaltliche Mitte der „Defensio“. Darin bündelt a Lasco seine Einsichten. Vor allem gegen das Verb ἐγένετο laufe Menno Simons Sturm: Nach ihm sei Gottes Eingehen ins Fleisch ein Kommen in ein solches Fleisch, das Christus zuvor nicht hatte. Er sei nach der Inkarnation ein anderer, als er es vor ihr gewesen sei52, darum also auch das Insistieren auf der Umwandlung des Fleisches, was Simons durch Joh 2 und Gen 19 zu stützen suche.53 47 48 49 50 51

Vgl. ebd., 21ff. Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 23ff. Vgl. ebd., 26f. Vgl. ebd., 27. Vgl. ebd., 31: Laut Augustin kann man sagen, dass „etwas von einem anderen geboren werden“ kann, „ohne dessen Sohn zu sein“; somit lege die Art, auf die Christus aus Maria und aus dem Geist geboren wurde, es nahe, „an die Gnade Gottes zu denken“, durch die „dieser Mensch […], da er in seiner Natur dazusein begann, mit dem Wort Gottes zu einer […] Einheit der Person verbunden wurde“ (ders., Handbüchlein von Glaube, Hoffnung und Liebe, Darmstadt 1960, 85–89). 52 Vgl. a Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 31–37.

Streit um die Inkarnation

187

A Lasco betont, dass das Fleisch Jesu keine substanzhafte Umwandlung durchgemacht habe, sondern als Analogon zum λόγος zu sehen sei: Die Inkarnation des λόγος sei ein unableitbares Ereignis, grundgelegt in Gottes Wille und die Semantik von ἐγένετο sei in der Heiligen Schrift verschieden und müsse erst gesucht werden, stehe also nicht von vornherein fest.54 Interessant ist, wie a Lasco hermeneutisch verfährt. Wer von Umwandlung spreche, lasse den λόγος nicht mehr λόγος sein, schon gar nicht λόγος Gottes; Simons’ Auslegung lasse ihn von anderswoher („aliunde“) als aus sich heraus seinen Anfang nehmen.55 Simons bewirkt für a Lasco letztlich eine Trennung der Naturen. Der Adventus Gottes ist für a Lasco dessen Einwohnung inmitten des Fleisches vergleichbar.56 Er rekurriert (in Ansätzen) auf die Vorstellung der „Schechina“ Jahwes: in Lev 26, 11–13 und Ez 37, 26–28 werde Israels Fleisch durch Gottes Wort „geheiligt“ und in seinen Bund aufgenommen; in Philipper 2 und Hebräer 2 werde sodann das Verb ἐγέντο analog zu Johannes 1, 14 gedeutet: Christus wurde uns gleichgestellt, indem er sich „in uns“ eine Wohnstätte erbaute.57 A Lasco erklärt: „Inkarnation“ bedeute kein vom Menschen isoliertes Fleisch, sonst sei es nicht das Fleisch Jesu Christi. Wer demnach die Erkenntnisse des Chalcedonense verdunkle, was er Simons vorwirft, transformiere nun die zwei Naturen in Jesus Christus in eine einzige (Monophysiten).

5.

Resümee

Simons macht auf a Lasco den Eindruck, als trete er unvoreingenommen an die Schrift heran. Das sei aber, so a Lasco, unmöglich und falsch, vertausche Simons doch seine einfache Exegese mit einer letztlich unwissenschaftlichen, indem er die besondere Dialektik der altkirchlichen Christologie übergehe.58 Der Emder Superintendent belegt dies am Schluss seiner „Defensio“, die hier aus Zeit- und Umfanggründen nicht vorgetragen werden kann, durch Heranziehung von Synekdochen59 – der Ersetzung eines Wortes durch einen Begriff aus demselben Begriffsfeld – und Syllogismen60, also Schlussfolgerungen im Sinne klassisch philosophischer und/oder theologischer Methodik.

53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. ebd., 31f. Vgl. ebd., 36. Ebd., 33. Vgl. ebd., 35. Ebd., 37. A Lasco, Defensio (wie Anm. 2), 44–47. Vgl. ebd., 41–44 Vgl. ebd., 44–48.

188

Dennis Schönberger

Seine Leistung besteht darin, dass er eine reflektierte Schrifthermeneutik vorlegt. Christus ist uns als wahrer Gott und wahrer Mensch gleich und zugleich ungleich. Diese Dialektik hebt er überall in der „Defensio“ hervor. Sie ist für ihn der Schlüssel, das Zeugnis vom Heilsfürst zu verstehen. Seine argumentatio bleibt zwar traditionell, innovativ ist sie aber insofern, als dass der reformierte Charakter dieser Theologie deutlich ist: Die Gemeinde ist organisatorisch und theologisch „nach Gottes Wort“ zu reformieren (sola scriptura). Menno Simons und Johannes a Lasco haben zwar miteinander gesprochen, dabei aber aneinander vorbeigeredet. Dies betrifft zum einen a Lascos Rede von der Versuchung Christi bei gleichzeitiger Sündlosigkeit, zum anderen den harten Vorwurf der Trennungschristologie. Im Unterschied zu Simons ist für a Lasco die Heilige Schrift darin Gottes Wort, dass sie sich als solches erweist. Alles andere ist für ihn unvernünftig.

Markus M. Totzeck

Bekenntnis im Recht Juristische Aspekte zur Bekenntnisfrage in der Frühen Neuzeit und der Genfer Weg

„Bekenntnis im Recht“ – wenn im Deutschen davon gesprochen wird, dass jemand „im Recht ist“, dann tun wir das umgangssprachlich meistens in dem Sinne, dass wir zum Ausdruck bringen wollen: Eine Person hat Recht oder hat rechtens gehandelt. Auch die Semantik von „Bekenntnissen“ schließt mit ein, dass man „Recht hat“ oder „Recht bekommt“, sei es als ein Bekenntnis, das man vor Gott ablegt und sich so zum Recht Gottes bekennt (die persönliche Wurzel von „Bekenntnis“) oder dass man „Recht hat“ und „Recht behaupten“ will, indem man textlich eine oder mehrere Glaubensaussagen für eine Gruppe trifft (die kollektiv-normative Wurzel von „Bekenntnis“, die gerade in der Frühen Neuzeit noch einmal an Bedeutung gewinnt). Für letztere waren in der Frühen Neuzeit Bekenntnisse in der Form von eigentlichen Bekenntnisschriften beziehungsweise Symbolen und Katechismen, die aus dem Taufunterricht erwuchsen, am bedeutendsten und wirkungsreichsten.1 In theologischer Hinsicht konzentrieren sich Forschungsarbeiten der Frühen Neuzeit deswegen folgerichtig vor allem auf diese Variante von „Bekenntnis“. In diesem Beitrag nähere ich mich der Bekenntnisfrage auf eine andere Weise an. Nach einem knappen Überblick über die Semantik soll es noch einmal grundsätzlicher darum gehen, wie der Begriff „Bekenntnis“ in der Frühen Neuzeit genau an rechtlicher Relevanz gewann beziehungsweise im Recht auftauchte und welche Rolle dabei im Besonderen die reformierte, vor allem die calvinistisch-reformierte Konfession Genfer Prägung spielte.

1 Vgl. Thomas K. Kuhn, Reformiert Bekennen – Der Heidelberger Katechismus, in: ders. (Hg.), Bekennen – Bekenntnis – Bekenntnisse. Interdisziplinäre Zugänge, Leipzig 2014, 145–170, hier 148–151.

190

1.

Markus M. Totzeck

Beobachtungen zum Sprachgebrauch von „Bekenntnis“ in der Frühen Neuzeit (juristische Wurzeln)

Dass das „Bekennen“, wie beschrieben, immer mit einem Fürwahrhalten und Rechtbekommen vor Gott oder den Menschen zu tun hat, zeigt schon die antike Semantik des lateinischen Begriffs „confessio“, vor allem aber die weiteren Bedeutungsverschiebungen im Sitz der alten Kirche an. Während im klassischen Latein „confessio“ vor allem zwischenmenschlich gemeint war und im juristischen Bereich verwendet wurde (als Eingeständnis, Zugeständnis oder Geständnis), hat das Wort im Schoß der alten Kirche – wahrscheinlich maßgeblich durch den Kirchenvater Augustinus (354–430) – die Glaubensperspektive vor Gott mit eingeschlossen und sich dann vor allem zum Terminus technicus für das Bußsakrament entwickelt.2 Peter Walter hat erst jüngst in seiner Untersuchung zum Begriff „confessio“ für den römisch-katholischen Bereich gezeigt, dass hier im 16. Jahrhundert der Begriff „confessio“ beziehungsweise „confiteri“ durch „professio“ und „profiteri“ abgelöst wurde.3 Das einschlägige Beispiel ist in diesem Sinne die Professio fidei Tridentina (1564), die Papst Pius IV. im Anschluss an das Konzil von Trient formuliert hat und die an Universitäten und in der römisch-katholischen Kirche rechtskräftig wurde.4 Auf der protestantischen Gegenseite dürfte vor allem der Begriff „confessio“ deswegen so prominent für die kollektiv-normative Formulierung von Glaubenssätzen geworden sein, weil dieser Begriff ja bereits in der ersten übergreifend protestantisch formulierten Bekenntnisschrift, dem Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) von 1530, angelegt war. Auch in der oberdeutschen Confessio Tetrapolitana, die ebenfalls für den Augsburger Reichstag von 1530 verfasst wurde, fand er Verwendung. Mit einer eigenen „confessio“ wollten, so gesehen, lutherische und oberdeutsche Protestanten zu ihrem bekenntnismäßigen Recht kommen, wenn auch ohne Erfolg. In den Reichstagsabschieden von 1529/30 hielt Kaiser Karl V. (1500–1558) an der rechtlichen Geltung des Wormser Ediktes von 1521 fest, sodass Anhänger der Reformation von Rechts wegen weiterhin unter die Reichsacht fallen konnten.5 „Confessio“ war in diesem Sinne zu einem Begriff des Konsenses für Protestanten, aber auch der Abgrenzung nach außen geworden, der den Kaiser und die nicht-protestantische Reichstagsmehrheit von ihren nunmehr konfessionell

2 Peter Walter, „Confessio“ im römisch-katholischen Kontext. Beobachtungen zum Sprachgebrauch im 16. Jahrhundert, in: Daniel Gehrt/Johannes Hund/Stefan Michel (Hg.), Bekennen und Bekenntnis im Kontext der Wittenberger Reformation, Göttingen 2019, 29–51, hier 29. 3 Vgl. ebd., 35. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Siegrid Westphal, Die Funktion des Bekenntnisses in reichsrechtlicher Perspektive, in: Gehrt/Hund/Michel (Hg.), Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 2), 13–28, hier 13f.

Bekenntnis im Recht

191

bezeichneten Religionsgegnern schied. Der Begriff wurde auf die Weise weiter verrechtlicht.

2.

Rechtliche Voraussetzungen der Bekenntnisfrage in der Frühen Neuzeit

Aus juristischer Sicht ist es noch einmal hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass das damalige frühneuzeitliche Heilige Römische Reich deutscher Nation weiterhin ein Verbund von vielen Territorien war, die entweder von einem geistlichen oder weltlichen Fürsten regiert wurden. Ein Dualismus zwischen Kaiser und den Reichsständen mit ihren Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädten war ebenso rechtliche Grundlage wie seit der Reformation die konfessionelle Teilung zwischen Katholiken und Protestanten. Während die nachfolgenden Jahre nach 1517 und dann auch nach 1530 aus juristischer Sicht insbesondere für Anhänger der Reformation beziehungsweise den ihr zugeneigten Reichsständen und Territorialherren immer wieder von einer erheblichen Rechtsunsicherheit geprägt waren, zugleich aber auch von dem außenpolitisch so wichtigen Festhalten an der Friedensordnung des Reiches, markierte das Jahr 1555 in der Folge den entscheidenden rechtlich-konfessionellen Einschnitt. Der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555 ermöglichte als Friedenswerk in seinen Beschlüssen, die hier nicht alle im Einzelnen wiedergegeben werden müssen, die rechtlich gesicherte Koexistenz zwischen Anhängern der römisch-katholischen und lutherischen Seite, genauer: den Anhängern der Augsburger Konfession, wenngleich die Formulierung des Friedens offen ließ, welche Fassung damit gemeint war. So konnte auch die Confessio Augustana variata (1540) als mit einbezogen gelten. Als folgenschwer für die reformierte Seite erwies sich in der Folgezeit, dass ihre ebenfalls bis dahin entstandenen Bekenntnisse keine rechtliche Berücksichtigung fanden. Prominente Beispiele von reformierten Symbolen und Katechismen wie das Erste Basler Bekenntnis (1534), die Confessio Helvetica prior (1536), der Consensus Tigurinus (1549) oder auch der Emder Katechismus (1554) wurden damit reichsrechtlich nicht beachtet. Das Erscheinen des weltweit heute am weitesten verbreiteten reformierten Bekenntnistextes, des Heidelberger Katechismus (1563), fiel erst in die Zeit nach dem Augsburger Religionsfrieden. Ein vergleichbares, sich im Reichsrecht niederschlagendes Bekenntnis wie die Confessio Augustana, die von manchen Forschern auch als das „Urbekenntnis“ des Luthertums bezeichnet wird,6 hat es in der reformierten Tradition ebensowenig 6 Vgl. Gehrt/Hund/Michel, Vorwort zu: dies. (Hg.), Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 2), 7– 11, hier 10.

192

Markus M. Totzeck

gegeben wie einen übergreifenden Abschluss der Bekenntnisbildung mit der Festlegung auf das Konkordienbuch im Jahr 1580 im lutherischen Bereich. Dies entsprach aber auch einem reformierten Selbstverständnis im Glauben.7 Im sich ausbildenden reformierten Protestantismus ergab sich damit zum Beispiel aus juristischer Sicht die Konstellation, dass reformiert gesinnte Juristen mit dem Augsburger Religionsfrieden als Rechtswerk umzugehen hatten, obwohl klar war, dass „ihr“ Bekenntnis im Frieden nicht berücksichtigt war. Die Auseinandersetzung mit der Bekenntnisfrage musste also zwangsläufig auch andere Züge annehmen als im römisch-katholischen und lutherischen Lager, soweit die (reichsrechtliche) Berücksichtigung eines übergreifenden Bekenntnisses im reformierten Bereich nicht gegeben war. Wie produktiv trotzdem oder vielleicht zum Teil auch deswegen in der Folge die Rechtsentwicklung im reformierten Bereich war, hat in den letzten Jahren vor allem Christoph Strohm anhand seiner Untersuchung der sich ausbildenden Zentren der reformierten Jurisprudenz im Reich wie Heidelberg, Herborn, Basel und Marburg zeigen können.8 Eine Besonderheit oder Eigenart, so wird auch hier vorgeschlagen, lag dabei im reformierten Bereich von Anfang an in der grundlegenden Nähe zwischen Theologie und Jurisprudenz. Sie zeichnete insbesondere die calvinistisch-reformierte Konfession Genfer Prägung aus. Dies kann man sich schon daran veranschaulichen, dass nicht nur der große Reformator und führende Theologe Genfs, Johannes Calvin (1509–1564), ausgebildeter Jurist war, sondern auch sein Nachfolger Theodor Beza (1519–1605) und der nächste Moderator der Vénérable Compagnie des Pasteurs, Simon Goulart (1543–1628).9 An der Genfer Akademie waren in anderen Fächern weitere Juristen tätig, so zum Beispiel Nicolas Colladon (ca. 1530–1586) oder Corneille Bertram (1531–1594), der den Hebräischunterricht versah.10 Nachfolgende Generationen blieben der Jurisprudenz verbunden, wie der bedeutende Theologe und Hebraist Franciscus Junius (François du Jon, 1545–1602). Die Ausbildung von ihnen allen führt zurück in die Zentren der humanistischen Jurisprudenz Frankreichs in Angers, Toulouse oder besonders auch Bourges,11 genauso aber eben auch nach Genf und an die Genfer 7 Vgl. Jan-Andrea Bernhard, Reformierte Bekenntnistexte des 16. Jahrhunderts, in: Gehrt/ Hund/Michel (Hg.), Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 2), 53–69, hier 68. 8 Christoph Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Fru¨ hen Neuzeit, Tübingen 2008. 9 Vgl. auch schon Christoph Strohm, Ethik im fru¨ hen Calvinismus. Humanistische Einflu¨ sse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schu¨ lers Lambertus Danaeus, Berlin/New York 1996, 230–232. 10 Vgl. jetzt zu Corneille Bertram: Markus M. Totzeck, Die politischen Gesetze des Mose. Entstehung und Einflüsse der politia-judaica-Literatur in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2019, 271–290, bes. 272–274. 11 Vgl. ebd., 221f.

