Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers [1 ed.] 9783428485406, 9783428085408

Eduard Spranger, einer der Wegbereiter und Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in Deutschland, versta

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German Pages 352 Year 1996

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Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers [1 ed.]
 9783428485406, 9783428085408

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BEITRÄGE ZUR PHILOSOPHIE EDUARD SPRANGERS

Philosophische Schriften Band 17

EDUARD SPRANGER

Beiträge zur Phllosophie Eduard Sprangers

herausgegeben von

Joachim S. Hohmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers / hrsg. von Joachim S. Hohmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Philosophische Schriften ; Bd. 17) ISBN 3-428-08540-X NE: Hohmann, Joachim S. [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08540-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Inhaltsveneichnis Zum Geleit ................................................................................................................. 9

Gott/ried Bräuer Eduard Spranger - Sein Leben und die Grundlinien seines pädagogischen Werks ....................................................................................................................... 27

A. Lebensstationen und Werke ........................................................................... 27 B. ,,Erziehung" und ,,Bildung" bei Eduard Spranger ........................................... 37

Honorio Delgado Wege der deutschen Philosophie ............................................................................... 49

Waller Jaide Eduard Sprangers ,,Lebensfonnen" und die Erfordernisse heutiger Wertforschung .................................................................................................................. 57

Wemer Sacher Sprangers Philosophie und Pädagogik im Verhältnis zur geisteswissenschaftlichen Tradition .................................................................................................................. 77

A. Sprangers persönliches Verhältnis zu Dilthey ................................................. 78 B. Die Einschätzung des Diltheyschen Werlces durch Spranger ................................. 79 C. Das Werk Sprangers zwischen Dilthey-Tradition und Neukantianismus .......... 83 I. Das zentrale Anliegen............................................................................. 85 2. Das Lebensverständnis ........................................................................... 88 3. Das Wertproblem ................................................................................... 91 4. Geschichte .............................................................................................. 94 5. Kultur .................................................................................................... 96 6. Erkennen und Wissenschaft .................................................................... 98 7. Theorie der Geistes- und Kulturwissenschaften .................................... 100 8. Verstehen............................................................................................. 102 9. Geschichtswissenschaft ........................................................................ 105 10. Psychologie ........................................................................................ 107

Inhaltsverzeichnis

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11. Pädagogik ........................................................................................... 112 a) Ansichten über Erziehlll1g lll1d Bi1dlll1g......................................... 112 b) Die Konzeption der pädagogischen Theorie .................................. 120 12. Zusammenfasslll1g .............................................................................. 125

Joachim S. Hohmann Sinn, Wert, Zweck lll1d Struktur in der Philosophie Eduard Sprangers .................... 127 A. Einleitllllg .................................................................................................... 127

1. Sprangers geistige Persönlichkeit .......................................... ............... 127 2. Die Grundlagen der Sprangerschen Philosophie .................. .. .... ............ 130 B. I. Hauptteil .................................................................................................. 136 1. Sprachliche KlärlUlg ............................... .. .................. ........ .................. 136 a) Sinn .............................................. ........ ...... ...... ........ .... ............... 136 b) Wert .................................. .. ........................................................ 137 c) Zweck .......................................................................................... 138 d) Struktur ....................................................................................... 139 2. Philosophische KlärlUlg ........................................................................ 139 a) Sinn ......................................... .. .................................................. 139 b) Struktur ....................................................................................... 140 c) Zweck ............... ........................................................................... 141 d) Wert ............................................................................................ 145 C.

n. Hauptteil. ................................................................................................ 152 1. Die psychologisch-historischen Schriften .............................................. 152 a) Die Dissertation........................................................................... 152 b) Wi1helm von Hwnbo1dt lll1d die Hwnanitätsidee .......................... 161 2. Die psychologisch-philosophischen Schriften ........................................ 185 a) Lebensfonnen, Geisteswissenschaftliche Psychologie lll1d Ethik der Persönlichkeit. ....................................................................... 185 b) Psychologie des Jugendalters ........................................................ 219 3. Die psychologisch-1ebensdeutenden Schriften ........ .... ...... .... .. .. ............. 225 a) LebenserfahrWlg .................................................... .......... ............ 225 b) Die Magie der Seele .............. ........ .... .. ........................................ 228 c) Der lll1bekannte Gott .................. .. .. .. ............................................ 238 4. Die Goethe-Interpretationen ................................................................. 240 5. Die Funktion der GrWldbegriffe Sinn, Wert, Zweck lll1d Struktur im Philosophieren Eduard Sprangers ......................................................... 249

Inhaltsverzeichnis

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D. Schlußbetrachtung ....................................................................................... 262 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 263 1---1. Schriften Eduard Sprangers .................................................................. 263 1---2. Sekundärliteratur.................................................................................. 264 Theodor Litt Erziehungstheorie und Wertphilosophie .................................................................. 265 A. Die Weltbegegnung des "primitiven" Menschen ........................................... 265

B. Das Auseinandertreten von "Wirklichkeit" und "Wert" ................................ 268

C. Die Erziehung als Vennittlerin ..................................................................... 273 Nikolaus Louvaris Eduard Sprangers Philosophie des Geistes .............................................................. 279 Wolfgang K. Schulz Die werttheoretische Gnmdlegung der Kulturtheorie von Eduard Spranger ............. 293 RudolfLassahn

"Wenn die Stimme des Gewissens inhaltlich Verschiedenes sagt... " Zur Theorie des Gewissens bei Eduard Spranger........................................................................ 309 Reinhard Uhle Eduard Sprangers Kulturpädagogik im Lichte aktueller Diskussionen ..................... 325 A. Kulturtheoretische Argumentationsschichten bei Spranger ................................. 327

B. Die Ebene des nonnativen Geistes: Kultur als Vennittlerin zwischen Moral

und Sittlichkeit ............................................................................................ 329 C. Die Ebene des objektiven Geistes: Kultur als Bildungsmediwn .................... 335

D. Kulturtheorie als Handlungsproblem ............................................................ 341

Zum Geleit Für Eduard Spranger, mit dessen philosophischen Denkweisen wir uns im vorliegenden Buch beschäftigen möchten, galt Philosophie als der Versuch des Menschen, mit seinem Denken das Ewige zu ergreifen. Daher begnügt sie sich nicht mit bloßen Tatsachenwahrheiten, sondern befindet sich unentwegt auf der Suche nach ewigen Wahrheiten. Unter "ewigen Wahrheiten" aber verstand der Gelehrte nicht allein Sätze, die immer wahr bleiben, sondern die Einsicht in ewige Wesensstrukturen, die die Welt durchwalten. Als letztes Ziel der Philosophie, so trug Spranger in einer öffentlichen Vorlesung in der Kaiserlichen Universität Kyoto (Japan) am 3. Mai 1937 vor, sei wohl das Eindringen in die göttlichen Geheimnisse, ein Teilhaben am ewigen göttlichen Denken selbst zu definieren. Und er verwies dabei auf die abendländische Philosophie Platos, der dies hohe Maß, das bis auf weiteres fortbestehe, aufgerichtet habe. Schon damals verband Spranger das von ihm dargestellte Ziel, das er "erhaben" nannte, mit Skepsis; denn ob es je erreicht worden sei oder erreicht werde, dürfe bezweifelt werden. Für uns heutige Menschen muten die Gedanken fremdartig und kühn an. Denn die Sicherheit, mit der Eduard Spranger von den ewigen Wahrheiten und dem erhabenen Ziel der Philosophie, genauer: des Philosophierens redet, wird wohl den meisten verloren gegangen sein, und zwar, weil ihnen die Gewißheit des Ewigen selbst in Verlust geraten ist. Spranger war immerhin davon überzeugt, es müsse uns gelingen, vom irdischen Boden aus und mit menschlichen Mitteln, die Nähe zur Wahrheit als dem Kerngebilde des Philosophischen zu erreichen. Was hätte er wohl zu den freimütigen Eingeständnissen gegenwärtiger einflußreicher Philosophen gesagt, das heiße Ringen um Wahrheit münde letztlich in Selbsttäuschung oder schwermütigem Versagen? Dabei war Eduard Spranger ebenso in seine Zeit hineingestellt, wie wir es doch sind: Seine Biographie zeigt dies ebenso wie die Themen seiner Vorlesungen und Veröffentlichungen. Ihm war vollends bewußt, daß wir immer von der menschlichen Situation aus philosophieren, wobei eben diese Situation einschließt, daß der Philosoph für seine Person an eine geographische Lage und an einen historischen Zeitpunkt gebunden bleibt. Wenn heutige Philo-

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sophie so anders in ihren geistigen Grundzügen gestaltet erscheint und anderen Wertsetzungen folgt, als Spranger dies vennochte, so fragt sich wohl, ob dies das Ergebnis der Fortentwicklung philosophischen Denkens oder in der völligen Veränderung der Situation begründet ist, in der das menschliche Subjekt im Akt des Philosophierens sich befindet. Dabei ist es wohl klar, daß beide Möglichkeiten sich zueinander in Beziehung befinden. Denn für Eduard Spranger wie auch für uns wird gewiß, daß die Philosophie zwar nach dem Ewiggültigen strebt, dies aber aus der Bedingtheit des Endlichen geschieht, ja unabwendbar geschehen muß; daher fordert er von uns, als Pflicht anzuerkennen, zunächst über diese Bedingtheit unserer jeweiligen Situation zu reflektieren. Zu seiner wie zu unserer Zeit darf es nicht genügen, Gedankenschöpfungen der klassischen Vergangenheit immer neu zu interpretieren. Spranger ennutigt uns vielmehr, auf eigene Verantwortung selbständig zu philosophieren. Und wenn auch die Ergebnisse des so ins Werk gesetzten Bemühens heute von ganz anderen Kräften und Interessen beeinflußt zu sein scheinen als zu seiner Zeit, ist das eigentliche Wesen der Philosophie Sprangers dem unseren doch ähnlicher, als es dem ersten Augenschein nach sein will. Längst haben wir das Streben nach dem Ewigen abgestreift oder doch in Frage gestellt, die geistige Anstrengung, Gültiges, Dauerhaftes zu leisten, bleibt aber das Wesentliche einer jeden ernstlich praktizierten Philosophie. Unter einer solchen Philosophie will ich - Spranger folgend - ein gedankliches Mühen nennen, das von eigenen und einheimischen Problemen ausgeht und auf eben solche Probleme wiederum reflektiert. Spranger wendet sich gegen eine Art des Philosophierens, das sich darin erschöpft, den überlieferten Problembestand aufs neue zu meistem. Denn erst aus dem Wagnis, die situativen Probleme philosophisch zu durchdenken und problemlösend zu bearbeiten, erwächst eine fruchtbare, dem Leben verbundene Philosophie. Spranger geht in diesem Punkt sogar noch weiter, indem er sagt: "Das Ausgehen von der konkreten, begrenzten Situation ist gleichsam des 'Erkenne dich selbst', das das dritte, ebenso notwendige Gegenstück zur Gottes- und Welterkenntnis bedeutet." So kühn unser Denken auch sein mag und so sehr wir uns um das letzte Erkennen des Ewigen und des endlichen Seins bemühen: Unsere eigene Existenz darf uns dabei nicht verborgen oder gleichgültig bleiben; wir sind in das Spannungsverhältnis gestellt, das durch beide Seinsfonnen erwachsen ist, und da, wo es uns an Zutrauen oder Glauben mangelt, zu hoffen, etwas Ewiges sei unserem Dasein zugetan, bleibt doch sozusagen das Welträtsel erhalten, und zwar trotz aller Einsprüche und Versprechen der Naturwissenschaften, die in Sprangers Denken keinen wesentlichen Raum einnehmen konnten. Das

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Kümmern um Selbsterkenntnis zieht sich dagegen wie ein roter Faden durch Sprangers gesamtes Werk, die frühen Schriften nicht ausgenommen und auch nicht die schriftlich niedergelegte politische Selbstvergewisserung, die er nach seiner Berufung nach Tübingen formulierte. Dabei fand sich Spranger schon frühzeitig in einer Situation, in der er mit den philosophischen Grundüberzeugungen, die nach seinem Urteil eine bestimmte Form von Anthropologie zum Ausgangspunkt erkoren hatten, im Widerstreit stand. Als Gegengewicht wählte er das durchaus eigentümliche Ideengebilde "Kulturmorphologie" , in dem die Suche nach Wahrheit über die Welt, das Selbst und auch das Ewige strukturell angelegt sein sollten. Das Zutrauen zur Kulturmorphologie als Gestaltlehre der Kultur gewann er aus der Überlegung, daß in der menschlichgeistigen Welt ein Gefiige erkennbar sei, welches sich in den Individuen wiederfinden lasse. Die Gestalt des überindividuellen Gebildes Kultur müsse man verstehen, wenn man das in ihm existierende Individuum Mensch, wenn man zudem die eigene lebendige Individualität verstehen wolle. Diesem Aufeinandereinwirken der geistigen Kräfte innerhalb eines kulturellen Gefiiges galt Sprangers ganzes Interesse, gleichgültig, ob er nun als Pädagoge oder Psychologe in Erscheinung trat. Das Zentrum seines Wirkens bildete nicht in erster Linie ein Fach, sondern fraglos das Geistige selbst, das Streben nach - vorläufigen, doch um Gültigkeit ringenden - Antworten auf existentielle Fragen, die aus den Problemen des Daseins erwuchsen. Keine raschen Lösungen fiir Alltagsbelange waren damit zum Ziel gekommen, sondern selbstgestellte oder auch von Berufs wegen übernommene Aufgaben, die nach geistiger Anstrengung verlangten und meist pädagogischen, psychologischen oder auch sozialen Charakter hatten. Vom Standpunkt der Philosophie im Sinne geistiger, an Problemlösungen interessierter Praxis aus wandte sich Spranger den an ihn heranreichenden Aufgaben zu - auch und gerade in den letzten Jahren seines Schaffens. So gesehen, ist er stets in erster Linie Philosoph gewesen, auch wenn er durch sein umfangreiches, oft auf erzieherische Themen ausgerichtetes Werk häufig anders gesehen wird. Seine Hauptwerke wären nicht im deutschsprachigen Raum, gegenwärtig aber fast stärker noch im Ausland Gegenstände von Lehre und Forschung, wenn sie einer philosophischen Substanz entbehrten. Dieser philosophischen Substanz, die Sprangers Größe zu erkennen gibt, gelten schließlich die im vorliegenden Buch enthaltenen Beiträge. Besonders eindrucksvoll und von beständigem Wert erscheint mir dabei Sprangers Umgang mit dem Begriff der Kultur, der - freilich in anderem Lichte - noch immer oder nun wieder in unserem Philosophieren bedeutsam ist. Alle geistigen Bemühungen finden bei Spranger in diesem Begriff und

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seiner Ausdeutung zusammen, etwa wenn er fragt, wie das Zusammentreffen zweier Kulturen vom Wert her sich gestalten und gewichten lasse, oder wenn das dem menschlichen Geist innewohnende Kulturbewußtsein sein Thema wird. Beides sind heute aktuelle Probleme - denken wir bloß an inter- und multikulturelle Fragestellungen, die Problematik der Weitergabe kulturellen Erbes im Bereich der Bildung, vor allem im Schulwesen, oder auch an die Kritik der Einflüsse, die quasi "von außen" auf die modeme Kunst und Literatur einströmen. Ganz ohne Zweifel hat Spranger der Vorstellung, Kultur sei durch eine Art "Blutsgemeinschaft" bedingt, eine Absage erteilt; für ihn lebte Kultur in der "geistigen Schicht", wobei er die von ihm geschaffenen Anknüpfungspunkte an Hegels Philosophie des Geistes keineswegs verbarg. An jeder Kultur unterschied Spranger vier Seiten, nämlich den objektivierten Geist, den Gemeingeist, den normativen Geist und schließlich den personalen oder subjektiven Geist. Seine Arbeiten über pädagogische und psychologische Fragen stellte er in diesen Gedankenraum hinein; dieser bildete daher den Überbau, von dem aus er sich den Problemen der Zeit, die zu erheblichen Teilen auch die Probleme unserer Tage sind, zuwandte. Unter dem objektivierten Geist verstand er sachliche Sinngebilde, denen eine geistige Bedeutung innewohnt, freilich ohne selbst ein Bewußtsein davon zu besitzen; Werkzeug, Buch und Gemälde waren für Spranger beispielhaft Dinge, durch die objektivierter Geist in Erscheinung tritt. Wir fUgen hinzu, daß es nun Sache des Philosophen ist, das Wesen dieses objektivierten Geistes näher zu untersuchen, zu analysieren. Menschliches Subjekt, aber auch Empfindungen und Denkweisen einer ganzen kulturellen Epoche sprechen aus dem stoffgebundenen Geist, der - wie Spranger es sagt - in die flüssige Form des Bewußtwerdens zurückverwandelt wird, sobald wir zu ihm in Kontakt treten, um ihn zu erleben und zu verstehen. Zwar hat Spranger, wie gesagt, Bedenken dagegen geäußert, beim Philosophieren in der Neuinterpretation der großen Gedankenschöpfungen der klassischen Vergangenheit zu verharren. Aber zur Besonderheit objektivierten Geistes gehört es, daß er uns auf dem Wege des geschichts- und kulturphilosophischen Betrachtens etwas über das Streben nach Verewigung mitteilt, wie es früher einmal und heute ins Werk gesetzt wurde und wird. Objektivierter Geist ist also immer Versuch, zeitliche Probleme zu meistem, wobei ihre überzeitliche, sagen wir ruhig: ewige Bedeutung für die Menschen nicht auszuschließen ist, denken wir nur an die von Spranger aufgeworfenen Fragen des Kulturwandels und des Miteinanderauskommens von den Strukturen her verschiedenartiger Kulturen. Gemeingeist ist für ihn das Verbundensein in geistigen Intentionen und Gehalten, dem eine oft lange historische Werdezeit zugebilligt

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werden muß. Das Teilhaben an einer und derselben Sprache sieht Spranger als Ausdruck des Gemeingeists, die soziale Existenz in den bestimmten Ordnungsformen des Zusammenlebens aber bezeichnet er als beseelt vom normativen Geist, der als der Inbegriff fordernder Ordnungssysteme zu werten ist, da er es vermag, das Verhalten der Einzelnen und Gruppen innerhalb einer geistigen Gemeinschaft zu regeln. Wenn Spranger in diesem Zusammenhang sagt, bei der Verlebendigung des normativen Geistes spiele der Unterschied von Seinsschicht und Bewußtseinsschicht eine Rolle, so verlangt uns, hinzuzufugen: heute stärker als zu seinen Tagen. Denn längst ist die allen verbindlich anmutende "sittliche Lebensordnung", die von ihm eine "unbewußte Substanz" genannt wird, im Schwinden begriffen, ja vielfach wird ihr Fortbestand gänzlich in Zweifel gezogen. Es sei auch erwähnt, daß jene sittliche Lebensordnung nicht ohne Zutun derer, die mit (politischer oder sonstiger, etwa religiöser) Macht ausgestattet sind, erwächst bzw. im Lot gehalten wird, was die Möglichkeit des Mißbrauchs keineswegs ausschließt. Spranger sieht dies wohl ebenso, da er erwähnt, ein Konflikt zwischen Kollektivwillen und Individualwillen vermöchte "moralisch auch produktiv" zu sein und sogar zu neuer, höhere Gesamtmoral fUhren. Die Konflikte, die zwischen unterschiedlichen Willensebenen ausgetragen werden, hat Spranger in der von ihm mitgestalteten geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der gleichermaßen gestalteten Psychologie genauso thematisiert, wie er ihnen selbst - im Konflikt mit dem Nazismus - ausgesetzt war. Die Doppeigesichtigkeit des Konflikts - auch des moralisch produktiven - hat ihn gerade in den dreißiger Jahren, wohl angesichts der fiir ihn überraschenden Wandlungen, beunruhigt und bewegt. Dennoch hat er nicht das Problem des autoritären Staates, sondern besonders das der Aufklärung und Emanzipation näherer Betrachtung unterzogen; vielleicht meinte er, davon gehe die größere Faszination und Gefahr aus, so daß nicht allein der normative Geist, sondern das von ihm bestimmte gesellschaftliche GefUge Gefahr laufe, beschädigt oder gar zerstört zu werden. Sollte dies Sprangers Befiirchtung gewesen sein, so hat er die Tragweite der politischen Veränderungen, die Aneignung des normativen Geistes durch den Staat Hitlers, die sich rasch abzeichnenden Gefahren nicht wirklich gesehen, zumal er diesen auszuweichen versuchte und sich erst spät dazu ermannte, den von ihm privilegierten Geist auch durch die Tat zu verteidigen. Frühzeitig war ihm bewußt, daß Aufklärung bald Bewußtwerdung und Reflexion zeitige, an der die bis dahin unbeschadete Tradition letztlich zugrunde gehe. Doch erschreckt uns, wie er dies ausdrückt: "Wo die Aufklärung beginnt, beginnt die Emanzipation und der Individualismus, die unvermeidlich weiterfressen". (sic!) Zwar

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gesteht Spranger den "Aufklärungsbewegungen" zu, sie seien "notwendig, wenn ein Volk höhere Kulturstufen erreichen" sollte, aber die Gefahren fii.r den Gemeingeist und den normativen Geist sieht er anscheinend mächtiger als jene, die von eben diesen Geistformen selbst ausgehen können, sofern nur der Staat sie mißbraucht. Hier heißt es fii.r uns, die kulturmorphologischen Betrachtungsweisen Sprangers weiterdenken: Sein unbekümmertes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der Gewalten darf uns nicht zueigen werden. Seine Auffassung von Philosophie, die aus den Erfordernissen der Zeit, in der sie geschaffen wird, entsteht, tritt uns an dieser Stelle sozusagen als sinnfälliges Exempel vor Augen. Denn er ist selbstverständlich nicht von der Kategorie des subjektiven Geistes als der vierten Seite des Geisteslebens ausgeschlossen. Indem er darüber reflektiert, tritt er uns zugleich auch selbst als bewußtseinsund erlebnisfähiges Einzelsubjekt, d.h. als Verkörperung subjektiven Geistes entgegen, der Irrtümern und Fehldeutungen unterworfen sein kann. Als Einzelner sieht Spranger das menschliche Subjekt lediglich als einen Passanten, der flüchtig durch die geistige Welt seines Volkes hindurchgehe, um sogleich in das Ungeformte, Unerforschliche und Unsagbare zu versinken. Davon nimmt er auch die große Persönlichkeit und somit auch nicht sich selber aus: Auch sie sei des Schicksals des Vergehens nicht enthoben: ,,Dieses Verhältnis von flüchtiger Individualität und überlegenem Gehalt ist das eigentliche Mysterium in der Struktur des Geisteslebens. Es ist der Ursprung aller Spekulation über das Schicksal der Seele vor und nach ihrer Wanderung durch diese Welt. Es ist der Quell aller Tragik und aller Erlösungshoffnungen." Eduard Spranger hat einerseits dem "Individualismus" wohl als einem eitlen Unterfangen mißtraut, andererseits war er sich klar, daß jene Geisteshaltung, die mit diesem Terminus gemeint war und die noch weit bis in die sechziger Jahre weitgehend verpönt blieb, zum Wesen der Aufklärung und also zu einer Gesellschaft gehört, in der Pluralismus und demokratischer Wandel wesentliche Merkmale des Zusammenlebens sind. Die Festgahe zu seinem 60. Geburtstag (1942) und die heiden 1957 veröffentlichen Festschriften zum 75. Geburtstag - dies sei am Rande erwähnt - lassen uns ahnen, welchen Einflüssen Eduard Spranger ausgesetzt war und auf welche Menschen er selbst durch sein Denken und sein Tun einzuwirken vermochte. Das sind höchst unterschiedliche Charaktere, die sich ihm verbunden wissen möchten. Dennoch wird sichtbar, daß Sprangers umfassendstes Ziel die Erziehung zur Menschlichkeit - als das Projekt seines eigenen Schaffens schlechthin ihn sein Lebtag lang nicht losgelassen hat und er immer überzeugt blieb, daß Bildung aus der lebendigen Begegnung mit den Geistesmächten der

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gesamten Kultur entstehe, weshalb eben "Geist" und "Kultur" zentrale Begriffe in seinem Denken darstellen. Wenden wir uns deshalb dem Terminus "Geist" zu, den Spranger mit Problemen der Geschichts- bzw. Weltbetrachtung zu verknüpfen wußte. Die über ein bloßes Erinnern hinausweisende Verbindung zu Hegels "Alles ist Geist" oder ,,Das Seiende ist Geist" wird gerade dort spürbar, wo Spranger "Geistesgeschichte" in seiner begrifilichen Bedeutung kritischer Prüfung unterzieht und findet, im 20. Jahrhundert sei man wohl nicht mehr durchweg der Ansicht, daß alles in der Welt eigentlich Geist sei. Es bleibt an dieser Stelle verborgen, wer mit "man" gemeint sein könnte und welche weiteren Substanzen die Regelungen des Geschehens übernehmen wollten, wenn nicht "Geist" schlechthin. Fast hat es den Anschein, als scheue sich Spranger, von dem zu reden, was mit dem fragwürdigen Wort vom "Ungeist" umschrieben wird. Wenn "Geist" gerade dadurch wirksam wird, daß er auch stoffliche Kräfte der Zerstörung, des Eigennutzes und der Verblendung freizusetzen vermag, entbehrt der Begriff immerhin des Prinzips des Ewigen und Guten, nach dessen Verstehen in der Gotteserkenntnis gestrebt wird, er sinkt so in seiner Qualität in eine gewisse Indifferenz ab. Vom "höchsten Wesen" der französischen Revolution über die "Vorsehung", die der Entfessler des Weltenbrandes in Anspruch nahm, bis zum chaotischen "Zufall" unserer Tage darf in solchem Fall alles "Geist" geheißen werden, das Menschen in ihrem Denken, Handeln und Fühlen in Bewegung hält. Daß dabei das göttliche Prinzip immer mehr außer Sicht und Wirkung gerät, versteht sich von selbst. Eduard Spranger hat sich der Frage nach der Beschaffenheit des Geistes und der von ihm ausgehenden Geschichtlichkeit des Seins durchaus zugewandt. Dabei war ihm bewußt, daß die "Seelenstruktur" (Spranger) des Menschen in Epochen und Ländern erheblichen Abwandlungen unterworfen ist, so daß Geistesgeschichte demgemäß die Geschichte der wechselnden Geistesart des Menschen und menschlicher Geist Bewußtsein sein muß, das in seiner Besonderheit historische Gebundenheit offenbart. Sprangers streben nach Selbsterkenntnis, die wir anfangs thematisiert hatten, tritt insofern erneut in Erscheinung, als die Bindung an geschichtliche Prozesse dem philosophisch denkenden Menschen immer die Frage nach dem eigenen Bestimmungsort und den Einflüssen stellt, denen er ausgesetzt ist. Das Bewußtsein des Individuums ist nicht ohne historisch fixierte Voraussetzungen denkbar, so wie Kultur nicht denkbar ist ohne die geistigen Anstrengungen derer, die vor uns und mit uns sind. Die Gesamtheit von Objekten, die uns gegenüberstehen, nennt Spranger kurz die Welt. Auch sie ist selbstverständlich Wandlungen unterworfen, ist von einer "Fülle historisch

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wandelbarer Weltaspekte" beeinflußt, wie Spranger dies ausdrückt. Und er setzt hinzu, daß sich nicht nur der Mensch und nicht nur die Weltanschauungen ändern, sondern auch die Arten, wie sich Subjekt und Objekt, Mensch und Welt auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung, so Spranger, besteht teils im rezeptiven Welterleben, teils im aktiven Weltgestalten. Der Philosoph nun interessiert sich, welche Früchte dies Interagieren hervorbringt und mit welcher Bewertung er es versehen kann, gleich, ob die aktive Einwirkung religiös-kultisch, ästhetisch, theoretisch-forschend, ethisch, technisch, politisch oder anderswie erfolgt. Denn aus dem Prozeß des Einwirkens bilden sich Probleme heraus, an die Philosophie ihr Interesse heftet, um zu auf das menschliche Sein gerichteten Antworten zu gelangen. Neben dem Werturteil stehen Äußerungen zum Woher, Weshalb und Wohin einer Sache, die aus der Weltbegegnung als Neues oder wiederum Neues entwickelt worden ist. Kein Zufall, daß sich Eduard Spranger dem Wesen der Jugend zuwandte, zeigt dieser Lebensabschnitt doch am augenscheinlichsten und wirksamsten, wie das Begehren nach aktiver Weltgestaltung quasi als (kultur-)anthropologisches Phänomen mit jeder Generation neu zu beobachten - und zu bewerten ist. Denn wie Jugend sich darstellt und welche Ideen und Ideale sie verfolgt, ist ja keineswegs immer gleich, sondern läßt Rückschlüsse auf die Beschaffenheit einer Kultur, jedenfalls aber auf die einer Gesellschaft zu. In die Vergangenheit geblickt, definiert sich Geistesgeschichte als Geschichte der vielfältigen Formen, wie die Welt auf den Menschen und der Mensch auf die Welt gewirkt hat, wobei die mannigfaltigen Möglichkeiten der Gesellung - etwa in Bünden, Cliquen, Vereinen und Banden - in die Betrachtung einbezogen gehören. Indem Philosophie - folgen wir Spranger - immer auch untersucht, warum Menschen in bestimmten Zeiten und Gegenden verschieden geworden sind, schlagen wir für uns endlich die Brücke zur Soziologie. Deren enge Verwandtschaft zur Sozialphilosophie ist evident. Aber obgleich der Untersuchungsgegenstand der beiden Disziplinen oft derselbe ist, sieht sich Spranger keinesfalls in einer Konkurrenzsituation, ja er betont sogar, daß Generationengeschichte immer Geistesgeschichte, also die Untersuchung von Generationen und den von ihrem Miteinander ausgehenden Konflikten Sache der Philosophie sei. Dies vermag er, weil er Philosophie trotz ihrer historischen und an soziale Gegebenheiten des Hier und Reute gebundenen Dimensionen doch ewig gültigen Normsetzungen verpflichtet sah. Das "wilde Philosophieren", das in unseren Tagen dem Denken Freiräume läßt, von denen er nichts wissen konnte, will von absoluten Werten und Normen freilich nicht sprechen. Spranger indes hält in seinem Denken jene Disziplin, in der er sich mit Rerder, Regel und vor

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allem seinem Lehrer Dilthey, aber vor allem auch mit den Begründern und Weggefährten der ihm zunächst stehenden geisteswissenschaftlichen Schulen verwandt weiß. Er sieht sich in der Tradition von Hegels "Phänomenologie des Geistes" (1807), mit der die Philosophie des Geistes, zumal mit ihrer grundsätzlich historischen Betrachtung des Universums, ihre Basis erhalten hat. Geisteswissenschaftliche Perspektiven der Pädagogik, Psychologie, des Politischen und des Sozialen, haben also ihren Ursprung im abendländischen Denken des 19. Jahrhundert und da wiederum in der Geistesgeschichte schlechthin. Es ist wohl eine gewisse Tragik nicht zu übersehen, daß es nicht gelingen wollte, die "modeme", naturwissenschaftlich angelegte Sichtweise des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts mit den Geisteswissenschaften in Verbindung zu halten. Als Schüler Wilhelm Diltheys fand sich Spranger mit Theodor Litt, Wilhelm Flitner und Hans Wenke verwandt, deren gemeinsamer geistiger Standort im Idealismus wurzelte. Es darf nicht verschwiegen werden, daß dies bei einigen nicht zur Abwendung schwerwiegender Irrtümer führte: Denken wir nur einmal an Litts törichte Zeilen aus dem Jahre 1934, der nationa!sozialistische Staat sei "die spannende, erregende, wirkende und formende Gegenwart im eigentlichen Sinne des Wortes", die "erfiillte Aktualität des geschichtlichen Augenblicks", die "uns in ihren Bann zieht". Die Verworfenheit solcher Gedanken allein begründet bloß unzulänglich, weshalb die geisteswissenschaftliche Pädagogik und Psychologie nach 1945 nur mehr wenige Jahre ebensolange, wie ihre Hauptvertreter zu wirken vermochten - an den Universitäten bedeutsam sein konnten. Das aus dem Idealismus entwickelte Wertekonzept, dem eine natur- und gesellschaftswissenschaftliehe Interpretation von Erziehung und Bildung unzuträglich blieb, fand in Deutschland kaum Neuerer. Dies hat mehrere Gründe, der angedeutete politische Fehlgriff, den seine Vertreter sich hatten zu Schulden kommen lassen, wog gegenüber den weiteren eher leicht. Da Ost und West nach dem Krieg nach neuen Wegen suchten, beschränkte sich der Einfluß Sprangers und seiner Geistesgefährten auf Westdeutschland. In der DDR galten sie aus vielerlei Gründen indiskutabel. Nach der faschistischen Bildungskatastrophe konnte man aber auch hierzulande nicht einfach an Gewesenes anknüpfen, zumal die Tage der philosophischen Spekulation und der in eine allgemeine Kulturphilosophie eingebettete Daseinsmetaphysik gezählt erschienen. Daß Spranger und mit ihm andere noch einmal gefragt und gehört worden sind, muß aus heutiger Sicht als ausgesprochenes Nachkriegsphänomen gewertet werden. Spätestens die heraufkommende Bildungskrise in den sechziger Jahren löschte ihren direkten Einfluß weit2 Hohmann

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gehend aus - nicht aber die Erinnerung an sie und den ihnen gezollten Respekt. Die Grundlagen der Geisteswissenschaften entzogen sich den empirischen Ansätzen, die zu einer Hinwendung nicht allein der Pädagogik und Psychologie zu naturwissenschaftlichen Forschungen und Erklärungen führten und zuletzt die Philosophie selbst erfaßten. Vorbei die Zeit, in der man Sprangers Satz "Aller echten Wissenschaft liegt ein religiöses Fundament zugrunde" bejahte, und schon damals, vor nun wohl 60 oder mehr Jahren, setzte er skeptisch hinzu, seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften habe man sich daran gewöhnen müssen, theoretische Bemühungen empirisch zu begleiten. Seine und die Methode seiner wissenschaftlichen Gefährten war die des Verstehens, die freilich nicht in letzter Konsequenz zu objektivieren ist, obgleich sie seit den ersten psychologischen Entwürfen des 19. Jahrhunderts die Basis einer jeden Geisteswissenschaft war und sich mitunter - denken wir Z.B. an Max Weber - durchaus mit erfahrungswissenschaftlichen Objektivierungen in Einklang bringen ließ. Verstehen im philosophischen Sinne galt jedoch mit dem raschen Emporkommen der empirischen Methoden als wenig exakte Methode, die längst überholt war; der Rückzug auf Kernfragen der Philosophie mißlang zunächst in dem Maße, in dem die alten, ihre Substanz definierenden ThemensteIlungen von den modemen Deutungen der Disziplinen beansprucht wurden. Sprangers Philosophie mangelte es schließlich an den Erwartungen des akademischen Nachwuchses, am Gefragt- und Gefordertsein. Doch war soeben mit Bedacht von einem ,,zunächst" die Rede. Denn inzwischen sind auch die Grenzen und Wagnisse empirischer Methoden bemerkbar geworden, denen es nicht selten in der Praxis an gedanklicher Größe, wie sie Sprangers Philosophie der Lebensformen bietet, durchaus gebricht. So nimmt die Zahl derer wieder zu, die sich mit seinem Denken auseinandersetzen und hierdurch zur Weltanschauungstypologie Wilhelm Diltheys gelangen; daß sein schwer zugängliches und an unveröffentlicht hinterlassenen Manuskripten reiches Gesamtwerk nach vierzigj'ähriger, durch Krieg und Furor politicus wiederholt unterbrochener Publikationsarbeit gerade in Sprangers Spätphase ans Licht trat, hat auch dessen Bedeutung als Geisteswissenschaftler hervorgehoben, zumal Dilthey zu Lebzeiten als der wohl letzte große Philosoph des von Untergangsstimmungen heimgesuchten Abendlandes galt. Wer Dilthey liest, kann auch ermessen, in welcher geistigen Verwandtschaft zu ihm sich Eduard Spranger befindet. Wilhelm Dilthey wie seinem zur vollen Selbständigkeit des Denkens gelangten Schüler geht es um nichts weniger als um die Rettung des Seins vor Bedeutungslosigkeit und Sinnferne, letztlich also vor den Denkern

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des Nihilismus, als deren Protagonist Dilthey die Gestalt Friedrich Nietzsches entgegentrat. Spranger hat in seinem Philosophieren Diltheys grundsätzliche Position zum geschichtlichen und zum geschichtlich gewordenen Sein vertreten, wonach Religionen und philosophische Systeme als ausdrucksvolle Gleichnisse und bedeutungsreiche Sinnbilder zu verstehen sind, denen allein entnommen werden kann, was dem Leben an "Wahrheitsgehalt" innewohnen mag - aber nicht als überzeitlich-metaphysische Idee, sondern als typische Struktur, die allein in individueller Gestalt und zu einer bestimmten Zeit zur Erscheinung gelangt. Daher ist uns beim Philosophieren aufgegeben, uns den Problemen der Zeit zuzuwenden und so Verstehen jener Gleichnisse und Sinnbilder zu erlangen. Auch weitere Aspekte in Sprangers System führen uns zu Dilthey hin; erinnern wir uns nur an dessen "Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) und die darin enthaltene Darstellung des Ineinanders von "äußerer" (natürlicher) Erfahrungswelt und "innerer" (geistiger) Bewußtseinswelt als deren Grundproblem schlechthin, auf dessen Klärung alles ankommt. Spranger hat auch dies Thema aufgegriffen und auf die selbstgestellte Frage, weshalb wir überhaupt imstande seien, etwas von der Seinsschicht zu "wissen", geantwortet, daß der strukturelle Grundriß der Kultur sich für unser Bewußtsein in ähnlicher Weise durch ein Kategoriensystem aufbaue, wie sich der Grundriß der Natur durch ein solches System gestalte. Da - in Erinnerung an Kants transzendentalen Ansatz - "Kultur" und "Natur" als gleichermaßen kategorial geformtes Auffassungsprodukt menschlichen Geistes zu sehen sind, mag es uns gelingen, durch die angestrengte Bemühung des Philosophierens in der Analyse der Erfahrungswelt(en) zum - wenn auch bloß bruchstückhaften und vorläufig erscheinenden - Wissen über das Sein an sich zu kommen. Wenn es nun um eine kritische Würdigung des geistigen Menschen Eduard Spranger getan sein soll, so sind wir gehalten, ihn als Philosophen zu befragen und sein Werk zu durchleuchten, obgleich er in den letzten Jahren meist in anderen als philosophischen Zusammenhängen gesehen wurde; die SprangerRezeption unserer Tage ist vom Bild Sprangers als das des geisteswissenschaftlichen Pädagogen und Psychologen geprägt. So analysiert Ernst Plaum in einem 1988 erschienenen, von Gerd Jüttemann herausgegebenen Band über "Wegbereiter der Historischen Psychologie" Eduard Sprangers Bedeutung für die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Psychologie und geht dabei vor allem auf dessen Konzeptualisierung des Verhältnisses von Mensch und Kultur, auf seine Auffassungen zum Problem des Relativismus sowie auf seine Überlegungen zur Methode des Verstehens ein. Auch Robert Gitzel sieht in

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einem 1991 in der "Zeitschrift für Menschenkunde" publizierten Aufsatz "Zur Geschichte der Psychologie" in Spranger allein den Psychologen, als dessen "zentrales Merkmal" sein "Bemühen um ein vertieftes Verständnis des Menschen" genannt wird. Als Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sieht Thomas Wegner den Philosophen, der bei ihm in einem Beitrag zu dem Band "Psychologische Perspektiven der Erwachsenenbildung" (1987) mit dem Titel "Probleme des Verstehens" Erwähnung findet. Vor allem als Jugendpsychologen würdigt Johannes-Christoph von Bühler in seiner Tübinger Dissertation über "Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung des 20. Jahrhunderts" den Gelehrten, dessen jugendpsychologische Entwürfe mit denen von Stern, Bernfeld, C. Bühler u.a. verglichen und in "ideologiekritischer Absicht" rekonstruiert werden. In engerem Zusammenhang mit Fragen der Pädagogik steht der 1988 in der "Pädagogischen Rundschau" publizierte Aufsatz von Martin Fromm über "Wirkungen und Nebenwirkungen pädagogischen Handeins"; der Verfasser nimmt in seinen "Überlegungen zur pädagogischen Wirkungsforschung" Sprangers Schrift "Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung" zur Grundlage seiner Erörterung der Bedingungen erzieherischen Handelns. Der Frage, was ab dem Zeitpunkt der Aufklärung die Religion im pädagogischen Denken ersetzt habe, geht das Projekt "Das Verhältnis von Religion und Pädagogik seit der Aufklärung" von Marian Heitger (Institut für MedienpädagogikJlnternationales Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg) nach, wobei Spranger neben Schleyermacher, Herbart, Humboldt, Rosseau, Lessing u.a. untersucht wird. Das Forschungsprojekt wurde 1991 abgeschlossen. Mehr den Philosophen denn den Pädagogen und Psychologen sieht Regina Johann in ihrem Aufsatz "Der Geist-Begriff als anthropologische und wissenschaftstheoretische Grundlage geisteswissenschaftlicher Pädagogik" in dem Band "Pädagogisches Handeln und Kultur" (1984); die Autorin beschäftigt sich mit dem zentralen Begriff "Geist" und seiner Bestimmung durch Litt, Dilthey - und eben Spranger. Als sein wissenschaftstheoretisches und anthropologisches Umfeld erblickt Johann die Geisteswissenschaften und ihr Menschenbild; aus dieser Sicht erfolgt pädagogische Theoriebildung als "ideographisch" verfahrende Psychologie, für die unbedingt hermeneutische Methoden erforderlich sind. Es wird also deutlich, daß Sprangers Denken in Pädagogik und Psychologie vorderhand philosophisch ist, während er in anderen Darstellungen und Thematisierungen verkürzt als "Pädagoge" oder "Psychologe" in Anspruch ge-

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nommen wird. Nicht selten wird bei der in den letzten Jahren erfolgten Bespiegelung des Werkes von Eduard Spranger die Situation außer acht gelassen oder zu wenig berücksichtigt, in der sein Denken sich herausformte. Scharfe Trennungen der Disziplinen existierten nicht in dem heutigen Maße, und es kam vor allem auf die grundlegende Art und Form des Denkens, Verstehens und Deutens an, weshalb z.B. Herbert Keuth in seiner Arbeit über "Wissenschaft und Werturteil" (1989) in seinem ersten Kapitel die wichtigsten Beiträge Webers und Sprangers zum Werturteilsstreit nebeneinander untersuchen kann. Die Philosophie, die gleichsam als die Quelle aller Geisteswissenschaften anzusehen ist, hat viele Ströme gespeist, deren Beschaffenheiten sich im Laufe der Jahrzehnte völlig verändert haben, so daß allein auf dem Wege der wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion die inzwischen verborgenen Ursprünge und ersten Entwicklungen der Fächer Soziologie, Psychologie und Pädagogik wenigstens in Umrissen erkennbar werden. Indes war es mir nicht darum getan, eine vollständige Übersicht über alle Bemühungen zu geben, die in Beziehung zu Eduard Spranger zu sehen sind, zumal nicht wenige der im vorliegenden Band vertretenen Autoren ebenfalls zu denen zählen, die sich mit seinem Denken bereits ernstlich auseinandergesetzt haben, bevor ich die Bitte an sie herantrug, sich zur Philosophie Eduard Sprangers zu äußern. Doch zeigt die Darstellung, in welcher Weise und bei welchen Schwerpunkten Spranger in der gegenwärtigen Literatur zum Vorschein gebracht wird. Bemerkenswerterweise hat man in ihm - anders als gemeinhin heute - zu Lebzeiten und angesichts seines Ablebens am 17. September 1963 den Philosophen, den Kulturphilosophen gesehen; die "Frankfurter Allgemeine" rühmte ihn sogar als "einen der großen Kulturphilosophen der Gegenwart". Während andere auch damals schon Sprangers Wirkungen vor allem auf Pädagogik und Psychologie hervorhoben, würdigte Wilhelm Weischedel, weiland Ordinarius für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Schüler Sprangers, diesen, der von 1909 bis 1955 108 Semester in der Lehrtätigkeit gestanden hatte, in seiner Eigenständigkeit als Philosoph, die er z.B. mit den "Lebensformen" gezeigt habe, indem er in einem "bahnbrechenden Versuch", in "hingebender Versenkung" und in "großartiger Objektivität" sich dem Menschen zuwende und uns vor Augen führe, wie dieser bei allen mannigfaltigen Möglichkeiten seiner Existenz von den umgreifenden Zusammenhängen des kulturellen Lebens, dem "objektiven Geist", abhänge und ihr Teil werde. Zurecht wertet

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Weischedei die geisteswissenschaftliche Psychologie und Pädagogik Sprangers als Fortfiihrung seines philosophischen Tuns um der Probleme der Menschen seiner Zeit willen.

Am Ende seines Lebens hat uns Spranger noch einmal gemahnt, diese in der Zeit stehenden Probleme zur Aufgabe der an den Hochschulen geleisteten Forschung und Lehre zu erheben. In seinem Aufsatz über "Gestalt und Problematik der deutschen Universität" - wohl vom März 1961 - weist er zunächst darauf hin, daß die Philosophische Fakultät schon im frühen 18. Jahrhundert die Aufgabe übernommen habe, die "Prinzipien aller Wissenschaften" zu entwickeln, um fortzufahren, als die "hervorstechendste Eigentümlichkeit der deutschen Universität" dürfe "die Verbindung von Forschung und Lehre auf der Grundlage der Weckung des Problembewußtseins" gesehen werden. Die Aufmerksamkeit für in bezug auf die Gesellschaft wie das Individuum existentielle Probleme und die damit verbundene Entwicklung von Lösungsvorschlägen gehören zum Wesen Sprangers als Hochschullehrer und Philosoph. Dabei hat er deutlich an die historische und gegenwärtige Relevanz der Philosophie zu erinnern gewußt, zurnal er anmerkt, es sei für die "deutsche Wissenshochschule" das Charakteristische, daß sie "so lange wie irgend möglich an der beherrschenden Stellung der Philosophie festgehalten" habe, denn sie habe "länger als anderwärts gleichsam das Quellgebiet" für die Wissenschaften dargestellt. Auch wenn er dies nicht ausdrücklich sagt, so darf man doch vermuten, daß Spranger die weiteren Entwicklungen, ge~ade was die Philosophie als universitäres Fach anlangt, nicht eben begrüßt hat, denn er sah sich wohl zu guten Teilen in der Tradition einer Philosophie, die für andere Wissenschaften Quelle sein wollte und konnte. Als junger Mensch hatte Spranger noch etwas von dem Glauben mitbekommen, der auf die Einheit der Wissenschaft gerichtet war: Denn obwohl sich der Verzicht auf "Sinnforschung" im Zuge der heraufkommenden positivistischen Wissenschaftsauffassung schon im 19. Jahrhundert anbahnt, fehlt es nicht - wie Spranger dies benennt - an "stiller Gegenwehr" in Gestalt "starker erkenntnistheoretischer Bemühungen". Der Neukantianismus, der von Lange und Zeller bis zu Riehl und Cassirer mannigfaltige Formen durchlief, mag Spranger bei dieser Einschätzung vor Augen gestanden haben. Durch Max Weber, stärker noch durch Max Scheler, ist in Sprangers Augen die Auslöschung des lange - länger als etwa in England und Frankreich - aufrechterhaltenen geisteswissenschaftlichen Konsens' herbeigeführt worden. Nüchtern, aber mit unverkennbarer Enttäuschung über das bis Anfang der sechziger Jahre Gewordene, stellt er fest: "Seitdem kann man nicht mehr von einem beherrschenden Wissenschaftsgedanken an den

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deutschen Universitäten sprechen. Will man nicht von einem Kampf aller gegen alle reden, so muß man mindestens zugeben: Alles ist im Fließen". Das Zutrauen in die Philosophie bzw. in die philosophische Richtungen, die er im Alter wahrnahm, war gering: "Die Wissenschaft verlangt nicht mehr nach der Hilfe der Philosophie, und die neueste Philosophie kann sie nicht mehr leisten." Und auch die erblühende Soziologie, die vielfach an die Stelle der Philosophie getreten sei, bildete in Sprangers Augen keinen Ersatz. Denn sie begnüge sich damit, "vorhandene Kulturtendenzen zu diagnostizieren und die Anpassung an sie zu empfehlen". Diese Einschätzung entspricht wohl nicht dem eigentlichen Bild, das die Soziologie Anfang der sechziger Jahre bot. Aber Eduard Spranger wertete die Zersplitterung der Geisteswissenschaften und ihre Reduzierung zugunsten der neuen Sozial- und der Naturwissenschaften als Zeichen des Beliebigen, Zufälligen und politischen und anderen Moden Unterworfenen. Die heutige vorsichtige Annäherung an Sprangers (Kultur-) Philosophie mag zeigen, ob es trotzdem gelingen kann, eine "Wissenschaft der Wissenschaften", eine "Ethik des Schöpferischen", neu zu denken, und zwar nicht überall oder irgendwo, sondern in der Philosophie, die Eduard Spranger als sein eigentliches Fach betrachtete. Zunächst gibt Gottfried Bräuer (Ludwigsburg) Einblicke in das Leben und Werk Sprangers und untersucht -indem er dessen Erziehungs- und Bildungstheorie entfaltet - zentrale Begriffe, wie Erziehung, Bildung, Bildungsgut, Bildungswert und Bildsamkeit. Bei der Frage nach dem Werden und der Beschaffenheit des Gewissens weist er auf Sprangers existentielle Interpretation des Gewissens hin und fuhrt in Überlegungen zur Gewissensverantwortung und zum Gewissenskonflikt ein. Honorio Delgado befragt Sprangers Werke "Wilhelm von Humboldt", "Lebensformen", "Psychologie des Jugendalters" und ,,Magie der Seele" auf ihre eigenständige philosophische Beschaffenheit und stellt den Begriff des objektiven Geists als den eigentlichen Stoff für Philosophie und anthropologische Wissenschaften heraus; schließlich erinnert er an das philosophische Verstehen als das Ideal der Geisteswissenschaften schlechthin und berücksichtigt Sprangers Nähe zu seinem Lehrer Dilthey. Der Aufsatz ist der WÜfdigungsschrift, die für Eduard Spranger 1957 bei Quelle & Meyer erschien, entnommen. Nikolaus Louvaris (Athen) weist darauf hin, daß Spranger deshalb in seiner strukturell angelegten Betrachtung von der Einzelseele ausgehe, weil er das Bild der geistigen Wirklichkeit zu gewinnen anstrebe. Dabei liege das Hauptgewicht der geistigen Arbeit zum guten Teil auf dem Prozeß des Verstehens als Verfahren zur Sinnerfassung von geistigen Gebilden und geleitet von dem

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Ziel, geistige Erscheinungen "richtig" zu sehen und mit ihnen vertraut zu werden. Wohl zurecht, wie wir schon bemerkten, versteht der Verfasser Sprangers Denken als Gegnerschaft zu Intellektualismus, Naturalismus und Existentialismus. Werner Sacher (Augsburg) gemahnt uns zur Vorsicht, Spranger unbesehen in die Tradition Diltheys einzureihen oder ihn etwa als "Vollstrecker" Windelbands oder Rickerts einzuschätzen. Als Sinnmitte bei Spranger betrachtet er das Bemühen um die Ausarbeitung einer Theorie der Bildung des geschichtlichen Menschen und seiner Kultur mit ihren Grundlagen. Bei seiner Darstellung greift der Autor auf unveröffentlichte Manuskripte und Briefe aus der Hinterlassenschaft Sprangers zurück, die ihm im Rahmen eines in höchstem Maße verdienstvollen Forschungsprojekts zugänglich wurden. Der Wiederabdruck eines fiir eine Spranger gewidmete Festschrift (Verlag Max Niemeyer, Tübingen, 1957) formulierten Aufsatzes aus der Feder von Theodor Litt geschieht durchaus mit Bedacht, dürfen wir ihn doch als einen Weggeflihrten Eduard Sprangers ansehen, zumal er die "deutsche Erziehungstheorie" in enger Fühlung mit der Philosophie der Werte erkennt und sich dem Spannungsverhältnis zuwendet, das zwischen Wirklichkeit und Wert, zwischen Seiendem und Seinsollendem besteht. Nach Litts Auffassung wird der Dualismus von Wirklichkeit und Wert jedoch nur dann mit Recht angesetzt, wenn die Vergegenständlichung der "wirklichen Welt" einen gewissen Grad erreicht hat. Bezogen auf die wissenschaftliche Lebensleistung Sprangers erscheint der Wiederabdruck Theodor Litts in besonderer Weise von Wert; beide haben sie - und dies ist keineswegs die einzige Gemeinsamkeit - mit Besorgnis festgestellt, wir seien das Geschlecht, das die Naturwissenschaften bevorzuge mit allen Konsequenzen fiir den Zustand von Kultur und Gesellschaft. Walter Jaide (Hannover), der als im Jahre 1911 geborener Forscher Spranger während seines Studiums in Berlin erleben durfte, stellt die "Lebensformen" und die Erfordernisse heutiger Wertforschung in den Mittelpunkt seiner Untersuchung; ,,kategoriales Verstehen" betrachtet er als Zugangsmöglichkeit zu Wissenschaften. wie der Psychologie, die sich heute einer Jugend zuwenden muß, die in einer pluralistisch aufgefacherten. konkurrierenden und polarisierten WertweIt aufwächst und so das eigene Erleben vor dem Hintergrund der kulturellen Traditionen als dauernde Anspannung erlebt. Der Herausgeber dieses Buches versucht, einige Hauptschriften Sprangers auf wesentliche Begriffe der Philosophie hin zu analysieren. Es ist dies das Ergebnis der selbstgestellten Aufgabe, in Werken mit unterschiedlichen The-

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men und gedanklichen Ausrichtungen eine gemeinsame begriffliche Grundlage zu entdecken und, wo gegeben, auch Fortentwicklungen und Veränderungen im Denken Sprangers zu bestimmen. Während Werner Sacher die Eigenständigkeit Sprangers gegenüber Dilthey betont, beschreibt Wolfgang Schulz (Tübingen) Sprangers Kulturphilosophie als ein Gebilde, das sich von Diltheys geisteswissenschaftlicher Psychologie herleite und in dem zugleich werttheoretischen Motiv der Wertlehre Rickerts produktiv aufgegriffen werde. Der Verfasser zeigt Sprangers Bemühen, mit Hilfe idealtypischer Analyse gewonnene Erkenntnisse über die Strukturprinzipien individuellen HandeIns deren objektive Wertgesetzlichkeit zu erfassen. Rudolf Lassahn (Bonn) weist Sprangers Bezüge zu Hegel und Kant in bezug auf eine "Theorie des Gewissens" nach und erläutert, unter welchen hauptsächlichen Aspekten Spranger das Problem des Gewissens sah: Zum einen läßt sich fragen, ob "Gewissen" noch als geistiger Gegenstand der Philosophie zu betrachten sei, da das Phänomen des Gewissens wohl aus der Erkenntnistheorie emigrierte und in die Regionen der Psychologie gewandert ist; zum andern muß nach der "Leistungsflihigkeit" des Gewissens gefragt werden, denn das individualisierte Gewissen hat es schwer, die verpflichtende Gestalt etwa eines staatlichen Willensverbandes aufzubauen, zumal "das wirkliche Gewissen" ja immer "perspektivisch, nicht vollendet" (Spranger) ist. Reinhard Uhle (Hamburg/LÜDeburg) stellt Sprangers Kulturpädagogik und -philosophie mit den ihnen eigenen kulturtheoretischen Argumentationsschichten in einen sozusagen aktuellen Raum hinein. "Kultur" darf sich nicht darin erschöpfen, jenes zu vermeiden, was "Verhängnis" heißt, sondern muß vielmehr in ihrer Sinnstiftung fiir den Einzelmenschen und seine lebendige Mitwelt erkennbar bleiben. Befinden wir uns tatsächlich in einer Zeit, in der die Kulturidee abhanden kommt, obgleich sie doch besser auf ihre Tragflihigkeit hin geprüft und nötigenfalls neu definiert werden sollte? Wir sollten nicht zu pessimistisch sein: Denn die Kulturidee ist wohl wandelbar und verletzlich, aber doch auch absolut in ihrer Beständigkeit, in der sie freilich stets aufs neue befragt werden muß. Joachim S. Hohmann

Gottfried Bräuer

Eduard Spranger - Sein Leben und die Grundlinien seines pädagogischen Werks

A. Lebensstationen und Werke Eduard Spranger wurde am 27.6.1882 in Berlin-Lichterfelde geboren. Er war ein Einzelkind. Das väterliche Spielwarengeschäft mit seinen Baukästen. Zinnsoldaten und Puppen dürfte seine frühreife Phantasie nicht weniger erregt haben als das geschäftige Treiben in den Straßen der altbÜTgerlichen Hauptstadt. Daß ihm der Sinn für ökonomisches Denken und für korrekte Fonnen vom Vater vennittelt worden ist, hat der Sohn nie verleugnet. Von der Mutter wissen wir, daß sie mit dem Sohn zu philosophieren versuchte. Als Zwölfjähriger bezieht er das Graue Kloster, ein bedeutendes Berliner Gymnasium, das u. a. auch seine späteren Kollegen Hennan Nohl und Heinrich Scholz absolviert haben. Was wir von seiner Schulzeit wissen, straft ein liebgewordenes biographisches Klischee Lügen: Spranger war ein guter Schüler; in allen Fächern wartete er mit glänzenden Leistungen auf Sein ernsthaftes Streben, Komponist zu werden, gibt er später als einen fehlgeleiteten Wunsch der Pubertät aus. An Begabung, an ästhetischem Feingefiihl hat es sicher nicht gefehlt. Am Ende der Schulzeit entscheidet er sich, Philosophie zu studieren. Er beginnt als Achtzehnjähriger dieses Studium an der Berliner Universität, wo er Schüler von Friedrich Paulsen und Wilhelm Dilthey sowie der heute weniger bekannten Professoren Erich Schmidt und Otto Hintze wird; auch Georg Simmel ist wohl zu nennen. Will man die geistige Konstellation beschreiben, in die dieses Studium hineinfuhrt, so muß man sich sowohl die Generation vergegenwärtigen. zu der Spranger zählt, wie auch die Situation an den Universitäten um die Jahrhundertwende. Spranger hat eine relativ ideenanne Epoche sozusagen im Rücken und wächst in eine philosophisch anspruchsvoller werdende Zeit hinein. Währenl er in das Denken der Lebensphilosophie und des deutschen Idealismus

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eindringt, bereiten sich die Strömungen vor, die das 20. Jahrhundert bestimmen und herausfordern werden: Psychoanalyse und Phänomenologie, sowie in neuer Zuspitzung Positivismus, Marxismus und Existenzphilosophie. Von ihnen umstellt, wird er doch später keiner Richtung zuzurechnen sein. Aber er gehört zur Generation der Philosophen, die zum Inbegriff der modemen Theorien werden sollten: B. Russell und L. Klages sind zehn Jahre älter als er, M. Scheler acht, A. Schweitzer sieben; M. Buber ist vier und Th. Litt zwei Jahre vor ihm geboren, gleichen Alters ist N. Hartmann, der seiner Auffassung in manchem nahe steht, ein Jahr jünger sind K. Jaspers und Ortega y Gasset, drei Jahre R. Guardini, und sieben Jahre jünger sind schließlich M. Heidegger, G. Marcel und L. Wittgenstein. Diese Namen reichen aus, um eine wichtige Phase mitteleuropäischer Geistesgeschichte zu rekonstruieren. Ihre Wirkung hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, daß der Großteil ihrer Träger ein hohes Alter erreicht und in produktiver Weise genutzt hat. Die äußeren Daten des zehnsemestrigen Studiums von Philosophie, Psychologie, Germanistik und Altphilologie lassen sich genau zusammenstellen. Weniger weiß man von der inneren Genese seiner wissenschaftlichen Auffassungen. So hat die Aufarbeitung des Nachlasses Texte zutage gefordert, in denen Grundmotive seines pädagogischen Denkens in erstaunlich früher Zeit bereits fixiert sind. Mit einem gewissen Recht legt man bei Interpretationen auch heute noch den Ton auf das Schülerverhältnis zu W. Dilthey; Spranger hat sicher fiir die Überwindung der positivistischen Psychologie aus seiner beschreibenden und verstehenden Psychologie Entscheidendes gelernt. Doch dieses Verhältnis zu Dilthey war zeitweilig starken Spannungen ausgesetzt. Dilthey schien ihm in der historischen Relativierung der philosophischen Problematik auf Kosten des normativen Moments einen Schritt zu weit zu gehen; dazu kam, daß sich das Dissertationsthema, das ihm Dilthey im dritten Semester angetragen hatte, als zu komplex erwies. Spranger wechselte zu Fr. Paulsen über und promovierte bei ihm 1905 (in stiller Opposition zu Dilthey, wie er sagte) über ein weitreichendes Thema, "Über die Grundlagen der Geschichtswissenschaft". Wie hier Diltheys Überlegungen zu einer Kritik der historischen Vernunft mit Paulsens Idee einer teleologischen Ethik eine Verbindung eingehen wollen, wieweit Einflüsse von C. Stumpf und W. Rickert spürbar werden und wie schließlich originäre Gedanken anklingen, die sich in Sprangers weiterer Gelehrtenarbeit entfalten, wäre einmal im einzelnen zu untersuchen. Paulsen und Dilthey - die Berliner Studenten haben diese tiefgehende Verschiedenheit empfunden. Dilthey, von Gestalt nicht eben anziehend, war ohne

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Zweifel genialer, aber nicht so populär. Nicht alle seine Studien fanden verständnisvolles Interesse; die Spätschriften zur Hermeneutik begannen sich erst auszuwirken, als Spranger schon entschiedene Kritik aus seiner Sicht vorgebracht hatte. Sein Urteil wird Dilthey deshalb nicht in allen Stücken gerecht. Paulsen nennt man heute fast nur noch als Historiker der Pädagogik; seine "Einleitung in die Philosophie" erlebte aber innerhalb von 12 Jahren ebensoviele Auflagen (was vom Inhalt her nur schwer vorstellbar ist). Paulsen wirkte in die Breite. Von ihm mag Sprangers Wille zu begrifflicher Klarheit ebenso beeinflußt sein wie sein Streben, nicht fiir einen exquisiten Kreis, sondern fiir eine breite Leserschaft verständlich zu schreiben. Was andere Theoretiker zur Entfaltung des Sprangerschen Denkens beigetragen haben, Simmel, Riehl und Rickert, M. Weber, Schmoller, später Scheler und als Stein des Anstoßes Grisebach, ist längst nicht zureichend analysiert. In den folgenden vier Jahren arbeitet Spranger an seiner Habilitationsarbeit und sammelt nebenher einige Schulerfahrungen im Unterricht an einer Privatmädchenschule. Er muß etwas Geld verdienen; tiefer gesehen geht es aber wohl um die praktische Erprobung seiner pädagogischen Bestimmung. 1909 erscheint das umfangreiche Werk über "Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee", eine eingehende Analyse des Aufbaus und der Wurzeln seiner Bildungstheorie, die - zu stark wie er später selbst bekennt - Kants philosophische Problematik zur Grundlage seiner Explikation nimmt. In diesem Zusammenhang setzt er sich noch einmal intensiv mit der klassischen Dichtung, der Philosophie des deutschen Idealismus und der neuhumanistischen Bildungslehre im weiteren Sinne auseinander und bereitet dabei den Boden fiir Weiterbildung und Neuformulierungen. Humboldt hatte im Menschen der griechischen Antike die reine Verkörperung einer zur ersten Harmonie entfalteten Menschheit gesehen; einen allseitig empfänglichen, zur Totalität und Idealität in der Entfaltung seiner Kräfte gebrachten Menschen sollten auch die neuen Gymnasien und die neu gegründete Universität hervorbringen, die Humboldt während seiner Ministertätigkeit ins Leben gerufen hatte. Spranger knüpft hier an, er stellt aber in den vorwärtsweisenden Ausführungen die ästhetisierende und individualistische Komponente zugunsten einer sozial akzentuierten und realistischen Ausprägung des Bildungswesens zurück.Eine ergänzende Darstellung der praktischen Tätigkeit Humboldts, insbesondere seiner Schulreform, legt Spranger, auf neue Quellen gestützt, ein Jahr später vor. Die Habilitationsschrift bringt ihm auch Anerkennung von seiten Diltheys ein. Die Lehrtätigkeit des jungen Privatdozenten wird mit zunehmender Aufmerksamkeit verfolgt. 1911 erreicht ihn der Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie

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und Pädagogik an die Leipziger Universität, an die Universität, an der W. Wundt die experimentelle Psychologie lehrte. Hier nehmen bald Sprangers Gedanken zur Kulturphilosophie und zur philosophischen Grundlegung der Pädagogik, die er bis 1948 in immer detailreicheren Ausführungen und wiederholten Straffungen im Rahmen einer umfassenden systematischen Pädagogik in Vorlesungen darstellen wird, konkrete Gestalt an. Das bei Dilthey Gelernte, also dessen Theorie vom inneren Zusammenhang von Erlebnis, objektivierendem Ausdruck und Sinnverstehen, wird von ihm mit Hilfe einer wertphilosophischen Konzeption zu einer geisteswissenschaftlichen Verstehenslehre ausgebaut, die zunächst in einer Typenlehre mündet. Inzwischen hat der Erste Weltkrieg begonnen. Mehrere Erkrankungen zwingen Spranger schließlich 1916/17 zu einem mehrmonatigen Kuraufenthalt in Partenkirchen. Aus dem wissenschaftlichen Interesse Kerschensteiners an Sprangers Arbeiten erwächst in dieser Zeit eine recht persönliche Verbindung der beiden Pädagogen. Auch Theodor Litt wird bald sein Freund. 1920 erfolgt Sprangers Berufung an die Berliner Universität. Die nervöse Nachkriegszeit wird zur Zeit seiner sichersten Kraftentfaltung. Er stellt sich aktiv den Aufgaben, die in der Weimarer Republik auf dem Gebiet des Bildungswesens erwachsen und bringt zugleich das theoretische Konzept, das gleichermaßen eine verstehende Psychologie, eine Ethik der Persönlichkeit und eine umfassende Kulturphilosophie strukturieren soll, in eine strenge Form. Durch die beiden Werke, in denen diese Lehre dargelegt und nach mehreren Richtungen produktiv angewandt wird, "Lebensformen" (nach einer vorläufigen Fassung von 1914 in ausgearbeiteter Form 1921 erschienen) und "Psychologie des Jugendalters" (1924), erhält er internationalen Rang. Beide Bücher sind in der Folgezeit in viele Sprachen übersetzt und bis heute immer wieder neu aufgelegt worden. Sprangers Gedanken gehen von der Einsicht aus, daß es schlechterdings unmöglich ist, das vielfältige Gefiige menschlicher Leistungen aus einer einzigen Bewußtseinsform abzuleiten oder gar physiologisch als Epiphänomene zu erklären. Er geht von den wesentlichen Regionen der entfalteten mitteleuropäischen Kultur aus, also von Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Politik, Gesellschaft und Religion, und fragt, welche Dispositionen im individuellen Seelenleben gegeben sein müssen, damit es zu Ausdifferenzierungen solcher kulturellen Formen kommt. So viel ist ihm klar, daß die aparte Subjektivität nicht verstanden werden kann; erst die Sinnbänder, die das subjektive Denken und Erleben an die gesellschaftliche Kultur knüpfen, machen es möglich, von einer inneren Zweckmäßigkeit im Gefiige der Einzelseele zu sprechen. Eben diese

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strukturelle Verflochtenheit von objektiv gewordener Kultur und den seelischgeistigen Möglichkeiten der einzelnen Person gilt es nach ihm zu erkennen und hinzunehmen. Bei der Durchdringung dieses Strukturzusammenhangs stößt Spranger auf sechs Sinnrichtungen, die sich zwar typologisch und wertphilosophisch profilieren, aber nicht aufeinander zurückführen lassen. Typologisch heißt hier: er versucht die charakteristischen Züge, die beim Verfolgen dieser Sinnrichtungen hervortreten, vom konkreten geschichtlichen Leben abzuheben und zu gedachter Reinheit zu steigern, also zu idealisieren, um sie dann zur kategorialen Ordnung erneut auf die Komplexität des individuellen und geschichtlichen Lebens wieder anzuwenden. Bei aller inneren (und wohl auch berechtigten) Distanz steht er hier mit seinem idealtypischen Verfahren dem Soziologen M. Weber nahe. Aber es ist auch der wertphilosophische Aspekt wichtig, denn es soll gerade die innere Einheit von psychischen Geschehnissen und moralisch-geistigen Grundmotiven herausgestellt werden, das wechselseitige Verhältnis von subjektiver Disposition und geschichtlich herausgebildeter Sachgesetzlichkeit der Kultur, das man durch nachträgliche Zusammenfügung einzelwissenschaftlicher Ergebnisse weder zu Gesicht bekäme noch verständlich machen könnte. Was in schematisierter Fonn als theoretischer, ökonomischer, ästhetischer, politischer, sozialer und religiöser Typus vorgestellt wird, soll also die durchgehende, das Subjekt transzendierende Sinnbezogenheit der individuellen Seele zeigen und strukturell ordnen. Spranger wendet sich scharf gegen alle Versuche, das psychologische Leben aus irgendwelchen Elementen oder Vennögen konstruktiv aufzubauen oder physiologisch aus kausalen Prozessen erklären zu wollen, und er wendet sich ebenso von der psychoanalytischen Sublimierungshypothese ab, die nach seiner Auffassung den selbständigen Wert und Sinn der überindividuellen Kulturgebilde nicht in Gedanken zu fassen bereit ist. Wie weit seine Kritik der Vorstellung von der Teleologie des Seelenlebens Dilthey wirklich trifft, muß offen bleiben. Dies muß aber noch gesagt werden: niemand weiß besser als Spranger selbst, daß seine Typen rationale Gebilde, in methodischer Absicht erzeugte Schemata sind, die in dieser reinen Fonn in der empirischen Welt nicht vorkommen. Er hält sie für unerläßlich, um das verwickelte, mannigfach abgeschattete individuelle Seelenleben in seinem Aufbau verstehen zu lehren und um auf einer neuen Ebene die Frage nach der optimalen Kompossibilität der Lebenswerte für die Ethik wie für eine neue Bildungslehre stellen zu können. Letztlich stehen also die teils abgelesenen, teils konstruierten "Lebensfonnen" im Dienst der Kulturtheorie und der Grundlegung der Pädagogik.

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In seiner "Psychologie des Jugendalters" verwendet Spranger die strukturpsychologischen Ansätze, um die an das Kindesalter anschließende Lebensphase, das Jugendalter, in seiner Genese und mit seinen Krisen verstehbar zu machen. Auch hier stellt er einseitig physiologisch orientierten Versuchen (z. B. der nur biologischen, kausalgenetischen Betrachtungsweise der Pubertät) eine strukturwissenschaftliche Sicht gegenüber, welche besonders die Funktionswandlungen hervorhebt, die sich mit dem Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt mit ihren spezifischen Anforderungen ergeben. Die Entdekkung des Ich und das Zusichkommen des Wertbewußtseins - diese beiden Phänomene der Reifezeit lassen sich nicht als Produkte der sexuellen Reifung erklären. In seiner Theorie wird der sensuellen Triebentwicklung eine neu belebte Eroslehre spannungshaft zugeordnet. Indem Spranger die Lehre von der werterschließenden, die Werdemöglichkeiten aufspürenden Kraft des Eros entwickelt, gewinnt er die Möglichkeit, die Züge der jugendlichen Entwicklung klarer zu erkennen, denen sich erzieherisches Handeln beim Versuch der Emporbildung des Individuums zuwenden muß. Nur der Durchgang durch diese Phase funktioneller Unterschiedenheit von Eros und Sexus kann im ganzen zu einem günstigen Pubertätsverlauf führen. Auch die allmähliche Entstehung eines Lebensplanes in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Erwartungen wird von Spranger eingehend dargestellt. Gewiß hat diese Darstellung darin Grenzen, daß sie am Modell der männlichen bürgerlichen Jugend Berlins in den zwanziger Jahren entwickelt worden ist; Spranger hat das selbst gesehen und nach dem Zweiten Weltkrieg sein Werk zum historischen Dokument erklärt und damit der aktuellen Diskussion entzogen. Aber im Verwelken der Einzelheiten tritt die Genialität dieses Werks seltsam klar zutage. Das Buch wurde nicht nur für Generationen von Lehrern das maßgebende jugendpsychologische Werk, mit ihm wurde auch die Methode der geisteswissenschaftlichen Psychologie zu einem erfiillbaren Begriff. Jugendliche haben wohl dieses Buch auch zur Selbstaufklärung benutzt und sich im Sinne der hier beschriebenen Kulturpubertät selbst stilisiert. Die "Lebensformen" und die "Psychologie des Jugendalters" blieben Sprangers Hauptwerke. Sie bestimmen - nicht immer zu seinem Vorteil - für weite Kreise bis heute sein Bild. Das erste der beiden Werke wurde durch den vehementen Durchbruch der Existenzphilosophie bald in den Schatten gestellt, das zweite hatte indirekt darunter zu leiden, daß es eine kongeniale Weiterentwicklung der geisteswissenschaftlichen Psychologie kaum gegeben hat. Die

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empirische Jugendforschung mußte nach dem Zweiten Weltkrieg andere Wege gehen. Für einen großen Teil der Intellektuellen war die politische Lage 1933 ohne Zweifel mehrdeutig. Bei aller Distanz wird auch Spranger nicht nur negative Erwartungen gehegt haben. Er bekam aber bald zu spüren, in welchem Ausmaß die nationalsozialistische Hochschulpolitik über die Manipulation von Berufungen die Lehrfreiheit zu beeinträchtigen wußte. Spranger tritt von seinem Lehrstuhl ZUJiick; die Hoffnung, daß andere Kollegen ihm folgen würden, erweist sich als trügerisch. Er muß einen Kompromiß eingehen, durch den er wohl seine Professur behält, bei Veröffentlichungen sich aber praktisch auf die Reihe der Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften eingeschränkt findet. Sprangers kritische Abgrenzung von E. Krieck hatte schon vorher deutlich gemacht, daß mit ihm ideologisch nicht zu rechnen sein würde. Andere philosophische Strömungen bekamen mehr Resonanz. 1937 ergreift er die Gelegenheit mit seiner Frau Susanne Spranger, geb. Conrad, die er wenige Jahre vorher geheiratet hatte, für ein Jahr als Austauschprofessor nach Japan zu gehen. Seine Wirkung in Tokyo, Kyoto, Sendai und anderen Städten muß beachtlich gewesen sein. Für ihn selbst bot sich die Gelegenheit, die quer durch die verschiedenen weltanschaulichen Systeme laufenden humanistischen Ideenströme aufzuspüren und durch sie seine Kulturphilosophie zu erweitern. Bald nach seiner Rückkehr begann der Zweite Weltkrieg. O. F. Bollnow hat darauf hingewiesen, daß sich in den wissenschaftlichen Arbeiten Sprangers von den zwanziger Jahren an bis in die Kriesgsjahre hinein gewisse Veränderungen im Denkstil und thematische Verschiebungen erkennen lassen. Die systematische Geradlinigkeit der beiden großen Werke wird abgelöst durch die kleinere Form komprimierter Einzelabhandlungen, in welchen historische Probleme und Forschungsergebnisse der Nachbarwissenschaften unter bestimmten Perspektiven bearbeitet werden. Abhandlungen wie die über den "Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften" (1929), die Kulturzyklustheorie (1926), "Die wissenschaftlichen Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik" (1928) und über "Die Urschichten des Wirklichkeitsbewußtseins" (1934) - um nur einige zu nennen - galten bis zu ihrem Wiederabdruck in unserer Zeit als Raritäten; in die Breite haben sie längst nicht im selben Ausmaß gewirkt wie die beiden systematischen Werke. Daneben entstehen eine Reihe mustergültiger geisteswissenschaftlicher Interpretationen, Arbeiten über Fröbel und Pestalozzi, Goethe und Schiller. Interesse und analytischen Feinsinn hat Spranger jedem Untersuchungsgegenstand in gleicher Weise zugewandt. Manche Persönlichkeiten (wie z. B. 3 Hohmann

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Goethe) mögen ihm besonders gelegen haben; auf die Durchdringung des eigenen Problemzusammenhangs hat sich aber vor allem die Auseinandersetzung mit Pestalozzi entschieden ausgewirkt. Die Mitherausgeberschaft an der kritisch-historischen Ausgabe der Werke des Schweizer Pädagogen ist da:fiir nur der sichtbare Ausdruck. Daß die Zerstörungen und die grauenvolle Not, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, den sechzigjährigen Gelehrten abermals in eine Krise fUhren mußten, könnte man auch ohne Kenntnis der Lebensdaten vermuten. Durch die Dienstverpflichtung als Heerespsychologe war Spranger zunächst äußerlich sichergestellt. Die Ereignisse um den 20. Juli 1944 reißen ihn in die letzten Machtkämpfe und Verfolgungen hinein. Er wird als Mitglied der Berliner Mittwochgesellschaft verhaftet und zehn Wochen im Gefangnis Moabit festgehalten. Erst die Intervention des japanischen Botschafters verschafft ihm wieder die Freiheit. Die Vorlesungen über Sokrates und Platon,die Spranger wieder hielt, ehe der letzte Hörsaal durch Bomben zerstört wurde, müssen auf die wissenden Studenten eine schwer zu beschreibende Wirkung gehabt haben. Über das, was folgte, die sechzig Nächte im Luftschutzkeller, die Erstürmung Berlins durch die Rote Armee, Verhaftungen und Verhör durch die Russen und Amerikaner, hat Spranger manches berichtet und das meiste doch mit Schweigen zugedeckt. Kaum sind diese Wirrnisse ausgestanden, erhält Spranger das Angebot, seiner alten Universität als kommissarischer Rektor vorzustehen. Er übernimmt das Amt nach einigem Zögern mit der Absicht, die planmäßige Sowjetisierung der Universität abzuwenden und sie der Verantwortung aller vier Siegermächte zu unterstellen. Die Offiziere der amerikanischen Besatzung zeigen dafiir kein Verständnis. Spranger wird nach knapp vier Monaten abgesetzt. Er erhält einen Ruf nach Hamburg, ergreift aber, nachdem er diesem nicht Folge leisten kann, das Angebot der Tübinger Universität, das ihm Th. Heuss überbringt. Südwestdeutschland war ihm nicht unbekannt; mit Kerschensteiner hatte er sich in Alpirsbach getroffen, in Freudenstadt und vor allem auf der Insel Reichenau hatte er mehrmals im Urlaub geweilt. Untergründig mag der Gedanke an das Tübinger Stift, an Hegel, Schelling und Hölderlin eine Rolle gespielt haben. Die beiden letzten Jahrzehnte, in die seine einflußreiche Tübinger Lehrtätigkeit fallt, schließen sich auch nach der Art seiner wissenschaftlichen Arbeit zu einer letzten charakteristischen Schaffensperiode zusammen. Die Spätschriften lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Auf der einen Seite stehen die

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religionsphilosophischen Studien, seine Versuche, eine Vorschule des christlichen Glaubens von gewissen psychischen Urphänomenen aus zu konzipieren. Auf der anderen Seite ergibt sich nun eine entschlossene Hinwendung zu Fragen der elementaren Bildung, vorwiegend im Bereich der Volksschule, deren innere Reform eine dringende Aufgabe geworden ist, aber auch im Sinne der Erweckung der moralbildenden Kräfte der Erwachsenen. Zur ersten Gruppe zählen die Arbeiten über die "Weltfrömmigkeit" (1940), die "Schicksale des Christentums in der modemen Welt" (1943) und über den "unbekannten Gott" (1951), die z.T. in dem Buch "Magie der Seele" zusammengefaßt sind; zur zweiten Gruppe gehören die Studien ,,zur Geschichte der deutschen Volksschule" (1949), drei in ähnlichem Stil abgefaßte Opuskula über den "Eigengeist der Volksschule" (1955), den "geborenen Erzieher" (1958) und "Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung" (1962). Eine große Zahl von Reden und anderen Aufsätzen umspielt diese Abhandlungen thematisch. In den religionsphilosophischen Studien kommt Sprangers Sorge über die zunehmende Schwächung der Innerlichkeit des gebildeten Menschen zum Ausdruck. Kein Zweifel, daß in diese Gedanken zutiefst individuelle Erfahrungen eingegangen sind - nicht Angst, Verzweiflung und Ekel, sondern das schmerzhafte Bewußtsein von der Brüchigkeit und Anfälligkeit alles Endlichen, und jene kaum verhüllte Resignation, die in den anderen Schriften meist doch noch mit einem letzten, gewaltsam sich selbst abverlangten Dennoch abgefangen wird. Er versucht den inneren Nöten zu begegnen, indem er in vorsichtigen Denkschritten Möglichkeiten einer freien christlichen Einstellung zu dieser Welt darstellt und damit einer weltverbundenen, mit einer intakten Moral verknüpften Frömmigkeit. Sie ist bewußt auf die Tradition der idealistischen Philosophie bezogen und darin zwar evangelisch, jedoch auf eine Art, die gegenüber den Antinomien der dialektischen Theologie Reserven behält. Hier ist Spranger auf Ablehnung gestoßen; die Theologie hat sich in ganz anderer Richtung fortentwickelt. Das Mißtrauen wurde wohl durch die Art genährt, in der er den Begriff der Magie zum Angelpunkt seiner kritischen und doch auch helfenden Bemühungen machte. Magie bewirkt auf eine im Schema von Ursache und Wirkung nicht exakt erklärbare Weise Veränderungen der Wirklichkeit. In solcher Magie sieht Spranger allen religiösen Glauben verwurzelt. Während aber die Magie der Primitiven eine Beeinflussung der dinglichen Außenwelt erstrebt, richtet sich die Magie der Seele, von der er allein handelt, auf die innerseelische Kräfteentfaltung, wie sie z.B. die über alle Negativität hinauszielende Gläubigkeit in der Ausrichtung auf das unendlich

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Vollkommene bewirkt. Diesen nicht so rasch zu verdrängenden sublimen Sinn von Magie möchte Spranger den Denkenden vor Augen stellen. (Ungefähr zur gleichen Zeit hat sich Sartre mit magischen Verhaltensweisen befaßt. Sein Thema ist dabei aber die Degradierung des Bewußtseins, während Spranger an den aktiven Beitrag der Magie zur Erneuerung des bewußten Lebens denkt.) In der Erziehungstheorie des späten Spranger werden Gedanken ausdifferenziert, die ihn in Ansätzen von Anfang an, spätestens aber seit den Vorträgen über den Bildungswert der Heimatkunde (1923) bewegt haben. Gewiß hat er mit einer Seite seines Wesens immer den Reorganisatoren der humanistischen Gymnasialbildung nahegestanden. Aber sein Ton gewinnt an Wänne und Dringlichkeit, wenn er seine Vorstellungen einer inneren Reform der Volksschulerziehung vorträgt und dabei den Primat der grundlegenden Schulbildung hervortreten läßt. Hier ist es nicht Humboldts Einfluß, sondern das Betroffensein durch Pestalozzi, das nun nach Jahrzehnten zu konkreter Auswirkung drängt. Fern von historisierender Gelehrsamkeit wird die Reallage des Kindes in dieser hochtechnisierten, politisch instabilen Welt ins Auge gefaßt und daraufhin durchdacht, wie diese Lage erzieherisch gemeistert werden könnte. Eindringlich mahnt er die Lehrer, das Gebundensein der Kinder an die heimatliche Erlebniswelt in seinem tieferen Sinn zu erkennen und zu pflegen und in der Gemeinschaftserziehung auf demokratische Lebensordnungen vorzubereiten. Dieses Konzept des Grundschulunterrichts ist inzwischen durch die neuere Curriculumdiskussion historisch relativiert worden. Dagegen ist die Forderung, den elementaren Verstehensprozessen größere didaktische Aufmerksamkeit zu widmen und die Wirklichkeit an einfachsten Modellen durchschaubar zu machen, aktueller denn je, und es wird wohl auch sein beharrliches Drängen auf die Ausbildung eines sensiblen Gewissens nicht wieder vergessen werden dürfen. Daß diese Ziele nur im Zusammenhang mit einer anspruchsvollen Selbsterziehung der Lehrer erreicht werden können, bleibt an keiner Stelle im unklaren. Spranger hat fiinf Studentengenerationen geistig beeinflußt, und er hat über alle Erfahrungen mit ihnen Rechenschaft abgelegt. Leibliche Kinder hatte er nicht. Als er wenige Monate nach dem Tode seiner Frau in die Klinik eingeliefert werden mußte, waren sich die, die ihm nahe standen, darüber im klaren, daß seine Erkrankung die leibliche Antwort auf die innere Vereinsamung darstellte. Erstarb am 17.9.1963.