Bekenntnis im Recht

193

Akademie. Die juristische Schulung half führenden Theologen im calvinistischen Bereich ihre rechtlichen Argumentationen auch in Bekenntnisfragen zu schärfen und fortzuentwickeln. Dies soll nun im Folgenden exemplarisch anhand des vielleicht geschichtsträchtigsten bekenntnismäßigen Streites in Genf nachvollzogen werden.

3.

Bekenntnis im Konflikt – zu einer Eigenart calvinistisch-reformierter Rechtslehren in Fragen der bekenntnismäßigen Abgrenzung

Der Prozess gegen den spanischen Arzt und humanistischen Gelehrten Michel Servet (1509/11–1553) und Calvins Beteiligung an dem Prozess, der schließlich zu Servets Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen am 27. Oktober 1553 führte, bedeuteten einen Einschnitt in den Debatten der bekenntnismäßigen Abgrenzung im calvinistisch-reformierten Bereich. Servets Leugnung der göttlichen Trinität wurde zum einen in allen konfessionellen Lagern in der Breite natürlich abgelehnt. Seine Hinrichtung wurde zum anderen aber auch ein entscheidender Anlass für breitere Debatten über rechtliche Kompetenzen in Glaubensfragen, die den Umgang mit Häresie und Apostasie betrafen. Gerade in diesem Konfliktfall gewann eine konfessionelle Eigenart des „Genfer Weges“ an Form. Dieser Genfer Weg bezog sich auf den eigenen juristischen Umgang mit diesen bekenntnismäßigen Fragen. Einige Monate nach Servets Hinrichtung verteidigte Calvin die Verhängung der Todesstrafe als letztes Mittel in seiner Schrift Verteidigung des rechten Glaubens an die heilige Trinität (Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate contra prodigiosos errores Michaelis Serveti Hispani, 1554).12 Sebastian Castellio (1515–1563) argumentierte demgegenüber dann ein paar Monate später in seinem anonym erscheinenden Werk De haereticis an sint persequendi (1554)13 gegen die Anwendung der Todesstrafe für Ketzer und entwickelte in Ansätzen Gedanken von Toleranz und Glaubensfreiheit, die Stefan Zweig 1936 in der Zeit des Nationalsozialismus in seinem wirkungsreichen Buch – auf nicht unproblematische Weise – dann als „ein Gewissen gegen die Gewalt“ stilisierte.14 Die

12 Johannes Calvin, CO 8, 453–644, hier bes. 461–481. 13 Bruno Becker/Marius F. Valkhoff (Hg.), [Sebastian Castellio], De haereticis a civili magistratu non puniendis pro Martini Belii farragine, adversus libellum Theodori Bezae libellus. Authore Basilio Montfortio, lat. und franz. Text, Genf 1971. 14 Stefan Zweig, Calvin gegen Castellio oder ein Gewissen gegen die Gewalt, Wien 1936.

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Markus M. Totzeck

Zusammenhänge sind in der Forschung bereits detailliert untersucht worden.15 Wie aber trug der Streit aus rechtlicher Perspektive in der Folge zu einer bekenntnismäßigen Abgrenzung bei? Dies kann knapp anhand der Argumentationen von Calvin selbst, von seinem Nachfolger und späteren Moderator der Vénérable Compagnie des Pasteurs, Theodor Beza, und schließlich ihrem „Schüler“ Franciscus Junius nachverfolgt werden. Hierbei soll ein juristischer Blick auf die Situation nicht helfen, das Geschehene aus unserer heutigen Sicht zu rechtfertigen, sondern vielmehr historisch besser einordnen zu können. Drei unterschiedliche Schichten des Rechts waren im Fall Servets im Hinblick auf Häresie und Apostasie vorrangig betroffen: 1. das römische Recht, 2. das Reichsrecht (Straf- und Prozessrecht) und 3. das biblische Recht (ius divinum).

3.1

Das römische Recht

Das römische Recht war genauso wie das sich ausbildende Reichsrecht ein wichtiger Teil des gemeinen Rechts (ius commune). Allgemeine Grundlage des römischen Rechts war die Kodifizierung des Rechts unter Kaiser Justinian (reg. 527–565), das im 12./13. Jahrhundert die gängige Bezeichnung Corpus Iuris Civilis erhielt. Teile des Corpus Iuris Civilis, so zum Beispiel der Codex Theodosianus, der im Codex des Corpus Iuris Civilis aufgenommen war, sahen nicht nur die Todesstrafe für Häretiker auf Grund ihrer Majestätsverbrechen (crimen laesae maiestatis) vor, sondern auch für Leugner der Trinitätslehre (C. I, 1, 1 und C. I, 5).

3.2

Reichsrecht (Straf- und Prozessrecht)

Auch das Reichsrecht – und hier sind vor allem die Peinliche Halsgerichtsordnung (Constitutio Criminalis Carolina) von Kaiser Karl V. und Reichspoliceyordnungen zu nennen – als wichtiger Teil des gemeinen Rechtes nannte unterschiedliche Strafen für Religionsdelikte wie Gottesschwur, Blasphemie und Zauberei. Für Gotteslästerer sah die Constitutio Carolina (Art. 106) die Todesstrafe vor.16 Gerade im Sinne des Friedens und der Zugehörigkeit zum Verbund des Heiligen Römischen Reiches als Stadtstaat folgte man in Genf diesen reichsrechtlichen Bestimmungen mit anderen Städten im Süden des Reiches 15 Vgl. zuletzt u. a. Uwe Plath, Der Fall Servet und die Kontroverse um die Freiheit des Glaubens und Gewissens. Castellio, Calvin und Basel 1552–1556 (Begleitband zur Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten), Essen 2014, bes. 160–176. 16 Vgl. Gustav Radbruch (Hg.), Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Stuttgart 61991, 77, §106.

Bekenntnis im Recht

195

beziehungsweise in der Eidgenossenschaft.17 Darüber, wie genau man das Reichsrecht einhielt, besteht aber, soweit ich erkennen kann, bisher keine umfassende Untersuchung.

3.3

Das biblische Recht (ius divinum)

Für die calvinistische Rechtslehre blieb es charakteristisch, dass das Gesetz Gottes (lex Dei) den ersten Orientierungspunkt für die Rechtslehre ausmachte und auch das gemeine Recht hier seinen Maßstab fand. In Fragen von Apostasie und Häresie war in dieser Hinsicht das mosaische Recht (Lev 24; Dtn 13) ausschlaggebend mit seinen Rechtssatzungen. Diese schlossen auch die Todesstrafe als letztes Mittel ein. Calvin bezog sich in der Auseinandersetzung mit Servet und Castellio darauf, obwohl dies doch zugleich mit seiner allgemeinen Haltung, dass sowohl das mosaische Zeremonial- als auch Judizialgesetz für Christinnen und Christen keine Geltung mehr beanspruchen konnten, wenig in Einklang stand. Für Calvin kam aber auch nicht das andere Extrem in Frage, nämlich das Gesetzeskorpus des Mose in seiner politischen Relevanz gänzlich abzulehnen, wie es bereits Jahre vorher Michel Servet vertrat.18 In seiner in seinen Kommentaren zu den letzten vier Büchern Moses (Ex–Dtn) (1559–62/63) angelegten Gesetzeslehre („in harmonischer Form“) leistete Calvin einen exegetischen Ansatz für eine mögliche Lösung,19 blieb aber letztlich bezogen auf die politischen Gesetze beziehungsweise die Rechtssatzungen weiterhin vage. Beza ging diesbezüglich noch einmal deutlich einen Schritt über Calvin hinaus. Er sprach explizit von einem „vollendeten Beispiel“ oder „Vorbild“ der 17 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer, Häresie aus juristischer Sicht. De haereticis an sint persequendi im Kontext, in: Friedrich Vollhardt u. a. (Hg.), Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2015, 43–86, hier 43f. 18 Es ist in der Forschung bisher wenig beachtet worden, dass gerade dieses Thema schon Jahre vorher zwischen Calvin und Servet in einem Briefwechsel verhandelt worden war. Drei Briefe von Michel Servets Epistolae triginta, die später in seinem anonym gedruckten Werk Christianismi restitutio (1553) wieder abgedruckt wurden, beschäftigten sich damit. Trotz eines komplizierten Argumentationsgerüsts ist in Servets Briefen doch deutlich eine Ablehnung der Rechtssatzungen und politischen Gesetze des Mose herauszulesen. Mit Bezug auf Paulus, schreibt er: „Die Verfassung des Mose mit ihren Gesetzen ist für uns (Christen) gänzlich abgeschafft, es steht uns nicht zu, die Dinge wieder aufzubauen, die einmal zerstört sind“ („Deleta est tota illa Mosis politia, ut non liceat nobis ea quae destructa sunt reaedificare, teste Paulo. Lex puero aut servo data cessat, ubi ex servo fit liber, aut a puero transit in virum, a paedagogi et domini prioris exemptus potestate“, Michel Servet, Epistolae triginta, CO 8, 707). Castellio selbst würde später in ganz ähnlicher Weise argumentieren und Servets Position verteidigen. 19 Vgl. Johannes Calvin, Commentarii in quinque libros Mosis, CO 23–25.

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mosaischen Gesetze, nach dem sich die weltliche Obrigkeit richten sollte, „wenn nicht bestimmte Umstände von Zeit, Ort und Personen dem entgegenstehen würden“, so ein Zitat aus seiner Schrift De haereticis a civili magistratu puniendis (1554) als Antwortschrift an Castellio.20 In seinem späten Werk Lex Dei, moralis, ceremonialis, et politica (1577) lag dann der Schwerpunkt auf der Zusammenstellung und dem Vergleich der Rechtssatzungen beziehungsweise politischen und zivilen Gesetze.21 Beza nutzte dafür sogar zum Teil die Titelarchitektur des Corpus Iuris Civilis um anzuzeigen, dass Teile des biblisch-mosaischen Gesetzes den Ursprung und die Orientierung für die politische Ordnung und das zivile Recht ausmachten.22 Dieses Werk sollte gerade für viele calvinistisch-reformierte Theologen und Juristen zu einem wichtigen Handbuch werden. Calvin und Beza bereiteten damit zusammen den Weg dafür, dass der bekenntnismäßige Konfliktfall „nach außen“ nicht nur auf Grundlage des gemeinen Rechts, sondern auch spezifischer auf Grundlage von Gottes Gesetz (lex Dei) juristisch gelöst werden konnte. Anders als bei lutherischen Theologen ging dabei die Wertschätzung der lex Dei so weit, dass eine solche Bekenntnisfrage auf Grundlage des gesamten alttestamentlichen (mosaischen) Rechts für sie zu klären war. Calvins und Bezas Argumentationen an der Schnittstelle von Theologie und Rechtslehre machten auf diese Weise eine konfessionelle Eigenart des Genfer Weges aus, den schließlich Franciscus Junius als ihr einflussreicher Schüler noch weiterging.

4.

Der lange Schatten eines Konfliktes – Spurenlese in der Rechtslehre des Franciscus Junius

In den letzten Lebensjahren Johannes Calvins traf Franciscus Junius mit Calvin selbst und Theodor Beza in Genf zusammen. Junius kam 1562 zum Theologiestudium nach Genf und erlebte dort noch beide, Calvin und Beza, als Lehrer,23 bevor er dann 1565 im belgischen Antwerpen Pastor wurde. In der Nachfolge der 20 „Sciendum est vero quamuis istae Legum particulares formulae nunquam ad nos pertinuerint, tamen quum earum author sit Deus ipse iustissimus & aequissimus Legislator, rectissime facere Magistratus, qui, quoties peculiaris aliqua circunstantia vel temporis, vel loci, vel personarum non impedierit, ad Mosaicarum legum perfectissimum exemplar in condendis suis legibus respiciunt“ (Theodor Beza, De haereticis a civili magistratu puniendis libellus, adversus Martini Bellii farraginem, et novorum Academicorum sectam, [Genf] 1554, 223). 21 Theodor Beza, Lex Dei, moralis, ceremonialis, et politica, ex libris Mosis excerpta, & in certas classes distributa, [Genf] 1577. 22 Vgl. Totzeck, Die politischen Gesetze des Mose (wie Anm. 10), 208–212. 23 Tobias Sarx, Franciscus Junius d. Ä. (1545–1602). Ein reformierter Theologe im Spannungsfeld zwischen späthumanistischer Irenik und reformierter Konfessionalisierung, Göttingen 2007, 45–47.

Bekenntnis im Recht

197

Reformatoren Calvin und Beza gehört Junius sicherlich zu den Schlüsselgestalten des späteren Calvinismus in theologischer und konfessionskultureller Hinsicht. So wurde unter anderem seine Übersetzung des Alten Testaments, die er zusammen mit dem reformierten Theologen und Hebraisten Johannes Immanuel Tremellius (1510–1580) erstellte, einschlägig und in vielfacher Neuauflage als Biblia Sacra mit Theodor Bezas Übersetzung des Neuen Testaments gedruckt. Unter den exegetischen Arbeiten wurden die Sacrorum Parallelorum libri tres (1585/88), die erst mit der dritten Auflage ihren gängigen Titel erhielten, zu einem beliebten Hand- und Referenzbuch24 und sein Werk De theologia vera (1594) ebnete schließlich den Weg für die calvinistisch-reformierte Schultheologie. Davon abgesehen ist aber im Besonderen Junius’ Einfluss auf das politische und rechtliche Denken der Frühen Neuzeit zu gewichten. Für die Rechtslehre und Geschichte des politischen Denkens wurde das Werk De politiae Mosis observatione (1593)25 besonders wirkungsreich, eine – wie es der Titel schon sagt – Abhandlung über das Gemeinwesen unter Mose beziehungsweise zur mosaischen Verfassung, die Junius als Rechtsvorbild hervorhob. Die Schrift wurde von Johannes Althusius (1563–1638), den Otto von Gierke noch als den Begründer der deutschen Politikwissenschaft bezeichnete, ebenso genutzt wie vom Vater des Völkerrechts Hugo Grotius (1583–1645) und vom Juristen und christlichen Hebraisten Petrus Cunaeus (Peter van der Cun, 1586– 1638) und vielen mehr.26 Die Attraktivität der Schrift dürfte für Theologen wie für Juristen in der relativen Kürze begründet gewesen sein, aber auch in der stark systematisch zugespitzten und rational ausgerichteten Darstellung sowie der leicht zugänglichen Vergleichbarkeit mit dem gemeinen zivilen und römischen Recht. Das Werk basierte eigentlich auf einer Disputation, die unter dem Vorsitz 24 Franciscus Junius, Ad Testamenti Veteris Interpretationem, In Antiquissima Et Florentissima Heydelbergensi Academia nuper institutam & coeptam, prokatable¯ma, Heidelberg 1585. Dieses Werk war eine Kompilation von alttestamentlichen Zitaten und Verweisen im Neuen Testament mit eigenen Kommentierungen. 25 Franciscus Junius, De politiae Mosis observatione; Quid in populo Dei observari, quid non observari ex ea oporteat, postquam gratia & veritas per Christum facta est, & Euangelio promulgata, in: Opera theologica Francisci Iunii Biturigis, sacrarum literarum professoris eximii. Editio postrema, prioribus auctior, [Genf] 1613; 1. Aufl. d. Opera: [Genf] 1607/1608; 1. Aufl. des Werkes: Leiden 1593; weitere Aufl.: Leiden 1602; Heidelberg 1603. 26 Althusius folgt Junius gerade in wichtigen Abschnitten seiner Rechtslehre. Vgl. Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata. Cui in fine adiuncta est Oratio panegyrica de utilitate, necessitate et antiquitate scholarum, Herborn 3 1614, XXI, 40 (421–422); XXII, 1–2 (425–426). 6 (427). 8 (428–429). 9 (429–430). 10 (430). Zu Hugo Grotius und Petrus Cunaeus vgl. Sarx, Franciscus Junius d. Ä. (wie Anm. 23), 139. 277ff.; Lea Campos Boralevi, Politia Judaica, in: Corrado Malandrino/Dieter Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 281–291, hier 288.