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B. "Erziehung" und "Bildung" bei Eduard Spranger Wir wollen in kurzen Zügen darlegen, was Eduard Spranger ganz allgemein mit den Begriffen Erziehung und Bildung, Bildungsgut, Bildungswert und Bildsamkeit verbindet. Vor diesem Hintergrund kann dann klarer hervortreten, welche Bedeutung für ihn das Problem der Kulturverantwortung und die Frage nach den Vorbedingungen, nach der Möglichkeit der Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein hat. l. Die soziale Tätigkeit, die Erziehung genannt wird, hat im menschlichen

Leben eine zentrale Funktion: sie soll den Menschen so für die Kultur flihig machen, daß er ihren schlechten Seiten standhalten, ihre produktiven Möglichkeiten aber fördern kann. Zu beachten ist, daß Spranger einen vergleichsweise engen Begriff der Erziehung hat. Während manche anderen Pädagogen dieses Jahrhunderts alle denkbaren von der Umwelt ausgehenden Einflüsse auf den jungen Menschen noch zur Erziehung rechnen, schränkt er den Begriff bewußt auf das absichtliche und planvolle Einwirken ein. Erziehung ist für ihn das pflichtbewußte Emporbilden der jungen durch die ältere Generation, ist das stellvertretende Handeln mit und an Kindern und Jugendlichen im Vorgriff auf die Zukunft. Wie und wo soll erzieherisches Handeln aber ansetzen? Diese Frage taucht in vielen Schriften Sprangers als sein "Hebelproblem" auf. Erziehung ist nicht nur Übermittlung von Informationen oder Vorstellungen, sie ist auch nicht bloß der gut kalkulierte Einsatz eines Repertoires von Maßnahmen und Mitteln zur Erziehung bereits gesetzter Einzelzwecke, mit anderen Worten: Erziehung ist keine positivistisch konzipierte Psychotechnik. (In diesem Sinn hat er schon in seinen frühesten Überlegungen zur Erziehung Herbart kritisiert.) In positiver Wendung: Erziehung ergibt sich aus den drei Komponenten der Entwicklungshilfe, des Tradierens und des Erweckens. Sie ist also einerseits das Zu-sieh-bringen dessen, was dispositionell in einer Person bereits angelegt zu sein scheint, andrerseits besteht sie im Nahebringen und im Lebendighalten dessen, was an objektiven Errungenschaften in der Kultur zur Verfügung steht; das Normgemäße soll als zu meisternde Aufgabe erkannt, seine Erfahrung in ein individuelles Sollenserlebnis umgewandelt werden. Beim späten Spranger tritt daher der Begriff der Erweckung in diesem Zusammenhang immer stärker hervor: erweckt werden soll der Kulturwille, die Wertempfindlichkeit und Wertgestaltungsfähigkeit des jungen Menschen.

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Erziehung ist planmäßige Hilfe zur Selbsthilfe. Für den Erzieher stellt sich hierbei die Frage, wie er auf die Richtung der kindlichen und jugendlichen Phantasie ohne Gewalt Einfluß gewinnen könnte. Eine einzige verbindliche Art erzieherischen Handeins ist dafür nicht vorgesehen. Vorbedingung fiir das Gelingen ist eine bestimmte Einstellung zum Kind, die Spranger als gebende Liebe beschreibt. Welchen Grundstil der Erziehung man jedoch zu wählen hat, das ist sowohl von individuellen Erfordernissen wie vom gesamtgesellschaftlichen Kontext und der geschichtlichen Lage abhängig, auf deren Herausforderungen die Erziehung zu antworten hat. (Eine kategorische Ordnung der stilistischen Möglichkeiten hat Spranger in einer eigenen Abhandlung vorgelegt.) 2. Der Begriff der Bildung hebt sich durch seine speziellere Bedeutung von dem weiteren und älteren Begriff der Erziehung ab. Spranger ist schon durch seine eigenen frühen Forschungen dem Verständnis der deutschen Klassik und der neuhumanistischen Bildungsidee Wilhelm v. Humboldts tief verbunden. Nach dieser überlieferten Auffassung begreift er die organisch gewachsene und durch Unterricht wachstumsfähig erhaltene einheitliche Gestalt der Seele als Bildung. Bildung entsteht durch einen Unterricht, der weder nur die banale Brauchbarkeit zum Ziel hat, noch ausschließlich in der Vermittlung extensiven, enzyklopädischen Wissens sein Zentrum sieht. Bildung ergibt sich nicht in einer nur anpassenden Vorbereitung auf praktische Erfordernisse, in ihr geht es um ein Allgemeineres, um etwas, was gegenüber solchen alltäglichen Erfordernissen, wie sie aus einzelnen Aufgaben sprechen, einen Überschuß oder einen Spielraum von Freiheit erzeugt. Individuelle Disposition und universale Bestimmung müssen aber dabei einen produktiven Ausgleich finden. Spranger hält sich eng an Humboldt, wenn er das innere Gesetz des Bildungsstrebens modellartig von drei Momenten her zu rekonstruieren versucht: im Mittelpunkt der Bildung steht die Individualität, von der gleichsam wie Radien die Bestrebungen nach Universalität ausgreifen, während gleichsam von der Peripherie her dieser Prozeß als Totalität des werdenden Geistes aufgefaßt werden kann. Jede Bemühung um Bildung wird aber zur Farce, wenn der Boden nicht richtig zubereitet wird, auf dem das komplizierte Gebilde errichtet werden soll. Entscheidend ist darum fiir Spranger der Gedanke der grundlegenden Bildung. Diejenigen Kräfte oder Fähigkeiten im Menschen, ohne die höhere Geistestätigkeiten nicht entstehen können, müssen zuerst und mit größter Geduld ausgebildet und geübt werden. Spranger geht es also, wenn er von der

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grundlegenden Bildung spricht, um die elementaren Zugangsarten zur Wirklichkeit, um die Fußpunkte aller Wirklichkeitserfahrung, um die Elementarakte des Begreifens von Wissenschaft und Technik, Kunst, Sitte und Religion, die zu den Anfängen nicht im zeitlichen Sinne, sondern im Sinne eines strukturellen Fundierungsverhältnisses zurückfUhren. Höhere formale Bildung ist ohne solche grundlegende Bildung nicht sinnvoll zu erstreben; was Humboldt für Gymnasium und Universität an bildender Wirkung zu erreichen hoffte, ist ohne die Elementarbildung Pestalozzis, Fichtes und Fröbels nicht zu verwirklichen. Wenn Spranger das Spezifische der Bildung von der bloßen Einübung in praktische Lebensaufgaben abhebt, so hat sich seine Auffassung gegenüber dem Neuhumanismus des frühen 19. Jahrhunderts doch insofern geändert, als er sich keine allseitig abgerundete Allgemeinbildung mehr vorstellen kann, die ein reines Ergebnis schulischen Unterrichts wäre. Die vollendete, ausgereifte Form der Bildung ist ein spätes und im Grunde seltenes Ergebnis, eine innere Einheit, wie sie nur aus dem Durchgang durch Krisen des Lebens sich herausbilden kann. Demgegenüber gibt auch die höhere Schule nur eine grundlegende Bildung. Dazu kommt, daß nach Sprangers Auffassung letzten Endes auch jede höhere Allgemeinbildung nur über die Tätigkeit in einem Beruf - und nicht vor oder neben ihm - erworben werden kann. Die neuhurnanistische Rede von Bildung hat ohne Zweifel einen individualistischen Unterton. Spranger hat dies in kritischer Absicht stets im Auge behalten. Bildender Unterricht darf sich nach seiner Auffassung nicht nur darauf beschränken, im Stoffangebot Entsprechungen zur vermuteten individuellen Seelenstruktur herzustellen, also das Affine und Gemäße zur Anreicherung des vorhandenen Seelenkosmos zu liefern; er muß ebenso Gegengewichte zur Individualität zur Verfügung stellen. Bildung ist ohne Selbstaufklärung nicht zu denken, Selbstklärung aber ist solange ausgeschlossen, wie man sich nur um das vertraute Milieu einheimischer Bildungsgüter kümmert. Kritische Klärung der eigenen Möglichkeiten ergibt sich erst in dem Maße, in dem der junge Mensch auch in fremde Geistesformen eindringt, wie sich andrerseits das, was man Charakterbildung nennt, erst in der produktiven Auseinandersetzung mit den modemen, aber auch den historischen Gebilden öffentlichen Geistes ergeben kann. Auch da ist jener das Subjekt überschreitende und umgreifende Anspruch auf Verbindlichkeit und Wahrheit am Werk, ohne dessen Wahrnehmung der Bildungsprozeß so leicht eine individualistische und ästhetische Einfärbung bekommt.

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3. An den Bildungsgütern hebt also Spranger den Charakter transsubjektiver Geltung hervor. Ganz allgemein lassen sich ja die objektiven Gebilde des Geistes dadurch kennzeichnen, daß sie ein physisches Substrat als Träger von Bedeutung aufweisen, daß sie kollektiv fundiert sind und daß sie normativen Charakter haben, d.h. als kritisch-objektive Potenzen ein Korrelat zum "höheren Selbst" des Menschen bilden. Die subjektiven seelischen Auffassungsformen und Erlebnismöglichkeiten sind mit diesen überindividuellen Gebilden der Kultur verflochten, das produktive gesellschaftliche Leben hängt eigentlich von dem dialektischen Wechselspiel zwischen beiden Seiten ab. Hegel hatte bereits mit seinen Mitteln diesen Prozeß zu fassen versucht, in dem der historisch bedingte Geist sich selbst erkennt, und Dilthey hatte dies noch einmal zu methodischem Bewußtsein gebracht. Spranger steht in beider Schuld. Er weiß, daß man auch die sogenannten Bildungsgüter nur von diesem realen Objektivations- und Verständigungsprozeß her bestimmen kann. Bildungsgüter sind alles andere als von Lehrenden fiir Lernende eigens hergestellte Produkte, sie können überhaupt nicht schlicht von heute auf morgen erdacht, gemacht und als verbindlich dekretiert werden. Bildungsgut zu sein ist eher die sekundäre Qualität realer Kulturgüter, also des Ertrags der materiellen und geistigen Arbeit der Völker. Die Funktion von Bildungsgütern erhalten die kulturellen Objektivationen, wenn sich der Unterricht der manifest gewordenen Sinngebung in bildender Absicht eigens annimmt. Die geistesgeschichtliche Orientierung ergibt sich auf diese Weise mit sachlicher Notwendigkeit jenes Gestalt gewordene Menschentum, mit dem unter der Intention bildender Wirkung umgegangen wird, ist in eigentümlicher Weise in den Werken der großen historischen Traditionen verkörpert, die unter diesem Aspekt zu Bildungsmächten erklärt werden: in den Werken des griechischen und römischen Altertums, des Christentums und der deutschen Klassik bzw. des deutschen Idealismus. Für Spranger sind dies die drei Quellen oder Ströme, die er in seine historisch-systematische Bildungstheorie zu integrieren versucht. Man darf sich seine Theorie nur nicht nach einer Art Stadiengesetz konzipiert denken; jedes statische Modell ist von ihr ferngehalten. Das Wesentliche besteht fiir Spranger in dem keineswegs geschlichteten Kampf, der Realdialektik dieser Bildungsideale oder -mächte, von der auch die Gegenwart beunruhigt und zu Stellungnahmen herausgefordert bleibt. Werke, in welchen sich allgemein-menschliche Züge einer Epoche oder die normativen Ansprüche verbindlich gewordenen Lebens in einer solchen historischen Bewegung musterhaft zur Darstellung gebracht haben, nennt man

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klassisch. In der Regel sind es künstlerische Manifestationen, in welchen sich etwas von diesem maßgebenden Menschentum einfach, aber doch zu idealer Prägnanz gesteigert, darstellt. Spranger hat mit sicherem Griff nicht nur die Bedeutung des Klassischen im Sinne einer hermeneutischen Grundkategorie erfaßt, er hat zugleich klar heraugearbeitet, daß dies eine zentrale Kategorie jeder Bildungstheorie ist. 4. Für diesen soeben kurz beschriebenen Bedingungszusammenhang, für das Wechselwirkungsverhältnis, in das die bildende Tätigkeit verflochten ist, gibt es nun bei Spranger eine werttheoretische Lesart; durch sie werden die Verhältnisse erst präzisiert. Was, so muß zuerst gefragt werden, versteht er unter Werten? Werte sind - um ein Mißverständnis von vornherein auszuschalten - nichts, was man nach der Art eines vorhandenen Dinges aufsuchen und definieren könnte, es "gibt" Werte in diesem Sinn überhaupt nicht, da sie keine vom menschlichen Seelenleben losgelöste Existenz haben. "An sich" sind Werte also auch nicht in der Weise einer autarken ideellen Ordnung, die jenseits der empirischen Welt bestünde. Sinnvoll kann man von ihnen nur in Beziehung auf Akte des Denkens, Fühlens, Wollens usw. sprechen. Werte sind Relationsbegriffe. Damit ist wiederum nicht gesagt, daß sie zufällige Produkte beliebiger Einzelerfahrungen sind; an den einzelnen Erfahrungen wird vielmehr die Geltung des Normgemäßen evident, die aus den zufälligen empirischen Bedingungen nicht herzuleiten ist. Der bestimmende Charakter des Wertes, das also, was die Bezugnahme auf ihn in Akten der Orientierung und rechtfertigenden Einschätzung möglich macht, ist weniger mit der Kategorie des Seins als jener der Geltung zu fassen. (Spranger hat sich bei dieser Problematik in der Auseinandersetzung mit den Positionen der neukantianischen und der phänomenologischen Schule einen eigenen Weg bahnen müssen. Die Werttheorie schien ihm die einzige Möglichkeit zu bieten, sich gegen die schrankenlose historische Relativierung zu wehren; überzeitliche Wert- und Strukturgesetze sollten der völligen lebensphilosophischen Versenkung in den fluß historischer Geschehnisse kritisch gegenübergestellt werden. In der Gegenrichtung mußte er aber ebenso wachsam bleiben: es galt auch, jene Züge der zeitgenössischen Wertphilosophie kritisch zu reflektieren, in denen ein verkappter Platonismus, ein dem geschichtlichen Denken fremder Dogmatismus am Werk zu sein schien). Man könnte also sagen:Werte existieren nicht vor oder unabhängig von Leben, sie gehen mit aus der produktiven Tätigkeit des persönlichen und des gesellschaftlichen Lebens hervor. Es ist aber eben ein

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Grundcharakter menschlichen Lebens, von gültigen Wertbeziehungen immer schon durchwaltet zu sein; in den kritischen Umstrukturierungen werden Wertbeziehungen neu artikuliert und gedeutet, sie werden nicht in subjektiver Beliebigkeit erfunden, erdacht oder gesetzt. Wie entfalten sich nach Spranger diese Wertbeziehungen zwischen erlebnisfähigen Subjekten und kulturellen Objektivationen? Bei aller epochalen Eigenart ist jede einigermaßen entwickelte Kultur in einer endlichen Zahl von Grundrichtungen aufgebaut. Diese Grund- oder Sinnrichtungen können weder weiter zerlegt, noch aufeinander zurückgefiihrt werden, sie haben je nach dem Wertgesichtspunkt, der in ihnen leitend ist, ihr spezifisches Aufbaugesetz, also im Aufbau eine innere Folgerichtigkeit (Spranger spricht nicht von einer inneren Logik, aber von einer "eingehüllten Rationalität"). Quer durch alle historischen Besonderungen hindurch findet er sechs solcher Sinnrichtungen, die gewiß zunächst deduktiv entfaltet werden, durch die aber jene Konkretionen als reale Geschehnisse erklärt werden können. Die ersten vier beziehen sich stärker auf die Wertdisposition individueller Geistesakte: die immanente Gesetzlichkeit des theoretischen Sinngebiets ergibt sich aus der Orientierung an der Frage nach der Erkenntnis (dem Wesen, der Identität, der Anwendung des Satzes vom Grunde usf.), die des ästhetischen Sinngebiets aus den Regeln, denen die produktive Beschäftigung mit Eindruck und Ausdruck unterliegt, die des wirtschaftlichen Sinngebiets, in welchem es um die Ökonomie des Kraftmaßes geht, aus der Frage nach der Nutzenmaximierung, und die des religiösen Sinngebiets schließlich aus der Struktur, die in der Frage nach dem Totalsinn des Lebens leitend ist. Die beiden anderen beziehen sich stärker auf die Wertdisposition gesellschaftlicher Geistesakte, nämlich auf das politische Sinngebiet, in welchem die Frage des begründeten Machtgebrauchs ansteht, und das soziale Sinngebiet, in welchem die Strukturen der Gemeinschaftsbildung das Thema sind. Alle sechs Richtungen sind von den ihnen eigenen Werttendenzen durchwaltet und können - je reiner, desto besser - nur von ihrem spezifischen Aufbaugesetz her begriffen werden. Die Grundformen des Lebens, die sich von diesen rein erfaßten typischen Strukturen aus erdenken lassen, hat Spranger schlicht "Lebensformen" genannt. Er betont selbst an verschiedenen Stellen, daß sie nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden dürfen; es gilt, ihren gedanklich-schematischen, ihren methodisch-instrumentellen Charakter zu erfassen. Entscheidend ist nun, daß nach Spranger eine strukturelle Übereinstimmung zwischen den Grundrichtungen einer ausdifferenzierten Kultur und der dispositionellen Beschaffenheit der menschlichen Seele angenommen werden

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kann. Die Typik der Lebensformen steckt gleichsam auch in der psychischen Motivationsstruktur, d.h. die subjektiven Erlebnis- oder Leistungsdispositionen sind von denselben generellen Gestaltungsmöglichkeiten und Auswahlprinzipien abhängig. In den formalen Grundbeziehungen sind in der Wertverfassung der Einzelperson dieselben Dispositionen anzunehmen, wie sie schließlich in der Analyse der objektiv gewordenen Kultur in ihren einzelnen Manifestationen (den Werken, Institutionen, der Sprache usw.) zutagetreten. Den sechs Typen der geisteswissenschaftlichen Persönlichkeitstheorie entsprechen zugleich die nicht mehr reduzierbaren Grundmotive der Kulturtheorie, aus denen komplexere Phänomene wie Technik, Recht und Erziehung kombinatorisch auferbaut werden können. Strukturforschung, die sich nicht scheut, rationale Trennlinien in historisch individuelle und unverwechselbare Zusammenhänge zu legen, vermag also notwendige formale Sinnbeziehungen aufzudecken, die diese realen Geschehnisse untergründig regeln. Die methodische Aufdeckung und erkenntnismäßige Formulierung solcher Grundmuster des gesellschaftlichen Lebens und die Ableitung der realen Besonderheiten von den Wertrichtungen bzw. den in ihnen wirksamen Regeln ist das, was wir Verstehen nennen. Diese Spielart des Sinnverstehens (eines Verstehens, das sich nicht auf individuelles, sympathisierendes Einfiihlen beschränkt) ist natürlich auch erforderlich, wenn der bildende Wert eines Gegenstandes bestimmt werden soll, das, worauf sich seelische Ausweitung und Aneignung möglicherweise beziehen soll. Zugleich wird angesichts des Beziehungsgefiiges, das mit Sprangers Differenzierung in sechs Sinn- oder Wertrichtungen aufgespannt ist, auch die Frage nach der Spezialisierung oder der Vereinigung akut, die Frage nach möglicherweise produktiven oder bedenklichen Einseitigkeiten in der Bildung wie auch die nach der günstigen Gesamtkonstellation, nach dem Grad der Kompossibilität der Werte und der inneren Antithetik zwischen verschiedenen Werttendenzen. Solche Reflexionen brechen natürlich erst unter den Bedingungen einer bestimmten historischen Situation auf. Aber es hat sich immer noch ausgezahlt, die Frage nach den Aspekten aufzuwerfen, die z.B. in einer bestimmten schulpolitischen Diskussion besonders betont oder unter der Hand abgewertet werden. Begründete Kritik ist ohne eine solche systematisch ausgefächerte Bildungstheorie nicht zu leisten. 5. Geht es um die Erziehung, so erscheint diesem Wechselverhältnis von subjektiven Bedingungen und objektiven Verwirklichungen von Sinnbeziehungen doch im letzten das Problem der Bildsamkeit des jungen Menschen

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wieder vorgelagert. Der von Herbart übernommene Begriff der Bildsamkeit taucht mit Beharrlichkeit auf, wo Sprangers Hebelproblem zur Debatte steht: Wie muß man es anstellen, daß ein junger Mensch faltig wird, sein Leben in eigner Initiative zu gestalten? Wo kann man helfend ansetzen? Ganz im Sinne der modernen Anthropologie geht Spranger davon aus, daß das junge Menschenkind in besonderem Maße hilfsbedürftig ist, wegen seiner extrem langen Jugendzeit aber auch in einer bei Tieren unbekannten Weise in seinem Verhalten formbar ist. Kinder wollen groß werden und etwas können, und der Erwachsene muß ihnen Gelegenheit bieten, dieses Wollen-, Wirkenund Denkenkönnen immer besser zu lernen. Es ist überhaupt eine Sehnsucht nach Werterfüllung im jugendlichen Leben am Werk, viele Ausdrucksformen des Jugendlichen sind nur verständlich, wenn man die einzelnen Motive auf die Tiefendimension der unklaren, suchenden Sehnsucht zurückführt. Die Erwachsenengeneration versagt, wenn sie die vermittelnde FUnktiOil dieser Sehnsucht nicht erfaßt und sie selbst zur leeren Norm erhebt, anstatt ihr Themen und Lebenskonzeptionen zur Erprobung zu liefern. Spranger ist fasziniert von der jugendlichen Phantasie. Besser als der Begriff der Einbildungskraft drückt nach seiner Auffassung Jean Pauls Begriff der Vorbildungskraft den prospektiven Charakter des Vermögens aus, um das es geht. Frei steigende Vorstellungen vom künftigen Leben, die Fähigkeit, seine eigenen Möglichkeiten in fiktiven Selbstbilaern zu entwerfen, und dies mit einem Vorschuß spielerischer Freiheit - genau das kann der Erzieher nicht willkürlich erzeugen, er soll aber auf diese besonderen Stellen der Bildsamkeit achten und ein contagium bereithalten, etwas Berührendes, eventuell Anstekkendes, das zur verstehenden Auseinandersetzung anreizt. Keine autoritäre Führung also, denn diese ist spätestens in der Pubertät, vom Hervortreten eines Selbst an, der bildenden Einflußnahme im Weg. Spranger denkt ganz von dem Erzieher her, welcher die Werdemöglichkeiten seines Zöglings vorgreifend erfaßt und von ihnen her, also gleichsam von einer übergreifenden Teleologie her, deutet und die freie Auseinandersetzung mit der Welt einleitet, ohne sie doch im ganzen schon kennen zu können. Kämpfe und Krisen darf man dabei dem jungen Menschen nicht ersparen. Eben das ist ja der Ansatz seiner verstehenden Jugendpsychologie, daß diesen Entwicklungskrisen selbst ein Sinn zugesprochen werden muß (ein Sinn z.B. bei der notwendigen Lösung von der kindlichen Lebenswelt mit ihrer naiven Sicherheit, ein Sinn beim Erproben der gesellschaftlichen Rollen, beim Eindringen in das Aufgabenfeld der Erwachsenengesellschaft usw.).

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Gemessen an den vielfältigen Möglichkeiten, die in den spontanen Äußerungen dieser fundamentalen Bildsamkeit in Erscheinung treten, tut die Gesellschaft mit ihren Schulen viel zu wenig zur Erhaltung und Weckung der Kräfte. Entweder bleibt sie scholastisch und nimmt die unterrichtliche Wissensvermittlung als ihre einzige Aufgabe an, oder sie entläßt die Jugendlichen mitten in der Pubertät aus der Schule und bricht die planmäßige Hilfe zur Selbsthilfe im fruchtbarsten Stadium ab. Spranger hat dieses Schicksal der Volksschüler bereits vor Jahrzehnten beklagt. 6. Wenn man den bisherigen Darlegungen gefolgt ist, wird man von dem Umstand nicht irritiert, daß Spranger einmal den Wertbegriff zum Herzstück der Pädagogik erklärt, ein anderes Mal das Problem der Bildsamkeit. Das zentrale erzieherische Geschehen vollzieht sich, wo die so umschriebenen Sachverhalte sich berühren und durchdringen, also wo der Anspruch transsubjektiver Forderungen auf die geweckte und geschulte Bereitschaft zur adäquaten subjektiven Entgegnung trifft. In diesem Kreuzungspunkt steht das Phänomen der Verantwortung. Verantwortung trägt und schuldet man gegenüber geltenden Sach- und Sozialnormen, gegenüber Menschen, die für sie mit einstehen, und schließlich gegenüber der Instanz, die sich im eigenen Selbst als höhere, in der Spannung zu den wechselnden Anmutungen des empirischen Ich, ausgebildet hat. Dieses Problem stellt sich allerdings mit verschiedener Schärfe und Tragweite. In Zeiten, in denen der Mensch in einer intakten, geschlossenen Gesellschaft lebt und dadurch in eine funktionierende Kollektivmoral eingebettet ist, gibt es für die auch da auftretenden ethischen Antinomien praktikable Durchschnittslösungen, die dem Individuum Verantwortung nur in rudimentärer Form abverlangen. Es gibt sogar Weltanschauungen, die eher dem Pol des Sichtreibenlassens und der Aufhebung der Selbstbewußtheit als dem des Sichverantwortlichfiihlens zuneigen. Die scharf abgesetzte Person, die von kosmischen Bindungen ebenso freigesetzt ist wie von der unbestrittenen substantiellen Sittlichkeit eines gesellschaftlichen Verbandes, ist das Ergebnis neuzeitlicher geistiger Entwicklungen. Sie wird nicht mehr gehalten von den kollektiven Formen des Vorziehens und Verwerfens, wenn es um Gut und Böse geht, sie steht in allen entscheidenden Fragen in der prekären Situation einsamer Gewissensverantwortung. Im Gewissenskonflikt vermag sie die Entscheidung auf keine kollektive Regelung mehr abzuwälzen, sie muß selbst urteilen, selbst tun und die Tat verantworten.

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An solchen Knoten- und DurchbruchsteIlen reicht alles sachliche Expertenwissen nicht aus, und ebensowenig taugen Vorstellungen und ideologische Einstellungen, die in unfrei machender Suggestion und Indoktrination aufgebaut worden sind. Wirkliches Gewissen entsteht nur, wo zur Freiheit erzogen wird, in einer Erziehung, die Selbstachtung, Selbstbestimmung und Selbstkritik zu Angelpunkten des Umgangs und des Unterrichts macht. Spranger hat mit seinen Versuchen, den normalen Vorgang der Ich-Spaltung zum Zwecke der Herausbildung einer bestimmenden Instanz zu beschreiben, eigentlich nie aufgehört. Es ist kein Zweifel, daß fiir ihn das Wesentliche an der Begegnung mit dem Göttlichen im Entscheidungsakt des Gewissens beruht. Die existentielle Interpretation des Gewissens ist ihm natürlich vertraut. In ihr entdeckt er aber eine verfängliche Möglichkeit. Das existentielle Selbst, das in der Enge der Entscheidungssituation sich auf sich selbst zurückgewor-. fen findet, kann sich allzu abrupt von der gesellschaftlichen Realität und damit von den drängenden Aufgaben der Welt losreißen. Spranger fiirchtet, daß daraus eine ängstliche oder verdrossene Einkehr in die eigene Tiefe als eine Privatissime-Angelegenheit wird, in der der Mensch die Welt schließlich ihrem verworrenen Schicksal überläßt. Gegen diese Verfallsmöglichkeit ist sein Begriff der Kulturverantwortung gesetzt. Es geht eben, wo von Verantwortung gesprochen wird, nicht um eine isolierte Integrität der Person, es geht zugleich immer um das Bewußtsein von mannigfachen Aufgaben, um den Blick auf den gesamten sozialkulturellen öffentlichen Prozeß. Eine Innerlichkeit, die sich von den divergierenden Rollenerwartungen absetzte und freihielte, wäre als abgespaltene wirkungslos. Spranger geht es um den Menschen, der in allen Phasen bereit ist, fiir den Kuiturprozeß mit aufzukommen, gerade auch dann, wenn dieser sich der Steuerung durch gutwillige einzelne schon entzogen zu haben scheint. Gewissen zu haben ist ihm darum alles andere als eine unbeschreibbare subjektive Qualität, es ist ein Wissen, das sich im Verhältnis zu den Problemgehalten der Situation in der Ausrichtung auf das moralische Standhalten in und fiir die Zukunft in einer absoluten Grenzerfahrung artikuliert. Das ist, so mag man sagen, eine hochgetriebene Anforderung. Als Pädagoge ist Spranger realistisch genug, in seinen Schriften den Weg einer Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein von den elementaren und leichter überprüfbaren Stadien zu den höheren Formen darzustellen. Die bloße Ausfiihrung zugedachter Aufträge kommt fiir das Kind längst vor der Zumutung, Verantwortung aus freier Initiative zu übernehmen. Alle heutigen Bestrebungen, die Erziehung auf die Verantwortung fiir die gesamte Biosphäre und die Erhal-

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tung der Lebenschancen für künftige Generationen zu erweitern, werden von den gefestigten Erfahrungen auf diesen elementareren Stufen ausgehen müssen.

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Wege der deutschen Philosophie Ich will mich hier zunächst auf vier wichtige Werke Sprangers beziehen: Mit dem einen enthüllt er die ursprüngliche, entscheidende Richtung seines Geistes; die beiden anderen haben ihm Weltruhm eingetragen; und das vierte, zuletzt veröffentlichte Werk ist bezeichnend fiir die dauernd fruchtbar gebliebene Erneuerungskraft seiner Weisheit. Das Werk, das Spranger in jungen Jahren über Wilhelm v. Humboldt veröffentlicht hat, zeigt, daß er mit dem Gründer der Universität Berlin die intuitive Formkraft des ästhetischen Verlangens gemeinsam hat. Der Humanismus beider Denker zielt danach, die Idee im Individuellen, das Unendliche im Endlichen zu erfassen, und er vereinigt die klassischen Tugenden der Klarheit und des Gleichgewichts mit dem sowohl künstlerischen wie sittlichen Bestreben, die eigene Seele zu bilden. Auch die Auffassung vom Eros, die in der Psychologie und Pädagogik Sprangers eine so große Rolle spielt, wurde bereits von Humboldt in Grundzügen festgelegt. Die wahre Liebe - eine Liebe ohne Begierde - ist von metaphysischer Natur: Der Geist des Liebenden trachtet danach, mit dem Geist des Geliebten, an dem er auf irgendeine Art die höchste Vollkommenheit widergespiegelt findet, in eins zu verschmelzen und sich emporheben zu lassen. Mit dem Werk "Lebensformen" gliedert Spranger die Charakterkunde dem Bereich der Wertlehre ein. Er sucht nach einer Grundlage, die sich innerhalb der gelebten Erfahrung findet und ein wirkliches System aller, das menschliche Herz bestimmenden Triebfedern darstellt. Das Kriterium, wonach geschätzt wird, ist dieses: "Sage mir, was dir wertvoll ist, und ich sage dir, wer du bist." Mit dem Leitfaden der Bestimmung typischer Charakterformen konnte Spranger die Grundlagen fiir eine Psychologie ansetzen, die gleichzeitig der alltäglichen innersten Wirklichkeit der Seelen und auch jener ihr zukommenden Verwurzelung in einer überindividuellen geistigen Ordnung gerecht zu werden vermag. Denn dieselben nichtstoftlichen Formen, die den historischen Vorgang der Kultur prägen, weisen auch der Bildungstätigkeit der

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Einzelseele ihre Bedeutung zu. Sprangers Psychologie ist eine Strukturpsychologie. Ihr Ziel ist es, die psychologischen Teilphänomene und die sich in ihnen bekundenden Neigungen auf Grund der Stellung zu begreifen, die ihnen im Gesamthaushalt des Seelenlebens, dessen geistiges Zentrum das Ich ist, von den Werten eingeräumt wird. Sprangers Charakterlehre stellt sich nicht die Aufgabe, abstrakte menschliche Typen zu konstruieren, sondern die tatsächlichen Beziehungen, die Kategorien und geistigen Strukturzusammenhänge festzustellen, welche in der persönlichen Weise des Seins mitgegeben sind. Die Lebensformen gründen auf der Beurteilung der inneren Entschlüsse, die auf mannigfache Art einander zugeordnet, in Handlungen und Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen und sich uns dadurch verständlich machen, daß sie innerhalb der Wertordnung einen Sinn, ein Gesetz besitzen. Jeder Mensch läßt sich auf seine Weise beeindrucken von Personen, Dingen und Ereignissen und reagiert ihnen gegenüber gemäß dem Range, den die Werte bei ihm einnehmen. Da es nur wenige Grundwerte gibt, ist auch die Zahl der Lebensformen oder Idealtypen der Persönlichkeit eine beschränkte. Spranger unterscheidet sechs: den theoretischen, ökonomischen, ästhetischen, sozialen, politischen und religiösen Idealtypus; die von ihnen bevorzugten Wertgegenstände sind: die Wahrheit, die Nützlichkeit, die Schönheit, die Liebe, die Macht und der Gesamtwert des Lebens. Das konkrete Individuum nähert sich mehr oder weniger einem dieser Idealtypen, entsprechend der in ihm vorherrschenden Wertrichtung. Da Spranger möchte, daß die sittlichen Werte in das Geflecht jeder Wertordnung eingehen, können diese selbst einen besonderen Typus nicht konstituieren; sie bringen ja die persönliche Lebensrichtung ins Einvernehmen mit den höchsten Werten unseres in Handlung begriffenen Seins. In der "Psychologie des Jugendalters", einem der gehaltvollsten Werke, die je über ein an Schwierigkeiten und unbekannten Größen so reiches Thema geschrieben worden sind, stellt Spranger neuerdings die Fruchtbarkeit und Wirklichkeitsnähe seiner Methode unter Beweis. Im Aufbau des Werkes verrät sich die glückliche Verbindung seines Forschergeistes mit dem ausgesuchten Takt des Pädagogen, mit dem er an das Seelenleben herangeht. Er studiert die Seele im Augenblick ihrer Entfaltung, dringt ein in den Reichtum und die Spannungen ihrer vielversprechenden Kräfte, ohne jedoch die Gebrechlichkeiten, das Übermaß und das Ungenügen außerachtzuIassen. Im Gegensatz zu den in der Medizin herrschenden Strömungen, die auch noch das Gesunde am Maßstab des Kranken deuten, steht hier das Formungsgesetz des normalen

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Seins im Vordergrund, welches vor allen Verirrungen kennenzulernen unser Bestreben sein muß. Gegenüber jeder beschreibenden und genetisch-rückfiihrenden Psychologie, versucht die verstehende Psychologie Sprangers, die Entfaltung und Entwicklung der seelischen Möglichkeiten des Individuums in der Zeit des Wachstums nach dem Maßstab der übersubjektiven Prinzipien des subjektiven Lebens zu bestimmen. So spielt das Kind z.B. vom Standpunkt der beschreibenden Psychologie aus, weil es damit den Überschuß seiner Kräfte ausleben kann; gemäß der psychoanalytischen Deutung spielt es, weil der auf Muskeln oder Einbildungskraft ausgeübte Reiz ihm geschlechtliches Vergnügen bereitet; zufolge der verstehenden Psychologie spielt das Kind, um sich auf eine Tätigkeit von weit größerer vitaler Bedeutung einzuüben. Die psychische Entwicklung des heranwachsenden Menschen wird nach Spranger durch vier Haupttatsachen gekennzeichnet: durch die Entdeckung des Ich, die Ausbildung eines Lebensplans, das Sicheinordnen in die verschiedenen Sphären der mitmenschlichen Beziehungen und das Erwachen des geschlechtlichen Lebens, welches mit dem Eros in eins verschmilzt. Abgesehen von der Geschlechtlichkeit, die erst während der Pubertät in Erscheinung tritt, machen sich die übrigen Tendenzen bereits vorher bemerkbar, aber erst jetzt gelangen sie zu ihrer einmalig-besonderen Struktur. So empfangen auch das Selbstbewußtsein, der Lebensplan, die Einordnung in die Gesellschaft und der Eros nunmehr eine differenzierte, bewußte und verantwortungsgemäße Gestalt. Diese Kennzeichen einer subjektiv-objektiven Erfahrung verleihen dem Leben des jungen Menschen eine besondere Tönung, die sich im Einklang mit seinem Lebensgefühl und der - sei es stufenweisen oder krisenhaften - Entfaltung seiner neuen Entschlüsse befindet. Das vierte Buch von Spranger, das ich hier auffiihren möchte, "Magie der Seele", handelt von verschiedenen mit der Religion zusammenhängenden Themen. Ich beziehe mich hier nur auf dasjenige, das dem Werk seinen Titel gab. Im Gegensatz zur herrschenden Auffassung nimmt unser Autor an, daß die Magie nicht dazu dient, irgendwelche unmittelbaren Ziele in der Außenwelt zu erreichen, sondern in erster Linie dazu, die Kräfte der Seele zu steigern. Ohne ein solches Streben läßt sich in Wahrheit das Werden einer Kultur gar nicht vorstellen, es ist untrennbar verbunden mit dem Erwachen des religiösen Gewissens. Hinter den magischen Riten verbirgt sich eine Aussaat des Religiösen - sie sind das erste Gestammel des mit dem Aberglauben beginnenden Glau-

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bensprozesses. In eben diesen Riten zeichnet sich der Wille ab, die Natur zu beherrschen und sich der Hilfsmittel der Natur zu versichern. Mit dem Fortschritt der Zivilisation verwandelt sich diese Richtung der Magie in Technik und in den Willen zur Herrschaft, aber auf Kosten jener anderen inneren Möglichkeit. Die Magie hat sich heute noch erhalten im Bezirk des Seelischen. In diesem ist noch immer das Wunder möglich, vor allem wenn es sich um die Hervorbringung geistiger Kräfte handelt, dank deren sich die Seele den Geschehnissen einer Welt gegenüber zu behaupten vermag, die ihrer Substanz verlustig zu gehen scheint. Die innere Verwandlung des Menschen hat weder mit dem Gesetz von der Erhaltung der Energie noch mit dem Kausalitätsprinzip zu tun. Eine Metamorphose, welche die Abneigung fremdartiger Werte mit sich bringt, ist ein magisches Wunder der Vermehrung persönlicher Energie - eine Quelle unvermuteter Wirkungen. Dasselbe gilt von dem Werk des Genius, wie ja alle Genialität etwas vom Magischen an sich hat. Die Existenz in der raum-zeitlichen Welt bewegt sich auf einer horizontalen Linie; die Existenz in der Welt des Ordo amoris bewegt sich auf der Vertikalen, gründet im Ewigen. Der modeme, auf die rationale Erklärung ausgehende Mensch - mehr oder weniger sind wir dies ja alle - fühn alles auf berührbare Gegenständlichkeit zurück, selbst die geistige Wesenheit seiner Seele. Zum Glück ist es dem Geiste vorbestimmt, kraft eben des Geistes hervorzuleuchten, und noch ist jene Rasse von Menschen nicht ausgestorben, die den bloß erklärenden Verstand zu überwinden fähig ist. In dem eingangs erwähnten Werk über Wilhelm v. Humboldt sagt Spranger, nachdem er sich mit den Wanderjahren des großen Humanisten befaßt hatte, daß es ihm nun endlich beschieden gewesen sei, die Tiefe, die der deutschen Brust eigen und eigentümlich ist, auszuloten. Damit weist Spranger auf einen Wesenszug des Geistes seines eigenen Volkes, nämlich auf seine Zuneigung, seine Leidenschaft für Fremdes und Fernes; auf die unendliche Weltsehnsucht, die alles sondieren und begreifen und das Beste sich zu- und aneignen will. Darum waren die Deutschen die ersten, welche griechische Kultur mit Tiefblick und Ehrfurcht erfiihlten und ihrer Liebe treu ergeben blieben. Darum auch schuldet man ihnen, Argonauten der Metaphysik, die Ausweitung des geistigen Horizontes nach allen Richtungen hin, ganz besonders aber die Erforschung der Seele und die sie ergänzende Forschung nach den Wesenheiten des unstofflichen Kosmos.

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Ich spiele auf die Entdeckungen des deutschen Idealismus an, die hier in Erwägung gezogen zu werden verdienen, da sie den Hintergrund zu den Lehren und Untersuchungen Sprangers bilden. Wir danken Fichte, Schelling und Hegel jene Philosophie, welche unser Wissen in dieser Richtung bereichert hat, wenn natürlich auch Kant und andere Denker in mancher Hinsicht das Gelände bereits vorbereitet hatten. Fichte eilt um mehr als ein Jahrhundert den Existentialisten voraus und stellt das Ich in die Mitte alles Existierenden, nicht als ein Ding unter vielen, sondern in seiner Eigenschaft als lebendiges geistiges Subjekt, nicht als das Produkt einer rationalen Analyse, sondern als primäre Einheit, von der sich das Selbstbewußtsein wie die Bewußtseinsphänomene überhaupt, als eine Art von Strahlenbrecher des geistigen Lebens, herleiten; nicht in der Rolle eines Reflexes des natürlichen Seins, sondern als primäre Selbstgegebenheit und Schöpfungshandlung. Indem er die Kantische Auffassung von dem in der menschlichen Person beschlossenen Dualismus: Natur - Vernunft überwindet, behauptet Fichte, daß hinter allen natürlichen Impulsen, die noch mit der Vernunft verbunden sind, der Urimpuls des Ich stehe. "lch bin deJjenige, der sich selber schafft"; darum bin ich ein freies Wesen, welches seinen inneren Kampf kämpft und bestrebt ist, Möglichkeiten zu erfassen, Entwürfe und Pläne zu verwirklichen, sich selber zu gestalten. Schelling geht noch weiter auf diesen Weg, die Einwirkung der unpersönlichen Vernunft zu leugnen, und er eilt seiner Zeit voraus, wenn er die Wichtigkeit des Gemüts im Dasein und in den Werken des Geistes anerkennt. - "Wie hoch man auch immer die Vernunft schätzen mag", sagt er, "so kann ich doch nicht glauben, daß jemand, der nur von der Vernunft ausgeht, je ein tugendhafter oder heldenmütiger oder überhaupt ein bedeutender Mensch sein kann. Leben gibt es nur in der Persönlichkeit und die gesamte Persönlichkeit ruht auf dunklen UntergrüDden." - Die dunklen Untergründe sind der irrationale Wille und die Leidenschaften, welche mit den Tugenden auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen. Wesentlich aber ist, daß der Wille gemüthaft und aufs Ganze angelegt ist. Die Wissenschaft ist dem deutschen Idealismus für die Eroberung des objektiven Geistes verpflichtet. So gewiß das geistige Leben der Subjektivität anhaftet, nicht weniger gewiß ist, daß dasselbe nicht von ihr allein, sondern auch von Formen ureigener Wirklichkeit jenseits des Individuums abhängt. Sie konstituieren eine höhere, der Berührung nicht zugängliche Welt, eine Über-

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existenz, welche die Bildungen, Freiheit und Handlung des Menschen gleichzeitig bedingt und anregt. Fichte ist auch der erste Forscher, der dieses Firmament erkundet. Er anerkennt - noch vor Nietzsche - die Tatsache in ihrer ganzen philosophischen Tiefe, daß es kein Ich ohne ein Du gibt. Die Kenntnis der anderen "lche" ist eine primäre Erfahrung, welche sich auf gefühlsmäßige und praktische Beziehungen stützt, bei denen ein freier Wille einem anderen handelnd gegenübersteht. Daraus ergibt sich eine besondere Welt geistiger Verknüpfungen, bei denen das fremde Verhalten im Ich die Wirksamkeit von Elementen auslöst, was Fichte gedanklich konstruierte Gegenstände nennt, während wir dies heute als objektiven Geist bezeichnen, als eine Vergegenständlichung des Geistes, kraft dessen die gewordene Kultur entstanden war und das Gemeinschaftsleben in seiner Fortdauer unterhalten wird. Endlich ist es Fichte, der bereits erkennt, daß diese besondere Welt, diese Mittlerin der Beziehungen zwischen den verschiedenen Ich, die imstande ist, sich in konstruierten Gegenständen zu offenbaren, jedem Individuum je nach seiner Befähigung zugänglich ist. Auf keine andere Weise läßt sich dieser sein Satz: "Was du liebest, das lebst du", anders deuten. Trotz dieser Einsichten Fichtes ist doch Hegel der wahre Entdecker des objektiven Geistes; ihm wird ja auch die Bezeichnung verdankt. Er ging ihm auf den Grund, indem er ihn als überindividuellen Geist begriff, der gegenwärtig wirksam im subjektiven Geist und dauernd. faßbar im geschichtlichen Geschenen ist, als Schöpfer der Sitte, des Rechts, der Moral, der Einrichtungen des Staates sowie der Gesellschaft und der ganzen Kultur. Gewiß, Hegel blieb dabei nicht stehen, sondern verknüpfte die positiven Gegebenheiten mit uferlosen metaphysischen Konstruktionen. Aber ihm ist es jedenfalls zu danken, wenn eine mit Wesen und Würde des Menschen engverbundene Realität offenkundig geworden ist, angefangen bei den Worten: objektiver Geist, objektiviert und objektivierend. In der Gegenwart bildet der Begriff des objektiven Geistes reichen Stoff zur Untersuchung für die anthropologischen Wissenschaften und die Philosophie. Die besten Arbeitsergebnisse sind dabei deutschen Forschern zu danken. Spranger auf dem Gebiet der Psychologie, Freyer auf dem der Soziologie, Rothacker auf dem der Systematik der Geisteswissenschaften und Nikolai Hartrnann auf philosophischem Gebiet zählen zu den hervorragensten. Nachdem der deutsche Geist für die Erkenntnis das Reich des Subjektiven erschlossen und unterbaut hat, zeigte er ihr damit noch ein weiteres Feld, ohne welches von der Bedeutung, dem Wert und dem Sinn der menschlichen Persön-

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lichkeit und Art gar nicht gesprochen werden könnte. Dank der neuen Einstellung, die sich über die Grenzen der unmittelbaren Disziplin hinaus aller Hilfsmittel bemächtigt, schritt das Verständnis der politischen Geschichte, der sozialen Ordnungen und der Ethik voran. So hat die von Dilthey, dem bevorzugten Lehrer Sprangers, entworfene verstehende Philosophie des Lebens die positiven Errungenschaften des deutschen Idealismus verwertet. Die Geschichte des Menschen und seine Werke sind Geist von unserem Geiste. Aber man kennt Menschen und Menschheit niemals bloß aus der privaten Erfahrung zur Genüge, es muß hinzutreten die Erkenntnis des gegenwärtigen und vergangenen Du und das Studium des universalen Geschehensprozesses und der Objektivationen der Kultur. Das große Forschungslaboratorium des Geistes ist die Menschheitsgeschichte, die uns Maßstäbe fiir unser eigenes Verhalten gibt. - "Das Ideal der Geisteswissenschaft ist das Verstehen der gesamten historischen Individuation des Menschen, in der Verknüpfung und im Zusarnmenschluß mit dem Gesamtbereich des seelischen Lebens." Diese wirklichkeitsnahe Psychologie Diltheys, in welcher dem strukturellen Aufbau und dem Sinn der Einzelteile im Ganzen primäre Wichtigkeit zukommt, ist das Vorbild, welchem Spranger folgte und welches er mit erstaunlicher schöpferischer Eigenständigkeit auf allen Zweiggebieten der Charakterlehre und der Jugendpsychologie zur Vervollkommnung brachte. Dies ist nicht sein einziger Ruhmestitel: Aus dem Werk Sprangers leuchten einige besondere Geistesqualitäten seines Volkes hervor: die Fähigkeit, das, was in der Geschichte bewundernswert ist, zu erfassen, die Tiefe und der Reichtum seiner inneren Phantasie, das architektonische Vennögen seines großartigen Stiles, mit dem er die Gegebenheiten der Erfahrung bewältigt und darstellt, und vor allem das Feingefühl, mit dem er seelische Jugend nachzuerleben und aufzufassen vermag. Gerade dieser letzte Umstand ruft mir eine bezeichnende Bemerkung des Tacitus in die Erinnerung: Er fand sich überrascht, daß die Germanen die Zeit nicht nach Tagen, sondern nach Nächten zählen, und fugte hinzu: "Nox ducere diem videtur" - es ist, wie wenn die Nacht den Tag heraufzöge. Und so ist auch der Geist der Deutschen mit seinem Durst nach Licht immer jung und zeugungsmächtig.

Walter Jaide

Eduard Sprangen "Lebensformen" und die Erfordernisse heutiger Wertfonchung Statt über eine Entwicklung der Jugend-Psychologie unter Berücksichtigung einiger fiir Spranger wichtiger philosophischer Grundfragen mit knappen Worten zu berichten, möchte ich vielmehr ein Werk und zwar die Lebensformen (1921) herausgreifen. Diese Arbeit hat fraglos direkten Bezug nicht nur historisch. sondern auch inhaltlich und systematisch zur heutigen Erforschung von WerteinsteUungen aufseiten der Jugend. Um sich der Arbeit zu nähern, ist eine Besinnung auf die philosophischen Grundlagen von Sprangers Arbeitsweise erforderlich: Der Zugang der Psychologie ist nicht - wie bei Scheler - die Erfahrung, das Erleben, die liebende Teilnahme - auch nicht (wie von Spranger selber formuliert) Sympathie, Einfiihlung, Nacherleben, - sondern kategoriales Verstehen, ein Nachdenken über die Beziehungen zwischen der kulturellen Tradition und dem Leben der Jugend, - eine kulturgeschichtliche, sinngehalt-psychologische Besinnung, eine wertideologische Sicht als "Verstehen". ,,Erkenntnistheoretisch gesprochen: Die Erkenntnisleistung des Verstehens ruht nicht ausschließlich auf dem empirischen Faktor der nachgebildeten unmittelbaren Erlebnisgehalte, sondern sie beruht auf kategorialen Formen, auf Sinnbandern, die das Denken dem Erfahrungsstoff der inneren Erlebnisse aufprägt, ..... ,,(

Das Verstehen vollzieht sich bei Spranger durch die sinnhafte Einordnung von Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen in immer höher gelagerte Wert-Zusammenhänge, zunächst innerhalb der jugendlichen Person (transsubjektiv und kollektiv) und weiter in die von ihr erlebte bzw. produktiv übernommene Gesellschaft und Kultur und in deren zeitgeschichtliche Gehalte und Wirkungen (objektiver Geist) - und diese wiederum unter der normativen Kraft und Geltung metahistorischer Grundwerte (normativer Geist), die sich in den Lebensformen manifestieren.

Spranger, E.: Psychologie des Jugendalters. 1979, S. 21.

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Walter Jaide " ... wir sind in hohem Maße bedingt und geformt durch einen Bestand überindividueller geistiger Gebilde (wie Wirtschaft, Wissenschaft, Staat, Sittlichkeit, Religion der betreffenden Kultur), die uns gefangennehmen, leiten und beherrschen. Der Sinn dieser übergreifenden Geistesmächte lebt nicht von vornherein voll bewußt in uns. Er wird nur durch philosophisch-historische Denkarbeit zum Bewußtsein erhoben, und auch durch sie nur teilweise. Was wir so im Denken klären, ist überindividueller Sinn, der sich im individuellen Erleben stufenweise abschattet. Wir verstehen den Menschen einer Zeit nur, wenn wir insofern über ilun stehen, daß wir seine subjektiven Sinneriebnisse mit solchem objektiven Sinn vergleichen können." 2 Solche Sinnrichtungen sind "biologisch-6konomische Werte, Erkenntniswerte, ästhetische Werte. Als Formen der gesellschaftlichen Verbundenheit treten hinzu: soziale Werte und Machtwerte. Wo alle diese gesonderten Sinnrichtungen in der geistigen Lebenseinheit zusammentreffen, liegen die religiös-ethischen Werte: die religiösen Werte ausdrückend den höchsten Sinn der Welt; die ethischen ausdrükkend den höchsten Sinn des personalen Lebens." 3 "Jede dieser Grundrichtungen wird einem besonderen Gesetz unterliegen; so ist z. B. die Gesetzlichkeit des Erkennens eine andere als die Gesetzlichkeit des ökonomischen Verhaltens oder es ästhetischen Schaffens und Genießens". 4

Nur im Zuge einer solchen ineinandergreifenden sinnvollen und wertgerichteten Einordnung ist ein Verstehen jugendlichen Lebens möglich (generelle geisteswissenschaftliche Psychologie). Auch die individuelle Variation jugendlichen Lebens ist letztlich kultur-geschichtlich zu verstehen (differentielle geisteswissenschaftliche Psychologie). Dies ist für die Jugend allerdings nicht statisch zu konzipieren, sondern als in lebenszyklischer und teleologischer Entwicklung begriffen. ,,zugleich aber besteht ein Verhältnis der Wechselwirkung: Der Sinn des individuellen Lebens wird bestimmt durch den Sinn der historisch gegebenen objektiven Kultur, und die historische Kultur wird immer neu belebt und umgestaltet durch die lebendigen Seelen, die sie tragen und von ihr getragen werden." S

In diesem Plan sind idealistische Überzeugungen wirksam: Der Glaube an eine sinnvolle Präsenz und Entwicklung von Kultur und Gesellschaft mit metahistorischen, in ihrer Valeur unterscheidbaren Wertsetzungen, an die Integrationskraft solcher übergeordneten Werte, an die sinnhaft wertbezogene Te-

Ebd., S. 23. Ebd., S. 29. Spranger, E.: Lebensfonnen. 1921, S. S. Ebd., S. 28.

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leologie (Dilthey) der menschlichen Entwicklung im Jugendalter - und der Glaube an eine Anthropologie der kulturellen und subjektiven Ordnung der Motivationen und der Dominanz zentraler Werte. ,,Der objektive Geist mit seinem Gehalt an echten Wld Wlechten Werten bedeutet das gesellschaftlich bedingte Milieu, die geistige, historisch gewordene LebensumgebWlg. Der normative Geist aber bedeutet die kultur-ethische Direktive, die - der Idee nach - über jeden gegebenen Wld nur relativ wertvollen Zustand hinaus strebt in der RichtWlg auf das echt Wld wahrhaft Wertvolle. Der eine also ist eine Wirklichkeit, der andere das, was wirklich werden soll." 6

Der anthropologische bzw. jugendbezogene - man ist versucht zu sagen: ,jugendbewegte" - Optimismus Sprangers übersieht bzw. vernachlässigt das Verblassen in einem Wertvakuum - das Umschlagen enttäuschter Wertanwender in Geiz, Indolenz, Resignation u.s.f... Und er faßt noch nicht den machtvollen, kontroversen Pluralismus der Moderne ins Auge, dem Jugend zunehmend unterliegt. Spranger hat in seinen "Lebensformen" sechs Idealtypen der Wertbefolgung gekennzeichnet - und zwar in seiner geistige Akte zunächst differenzierenden und isolierenden und sodann kombinierenden und integrierenden Zugangsweise. Dabei gelangt er zu jeweils um einen zentralen Wertbereich kreisende Lebensformen: -

der religiöse Mensch der theoretische Mensch der ästhetische Mensch der soziale Mensch der politische Mensch der ökonomische Mensch.

Diese Typologie steht in Zusammenhang mit Max Schelers Unterscheidung in Werte des Heiligen - geistige Werte - Werte des Edlen - Werte des Nützlichen. Im folgenden werde ich, soweit nötig, auf den sozialen Menschen als Beispiel zurückgreifen. Zur Einstimmung einige Zitate aus den "Lebensformen" - gleichsam den Originalton:

Ebd., s. 17.

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Walter Jaide " ... im sozialen Verhalten liegt ein eigentümlicher Akt vor, nämlich wertbejahende Hinwendnng zu fremdem Leben nnd das Sich-im-anderen-fühlen. Wo dieser Trieb zur Hingabe an den anderen als beherrschender Lebensdrang auftritt, da entsteht eine eigene Lebensform, die wir die soziale genannt haben . ... Nur als Urtrieb der Seele, als Wlffiittelbare GnmdrichtlUlg des Lebens, begründet der Sympathiegeist einen eigenen Typus . ... Erst wenn die soziale Einstellnng als organisierendes Prinzip des geistigen Lebens wirkt, wird sie ein Gegenstand nnserer Charakterologie". 7

Spranger bietet in seinem Werk keine Empirie bzw. Genese wertbezogener Einstellungen und Verhaltensweisen - aber auch keine bloße Proklamation von Wertbegriffen. Seine Idealtypologie leistet eine verstehende, geisteswissenschaftliche Synopse von teleonomen Wertprinzipien im Leben verschiedener Typen - eben in Lebensformen. Und dies in einer weitausholenden und differenzierten Darstellung, die deshalb auch heute noch interessant ist und vor Vereinfachungen in Konzeption und Durchführung empirischer Studien warnen kann und soll. Die Zuwendung des sozialen Menschen zum Nächsten ist eigentlich kein Wert, sondern ein Ziel (terminal value; Rokeach) bzw. nur ein "formales, inhaltsloses Streben" (Spranger). Die Werte, auf die eine solche Zielsetzung abstellt, sind die Menschengemeinschaft und die Würde der Person. " ... Mit der begriffiichen Zerlegnng des zuletzt Unformulierbaren, auf die die Wissenschaft nicht verzichten kann, sagen wir daher, daß die Liebe ihrem Kerne nach in anderen Menschen - in einem, einigen oder vielen - mögliche Wertträger nnd Wertsetzer überhaupt erblicke nnd in diesem Umfassen anderer den letzten Wert des eigenen Wesens fmde".8

Die Nächsten sind also "Wertträger oder Wertsetzer". Diesen Werten können auch andere Ziele dienen: Gleichberechtigung, Bildung, Humanität, Solidarität, Sozialhilfe. Und unterhalb der Ziele, ihnen zugeordnet und ihnen dienlich sind die Normen (Regeln, Mittel) placiert: nachsichtig, geduldig, hilfsbereit, mütterlich, freundschaftlich - bzw. die sozialen und rechtlichen Regeln um die Unantastbarkeit und Hilfsbedürftigkeit der Person. Es sind die instrumental values von Rokeach. Dazu kommen beim sozialen Menschen sogar selbstvergessene Anomien (z.B. Bevorteilung der Betreuten).

Ebd., s. 192. Ebd., s. 194.

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Spranger hat in seinen "Lebensformen" sowohl Werte wie Ziele und Normen differenziert und integriert erörtert. Er hat - gemäß der Unterscheidung Max Schelers - nicht so sehr die Werte dargestellt als die Personentypen oder Idealtypen, in denen Werte gelebt werden.

A. Ich möchte den "Lebensformen" (speziell dem Typus des sozialen Menschen) eine Reihe von Kriterien entnehmen und auf unsere Forschungssituation ausfolgern: Wenn Sie die zitierten Stellen noch im Ohr haben so ist klar, daß es sich bei Werten um Gedankengebilde sehr besonderer Art handelt, die aus einer meist langfristigen Ideen- und Kulturgeschichte auf uns bzw. unsere Testpersonen überkommen sind. Diese Vorgeschichte steckt voller Bedeutungsdifferenzierungen und Abwandlungen und voller Kontroversen (z.B. Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit mindestens seit 1789). So sagt auch Spranger: jede Wertbesinnung schließt eine Kulturbesinnung und eine Geschichtsbesinnung in sich. Für die empirische Forschung bedeutet dies, daß Werte zunächst nur als Begriffe, Chiffren, Namen aufklingen in einer gewissen abstrakten Bekanntheit, und wir müssen herausbekommen, wie sie von den Testpersonen aufgefaßt werden, - mithilfe von Definitionen, Connotationen, Assoziationen oder sonstigem Räsonnement. Bevor man also Wertbegriffe (Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden, Umwelt) bezüglich ihrer Wertschätzung abfragt oder in eine Rangordnung bringen läßt, muß man wissen, ob die Testpersonen überhaupt etwas damit anfangen können und was sie im einzelnen Fall damit meinen. M.a.W., wie ihr Wertkonzept beschaffen ist. Dabei wird man auch auf spezielle konträre und polemische Ausmünzungen von Freiheit, Frieden, Arbeit, Solidarität, Soziale Gerechtigkeit stoßen, die eine Exploration sehr spannend machen dürften. Man kann z.B. Freiheit mehrdimensional auffassen als generelles Schutz- und Menschenrecht - als verfassungsmäßige Mitwirkungsfreiheit - oder als materiale Freiheit von Not' - oder als die Freiheit des Anarchen - oder als rücksichtslose Anomie. M.A. W. als Freiheit im Rechtsstaat - Freiheit mittels Volkssouveränität - oder

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Freiheit und Menschenwürde im Sozialstaat etc.. Bei solchen Explorationen fiele auch etwas über das kulturgeschichtliche Bewußtsein bezüglich der Werte aufseiten unserer Probanden ab, was ebenfalls sehr interessant wäre. Und es ließe sich ohne Schwierigkeit die Frage anschließen, woher ihnen diese Vorstellungen bzw. Leitgedanken zugeflossen seien (aus bestimmten ideologischen Traditionen, aus der Elternfamilie, der Schule, den Medien, den Organisationen u.s.f.).

B. Spranger spricht auch von der Anwendung, der Verwirklichung oder Umsetzung der Werte im praktischen Leben. Er unterscheidet Werterlebnis, Wertungsakt, Werthandeln. Bei dem sozialen Menschen (oder den anderen Typen) vollzieht sich dies gleichsam selbstverständlich im Sinne einer Strukturgesetzlichkeit des Idealtypus infolge der kulturellen Tradition und im Rahmen einer relativ harmonistisch aufgefaßten Kulturepoche. Für uns Heutige liegt gerade hier das schwierige Problem. Selbst wenn es gelingt, die mit den angebotenen Wertbegriffen gemeinten Inhalte zu definieren oder zu identifizieren, - müssen wir von unseren Testpersonen auch erfahren, wie sie sich die Anwendung von präferierten Werten vorstellen oder diese praktizieren. D.h. sie müßten über den Stand der bisherigen Verwirklichung eines bestimmten Wertes (soziale Gerechtigkeit) informiert sein und die aktuelle Problemlage durchschauen. Z.B. wenn es um Sozialstaatlichkeit geht, so muß man wissen, wie es zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland ohnehin um die Soziale Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter, Ehescheidung und Witwen- und Waisenschaft bestellt ist zumindest im groben Durchschnitt und allgemeinen Trend, möglichst auch in den verschiedenen sozialen Schichten und Gliederungen bzw. in deren Situationen. Auch ist es wichtig, über Vergleiche zu früheren Zeit und mit anderen Ländern und Systemen zu verfügen und daraus Maßstäbe zu entnehmen. Man bedarf also einer Legitimierung des Werthandelns durch die Realität, oder wie Sandberger es ausdrückt: rationale, konkrete, situationsbezogene Wertpräferenzen hängen von solchen Kognitionen ab; diese Abhängigkeiten müssen ermittelt werden. Hier liegt zunächst ein kognitives Problem vor: den Status quo zu kennen, aktuellen Mehrbedarf an Werteinlösung zu nennen und die

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Grenzen des Möglichen einzukalkulieren. Mindestens die erste Markierung müßte der Wirklichkeit annähernd entsprechen, und daran fehlt es meist. Bisher ist nur in wenigen Fragebogen danach gefragt worden, ob und wie weit Freiheit bzw. Gleichheit und Wohlstand zur Zeit faktisch gewährleistet oder verwirklicht seien - oder ob man Kritik üben könne oder ob auf bestinunte Werte zu wenig - gerade in richtigem Maße - zu viel Wert gelegt würde. In einer Untersuchung von Sandberger (1979) werden solche Beurteilungen der aktuellen Sicherheit etc. von Primanern erbracht, die weit vom Schuß liegen und die zudem je nach politischer Einstellung differieren. Man pflegt heute Vorrangigkeiten und Konkurrenzen zwischen bestinunten Werten bzw. Zielen zu postulieren: z.B. weltweite Gerechtigkeit vor einer bloß auf Europa oder den eigenen Staat bezogenen - ZukunJtsvorsorge vor Gegenwartsfürsorge - persönliche Verantwortung vor kollektiver Betreuung und Versorgung. Aber solche Umorientierungen bedürfen der genauen Kenntnis der Sachlagen, z.B. in der Weltwirtschaft und ihren zahlreichen Ländern und Systemen, der Zukunftsprognosen, der Einschätzung der guten, unabdingbaren wie der überflüssigen und dysfunktionalen Leistungen des Sozialstaates, der Möglichkeiten und Grenzen personaler Mitverantwortung "im System". Ohne solche Einsichten oder Kompetenzen bleiben die Postulate leer, und das eben ist das Problem der heutigen Wertediskussion - erst recht zwischen den Generationen. Zu einem akzeptablen Wertbewußtsein gehört ferner die Vorkenntnis über bzw. Entscheidung für Maßnahmen, mit denen ein solcher Wert seriös zu verwirklichen ist, durch welche Vorleistungen und Verzichte der heutige Stand erreicht wurde, durch welche gesellschaftlichen und politischen Kräfte bzw. Institutionen z.B. Soziale Gerechtigkeit in die gewünschte Richtung und auf das erwünschte Maß transponiert werden könnte. Es geht also um Einsicht in die Problemlösungsmöglichkeiten - wie andererseits auch um ein Durchschauen der Vorwand- und Illusionierungsrolle von Wertproblemen und deren Aufbauschung oder Bagatellisierung. Die notwendige Kenntnis ist auch von moralischer und politischer Qualität. Denn bei der Einschätzung der Lage spielen nicht nur kognitive Informationen eine Rolle, sondern auch die Bereitschaft zu vergleichenden, einfiihlenden, wertenden Erwägungen z.B. darüber, was ein gerechter Lohn, eine gerechte Verteilung von Chancen und Einkonunen, eine gerechte Relation zwischen Rechten und Pflichten sei. Soziale Gerechtigkeit ist ein unstrittiger Wert, seine Realisierung kann jedoch nur zeitgeschichtlich, biographisch, re-

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lativ, sachorientiert beurteilt und durchgeführt werden. Hiennit beginnt der Ernst der Konkretisierung und Aktualisierung von Werten für die gegebene und zwar einigermaßen richtig erfaßte Situation. Man mag einwenden, daß man dergleichen doch nicht gut von jungen Menschen bzw. seinen Testpersonen verlangen kann. Trotzdem muß man sich annäherungsweise dieser Fragestellung widmen, wenn man nicht Wertforschung im leeren Raum betreiben will. Die Vorstellungen im Wertbereich soziale Gerechtigkeit könnten sich bei Testpersonen aus Desinformationen und Vorurteilen zusammensetzen und somit die zugehörige Werthaltung und die ganze Werthierarchie beeinträchtigen. Das darf man nicht außeracht lassen.

c. Aber die kognitive und moralische Zuwendung zur Wirklichkeit, wertorientierte Einsicht und Augenmaß (M. Weber) sind noch nicht das schwierigste und eigentliche Dilemma der Wertforschung. Sie liegt in dem uralten Problem der Brücke zwischen Denken und Handeln, zwischen Wertvorstellung und praktischem Verhalten. An dieser Brücke lauem nicht nur Risiken der Empirie, sondern auch der Konzeption. Spranger kannte kein solches Dilemma im Konzept seiner Idealtypik und er konnte an Sokrates, Herbart, Dilthey anknüpfen, bei denen das rechte Denken das rechte Handeln mehr oder minder impliziert. Aber es wundert mich, wie stark auch von jüngeren, empirisch arbeitenden Autoren der Graben zwischen Werten und Handeln überbrückt oder gar verdeckt wird. Ich will dies stichwortartig andeuten:

1. Man kann wie Piaget (1973) und Kohlberg (1974) bzw. Oerter, Montada u.a. (1982) eine Entwicklungsstufen-Logik konstruieren und nachweisen, bei der sowohl kognitive wie moralische Entwicklung regelhaft, analog bzw. kommunizierend ansteigen und gleichrangige Wertverwirklichungen mit sich bringen. Und sich mit dem schönen Satz von Piaget zufrieden geben: Die Logik ist die Moral des Denkens, wie die Moral die Logik des Handeins ist.

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In Spranger's Lebensformen kann man die höchsten Entwicklungsstufen unterstellen, auf denen sowohl Einsicht in die sozialen Verbindlichkeiten (5. Stufe bei KohIberg) wie individuelle Gewissensgrundsätze und personale Verantwortung (6. Stufe bei KohIberg) vorherrschen.

2. Man kann ontogenetisch und phylogenetisch noch weiter zurückgreifen auf frühe Stufen, in denen Affekt, Handeln, Dressur, Gewöhnung - der Kognition und dem Werturteil vorausgehen. Auch aktualgenetisch kann man bei vielen Handlungen und Habits eine solche Folge nachweisen. Im Sinne Max Schelers stehen "vor allen vorstellenden, wahrnehmenden, erinnernden Handlungen des Menschen ... interessenbestimmte, wertnehmende Handlungen". (Der Liebesakt, wie er es nennt, steht vor der Erkenntnis und dem Wollen.)

3. Man kann im Sinne Kurt Lewins auf Analogien zwischen Geschehenstypen oder im Sinne Wolfgang Köhlers auf Tendenzen zur guten Gestalt und damit zur Kongruenz zwischen Denken und Handeln hinweisen. Und auch im Sinne Rosenbergs und Festingers auf Konsonanz und Gleichgewicht zwischen kognitivem und affektivem Verhalten.

4. Und man kann die aktionale Basis des Denkens und Urteilens betonen Denkhandeln, ein inneres Handeln ("im Inneren da geschieht es"), ein Sprachhandeln, ein symbolisches und dialogisches Handeln u.s.f., das sicher weit in das praktische Verhalten hineinragt bzw. hineinwirkt. "Kognitive Strukturen sind stets Handlungsstrukturen".

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5. Und man könnte Wertvorstellungen und Wertungsakte degradieren zur Rejlektion über das Handeln und zu dessen nachträglicher Rechtfertigung oder Rationalisierung aufgrund von Selbstbeobachtung und -beurteilung oder zur wertorientierten Hinterfragung des gewohnten Handeins. Das kann es auch sein, aber es ist vornehmlich doch wohl so, daß die Werte Verankerungen von Einstellungen und Dispositionen darstellen.

6. Und schließlich kann man in einer interaktionistischen Version, d.h. Differenzierung und Reziprozität (Krämer-Badoni, Wakenhut 1977) Zusammenhänge zwischen Person - Situation - Interaktion konstruieren und verifizieren, bei der positive Prognosen für das Realverhalten bzw. die Konsistenz zwischen moralischem Urteil und moralischem Verhalten in bestimmten Situationen möglich sind. Zumindest: "Auf der höchsten Stufe des moralischen Bewußtseins ist die Wahrscheinlichkeit am geringsten, daß die Umsetzung des moralischen Urteils im Handeln sistiert wird" (Krämer-Badoni, Wakenhut, S.84). Hierbei werden Wechselwirkungen zwischen Person und Situation, d.h. in der Perzeption und Gestaltung der Situation durch die Person, in der Einwirkung der Situation auf die Person, in den Rückwirkungen der Interaktion aufbeide also ein komplexes, funktionales, offenes Interaktionsgefiige konzipiert. Für eine exogene Konditionierung des Werthandelns, wie sie in den interaktionistischen Versionen umgriffen wird, spricht auch die These Köhlers, daß Werte sich darstellen einerseits als Vektoren, die von einem Ich zu einem Wert hinstreben, und andererseits als Vektoren, die als Anforderungen (requiredness) von einem Wert ausgehen bzw. innerhalb von Wertkombinationen bestehen. Mein Lehrer Wolfgang Köhler hat sich hier dazu bekannt, daß an den Dingen, Daten, Menschen bzw. ihren Konstellationen und FeldSituationen Hinweise oder Angebote oder Ansprüche abzulesen sind, wie sie wertbezogen behandelt werden "wollen" - ein m.E. durchaus vernünftiger Gedanke, der von der Selbstbespiegelung des personalen Wertehausstandes erlöst. Wenn man innerhalb des interaktionistischen Ansatzes auf eine Typik oder Typologie von objektiv/subjektiven Situationen für nach Entwicklungsstufe bzw. sozio-kulturellem Standard typische Personen mit typischen Verhaltens-

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varianten hinauskommt, so schließt sich der Kreis zu Spranger's Lebensformen (oder zu Theophrast's Charaktertypen), in denen eine solche Typik im Rahmen einer Wertverhaltenstypologie abgehandelt wird. Man könnte davon ausgehen. daß es für Menschen - anthropologisch - nur eine begrenzte Vielfalt typischer Lebenskonstellationen gibt: Gesundheit Krankheit; Abhängigkeit - Unabhängigkeit; Elternschaft - Kindheit etc. Man kann diese als Archetypen, chronische Geschehenstypen. wiederkehrende Lageschemata etc. benennen und beschreiben. In diesen typischen Konstellationen gibt es nur begrenzte Alternativen des (wertbezogenen) Handeins und Verhaltens. In Sprangers ,,Lebensformen" wird eine solche Konsistenz von Leitwerten und Konstellationen, von instrumentellen Werten und Situationen. von Werthaltungen und Persontypen konzipiert und ausgemalt. Man soll offenbar davon ausgehen. daß zwischen Person - Situation - Lebensschicksal und Zeitlauf eine Koinzidenz besteht, der gegenüber die psychologische Unterscheidung von Wertungen und Verhaltensweisen eher drittrangig wirkt. Mit Worten Max Schelers: "Jeder Mensch und jede Epoche schreitet wie in einem Gehäuse, das er überallhin mit sich führt, dem er nicht zu entrinnen vermag ... Die Umweltstruktur jedes Menschen ist gegliedert nach ihrer Wertstruktur".

D. Und doch scheinen mir die hier angedeuteten Konzepte mit ihrer BegrifIlichkeit und Methodik die Aporien nicht ganz hinreichend realistisch zu erfassen, die im persönlichen Leben. in kritischen Situationen, innerhalb der und zwischen den Bezugsgruppen und in der aktuellen Gesellschaftsformation bestehen. Es sind bei aller interaktionistischen Verschrankung doch zwei verschiedene Realitätsebenen (Lewin): gedanklich (und sprachlich) versus praktisch-real. In Gedanken (und im Dialog) - und dagegen im praktischen Handeln bestehen eben doch unterschiedliche Spielräume der Realisation und Finalisierung: Erwägen - Wählen - Entscheiden - Vorsatz - Fiat - Praxis Durchhalten - Abschluß - Überstehen. Und verschiedene Konjliktspannungen und Spannungsl6sungen: Konkurrenz der Motive und der Bezugsgruppen - Ratlosigkeit und Desorientierung Vorauskalkulationen und Gewißheit - Widerstände - Kontrolle, Druck und Streß - Verzögerungen und Versäumnisse - Mißerfolge - Abbrüche und Hand-



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lungsruinen. Und damit auch unterschiedliche Anfangsschwierigkeiten und Konsequenzen im Raum des Urteilens und im Raum des Handelns u.s.f. Die Steuerung nicht nur der expliziten Willenshandlungen, sondern auch des alltäglichen, gewohnten, situationsabhängigen Verhaltens durch das Bewußtsein bzw. durch halb- und unbewußte Tendenzen erscheint mir noch komplizierter, als es ein integriertes Modell von Persönlichkeit, Situation und Interaktion und Zeitchronik aufweist. Im Lebenslauf in dieser Zeit werden wir fast alle andere, als wir es planen und wollen - nicht immer zu unserem oder anderer Schaden. Und wir handeln oft anders, als wir wertend urteilen und reden oder es hinterher erklären. Und die Beletage des Wertbewußtseins wirkt nicht immer auf das Parterre der praktischen Lebensbewältigung ein. Es bedarf keines dualistischen Menschenbildes und keines Pessimismus oder gar Zynismus, um die Gegenkräfte gegen ein gezielt wertbestimmtes Handeln zu dramatisieren oder zu romancieren. Und es bedarf nicht einmal des Überblickes über abweichendes Verhalten heutiger Jugendlicher vom Schulschwänzen bis zur strafrechtlichen Delinquenz. Auch in der "schweigenden Mehrheit" fUhrt der mit guten Vorsätzen gepflasterte und akzeptierte Weg vielfach nicht in den Wertehimmel, wohl auch kaum in die sprichwörtliche Hölle, sondern vielfach zu Indifferenz, schlechter Laune und Apathie. Gerade angesichts der heutigen Jugendgeneration gewinnt eine skeptische Sicht an Bedeutung, die eher auf Diskrepanzen und Divergenzen zwischen Denken und Handeln angelegt ist. Diese Jugend wächst auf in einer pluralistisch aufgefacherten, konkurrierenden, zum Teil polarisierten Wertwelt, dergegenüber sie zu Anpassung oder Integration oder zum Widerstand stimuliert wird. Jugendliche widersprechen mehr den überlieferten Werten, als sie ihnen zuwider handeln. Sich mobilisieren fiir das Rechte ist oft weniger schwierig, als sich bewahren vor dem breit und verfUhrerisch vermittelten Unrechten. Der objektive Geist und auch der normative Geist (Spranger) stellt sich sehr widerspruchsvoll dar. Die Gegenwartskultur zerspaltet sich in Subkulturen, in vergehende und aufkommende Wertpräferenzen, ja in ideologische Verwerfungen inmitten sozialer Veränderungen. Und die Medien tragen - nicht nur, aber auch - zu weiterer Verwirrung bei. Der Werte-Schweigsamkeit vieler Erwachsener steht gegenüber die jugendliche Skepsis angesichts der Wertrelativitäten je nach Anwendungsbereich (Wahrhaftigkeit in Familie versus im Betrieb). Hinzu kommen ihre emanzipatorischen Impulse.