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Markus M. Totzeck

von Junius stattgefunden hatte und sich mit der Frage nach der Geltung der Judizialgesetze beziehungsweise Rechtssatzungen des Mose beschäftigt hatte. Von Junius war die Disputation noch einmal überarbeitet und um eine ausführliche Vorrede und einen Teil, in dem es auch um konkrete Anwendungsfälle ging, erweitert worden. Sein Hauptargument lässt sich wie folgt zusammenfassen: Alle guten Gesetze der Menschen für ein Gemeinwesen stammen letztlich vom ewigen Gesetz (lex aeterna) Gottes ab. Die größte Annäherung daran findet sich im Vorbild der Verfassung, wie sie aus dem göttlichen Gesetz, sprich für Junius vor allem aus den Gesetzen des Mose, ableitbar waren. In einem schematischen Vorgehen, in dem konsequent universale und natürliche von partikularen, unveränderbare von wandelbaren und ewig-geltende von zeitgebundenen Geboten unterschieden werden, ließ sich für Junius ein rechtliches Verfahren beschreiben, das der Gesetzgebung zum Vorbild dienen sollte. In diesem Ansatz war es Junius möglich, die juristischen Argumentationen von Calvin und Beza weiterzuführen und sie entscheidend in seiner Rechtslehre zu systematisieren. Junius bleibt dabei beiden theologischen Lehrern treu. Insbesondere zu Theodor Beza zeigen sich Nähen bis in die Terminologie hinein: Wie Beza bezeichnet Junius zum Beispiel die biblischen Moralgesetze als praecepta ἠθικὰ und spricht auch von einem vollendeten Vorbild oder Beispiel, das im mosaischen Gesetz zu finden sei (perfectum exemplum est in lege Mosis).27 Genau hinschauen muss man aber schon, wenn man auch noch den bekenntnismäßigen Konflikt in der Angelegenheit Servet und Castellio in der Schrift wiederfinden will, der ausschlaggebend für Calvins und Bezas rechtliche Klärungen gewesen war. Dieser lange Schatten eines Konfliktes kommt ganz am Ende von Junius’ Schrift zum Vorschein. Hier geht Junius noch einmal auf vier konkrete rechtliche Anwendungsfälle ein28 und kommt abschließend auch auf die Gebote zur Apostasie in den mosaischen Gesetzen und ihre Geltung für die Gegenwart29 zu sprechen. Kein anderes Fallbeispiel behandelt er so ausführlich in der Schrift und der Zusammenhang zu Calvins und Bezas Auseinandersetzungen bleibt spürbar. Namen werden dabei jedoch nicht genannt. Es ist klar, dass Junius am Vorbild des christlichen Gemeinwesens festhielt und die Todesstrafe im Fall von Apostasie nicht ablehnt. Aber gerade an dieser Stelle bleibt er zugleich auch vage und wird nicht konkreter in der Diskussion. Gerade dieser Umstand lässt Raum für Interpretationen: Spricht hier ein Gelehrter, dessen Biographie selbst „in hohem Maße vom eigenen Erleben der 27 Vgl. z. B. oben Anm. 20 mit Junius, De politiae Mosis observatione (wie Anm. 25), 1485, th. VIII. („perfectum exemplum est in lege Mosis“) und ebd., 1499. 28 Vgl. ebd., 1526, 40–1531, 45. 29 Vgl. ebd., 1528, 65–1531, 45.

Bekenntnis im Recht

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Konfessionskonflikte geprägt worden“30 war? Dieses eigene konfliktreiche Erleben war vielfältig: die Erfahrungen eines Glaubensflüchtlings in der reformierten Kirche Frankreichs, die Konfessionskontroversen in Heidelberg und der Kurpfalz, seine diplomatischen Missionen am Hof des Königs von Frankreich, Heinrich IV. von Navarra (1553–1610), und schließlich die wichtige Wirkungszeit an der Leidener Universität, wo auch seine Rechtslehre entstanden war.31 Diese Rechtslehre De politiae Mosis observatione war den Ständen Hollands gewidmet in einer Zeit, die selbst wiederum von tiefen Konfessionskonflikten bestimmt war: Norden gegen Süden, Katholiken gegen Protestanten, Spanien gegen die Sieben Vereinigten Provinzen. Junius dagegen suchte nach einem übergreifenden christlichen Konsens im Zeichen des Friedens. Am Ende gehört dazu vielleicht manchmal auch einfach das Schweigen über alte Konflikte.

5.

Zusammenfassung: der Genfer Weg in der Rechtslehre als eine Facette der Konfessionalisierung

Bekenntnis und Recht hängen eng miteinander zusammen, so ist eingangs dieses Beitrages erläutert worden. Für die reformierte Tradition Genfer Prägung galt dies bereits seit den Anfängen: Hier war das Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz besonders eng. Dies schlug sich auch auf den Umgang mit bekenntnismäßigen Fragen nieder, wie am Beispiel der einschneidenden Konfliktfälle mit Michel Servet und Sebastian Castellio veranschaulicht werden konnte. Grundsätzlich lagen dabei unterschiedliche reichsrechtliche Voraussetzungen für reformierte Juristen (wie auch Theologen) gegenüber der lutherischen und römisch-katholischen Seite zugrunde. Wie sich diese im Einzelnen auf die Rechtsentwicklung auswirkten, bleibt auch weiterhin noch zu untersuchen. Das einschlägige Beispiel des Franciscus Junius als Schüler von Johannes Calvin und Theodor Beza hat hier gezeigt, dass sowohl Argumentationen in der Rechtslehre fortgeführt und systematisiert wurden, zugleich einstige Konflikte im Sinne des Konsenes aber auch verschwiegen werden konnten. Der Konflikt hinterließ trotzdem seine Spuren in der Rechtslehre. Gerade auf diese Weise gewann die calvinistisch-reformierte Rechtslehre aber eben auch ihre konfessionelle Eigenart und machte eine wichtige Facette der Konfessionalisierung aus.

30 Sarx, Franciscus Junius d. Ä. (wie Anm. 23), 35. 31 Vgl. bereits Friedrich Wilhelm Cuno, Franciscus Junius der Ältere, Professor der Theologie und Pastor (1545–1602). Sein Leben und Wirken, seine Schriften und Briefe, Amsterdam 1891, und im Überblick: Michael Plathow, Art. Junius, Franz (du Jon) der Ältere, in: BBKL 3 (1992), 885f.

Ulf Lückel

„Streit zwischen Schwestern und Brüdern!“ Die Auseinandersetzungen im reformierten Berleburg zwischen 1700 und 1702

Gräfin Hedwig Sophie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1669–1738) war die Protagonistin, die der Bewegung des radikalen Pietismus1 in der Berleburger Grafschaft zum ersten Durchbruch verhalf.2 Am 20. Februar 1669 kam sie als Prinzessin zur Lippe-Brake im reformierten Lemgo zur Welt. Sie heiratete am 27. Oktober 1685 den Grafen Ludwig Franz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1660–1694). Bereits neun Jahre später wurde sie Witwe und so die alleinige Regentin des Duodezstaates. Ihr ältester Bruder Graf Rudolf zur Lippe-Brake (1664–1707) übte zusammen mit ihr ab 1695 die Vormundschaft über den ältesten Sohn, den Erbgrafen Casimir (1687–1741)3, aus. Sie war eine religiöse Frau und fand in ihrem Glauben Trost und Zuspruch. Wie genau der Kontakt zwischen Hedwig Sophie und den radikalen Predigern und Enthusiasten entstanden ist, die ab Herbst 1699 in Berleburg eintrafen und dort die Berleburger Kirche übernommen haben, können wir nicht mehr ermitteln, denn dazu haben sich bislang keine Dokumente aufgefunden. Dass Hedwig Sophie mit Philipp Jakob Spener (1635–1705) in schriftlichem Kontakt stand, teilt der Berleburger Pfarrer Johann Georg Hinsberg (1862–1934) in einem Brief mit: „Die Gräfin Hedwig hat sich mit dem Pietismusgründer Philipp Jacob

1 Vgl. Irina Modrow, Der radikale Pietismus. Einige Überlegungen zu den „linken“ Außenseitern einer sozial-religiösen Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Frühneuzeit – Info 3, 2 (1992), 29–39. Dies., Frauen im Pietismus. Das Beispiel der Benigna von Solms-Laubach, Hedwig Sophie von Sayn-Wittgenstein-Berleburg und Erdmuthe Benigna von Reuß-Ebersdorf als Vertreterinnen des frommen hohen Adels im frühen 18. Jahrhundert, in: Michael Weinzierl (Hg.), Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit. Individualisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Wien 1997, 186–199. 2 Vgl. Ulf Lückel, Art. Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Hedwig Sophie Gräfin zu, in: BBKL 19 (2001), 1203–1209. Ders., Überschreitungen von Geschlechter- und Standesgrenzen: Die fromme Gräfin Hedwig Sophie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1669–1738) und ihr pietistischer Hof in Berleburg, in: Pia Schmid (Hg.), Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen, Halle 2015, 163–176. 3 Vgl. Ulf Lückel, Adel und Frömmigkeit. Die Berleburger Grafen und der Pietismus in ihren Territorien, Siegen 2016.

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Ulf Lückel

Spener ausgetauscht und er hat ihr einen trostreichen Brief im Februar 1701 geschrieben, der im hiesigen Schloß aufbewahrt [wird].“4 Dass Philipp Jakob Spener um die Vorgänge in Berleburg wusste und bereits informiert war, können wir einem Brief Speners an August Hermann Francke (1663–1727) aus Berlin vom 25. Mai 1700 entnehmen:5 „Im Übrigen wird ihnen nicht unwißend sein was vor motus in den Rheinquartiren, und sonderlich jetzt der graffschafft Witgenstein, passirt auß gelegenheit Herrn Hochmanns6 und Herrn Königs7 auß der Schweitz. Von diesem sagt man, er wolle auch hierher kommen, so ich nicht zu geschehen wünsche, und sonsten viele nachtheilige motus darvon sorge. Sollte er auch nach Halle sich wenden, würde mirs auch leid sein, denn von ihm als einem solchen reden höre, der wo er hin kommet, nicht still sein könne, daher gleich bewegungen entstehen.“8

Seit Herbst 1699 nahmen mehrere Vertreter der radikalpietistischen Bewegung Zuflucht in Berleburg und wurden von der Gräfin freundlich aufgenommen. Neben den aus der Schweiz Vertriebenen Samuel König (1671–1750), Carl Anton Püntiner (1676–1729)9 und Johann Jacob Knecht (*1676 † nach 1729/1739)10 befanden sich darunter auch die beiden Separatisten Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670–1721) und Johann Henrich Reitz (1665–1720)11. Warum die 4 Brief von Johann Georg Hinsberg vom 1. September 1931 an Heinz Renkewitz. Privatarchiv Werner Wied (†), Kreuztal, der mir freundlicherweise noch kurz vor seinem Tod in diesen Schriftwechsel Einsicht gewährte. 5 AFSt/H A 125:113, wieder abgedruckt in: Johannes Wallmann/Udo Sträter (Hg.), Philipp Jakob Spener, Briefwechsel mit August Hermann Francke, 1689–1704, Tübingen 2006, 756f. 6 Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670/71–1721). 7 Samuel König (1671–1750). 8 Offenbar erst ab ca. 1708 besuchte König von Magdeburg aus auch Halle und Berlin. Vgl. Rudolf Dellsperger, Samuel Königs „Weg des Friedens“ (1699–1711). Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Deutschland, in: PuN 9 (1983), 152–179, hier 176. Hans Schneider, Der radikale Pietismus, in: Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus. Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Göttingen 1995, 122. 9 Vgl. Adolf Fluri (Hg.), Gabriel Herrman/Lutz Wilhelm, Kurtze und einfaltige beschreibung, wie, wenn und auss was anlass die reformierte teütsche schul allhier zu Bern ihren anfang genommen habe, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 17, 1 (1903/1904), 1– 176, hier 79, 86 und 153 Anm. 1. Ich danke Herrn Kollegen Dr. Peter Lauber, Buchen/Schweiz für diesen Hinweis. 10 Vgl. Israel Daniel Rupp/John Winebrenner, History of All the Religious Denominations in the United States: Containing Authentic Accounts of the Rise and Progress, Faith and Practice, Localities and Statistics, of the Different Persuasions. Written Expressly for the Work, by Fifty-three Eminent Authors, Belonging to the Respective Denominations, Second, Improved and Portrait Edition, Harrisburg (PA) 1849, 552. 11 Vgl. Ulrich Weiss, „[…] uff solche pietist[en] absonderlich die H[erren] Geistlich[en] ein wachsames Aug zu haben.“ Die Siegener Episode des Johann Henrich Reitz 1703/4, in: Siegener Beiträge. Jahrbuch für regionale Geschichte 8 (2003), 37–88. Wieder abgedruckt in: ders., Zwischen Kartenspiel und Katechismusschelte. Beiträge zur Kirchengeschichte des Siegerlandes, Wuppertal 2011, 37–96.