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Die Folgen sind nicht nur schwierige, krisenhafte Auseinandersetzungen in manchem desorientierten Individumm und in seiner Gruppe, sondern vennutlich auch Disparationen zwischen innerer Wertfindung und offenkundigem Werthandeln. Ein gesunder Egoismus und ein to muddle through ist fiir manche die Losung oder die Lösung. Darauf muß sich die Forschung einstellen. Angesichts der gebotenen Skepsis auf der Schwelle von Wertungen zum Verhalten bedarf es wohl noch aufwendiger ingeniöser und unverdrossener Empirie.

E. Im Anschluß an das Realisierungsdilemma will ich ganz knapp eine Frage anfuhren, die das Problem noch weiter ausdifferenziert - die Frage: wie werden die Adressaten der Wertanwendung eingeschätzt (z.B. die Empfänger von Sozialversicherung, Sozialplänen, Sozialhilfe etc.)? Sind den Wertanwendern deren Merkmale - also ihre sozio-ökonomischen Biographien und Situationen bekannt oder nicht? Oder wie weit ist das der Fall? Machen sich die Wertanwender Gedanken darüber, wie ihre Hilfe VOn jenen angenommen, ausgefolgert, erwidert oder auch ausgenutzt wird? Auch dies gehört zum Horizont einer ernsthaften Wertentscheidung oder Wertekonkurrenz. Und damit hängt die Frage zusammen nach den Rückmeldungen aus sinngemäßen Erfolgen oder widersinnigen Mißerfolgen oder abseitigen Konsequenzen der Wertumsetzungen. Hierbei ist wiederum die Unterscheidung der beiden Realitätsebenen unentbehrlich: Sozial-politische Gedankenexperimente erzeugen Reaktionen oder Rückmeldungen - höchstens im Lebensraum der Funktionäre und der Journalisten. Sozial-politische Praxis jedoch liefert auf allen Ebenen Wirkungen und Konsequenzen. (Man könnte außerdem zwischen Denkern und Praktikern noch die Beobachter einschieben, deren Niederschriften oft am ergiebigsten sind in bezug auf die Werteproblematik.) Durch die Praxis verändern sich die Wertanwender selbst: Sie fühlen sich befriedigt und bestätigt oder enttäuscht oder mißverstanden, in ihrem persönlichen Kräfteeinsatz überzogen oder balanciert. Und sie werden daraus ihre Folgerungen ziehen und demgemäß ihre Werte-Biographie der Überzeugungen, Zielsetzungen und Nonnen fortsetzen oder abwandeln oder abbrechen.

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F. Und nun zur möglichen Rangordnung von Werten: Wenn man PrioriUiten von Werten in bezug auf eine einfache Rangliste abfragt, bleibt meist ungeklärt, welche Kriterien für die Placierung bei den Testpersonen ausschlaggebend sind. Eine jeweils höhere, obere (normative) Priorität kann bestimmten Werten zugemessen werden: - Aufgrund einer alltagsphilosophischen oder ideologischen Wertschätzung und Zentralität, die man für sich oder für die Allgemeinheit reklamiert. Solche Werte genießen meist in der Bevölkerung eine generelle Zustimmung oder Konformität oder zumindest Bekanntheit und bringen zwischen ihrer breiten Anerkennung und schmalen Befolgung das bekannte Verbindlichkeitsdilemma mit sich. (Das deutet sich an z.B. in Stiksrud's Unterscheidung von Nennungshäufigkeiten und Rangplacierungen.) - Oder aufgrund einer besonderen Intensität und Aktualität des Anliegens (Arbeitsmarktpolitik), eventuell bei mangelhafter Realisierung (also im Sinne einer kompensatorischen Priorität). Hierbei handelt es sich um Probleme mit speziellen Kontroversen, für die ein interaktionistisches Konzept sehr fruchtbar sein dürfte, eventuell durch Konstruktion von realmöglichen Situationen, die aktute Betroffenheit auslösen. - Oder im Zuge einer alterstypischen ~orschaltung bzw. Sensibilisierung (erst Ausbildung, dann Politik; erst peers, dann Familie; erst Sicherheit, dann Nächstenliebe). Das betrifft die Genese und die Veränderungen der persönlichen Werthierarchien im Lebenszyklus, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. Immerhin implizieren sie die Frage, ob sogenannte post-industrielle Werte wirklich Sache einer neuen Jugendgeneration seien, die diese Generation unverändert auf ihrem ganzen Lebensweg begleiten werden, oder doch nur a/terstypische und bildungs-spezifische Präferenzen. - Oder aufgrund subjektiver bzw. gruppen-spezifischer Realkompetenzen für bestimmte Probleme, wie sie in den Wert-Erwartungs-Konzepten von Atkinson, Muller und Hirsch-Weber ihren Niederschlag finden. Man müßte also diese oder ähnlich formulierte Kriterien bei den RangfolgeUntersuchungen einschalten und womöglich nach jedem dieser Kriterien spezielle Rangordnungen ermitteln; das ist auch eine Frage der Methodik. Auf jeden Fall sollte man Pseudo-Placierungen vermeiden, in denen sowohl die Be-

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griffsinhalte der Werte wie die Kriterien fiir ihre PrioriUiten strittig oder unklar bleiben. Spranger geht bei der Rang-Placierung seiner sechs Werte (Lebensformen) eigene Wege. Er bringt sie in eine "objektive" Rangordnung (wie auch Scheler), in der Religion am oberen und Ökonomie am unteren Ende stehen. Dazwischen liegen nebeneinander auf dem zweiten Rang Ästhetik und Wissenschaft und auf einem dritten Rang PolitikJMacht und Soziale Einstellung. In Anbetracht dieser objektiven Hierarchie kümmert er sich nicht weiter um ihre Replizierung oder ihre Ausprägung in den Menschen. Er sieht nur den sittlichen Drang zum objektiv höheren Wert und bemerkt: "Unser persönliches Wesen ist schon eine Hierarchie der Werte". Andererseits spricht er auch vom Labyrinth der Werttendenzen in der Seele. Allerdings würde er unserer Gepflogenheit der quantitativen Prioritätenlisten weitere und beachtenswerte Argumente entgegenhalten: Jene (sechs) Werte seien inhaltlich unvergleichbar, man könnte Religion und Ökonomie nicht in eine monotone Reihe bringen. Außerdem treten die einzelnen Werte empirisch jeweils in verschiedener Sinntiefe und Intensität oder Anwendungsstufe auf: Man kann nicht eine müde Caritas im common sense mit einer cleveren, rigoristischen Ökonomie scalierend vergleichen oder eine raffinierte Machtstrategie mit einer konventionellen Wissenschaftlichkeit. Man müßte also die internen Intensitätsstufen der verschiedenen Werte miteinander vergleichen, was unsere Testpersonen wohl überfordern würde, selbst wenn sie lebenspraktisch dergleichen zustande bringen: von jedem Wert ein bißchen und von dem einen oder anderen ein bißchen mehr. Besser sei es dagegen, die Werte sternförmig anzuordnen, wobei die jeweils höchsten Ausprägungen der Mitte am nächsten liegen (entschiedener Glaube, hochdifferenzierte Ästhetik) - gleichweit von der Mitte entfernt stufenähnliche Bedeutsamkeiten (solide Wissenschaftlichkeit, achtsame Machtkontrolle) und die biederen Ausprägungen auf dem äußeren Ende der Strahlen (religiöse Konformität, konventionelle Sozialeinstellung). Nur Charlotte Bahler macht darauf aufmerksam, daß eine allzu generelle und straffe Wertehierarchie, sofern sie besteht, der Selbstbestimmung hinderlich sei oder der Unwahrhaftigkeit Vorschub leiste.

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G. Unsere Gelassenheit gegenüber den vielerlei Schwierigkeiten von Rangfolgen hängt wohl zusammen mit der ideologischen Selbsttröstung, die sie vermitteln, nämlich daß bestimmte Werte gar nicht so "heruntergekommen" seien. Und - wichtiger - daß man nicht umhinkommt, nach einer Organisation oder Struktur im Wertsystem einer gesellschaftlichen Gruppe oder eines Individuums zu forschen, wozu auch eine Hierarchisierung oder Dominanzbildung erforderlich ist. Ein gewisses Zusatz-Konzept bietet dafiir der Gedanke der Kombination von Werten, zumal sicher kein Wert für sich allein erwogen geschweige realisiert werden kann. "Die Wertungen und Wertdispositionen, die die Motive des sozialen Menschen bestimmen, sind insofern kompliziert, als sie meist mit anderen Wertgruppen verflochten sind" (Spranger, S. 203). Auch die Werte von Rokeach (1973) und zwar die terminal values lassen sich nur in Kombination und Abstimmung miteinander, d.h. mit einigen anderen verwirklichen: z.B. Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit nicht ohne Selbstachtung und soziale Anerkennung. Solche Kombinationen können mit bekannten Methoden ermittelt werden. worüber ich auf die Arbeiten von Stiksrud (1976), von Bargel (1979) und von Sandberger (1979) hinweisen möchte. Offen bleibt dabei noch die Frage bzw. die Unterscheidung nach einer harmonischen oder eher disparaten Wertorganisation beim Einzelnen, im Lebenszyklus, in der Gruppe oder der Gesellschaft und Epoche. Diese Frage nach Geschlossenheit oder Antagonistik oder Diffusität von Wertsystemen schließt die weitere Frage ein nach Risiken oder Abwegen der Wertumsetzungen: nämlich eine nur scheinbare, vorwandartige oder ersatzweise Anwendung zwecks Selbstbefriedigung der Anwender oder ein Mißbrauch im Sinne der Heteronomie der Zwecke (Hegel) oder auch Übertreibung, Monomanie und Fanatismus in der Wertanwendung - Abwege, die menschlich und politisch schlimmer sein können als eine Wertmüdigkeit. Uns allen ist bekannt, daß Werte auch eine fürchterliche Rolle spielen können. Das leitet über zu meiner letzten Problemfrage: Welche Werte werden als Gegenwerte, als Unwerte im Kontrast zu den präferierten Werten angesehen? Dabei geht es nicht um eine Selektion: anstelle eines hohen Lebensstandards ein Lebensminimum und Altruismus. Sondern es geht um Anti-Werte, von de-

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nen eine Gesellschaft oder eine ihrer Gruppen oder ein Individuum bzw. unsere Testpersonen sich abgestoßen fiihlen, die sie verurteilen oder fürchten: einen platten Hedonismus, Sozial-Darwinismus oder naive Sozialhilfe, Abschreckungsrüstung oder blauäugigen Pazifismus. Oder - und das ist m.E. die eigentliche Gefährdung der gültigen Wertsysteme - ein Aufruhr der Unmittelbarkeit, des schweifenden Wechsels, des Rausches, des "alles oder nichts" und des "alles und sofort". Es dürfte schwierig sein, im Bewußtsein der Testpersonen solche Gegenwerte zu ermitteln oder zu evozieren. Aber ohne diese Kehrseite der Medaille bleibt das betreffende Wertsystem "Figur" ohne "Grund" oder erscheint zumindest so. Ich komme ZUIiick auf den Anspruch, in unseren Konzeptionen von Wertsystemen und Wertewandel, speziell bei Disparationen zwischen Werten und Verhalten Bezug zu nehmen auf die besondere ideengeschichtliche Situation der heutigen Jugendgeneration. Und möchte schließen mit einem jugendbegeisterten Aufruf Spranger's für diesen Anspruch: "Am stürmischten ist dieses Erlebnis im Herzen der Jugend. Sie findet immer ein bereits gestaltetes Leben vor, wenn sie anfängt, am Geistigen selbstätig teilzunehmen. Aber diese historische Stufe des Geistes ist ihr selbstverständlich. Sie hat dafür nicht einmal den Blick der Dankbarkeit. Mit ganzer Glut fiihlt sie nur die unbefriedigten Seiten ihrer wertfordernden Innenwelt, und so stellt sie dem vorgefundenen Bilde der Kultur ein neues, anderes entgegegen, das gerade vom Gegensatz zu dem Erreichten sein Licht und seine Farben empfängt. Immer vollzieht sie ihre Bejahungen in der Form des ablehnenden Nein. Wegen dieser Erscheinung konnte Hegel glauben, daß sich die Geschichte in logischen Gegensätzen bewege. Es sind aber nicht Begriffe, die hier miteinander kämpfen, sondern Wertsetzungen und einseitige Lebensformen. Die Geschichte schreitet nicht im dialektischen Dreitakt fort, sondern sie bewegt sich in einer Wertantithetik." (S.447)

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Literaturverzeichnis Allport, G.w.; Vernon, P.E., A study ofvalues. Boston 1931 Atkinson, I.W., Einführung in die Motivationsforschung. Stuttgart 1975 Bargei, T., Überlegungen und Materialien zu Wertdisparitäten und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland. In: Klages, H.; Kmieciak, P. (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel. FrankfurtJM. 1979, 147-184 Bühler, Charlotte, Das Seelenleben des Jugendlichen. 6. Auflage. Stuttgart 1967 Cattell, RB., The description and measurent of personality. New York 1946 Guilford, J.P., Persönlichkeit. Weinheim 1964 Jaide, w., Wertewandel? Op1aden 1983 Klages, H.; Kmieciak, P. (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel. FrankfurtIM. 1979 Köhler, W., Werte und Tatsachen. Berlin 1968 Kohlberg, L., Stufe und Sequenz: Sozialisation unter dem Aspekt der kognitiven Entwicklung. In: Kohlberg, L., Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. FrankfurtJM. 1974 Krämer-Badoni, Th.; Wakenhut, R, Theorie der Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins und interaktionistische Einstellungsforschung: Versuch einer Integration. In: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (Hrsg.). Berichte, Heft 8. München 1977 LandeszentraleJür politische Bildung Rheinland-PJalz (Hrsg.), Wertwandel- Wertverlust - Werterziehung. 1979 Lewin, K., Principles ofTopological Psychology. New York 1936 Muller, E.N., A Test of a Partial Theory of Potential for Political Violence. Am. Pol. Science Rev. 66 (September 1972) pp. 928 s. -

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Oerter, R, Moderne Entwicklungspsychologie. Donauwörth 1967 -

Montada, L., Entwicklungspsychologie. München 1982

Piaget, J., Das moralische Urteil beim Kinde. FrankfurtJM. 1973 Porteie, G. (Hrsg.), Sozialisation und Moral. Weinheim 1978 Rokeach, M., The Nature ofHurnan Values. New YorkILondon 1973 Sandberger, J.-u., Zur Struktur und Relevanz von sozio-po1itischen Grundwerten - Am Beispiel von Abiturienten. In: Klages, H.; Kmieciak, P. (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel. FrankfurtJM. 1979,381-415 Scheler, M., Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik. 1. Teil. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung (hrsg. von E. Husserl). 1. Band Teil II, Halle 1913,405-565

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Dargestellt von W. Mader. Reinbek 1980

Schenk-Danzjnger, L.; Thomae, H. (Hrsg.), Gegenwartsprobleme der Entwicklungspsychologie. Festschrift filr Charlotte Bühler. Göttingen 1963 Spranger, E., Lebensfonnen, 2. Auflage, Tübingen 1921

-

Psychologie des Jugendalters, 29. Auflage, Heidelberg 1979

Stiksrud, H.A., Diagnose und Bedeutung individueller Werthierarchien. FrankfurtIM./Bem 1976

Wemer Sacher

Sprangers Philosophie und Pädagogik im Verhältnis zur geisteswissenschaftlichen Tradition Hans Walter Bähr (1915 - 1995) in dankbarem Gedenken Die Historiographie der Erziehungswissenschaft wurde sich in den letzten Jahren zunehmend bewußt, daß "Geisteswissenschaftliche Pädagogik" eine unglückliche Sammelbezeichnung für eine größere Zahl eigenständiger Autoren und Richtungen mit z. T. erheblich differierenden Positionen ist. Die Einordnung Eduard Sprangers in diese Richtung leistet also nicht eben viel für das Verständnis seines Werkes, solange man keine präzisere Bestimmung hinzufügt. "Kulturpädagogik"· darf nur mit Einschränkungen als eine solche angesehen werden: Zwar vereint Autoren wie Otto Willrnann, Georg Kerschensteiner, Aloys Fischer, Herrnan Nohl, Eduard Spranger, Theodor Litt, Wilhelm Flitner, Erich Weniger, Wilhelm Meister, Fritz Blättner, Albert Reble und Wolfgang Klafki irgendwie die gemeinsame Überzeugung, "daß die Kulturobjektivationen für die junge Seele die eigentliche geistige Nahrung und die emporziehenden Kräfte darstellen"2. Davon unberührt bleibt aber die z. T. sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische Grundlegung dieser Autoren, welche wiederum die an jene Überzeugung geknüpften Schlußfolgerungen nicht unberührt läßt. Von einer Gruppe "an Dilthey anschließender Pädagogen aus der Vorkriegszeit"3 zu sprechen, engt zwar den Kreis der infragekommenden Vertreter hinreichend ein und mag zunächst durch die unprätentiöse Pragmatik der Charakterisierung imponieren. Neben Theodor Litt, Wilhelm Flitner und Erich Weniger auch Eduard Spranger dieser Gruppe zuzurechnen, wie es Herwig Blankertz tut, ist aber äußerst problematisch. Das soll im folgenden aufgezeigt werden. Vgl. z. B. Albert Reble: Geschichte der Pädagogik, 11. Auflage, Stuttgart 1971, S.349ff. ebd., S.349. Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der AufldArung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S.262.

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A. Sprangers persönliches Verhältnis zu Dilthey Bereits das bekannte biographische und autobiographische Belegmaterial mahnt zur Vorsicht, Spranger unbesehen einfach in die Tradition Diltheys einzureihen: Dilthey war einer der philosophischen Lehrer Sprangers. Am Beginn des Studiums kam seine "Erlebnisphilosophie" und sein "Standpunkt des Lebens" allen "sehnsüchtigen Ahnungen" Sprangers entgegen, wie er im Alter rückblickend schreibt4 • Das ihm 1901 von Dilthey übertragene Dissertationstherna über Jacobi gab er jedoch nach drei Semestern zurück, zum einen, weil es ihn überforderte, zum andern, weil er sich offenbar auch menschlich von dem fachlich verehrten Lehrer nicht gut behandelt fiihlte. Spranger promovierte schließlich 1905 bei Friedrich Paulsen mit einer Arbeit über "Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft". 5 Der Bruch mit Dilthey war kein leicht und glatt vollzogener. Spranger litt im Gegenteil sehr darunter, wie etwa aus einern Brief an Käthe Hadlich vorn 16.5.1904 hervorgeht. 6 Aber bereits im Vorfeld seiner Habilitation im Jahre 1909 kam es wieder zur Aussöhnung mit Dilthey, der dann auch eine konstruktive Rolle in dem Verfahren spielte. 7 Die Zeit, in welcher er sich mehr an Paulsen orientiert hatte, erschien Spranger fast nur noch als ,,Episode".8 Allerdings hatte Dilthey auch schon vorher eine Beanstandung des Dissertations-

Eduard Spranger: Meine Studienjahre 1900 bis 1909, Februar 1945 (unveröml. Manuskr.); Eduard Spranger: Kurze Selbstdarstellungen (1961). ln: Eduard Spranger. Sein Werk und sein Leben. Hrsg. v. Hans Walter Bihrund Hans Wenke, Heidelberg 1964, S.13-28. 5 Neben den in Anm. 4 angegebenen Quellen vgl. dazu auch Otto Mair: Eduard Spranger als akademischer Lehrer. Schriftliche Hausarbeit zur Zulassung fllr die erste LehrarntsprOfung bei Ludwig Englert, 1963, und Georg Misch: Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften.ln: Ders.: Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a.M. 1947, S.37-51 (zuerst in: ÖS1erreichische Rundschau, Jg.20, 1924, Heft 5). 6 EduardSpranger: Gesammelte Schriften, Bd. VII: Briefe 1901-1963. Hrsg. von Hans WaIter Bähr, Tübingen 1978, S.9. 7 So bat Dilthey ausdrücklich darum, das Verfahren auf die Zeit nach Pfin~ 1909 zu verschieben, um auch persönlich zugegen sein und ggf. seinen Einfluß geltend machen zu können. (Brief an Käthe Hadlich vom 27. 04. 1909. ln: Gesammelte Schriften VII, S.43) Vor dem Verfahren gab Dilthey Spranger wichtige taktische Ratschläge. (Brief an Klthe Hadlich vom 16. 06. 1909. ln: Gesammelte Schriften VII, S.44) Einige Tage vor dem Habilitationsvortrag spitzte sich das VcrbAltnis allerdings schon wieder k.risenhaft zu. (Unveröff. Brief an Käthe Hadlich vom 12. 07. 1909) Das von Dilthey aber dann doch im Kolloquium gezeigte Wohlwollen schildert Spranger im Brief an Klthe Hadlich vom 20.07, 1909 (Gesammelte Schriften VII, S. 45). 8 Vgl. die Briefe an Käthe Hadlich vom 20.12.1908 und 10.12.1908 (Gesammelte Schriften VII, S.41, 42).

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Gutachtens von Paulsen durch die Fakultät, die sich ihrerseits dabei auf das Gutachten von Stumpf berief, durch seine persönliche Intervention abgewendet. 9 Und Spranger trug sich 1904 trotz des Zerwürfnisses mit dem Gedanken, zumindest anonym eine Hommage aufDilthey zu verfassen. 10 Dilthey setzte beim Ministerium durch, daß Spranger die Erlaubnis erhielt, an der Böhmschen Höheren Mächdenschule zu unterrichten und damit seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. 11 Er beteiligte den jungen Privatdozenten sogar an den Vorbereitungsarbeiten zur Herausgabe des zweiten Bandes seiner Schleiermacher-Biographie, was Spranger rückblickend als eine "späte Meisterlehre" empfand. 12 Tatsächlich war diese Kooperation aber keineswegs frei von Konflikten und unterschwelliger Verstimmung. 13 Die in den Nachlaßbeständen des Bundesarchivs größtenteils noch erhaltenen Briefe Diltheys an Spranger belegen allerdings, daß die Beziehung dieser Jahre zunächst überwiegend sachlicher Art war und eine menschliche Wiederannäherung sich erst allmählich und nur begrenzt vollzog. 14

B. Die Einschätzung des Dlltheyschen Werkes durch Spranger Auch nach der Aussöhnung mit Dilthey behielt Spranger seinem Werk gegenüber eine teilweise recht kritische Position: Bei vielen Gelegenheiten rühmte er Diltheys Tiefsinn, gestand, von ihm angeregt, ja geformt worden zu sein, erklärte sich zugleich aber auch berufen, ihn zu "vollenden" und übte z. T. recht herbe Kritik an seinen Anschauungen: Undatierter unveröf[ Briefan Kithe Hadlich aus dem Jahre 1905. Unveröf[ Brief an Kithe Hadlich vom 24. 10. 1904. II Unveröf[ Briefan Kithe Hadlich vom 29.09. 1910. 12 Eduard Spranger: Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert. In: Gesammelte Schriften X, Hochschule und Gesellschaft. Hrsg. von Walter Sachs, Heidelberg 1973, S.342-360 , S.344; Kurze Selbstdarstellungen (vgl. Anm. 4), S.14f. 13 Vgl. z. B. die unveröf[ Briefe an Kithe Hadlich vom 09. 12. 1909,22. 12. 1910 und vom 24. 12. 1910. 14 Die Anreden Diltheys ändern sich von "Sehr geehrter Herr College" und "Geehrter Herr Spranger" zu "Lieber Herr Doktor", "Lieber Herr College", "Lieber College und Freund" und "Lieber Freund". Ton und Inhalt werden allmlhlich weniger Rlrmlich, jedoch nie wirklich herzlich. Über Einladungen zum Essen, Berichte Ober das eigene Wohlergehen und Nachfragen zum Befinden des anderen ging die persönliche Anteilnahme nicht hinaus. Spranger ehrte aber nach dem Tode Diltheys im Jahre 1911 sein Andenken durch regelmAßige Korrespondenz mit Diltheys Tochter Helene. 10

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- Ein pennanenter Vorwurf, den Spranger gegen Dilthey erhebt, ist dessen angebliche begrifJlich-systematische Schwdche: Besonders prägnant ist die Äußerung Sprangers in einem unveröffentllichen Brief an Käthe Hadlich vom 23.12.1922, in dem er sagte: " ... meine Psychologie ist im Verhältnis zu dem Herumreden von Dilthey ungefähr das, was die Lösung zum Rätsel ist." In seiner im Wintersemester 1925/1926 gehaltenen Vorlesung über "Philosophie der Geschichte" führte er aus:" ... Dilthey, der ... überall die Fülle des Lebens suchte, und, obwohl er Philosoph war, erschrak, wenn der Versuch gemacht wurde, dieses Leben durch Begriffe zu umgrenzen."15 Ähnlich äußerte Spranger sich in der Rezension des 9. Bandes von Diltheys Gesammelten Schriften, wo er Diltheys Psychologie "eine sich selbst noch nicht verstehende Psychologie" nennt und die Meinung vertritt, der Systematiker Dilthey habe die begrifflich-philosophischen Instrumente noch nicht besessen, "um das auszudrücken, was er eigentlich meinte". 16 - Eine beständig wiederkehrende Kritik Sprangers an Dilthey bezieht sich auf dessen Historismus und Relativismus: So sagt er einem autobiographischen Rückblick, er habe "in stiller Opposition gegen Diltheys Historismus" bei Paulsen promoviert. 17 Die Stimmung unmittelbar nach dem Zerwürfnis beschreibt Spranger in der Darstellung seiner Studienjahre folgendermaßen: "Weltanschaulich bildete sich in mir die Überzeugung aus, das ganze Elend komme von der Beschäftigung mit der abgelebten Geschichte, während der gesunde Philosoph systematisch arbeiten müsse. Die Geschichte erdrücke den Menschen, man habe sich ihrer zu erwehren. Dies war nun ganz das Gegenteil zu dem von Dilthey immer wiederholten Satz 'Was der Mensch sei, sagt ihm die Geschichte'."18 Wenn er an anderer Stelle nach einer ähnlichen Äußerung fortfährt:

15 S.252.

Eduard Spranger: Philosophie der Geschichte. Vorlesung WS 1925/1926. (Nachschrift NN),

16 Eduard Spranger: Wilhehn Dilthey. Gesammelte Schriften, Bd.9 (Pädagogik). In: Zeitschrift rur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, Jg.25 (1935), S.224f. 17 Eduard Spranger: Kurze Selbstdarstellungen (1961). In: Eduard Spranger. Sein Werk und sein Leben, hrsg. v. Hans Walter BAhr und Hans Wenke, Heidelberg 1964, S.14. 18 Eduard Spranger: Meine Studienjahre (vgl. Anm. 4), S. 16. - Die Skepsis gegenOber der Geschichte geht auch hervor aus Eduard Spranger: Leben und Wissenschaft, Mskr., 1905. In Gesammelte Schriften VI, Grundlegung der Geisteswissenschaften. Hrsg. von Hans Walter BAhr, S.94.

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"Meine ersten Bücher waren trotzdem historisch",19 so ist das cum grano salis zu verstehen. Dies trifft zwar auf die beiden Humboldtarbeiten von 1909 und 1910 zu. 20 Aber diesen ging bereits die 1905 als Buch erschienene geschichtsphilosophische Dissertation "Über die Grundlagen der Geschichtswissenschaft" voraus. Und vor allem folgten den Humboldtarbeiten die großen systematischen Werke "Lebensformen" von 1921 und "Psychologie des Jugendalters" von 1924. In der 1960 gehaltenen Gedenkrede zur 150-Jahrfeier der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin urteilt Spranger in abschließender Härte, es sei Dilthey "trotz später Ansätze ... nicht gelungen, die gefährliche Seite des historischen Bewußtseins, das Versinken in einen standpunktlosen Relativismus, zu verhüten", und diese Aussage wiegt umso schwerer, als er im Kontext seiner Rede solchen Historismus und Relativismus als "Verirrung der Kultur" brandmarkt. 21 - Spranger nimmt bei weitem nicht so entschieden wie Dilthey einen Immanenzstandpunkt ein, den er verschiedentlich sogar als Positivismu;2 abqualifiziert: Die frühe Äußerung Sprangers in einem Brief an Käthe Hadlich vom 26.8.1907 ist programmatisch fiir sein ganzes Leben und Werk: "Es gibt hier nichts wahrhaft Wertvolles, sondern nur Symbole davon, die auf einen anderen Zusammenhang hinweisen. Die ganze Sinnlosigkeit steht nackt vor mir. Ist dies die ganze Realität, so ist sie das Anspeien nicht wert . ... Der wahre Mensch kann an ihr nicht hängen, wenn er sich richtig deutet. Er lebt in einer Welt der Werte, die er zwar hier verficht, deren Heimat aber anderwärts ist. ... Jede immanente Denkweise ist mir fortan verschlossen. ,,23 Besonders die nachgelassenen frühesten Schriften, z. B. die "Gedanken zur Pädagogik" von 1902 24 und die "Rede über Erziehung" von 1906 25, aber 19 Eduard Spranger: Kurze wissenschaftliche Selbstcharalcteristik. In: Stifterverband filr die deutsche Wissenschaft, Jahrbuch 1961, S.74. 20 Eduard Spranger: WiUtelrn von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909; Eduard Spranger: WiUtelrn von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Berlin 1910). 21 Eduard Spranger: Gedenkrede zur 150-Jahrfeier der Gründung der Friedrich-WiUtelmsUniversität in Berlin. In: Gesammelte Schriften, Bd. X, S.388f 22 Z. B. Eduard Spranger: WiUtelrn Dilthey. Gesammelte Schriften, Bd.9 (Pädagogik). In: Zeitschrift tUr Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, Jg.25 (1935) , S.222; Gedenkrede zur 150Jahr-Feier der Gründung der Friedrich-WiUtelms-Universität (vgl. Arun. 21), S.388. 23 In Gesammelte Schriften VII, S.36f - Ähnlich im Briefan Käthe Hadlich vom Oktober 1914, ebd., S.60ff. 24 Eduard Spranger: Gedanken zur Pädagogik (1902). In: Gesammelte Schriften 11, Philosophische Pädagogik. Hrsg. von Otto Friedrich BolInow und Gottfried BrAuer. Heidelberg 1973, S.190 207. 6 Hohmann

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auch sein mittleres und spätes Werk, z. B. die "Metapsychologischen Meditationen" von 1934 26 und "Die Magie der Seele" von 1947 27 enthalten metaphysische Elemente. In seinen Arbeiten zur Geist- und Wertphilosophie erliegt er beinahe regelmäßig der Versuchung zur Hpyostasierung der zentralen Begriffe. In den Jahren nach Diltheys Tod distanziert Spranger sich z. T. auch von dessen ästhetischen und poetischen Anschauungen 28 , und er kritisiert Diltheys vermeintlich psychologische Kulturauffassung29. Der Einfluß Diltheys auf Spranger kann also nur ein begrenzter gewesen sein. Ein gewisser Überschwang der Beurteilung der Leistung Diltheys in manchen Nachrufen und Gedächtnisreden Sprangers aus den Jahren 1911 und 1912 erklärt sich aus der Pietät dem Verstorbenen gegenüber, so etwa, wenn Spranger von Diltheys Genialität spricht und ihn "den tiefsten Philosophen unserer Zeit" nennt. 3O Aber selbst die Nachrufe lassen teilweise Kritik anklingen.)1 Anderseits wird - wie schon in den angeführten biograpischen Belegen auch in der Einschätzung der wissenschaftlichen Leistung Diltheys durch Spranger letztlich die Ambivalenz des Verhältnisses deutlich. Bei allen Vorbehalten war Spranger sich bewußt, daß er Dilthey ganz entscheidende Impulse verdankte. So schreibt er in einern undatierten Brief vorn November 1903 an Käthe Hadlich: "Aber gerade weil ich persönlich mit Dilthey gebrochen habe und brechen mußte, um frei und Selbst zu bleiben, erscheint mir das, was ich von ihm empfangen habe, wie ein großes Vermächtnis, dem geholfen wer25 Eduard Spranger: Rede über Erziehung (1906). In: Gesammelte Schriften I, Geist der Erziehung. Hrsg. von Gottfiied Bräuer und Andreas FIitncr. Heidelberg 1969, S.420-429. 26 Eduard Spranger: Metapsychologische Meditationen (1934). In: Gesammelte Schriften IV, Psychologie und Menschenbildung. Hrsg. von Walter Eisennarm, Tübingen 1974, S.281 - 304. 27 Eduard Spranger: Die Magie der Seele. Religionsphilosophische Vorspiele. Berlin 1947. 28 Eudard Spranger: Zum kulturkundlichen Unterrichtsprinzip. In: PAdagogisches Zentralblatt, Jg.7 (1927), S.751-759, bes. S.754; Eduard Spranger: Christentum und deutscher Idealismus. In: Zeitschr. f. Deutschkunde, Jg.45 (1931), S.609-625, bes. S.609f. 29 Eduard Spranger: Kulturphilosophie. Vorlesung im Wintersemester 1926/1927 (Nachschrift Schönherr), S.372. 30 Eduard Spranger: Wilhelm Dilthey. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 1911, Nr.43 vom 23. Oktober. 31 Vgl. vor allem: Eduard Spranger: Wilhelm Dilthey. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 1911, Nr.43 vom 23. Oktober; Eduard Sprangcr: Wilhelm Dilthey. In: Archiv filr Kulturgeschichte 9 (1911), S.273-278, S.273fu. S.276; Eduard Spranger: Wilhelm Dilthey. Eine Gedächtnisrede, gehalten in der Societas Joachimica zu Berlin. Berlin, Leipzig 1912. In: Gesammelte Schriften XI, Erzieher zur Humanität. Studien zur Vergegenwilrtigung pädagogischer Gestalten und Ideen. Hrsg. von Otto Dürr, Heidelberg 1972, S.376-388, S.379fu. 382f.

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den muß, daß es ans Licht komme. Ich habe das Gefühl, in reichen Schätzen zu wühlen, aus denen sich eine ganze, goldene Welt auferbauen läßt."32 In einem Brief vom 22.3.1915 an Georg Kerschensteiner, bekennt er, Dilthey sei "trotz des allzu romantischen Nebels, der ihn immer von scharfen Umrißlinien des Lebens fernhielt", ein "großen Erreger" für ihn gewesen. 33 Zu alledem paßt gut, daß er sich selbst gelegentlich als Dilthey-Schüler bezeichnete/4 manchmal aber auch ausdrücklich vom Dilthey-Kreis distanzierte. 35

C. Das Werk Sprangers zwischen Dilthey-Tradition und Neukantianismus Eine Verortung von Sprangers Werk kann sich natürlich nur vorläufig auf biographische Daten und Sprangers Selbstverständnis stützen. Sie muß sich letztlich durch eine umfassende Werkinterpretation legitimieren. Dabei sind neben Nähen und Distanzen zu Diltheyschem Gedankengut insbesondere Affinitäten zu neukantianischen Autoren zu beachten, vor allem zu solchen der sogenannten südwestdeutschen oder badischen Schule, welcher Autoren wie Wilhelm Windelband, Heinricht Rickert, Jonas Cohn, Bruno Bauch und Hermann Johannsen zugerechnet werden. Daß Spranger auch maßgeblichen Einflüssen aus dieser Richtung unterlag, hatte einen biographischen und einen sachlichen Grund: - Bereits 1905 war der Neukantianer Alois Riehl aus Halle zur Entlastung des greisen Dilthey nach Berlin berufen worden. Nach der Habilitation und dem Tode Diltheys schloß sich Spranger dem Kreis um Riehl an. Es entwickelte sich ein sehr herzliches Verhältnis. Die erste Auflage von Spran-

32 Dieser Brief ist in: Gesammelte Schriften VII, S. Sf auszugsweise abgedruckt. Die zitierte Passage ist jedoch weggelassen. 33 In: Gesammelte Schriften VII, S.69. 34 In: Eduard Spranger: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 1911, Nr.43 vom 23. Oktober; Eduard Spranger: Rickerts System. In: Logos, Bd.12 (1923), S.183-198, S.198; Eduard Spranger: Rückblick. o.J. (ca. 19.53 bis 19.5.5). In Gesammelte Schriften X. S.428-430, S.428. 35 So in einem Brief an Herman Nohl vom 13.10.1908: "Es ist mir iriimer an Dilthey und seinen Schülern aufgefallen ... " (abgedruckt in E1isaheth Blochmann: Herman Nohl in der pädagogischen Bewegung seiner Zeit. 1879-1960. Göttingen 1969, S.222).

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gers Hauptwerk "Lebensfonnen", das 1921 als Monographie erschien,36 war ein Festschriftbeitrag zu Riehls 70. Geburtstag im Jahre 1914. 37 Nachdem Riehl 1924 verstorben war, schrieb Spranger im Vorwort zur 1925 erscheinenden 5. Auflage mit Bezug auf Riehl: "Wenn echte philosophische Meisterschaft und Geistesfreiheit auch ohne das Medium von Vorlesung, Seminar und Promotion Schüler wirbt, so nenne ich mich mit Stolz und Überzeugung seinen Schüler; wenn hohes Menschentum in dem fast 40 Jahre Jüngeren fortzeugt und den Willen zur Nachfolge im Ganzen der Lebensfiihrung erweckt, so nenne ich mich seinen Sohn." Im Gefolge der persönlichen Verehrung für Riehl beschäftigte Spranger sich auch eingehender mit der Philosophie der Neukantianer. Die "Lebensfonnen", zumal im Festschriftbeitrag von 1914, können in gewisser Weise als Versuch einer in kantianischer Manier durchgefiihrten pädagogisch-psychologischen Kategorienlehre angesehen werden. Der Weg für diese Annäherung an den Neukantianismus war in gewisser Weise auch schon durch Sprangers akademischen Lehrer Friedrich Paulsen gebahnt, der im weitesten Sinne ebenfalls dem Neukantianismus zugerechnet werden kann. So setzte sich auch schon die Dissertation Sprangers ausführlich mit der neukantianischen Geschichtsphilosophie auseinander. - Da Spranger sich zentral und sehr früh als Pädagoge verstand, konnte er mit der von Dilthey gelehrten Geschichtlichkeit aller Lebensphänomene nicht leben. Für einen klaren pädagogischen Standpunkt schienen ihm letzte unveränderliche Werte unverzichtbar. Die Suche nach solchen mußte ihn, wenn er sich nicht geradewegs in die Metaphysik flüchten wollte, zur Phänomenologie und zum Neukantianismus führen. Insbesondere die südwestdeutsche bzw. badische Schule des Neukantianismus mit ihren ausgeprägt geschichtsphilosophischen Interessen und kulturpädagogischen Konzepten mußte ihm attraktiv erscheinen. Die norddeutschen Neukantianer (vor allem Paul Natorp und Richard Hönigswald) waren zwar pädagogisch sehr produktiv, setzten aber offenbar zu unhistorisch an, als daß sie Sprangers Interesse hätten finden können. Das galt in gewisser Weise auch für die Phänomenologie, die zudem pädagogisch völlig unproduktiv blieb. Gleichwohl lassen sich in der Abhandlung 36 Eduard Spranger: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit 2. völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Halle 1921. 37 Eduard Spranger: Lebensformen. In: Festschrift filr A10is Rieh!. Von Freunden und Schülern zu seinem siebzigsten Geburtstage dargebracht, Halle 1914, S.413-522.

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über "Die Theorie des Verstehens" von 1918 38 und in den Vorarbeiten fiir sie Einflüsse der Phänomenologie nachweisen. Sie bleiben allerdings auf diesen sehr engen Zeitraum begrenzt. Das Unternehmen, Spranger zwischen Dilthey und den südwestdeutschen Neukantianern zu verorten, ist zu komplex, als daß es hier im einzelnen durchgeführt werden könnte. Ich verweise hierzu auf meine Habilitationsschrift39 und beschränke mich im folgenden darauf, die wichtigsten Ergebnisse mitzuteilen. Dabei steht das Werk bis in die frühen dreißiger Jahre im Mittelpunkt der Betrachtung, weil sich bis dahin die wesentlichen Entwicklungen vollzogen, die anschließend nur noch geringe Modifikationen erfuhren.

1. Das zentrale Anliegen Sprangers Werk ist einerseits geschichtlichen und geschichtsphilosophischen, andererseits pädagogischen Fragen gewidmet. Diese scheinbar heterogenen Interessen schließen sich in der Folge, schon mit den HumboldtSchriften beginnend, zur zentralen Thematik des Bildungsproblems zusammen. Die Sinnmitte seines Werkes ist das Bemühen um die Ausarbeitung einer Theorie der Bildung des geschichtlichen Menschen und seiner Kultur einschließlich ihrer Grundlagen. Bildungstheorie will dabei jedoch in einem umfassenden, nicht nur pädagogischen Sinne verstanden sein: - als Theorie der Bildung einer geschichtlichen Kultur und ihrer Systeme im historischen Prozeß, - als Theorie der Reproduktion, Regenerierung und Weiterentwicklung der Kultur im Zusammenhang des Generationswechsels, - als Theorie der Bildung der nachwachsenden Generation in der Auseinandersetzung mit einer Kultur, - als Theorie der Unterstützung von Bildungsprozessen durch absichtsvolle Erziehung.

38 Eduard Spranger: Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie. In: Festschrift, Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag dargebracht, MQnchen 1918, S.357-403 (auch in Gesanunelte Schriften VI, S.I-42. 39 Werner Sacher: Eduard Spranger 1903-1933. Ein Erziehungsphilosoph zwischen Dilthey und den Neukantianern. Frankfurt am Main 1988.

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Sprangers Arbeiten haben von Anfang an einen deutlichen Schwerpunkt in dem vierten und engsten, traditionell der Pädagogik zugerechneten Fragenkreis. Bildung im Sinne des dritten Gedankenkreises als das "die kleine Insel absichtsvoller Erziehung" umgebende "Meer"40 ist dabei stets mitbedacht. Die inhaltlichen (weniger die theoretischen) Arbeiten zur Psychologie können ebenfalls als Beiträge zum Bildungsproblem in diesem Verständnis angesehen werden. Vor allem im Zuge der stärkeren Betonung der kulturellen Dimension und der weiteren historischen Öffnung in Sprangers Gesamtwerk und damit auch in seiner Pädagogik seit der Mitte der zwanziger Jahre gewinnt Bildungstheorie im zweiten Sinne an Bedeutung. In diesen Zusammenhang gehören auch Sprangers kulturphilosophische und kulturkritische Schriften. Unter Bildung im ersten Verständnis fallen seine historischen und geschichtsphilosophischen Arbeiten, in einem weiteren Sinne auch Teile der "Lebensformen" der ersten und der späteren Auflagen. Grundlagenbeiträge zur Theorie der Geisteswissenschaften und des Verstehens haben bei Spranger dienende Funktion für die Erarbeitung und Absicherung von Fundamenten seiner Forschungen zum Bildungsproblem. Sein anscheinend so vielfaItiges und breit streuendes Werk hat demnach unter dem Blickwinkel der Bildung eine erstaunliche Geschlossenheit. Diese Interpretation wird auch durch seine Selbstzeugnisse gestützt, Z.B. durch seine Ausführungen beim Eintritt in die Preußische Akademie der Wissenschaften: "Wenn ich als Psycholog und Historiker in den Gestalten der Einzelseele und des objektiven Geistes das Bildungsgesetz suchte, das in der unendlichen Fülle der Erscheinungen waltet, so hing dieses Bestreben unzweifelhaft von Anfang an mit der zentralen Angelegenheit meines Forschens und Denkens zusammen: dem Bildungsproblem. ,,41 Auch im Alter sagt er noch einmal rückblickend: "Ergründung der Kräfte und Schicksale, die aus dem Inneren des Menschen emporsteigen; Wunsch sie zu schützen! Versuch, sie zu bilden", sei Aufgabe und Sinn seines Lebens gewesen. 42 Dazu paßt, daß es das "stille Programm" Sprangers als Wissenschaftler war, "die verachtete Pädagogik zu einer voll

Grundfragen der philosophischen Pädagogik.. In: Gesammelte Schriften II, S.217. Eduard Spranger: Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 2. Juli 1925. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg.I925, S.xCIII-XCV, S. XCIV. 42 Eduard Spranger: Kurze Selbstdarstellungen (1961). In: Eduard Spranger. Sein Werk und sein Leben, hrsg. v. Hans Walter Bähr und Hans Wenke, Heidelberg 1964, S.13. 40

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universitätsfähigen Wissenschaft zu machen". 43 Tendenziell gehört hierher auch das Selbstzeugnis:" ... Menschen zu bilden, das war stets meine eigentliche Leidenschaft, und die Philosophie bedeutete für mich vor allem die Auseinandersetzung der sich formenden Persönlichkeit mit der Welt."44 Diesen und vergleichbaren Äußerungen kommt im Hinblick auf die Sinnmitte des Sprangerschen Werkes größeres Gewicht zu als der für die frühe Zeit belegbaren geradezu leidenschaftlichen Neigung zur Erziehung. 45 Sie könnte nämlich zum einen auf die Anfangsphase beschränkt sein, und sie würde für sich allein noch nicht sehr viel über das zentrale Anliegen des Werkes aussagen. Insgesamt steht Spranger damit hinsichtlich seiner Hauptintention Dilthey näher als den Neukantianern. Sein Werk entspringt letztlich wie das Diltheysche Unternehmen der Geisteswissenschaft praktischen Interessen und hat als ganzes eine im weitesten Sinne pädagogische Dimension. Doch sind die Akzentuierungen bei beiden deutlich unterschieden. Es ist wohl schon überstilisiert, trifft aber vielleicht doch die Tendenz, wenn man sagt: Diltheys Pädagogik i.e.S. sei der natürliche Ausfluß seiner Philosophie. Er gelangt - zeitlich und systematisch - relativ spät bei einer expliziten Pädagogik an, auch wenn sie immer irgendwie mitbedacht scheint. Sprangers Interesse gilt von Anfang an Erziehungsproblemen. Indem er es sukzessive auf Bildungsprozesse im umfassenderen Sinne ausdehnt, holt er den historisch-geschichtsphilosophischen und den psychologischen Interessenschwerpunkt in seine pädagogischen Bemühungen ein und widmet sich fundamentaleren philosophischen Fragestellungen, soweit dies zur AbkIärung seiner Bemühungen nötig ist. Der südwestdeutsche Neukantianismus setzt noch nicht einmal in einem weiteren Sinne beim Bildungsproblem, sondern beim wissenschaftstheoretischen Thema einer Kritik der historischen Vernunft ein, d.h. er will primär die der Historie und dann in einem grundsätzlicheren Sinne den sog. Kulturwissenschaften eigentümliche Erkenntnisart aufweisen. In diesem Zusammenhang bildet er seine Wertphilosophie aus, die er erst in einem zweiten Schritt ethisch und kulturphilosophisch fruchtbar zu machen sucht. Im Zuge der Entfaltung der Kulturphilosophie schließlich stößt er auf das Problem der kultu43

Eduard Spranger: Ein ProfessorenJeben im 20. Jahrhundert (1953). In GS X, S.345. ebd., S.343. 45 Z. B. in einem Brief an KAthe Hadlich vom 1. 7. 1904: "Wenn Erziehung nicht möglich ist, wozu sollte ich leben? Sie muß möglich sein, d.h. ich muß leben sub specie ihrer Möglichkeit, wie jeder Mensch unbewußt sub specie aeternitatis lebt, wie Höldcrlin sub specie des Schönen lebte." (Gesammelte Schriften VII, S.9). - Eine Vielzahl weiterer Belege in: Sacher: Eduard Spranger, S.624, Anm.2.

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rellen Reproduktion, deren subjektive Seite die Erziehung und Bildung ist. Nur Johannsen als sein jüngster Vertreter wendet sich relativ unvermittelt i.e.S. pädagogischen Problemen zu. Doch ist auch er darin ein typischer Neukantianer, daß er sehr viel stärker und ausführlicher Fragen der Erziehungswissenschaft als solche der Erziehung und Bildung thematisiert. Im Vergleich dazu ist Sprangers von Anfang an deutlich ausgeprägte Beschäftigung mit Fragen der Erziehung und Bildung und sein insgesamt doch recht gemäßigtes Interesse an erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen ein unübersehbares Indiz für die Distanz zum Neukantianismus im zentralen Anliegen. Eine Sonderstellung nehmen dabei allerdings die frühen Jahre ein: Einerseits verfolgt die Dissertation, welche zwar erklärtermaßen ein Vorstoß gegen die Neukantianer sein sollte46 , eine für sie typische Problematik, wenn sie auch nicht die Positionen teilt. GleichurspTünglich beginnt aber in dieser Zeit auch schon Sprangers pädagogische Reflexion. Insgesamt ist der Weg der Neukantianer zur Pädagogik nicht derjenige Sprangers, der sehr viel mehr als sie - auch als ihre jüngeren Vertreter - ein sich mit konkreter Forschung beschäftigender Wissenschaftler ist. Daß er als solcher das Bildungsproblem angeht, bedingt freilich zugleich jenen ausgeprägt konstruktiv-rationalisierenden Grundzug seines Werkes, der ihn von Dilthey und dessen Lebensphilosophie trennt. Man könnte allenfalls sagen, in der Durchfiihrung, nicht in der Richtung seines zentralen Anliegens, nehme Spranger am ehesten eine MittelsteIlung zwischen Dilthey und den Neukantianern ein. Sein Anliegen als solches jedoch trennt ihn von diesen und rückt ihn näher an jenen heran.

2. Das Lebensverständnis Sprangers frühes Werk ist geprägt von einem tiefen Lebensgefiihl und einem geradezu enthusiastischen Lebensglauben. Auch wenn lebensphilosophische Tendenzen ganz allgemein in der Zeit lagen, macht doch die explizite Übernahme einer ganzer Reihe zentraler Theoreme Diltheys bis in die Diktion hinein wahrscheinlich, daß er von ihm dazu inspiriert wurde. Ein solcher Lebensglaube und ein derartiges Lebensgefiihl ist den Neukantianern völlig 46

Unveröf[ BriefSprangers an Nohl vom 8.8.1905 (Spranger-Archiv Braunschweig).

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fremd. Sofern sie überhaupt zum Leben vordringen, geschieht dies aus einer theoretischen Motivation heraus. Trotz seines dem strikten Immanenzstandpunkt Diltheys entgegenstehenden religiös-metaphysischen Tones atmet der Lebensglaube Sprangers insgesamt eher den Geist der Diltheyschen Lebensphilosophie als jenen der Transzendentalphilosophie. Und es ist wohl nicht nur eine Projektion Sprangers, wenn er bei Dilthey, vor allem im Umkreis seiner Pilosopheme zum Erlebnis, ein romantisch-religiöses Motiv zu spüren vermeint. 47 Der anfängliche Lebensglaube und das emphatische Lebensgefiihl Sprangers wird in den folgenden Jahren zu einer Philosophie des Geisteslebens entfaltet, im Zusammenhang damit rationaler gefaßt, stärker auf die Lebensgebilde und damit auf die Kultur als deren Inbegriff hin ausgelegt. Sie bleibt bei allen Akzentverschiebungen der letzte Grund seines Denkens und wird auch weiterhin unterfangen von einer religiösen Grundhaltung, die immer wieder in Mystifizierungen und Metaphysizierungen durchbricht, welche Dilthey konsequent gemieden hatte. Der durchaus schon im Ansatz Diltheys liegende rationale Zugriff auf das Leben ist in Sprangers Werk zugleich die GelenksteIle zu neukantianischen Anschauungen. Die bereits in der Frühphase zu beobachtende rationalisierende und konstruktive Tendenz Sprangers prägt sich bis zum Beginn der zwanziger Jahre stärker aus, um dann allmählich wieder einer historischen Vertiefung und weiteren Öffnung fiir die vielfältigen Erscheinungen des kulturellen Lebens Platz zu machen. Aber zu keiner Zeit ist ihm Leben - wie Rickert und in seinem Gefolge, mit einigen Vorbehalten, auch Cohn und Bauch - eine Synthese aus einer wertfreien biologischen Grundschicht und den Werten, derart, daß diese ihm erst die Dignität eines erfüllten Menschenlebens verleihen würden. So ist ihm auch das Leben im engeren Verständnis als sinnhaftes Kulturleben kein Kompositum aus Sein und Geltung, Wirklichkeits- und Wertanteil, Form und Material, wie es bereits in Rickerts Polemik gegen die Lebensphilosophie und in seiner Lehre vom dritten Reich des Sinnes angedeutet wird und dann auch bei Cohn und Bauch als "volles Menschenleben" bzw. als "Geistesleben" aufscheint. Es ist Spranger die erste und nächste, die unmittelbare Wirklichkeit. Beachtung verdient, daß hier die Entwicklung innerhalb der Badischen Schule einen entgegengesetzten Verlauf nimmt: Rickerts Lehre vom dritten 47 z. B. in: Eduard Spranger: Wilhehn Dilthey. Eine Gedlchtnisrede, gehalten in der Societas Joachimica zu Berlin. In: Gesammelte Schriften XI, S.. 377.

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Reich des Sinnes kann auch als ein Versuch verstanden werden, sich der Lebenseinheit zu nähern - soweit es mit kantisch-neukantianischen Denkmitteln eben möglich war. Aus Sein und Wert komponiert ist auch Cohns "volles Menscheneben". Bauch jedoch bestreitet dann ausdrücklich die Selbständigkeit des Rickertschen dritten Reiches, von seiner Komponiertheit ganz abgesehen, und akzeptiert es nur noch als ein zwischen den Werten und dem Sein vermittelndes. Schon dies legt die Vermutung nahe, daß Bauchs Logos nicht dem Sprangerschen Geistesleben entspricht. Zwar ist jener Logos als nicht nur das i.e.S. logische Wertgebiet, sondern als alle Wertgebiete durchgreifender reicher als der der norddeutschen Neukantianer der Marburger Schule. Aber er steht nicht für das wirkliche geschichtliche Leben, sondern stellt letztlich nichts anderes dar als das mit der Idee koinzidierende transzendentale Einheitsprinzip aller Geltungsbeziehungen, und umgekehrt geht Sprangers Philosophie des Geisteslebens nicht auf in einer axiologischen Strukturtheorie. Obwohl von Anfang an als Kultur und Geistesleben um einige Grade spiritueller gefaßt als das sich aus der Gefiihls- und Triebsphäre herausarbeitende geschichtlich-gesellschaftliche Menschenleben Diltheys, bedeutet Leben für Spranger stets einen ursprünglich werthaften und sinnvollen und geschichtlich-konkreten Zusammenhang. Auch sein "mystisches Prinzip" des Geisteslebens ist dem axiologischen Relationismus Bauchs und Johannsens nicht vergleichbar: Es bezeichnet die grundsätzliche Präsenz aller Wert- und Sinnintentionen in jenen Akten, in welchen das Geistesleben sich konstituiert, woraus dann natürlich auch die Reziprozität aller Phänomene des Geisteslebens folgt. Das "mystische Prinzip" Sprangers ist ein genetisches Einheitsprinzip. Dies zeichnete sich auch schon vor den zwanziger Jahren in der von ihm behaupteten "Gleichgesetzigkeit" des Geisteslebens ab. Der transzendentale Relationismus der jüngeren Neukantianer gründet in einer logischen Einheitsidee. Weder im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung noch auf die Konzipierung seiner Geist-Lebens-Philosophie ist Spranger ein Neukantianer. Auch hier steht er, trotz der Differenzen im einzelnen, Dilthey weitaus näher.

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3. Das Wertproblem Obwohl die meiste Zeit dem Leben unter- und nachgeordnet, erlangen die Werte im Werk Sprangers rasch eine Bedeutung, welche sie bei Dilthey nie hatten. Und trotz seiner historischen Öffnung in den späteren zwanziger und in den dreißiger Jahren blieb die auch dann noch im normativen Geist aufgehobene Wertphilosophie ein entscheidendes trennendes Moment gegenüber Dilthey. Spranger ist ohne Zweifel ein Wertphilosoph. Dies impliziert freilich noch keineswegs, daß die Wertphilosophie für ihn fundamental ist, und es besagt noch nichts über seine Nähe zur neukantianischen Werttheorie. Sprangers Wertphilosophie ist von einem tiefen Zwiespalt durchzogen. Bereits in der frühesten Phase stieß er auf das Problem, daß die uneingeschränkte Rückbeziehung der Werte auf das Leben und Erleben eben jene Verbindlichkeit zutiefst gefährdet, um welche es ihm zu tun war. Im Bemühen, diese zu sichern, wurde er offenbar wider Willen ein Stück weit auf Positionen zugetrieben, die jenen neukantianischen vergleichbar waren, welche er die meiste Zeit ausdrücklich kritisierte. So ist seine Wertphilosophie eine gewissermaßen zweipolige: Sie versucht den psychologischen Ansatz mit dem objektivkritischen der Neukantianer zusammenzuzwingen. Werte bleiben für Spranger einerseits stets an das Erleben und Leben konkreter geschichtlicher Menschen rückgebunden, und zwar nicht nur, wie auch fiir die Neukantianer, in ihrer Existenz und Erfahrbarkeit, sondern auch in ihrem Gelten. Von daher polemisiert er gegen die Lebensferne der transzendentalen Wertkritik und ihre bloß formale Allgemeingültigkeit, aufwelcher sich keine inhaltlichen Werturteile gründen lassen. Und doch sieht er sich andererseits aus sittlichpraktischen Gründen ebenso wie die südwestdeutschen Neukantianer genötigt, die Werte zugleich in einer objektiven Ordnung zu verankern, die Anwendung der kritischen Methode auf die Wertkonstitution zumindest als eine Möglichkeit zuzugestehen, transzendentale Subjekte als Korrelate zu objektiv gültigen Werten zu konstruieren, absolute Werte zumindest als GrenzbegrifIe zuzulassen und objektive Gesetze anzunehmen, nach denen gewertet werden soll, ohne sie doch formulieren zu können. Aus der Sicht der Neukantianer mußte sich der Sprangersche Ansatz als die Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen logischem und psychologischem Gelten und damit als eine Variante des abgelehnten Psychologismus darstellen. Deshalb wird die aus der Bipolarität seiner Wertphilosophie resultierende, ihn beständig umtreibende und von ihm letztlich nicht gelöste Frage, wie die im subjektiven Bewußtsein erscheinenden Werte sich als die objektiv gültigen

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legitimieren können, welche dann im pädagogischen Bereich die Gestalt des "Hebelproblems" annimmt, von ihnen nicht diskutiert. Ob Spranger sich diese Schwierigkeit nur aus mangelnder Sorgfalt bei der Ausbildung seiner Werttheorie einhandelte, darf immerhin bezweifelt werden. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sie letztlich in seinem zentralen Anliegen der Bildung begründet war: Als Bildungstheoretiker, zurnal als Pädagoge, konnte Spranger logische und psychologische Geltung nicht unverbunden nebeneinander bestehen lassen bzw. jener allein alle Objektivität zuweisen und dieser nur Subjektivität zugestehen. Die Südwestdeutschen, auch die jüngeren Vertreter nach Rickert, kamen infolge der reinlich vollzogenen Scheidung von logischer und psychologischer Geltung zu dualistischen Konzepten, deren Gegensätze sie dialektisch zu vermitteln suchten. Der Preis dafür, daß sie Wert und Wirklichkeit von vornherein als unterschieden annahmen, während Spranger sich abmühte, die objektiv gültigen Werte und die wirklichen Werterlebnisse vereint zu denken, war, daß ihnen unvermerkt die geschichtliche Lebenswirklichkeit beständig in Wert und Wirklichkeit auseinanderzubrechen drohte oder doch zumindest zu einer nur äußerlich vollzogenen Verbindung von Wert und Wirklichkeit verkam. In diesem bipolaren Ansatz der Werttheorie geht Spranger zwischen Dilthey und den südwestdeutschen Neukantianern einen eigenen Weg, auch wenn dieser bei Diltheyschen Positionen beginnt und zeitweilig, vor allem zwischen 1914 und 1920, sehr in die Nähe der südwestdeutschen Neukantianer fUhrt. Aber auch in diesen Jahren ruhte die Wertphilosophie bei ihm auf einer nie ganz preisgegebenen lebensphilosophischen Grundlage, und in dem Maße, wie diese sich zu einer Philosophie des Geisteslebens wandelte, kam er schließlich in den frühen zwanziger Jahren bei Hegel an. Als Ergebnis gelangt Spranger am Ende der dreißiger und in den frühen vierziger Jahren zu zwei Konsequenzen, die beide das Wertproblem nicht lösen, aber den bipolaren Ansatz unangetastet lassen: - Als invariant kann nur ein allgemeinstes Gerüst von Geistesnormen gelten, das sich je geschichtlich verbesondert. - Der konkrete Anspruch in der unikalen Situation wird nur vom Individuum in der reinen Gesinnung erfahren. Von hier aus fUhrt der Weg unmittelbar in die spätere Gewissenstheorie.

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Mit der ersten Konsequenz unterscheidet Spranger sich kaum noch vom abstrakten Formalismus der Neukantianer. Doch es muß beachtet werden, daß Werte fiir Spranger in Geistesnormen fundiert sind. Insbesondere in der Zeit von 1914 bis 1920, als seine Geistphilosophie sich erst ankündigt, ist dies nur tendenziell zu erkennen. Aber es zeigt sich u. a. darin, daß Spranger die neukantianische Dualität von wirklichem Sein und nur geltendem Wert fremd ist, daß er deshalb auch keine Veranlassung hat, einen dialektischen Ansatz zu ihrer Vermittlung zu entwickeln. wie es alle südwestdeutschen Neukantianer seit Rickert mehr oder weniger ausgeprägt tun. Der völlig andere Ansatz Sprangers ist leichter zu sehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Südwestdeutschen ihre Wertphilosophie als eine Theorie transzendentaler Geltungsprinzipien ursprünglich im Zusammenhang ihrer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie formulierten, während diejenige Sprangers im Kontext seiner kulturphilosophischen, psychologischen und pädagogischen Arbeiten entstand. Werte sind fiir ihn in einem sehr wörtlichen Sinne immer Lebenswerte, nicht nur Geltungsprinzipien. Daß er ihre Invarianz schließlich auf ein allgemeinstes Gerüst beschränkt, tut zwar ihrer Lebensnähe Abbruch. Aber die Unterscheidung von Wert und Geltung bei Bauch löst die Werte noch sehr viel weitergehend aus aller Subjektabhängigkeit. Wenn auch der jüngere Neukantianismus mit Bauch und Johannsen zur Logos-Philosophie durchbrach, so darf im Hinblick auf die stark gelockerte Bindung des Geltungszusarnmenhanges an die Subjekte die Nähe zwischen ihr und Sprangers Geistphilosophie nicht überschätzt werden. Die zweite von Spranger schließlich gezogene Konsequenz bedeutet letztlich einen Rückgriff auf den historischen Kant und dessen formale Ethik. Nichtsdestoweniger richtet auch sie sich gegen ein zentrales Theorem der südwestdeutschen Wertphilosophie: Werte sind fiir Spranger auch in den späten zwanziger und in den dreißiger Jahren nicht nur aus Gegebenheiten der Kultur erschließbar, sondern ihr Anspruch ist auch unmittelbar erfahrbar, und zwar, ohne daß es einer transzendentalen Analyse solchen des als Ausgangsmaterial auch von den Südwestdeutschen anerkannten Gehaltes des WerterIebens bedürfte. Vor diesem Hintergrund erhält der Umstand Gewicht, daß Spranger keinen Imperativ in der Art Kants formuliert, welcher als Prüfstein einer solchen Analyse dienen könnte. Auch fiir das invariante allgemeine Wertgerüst beanspruchte Spranger seit den "Lebensformen" von 1921 in der sogenannten deduktiven Methode einen Erkenntnisweg, der mit Kantisch-neukantianischen Positionen nicht vereinbar war: Eine transzendentale Deduktion im Kanti-

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schen Sinne hätte nicht den besonderen Charakter aller atheoretischen Werte berücksichtigt. Spranger wich hier auf Phänom~nanalysen aus. Es ist in diesem Zusammenhang vielsagend, daß Jonas Cohn in seiner Wertwissenschaft ausdrücklich das reduktive Verfahren Sprangers aufnahm, nicht aber sein deduktives. Allerdings öffneten schließlich heide Konsequenzen Sprangers Wertphilosophie in einem Ausmaße fur historische Veränderungen, das sie de facto kaum mehr vor jenem Relativismus zu schützen vermochte, gegen welchen sie doch ursprünglich ein Bollwerk sein wollte. Was blieb, war letztlich nur der Glaube an invariante Werte und Normen, so wie auch die Neukantianer die reinen Werte nicht als solche aufzeigen konnten, sondern sie als apriorische axiologische Prinzipien postulierten. Sprangers Wertphilosophie machte nach anfänglicher Nähe zu Dilthey eine Entwicklung durch, welche sie in der Zeit von etwa 1914 bis 1920 vorübergehend in die Nähe einiger Theoreme der südwestdeutschen Werttheorie führte, aber schließlich in eine eigenständige Konzeption mündete, welche HegeIsche und Kantische Motive vereinte.

4. Geschichte Sprangers Geschichtsauffassung ist nur in der Frühzeit deutlich von Ansätzen Diltheys geprägt. Doch betont er von Anfang an die normenerhellende Funktion der Geschichte stärker und sieht ihre Regelmäßigkeiten nicht nur in ihrer inneren Teleologie, in der relativen Gleichartigkeit der menschlichen Natur und in daraus resultierenden typischen Ausprägungen geschichtlichen Lebens, sondern auch in einer Invarianz der inneren Konstitution des Wertlebens und der Kulturfaktoren. Überdies faßt er Geschichte deutlich konstruktiver als Dilthey. Darin kann man durchaus schon eine Hinneigung zu den in der Dissertation noch heftig bekämpften Südwestdeutschen sehen. Unter dem Einfluß seiner Wert- und Geistphilosophie wird die Geschichte ihm schließlich ganz ähnlich wie ihnen zu einem Prozeß, in welchem Zeitlichkeit und Ewigkeit in Gestalt der vergänglichen Kultursubjekte und der invarianten Gehalte verschlungen sind. Sie wird von der Künderin des menschlichen Wesens zur Offenbarung jener überzeitlichen Werte, in welchen auch das Wesen des Menschen gründet, schließlich aber im HegeIschen Sinne der Prozeß des Zu-

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sich-Kommens des Geistes und der Epiphanie des Absoluten, des göttlichen Weltgrundes. Besonders hinsichtlich seiner Geschichtsauffassung ist die Absetzung Sprangers von Positionen Diltheys nach anfänglicher Nähe nicht nur deutlich, sondern im Hinblick auf die bei ihm wahrgenommenen relativistischen Konsequenzen auch gewollt. Spranger näherte sich damit vorübergehend sehr stark einer neukantianischen Geschichtsauffassung, unterfing diese aber schließlich durch eine an Hegel angelehnte Geschichtsphilosophie, wobei er anstelle der Hegeischen Dialektik die weicheren Vermittlungsfonnen, besonders den Reproduktionsprozeß der Bildung, stärker betonte. Griff er darin den jüngeren Südwestdeutschen Cohn, Bauch und Johannsen vor, welche ebenfalls in der Bildung zugleich den Vermittlungsprozeß zwischen Wert und Wirklichkeit sahen, so ist doch andererseits zu beobachten, daß diese trotz der ein Stück weit mitvollzogenen generellen Annäherung an Hegel keineswegs zu einer historischen Öffnung fanden, wie sie Spranger von den späteren zwanziger Jahren an vollzog. Daß Bauch schließlich auch das Auftauchen neuer Kategorien im Verlaufe der Geschichte annimmt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihre Entstehung selbst nicht historisch gedacht wurde. Insgesamt verankerten die jüngeren Vertreter der Badischen Schule die Geschichte eher noch rigider als die Schulbegründer in einem vorgängigen Wertgeschehen. Dies mochte zum einen von daher rühren, daß ihre Interessenschwerpunkte nicht im Bereich der Geschichtsphilosophie und der Historie lagen. Ein Indiz dafür könnte sein, daß die noch relativ größte Nähe zur HegeIschen Geschichtsphilosophie bei Windelband zu finden ist. Zum andern aber lag sicherlich gerade im Verhältnis zur Geschichte eine unüberwindliche innere Grenze des Neukantianismus: Der Einbau eines konsequent geschichtlichen Standpunktes in diese Philosophie war mit ihrer Fundierung in invarianten axiologischen Prinzipien schlechterdings nicht vereinbar. Noch nicht einmal Hegel konnte ohne Einschränkungen rezipiert werden. Die mehrfach konstatierte Hinwendung der jüngeren Neukantianer zu ihm muß von hier aus präziser als eine solche zu seinen systematischen, weniger zu seinen geschichtlichen Ansätzen gesehen werden - eine Einschränkung, die so für Spranger nicht gilt. Bezeichnenderweise gerät er daher von den späteren zwanziger Jahren an hinsichtlich des kategorialen Gerüstes seiner Philosophie zusehends in Bedrängnis.

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In seiner Geschichtsauffassung machte Spranger sich rasch und auf Dauer von Diltheys Einflüssen frei. Vor allem in der den Anfängen folgenden Zeit bis zu den späten zwanziger Jahren zeigte sie deutliche Nähen zu neukantianischen Positionen, welche - gemessen an anderen Teilen des Werkes - sogar erst mit einiger Retardierung im Zuge der Hinwendung zur Hegeischen Geistphilosophie aufgegeben wurden. Zu Dilthey hin blieb das von diesem in seiner Hegelrezeption vordraußen gelassene Motiv des in der Geschichte erscheinenden Absoluten trennend. Für die Neukantianer war die Sicherung der fundamentalen transzendentalen axiologischen Prinzipien durch dieses aber schon zu wenig verbürgt, und bei Spranger traten sie fiir einen Vertreter dieser Schule in den späten zwanziger und in den dreißiger Jahren viel zu sehr in den Hintergrund.

5. Kultur Kultur ist fiir Spranger zunächst ganz im Sinne Diltheys kollektiver Ausdruck des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens und zugleich die Lebenswelt des Menschen. Anders als Dilthey interessiert ihn die Kultur jedoch nicht so sehr unter Gesichtspunkten einer objektiven Hermeneutik, sondern vielmehr als Hinweis auf ein zeitinvariantes Moment des Lebens. Sie wird ihm schließlich als Stätte der historischen Verwirklichung der Werte Erscheinungsort eines Überhistorischen. Offenbar liegt in der frühen Kulturphilosophie Sprangers die Keimzelle seiner Geistphilosophie, und in dem Maße, wie er diese entfaltet, weitet er den Kulturbegriff aus, auch wenn der objektivierte Geist darin seine zentrale Stellung behauptet. Kultur ist für Spranger spätestens von den zwanziger Jahren an das gegenwärtige wirkliche Leben in allen seinen Dimensionen: objektive Kultur als Inbegriff der Gebilde, subjektive Kultur im Hinblick auf die Kulturträger, überwölbt von einem Kulturideal, welches noch einmal die konkretere Gestalt einer allgemeinsten Kulturidee ist. Auch hier liegen die Differenzen zu Dilthey und die Parallelen zum neukantianischen Kulturverständnis offen zutage. Anders als die Südwestdeutschen faßt Spranger Kultur aber nicht nur als Wert-, sondern letztendlich als Geistesleben. Und als Geistesleben in synchronischer Sicht ist ihm Kultur die ursprüngliche einheitliche Lebenswelt, von welcher auszugehen ist, nicht ein

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aus realem Sinnfreiem und irrealem Werthaftem komponiertes drittes Reich im Verständnis Rickerts. Auch hier ist bezeichnend, daß jene jüngeren Vertreter des südwestdeutschen Neukantianismus, welche zur Logos-Philosophie vordringen, nicht die Konsequenzen für ihre Kulturphilosophie daraus ziehen: Kultur bleibt auch Bauch und Johannsen von den invarianten Werten her bestimmt, ist letztlich nur ihre zeitliche Darstellung. Sie hat ihr Wesen und ihr Maß in der idealen Kultur, welche zwar auch Spranger kelUlt, ohne ihr jedoch eine vergleichbar beherrschende Stellung einzuräumen. Von den späteren zwanziger Jahren an identifiziert er die Kultur sogar so sehr mit dem wirklichen konkret-geschichtlichen Menschenleben, daß er in schon beinahe positivistischer Weise auf ihrer realen Existenz insistiert, sogar um den Preis eines äußerst problematischen subjektiv halbierten transzendentalphilosophischen Ansatzes. Spranger am nächsten kommen in ihrer Kulturauffassung wohl der spätere Rickert und Cohn. Aber zum einen steht die Kulturphilosophie im Werk beider weniger im BrelUlpunkt des Interesses als bei Spranger. Zum andem aber ist ihm die Kultur, verstärkt von den zwanziger Jahren an, einheitliche Lebenswelt, nicht nachträgliche "Verknotung" oder dialektische Vermittlung unterschiedener Momente, eine Sichtweise, welche bei Rickert ganz klar zutage liegt und auch bei Cohn letztlich trotz mancher Schwankungen dominiert. Und auch hier wieder ist von ausschlaggebender Bedeutung, daß bei Spranger die Kulturwerte rückgebunden bleiben an Geistesnormen, welche dem Leben immanent sind. Weniger ausgeprägt jedoch ist Sprangers Distanz zu Rickert und Cohn im Vorfeld der zwanziger Jahre: Daß er auch in den Jahren von 1914 bis 1920 die Unhintergehbarkeit der Beziehung des Individuums zu seiner kulturellen Lebenswelt betont, impliziert nicht von vornherein auch die Einheitlichkeit der letzteren. Die These von der Kultur als einem die drei Reiche des Physischen, Psychischen und Ideellen Durchgreifenden kOlUlte zumindest auch im SilUle eines diese drei Reiche Integrierenden interpretiert werden, und eben dann hätte sie deren Unterschiedenheit logisch vorausgesetzt. Bezeichnenderweise nahm Rickert sie als eine prinzipielle Abkehr Sprangers vom Standpunkt Diltheys wahr. 48 Und das Theorem der überzeitlichen Zeitlichkeit der Kultur hebt auf die geschichtliche Wandelbarkeit der Kulturträger und die Invarianz der ideellen Gehalte ab. 48 Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 3./4. Auf!. Tobingen 1921, S.424f.

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Von Dilthey wiederum bleibt Spranger nach den tastenden Versuchen der ersten Jahre getrennt durch die normative Dimension seiner Kulturphilosophie, zumal die Normen, auf welche er rekurriert, als dem geschichtlichen Wandel überlegene konzipiert sind. Aber das Verständnis der Kultur als der Lebenswirklichkeit des Menschen und ihre besonders von den späteren zwanziger Jahren an vertieft historische Sicht, welche sich bei keinem Neukantianer findet, bezeichnet doch auch bleibende Nähe zu den Auffassungen Diltheys. Ohne das Fundament der Geist-Lebens-Philosophie könnte Sprangers Kulturphilosophie, wie er sie nach der Anfangszeit bis zu den zwanziger Jahren entwickelte, in der Tat als eine den Neukantianern sehr nahestehende gelten, so wie sie in der Folge ohne den normativ-idealen Überbau ganz in der Tradition Diltheys stünde. Auch hier wieder fand Spranger die Synthese bei Hegel vorgebildet.

6. Erkennen und Wissenschaft Spranger befaßt sich kaum explizit mit allgemeinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problemen, sogar noch einmal deutlich weniger als Dilthey, dessen Werk nun wahrlich nicht vordringlich derartigen Fragen gewidmet war. Dieser Negativbefund hat Gewicht im Hinblick auf die Positionsbestimmung zu den Südwestdeutschen: Sprangers gemäßigtes Interesse an erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen, welche auch im Werk der jüngeren Vertreter der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus einen breiten Raum einnehmen, stünde einem Neukantianer schlecht an. Und schon gar nicht kann im Hinblick auf die wenigen einschlägigen Äußerungen Sprangers von der für den Neukantianismus typischen Priorität der quaestio iuris gegenüber der quaestio facti die Rede sein, welche deutlich auch bei Johannsen dominiert, der im Hinblick auf seine weitgehende Beschränkung auf pädagogische Fragen vielleicht als ein Gegenbeispiel aus dem Kreis der Südwestdeutschen angeführt werden könnte. Soweit sich aus insgesamt eher beiläufigen Aussagen rekonstruieren läßt, steht Spranger auch in seinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Anschauungen zunächst unter dem Einfluß Diltheys. Allerdings fehlt bei ihm ein dem Diltheyschen analoges Ringen um eine Fundierung der Erkenntnis in vorprädikativen und nondiskursiven Prozessen. Zwar kennt und akzeptiert

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Spranger auch ein ästhetisches Moment der Erkenntnis, doch er unterzieht dessen Befund nicht einer genaueren erkenntnistheoretischen Analyse und verfolgt nicht seine Beziehungen zu den diskursiven Momenten. Die subtilen Analysen Diltheys bleiben ihm fremd, ja er teilt noch nicht einmal das deutlich ausgeprägte Bemühen der Südwestdeutschen, die Erkenntnis über die von Kant gesteckten Grenzen hinaus weiter dem Leben anzunähern. Ziemlich früh hat sein Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriff ausgeprägt konstruktive Züge. Im Umkreis der ersten Fassung der "Lebensformen" von 1914 wird sein allgemeines Wissenschaftsverständnis ein Kantisches im traditionellen Sinne. Es verdient aber Beachtung, daß Spranger zu keiner Zeit auf die südwestdeutsch-neukantianischen Fortbildungen des Kantischen Ansatzes in Richtung auf eine Grundlegung der Erkenntnis durch eine transzendentale Wertlehre rekurrierte. Mochten die Werte insgesamt für ihn im Zusammenhang seiner Geschichts- und Kulturphilosophie eine vergleichbare Bedeutung haben wie fiir die Südwestdeutschen, so waren sie doch fiir seine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie garadezu belanglos. Auch dafür, daß Spranger die Ansicht der Südwestdeutschen geteilt habe, das Urteil sei das theoretische Grundphänomen, findet sich kein Beleg. Eine gewisse Nähe zu ihnen mag man allenfalls darin sehen, daß er in den "Lebensformen" von 1914 und der Auflagen seit 1921 den theoretischen Wert den anderen Wertarten koordiniert. Aber hier liegt zugleich ein bezeichnender Unterschied: Spranger münzt die in anderen Zusammenhängen entwickelte Wertphilosophie nicht erkenntnistheoretisch aus. Auch der theoretische Wert ist für ihn primär ein Lebenswert, und der für den südwestdeutschen Neukantianismus zentrale Gedanke, daß Erkennen ein zutreffendes auf den allgemeingültigen Wahrheitswert bezogenes Anerkennen oder Verwerfen von Urteilen sei, ist ihm fremd. Soweit Spranger zu dialektischen Ansätzen gelangt, geschieht dies nicht, wie bei den Südwestdeutschen, bereits im Rahmen seiner Erkenntnistheorie, sondern vielmehr erst anläßlich der Beschreibung des kulturellen Reproduktionsprozesses. Die insgesamt deutlich ausgesprägte Offenheit Sprangers für empirische Gegebenheiten bezeichnet hingegen keine Differenz zu den Südwestdeutschen. Auch sie erkennen ausdrücklich ein denkfremdes Material an und bestreiten, anders als die norddeutsche Schule des Neukantianismus, daß aus dem bloßen Denken Erkenntnisse zu gewinnen seien. Zwar knüpft auch Dilthey in seiner allgemeinen Wissenschaftslehre in vielfacher Hinsicht an Kant an. Aber er steht zugleich in scharfer Opposition

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zu ihm, sofern er die Invarianz der apriorischen Denk- und Erkenntnisformen bestreitet. Spranger folgt ihm darin nur in der allerersten Zeit und stellt sich dann in die Tradition Kants. So bezeichnet der Widerspruch Diltheys gegen die Kantische Kategorienlehre zugleich eine tiefgreifende und bleibende Differenz zwischen ihm und Spranger. Hinsichtlich seiner allgemeinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Auffassungen schließt sich Spranger im wesentlichen dem historischen Kant an. Die sonst oft im Werk zu beobachtende Hinwendung zu Hegel macht sich hier kaum bemerkbar. Damit ist zugleich seine Distanz sowohl zu Anschauungen Diltheys als auch zu den Fortbildungen der Neukantianer bezeichnet.