„Streit zwischen Schwestern und Brüdern!“

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Gräfin ausgerechnet Reitz kurz darauf die vakante Pfarrstelle12 in Berleburg überließ, können wir zurzeit nicht klären. Gerade die beiden auffälligsten Prediger Reitz und König sollten nun in Berleburg die reformierte Gemeinde führen, eine Aufgabe, die ihnen andernorts versagt blieb. Reitz hatte immerhin schon lange Jahre vor seiner Separation im Dienst der reformierten Kirche gestanden. Seine Berufung mag daher nach außen hin wenigstens mit seiner fachlichen Qualifikation gerechtfertigt worden sein. Johann Henrich Reitz wurde als Sohn eines reformierten Pfarrers 1655 in Bacharach in der Kurpfalz geboren. Er gehörte zur zweiten Generation von Pietisten und studierte zwischen 1675 und 1680 in Heidelberg, Bremen und Leiden. Nach seinem Studium war er zunächst als Informator13 in Frankfurt tätig, wo er Spener und dessen „Collegia pietatis“ kennen lernte. Er wurde 1681 Pfarrer in Freinsheim (heute: Landkreis Bad Dürkheim in Rheinland-Pfalz), anschließend übernahm er die zweite Pfarrstelle in Ladenburg bei Heidelberg. Seit 1693 war Reitz als reformierter Pfarrer und Inspektor in der dem Pietismus aufgeschlossenen Grafschaft Solms-Braunfels tätig, von März 1695 an auch als Hofprediger des dortigen Grafen Wilhelm Moritz (1651–1724).14 Reitz fühlte sich in jener Zeit einem kirchlichen Pietismus verpflichtet, der noch nicht grundsätzlich die Kirche und ihre Institutionen infrage stellte. Er wollte – wie viele andere auch – die in starrem konfessionellem Dogmatismus gefangene Kirche von innen her reformieren.15 Dies änderte sich, als Reitz Anfang 1697 mit dem Greifensteiner gräflichen Registrator Balthasar Christoph Klopfer (1659–1703) in Kontakt kam. Dieser hatte sich nach persönlichen Enttäuschungen und schwerer Krankheit vollends der mystischen Literatur hingegeben. Er rühmte sich göttlicher Visionen (Christusvisionen), verkündete den Anbruch der Endzeit und das endzeitliche Gottesreich und prangerte alle Kirchen als „Babel“ an, aus dem die Knechte Gottes (Jes 48, 20) fliehen sollten. Konsequenterweise ließ er auch sein zweites 12 Vgl. Friedrich Wilhelm Bauks, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945, Bielefeld 1980, Nr. 5010. 13 Vgl. Joh[ann] Henrich Reitz, Instruction Für einen Hoff= oder Lehr=Meister Bey einem Jungen Hohen Herren, wie diesen derselbe in der wahren Religion, Gottesfurcht, guten Sitten, Geberden, Reden, Studien, unterrichten, und zu einer heilsamen Regirung allgemach anweissen solle. Auffgesetzt Von Joh. Henrich Reitz, Neulich zu Ladenburg gewesenen Churpfälzis. dieser Zeit Hoch=Gräfl. Solms=Greifensteinischen Inspectore, Herborn 1693. 14 Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt: Hans Schneider, Der radikale Pietismus, in: Martin Brecht (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 406f. 15 Vgl. zu diesem Abschnitt über Reitz: Rudolf Mohr, Ein zu Unrecht vergessener Pietist: Johann Henrich Reitz (1655–1720), in: MEKGR 22 (1973), 46–109. Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989. Weiss, „[…] uff solche pietist[en]“ (wie Anm. 11), 37–88. Schneider, Der radikale Pietismus (wie Anm. 14), 406f.

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Kind nicht taufen, weshalb er fünf Monate eingekerkert und schließlich des Landes verwiesen wurde.16 Reitz geriet durch die Gespräche mit Klopfer in Gewissensnöte. Er wollte unmittelbare göttliche Offenbarungen auch in der Gegenwart nicht ausschließen und sah solche Ereignisse auch nicht im Widerspruch zur Heiligen Schrift. Das genügte für seine Amtsenthebung und Arretierung im Mai 1697. In Frankfurt hatte Reitz ab 1696 die Arbeiten an seinem großen Werk, der „Historie Der Wiedergebohrnen“17, begonnen, die genau die Frömmigkeit repräsentieren sollte, zu der sich Reitz verpflichtet fühlte: die eben die verschiedenen frommen Bestrebungen einzelner Bekehrter durch die Jahrhunderte hindurch in diesen Sammelbänden zusammenführen sollte. 1699 schließlich wirkte Reitz im hessischen Herborn, wo er gemeinsam mit den Separatisten Johann Henrich Horch (1652–1729) und Samuel König öffentliche Versammlungen durchführte, die das Missfallen des Landesherrn Heinrich zu Nassau-Dillenburg (1641–1701) erregten. Reitz schloss sich den radikalen Schweizern an und zog mit ihnen als Reise- und Wanderprediger umher. In der Folge wurden alle drei auf landesherrliche Anweisung hin sowohl aus Nassau-Dillenburg als auch aus Hessen-Kassel ausgewiesen. Reitz ist noch für kurze Zeit in Siegen nachweisbar. Seine diversen pfarramtlichen Erfahrungen genügten offenbar, um ihn auf die vakante Stelle des ersten Pfarrers von Berleburg zu investieren. Samuel König,18 Sohn eines Berner Pfarrers, wurde am 17. September 1671 in Gerzensee (Kanton Bern) geboren. Er studierte in Bern, Zürich, Basel und Franeker Theologie, Judaistik und Mathematik. Eine Studienreise führte ihn nach England, Holland und Deutschland. Bereits in dieser Zeit kam er mit philadelphischem Gedankengut in Berührung. 1697 kehrte König in die Schweiz zurück und erhielt in Bern die Stelle eines Oberspitalpredigers an der Kirche zum Heiligen Geist. Dort, wie später in Berleburg, war seine Wirkung auf die Gemeindeglieder nicht unerheblich: „[…] der Schweizer Chiliast Samuel König, ein Mann von mittlerer Statur, schwarzen Haaren, rotumränderten Augen, war ein

16 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus (wie Anm. 14), 419. 17 Zu den Auflagen der „Historie Der Wiedergebohrnen“ vgl. Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 15), 107. Es hat insgesamt sechs Auflagen zwischen 1698 und 1753 gegeben, wobei die Teile VI (Berleburg 1730) und VII (Berleburg 1745) nicht von Reitz selbst stammen, sondern aus den Federn der beiden aus Württemberg gebürtigen Leibärzte am Berleburger Hof: Johann Samuel Carl (1677–1757) und Johann Conrad Kanz (1680–1764). Zu Johann Samuel Carl vgl. Ulf Lückel, Art. Carl, Johann Samuel, in: BBKL, Bd. 19 (2001), 144–155. 18 Vgl. zu diesem Abschnitt über König, Wilhelm Hadorn, Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen, Konstanz o. J. [1901], 60–146. Dellsperger, Samuel Königs „Weg des Friedens“ (wie Anm. 8). Ders., Der Pietismus in der Schweiz, in: Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus. Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Göttingen 1995, 588–616.

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mit Überzeugung und Löwenmut begabter, hinreißender Prediger.“19 Aufgrund seiner theologischen Überzeugungen, die mit philadelphischen und chiliastischen Vorstellungen durchsetzt waren, ließ der Konflikt mit den Behörden nicht lange auf sich warten. Am 9. Juni 1699 wurde er vom Berner Großen Rat im Rahmen einer antipietistischen Staatsaktion ausgewiesen. Zuvor wurde König und anderen Pietisten in einem Prozess der Religionskommission aus dem Jahre 1698 die Verbreitung von Irrlehren vorgeworfen, unter anderem Verstöße gegen die Kirchenordnung und Kirchenzucht. Er verließ die Schweiz und zog als Wanderprediger umher. In Frankfurt traf er Hochmann und gelangte schließlich nach Eschwege an der Werra, wo er Horch begegnete. Seine Wanderungen führten ihn schließlich nach Herborn, von wo aus er dann nach Wittgenstein kam und die Übernahme der Berleburger Kirche erfolgen sollte. Vieles spricht dafür, dass Samuel König bis zu den Ostergeschehnissen 1700 (siehe unten) die zentrale Figur in Berleburg war.20 Auch das sonst zuverlässige zeitgenössische Zeugnis des Dodenauer Pfarrers Konrad Schlierbach (1658– 1731) bestätigt das. Schlierbach sieht König als Anstifter und Sprecher der Pietisten: „Die ersten Urheber dieses Wesenß in dem Wittgensteinischen waren Herr König, der General-Prophete unter ihnen, wie sie ihn unter sich sollen genannt haben und Herr Knecht, beide aus der Schweiz [ge-]bürtig und daselbsten umb dieser Händel wegen vertrieben; denen hienge mitt an einer nahmens Püntner, einer nahmens Hochmann, ein Edelmann (wie gesagt wurde) bey Nürnberg zuhause, und einer [namens] Reitze, ein abgesetzter Inspektor zu Braunfelß, daß er die Kindertauffe verworfen, und viele andere mehr.“21

Als im Februar 1700 die von Graf Rudolf zur Lippe-Brake gesandten Kommissare aus Marburg nach Berleburg kamen, berichteten sie von dem „Erzquaqer König“, der zusammen mit Hedwig Sophie in der Kutsche von Berleburg nach Schwarzenau zu Graf Henrich Albrecht zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1658–1723)22

19 Johannes Burkardt/Ulf Lückel (Hg.), Johann Georg Hinsberg, Geschichte der Kirchengemeinde Berleburg bis zur Regierungszeit des Grafen Casimir (18. Jh.), Bad Berleburg 1999, 47. 20 Rudolf Dellsperger weist zu Recht darauf hin, dass durch die ausführliche Arbeit von Heinz Renkewitz über Hochmann der frühe Wittgensteiner Pietismus immer mit Hochmann in Verbindung gebracht wird. Vgl. Dellsperger, Samuel Königs „Weg des Friedens“ (wie Anm. 8), 143. 21 Hans Schneider, Ein zeitgenössischer Bericht über den Wittgensteiner Pietismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Johannes Burkardt/Bernd Hey (Hg.), Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz, Bielefeld 2009, 138. 22 Vgl. Ulf Lückel, Art. Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Henrich Albrecht Graf zu, in: BBKL, Bd. 19 (2001), 1213–1219.

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zu einem Treffen mit Hochmann und Püntiner fuhr, die bei Henrich Albrecht einquartiert waren.23 Alle Standesgrenzen missachtend, gab Hedwig Sophie diesen Männern im Berleburger Schloss Logis und lud sie an die gräfliche Tafel.24 Das gleiche Wohlwollen zeigte der Laaspher Regent, der mittlerweile nur noch in Schwarzenau in der Nähe seiner „Geschwister“ sein wollte, kaum noch selbst regierte und alle wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten seinen Beamten auf Schloss Wittgenstein überließ.25 Die oft geäußerte Vermutung, dass die Gräfin unter den Einfluss Hochmanns geraten sei und dass er die radikale „Bekehrung“ der Gräfin bewirkt habe,26 lässt sich durch die vorhandenen Quellen nicht erhärten.27 Betrachtet man die Ereignisse in Berleburg, so ist Hochmanns Einfluss auf die dortigen Vorfälle in der älteren Forschung völlig überschätzt worden.28 Ein von Hans Schneider aufgezeigter wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass der Oberamtmann Bernhard Clemens Metting(h) (1665–1735), ein Schwiegersohn von Johann Jakob Schütz (1640–1690)29 bei der Berleburger Gräfin in Diensten stand.30 Er hatte schon mit Reitz in Frankfurt über die Pfarrstelle in Berleburg verhandelt – leider sind die von Renkewitz benutzten Unterlagen zu Metting(h) nicht mehr auffindbar.31 Auch er könnte für die Erstkontakte der Gräfin mit den Enthusiasten mitverantwortlich sein. Der Rat und der Bürgermeister von Berleburg machten Met23 Heinz Renkewitz, Hochmann von Hochenau (1670–1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus, Breslau 1935 (ND Witten 1969), 107. 24 Ebd., 104f. 25 Vgl. Friedrich [Wilhelm] Göbel, Historische Fragmente aus dem Leben der regierenden Grafen und Fürsten zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Siegen 1858, 41f. 26 Theodor Link (Hg.), Max Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche, dritter Band, Coblenz 1860 (ND Gießen 1992), 86f. Werner Wied, Berleburg und Herrnhut. Der Besuch des Grafen Zinzendorf in Berleburg im Spiegel des Tagebuchs des Grafen Casimir von Berleburg, in: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V., 69/45 (1981), 95–116, hier 98. Schrader, Literaturproduktion (wie Anm. 15), 179. 27 Renkewitz weiß nichts über einen möglichen Kontakt Hochmanns zu Gräfin Hedwig Sophie zu berichten. 28 Als Beispiel vgl. Renkewitz, Hochmann (wie Anm. 23), 91. 29 Vgl. Andreas Deppermann, Johann Jacob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002. 30 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus (wie Anm. 14), 420. 31 Bernhard Clemens Metting(h) blieb bis 1723 am Berleburger Hof, obschon er 1700 von Graf Rudolf wegen seiner Verstrickung in die Osterereignisse kurzfristig entlassen worden war, wurde er kurze Zeit später wieder von Gräfin Hedwig Sophie als Oberamtmann eingesetzt. Ihrem Sohn Casimir diente er ebenfalls, bevor er 1724 in den Dienst des ebenfalls pietistischen Karl von Ysenburg-Marienborn antrat. Vgl. Friedrich Wilhelm Winckel, Aus dem Leben Casimirs, weiland regierenden Grafen zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg […], Frankfurt a. M. 1842, 62 (Fotomechanischer ND in zwei Auflagen: Bad Berleburg-Raumland 1989). Renkewitz, Hochmann (wie Anm. 23), 136–138, 142, 144.

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ting(h) für die „fast aller Orten verworfenen Neulinge“ verantwortlich, während dieser dagegenhielt, dass es Gräfin Hedwig Sophie selbst gewesen sei, die König und seine Genossen ins Land geholt habe!32 Im Berleburger Schloss fanden nun zweimal täglich Gebetsstunden unter Leitung der Prediger statt. Auch in der Kirche am Marktplatz ließen sich die radikalpietistischen Tendenzen der Prediger nicht verbergen. Kaplan Dietrich Otto Schmitz (1670–1718), der sich anfangs vehement gegen die neue Lehre und deren Vertreter gewandt hatte, hatte sich zu einem radikalen Pietisten entwickelt.33 Die Bevölkerung Berleburgs wurde aber zunehmend unruhiger über die neuen Verhältnisse, die jeder Ordnung widersprachen. Wenn auch in der reformierten Kirchenordnung wenige Abendmahlsfeiern im Ablauf des Kirchenjahrs vorgesehen waren, so kamen sie mit den strikten Praktiken und Reaktionen der neuen Pfarrer nur schwer klar: Denn Abendmahlsfeiern wurden nun gänzlich abgeschafft, Taufen wurden ebenfalls nicht mehr durchgeführt.34 Ein Gutachten35 der Universität Halle aus dem Jahr 1700 führt die Vorwürfe der anklagenden Berleburger Bevölkerung noch einmal auf und gerade die Einleitung führt an, dass das Hauptaugenmerk der Gräfin dem so titulierten religiösen Wohl der Berleburger Bevölkerung galt: „[…] den elenden und jämmerlichen Seelen=Zustand Ihrer meisten Unterthanen und den Verfall der Kirchen=Zucht welchen Dero Prediger und Unterthanen zum Theil selbst erkenne bey sich bewogen habe dieselbe aus hertzlichen Mittleyd gegen das arme 32 Renkewitz, Hochmann (wie Anm. 23), 143. 33 Vgl. Christian Peters, Der Berleburger Kaplan Dietrich Otto Schmitz (1670–1718). Radikaler Pietist und Anhänger Johann Georg Gichtels, in: Burkardt/Hey (Hg.), Von Wittgenstein (wie Anm. 21), 69–106. 34 Die Taufregister der Kirchengemeinde Berleburg in der Handschrift von Pfarrer Eberhard Dülcken (ca. 1633–1699), enden mit einer letzten Eintragung vom 26. März 1699. Der nächste Eintrag von neuer Hand ist vom 3. Mai 1699 datiert; in derselben Handschrift lassen sich noch weitere Einträge bis zum 28. März 1700 finden. Dann folgt von neuer Hand folgender Eintrag: „Nach diesen seindt vor meiner Zeit getauft worden, so nicht verzeichnet undt nach der Zeit von mir hier seindt eingeschrieben worden.“ Es folgen 27 Nachträge im Taufregister vom Juni 1700 bis zum September 1701 – jedoch ohne Tagesdatum. Geregelte Einträge mit korrektem Tagesdatum etc. finden sich erst wieder ab dem 18. September 1701. Diese Nachträge und der o. a. Einleitungssatz stammen von Ludwig Christof Schefer, der von Graf Rudolf zur LippeBrake im September 1701 von Marburg nach Berleburg geholt wurde. Vgl. Ulf Lückel, Ein fast vergessener großer Berleburger: Inspektor und Pfarrer Ludwig Christof Schefer (1669–1731) – Eine erste Spurensuche, in: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V., 88/ 64 (2000), 137–159, hier 138f. 35 Entdeckter Ungrund Des Bißhero weit und breit erschollenen Falschen Gerüchtes Von entstandener Religions=Neuerung und anderem Unwesen in der Gräfflichen Witgensteinischen Stadt und Lande Berlenburg / Bestehend In einer kurtzen / jedoch wahrhafften und Acten = mässigen Fürstellung / Derer daselbst von einigen Unruhigen erregten unfertigen Streit = Händel / Samt angefügtem Von Theologisch= und Juristen Facultäten zu Halle In dieser Sache gesprochenem Urtheile […], Giessen 1700. Vgl. Lückel, Die Anfänge des radikalen Pietismus in Wittgenstein (wie Anm. 21), 41–68.