7. Theorie der Geistes- und Kulturwissenschaften Für Spranger stellt sich das Problem der Begründung einer eigenen Gruppe von geistes- oder kulturwissenschaftlichen Disziplinen neben den Naturwissenschaften, ebenso wie für die jüngeren Südwestdeutschen, als solches nicht mehr. Er findet die Lösungsansätze Diltheys, Windelbands und Rickerts bereits vor und schließt sich insofern eher demjenigen Diltheys an, als er wie dieser betont, daß die Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften die Richtung auf Allgemeines und Singuläres durchaus gemeinsam haben und sich nicht etwa durch eine besondere idiographische Methode oder durch Individualbegriffe von den Naturwissenschaften unterscheiden: Das Individuelle, das für Spranger ebenso wie für Dilthey und die Neukantianer ein Ineffabile ist, muß gegen das Allgemeine "abgezeichnet" werden. Weniger die besonderen Erscheinungen als die allgemeineren Strukturen des kulturellen Lebens stehen nach Spranger im Brennpunkt des geisteswissenschaftlichen Interesses. Diese Differenz hat Rickert völlig richtig gesehen. Hier allerdings bringen auch die jüngeren Südwestdeutschen insofern stillschweigend Korrekturen an, als sie Rickerts geradezu verzweifeltes Ringen um eine dem Individuellen so nahe wie möglich kommende Erkenntnis nicht mehr teilen und sein Konzept der Individualbegriffe durch andere, auch die Bedeutung des Allgemeinen in der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis wieder stärker berücksichtigende Konstruktionen ersetzen. Wie Dilthey kennt auch Spranger ein ästhetisches Moment der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, welches in der südwestdeutschen Schule nur anfänglich im theoretisch noch nicht sehr durchgearbeiteten Konzept der idio-

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graphischen Methode Windelbands eine gewisse Rolle spielte, von Rickert an dann jedoch durch die diskursive Erkenntnis verdrängt wurde. Und Spranger folgt Dilthey auch darin, daß er, am ausgeprägtesten in der Frühzeit und dann wieder nach der Mitte der zwanziger Jahre, den Geisteswissenschaftler mit seinen Gegenständen unmittelbar verbunden sieht. Diese Preisgabe der Subjekt-Objekt-Distanz betrifft einen zentralen Punkt in der neukantianischen Erkenntnis- und Wissenschaftslehre. Von den jüngeren Südwestdeutschen zeigt nur Cohn in seinem Theorem von der gleichstellenden Erkenntnis eine gewisse Nähe zu Diltheys Auffassung. Aber er behält diese Erkenntnisart und damit auch das zugehörige besondere Subjekt-ObjektVerhältnis nicht einer Wissenschaftsklasse vor und räumt ihr insofern keine Eigenständigkeit ein, als er der gleichstellenden Erkenntnis durchgängig die beherrschende Erkenntnis als ihren dialektischen Widerpart zuordnet. Daß Spranger extensiv das von den Südwestdeutschen nicht verwendete und von Rickert ausdrücklich für untauglich befundene Typenkonzept benutzt, darf nicht vorschnell als eine weitere Nähe zu Dilthey interpretiert werden. Es ging nämlich bei ihm eine bei diesem zu keiner Zeit zu beobachtende Verbindung mit den Lebenskategorien ein. Im Hinblick auf die typenkonstituierende Funktion der Werte sind die Sprangersehen Idealtypen eher den wertbeziehenden Individualbegriffen Rickerts vergleichbar, zuma1 auch diese unterschiedlichen Umfang haben konnten. Der ausgeprägte wertphilosophische Akzent in der Sprangersehen Theorie der Geisteswissenschaften ist dem Ansatz Diltheys fremd. So sehr er als eine Nähe zu den Neukantianern erscheinen mochte und z.B. von Rickert auch so gesehen wurde, so blieb nach dieser Seite eine dauerhafte Differenz darin bestehen, daß für Sprangers Ansatz letztlich nicht die Werte, sondern das Geistesleben und die Geistesnormen fundamental waren. Im unmittelbar normativ-wertenden Charakter der Geisteswissenschaften ging Spranger sowohl über die Neukantianer als auch über Dilthey hinaus: über diesen durch die beanspruchte Invarianz der Geistesnormen und die Konzipierung einer eigenen Gruppe normativer geisteswissenschaftlicher Disziplinen im Umkreis der Kulturethik, über jene, weil sie Wertungen in den Kulturwissenschaften generell ablehnten. Selbst in Cohns elaboriertem Ansatz einer Wertwissenschaft war eine wertende Disziplin nicht vorgesehen. Obwohl auch Dilthey im Verstehen eine den Geisteswissenschaften vorbehaltene Methode sieht, hebt Spranger diesen methodischen Unterschied sehr bald als den entscheidenden heraus und läßt dagegen die von jenem für primär

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gehaltene Differenz der unterschiedlichen Objektbereiche zurücktreten. Da Spranger das Leben von vornherein mehr im Sinne des späteren Dilthey als geistiges Kulturleben dachte, blieb für ihn die unterschiedliche Gegebenheitsweise der natur- und der geisteswissenschaftlichen Gegenstände von nachgeordneter Bedeutung. Mit der Betonung der Methode als des primär unterscheidenden Kriteriums der Wissenschaftsklassen schließt er sich zumindest formal den Neukantianern an, auch wenn er ihrer Methodeneinteilung ausdrücklich nicht zustimmt. In der Praxis freilich ordnet er den Geisteswissenschaften doch - wie übrigens auch sie - Geschichte und Kultur als einen eigenen Objektbereich zu. Eine tiefe Differenz zu Dilthey und größere Nähe zu den Neukantianern ist, daß Spranger bis zum Ende der zwanziger Jahre auch in den Geisteswissenschaften auf apriorischen invarianten Kategorien beharrt. Überdies bestreitet er schließlich die anfanglieh jenem noch zugegebene Fundierung der Geisteswissenschaften durch die Psychologie. Diese Position war insofern radikaler als diejenige Windelbands und und Rickerts, als Spranger nicht aufgrund eines veralteten Psychologieverständnisses allein eine naturwissenschaftliche Psychologie für wissenschaftsfähig hielt, sondern gerade der Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Psychologie einen erheblichen Teil seines Werkes widmete. Aber er teilte auch nicht die Position der Südwestdeutschen, an welcher auch ihre jüngeren Vertreter festhielten, die Wertphilosophie als grundlegend fiir die Kulturwissenschaften anzusehen. Sprangers ebenfalls nicht allzu elaborierte Ansichten zur Theorie der Geisteswissenschaften lassen insgesamt eine etwas größere Nähe zu den Positionen Diltheys erkennen. In durchaus bedeutsamen Einzelheiten weicht er jedoch von Dilthey ab, aber nicht immer so, daß er sich darin zugleich den Neukantianern nähert. Vor allem im Hinblick auf die Zentral stellung seines Typenkonzeptes und das Theorem vom kritisch-normierenden Charakter der Geisteswissenschaften beschreitet er eigene Wege.

8. Verstehen Auch in seiner Theorie des Verstehens knüpft Spranger zunächst relativ eng an Dilthey an. Aber er begreift die relative Gleichartigkeit der Menschennatur, die Teleologie und die daraus resultierende Reziprozität der Kulturgebilde untereinander und mit der individual psychischen Struktur frühzeitig als

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methodische Postulate, fUhrt das noch positivistische Reste enthaltende Theorem der relativ gleichartigen Menschennatur auf eine Gleichgesetzlichkeit im Kantischen Sinne zurück und faßt die künstlerischen Momente des Verstehens rationaler im Theorem einer interpretierenden Einbildungskraft. In dem allgemeinen Sinnpostulat der geistigen Welt als Bedingung der Möglichkeit alles Verstehens unterlegt er der geistigen Hemisphäre eine der Kantischen Kausalität der Natur vergleichbare lückenlose Gesetzlichkeit. Darin war ihm freilich de facto schon Dilthey im Hinblick auf die im Zusammenhang seiner Lehre von der Artikulation des Lebens in den Lebenskategorien postulierte durchgängige Bedeutungshaltigkeit und -bestimmtheit des Lebens vorangegangen, und auch der spätere Rickert gelangte schließlich zur Forderung der Wertbezogenheit und Sinnhaftigkeit alles Verstehbaren. Haben diese Züge der Verstehenstheorie Sprangers also nur geringe Belegkraft für die Bestimmung seines Verhältnisses zu Dilthey und zu den Südwestdeutschen, so kommt seinem im Vorfeld der zwanziger Jahre entwickelten Theorem des Verstehens durch geistige Grundakte zentrale Bedeutung zu: Verstehen ist danach bei Spranger wie beim späteren Rickert und dann in der Weiterbildung bei Cohn über den intendierten Sinn auf objektiv gültige Werte bezogen. Es fuhrt nicht, wie bei Dilthey, über Sinn und Bedeutung zurück auf ein geschichtliches Lebens- und Erlebniszentrurn. Damit ist ein ganz wesentlicher Punkt der Diltheyschen Hermeneutik aufgegeben. Verstehen ist für Spranger in ganz Kantischer Manier ein Erkennen mit Hilfe besonderer Auffassungsformen, welche er in den "Lebensformen" aufzuzeigen sucht und in deren zweiter Fassung von 1921 ausdrücklich als allgemeine deklariert. Es ist nun zwar interessant zu sehen, daß der spätere Rickert gegenüber dieser sehr auf ein Allgemeines gehenden Verstehenskonzeption Bedenken hinsichtlich seiner Tauglichkeit für die historische Arbeit anmeldete und das freilich wohl kaum haltbare Theorem vom individuellen Sinn dagegensetzte. Doch hielt sich diese Differenz im Rahmen der auch innerhalb einer Schule üblichen Meinungsverschiedenheiten: Auch die jüngeren Südwestdeutschen rezipierten den Gedanken des individuellen Sinns nicht. Cohn zeigte auch in Rickerts Sinnverstehen noch ein von diesem nicht wahrgenommenes generalisierendes Moment auf und ordnete dem gleichstellend-verstehenden Erkennen als davon nie völlig ablösbaren dialektischen Gegenpol das beherrschenderfassende zu. Vor allem, soweit sie sich auf die Typik der "Lebensformen" bezieht, ist Sprangers Theorie des Verstehens rigider als diejenige Diltheys und als die der Südwestdeutschen: Sein Konzept hat durch die als Kategorien des Verstehens

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entworfenen Typen eine starke Tendenz zum Allgemeinen, die sich, trotz aller Korrekturen an den Positionen Rickerts, so auch nicht bei Cohn findet. Dadurch, daß die Typen jedoch nicht in den Fluß des historischen Wandels eingestellt, sondern im Rückgriff auf invariante Werte konstituiert sind, bekommt die verstehende Erkenntnis einen Gültigkeitsanspruch, welchen sie bei Dilthey, auch wo er sich des Typenkonzepts bediente, nie hatte. Es ist die Vereinigung der typisierenden Methode und des Anspruchs der damit gewonnenen Erkenntnis, welche der im Umkreis der "Lebensformen" entwickelten Verstehenstheorie Sprangers jene Rigidität gibt, welche sie zugleich in Gegensatz zu Dilthey und zu den Südwestdeutschen bringt. Spranger begreift schließlich das ästhetisch-phantasiemäßige Moment des Verstehens als interpretierende Einbildungskraft, welche zwar bei den Neukantianern keine Entsprechung hat, aber doch erklärtermaßen Kants produktiver Einbildungskraft nachgebildet ist. In direkter Auseinandersetzung mit den Südwestdeutschen konstruiert er ein transzendentales geistiges Subjekt als den Subjektpol alles objektiv gültigen Verstehens. Doch hält er gleichursprünglich am individuellen geschichtlichen Verstehenssubjekt fest, so daß im Problem der Verschlingung beider Subjekte innerhalb seiner Verstehenstheorie das wertphilosophische Problem der Erscheinung der gültigen Werte im subjektiven Werterleben wiederkehrt. Ferner weicht Spranger spätestens seit den zwanziger Jahren insofern von allen Neukantianern ab, als bei ihm die Linie über den im Verstehen erfaßten Sinn und die darin intendierten Werte weiterfiihrt zum Geistesleben und seinen Normen. Daß es sich hierbei nicht nur um einen vernachlässigbaren lebensphilosophischen Appendix handelt, zeigt sich darin, daß Sinn bei Spranger einheitlicher gefaßt ist als bei Rickert, der Sinn noch einmal zerlegt in Wertform und ein Gebildematerial. Am nächsten kommt der Verstehenskonzeption Sprangers diejenige Cohns, welche freilich von Dilthey und auch schon wieder von Positionen Sprangers beeinflußt ist. Allein, auch Cohns Ansatz hält bei den Werten inne. Und Bauch als jener Neukantianer, welcher entschlossen den einheitlichen Grund des Logos in Anspruch nimmt und das Verstehen auf ihn hätte beziehen können, kennt keine diesem entsprechende besondere Erkenntnisart mehr. Insgesamt weist die Verstehenskonzeption Sprangers in der Zeit zwischen den beiden Fassungen der "Lebensformen" von 1914 und 1921 neben bedeutsamen Differenzen unverkennbar auch eine Reihe von Berührungspunkten mit der südwestdeutschen Wertphilosophie auf. Die Unterschiede zu dieser ver-

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größerten 5ich in den zwanziger Jahren jedoch rasch: Die letztliche Verankerung des Verstehens im Geistesleben führt bereits 1921 dazu, daß Spranger es in der zweiten Fassung der "Lebensformen" als eine Bewegung des Geistes begreift. Nun geht die zentrale Tendenz nicht mehr dahin, daß wir uns nur durch den Geist hindurch verstehen, sondern im Verstehen erarbeitet, ganz im Sinne Hegels, erst der Geist sich selbst. Damit ist die entscheidende Abwendung von neukantianischen Positionen vollzogen. In ihrer Konsequenz gelangte Spranger schließlich auch in den späteren zwanziger Jahren zu einer Relativierung und sparsameren Verwendung der Idealtypen der "Lebensformen" sowie - von einem "äußersten Rahmen" abgesehen - zum Zugeständnis der historischen Wandelbarkeit der Verstehenskategorien. So sehr das im Laufe der Zeit unterschiedlich stark akzentuierte Insistieren auf einem allgemeinsten invarianten kategorialen Gerüst des Verstehens und dessen Bindung an objektiv gültige Werte eine tiefe Differenz zu Dilthey hin bedeutete, löste Spranger sich doch insofern nie völlig vom lebensphilosophischen Ausgangspunkt, als seine Auffassungsformen des Verstehens zugleich und sogar primär Formen des geistigen Lebens waren. In seiner auf einer Theorie der geistigen Grundakte aufbauenden Konzeption eines objektiven Sinnverstehens aus Beziehungen zu allgemeingültigen Werten, welche aber ihrerseits wieder in Normen des Geisteslebens gründen, vollbringt Spranger letztendlich eine bedeutsame Eigenleistung. Vielleicht könnte man noch am ehesten sagen, er habe die Ansätze Diltheys aufgenommen und in einer kurzen Phase großer Nähe zu den Südwestdeutschen teilweise mit Kantisch-neukantianischen Denkrnitteln zu größerer Objektivität fortgebildet, was ja auch sein erklärtes Programm war. Damit ging ohne Zweifel eine Verengung des Diltheyschen Ansatzes einher, welche zum Teil durch die hegelianisch-geistesphilosophische Grundlage seit den zwanziger Jahren und die dann in der Folge vollzogene historische Öffnung wieder rückgängig gemacht wurde.

9. Geschichtswissenschaft Sprangers explizite Auseinandersetzung mit Positionen der Südwestdeutschen, vorab Rickerts, vollzieht sich hauptsächlich im Zusammenhang seiner wenigen Beiträge zur Geschichtswissenschaft. Wichtiger als die sich darin zeigende nicht sehr gründliche Rezeption Windelbands und Rickerts ist, daß

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man daraus schließen darf, er habe sie wohl primär als Logiker der Geschichtswissenschaft wahrgenommen und die sehr viel weitergehenden Konsequenzen ihres Ansatzes weniger beachtet. Dies könnte erkären, wieso er nicht selten ganz in ihre Nähe gelangte, ohne dies offenbar zu bemerken. Wie meist in den frühen Schriften, macht sich Spranger zunächst im wesentlichen auch Diltheys Ansichten zur Theorie der Geschichtswissenschaft zueigen, wobei er z.T. hinter Positionen des späteren Dilthey auf solche des jüngeren zurückgreift. Allerdings benutzt er das Theorem der relativen Gleichartigkeit der Menschennatur und sein Teleologie-Konzept überwiegend nur als methodische Konstrukte, was ihn tendenziell auf einen neukantianischen Standpunkt zuführt. Sowohl das wertbeziehende Verfahren der Südwestdeutschen als auch die mit seiner Hilfe gebildeten Individualbegriffe lehnt er jedoch nachdrücklich ab, und er entwirft stattdessen einen jener typologischen Ansätze, welche sie als untauglich ansehen. Trotz aller vernichtenden Kritik Sprangers an den Neukantianern teilt er aber ihre Gegnerschaft gegen die relativistischen Konsequenzen historistischer Positionen. Soweit dies aus den wenigen späteren Arbeiten und Nachlaßbeständen rekonstruiert werden kann, wird Sprangers Verständnis von Geschichtswissenschaft in der folgenden Zeit noch konstruktiver. An die Stelle ihrer frühen psychologischen Fundierung tritt eine transzendentalphilosophische: Er stellt nachdrücklich auch die geschichtliche Erkenntnis unter den Satz der Phänomenalität und unterscheidet zwischen geschehener Geschichte als Grenzbegriff und allein zugänglicher gewußter Geschichte. Er beharrt zwar weiterhin gegenüber den Neukantianern darauf, daß die Intention der geschichtlichen Erkenntnis auf Individuelles nur in Verbindung mit allgemeinen Gesetzen und Zusammenhängen verfolgt werden könne. Doch über sein Konzept des objektiven Sinnverstehens hält doch stillschweigend die wertbeziehende Methode Eingang in die Geschichtswissenschaft. Daß Sprangers sowohl im Vergleich zu Dilthey als auch zu den Südwestdeutschen sehr viel rigidere Theorie des Verstehens, vor allem die im Umkreis der "Lebensfonnen" von 1914 und 1921 entwickelte, für die historische Erkenntnis nur bedingt geeignet ist, spürt er selbst: Er gesteht ausdrücklich zu, daß die Typenbegriffe zu diesem Zweck weiter differenziert und verbesondert werden müßten. Überdies sollte die Beobachtung Dürrs49 zu denken geben, daß er sich der "schematischen Quadrate" seiner "Lebensfonnen" Z.B. bei der Beschreibung der großen Erzieherpersönlichkeiten der Geschichte nicht bediente. 49

Gesammelte Schriften XI, S.455.

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Es spricht einiges dafür, daß dies für seine historischen Arbeiten generell gelten könnte. Doch müßte dieser Vermutung in einer Spezialuntersuchung nachgegangen werden. Immerhin aber sollte man beachten, daß die Typik der Lebensformen im Zusammenhang der Kulturphilosophie und Psychologie, nicht aber der Geschichtswissenschaft Sprangers entstand. Die sonst allgemein seit der Mitte der zwanziger Jahre zu beobachtende historische Öffnung Sprangers setzt ausgerechnet in seiner Theorie der Geschichtswissenschaft mit erheblicher Verzögerung und nur sehr verhalten ein. Es darf auch hier vermutet werden, daß vor allem die Furcht vor relativistischen Konsequenzen eine stärkere Wiederannäherung an Auffassungen Diltheys auf Dauer verhinderte. Ein Vergleich mit der weiteren Entwicklung innerhalb der südwestdeutschen Schule muß hier größtenteils entfallen, da die jüngeren Vertreter derselben ihre zentralen Arbeitsschwerpunkte nicht mehr, wie die Begründer Windelband und Rickert, im geschichtswissenschaftlichen Bereich haben. Cohns Position, das geschichtliche Erkennen müsse sich im Oszillieren zwischen Wirklichkeitsdeutung und Wertkonstruktion vollziehen, deutet nur scheinbar eine der Sprangersehen vergleichbare historische Öffnung an, denn letztlich ist ihm die Historie dann doch angewandte Werttheorie. Dies ist sogar ein Rückfall hinter Rickert. Als Geschichtswissenschaftler wird Spranger allem Anschein nach frühzeitig Kantianer im traditionellen Sinne. Er macht letztlich keinen Gebrauch von den modemen Weiterbildungen der historischen Methodologie durch Windelband und Rickert, und auch die in den zwanziger Jahren vollzogene Hinwendung zu Hegel wirkt sich kaum auf seine geschichtswissenschaftlichen Anschauungen aus. Ob Spranger als historischer Forscher nicht doch sehr viel subtiler verfuhr, als es seinen wenigen Ausführungen zur Methodologie der Geschichtswissenschaft entnommen werden kann, muß hier offen bleiben.

10. Psychologie Sprangers zunächst im Kontext seiner geschichtlichen Arbeiten und zu Händen des Historikers entwickelte Psychologie ist während des gesamten Untersuchungszeitraums Subjekt-Objekt-Wissenschaft, inhaltliche Psychologie, Geisteswissenschaft vom Subjektpol aus. Darin besteht ihre bleibende Nähe zum Ansatz Diltheys. Ihr Akzent liegt aber früh sehr viel stärker auf der

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Einordnung der subjektiven Seelenstruktur in transsubjektive Zusammenhänge. Die feinsinnigen Analysen des Befundes des individuellen und unmittelbaren Erlebens, des im Innewerden Gegebenen, wie wir sie beim früheren Dilthey finden, sind bei Spranger übersprungen. Er betrachtet sie als fragwürdige Mystik. Dies erklärt auch, wieso er sehr bald von einer Supponierung der Erkenntnistheorie durch Psychologie als der Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften abrückte. Die Psychologie, welche er entwickelte, war eine Geisteswissenschaft unter anderen, die Disziplin vom inhaltlichen Seelenleben, die das Ziel Diltheys nicht mehr verfolgte, eine Theorie der Selbstbesinnung zu liefern, welche an die Stelle der Erkenntnistheorie treten sollte. So wäre die geisteswissenschaftliche Psychologie Spranger auch in der Tat nicht geeignet gewesen, ein solches Fundament abzugeben. Sprangers Psychologie ist sehr viel ausschließlicher eine verstehende als diejenige Diltheys, welche daneben noch ein breites Spektrum weiterer Methoden kannte. Und diese verstehende Psychologie ist weniger eine henneneutische, als eine objektivsinnverstehende, d.h. sie rekurriert auf Sinnbeziehungen, welche in invarianten gültigen Werten glÜßden, und sie kennt in den Idealtypen der "Lebensfonnen" Auffassungskategorien, welche dem historischen Wandel entzogen sind. Windelband und Rickert, die Häupter der Südwestdeutschen Schule, sahen aufgrund eines veralteten Psychologie-Verständnisses allein eine naturwissenschaftlich-generalisierend verfahrende Psychologie als wissenschaftsfahig an, welche sie als irrelevant rur die Kulturwissenschaften betrachteten. Aber Rikkert hatte immerhin noch die Möglichkeit einer Kulturpsychologie angedeutet. Cohn, Bauch und Jobannsen gaben die anfangliche reservierte Haltung der Südwestdeutschen gegenüber der Psychologie vollends auf: Cohn entwickelte selbst eine auch die Inhalte berücksichtigende verstehende Psychologie, welche auch Anregungen Diltheys und Sprangers aufnahm. Johannsen räumte sogar ausdrücklich Sprangers Strukturpsychologie einen Platz innerhalb der Erziehungswissenschaften ein, und Bauch zeigte durch eine partielle Rezeption denkpsychologischer Ansätze der norddeutschen Neukantianer, daß auch fiir ihn eine nicht naturwissenschaftlich verfahrende Psychologie diskutabel war. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob Sprangers Psychologie, vor allem in jener Gestalt, wie er sie im Umfeld der "Lebensfonnen" konzipierte, vielleicht als eine frühe Fortfiihrung des südwestdeutschen Neukantianismus im Bereich einer von diesem bis dahin weitgehend ausgesparten Disziplin gelten kann. Daß Spranger sich mit seiner Theorie des Verstehens während dieser Zeit in mancher Hinsicht der neukantianischen Wertphiloso-

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phie näherte, wurde schon dargelegt. Man könnte sogar versucht sein, in den "Lebensformen" von 1921 mit Rücksicht auf deren Akttheorie die Ausfuhrung der Rickertschen Prophysik als der Lehre von den Akterlebnissen und ihrer Bedeutung für die Werte zu sehen. In dieses Bild würde sich fügen, daß Rikkert die "Lebensformen" der zweiten Fassung als eine Annäherung Sprangers an seine Positionen wahrnahm, worin dieser ihn prinzipiell bestätigte. 50 Aber ähnlich wie in Sprangers Verstehenskonzeption sind auch in seiner Auffassung von Psychologie in den zwanziger Jahren bereits bedeutsame Abweichungen von den Südwestdeutschen, hier vor allem von Rickert, festzuhalten: Seine Grundakte sind geistige, nicht nur wertbezogene. Und dies ist insofern keineswegs bloß eine terminologische Differenz, als in den Sprangerschen Akten spezifische Subjekt-Objekt-Verhältnisse konstituiert werden, während in den Rickertschen Akterlebnissen Sein und Wert verbunden sind. Der Unterschied ist somit ein doppelter: - Die Sprangerschen Akte konstituieren, die Rickertschen verbinden eine Dualität. - Die Sprangersche Dualität ist jene von Subjekt und Objekt, die Rickertsche die von Sein und Wert. Die Zone engster Berührung liegt auch hier in den vorangehenden Jahren: Beide Unterschiede sind noch nicht gegeben in der älteren Akttheorie in Sprangers Abhandlung "Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie" von 1918. 5\ Selbst Rickerts Motiv des "Weltknotens" klingt in Sprangers zentralem Problem deutlich an, wie das geistige , Subjekt in das individuelle hineinverschlungen sei. Aber bezeichnenderweise ist für ihn ein Problem, was für Rickert eine nicht weiter hinterfragte Voraussetzung darstellt. Daß Spranger die axiologischen Gesetze zugleich als teleologische faßt, mutet zunächst als ein dem südwestdeutschen Neukantianismus fremder Zug an. Aber Spranger bringt auf diesem Wege nicht die Diltheysche Teleologie des Seelenlebens ein, sondern er deutet diese in typisch neukantianischer Weise um: Die Entwicklungsgesetze, auf welche er rekurriert, sind nicht solche eines triebhaften Vorandrängens, das sich Richtung und inhaltliche Bestim50 Vg. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 3.14. Aufl. Tübingen 1921, S.425fu. 454, und die Briefe Sprangers an Rickert vom 24.01. 1922 (Gesammelte Schriften VII, S. 110ff) und vom 24.08. 1922 (unveröffentlicht; Spranger-Archiv Braunschweig). 5\ Vgl. Anm. 37.

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mung erst sucht, und sie sind weniger in vitalen Antrieben als in einem Normativ-Allgemeinen verankert. Sie sind als teleologisch wirkende zugleich gesollte, welche der Mensch in bewußter Reflexion vor sich zu bringen vermag und angesichts deren er zur Entscheidung aufgerufen ist. Allerdings zeigt sich darin, daß nach Spranger das individuelle Entwicklungsgesetz auch eine persönliche Bestimmung in der anschaulichen Wertkonfiguration eines Ideals enthält, ein Denkmotiv der Klassik und des Neuhumanismus, fur welches sich noch am ehesten beim historischen Kant in der dritten Kritik Ansätze finden. Wie groß die Nähe der psychologischen Anschauungen Sprangers zu den Südwestdeutschen in der Zeit zwischen den beiden Fassungen der "Lebensformen" war, wird auch im Vergleich mit der wenig später von Jonas Cohn entwickelten Psychologie deutlich: Sie setzt ebenfalls bei den wertenden Akten und ihren Objekten ein, auch wenn sie insgesamt mehr Gewicht auf die individuellen Erlebniszusammenhänge legt und sich nicht in dem Maße als eine Subjekt-Objekt-Wissenschaft versteht, wie die Psychologie Sprangers. Dessen Festhalten an der generalisierenden Tendenz aller wissenschaftlichen Erkenntnismethoden, auch des Verstehens, findet sich bei Cohn in der Forderung eines Oszillierens der Psychologie zwischen verstehendem und beherrschendem Erkennen. Allerdings schreitet Spranger, wie schon dargelegt, anders als Cohn über die Werte hinaus zum Geist fort, den er 1917/1918 freilich noch unhegelianisch als ideellen Ort des Zusammentreffens der Sinnintentionen verschiedener lehe begreift, und er bedient sich der von Rickert verworfenen Typenbegriffe, welche zudem beanspruchen, Formen des Lebens zu sein. Für das Vorfeld der zwanziger Jahre kann man die Bedeutung dieser Unterschiede noch als relativ gering veranschlagen, zumal sich die Sprangerschen Typen auch als wertbeziehende Begriffe im Sinne Rickerts interpretieren lassen. Schwerer wiegt schon die Beobachtung, daß Cohns Psychologie ganz offensichtlich auch eine von Dilthey und z.T. schon von Spranger beeinflußte ist. Von hier aus erhebt sich die Frage, ob die Parallelen zu Spranger nicht vielleicht auf einer Annäherung in umgekehrter Richtung beruhen. Auch wenn Cohn in mehrfacher Hinsicht zweifellos eine vermittelnde Stellung einnahm, so zeigt sich darin doch jedenfalls, solange man ihn noch der Südwestdeutschen Schule zurechnet, daß diese durchaus in der Lage war, Motive der Diltheyschen Psychologie aufzunehmen und sich zu assimilieren, so daß sie auch bei einem von Dilthey herkommenden Denker wie Spranger nicht von vornherein als systemfremde Elemente stören mußten.

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Genau besehen, bleibt Spranger in der Zeit von 1914 bis 1921 in einer Hinsicht sogar genauer in der Spur Rickerts als Cohn: Eine Kulturpsychologie im Sinne Rickerts sollte die Gesamtheit der allgemeinen Kulturwerte erforschen und systematisch darstellen. Die Psychologie Cohns ist generalisierende Wissenschaft von den individuellen Erlebniszusammenhängen, welche freilich ebenfalls von den Objekten auf die Akte zurtickschließt. Doch ist sie nur über das Verstehen an die Werte TÜckgebunden, ohne daß diese ihr Untersuchungsgegenstand sind. In diesem Zusammenhang kommt der Beobachtung Bedeutung zu, daß Johannsen seinem Pädagogik-Konzept die Psychologie Sprangers, nicht diejenige Cohns integriert. Andererseits darf man nicht übersehen, daß Spranger schon im Vorfeld der zwanziger Jahre die Trennung in eine als SubjektWissenschaft zu betreibende naturwissenschaftliche und eine als SubjektObjekt-Wissenschaft durchzufiihrende geisteswissenschaftliche Psychologie als unglücklich und letztlich nicht durchfiihrbar betrachtet, somit also die Ausgangsposition Rickerts an einem entscheidenden Punkte infragestellt, in dem ihm Cohn nicht widerspricht. Bereits mit der Reinterpretation der Akttheorie in der zweiten Fassung der "Lebensformen" von 1921 beginnt Sprangers Psychologie jedoch die Affinitäten zur neukantianischen Wertphilosophie abzustreifen. Setzt er zunächst noch die psychischen Strukturen in seinem Verständnis den durch Wertbeziehungen definierten Sinngebilden Rickerts gleich, so kehrt er in der Folge ihren teleologischen Charakter stärker hervor, den er allerdings in Abweichung von Dilthey aus dem normativen Geist , entwirft. Im Zuge der historischen Öffnung von den späten zwanziger Jahren an betont er zunehmend die geschichtliche Tiefendimension jenes objektiv-geistigen Zusammenhangs, in welchen Psychisches immer schon verwoben und von dem her allein es zu begreifen ist, und gibt schließlich die Trennung von invarianten Auffassungsformen und geschichtlich wandelbarer Materie der Psychologie zumindest im Hinblick auf die konkrete psychologische Forschungsarbeit auf. Daß Spranger trotz einiger Annäherungen gleichwohl nicht einfach zu den Ansätzen Diltheys zurückkehrte, wird an seiner für die Psychologie unverändert zentralen Konzeption des Verstehens deutlich, welches auch in dieser Zeit über den Sinn auf die Werte bezogen bleibt, auch wenn sie nun Derivate der Geistesnormen sind. Neben der Pädagogik Sprangers ist seine Psychologie der elaborierteste Teil seiner wissenschaftlichen Theorie. So wie für Dilthey die Geschichte ist für

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ihn die Psychologie die Geisteswissenschaft par excellence. Sie verdankt den Ausgriff auf objektiv-geistige kulturelle Zusammenhänge und ihre nach der Mitte der zwanziger Jahre zunehmende empirische und historische Orientierung sicherlich auch Anregungen Diltheys. Besonders in der Ausprägung zwischen den beiden Auflagen der Lebensformen von 1914 und 1921 ist sie in mehrfacher Hinsicht mit Grundpositionen des südwestdeutschen Neukantianismus kompatibel, freilich, ohne daß sie einfach als die jenem damals noch fehlende sinnverstehende Psychologie gelten könnte. Spranger bildet sie dann vollends in den zwanziger Jahren zu einem eigenständigen Konzept weiter, welches über eine bloße Synthese Diltheyscher und neukantianischer Motive weit hinausgeht.

11. Pädagogik a) Ansichten über Erziehung und Bildung

Die sonst öfter zu beobachtende Nähe der Anschauungen des frühen Spranger zu Positionen Diltheys ist im Hinblick auf seine Vorstellungen über Erziehung und Bildung nur partiell gegeben, was schon allein im Hinblick darauf plausibel erscheint, daß er Diltheys Pädagogik damals auch zum überwiegenden Teil noch nicht kennen konnte: Der Band IX der Gesammelten Schriften Diltheys, welcher seine bis dahin zum größten Teil unveröffentlichten Beiträge zur Pädagogik enthält, erschien erst 1933. Die pädagogischen Vorstellungen des jungen Spranger zeigen nur im lebensphilosophischen Tenor und einigen wenigen Rahmenkonzepten eine gewisse Nähe zu Dilthey: in der Betrachtung der Erziehung als eines Lebensphänomens und in ihrer Einordnung in den Kontext des Kulturlebens, in der Auffassung des pädagogischen Verhältnisses als einer Lebensgemeinschaft, im Verzicht auf eine inhaltliche Bestimmung jenes Wertvollmachens, um das es in aller Erziehung zu tun sei. Das stark ausgeprägte ästhetischerotische Moment der Sprangersehen Erziehungsvorstellungen, die der Phantasie zuerkannte Bedeutung und das Moment der Mäeutik sind weder Diltheyscher Abkunft noch dem Neukantianismus entlehnt, sondern Traditionsgut der Klassik, welches wiederum auf die griechische Antike zurückweist. Eine erste rationale Abklärung erfahrt die in Glaubensüberzeugungen wurzelnde und von einem hochfliegenden Enthusiasmus getragene ästhetischerotisch-pädagogische Weltanschauung des jungen Spranger in der Auseinan-

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dersetzung mit Wilhelm von Humbotdt und in der damit verbundenen KantRezeption. Vor allem sein Verständnis des Humanitäts- und Bildungsideals präzisiert Spranger an der dritten "Kritik". Auch wenn Bildungsideale danach wegen ihres anschaulichen Gehaltes nicht begrifilich formulierbar sind, so implizieren sie doch durch ihre Gegründetheit in der Humanitätsidee einen normativen Anspruch, dessen Allgemeingültigkeit den Auffassungen Diltheys zuwiderläuft. Und über die Theorie des Bildungsideals deutet Spranger in seiner Pädagogik die Teleologie Diltheys in das Intendieren einer mit Hilfe der Phantasie erfaßten und in autonomer Entscheidung akzeptierten persönlichen Bestimmung um. Eine weitere Rationalisierung erfolgt, indem Spranger auf die anfanglich intuitionistisch beschriebene Einfiihlung des Erziehers in den Educanden das Konzept des Verstehens anwendet. Dieser klassisch-humanistische Zug der Sprangerschen Pädagogik ist während des Untersuchungszeitraums immer präsent im erotischen Motiv und im Thema des Bildungsideals, auch wenn die zentralen Bezugspersonen von Humboldt über Goethe zu Kant wechseln und die inhaltlichen Bildungskonzeptionen den Erfordernissen der Zeit angepaßt werden. In der klassisch-humanistischen Tradition liegen bedeutsame GelenksteIlen zu Kant und zu den Neukantianern: Der pädagogische Eros ist Liebe zum jungen Menschen und zu den in ihm angelegten Wertmöglichkeiten. Die historischen Bildungsideale verweisen auf eine hinter ihnen liegende zeitlose Bildungsidee. Vor allem in seiner Theorie der Bildsamkeit, des Bildungsideals und der Bildungswerte, wie er sie in der "Philosophischen Pädagogik" von 1916/191752 expliziert, versucht Spranger sich offenkundig an einer kantisch-neukantianischen Pädagogik, deren Gemeinsamkeiten mit den bei Windelband nur angedeuteten, bei Cohn, Bauch und Johannsen dann weiter ausgearbeiteten pädagogischen Konzepten der Südwestdeutschen nicht zu übersehen sind: Ganz allgemein teilt sie die apriorisch-transzendentalphilosophische Methode und den abstrakten Formalismus der neukantianischen Ansätze. Auch in Sprangers Pädagogik gewinnen in diesen Jahren die gedanklichen Konstruktionen die Oberhand über die geschichtliche Orientierung. Wenn man geneigt sein möchte, ihm größere inhaltliche Fülle vorzubehalten, gilt es, sich in Erinnerung zu rufen, daß auch Cohn den Formalismus der Natorpschen Pädagogik 52 Eduard Spranger: Philosophische Pädagogik. Partenkirchen, Winter 1916/1917 (unveröffentI. Manuskript, Spranger-Archiv Braunschweig).