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Ulf Lückel

Volck und aus dringenden eigenen Anliegen ihres Gewissens dahin besorget gewesen wie Sie zuforderist die daselbst vacierende Stelle eines Kirchen=Inspectoris mit einem treuen Subjecto versorgen und ein zu Ihrem fürhabenden Zweck taugliches Werckzeug erwehlen möchte.“36

Weiter wird angeführt, dass sie den ehemaligen Prediger aus Braunfels, Johann Henrich Reitz wegen seines christlichen Wandels Ende 1699 nach Berleburg holte und ihn nebst seinem Begleiter, dem sittsamen Theologiestudenten „Bintner“37 mit der Verwaltung der pastoralen Aufgaben für die Gemeinde betraute. Beide versahen auch das Amt des Predigers – allerdings, wie angemerkt wird, ohne Sakramente zu spenden – was ja auch nicht verwundern darf, denn diese lehnten sie ja aus tiefster Überzeugung ab – allerdings überprüften sie die Gemeindeglieder regelmäßig in Fragen des Heidelberger Katechismus. Hier kommt aber der erste starke Kritikpunkt der Anklage gegen Reitz und Kollegen: Sie katechetisierten nun im Drei-Monatstakt und befragen auch die älteren Gemeindeglieder, welche das aber entschieden ablehnten. Besonders der Bürgermeister38 befürchtete, dass er nun bloßgestellt werden könne. Hervorgehoben wird aber, dass die Predigten der beiden – und auch Samuel Königs, der ebenfalls sowohl am Hof der Gräfin als auch in der Kirche predigte – von der Bevölkerung wohlwollend und sehr positiv aufgenommen wurden. Dennoch war die Bevölkerung mit der neuen Entwicklung nicht zufrieden – für viele Berleburger war diese neue Art nicht mehr tragbar. Sie wandten sich von der Gemeinde ab und besuchten die traditionellen reformierten Gottesdienste in den umliegenden Dörfern.39 Die Gemeinde spaltete sich: Fast der gesamte Hof mitsamt seinen Angestellten, Beamten, aber nur wenigen Knechten und Mägden schloss sich den neuen Gedanken der Gemeinschaft an,40 dazu stießen noch einige wenige Berleburger Bürgerinnen und Bürger. Vor allem die gräflichen Familien in Berleburg und Schwarzenau kamen zu den Versammlungen und fanden hier ihre persönliche Erbauung. Zwei in Schwarzenau wohnhafte unverheiratete Schwägerinnen von Hedwig Sophie, Wilhelmina Philippina zu SaynWittgenstein-Berleburg (1669–1724) und Concordia Louise zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (*1680 † nach 1730)41 und ebenso der Nachbarregent Graf Henrich Albrecht zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein und seine vier unverheira36 Entdeckter Ungrund Des Bißhero weit und breit erschollenen Falschen Gerüchtes (wie Anm. 35), 4. 37 Gemeint ist Püntiner. 38 Bürgermeister Johann Georg Fuchs, der seit 1700 dieses Amt in Berleburg bekleidete. 39 Siehe das Gutachten zu den Ereignissen in Berleburg: Entdeckter Ungrund (wie Anm. 35), 13. 40 Ebd., 12f. 41 Die Lebensdaten sind in der Literatur zum Teil recht unterschiedlich angegeben, ich orientiere mich an dem zeitgenössischen Dokument, der Hübnerischen Tabelle, die in Berleburg gedruckt wurde. Vgl. Die verbesserte und vermehrte 385. Hübnerische Tabelle. Die heutigen Grafen zu Sayn und Wittgenstein von der Linie zu Berleburg, Berleburg 1730.

„Streit zwischen Schwestern und Brüdern!“

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teten Schwestern42 kamen zu den Versammlungen und Predigten der Enthusiasten. Es scheint rein zahlenmäßig ein deutliches Übergewicht an Frauen gegeben zu haben.43 Johann Georg Hinsberg schildert diese Versammlungen besonders eindringlich: „Das waren keine korrekten, kirchlich und staatlich approbierten Theologen, die durch fleißig ausgearbeitete und eingeteilte Predigten eine mehr oder weniger weltlich gestimmte Gemeinde zu erbauen suchten. Das waren Enthusiasten, die fessellos ihren Eingebungen folgend, unsinnliche Dinge mit glänzenden Farben zu schildern verstanden, Chiliasten, die, das 1000jährige Reich vor Augen, das Leiden dieser Zeit übersahen und ihre Überzeugung mit dem Verzicht auf Würden und Ehren besiegelten.“44

Auf der anderen Seite stand der Rest der Bevölkerung. Nicht bereit, die oben skizzierten Entwicklungen zu dulden, wandten sie sich schließlich hilfesuchend an Graf Rudolf zur Lippe-Brake, der als Vormund der Berleburger Grafenkinder durchaus berechtigt war, in die Regierung des kleinen Staatswesens lenkend einzugreifen. In Berleburg war der Höhepunkt der Schwärmerei jedoch noch keineswegs erreicht. Zu Ostern 1700 fanden Aufsehen erregende Gebetsversammlungen statt, wie man sie im ganzen Wittgensteiner Land bisher noch nicht erlebt hatte.45 In nahezu ununterbrochenen ekstatischen Versammlungen, die sich über einen längeren Zeitraum hinzogen, wurde die „Einsegnung von Priesterinnen und Priestern des neuen Reichs“46 vorgenommen. Ohne Rücksicht auf Geschlecht oder sozialen Stand wurden ungefähr 50 Personen durch Handauflegung eingesegnet und erhielten neue (biblische) Namen. So wurde Hochmann zu Aaron, Gräfin Hedwig Sophie erhielt den Namen Maria, Henrich Albrecht wurde zu Josef von Arimathia umbenannt.47 Warum der Name Samuel König bei dieser Einsegnung nicht mehr angeführt wird und warum er sich offenbar nicht mehr in Berleburg aufhielt, lässt sich nur vermuten. Es erscheint auf den ersten Blick verwunderlich, denn er war doch der Hauptinitiator dieser chiliastischen Revolution. Die Bewegung in Berleburg hatte mit der geschilderten Masseneinseg42 Es handelt sich um folgende Gräfinnen zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein: Amalia (1664– 1724), Anna Sophia (*1667), Henriette (*1669) und Louise Magdalena (1672–1705). Vgl. die Lebensdaten in: Die verbesserte und vermehrte 388. Hübnerische Tabelle. Die heutige (sic) Grafen zu Sayn und Wittgenstein von der Linie zu Wittgenstein, Berleburg 1730. 43 Vgl. Lückel, Überschreitungen von Geschlechter- und Standesgrenzen (wie Anm. 2), 164f. 44 Hinsberg, Geschichte (wie Anm. 19), 46f. 45 Über die Ereignisse im Berleburger Schloss liegen zwei handschriftliche Berichte vor, die sich in dem Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle befinden (AFSt / H D 78:20 und AFSt / H D 84, 196–217). Zu den Berichten vgl. Renkewitz, Hochmann (wie Anm. 23), 117, Anm. 90. 46 Vgl. ebd., 88. 47 Ebd., 123f., Anm. 103.

210

Ulf Lückel

nung offensichtlich eine Richtung eingeschlagen, die weder von König noch von Horch länger mitgetragen wurde.48 Hochmann und Püntiner49 waren es, die die Osterereignisse 1700 gestalteten. Ob es zu einem „Führungskonflikt“ zwischen König und Hochmann gekommen war, lässt sich schlecht belegen. In dieser Auseinandersetzung konnte der wohl stärkere Hochmann Püntiner50 überzeugen und mit ihm gemeinsam die Osterereignisse mit der Einsegnung begehen und so zum Höhepunkt des apostrophierten „Melchisedikschen Priestertums“51 gelangen.52 Nach den Osterereignissen schritt Graf Rudolf ein und bereitete der „Kirchenrevolution in Berleburg“53 ein Ende – die Versammlungen hörten mit dem Osterfest auf und als Rudolf mit wenigen Soldaten Ende April in Berleburg eintraf, waren schon viele der Separatisten in die benachbarte Grafschaft SaynWittgenstein-Hohenstein geflüchtet, auf die Graf Rudolf keinen Zugriff hatte. Schmitz wurde entlassen und ebenso der für die Anstellung der Pfarrer zuständige Oberamtmann Metting(h). Ein kurzes Intermezzo ging somit zu Ende, aber hiermit war der entscheidende Grundstein für die nachfolgende radikalpietistische Periode gelegt, die dann eine Dekade später unter der Regentschaft des Grafen Casimir (1687–1741) begann.54

48 Nach Renkewitz bejahte Horch als Anhänger des philadelphischen Gedankens „einen Enthusiasmus der Liebe“, jedoch lehnte er die starken körperlichen Begleiterscheinungen, die mit der Einsegnung des neuen Priestertums einhergingen, ab. Ebd., 148f. 49 Der Bericht nennt als Hauptakteure „die zwei getreue[n] Zeugen Jesu H[ochmann] und P[üntiner]“, AFSt Halle, H D 78:20, 2. Vgl. ebd., 120–124. 50 Die Inspirierten nannten Püntiner einen „Fladder-Geist“; J.J.J. XVI. Samlung, Das ist der XVI. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften […], o.O. 1772, 94. Püntiner hielt sich später auch noch im Gefolge Eva von Buttlars auf. Vgl. Willi Temme, Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700, Göttingen 1998, 181–184. 51 Vorbild war der im Hebräerbrief genannte Priester Melchisedek (Hebr. 7f.), der den Anfang des neuen Bundesschlusses markiert und gleichzeitig im Mittelpunkt der endzeitlichen Hoffnungen steht. Vgl. dazu Ruth Albrecht, Konzepte einer elitären geistlichen Priesterschaft im Umfeld des Pietismus unter Berufung auf Melchisedek, in: Inge Mager (Hg.), Festschrift für Hans Otte zum 65. Geburtstag. Überliefern – Erforschen – Weitergeben, Hannover 2015, 157–167. 52 Vgl. Johann Georg Hinsberg, Die Sturm- und Drangperiode des Pietismus in der Grafschaft Berleburg um 1700, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Volkskunde Wittgensteins 1 (1913), 12–21. 53 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus (wie Anm. 8), 122. 54 Vgl. Lückel, Adel und Frömmigkeit (wie Anm. 3).

Marco Hofheinz

Urteilsbildung und Entscheidungsfindung im (Bekenntnis-)Konflikt Karl Barths Beitrag zur Rationalisierung des innerkirchlichen Streits Für Wolfgang Lienemann zum 75. Geburtstag in Dankbarkeit

1.

Der historische Kontext der Wiederbewaffnungsdebatte als „Sitz im Leben“ von Barths Traktat „Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens“ (1952)

Innerkirchlicher Pluralismus ist nicht erst seit heute ein verbreitetes Phänomen. Ihn hat es immer gegeben – solange die Kirche existiert und ihre Geschichte währt. Insbesondere wenn es um theologische Fragen ging, die eine dezidiert politische Dimension besaßen und auch die parteipolitischen Auseinandersetzungen betrafen,1 blieb es nicht aus, dass konträre Meinungen im Raum von Kirche bisweilen heftig aufeinander prallten. Man denke nur an die Wiederbewaffnungsdebatte oder die Atomwaffendiskussion in den 1950er Jahren.2 Der in der damaligen Diskussion friedensethisch und bekenntnishermeneutisch virulente Begriff des status confessionis signalisiert bereits, dass es um einen heftigen innerkirchlichen Streit ging, der in den Kontext einer Bekenntnisfrage gerückt wurde und damit eine denkbar hohe Eskalationsstufe erreichte. Die Kontroverse gelangte zu einem solchen Zuspitzungsgrad, dass es nicht wenigen um die „Einheit des Glaubens“ hinsichtlich politischer Entscheidungen zu gehen schien. Der Vorwurf stand im Raum, dass die kirchliche Gemeinschaft aufgekündigt 1 Andreas Busch, Politische Mitwirkung des Protestantismus, in: Christian Albrecht/Reiner Anselm (Hg.), Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, Tübingen 2015, 15–36; Michael Klein, Anti-Parteien-Mentalität im parteipolitischen Engagement. Historische Studien zum Verhältnis zwischen dem westdeutschen Protestantismus und den politischen Parteien von der „Stunde Null“ 1945 bis zum Ende der „Ära Adenauer“ 1963 und zu dessen Vorgeschichte, Tübingen 2005. 2 Vgl. dazu: Volker Stümke, Der Streit um die Atombewaffnung im deutschen Protestantismus, in: Volker Stümke/Matthias Gillner (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, 49–69; Wolfgang Huber/Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart u. a. 1990, 166–186; Wolfgang Lienemann, Frieden. Vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“, Göttingen 2000, 89–101, und vor allem Ulrich Möller, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962, NeukirchenVluyn 1999.

212

Marco Hofheinz

werde – und zwar von meist in Affinität zur Theologie Karl Barths (1886–1968) stehenden kirchlich und politisch linken Oppositionellen, die Andersdenkenden ihr Christsein absprechen würden. In gewisser Weise hatte Karl Barth selbst diese Zuspitzung vorhergesehen. Er schrieb bereits im Jahr 1952 im Kontext der Remilitarisierungsdebatte,3 also in der Diskussion um die Bewaffnung der im Entstehen begriffenen Bundeswehr, einen bis heute leider wenig beachteten Traktat mit dem programmatischen Titel „Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens“.4 Hier versucht er, die „Spielregeln“ sichtbar zu machen, nach denen sich eine solche Entscheidung vollziehen könne.5 Die damalige Remilitarisierungsdebatte bildete durchaus mehr als nur ein Vorspiel zur breiten Atomwaffendiskussion der späten 1950er und dann später auch der friedensbewegten 1980er Jahre. Gustav Heinemann (1899–1976) war aufgrund der Wiederbewaffnungspläne des Bundeskanzlers Konrad Adenauer (1876–1967) 1950 als Innenminister zurück- und 1952 aus der CDU ausgetreten. Zu den entschiedenen Gegnern der Wiederbewaffnung gehörte auch Martin Niemöller (1892–1984), ein führender Vertreter der Bekennenden Kirche sowie späterer Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Präsident im Ökumenischen Rat der Kirchen. Karl Barth selbst stand damals in der Ablehnung der Remilitarisierung „hundertprozentig neben Niemöller und Heinemann“, auch wenn diese sich nach Auffassung Barths bisweilen „zweideutiger“ Argumentationen bedienten.6

3 Zur Wiederaufrüstungsdebatte vgl. Bruno Schmidt-Späing, Ethisches und politisches Urteilen. Beispielhaft an den Positionen Helmut Gollwitzers zur Wiederaufrüstungsfrage nach 1945, Stuttgart 1987, bes. 6–67; Dirck Ackermann, Kontroversen um die deutsche Wiederbewaffnung nach 1949. Impulse der Evangelische Kirche für die Friedensethik im 20. Jahrhundert, in: Stümke/Gillner (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert (wie Anm. 2), 29–47. 4 Karl Barth, Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens, München 1952, 3–19. Vgl. dazu: Helmut Gollwitzer, Die politische Gemeinde in der christlichen Welt, in: ders., Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, München 1964, 3–60; Gerald McKenny, The Analogy of Grace. Karl Barth’s Moral Theology, Oxford 2010, 230–235, 274f.; Georg Plasger, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000, 185–189; Georg Plasger, Rechtfertigung, Recht und Politische Entscheidung. Karl Barths Weg einer theologischen Bestimmung des Politischen, in: Stefan Müller/Johannes Voigtländer (Hg.), „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ – in einer nachchristlichen Gesellschaft, Bonn/Hannover 2018, 21–28; Heinz Eduard Tödt, Theologie lernen und lehren mit Karl Barth. Briefe – Berichte – Vorlesungen. Zusammengestellt von Ilse Tödt, Berlin 2012, 151f., 193, 210f., 215–223. 5 So Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 41986, 400. 6 So Karl Barth im Brief vom 13. Oktober 1952 an George Casalis. Zit nach Busch, Karl Barths Lebenslauf (wie Anm. 5), 400.

Urteilsbildung und Entscheidungsfindung im (Bekenntnis-)Konflikt

2.

213

Karl Barths und Heinz Eduard Tödts Schema ethischer beziehungsweise sittlicher Urteilsbildung

Barths Traktat ist ethikgeschichtlich meines Erachtens alles andere als bedeutungslos. Mit ihm hat Barth einen Text veröffentlicht, in dem sich durchaus einzelne Sachmomente des bis heute im Ethikdiskurs gebräuchlichen Urteilsschemas von Heinz Eduard Tödt (1918–1991) finden. Man wird Barths Text zwar nicht einfach zum unmittelbaren Vorläufer des Tödt’schen Urteilsschemas stilisieren können, jedoch ist auch bei Barth ein freilich sehr rudimentäres Schema der Urteilsbildung ausgeprägt.7 Außerdem hat sich Tödt, wie wir inzwischen aus seinem teilveröffentlichten Nachlass wissen,8 in seinen Heidelberger Vorlesungen zwischen 1973 und 1983, also in der Zeit, in der sein Urteilsschema entstand,9 immer wieder auf diese Schrift Barths berufen. Am Horizont der Barth’schen Ausführungen zeichnet sich, wenn man so will, bereits die Tödt’sche Intention ab, ein operationales Schema für die Bildung ethisch begründeter Urteile zu entwickeln. Dies ist ethikgeschichtlich erstaunlich, wenn man berücksichtigt, dass sich erst „Mitte der 70er Jahre […] das Interesse der ethischen Urteilsbildung im engeren Sinne“10 zuwendete. Vorher befand sich die ethische Urteilsbildung „in einem vortheoretischen Stadium, sie [wurde] vollzogen, der Vollzug aber nicht selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion gemacht. Ein Schritt in Richtung auf eine wissenschaftlich reflektierte ethische Urteilsbildung erfolgt[e] durch die analytische Ethik als Metaethik.“11 Einen allerersten Anstoß, gleichsam die Initialzündung zu einer theologischen Aufarbeitung der Thematik, die Tödt dann beherzt aufgriff, gab – wie wir noch sehen werden – Barth. Tödts12 Schema der Sach- und Verlaufsstruktur sittlicher Urteile umfasst die Sequenz von sechs Schritten, die Tödt als Sachmomente bezeichnet, nicht zuletzt 7 Ein „Schema“ im Sinne der Tödtschen Definition als „methodisch geordnete Grundrißdarstellung des Sich-verhaltens-zu, wie es sich in Akten wie dem sittlichen Urteil vollzieht“ (Heinz Eduard Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21–48, hier 29), lässt sich bei Barth eindeutig identifizieren. 8 Vgl. Tödt, Theologie lernen und lehren mit Karl Barth (wie Anm. 4), 149, 151f., 210f., 222. 9 Vgl. Tödts erster „Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung“, ZEE 21 (1977), 80–93. 10 Wilfried Härle, Art. Ethische Urteilsbildung, in: RGG4 2 (1999), 1634. Zu den Hemmnissen seitens der evangelischen Ethik vgl. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung (wie Anm. 7), 46f. Eine wesentliche Rolle dürfte dabei die Furcht vor einer Kasuistik gespielt haben, wie sie mit der römisch-katholischen Moraltheologie in Verbindung gebracht wurde. So Christofer Frey, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 229. 11 Härle, Art. Ethische Urteilsbildung (wie Anm. 10), 1634. 12 Tödt, Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsbildung (wie Anm. 9), 80–93; Kriterien evangelisch-ethischer Urteilsfindung. Grundsätzliche Überlegungen angesichts der Stellungnahme der Kirchen zu einem Kraftwerk in Wyhl am Oberrhein, in: ders., Der Spielraum

214

Marco Hofheinz

um zu verdeutlichen, dass die Urteilsbildung keinen geradlinigen Weg solcher Schritte darstellt, die nur einmalig getan werden, sondern einen „iterative[n] Prozeß“13: 1. Wahrnehmung, Annahme und Bestimmung des anfallenden Problems als eines sittlichen. 2. Analyse der Situation, in welcher das Problem die Betroffenen herausfordert. 3. Erwägen der Verhaltensoptionen, die als Antwort auf ein Problem geeignet und sittlich geboten erscheinen. 4. Auswahl und Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven, die für die Wahl unter möglichen Verhaltensoptionen angesichts eines Problems relevant sind. 5. Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit wählbarer Verhaltensoptionen. 6. Urteilsentscheid als integraler, das heißt kognitiver, voluntativer und identitätsrelevanter Akt und als in Verhalten umzusetzende Antwort auf das Problem.14

Dieses sechsstufige Urteilsschema ist bis heute in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen immer wieder rezipiert, kritisiert und modifiziert worden.

3.

Karl Barths „Schema“ der Sach- und Verlaufsstruktur politisch-ethischer Urteile aus theologischer Perspektive

3.1

Verortung des Schemas in der Kirche

Tödt hat sein Schema ohne besondere kirchliche Abzweckung allgemein für Beratungsgespräche und zur Orientierung bei der methodischen Erarbeitung von Gutachten oder Publikationen erstellt.15 Barth hingegen arbeitet mit einem spezifisch und dezidiert ekklesiologischen Fokus, indem er ausgehend vom politischen Auftrag der Kirche nach der Begründung einer im Gehorsam gegenüber dem Evangelium gefällten politischen Stellungnahme der Kirche „als organisierte[r] Körperschaft“16 fragt.17 Barth geht dabei von der Trägheit der

13 14 15

16

des Menschen. Theologische Orientierung in den Umstellungskrisen der modernen Welt, Gütersloh 1979, 31–80; ders., Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung (wie Anm. 7), 21–48. Zur Distinktion zwischen ethischen und sittlichen Urteilen bei Tödt vgl. dessen nomenklatorische Bemerkung ebd., 25: „Reflexionen auf der wissenschaftlichen Ebene (Theorieebene) über sittliche Probleme nenne ich also ‚ethisch‘. Darum spreche ich von einer ethischen Theorie (Wissenschaftsebene) sittlicher Urteile (Vollzugsebene).“ Dort z. T. kursiv. Ebd., 29. Heinz Eduard Tödt, Die Zeitmodi in ihrer Bedeutung für die sittliche Urteilsbildung, in: ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 49–84, hier 53. Vgl. ders., Versuch einer Theorie ethischer Urteilsfindung (wie Anm. 7), 82. Dass man Tödt gleichwohl einem „kirchlichen Protestantismus“ zurechnen kann, ist davon unbenommen. So etwa Christian Albrecht/Reiner Anselm, Der bundesrepublikanische Nachkriegsprotestantismus: Erste Umrisse, in: dies., Teilnehmende Zeitgenossenschaft, 387–395, hier 394. Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 5.

Urteilsbildung und Entscheidungsfindung im (Bekenntnis-)Konflikt

215

Institution Kirche aus. Hier manifestiere sich oft die frustrierende Erfahrung, dass „Kirche“ offensichtlich nur selten dazu in der Lage sei, eine einmütige, eindeutig „Ja“ oder „Nein“ lautende Entscheidung zu fällen und diese dann pointiert und konsequent in der Öffentlichkeit zu vertreten. Deshalb wendet sich Barth der Frage zu, wie einzelne Gemeindeglieder (wie Heinemann oder Niemöller), die oftmals die Avantgarde der Kirche bilden, ihrer individuellen christlichen Verantwortung gerecht werden und zu einer begründeten Stellungnahme gelangen können. Handlungssubjekt ist in Barths Urteilsschema demzufolge der einzelne Christ im Raum der Kirche. Barth möchte den Beitrag, den ein Individuum zur konkreten Wahrnehmung des „politischen Auftrages der Kirche“18 leisten kann, elaborieren. Die als Diskursgemeinschaft verstandene Kirche, die als eigene distinkte Öffentlichkeit im Raum der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit existiert, bildet dabei den Ausgangs- und Zielpunkt seiner Überlegungen.19

3.2

Verstandeserwägungen zur Prüfung von Sachargumenten

Es geht Barth in einem ersten Schritt um das Abwägen nach Pro und Contra. Er ruft dazu auf, dass man bei der Bildung politischer Urteile „den Mut haben muß, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“.20 Barth votiert nachdrücklich und mit aufklärerischem Pathos für eine qua Verstandeserwägung zu vollziehende Prüfung aller zur Diskussion stehenden Sachargumente. Da die politischen Argumente auf Verstandeserwägungen beruhen und „Beantwortungen von Ermessensfragen“21 sind, von denen keine „in der Bibel oder im Katechismus“22 steht, sind die Gemeindeglieder hinsichtlich einer solchen Prüfung auch mit allen nicht zur Gemeinde Gehörenden verbunden. Verstandeserwägungen schließen nicht nur geisteswissenschaftliche, sondern auch human- und naturwissen17 Den Anlass zu einer erweiterten Fassung seines Urteilsschemas bildete für Tödt (Kriterien evangelisch-ethischer Urteilsfindung [wie Anm. 12], 31) nach einer Erstfassung im Jahr 1977 der „Gemeinsame Brief der katholischen und evangelischen Bischöfe in Baden-Württemberg an die Gemeinden zu Fragen der Kernenergie“ vom 15. 2. 1977. 18 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 3. 19 Den Referenzrahmen des Barth’schen Urteilsschema repräsentiert demzufolge eine kirchliche Ethik bzw. eine diskursive „ethische Theorie“ der Kirche. Diesen Referenzrahmen hat Reinhard Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 1993, 25–105, nachgezeichnet. Vgl. dazu auch Marco Hofheinz, „Er ist uns Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, Göttingen 2014, 632– 647. 20 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 8. 21 Ebd. 22 Ebd.

216

Marco Hofheinz

schaftliche Forschungen23 ein.24 Bereits hier, zu Beginn des „Schemas“, zeigt sich, dass Barth dieses als einen Beitrag zur Rationalisierung der Entscheidungsfindung und damit zur Rationalisierung des innerkirchlichen Streits durch eine begründete Urteilsbildung versteht.

3.3

Die Unterscheidung der Geister als Bewertung der sachlichen Faktoren

Aus den Verstandeserwägungen zur Prüfung von Sachargumenten resultieren zwei in Pro und Contra unterteilte und hinsichtlich ihrer politischen Plausibilität gewichtete Reihen von Argumenten. Sie stehen gleichsam vor dem urteilenden Individuum, das nun die Sachargumente beziehungsweise sachlichen Faktoren bewerten muss. Dies soll nach Barth aus einer theologischen Perspektive geschehen, die er einspielt. Barth macht sie als eine kirchlich-gebotsethische Perspektive explizit: Der Christ

23 Dies ist mit Wolfgang Lienemann (Das Gebot Gottes als „Ereignis“. Bibelgebrauch und freie Verantwortlichkeit in der Ethik Karl Barths, ZDTh 15 [1999], 155–177, hier 158) gegenüber „einem immer noch begegnenden Vorurteil gegenüber Barths Dogmatik und Ethik“ festzuhalten, wonach diese „mit innerer Notwendigkeit die sachgerechte Berücksichtigung humanund naturwissenschaftlicher Forschungen und Einsichten“ ausschließe. 24 Unterlegt man Barths Umschreibung das Tödtsche Urteilsschema, so wäre jetzt in diesem der vierte Schritt erreicht, nämlich die „Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven“. Das heißt zugleich, dass im Vergleich zu Tödt bei Barth die analytischen Zwischenschritte eines differenzierten Urteilsgang, nämlich die Wahrnehmung, Annahme und Bestimmung eines Problems als eines sittlichen (1. Sachmoment), die Situationsanalyse (2. Sachmoment), die Erwägung der Verhaltensoptionen (3. Sachmoment) sowie die Auswahl und Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven (4. Sachmoment) nicht erwähnt bzw. ausgeführt, sondern gleichsam zu einem Moment bzw. Schritt zusammengezogen werden. Barth schildert gewissermaßen nur das Resultat dieses (Kontraktions-)Schrittes, wonach nämlich zwei in Pro und Contra unterteilte und hinsichtlich ihrer politischen Plausibilität gewichtete Reihen von Argumenten vor dem urteilenden Individuum stehen. Anders verhält es sich nun mit den beiden folgenden Schritten in der Sach- und Verlaufsstruktur des Urteilsfindungsprozesses. Die von Tödt in der Letztfassung seines Urteilsschemas genannten Sachmomente, die „Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit von Verhaltensoptionen“ (5. Sachmoment) und der „Urteilsentscheid“ (6. Sachmoment), lassen sich auch in Barths Schema cum grano salis wiederfinden. Allerdings zeigt sich im Blick auf die Prüfung sittlich-kommunikativer Verbindlichkeit der Verhaltensoptionen eine signifikante Differenz. Während Tödt vor dem Hintergrund des gravierenden Problems der Partikularität von Normen die Vorstellung bloß subjektiv gültiger, singulärer sittlicher Urteile als contradictio in adjecto strictissime zurückweist (so sachgemäß Frank Mathwig, Technikethik – Ethiktechnik. Was leistet Angewandte Ethik?, Stuttgart u. a. 2000, 228, in seiner Charakterisierung des Tödtschen Schemas), unterstellt Barth exakt dies im Blick auf den von der universalen Reichweite zu unterscheidenden partikularen Geltungsbereich ethischer Urteile. Vgl. Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis (wie Anm. 19), 284f.; Plasger, Die relative Autorität (wie Anm. 4), 139–142.

Urteilsbildung und Entscheidungsfindung im (Bekenntnis-)Konflikt

217

„wird das [Urteilen] aber nicht – darin unterscheidet er [der Christ] sich von seinen Mitbürgern – in einem von seinem Glauben getrennten Raum, sondern vor Gott – nicht vor irgendeinem, sondern vor dem im Evangelium von Jesus Christus zur Welt, zur Gemeinde und so auch zu ihm redenden Gott tun. Er wird nach der Entscheidung – nicht der Willkür und auch nicht der menschlichen Klugheit, sondern der Freiheit im Gehorsam gegen dieses Gottes Gebot fragen.“25

Diesen (gemäß Tödt’scher Zählung fünften) Schritt der Urteilsbildung charakterisiert Barth als die Unterscheidung der Geister (1Kor 12, 10).26 Hinsichtlich der Schilderung des Vollzugs jenes fünften Schritts macht Barth erneut die Differenz zwischen den Gemeindegliedern und den nicht zur Gemeinde Gehörenden explizit: Der Christ „wird sich aber darin von Anderen unterscheiden, daß er auf die in diesen beiden [nach Pro und Contra geordneten und qua Verstandeserwägungen gewichteten] Argumentenreihen redenden Geister, auf die in ihnen wahrnehmbaren Gedankengänge, Richtungen und Gesichter achtet. Das steht nun allerdings in der Bibel: daß der Christ im kleinen wie im großen Zeitgeschehen mit dem Walten von Geistern, und zwar von verschiedenen, guten und bösen Geistern, daß er sie, geleitet durch den heiligen Geist des Wortes Gottes und an dessen Maß sie messend, zu unterscheiden, und daß er sich in seiner eigenen Haltung, dieser Unterscheidung entsprechend, einzurichten habe: nicht so oder auch anders also, sondern so und nicht anders!“27

Dieser Schritt der Urteilsbildung ist gemäß Barth entscheidend. Aus dem Dargestellten ergibt sich folgende Synopse: Urteilsschema Tödt (1988) 1. Problemwahrnehmung

Urteilsschema Barth (1952)

2. Situationsanalyse 3. Verhaltensoptionen 4. Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven im Blick auf Verhaltensoptionen

Prüfung von Sachargumenten (Verstandes- und Ermessensfragen)

5. Verbindlichkeitsprüfung

Unterscheidung der Geister (im Hören auf das Gebot Gottes)

6. Urteilsentscheid als Verknüpfung der vorangehenden Schritte 1–5

Urteilsentscheid

25 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 7. 26 Vgl. zur „Unterscheidung der Geister“ Marco Hofheinz, Wahrnehmen – Urteilen – Prüfen. Explorative Annäherung an eine „selbstdarstellende“ theologische Identitäts- und Gemeindeethik, in: Marcus Held/Michael Roth (Hg.), Was ist Theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin/New York 2018, 63–80, hier 74f. 27 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 8.

218 3.4

Marco Hofheinz

Das Gebot Gottes und der Urteilsentscheid

Barth spricht im Blick auf den Urteilsentscheid nicht von der Kreativität der Synthesebildung, wie Tödt dies tut,28 sondern der Gehorsamsfrage. Dabei versteht Barth unter Gehorsam das pathische Sich-selbst-Bestimmen-Lassen von dem als Gottes Gebot Gehörten. Barth hält an der Eindeutigkeit des hic et nunc ergangenen Gebotes fest, wenn auch nicht unserer Wahrnehmung derselben, und möchte im Blick auf dasselbe die Rede von einem Ermessensspielraum vermieden wissen. Barth zufolge ist damit – anders aber als bei Tödt – auch nur eine bestimmte Entscheidung im Gehorsam gegenüber dem bestimmten Gebot Gottes möglich. Barth kennt freilich – auch das gehört zu seiner Gebotsethik – den Vorbehalt besserer, zukünftiger Belehrung und konzediert ihn. Gerade indem Barth immer wieder auf das hic et nunc des Gebotsgehorsams und der Entscheidung hinweist,29 relativiert er sie. So spricht Barth betont vom „Wissen um die tiefe Fragwürdigkeit und Gebrechlichkeit, Vorläufigkeit und Relativität auch des Besten, was der Mensch mit seinem Wollen und Vollbringen, seinem Ja oder Nein, konkret anstreben kann und erreichen wird“.30 Wo Tödt jetzt, also in der Gegenwart, Ermessensspielraum sieht, besteht bei Barth die Revisionsmöglichkeit in der Zukunft.31 Beide möchten so auf ihre Weise vermeiden, den Urteilsentscheid zu einem Akt dezisionistischer Willkür zu stilisieren. Tödt gibt zu bedenken, dass Barth sich mit seinem Einwand, bei politischen Entscheidungen gehe es um mehr als bloße „Ermessensfragen“, nämlich um den Gehorsam gegenüber Gott und seinem Gebot, gegen individual- beziehungsweise gewissensethische Reduktionismen wendet: Barth sah sich nach 1933 und insbesondere nach 1945 mit der Auffassung konfrontiert, dass christliche Entscheidungen – auch in politicis – nur vom Einzelnen nach seinem Gewissen zu vollziehen seien. Die Kirche, die Gemeinde, die Predigt müsse sich darauf beschränken, die Gewissen der einzelnen Christen zu schärfen, ohne ihnen inhaltliche Weisungen geben zu dürfen. Die Individualisierung der Entscheidung entsprach der dualistischen Zwei-Reiche-Lehre, sofern sie auch den Anspruch des Gesetzes nur noch als Anspruch an den Einzelnen begriff, das heißt als einen Anspruch ohne intersubjektiv gültige normative Inhalte. Gegenüber diesem ethischen Individualismus brachte Barth 28 29 30 31

Vgl. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung (wie Anm. 7), 41. Vgl. etwa Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 8f. Ebd., 15. Zur Revidierbarkeit der Lehre nach Barth vgl. Wolfgang Lienemann, Hören, Bekennen, Kämpfen. Hinweise auf Bekenntnis und Lehre in der Theologie Karl Barths, EvTh 40 (1980), 537–558, hier 556: „Sie [die Autorität jeder Konfession] ist immer ‚Autorität unter dem Wort‘, einerseits aus der Erfahrung der Kirche in harten Entscheidungen erwachsen, andererseits nur vorläufiger Art in der Erwartung neuen Hörens, künftiger Belehrung und vollmächtigeren Bekennens. Eine vollendete, unüberbietbare und unveränderbare Konfession ist ‚ein eschatologischer Begriff‘“. Vgl. Karl Barth, KD I/2, Zürich 1938, 737.

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die Ausrichtung der Kirche auf die Einheit des Glaubens und den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche auch hinsichtlich politischer Entscheidungen zur Geltung.32

4.

Tatsächlich? Eine kleine Apologie von Karl Barths „Schema“ der Sach- und Verlaufsstruktur politisch-ethischer Urteile

Barths Schema ist bisweilen als gebotsethische Engführung kritisiert worden – auch aus dem Kreis ihm nahestehender Theologinnen und Theologen.33 Wenn ich es recht sehe, so hat sich Barth gleich drei Vorwürfe eingehandelt: 1. Es hat den Anschein, als würde Barth mit seiner Reserve gegenüber der Rede von Ermessensspielräumen den innerkirchlichen Pluralismus ablehnen.34 2. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, als platziere Barth in seinem Traktat jede einzelne strittige ethische Frage unter dem Damoklesschwert des status confessionis, das gleichsam über allen ethischen Urteilen zu hängen und mit jedem Urteilsentscheid tatsächlich herunter zu sausen scheint. 3. Es scheint so, als verlagere Barth mit seinem gebotsethischen Ansatz alles Gewicht auf Gott und als verschwinde mit den Ermessensspielräumen auch gleich das urteilende Subjekt in seiner charakterlichen Konstituierung aus dem Schema der Urteilsbildung. In der Tat lässt sich darüber streiten, ob Barth in seinem Urteilsschema genügend Spielraum für Ermessensfragen lässt. Freilich werden im Zuge der Artikulation dieser Vorwürfe, oft mehrere Dimensionen und Implikationen des Barth’schen „Urteilsschemas“ übersehen, die meines Erachtens schon aus Fairnessgründen berücksichtigt werden müssten.

32 Tödt, Theologie lernen (wie Anm. 8), 193. 33 Helmut Gollwitzer etwa qualifizierte die „politische Entscheidung“ als eine „Ermessensfrage“. Vgl. Schmidt-Späing, Ethisches und politisches Urteilen (wie Anm. 3), bes. 175–245; Möller, Im Prozeß des Bekennens (wie Anm. 2), bes. 165–170, 251–255; Jens Müller-Kent, Vermächtnis für die Zukunft. Gespräche mit Helmut Gollwitzer und Kurt Scharf, München 1989, 149f. 34 Rochus Leonhardt, Äquidistanz als Götzendienst? Überlegungen zur politischen Ethik im deutschen Nachkriegsprotestantismus, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie (11.–15. September 2011 in Zürich), Leipzig 2013, 657–674, hier 663, benennt „den Verdacht, dass Barth an einem das Faktum des modernen Pluralismus theologisch ernst nehmenden Beitrag zum ‚Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen‘ (Eilert Herms) nicht ernsthaft interessiert ist.“

220 4.1

Marco Hofheinz

Die lebendig-dynamische Einheit der Kirche. Oder: Karl Barth und der innerkirchliche Pluralismus

Die Erkenntnis des Gebotes Gottes beziehungsweise das Hören auf dasselbe ist Barth zufolge weder selbstverständlich, noch ist sie in unkonzentrierter Beiläufigkeit und/oder im Einverständnis der um dasselbe bemühten Menschen zu erzielen. Barth rechnet mit einem Dissens im Raum der Kirche hinsichtlich der Frage,35 wie das Gebot in Bezug auf eine Situation beziehungsweise ein konkretes, politisch-ethisch virulentes Problem lautet. Damit ist die Einheit des Glaubens in Frage gestellt, wobei Barth diese Infragestellung keineswegs als problematisch, sondern notwendig, ja als Ausdruck der Lebendigkeit von Kirche sogar wertschätzt: „Die Einheit des Glaubens ist nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen, und deswegen sind die Entscheidungen einzelner Christen auch keine Aufhebung, sondern letztlich Bestätigung der kirchlichen Einheit. Sie wollen ja die ganze Kirche aufrufen, ihre Neutralität aufzugeben und zur gleichen Entscheidung zu kommen. Ob ihr Aufruf zurecht geschehe, ist damit noch nicht entschieden, wohl aber hat die ganze Kirche und auch jedes ihrer Glieder, wenn sie denn die vorhandene und zu suchende Einheit ernst nehmen, diesen Aufruf zu prüfen.“36

Barth leugnet weder das Phänomen des innerkirchlichen Pluralismus, noch zeigt er sich an einer binnenkirchlichen Monokultur interessiert.37 Barth setzt vielmehr einen innerkirchlichen Pluralismus voraus, der keineswegs illegitim sei. Im Sinne des von Barth entwickelten dynamischen Einheitsverständnisses, das stets auf die Erneuerung der Einheit durch letztlich fruchtbare Krisiszeiten hindurch abzielt, wird deutlich, dass ihm zufolge das Gebot nicht gleichsam „senkrecht von oben“ vom Himmel fällt. Vielmehr bedarf es der Prüfung dessen, „was der Wille Gottes ist“ (Röm 12, 2), und diese Prüfung kann gemäß Barth „nicht oft, nicht streng und nicht genau genug vollzogen werden“.38 Dazu gehört gleichsam axiomatisch, dass die Prüfung tatsächlich ergebnisoffen39 erfolgt: „Es kann sein, daß nach der Prüfung zu erkennen ist, daß vorher nicht genug verstanden worden ist und jetzt eindeutiges und klares Verhalten gefordert ist. Es kann aber auch sein, daß die Kirche und ihre Glieder nach der Prüfung genau das Gegenteil zu sagen haben, weil sie neue Einsichten gewonnen haben. Und es kann drittens der Fall sein, daß 35 Nigel Biggar, The Hastening that Waits. Karl Barth’s Ethics, Oxford 1993, 7, charakterisiert Barths gesamte Ethik angemessen als „an Aid to Hearing“. 36 Plasger, Die relative Autorität (wie Anm. 4), 188. 37 So auch Michael Beintker, Die politische Verantwortung der Christengemeinde im Denken Barths, in: ders., Krisis und Gnade, Tübingen 2013, 172–199, hier 189. 38 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 12. 39 Barth (Politische Entscheidung [wie Anm. 4], 15) kann sogar superlativisch von einem „Höchstmaß von Offenheit“ sprechen.

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kein eindeutiges Gebot zu erkennen ist, das auszusprechen ist, daß also eine kirchliche Stellungnahme nicht möglich ist, soll sie mehr als eine Ermessensfrage sein.“40

4.2

Die geistliche Atombombe. Karl Barth und der status confessionis

Barth konzediert jedoch keineswegs, dass mit allen politischen Entscheidungen und ethischen Urteilen ein status confessionis gegeben ist. Vielmehr spricht er lediglich davon, dass das „Ethos des politischen status confessionis“41 grundsätzlich auch im Normalfall und nicht nur im Ausnahmefall gilt. Damit wird gleichsam der Normalfall menschlichen Tuns und Handelns als „Ernstfall“42 deklariert und in jedem und für jeden „Fall“ der casus confessionis proklamiert, ähnlich wie bei Martin Luther (1483–1546), wenn er davon spricht, dass all unser Tun Bekenntnis sei (tota nostra operatio confessio est)43. In seinem Traktat rekurriert Barth mehrfach auf die Kategorie des status confessionis,44 ohne diesen freilich zu proklamieren, wozu er als einzelner Christenmensch ja gar nicht befugt ist, sondern was nur die Kirche als Gemeinwesen der Jesus Christus Bekennenden vermag. Dass Barth sein Urteilsschema anhand der Remilitarisierungsfrage, also einer Frage exemplifiziert hat, in der auch die Ausstattung mit Atomwaffen zumindest mittelfristig auf dem Spiel stand, war sicherlich im Blick auf die kriteriologische Klarheit seiner Lehre vom status confessionis eine – wirkungsgeschichtlich betrachtet – unglückliche Wahl, die für mancherlei Irritationen sorgte. Denn im Blick auf die Atomwaffen sah Barth ja nur insofern den status confessionis gegeben, als dass mit Massenvernichtungsmitteln, die einen vielfachen „Overkill“ ermöglichen, das „Ende allen Lebens“ auf dem Spiele stand, mit dem selbstverständlich auch die Freiheit der Verkündigung (im Zuge der Tötung auch des Verkündigers und der Gemeinde) eliminiert worden wäre: „Es geht nicht um Prinzipien oder Ideologien und Systeme. Es geht ums Leben. Es geht um sie, die Menschen.“45 So formuliert Barth sein persönliches „Bekenntnis“ in einer Radioansprache am „Karfreitag 1957“. 40 Plasger, Die relative Autorität (wie Anm. 4), 188. 41 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 19. 42 Vgl. Barths (Politische Entscheidung [wie Anm. 4]) suggestiv-pejorative Bemerkung: „Was wäre das für eine Ethik, die gerade das Ethos des politischen status confessionis und also gerade den Ernstfall, auf den sie zielen müßte, nur als Ausnahmefall […] gelten lassen sollte!“ 43 WA 57, 137, 5. 44 Vgl. Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 9, 19. 45 Karl Barth, Es geht um das Leben (Karfreitag 1957). Zit. nach Bertold Klappert/Ulrich Weidner (Hg.), Schritte zum Frieden. Theologische Texte zu Frieden und Abrüstung, Neukirchen-Vluyn 21983, 99. Vgl. dazu: Bertold Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen-Vluyn 1994, 261f.

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Durch die Verquickung des Urteilsschemas mit der Atomwaffenfrage konnte nämlich sehr leicht der Eindruck entstehen, als würde Barth den status confessionis im Blick auf jedes ethisch virulente Problem als gegeben erachten. In seinem Gespräch mit der Kirchlichen Bruderschaft in Württemberg (15. Juli 1963) mahnt Barth hinsichtlich dieses naheliegenden Missverständnisses: „Wir wollen vielleicht nicht allzu fanatisch sein mit unserm status confessionis und uns den vielleicht vorbehalten für Situationen, wo uns nun wirklich die Pistole auf die Brust gesetzt wird! […] der status confessionis […] ist sozusagen die geistliche Atombombe, und man kann fürchterliche Verheerungen damit anrichten …“46

4.3

Die Dispositionen der politisch-ethischen Urteilsbildung. Oder: Karl Barth und das urteilende Subjekt in seiner charakterlichen Konstituierung

Bei der Urteilsbildung sind mehrere formale Bedingungen und Voraussetzungen – Barth spricht explizit von einer „Reihe von höchsten Anforderungen“47 – zu beachten, die er semantisch mit drei Begriffspaaren aus der „dispositional language“48 umschreibt:49 Erstens soll ein Höchstmaß von politischer Nüchternheit und theologischer Einsicht walten: „Nüchternheit in der Sicht der in Rechnung zu stellenden sachlichen Faktoren – und Einsicht bei deren Zusammenschau und Beurteilung“.50 Zweitens bedarf es eines Höchstmaßes an Mut und Demut im Urteilsvollzug: Mut dazu, eine geistliche Einsicht und die ihr entsprechende Entscheidung als Gehorsam gegen Gott zu verstehen, und Demut im Wissen um die Vorläufigkeit und Relativität auch der besten menschlichen Urteile.51 Drittens und abschließend nennt Barth „ein Höchstmaß von neutestamentlicher Freudigkeit und alttestamentlicher Strenge: Freudigkeit von innen und nach außen, weil die politische Entscheidung als Zeugnis von Christen an Christen (und Nicht-Christen!) nur dann lichtvoll und gewichtig sein kann, wenn sie ihren Grund im Evangelium, im befreiten und befreienden Glauben an die in Jesus Christus schon geschehene, vollkommen vollbrachte Versöhnung der Welt mit Gott hat – und Strenge gegen sich selbst und Andere, weil es in solcher Entscheidung für 46 47 48 49

Eberhard Busch (Hg.), Karl Barth, Gespräche 1963, Karl Barth GA IV, Zürich 2005, 85. Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 14. So Biggar, The Hastening that Waits (wie Anm. 35), 129. Die „dispositional language“ schlägt sich übrigens auch in dem vielzitierten Satz Barths (KD III/4, 525) nieder: „Es braucht aber christlichen Glauben, Verstand und Mut dazu – und dazu ist die christliche Kirche, die christliche Ethik da, solchen zu beweisen – den Völkern und Regierungen zuzurufen, dass umgekehrt der Friede der Ernstfall ist“. Kursivierung: M. H. 50 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 14. 51 Vgl. ebd., 15f.

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sie wie für die Anderen um die praktische Bestätigung des Bundes Gottes mit seinem Volk, um die Erkenntnis und das Tun seines Gebotes geht.“52

Diese Zuordnung der drei Begriffspaare erinnert an die aristotelische Tugendlehre,53 genauer gesagt: die Mesotes-Lehre der „Nikomachischen Ethik“,54 das heißt die Lehre von der rechten Mitte (mesote¯s), mit der Aristoteles (384–322 v. Chr.) den praktisch-deliberativen Status der Tugenden hervorhebt.55 Ebenso wie Aristoteles arbeitet auch Barth mit Gegensatzpaaren. Barth rezipiert Aristoteles in der ihm eigenen Weise, indem Barth die Vermittlung der beiden 52 Ebd., 16f. 53 Eine weitere partielle Übereinstimmung zwischen Barth und Aristoteles besteht darin, dass nicht nur Aristoteles in der Ethik, die er von den theoretischen Wissenschaften unterscheidet, welche es ihm zufolge mit notwendigen, epistemischen Erkenntnissen zu tun haben, mit dem Wahrscheinlichkeits- und Möglichkeitsstatus einzelner Handlungen rechnet, sondern auch Barth, insofern er das Hören des Wortes Gottes keineswegs mit diesem selbst identifiziert. 54 Vgl. dazu die kontroversen Interpretationen von Ursula Wolf, Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre, in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 83–108, und L. Arych Kosman, Being Properly Affected. Virtues and Feelings in Aristotle’s Ethics, in: A. O. Rorty (Hg.), Essays in Aristotle’s Ethics, Berkley/Los Angeles 1980, 103–116. Im Blick auf Aristoteles urteilt Ernst Tugendhat (Antike und moderne Ethik, in: ders., Problem der Ethik, Stuttgart 1984, 33–56, hier 41) ablehnend: „Man kann wohl sagen, daß das Kriterium des sittlich Richtigen, das Aristoteles angibt: die Ausgewogenheit, so unbestimmt bleibt, daß es seine Bestimmtheit faktisch durch das durch die Sitte seiner Zeit Vorgegebene gewinnt […]. Er hat durchaus einen Begründungsanspruch erhoben, aber es war einer, der letztlich nicht greifen konnte.“ 55 Das Gesamt des Barth’schen Ethikentwurfs als eine Tugendethik zu charakterisieren, wie dies William Werpehowski, Karl Barth and Christian Ethics. Living in Truth, Burlington 2014, 50, tut, dürfte trotz der nachweisbaren tugendethischen Elemente überzogen sein.

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Extreme anders als Aristoteles nicht als die mittels phronetisch-kreativer Kompetenz erzielte Gewinnung der rechten Mitte zwischen den Extremen beschreibt,56 sondern als das dialektische Zugleich beider Extreme: „Als Zeugnis von Christen an Christen (und Nicht-Christen!) kann die politische Entscheidung nur in dem Maß sprechen und einleuchten, als sie auch diese Dialektik [Mut und Demut; M.H.] sichtbar macht.“57 Barth charakterisiert dieses dialektische Zugleich als eine „wunderliche Spannung“58, die nicht nach der einen oder der anderen Seite hin aufgelöst werden darf. Vielmehr kommt es Barth zufolge darauf an, „in dieser Einheit des scheinbar Widersprechenden Gottes Zeuge“59 zu sein. Die beiden Extreme sollen sich zugleich begrenzen und bekräftigen. Anders als Aristoteles, der die Ermittlung der tugendhaften Mitte zwischen den Extremen als das Ergebnis einer im Prozess der ethischen Urteilsbildung mittels der phrone¯sis erzielten abwägenden Reflexion beschreibt,60 belässt es Barth dabei, die sechs Anforderungen als „Haltungen“ beziehungsweise „Dispositionen“ zu kennzeichnen; wohlgemerkt wiederum nicht im Sinne des aristotelischen Tugendbegriffs (arete¯s), wonach eine Tugend „jene feste Grundhaltung [ist], von der aus [der Handelnde; M.H.] tüchtig wird und die ihm eigentümliche Leistung in vollkommener Weise zustande bringt“.61 Von vollkommenen Leistungen zu sprechen, verbietet sich für Barth aufgrund ihres Gabecharakters.62

56 Vgl. Aristoteles, EN II/5, 1106a 30–35: „Ich nenne die Mitte einer Sache dasjenige, was denselben Abstand von beiden Enden hat, und was überall und immer eines ist; die Mitte in Bezug auf uns ist das, was weder Übermaß noch Mangel ist. Dieses ist nicht eines und nicht in jedem Fall dasselbe. So ist etwa 10 viel und 2 wenig, und so wird der Sache nach 6 als die Mitte genommen. Denn der Abstand zwischen beiden Enden ist derselbe.“ Übersetzung nach Olof Gigon. 57 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 16. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 So Jean-Pierre Wils/Dietmar Mieth, Tugend, in: dies. (Hg.), Grundbegriffe der christlichen Ethik, Paderborn u. a. 1992, 182–198, hier 185. 61 Aristoteles, EN II/5, 1106a 21–24. Übersetzung nach Franz Dirlmeier. 62 Vgl. Biggar, The Hastening that Waits (wie Anm. 35), 131f. Die drei eingegossenen (infusa), nicht erworbenen (acquisita) Tugenden „Glaube“, „Liebe“ und „Hoffnung“, die bei Thomas von Aquin (STh II–II, q. 1–44) als virtutes theologicae die Trias der theologischen Tugendlehre bilden, zeichnen sich nach Karl Barth (Dietrich Braun [Hg.]), Karl Barth, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1930, Karl Barth GA II, Zürich 1973, 98f., dadurch aus, „daß sie ein wirkliches Verhalten und Tun des Menschen bezeichnen und nun doch ein solches, das in keinem Sinn eine Leistung des Menschen, sondern – so gewiß der Mensch damit steht und fällt, daß er glaubt, liebt und hofft, so gewiß er aufgerufen wird, dies zu tun – im strengsten Sinn ein Werk, ja das Werk Gottes am Menschen ist“. Vgl. dazu die „klassische“ Definition des Lombarden, die von der Tugend als einer Qualität des Geistes spricht, welche Gott in uns, ohne unser Zutun bewirkt: „Virtus est qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nullus male utitur, quam Deus in nobis sine nobis

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Was die Struktur der von Barth ins Auge gefassten „Dispositionen“ oder „Haltungen“ angeht, so sind sie anders als die aristotelischen Tugenden keine festen charakterlichen Dispositionen (hexis) oder dauerhafte Charakterzüge,63 sondern sie zeichnen sich durch eine „mittelfristige” Stetigkeit aus, insofern der Terminus „Charakter“ für Barth ein eschatologischer Begriff ist.64 Die von Barth als Epiphänomene des Gebotsgehorsams beschriebenen Anforderungen oder „mittelfristigen“ Stetigkeiten sind auch darin mittelfristig stetig, dass sie den gesamten Verlauf der Urteilsbildung begleiten, wobei sie in den verschiedenen Sachmomenten beziehungsweise Schritten ihre je spezifische Wirksamkeit entfalten; so etwa die politische Nüchternheit hinsichtlich der Verstandeserwägungen und die theologische Einsicht hinsichtlich der Unterscheidung der Geister. Über die Verstandeserwägungen und die Unterscheidung der Geister hinaus erhält also bei Barth ein weiteres deliberatives Moment Einzug in die Theoriebildung. Denn die Anforderungen oder Dispositionen besitzen insofern kriteriologische Funktion, als dass sie undialektische Einsichtigkeiten zugunsten des dialektischen Zugleichs auszuschließen intendieren und damit als eine Art Metakriterium „über“ den einzelnen Sachmomenten beziehungsweise Schritten der Urteilsfindung fungieren, das aber sehr wohl mit in den Urteilsentscheid einfließt: Aus anderen Zusammenhängen ihres eigenen Glaubenslebens wird es ja auch ihnen [den Christen] bekannt sein, daß gerade ein Gott gehorsames Denken, Reden und Handeln immer in der Einheit jenes scheinbaren Widerspruchs verlaufen, großen Mut und große Demut in gegenseitiger Begrenzung nicht nur, sondern in gegenseitiger Bekräftigung in sich vereinigen wird. Begegnen sie ihnen auch in der ihnen zunächst nicht annehmbaren politischen Entscheidung anderer Christen, so kann das nicht gegen, sondern nur für diese sprechen.65

Integraler Bestandteil des Barth’schen Urteilsschemas ist mithin eine Mesoteslehre sui generis.

operatur“. Petrus Lombardus, Sent. II, dist. 27, cap. 27. So auch Thomas von Aquin, STh I–II q. 55 a.4. 63 Vgl. Aristoteles, EN II/4f., 1106a 12–14. 64 Vgl. Biggar, The Hastening that Waits (wie Anm. 35), 136, 138. 65 Barth, Politische Entscheidung (wie Anm. 4), 16.

226

5.

Marco Hofheinz

Fazit: „Wo der Heilige Geist die Sprache des gesunden Menschenverstandes redet“

Wir haben gesehen, dass es auch nach Barth in der Kirche kontrovers zugehen darf. Ja, mehr noch: Kirche kann und darf sich Konflikte leisten, ja muss es sogar. Konfliktscheu ist keineswegs eine Tugend im Raum der Kirche. Differenz darf sein, ist aber auch nicht unkritisch auf Dauer zu stellen, wo es um das Zeugnis der Gemeinde geht. Die „politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens“ wird nach Barth Ereignis auf der „Grenze zwischen der Welt und dem Gottesreich […]: nur eben dort, wo der gesunde Menschenverstand die Sprache des Heiligen Geistes und der Heilige Geist die Sprache des gesunden Menschenverstandes redet“.66 Wo dies geschieht, ereignet sich nach Barth wahre Kirche. Diese ekklesiologische „Ortsangabe“ arbeitet Barth in seinem zu Unrecht breitflächig übersehenen Traktat „Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens“ im Jahr 1952 aus Anlass der in Deutschland heftig geführten Remilitarisierungsdebatte und der sich an ihr entzündenden status-confessionis-Diskussion pointiert heraus. Auf dem Hintergrund eines lebendig-dynamischen Verständnisses kirchlicher Einheit entwickelt er aus theologischer Perspektive ein Schema politisch-ethischer Urteilsbildung und Entscheidungsfindung, das sich als Beitrag zur Rationalisierung des innerkirchlichen Streits und zum produktiven Umgang mit ihm verstehen lässt. Der Vorwurf indes, dass Barth „sich den Zugang zu rationalen normativen Abwägungen versperrt habe […]“67, erweist sich angesichts dieses Beitrages als Vorurteil.

66 Ebd., 15. 67 Hartmut Kress, Katholische und evangelische Ethik im Nebeneinander – fördernd oder hemmend für den Ethikdiskurs?, in: MD 50/3 (2008), 59–64, hier 60.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Markus Dröge; Dr. theol.; Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz (2009 bis 2019). Kai-Ole Eberhardt; Dr. theol.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theologie der Leibniz Universität Hannover mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie. Judith Engeler; MA theol.; Doktorandin am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte der Universität Zürich. Matthias Freudenberg; Dr. theol.; apl. Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und Landespfarrer bei der Evangelischen Studierendengemeinde Saarbrücken. Marco Hofheinz; Dr. theol. habil.; Professor für Systematische Theologie am Institut für Theologie der Leibniz Universität Hannover. Thomas K. Kuhn; Dr. theol.; Professor für Kirchengeschichte an der Universität Greifswald. Fred van Lieburg; PhD; Professor für Religionsgeschichte in der Fakultät der Geisteswissenschaften an der Vrije Universiteit Amsterdam. Ulf Lückel; Dr. theol.; Pastor in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte an der Leibniz Universität Hannover. Christian Mühling; Dr. phil.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Würzburg.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Martin Rothkegel; Dr. phil., Th. D.; Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Elstal. Dennis Schönberger; Dr. phil.; Studienrat am Hollenberg Gymnasium Waldbröl. Marco Stallmann; Dr. theol.; wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Bibliothek der Neologie“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Markus Totzeck; Dr. theol.; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie (insb. Homiletik, Liturgik und Poimenik) und am Institut für Religion und Gesellschaft, Ruhr-Universität Bochum, zugleich Pfarrer in den Ev. Kirchengemeinden Rhede, Borken und Gescher-Reken. Mirjam van Veen; PhD; Professorin für Kirchengeschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam und Professorin an Het Doopsgezind Seminarium Amsterdam.