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kritisiert und die Berücksichtigung der Realität sowohl der geschichtlichen Situation als auch des individuellen Educanden ausdrücklich fordert. Spranger, Cohn und Bauch verankern in gleicher Weise die erzieherische Haltung sowohl in den Werten als auch im jungen Menschen. Die neukantianische Pädagogik der Südwestdeutschen darf nicht vorschnell mit derjenigen der Marburger ineinsgesetzt werden. Wie Cohn, Bauch und Johannsen geht Spranger zwischen 1914 und 1920 ebenfalls alle zentralen Fragen der Erziehung und Bildung von den Werten her an: An die Stelle des in den frühen Jahren vertretenen Wertvollmachens durch die Erziehung tritt nun pointierter eine Auffassung der Erziehung als Hilfe zur Aktualisierung der wertbezogenen sirmkonstituierenden Akte. Bildung als pädagogischer Grundvorgang wird ihm, ganz ähnlich wie den jüngeren Südwestdeutschen, zur Aufnahme objektiver Werte und zur Entbindung aller im Subjekt angelegten Wertrichtungen. Fast könnte es scheinen, als habe Johannsen mit seinen einprägsamen Kürzeln der "Wertfiguration" und "Wertaktualisation" die damaligen Versuche Sprangers auf den Begriff gebracht. Aus der Perspektive der Werte stellt Bildsamkeit sich Spranger dar als der Entwicklungsstatus, die anlagemäßige Ausprägung und die Reinheit der Grundakte. Nicht mehr die Phantasie, sondern die Liebe zu den konstituierenden Akten und den darin intendierten Werten ist ihm nun das Medium der Bildsamkeit, welche sich an der Leichtigkeit zeigt, mit welcher die Grundakte erweckbar sind, und die allgemeinen Schemata der Bildungsideale werden in Entsprechung zu den wertkonstituierten Lebensformen bestimmt. So legitimiert sich für Spranger ebenso wie für Cohn, Bauch und Johannsen alle Erziehung und Bildung von den Werten her. Der Zentralstellung der Werte entsprechend, rückt auch für Spranger die Auseinandersetzung mit der Kultur als ihrer historischen Verwirklichung in den Brennpunkt des pädagogischen Interesses. Und ganz wie bei den Neukantianern wird diese Auseinandersetzung in der Quintessenz auf eine solche mit den wertvollen Gehalten der Kultur reduziert, bzw. die historische Kultur steht selbst noch einmal unter dem Maß einer idealen, im Wertsystem vorgezeichneten Kultur, so daß es in Bildung und Erziehung nie um bloße affirmative Enkulturation geht, sondern immer zugleich um eine Höherftihrung der geschichtlichen Kultur selbst. Damit aber wird Spranger wie den Neukantianern Bildung ein die engeren Grenzen des Pädagogischen weit überschreitender Fundamentalvorgang, wel-

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cher ebenso den Reproduktions-, Zirkulations- und Fortbildungsprozeß der historischen Kultur umfaßt. Allerdings ist die Betonung der kulturellen und der pädagogischen Seite des Bildungsprozesses bei Spranger im Vorfeld der zwanziger Jahre bei weitem nicht so ausbalanciert wie bei Bauch und Johannsen. Der Schwerpunkt seines Interesses liegt in dieser Zeit primär auf der pädagogischen Problematik. Die kulturphilosophische Dimension beansprucht er zunehmend stärker erst später, als er sich bereits wieder von der neukantianischen Wertphilosophie entfernt und explizit einen Primat des subjektiven Geistes deklariert. Andererseits zeigt aber das Beispiel Cohns, daß durchaus auch ein südwestdeutscher Neukantianer die Akzente in seinem Werk so setzen und im Theorem der Klinergie das Vorrecht des Educanden in analoger Weise verankern konnte. Cohns Pädagogik widerlegt ferner den sich zunächst vielleicht aufdrängenden Eindruck, Spranger habe sich auf eine für einen neukantianischen Pädagogen ungewöhnlich gründliche und konkrete Weise mit jenseits der Zielproblematik liegenden Fragen des pädagogischen Verhältnisses, der Bildungsinhalte und -verfahren sowie der schulischen Organisation von Bildungsprozessen befaßt. Andererseits gehen Bauch und Johannsen weitaus vorsichtiger mit der Problematik invarianter Erziehungs- und Bildungsziele und der entsprechenden Kritik Diltheys um als Spranger und Cohn. Diese Unterschiede können offenbar ebenso noch als gewöhnliche Differenzen innerhalb einer Richtung gelten wie die Ablehnung des von Johannsen behaupteten besonderen Bildungswertes durch Spranger. Hier ist im übrigen zumindest eine Zustimmung Cohns und Bauchs nicht belegt. Eine Sonderstellung Sprangers zeigt sich schon eher darin, daß er aufgrund seines auch im Vorfeld der zwanziger Jahre nicht aufgegebenen bipolaren Wertansatzes in seiner Theorie des Bildungsideals von allgemeinsten Schemata der Bildungsideale nationale und schließlich individuelle Bildungsideale abhebt, welche von der Wissenschaft vielleicht prinzipiell nur annähernd bestimmbar sind. Damit ist die eigene Dignität des Educanden den objektiven Werten gegenüber letztlich doch sehr viel bestimmter gewahrt als in Cohns Theorem der erzieherischen Klinergie, in Bauchs Betonung des unvertretbaren Beitrags jedes Individuums zur Wertgestaltung und Johannsens Bildungswert. Mit der These, wir kennten letztlich überhaupt kein Bildungsideal, das dem Menschen von außen zugemutet werden könnte, ohne daß ihm von innen ein wertsuchender Trieb entgegenkäme, bricht Spranger in genauer Entsprechung zu seiner Werttheorie, in welcher er ja auch Werten, die in keinem subjektiven 8"

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Erleben erfahren werden, die Anerkennung verweigert, aus dem Horizont neukantianischer Bildungsvorstellungen aus. Dies wird z.B. daran sichtbar, wie Cohn mit dem "Hebelproblem" Sprangers umgeht, soweit es sich unter seinen Voraussetzungen überhaupt zeigen kann: Für ihn werden die zunächst widersinnig erscheinenden äußeren Eingriffe des Erziehers zur Beforderung der Autonomie des Educanden durch den Rekurs auf ein sowohl dem Erzieher als auch dem jungen Menschen übergeordnetes Sollen legitimiert. Spranger kennt zwar ein solches ebenfalls, aber er setzt die Bestimmung des Zöglings individualisierter an im persönlichen Ideal, welches der Erzieher nur begrenzt kennen und worauf er daher auch nicht so umstandslos zu Legitimationszwecken zurückgreifen kann. Nimmt Sprangers "Hebelproblem" auf diese Weise eine sehr viel kompliziertere Form an, so haben die sich pädagogisch engagierenden jüngeren südwestdeutschen Neukantianer sichtlich die größeren Schwierigkeiten, Erziehung nicht zum bloßen subjektiven Reflex des allgemeinen Wertgeschehens verkommen zu lassen. Ihre eben genannten Versuche, die eigene Dignität des Educanden zu wahren, sind alle nicht unproblematisch: Johannsens Bildungswert ist eher ein Postulat als ein wertphilosophisch fundiertes Theorem. Der von Bauch betonte, von jedem Menschen zu leistende einmalige Beitrag zur Wertgestaltung kann auch so interpretiert werden, daß eben wegen desselben die Werte den Prozeß der Erziehung nötig haben. Und Cohns Klinergie macht Halt bei der Modifikation der Wertauffassungen und tastet die Werte als solche nicht an. Das zugrundeliegende Problem der Südwestdeutschen ist der Dualismus von Sein und Wert, welcher für die Erziehung ein dualistisches Menschenbild nahelegt. Die Bestimmung der Erziehung durch Bauch und Johannsen als eine Verbindung von Wert und Wirklichkeit und Bauchs Auffassung des Menschen als eine Verknüpfung von Vernunft und Tier zeigen dies in aller Deutlichkeit. Spranger kennt zwar auch einen Rangunterschied zwischen Mensch und Tier, aber die Werte sind dem Educanden ebenso immanent, wie sie in seiner Umgebung präsent sind. Nur unter dieser Voraussetzung gibt sein mäeutischer Ansatz Sinn. Allein Cohn rechnet in der Konsequenz seines Theorems der Klinergie mit einer Manifestation der Werte im Educanden. Und er teilt mit Spranger die Annahme einer im jungen Menschen immer schon keimhaft angelegten und letztlich nur zu weckenden Sittlichkeit als Bedingung der Möglichkeit aller Erziehung, zumal einer solchen zur Autonomie. Aber er betont bei weitem nicht so sehr die je individuelle Ausprägung dieser inneren Norm wie Spranger.

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Sprangers Gegenüberstellung eines allgemeinen und eines besonderen Bildungsideals hat eine Parallele in seinem vielleicht doch noch unter einem entfernten Einfluß des Diltheyschen Teleologiekonzeptes gebildeten Theorem des allgemeinen und des besonderen Entwicklungsgesetzes, in welchem er Bildsamkeit gewissermaßen dynamisch interpretiert. Darin folgt ihm keiner der südwestdeutschen Pädagogen. Überhaupt muß beachtet werden, daß er die pädagogische Zielproblematik im Vorfeld der zwanziger Jahre und gewöhnlich auch danach unter dem Begriff des Bildungsideals erörtert, in welchem der Allgemeingültigkeitsanspruch mit der historischen und individuellen Verbesonderung weitaus inniger verbunden ist als etwa in der Zielformel Cohns, die auf einen variablen Inhalt als ihr Gegenstück unmittelbar verweist, und das von vornherein auf einer weniger abstrakten Ebene liegt als die Bildungsidee, welche in Sprangers Pädagogik sehr viel mehr im Hintergrund bleibt als gewöhnlich bei den Neukantianern. Hier zeigt sich wiederum jene Orientierung an der klassisch-humanistischen Tradition, die schon beim ganz jungen Spranger so ausgeprägt ist. Daß auch Johannsen den Begriff der Humanitätsidee verwendet, darf nicht über den tiefgreifenden Unterschied hinwegtäuschen: Er steht bei ihm ja synonym mit dem des Bildungswertes und der Erziehungsidee. Allerdings kommt Spranger in der Zeit zwischen 1914 und 1920 in seiner Formel vom kompossibien Maximum der Werte fiir das individuelle Bildungsideal in Verbindung mit der Wertphilosophie der ersten Fassung der "Lebensformen" und von ihr aus entworfener Schemata fiir Bildungsideale einer formalistisch-additiven Auffassung des Erziehungszieles in der Art Cohns bedenklich nahe. Vom Festhalten an der klassisch-humanistischen Tradition her ist wohl auch zu erklären, daß Spranger zwar die Wertschätzung Cohns und Bauchs fiir formale Bildungskonzeptionen teilt, nicht aber mit ihnen die wissenschaftlichen Bildungsinhalte favorisiert (Johannsen gelangt erst gar nicht auf der Ebene der inhaltlichen Ausgestaltung der Bildungskonzeption an!). Zwar darf dieser Befund im Hinblick auf Cohns Wissenschaftskonzeption nicht überinterpretiert werden, welche auch Wertwissenschaften vorsieht. Aber die von Spranger gegebene Beschreibung der Bildungsstruktur enthält neben den Merkmalen der Unabgeschlossenheit und der kulturellen Kompetenz in Ganzheitlichkeit und Selbstgenuß unübersehbar ein humanistisches Surplus. Und schließlich ist auf die ebenfalls aus der Frühzeit in das Vorfeld der zwanziger Jahre herüberreichende, sich aus klassisch-humanistisch-antiken Quellen speisende Erotik und Mäeutik in Sprangers Bestimmung des pädagogischen Verhältnisses hinzuweisen, welche zwar nun rationaler gefaßt wird als

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in der Anfangsphase, aber immer noch die klinergische Haltung Cohns oder den erzieherischen Eros Bauchs, der zunächst nur dem Reich der Werte gilt und erst im gemeinsamen Eindringen mit dem Educanden in dieses auch mitmenschliche Verbundenheit stiftet, bei weitem an Wänne und Unmittelbarkeit übertrifft. Wenn eine Orientierung der pädagogischen Vorstellungen Sprangers an einer transzendentalen Wertphilosophie noch bis zu den "Lebensformen" von 1921 und partiell sogar darüber hinaus zu beobachten ist, dann muß man berücksichtigen, daß die im Vorfeld der zwanziger Jahre nur unterschwellig vorhandene Geistphilosophie 1921 manifest wird und nun Sprangers Wertphilosophie fundiert. Da die geistigen Akte Subjekt und Objekt zugleich konstituieren, ist nun eine Übermächtigkeit der Werte gegenüber dem Educanden noch auf eine zweite Weise ausgeschlossen. Die Interpretation der Erziehung als Kulturfortpflanzung durch Entfaltung der Wertempfanglichkeit und Wertgestaltungsfahigkeit, die in den "Lebensformen" von 1921 in der Lehre vom persönlichen Ideal implizit fortgeführte Theorie des Bildungsideals, die Beziehung der pädagogischen Liebe sowohl auf den Educanden als auch auf die echten, d.h. objektiv gültigen Werte und das in der ewigen Geschichte des Menschen präzisierte allgemeine Entwicklungsgesetz müssen vor dem Hintergrund dieser Geistphilosophie interpretiert werden und können nicht mehr ohne weiteres als Elemente einer neukantianisch-wertphilosophischen Pädagogik gelten. Von dieser Einordnung bisheriger Theoreme in einen anderen philosophischen Kontext abgesehen, zeigen sich auch inhaltliche Abweichungen und Neubildungen: Ein Grenzfall ist die "Psychologie des Jugendalters", die ein Exempel der historischen Verbesonderung eines Stückes der ewigen Geschichte des Menschen in einer Plastizität und konkreten Fülle gibt, welche fiir einen Neukantianer höchst ungewöhnlich, obgleich im Sinne der besonderen Gesetze Kants und der Cohnschen Forderung nach Berücksichtigung der Realität prinzipiell noch denkbar wäre. Die Bipolarität der Sprangersehen Werttheorie bildet sich gewissermaßen auf das Theorem des normativen Geistes ab, dessen Forderungen - anders als die Werte nach den Vorstellungen der neukantianischen Pädagogen - außer in den objektiven Kulturgebilden auch im subjektiven Bewußtsein des Educanden zu entbinden sind, und die Bildsamkeit ist jetzt letztlich Plastizität des Geisteslebens. Der junge Mensch hat an ihr Anteil, insofern er ein Moment an diesem ist, so wie auch seine Intentionalität auf Werte sich aus der Wertstrebigkeit und Normativität des Geisteslebens herleitet und nicht bloß, wie bei den jüngeren Neukantianern, als dialektisches

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Pendant zur Bedürftigkeit der Werte konzipiert ist, in Kulturgütern realisiert zu werden, die nach ihnen gestaltet sind. Die Theorie des Klassischen, welche Spranger in den zwanziger Jahren entwickelte, mochte zunächst noch auf transzendentalphilosophischen Grundlagen bauen, wurde aber schließlich vom Geistesleben und seinen Grundakten aus entworfen. Spranger entwickelt darüber hinaus aufgrund einer historischen Analyse konkretere Vorstellungen zu einer modemen Klassik. Und im Verstehen zeigt er nun jene Methode auf, in welcher der Erzieher die Intentionalität des Educanden auf die echten Werte, ohne äußerlich auf ihn einzuwirken, fordern kann, indem er sich mit ihm im Geiste trifft. Als die Konstitution eines dem Verstehenssubjekt und dem Verstehensobjekt überlegenen Dritten ist dieses Verstehen keinesfalls mehr die neukantianische Sinnentnahme aus einem Wertbezug. Ebenso eindeutig bricht Spranger in den Theoremen der Bildung als eines Im-andern-zusich-selber-Kommens und des Rückgangs in die eigenen Ursprünge mit neukantianischen Bildungsvorstellungen. Allenfalls bei Bauch und Johannsen lagen in deren Logosphilosophie die Denkmittel dafür bereit, freilich, ohne daß sie in Anspruch genommen wurden. Die historische Öffnung Sprangers, welche ansonsten oft in der Zeit nach der Mitte der zwanziger Jahre zu beobachten ist, vollzieht sich in seinen Anschauungen über Erziehung und Bildung nur sehr verhalten: Der Zirkulationsprozeß zwischen Kultur und Bildung steht unter einem Kulturideal, welches die anschauliche Repräsentation einer ewigen Idee ist. Die geistigen Mächte der Gegenwart, welche nun zwar in ihrem Antagonismus historisch ernster genommen werden, müssen ihren Bildungsanspruch mittels eines Kerns nachweisen, der aus dem Absoluten stammt, obwohl nach Sprangers eigener Meinung die Geschichtsphilosophie es immer weniger vermag, zwischen bleibenden und wechselnden Momenten im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben zu unterscheiden. Zwar sieht er solche allgemeinste invariante Normen erklärtermaßen als zu abstrakt an, als daß sie für die Erziehung ausreichen könnten. Sein Weg, sich den konkreten geschichtlichen und kulturellen Anforderungen zu stellen, führt über die Analyse der geschichtlichen Entwicklung. Aber er rekurriert - anders als Dilthey und wohl aus Vorsicht vor möglichen relativistischen Konsequenzen - letztlich auf eine normative Geschichtsphilosophie statt auf die Historie. Und trotz aller Bedenken gegenüber allgemeinsten abstrakten Normen hebt er das invariante Ziel alles pädagogischen Handeins im nur formal zu fassenden Gesinnungsmoment auf. Darin kommt er nun im Rückgang hinter die Neukantianer dem historischen

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Kant nahe. Und er hält an einem sich immer gleichbleibenden Idealsinn der Bildung fest. Ein Indiz für die Spannung zwischen den sehr formal gefaßten allgemeinsten Zielen der Erziehung und Bildung und den konkreten Forderungen der geschichtlichen Situation ist die äußerliche Verbindung des Gesinnungsmomentes der Bildung mit einem die Tagesforderungen aufnehmenden Leistungsmoment, welches jenem mehr oder weniger nur additiv hinzugefügt und lediglich in recht künstlicher Weise vorübergehend über den humanistischen Bildungsgedanken an es angebunden wird. Überdies zeigt sich, daß die konkreteren didaktisch-methodischen Konzeptionen, welche Spranger in dieser Zeit entwickelt, nicht allein aus den obersten Zielen zu gewinnen sind. Er setzt mit diesen Überlegungen vielfach ein zweites Mal bei seiner in den "Lebensformen" von 1921 entwickelten Philosophie der geistigen Grundakte an. Sprangers Ansichten über Erziehung und Bildung sind in der frühesten Zeit im wesentlichen von der klassisch-neuhumanistischen Tradition geprägt und nur indirekt von Dilthey beeinflußt. Sie werden in der Zeit zwischen den beiden Fassungen der "Lebensformen" auf eine Weise weiterentwickelt, welche es in mancher Hinsicht rechtfertigt, in Spranger einen kantisch-neukantianischen Pädagogen südwestdeutscher Prägung und einen Vorläufer Cohns, Bauchs und Johannsens zu sehen. Doch auch dann, wenn man die üblichen differenten Standpunkte innerhalb einer Schule in Rechnung stellt, bleibt ein bedeutsamer Überschuß an abweichenden Positionen in Sprangers pädagogischen Konzepten, welcher sich mit der neukantianischen Wertphilosophie nicht vereinbaren bzw. daraus nicht ableiten, sondern nur aus dem gleichzeitigen Festhalten an der klassisch-humanistischen Tradition erklären läßt. In den zwanziger Jahren werden die wertphilosophischen kantisch-neukantianischen Theoreme größtenteils durch geistesphilosophische abgelöst oder unterbaut.

b) Die Konzeption der pädagogischen Theorie Deutlicher als in seinen Vorstellungen über Erziehung und Bildung knüpft der frühe Spranger mit seiner Konzeption einer theoretischen Pädagogik an Dilthey an: Der Ausgang vom Lebensphänomen Erziehung, dessen Beschreibung und Abgrenzung, das Verständnis der Pädagogik als einer Kulturwissenschaft, welche die Erziehungspraxis zur Besinnung über sich selbst anleiten und Hilfe zur Lenkung und Leitung des Erziehungslebens geben will - dies

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alles ist unverkennbar eine Konzeption im Sinne von Diltheys gesellschaftswissenschaftlicher und praktischer Theorie. Doch zeichnet sich auch die vor allem fiir die Zeit von etwa 1914 bis 1920 zu beobachtende Nähe Sprangers zur neukantianischen Wertphilosophie der Südwestdeutschen bereits arn Beginn seiner Laufbahn in typischen Nuancierungen ab: Spranger betrachtet die Pädagogik nicht wie Dilthey als eine Gesellschafts-, sondern als eine Kulturwissenschaft. Auch wenn er damit zunächst ganz in dessen Sinne auf das Leben als den weitesten Horizont der Erziehungs- und Bildungswirklicbkeit verweisen will, tut er es doch so, daß er mit der Kultur ein werthaftes, wenn auch nicht uneingeschränkt wertvolles geschichtlich-gesellschaftliches Leben unterlegt. In der Konsequenz seines Anknüpfens an die klassisch-neuhumanistische Tradition kennt Spranger neben den Werteriebnissen eine noumenale Wertsphäre, und er glaubt an ein allgemeines Humanitätsideal. Vor diesem Hintergrund wäre dann fiir eine Pädagogik, welche sich innerhalb der von Dilthey angewiesenen Grenzen halten wollte, schon bedenklich, daß Spranger in seiner pädagogischen Theorie unter Hinzuziehung eines Bildungsideals Normen zu gewinnen sucht. In dieses Bild fügt sich sein der neukantianischen Pädagogik trotz seiner grundsätzlich ablehnenden Haltung im Hinblick darauf gezollter Respekt, daß sie das Ethische nicht in der bloß subjektiven Bewußtseinsverfassung sucht. Ohne daß Spranger dies damals gewußt haben kann, trafen seine im Zusammenhang der Kritik herbartianischer Positionen vorgetragenen Bedenken gegen die Unterscheidung von Zielen und Mitteln in der Erziehung auch Dilthey, während die südwestdeutschen Pädagogen ganz ähnliche Einwände geltend machten oder doch wenigstens diese Trennung mieden. Die Nähe zu Pädagogik-Konzepten der Südwestdeutschen läßt sich in der Folge nicht unbedingt anband der disziplinären Struktur der theoretischen Pädagogik bestimmen, denn jene ist nicht in dem Maße kontrovers zwischen Dilthey und' den südwestdeutschen Neukantianern, daß sie als trennscharfes unterscheidendes Kriterium dienen könnte. Lediglich Bauch konzipiert Pädagogik im Sinne eines von Spranger abgelehnten erweiterten Herbartschen Modells, in welchem Psychologie und Ethik jeweils um zusätzliche empirische und axiologische Wissenschaften ergänzt werden. Cohn und Johannsen zeigen, daß sehr wohl auch auf dem Boden dieser Philosophie komplexere und anspruchsvollere pädagogische Ansätze möglich sind, welche über eine äußerliche Verbindung empirischer und normativer Disziplinen weit hinausgehen und der integrativen Bildungswissenschaft Sprangers, wie er sie im Vor-

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feld der zwanziger Jahre projektierte, sehr nahe kommen. Andererseits reiht Spranger sich zusammen mit Cohn, Bauch und Johannsen durchaus in die Tradition jener pädagogischen Theoretiker ein, welche die Pädagogik als eine empirisch-nonnative Disziplin konzipieren. Dies mußte solange noch keineswegs einen Gegensatz zu den Vorstellungen Diltheys bedeuten, solange im Zusammenhang der normativen Dimension keine allgemeingültigen Erziehungsziele behauptet wurden. Hier setzte sich nun eigentlich nur Cohn über Diltheys Kritik hinweg. Daß er zwischen einer invarianten Zielfonnel und geschichtlich wandelbarem Inhalt unterschied, ist zwar bedeutsam, wäre aber von Dilthey, der ja auch die fonnale Ethik Kants kritisierte, kaum akzeptiert worden. Johannsen dagegen zieht sich mit Rücksicht auf Diltheys Argumente ausdrücklich vom Anspruch allgemeingültiger Erziehungsziele auf die Behauptung einer invarianten strukturalen Verfassung der Disziplin zulÜck, und Bauch umgeht das Zielproblem geschickt mit seinem Theorem vom Doppelcharakter der Kulturgüter als Bildungsziele und als Bildungsmedien. Sprangers Theorie des Bildungsideals, die sich keineswegs auf eine Normenkritik beschränkte, behauptet hier eine am ehesten der Cohnschen vergleichbare Position. Allerdings enthielt sie in den individuellen Bildungsidealen ein den Südwestdeutschenn fremdes Element, welches dem Allgemeingültigkeitsanspruch von vornherein weitgehend die Spitze nahm. Bedeutsam für eine von Diltheys Pädagogik-Verständnis differente Handhabung des Nonnenproblems ist auch, inwieweit die Ethik als Bezugsdisziplin für die Pädagogik beansprucht wurde. Auf sie greifen alle jüngeren Südwestdeutschen zUlÜck, und Spranger geht hier mit ihnen durchaus konfonn, seine eigenen Bedenken der frühen Jahre z.T. stillschweigend aufgebend und Diltheys Kritik mißachtend. Es wäre freilich dennoch sehr verkürzt, Spranger hinsichtlich seiner Konzeption der theoretischen Pädagogik im Vorfeld der zwanziger Jahre ohne Vorbehalte den südwestdeutschen Neukantianern zuzuordnen: Sein Rekurs auf die auch von diesen als Erziehungswirklichkeit beanspruchte Kultur impliziert mit Rücksicht auf sein anderes Verständnis von Kultur, wonach diese nie nur ein aus irrealen Werten und geschichtlich wandelbarem wirklichem Sein Komponiertes ist, bereits einen ersten Dissens, so gewiß die von ihm angenommene invariant-nonnative Dimension der Kultur auch eine andere als die von Dilthey intendierte Erziehungswirklichkeit konstituierte.

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Eine der Transzendentalphilosophie immanente Neigung, der Theorie der Erziehungswissenschaft gegenüber der Theorie der Erziehung und Bildung einen Primat einzuräumen, zeigt sich deutlich bei Johannsen und in gewisser Weise auch bei Bauch. Insofern wäre Sprangers intensive und extensive Beschäftigung mit den Objekten der Erziehungswissenschaft und sein vergleichsweise verhaltenes Interesse an der Konzeption einer theoretischen Pädagogik eher untypisch für einen neukantianischen Pädagogen. Dagegen steht aber das pädagogische Werk Cohns, in welchem die Gewichte ähnlich verteilt sind. Wenn Spranger im Vorfeld der zwanziger Jahre an den neukantianischen pädagogischen Konzeptionen Natorps und Hönigswalds bemängelte, sie vernachlässigten den Prozeß der Aneignung, Hineinbildung und Verlebendigung der Werte im Educanden und seine Bildung durch sie, so trifft er damit auch eine entscheidende Schwäche der später erst von den jüngeren Südwestdeutschen vorgelegten pädagogischen Theorien, welche ebenfalls zu rasch von der Wertphilosophie zur Pädagogik weiterschritten. Hier gewinnt Sprangers dynamische Fassung der Theorie der Bildsamkeit in seiner Lehre von den Entwicklungsgesetzen als Beleg für ein subtileres Vorgehen an Bedeutung. Die von Spranger bereits in der Zeit zwischen den beiden Fassungen der "Lebensformen" erhobene Forderung, in der Pädagogik müßten alle Geisteswissenschaften zusammentreffen, erhält eine abgrenzende Bedeutung zu den Südwestdeutschen erst in den zwanziger Jahren, nachdem infolge des Manifestwerdens seiner Geistphilosophie deutlich ist, daß diese Geisteswissenschaften nicht deckungsgleich mit den Kulturwissenschaften im Verständnis der Südwestdeutschen sind. Die beanspruchte Dimension invarianter Normen der Geisteswissenschaften im Verständnis Sprangers impliziert, wie seine Handhabung des Normenproblems zeigt, eine bleibende Differenz zu Diltheys Pädagogik: Auch in den späteren zwanziger und in den dreißiger Jahren, die sich sonst durch eine historische Öffnung auszeichnen, hält er nicht nur an der Bezugsdisziplin Ethik fest, er behauptet auch explizit einen ewig gleichen Bildungssinn. Allerdings geht er weiterhin nicht über formale Schemata und abstrakte Umschreibungen von Normen hinaus und verlegt die Erfahrung ihres konkreten Anspruchs in der Richtung jener Tendenz, welche sich schon im individuellen Bildungsideal des Vorfeldes der zwanziger Jahre abzeichnete, in das Innen der reinen Gesinnung. Aber auch dies ist unzweifelhaft ein zwar nicht unbedingt neukantianischer, aber doch ein Kantischer Zug seiner Theorie des Bildungsideals, der sie nach wie vor zum Fremdkörper in einer pädagogischen Theorie im Verständnis Diltheys macht.

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Daß Sprangers Pädagogik auch noch nach den zwanziger Jahren erklärtermaßen auf invariante Strukturen ausgeht, bedeutet keinen so markanten Unterschied zu den Auffassungen Diltheys, wie es zunächst scheinen könnte: Denn dies soll offenbar nur besagen, daß sie, wie jede Wissenschaft, ihren Gegenstand als identischen setzt. Dem hätte auch Dilthey schwerlich widersprochen. Aber ebenso lag eine solche Wissenschaftskonzeption, wie das Beispiel Johannsens belegt, im Umkreis neukantianischen Denkens. Die schon während der Jahre zuvor in Abweichung von neukantianischen Positionen vollzogene Dynarnisierung in der Theorie der Bildsamkeit wird in den psychologischen Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre weitergeführt. Und im Aufzeigen der Konstituentien des persönlichen Ideals versucht Spranger nun auch, der Theorie des Bildungsideals eine geschichtliche Wendung zu geben. In diesen Zusammenhang gehört ferner sein Bemühen, die Problematik der Bildungsideale mit verstärktem Bezug auf die konkrete historische Situation zu reflektieren und Bildungsideale von zeitlich-räumlich begrenzter Gültigkeit zu formulieren. Daß sich solche Versuche bei den pädagogischen Denkern der Südwestdeutschen Schule nicht finden, belegt, daß sie trotz programmatischer Offenheit für historische Gegebenheiten, an der Ausführung ihrer Konzepte gemessen, offenbar doch kein sehr inniges Verhältnis zur Geschichte hatten. Insbesondere Sprangers zu Beginn der dreißiger Jahre skizziertes Konzept einer theoretischen Pädagogik beansprucht die geschichtliche und gesellschaftliche Dimension in einem stärkeren Ausmaß als die Entwürfe der Südwestdeutschen und scheint sich darin wieder sehr auf Diltheys Pädagogik-Verständnis zuzubewegen. Im Hinblick auf die vorliegenden Durchführungen erweisen sich jedoch die Entsprechungen als überwiegend vordergründige. Wo Dilthey auf Erfahrungswissenschaften des menschlich-geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens zu bauen sucht, supponiert Spranger größtenteils philosophische Disziplinen: An die Stelle der Historie tritt die Geschichtsphilosophie, die Gesellschaftswissenschaften werden durch Kulturphilosophie ersetzt und den Platz der beschreibenden und vergleichenden Psychologie Diltheys nimmt die objektiv-sinnverstehende Psychologie Sprangers ein. Seine Pädagogik ist, ähnlich wie diejenige Cohns, ihrem ganzen Aufbau nach philosophisch. Es ist wohl doch nicht so zufaIlig, daß Spranger seine Pädagogik meist eine philosophische und kaum je eine geisteswissenschaftliche nannte. Daß innerhalb dieses Rahmens eine ganze Reihe einzelner Theoreme Diltheys in mehr oder weniger modifizierter Form aufgenommen werden, ist demgegenüber von nachgeordneter Bedeutung.

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In der Spur des Diltheyschen Ansatzes bleibt Sprangers Pädagogik die ganze Zeit über jedoch als eine erklärtermaßen praktische Disziplin. Daß der Praxis die Theorie erst folgt, gehört zwar ebenso zu den Grundpositionen des Kritizismus. Doch ist sein Verfahren das Aufzeigen der Bedingungen ihrer Möglichkeit; die hermeneutische Methode, welche die Selbstbesinnung in Gang setzt, ist ihm letztlich fremd. So will Johannsens "kritische Pädagogik" zwar die Vernunft in der Praxis der Erziehung fassen, was aber offenkundig heißen soll: auf den Begriff bringen. Und die von Cohn beanspruchte "Praktikabilität" der Pädagogik weist sie gleichfalls nicht als eine dem Programm der Selbstbesinnung verpflichtete Wissenschaft aus. Sprangers Konzept kann insoweit also wirklich in die Nähe der Diltheyschen Pädagogik gerückt werden. Die Verortung der von Spranger konzipierten theoretischen Pädagogik zwischen Dilthey und den pädagogischen Denkern der südwestdeutschen Neukantianer kann nur mit großen Vorbehalten versucht werden, da keine durchgängige Differenz zwischen diesen und jenem vorliegt. Im großen wld ganzen durchlaufen auch Sprangers Vorstellungen zur theoretischen Pädagogik die häufiger zu beobachtende Entwicklung von anfänglicher Nähe zu Dilthey über eine Phase stärkerer Gemeinsamkeiten mit den Neukantianern zu einer eigenständigen Position, welche z. T. Elemente von beiden Seiten enthält. Aber ihr Verlauf ist weniger prägnant als in anderen Teilen des Sprangerschen Werkes.

12. ~usammenfassung Spranger stand nur in den frühen Jahren bis zur Arbeit an der Habilitationsschrift über Wilhelm von Humboldt unter einem stärkeren, aber auch in dieser Zeit nie völlig unmodifizierten Einfluß Diltheys. Über diese Zeit hinaus zeigt sich allein sein Lebensverständnis im gesamten Untersuchungszeitraum als ein deutlich von Dilthey geprägtes. Vor allem in den Jahren von 1914 bis 1920 ist eine intensivere Auseinandersetzung mit Kantischem und neukantianischem Gedankengut der südwestdeutschen Schule sowie in mehrfacher Hinsicht auch eine Nähe zu dieser zu beobachten, hauptsächlich in der Wertphilosophie, der Verstehenstheorie, der Psychologie und Pädagogik, welche Spuren im späteren Werk hinterläßt. Gleichwohl kann Spranger, wie ein Vergleich mit den jüngeren Vertretern der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus vollends deutlich macht,

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auch für diesen eng umgrenzten Zeitraum allenfalls mit erheblichen Einschränkungen als der psychologische und pädagogische Vollstrecker Windelbands und Rickerts gelten. Von 1921 an bis zum Ende des Untersuchungszeitraums steht Spranger als Philosoph allem Anschein nach stärker in der Nachfolge Hegels. Dadurch bedingt, vollzieht er eine historische Öffnung und nähert sich insofern wieder manchen Positionen Diltheys, ohne jedoch den einmal errungenen Standpunkt des Absoluten preiszugeben. Zugleich findet die Auseinandersetzung mit den Neukantianern damit im wesentlichen ihren Abschluß.

Joachim S. Hohmann

Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Eduard Sprangers In memoriam Hans Schmidt (1914 - 1989)

A. Einleitung 1. Sprangers geistige Persönlichkeit Wie jedes menschliche Werk ist auch das philosophische Schaffen Eduard Sprangers das Produkt zweier Faktoren: seiner geistigen Persönlichkeit und der geistigen Situation seiner Zeit. Jeder menschliche Erkenntnisakt ist zeit- und situationsgebunden, denn nach Theodor Litt ist der Erkennende immer an den Lebenden gekoppelt. Die zwei Pole, an denen sich Sprangers geistiges Schaffen orientiert, sind: Tun und Denken. Er ist Philosoph und Pädagoge. Das philosophisch Erdachte muß sich im pädagogischen Tun bewahrheiten: das Ideal und das Leben. Jeder Philosoph fragt im letzten nach dem Sinn der Welt und des menschlichen Lebens, denn im menschlichen Geist - wie es Hegel sagt - wird sich die Schöpfung ihrer selbst bewußt. Das Bewußtsein seiner selbst gibt dem Menschen in der Reflexion einen geistigen Lebensraum, den der Philosoph erweitert und systematisiert. Als Orientierungspunkte leuchten dabei Sinn und Wert auf: der Sinn ordnet das Denken, der Wert leitet das Gefiihl des Menschen. Sinndenken und Werterleben gestalten sich in der Philosophie. Spranger stellt diese Frage nach dem Sinn der Welt und des menschlichen Lebens vom geschichtsphilosophischen Standpunkt aus und ordnet den Menschen wie Hegel in einen großen metaphysischen Zusammenhang der Ent-

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wicklung ein. Hierbei sind Individualität und Kultur die beiden Zentralgedanken, sie sind fiir ihn nicht voneinander zu trennen. Die geistige Entwicklung des Menschen als Individuum ist an die objektiven Geistesgebilde, wie Menschheit, Volk, Kultur, Sprache und Kunst gebunden und in sie verwoben. Diese aber haben wieder ihre Wurzeln und ihre Wirklichkeit in der individuellen Psyche. Die geistigen Objektivitäten sind an das Physische geheftet und verdanken ihm ihre Dauerform, sie sind zugleich seelisch bedingte Wirkungszusammenhänge, denen das Ich dauernd eingelagert ist. Die geistigen Objektivitäten haben außer den materiellen Ansatzflächen und dem seelischen Wechsel- und Zusammenwirken, wodurch sie sich geschichtlich-gesellschaftlich aufbauen, noch einen überindividuellen Sinn, der in ihnen enthalten ist. Dieser überindividuelle Sinn wird vom Menschen als zeitloser Wert erlebt. Für Spranger ist dabei das Ewige Grundlage und Richtungsfunktion. Eduard Spranger philosophiert nicht wie ein Systematiker, sondern gleichsam wie ein Kunstschaffender. Diese künstlerische Grundhaltung dem Leben gegenüber darf keineswegs bei ihm übersehen werden. Das Leben klingt fiir ihn wie eine große Symphonie auf, mit ihren Stimmen von dumpfer Andeutung bis zur klaren Melodienfiihrung - er denkt Harmonierung und Rhythrnisierung des menschlichen Daseins in geistiger Sicht: "Um mit einem Bilde zu sprechen, das fiir mich grundlegend ist: Man muß sich gewöhnen, aus der rauschenden Symphonie des Lebens die begrenzte Anzahl von Leitmotiven herauszuhören, aus denen sie zusammengewoben ist" (Lebensformen, Tübingen 1950, S. 33). Es ist charakteristisch fiir diese, seine künstlerische Einstellung, daß Spranger sein erstes großes Werk über Wilhelm von Humboldt schreibt. Aus dieser Einstellung heraus ist auch seine innere Verwandtschaft zu und seine intensive Beschäftigung mit Goethe zu verstehen. Dieses theoretische KünstIertum weitet sich in seiner Pädagogik zu einem tätigen aus: Das Problem der Menschenformung beschäftigt ihn während seines ganzen Lebens. Aus den ästhetischen Komponenten seines Wesens ist es erklärlich, daß fiir ihn der Eros die tiefste, idealbildende Lebensrnacht ist. Aus diesem Eros heraus weiß er auch die Jugend in ihrer seelischen Entwicklung zu verstehen. Seine Phantasie ist voller Tiefe und Reichtum. Sie läßt ihn nie zu einem Theoretiker werden und verleiht seinem Stil eine volle künstlerische Bildhaftigkeit. Dieser ist großartig in seiner strengen Intention auf Wahrheit.

Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Sprangers

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Spranger ist der Durchschauende und der Liebende, der Idee und Liebe im Sinne des Goethischen "West-Östlichen Diwan" vorlebt. Der Gedankenaufbau seiner Werke ist von durchsichtiger Klarheit. Spranger reflektiert in seinem Philosophieren das Angeschaute und das Erlebte ins Typische, opfert es aber dabei nicht dem Abstrakt-Begrifilichen. Aus dieser Geistesart wird auch sein "idealtypisches Verfahren" verständlich: "Die Erscheinungen werden zuerst isoliert und idealisiert; dann aber tritt die totalisierende und individualisierende Betrachtung hinzu" (Lebensformen, S. XIII). Sprangers Inneres wird bewegt vom ethischen Schwung, er hat "die Energie des Aufschwunges, ohne die die Anerkennung und Durchsetzung des höheren Wertes in der Seele nicht gelingt" (Lebensformen, S. 324). Sein Philosophieren entwickelt sich aus seiner Persönlichkeit. Der Kern seines Wesens ist tiefste Religiosität im Goethischen Sinne der dreifachen Ehrfurcht. Sie ist "Weltfrömmigkeit", die aus diesem Ansatz ins Metaphysische durchstößt. Seine religiöse Haltung wird aus seinem Protestantismus verständlich: "Es handelt sich um den Versuch, der Lösung Schelers, die der katholischen Weltanschauung nahesteht, eine Auffassung gegenüberzustellen, die der vom Protestantismus geschaffenen Bewußtseinslage entspricht" (Lebensformen, S. XIV). Aus diesem Protestantismus heraus erklärt sich auch die Bedeutung des persönlichen Gewissens in seiner Wertlehre. Es ist das Organ, durch das der Einzelne erfährt, was er in einer einmaligen Situation tun soll. Es verbindet die menschliche Seele im Normerlebnis mit dem Absoluten. Dieses Normerlebnis macht dem Menschen den absoluten Weltsinn einsichtig: "Sittlichkeit ist nichts anderes als das in unserem Busen wirksame Weltgesetz, das uns eine wertvolle Gestalt unseres eigenen Inneren vorschreibt" (Lebensformen, S. 285). Goethe sagt:

Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne deinem Sittentag. Abschließend wäre noch zu erwähnen, daß Sprangers Persönlichkeit voller humanitas und urbanitas im spätrömischen Sinne ist. Diese urbanitas verleiht ihm eine heitere Selbstsicherheit. Zusammenfassend stellen wir fest, daß Sprangers geistige Persönlichkeit sich auf tiefer Religiosität protestantischer Prägung gründet. Dieser Religiosität entwächst seine Sittlichkeit mit besonderer Betonung des persönlichen Gewissens. Er erlebt das Wirkliche als ästheti9 Hohmann

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sches Phänomen und ergreift es im Eros. Phantasie und Typendenken lassen das Erlebte und Erschaute in seinem Philosophieren geistige Gestalt gewinnen.

2. Die Grundlagen der Sprangersehen Philosophie Sprangers Philosophieren entwickelt sich in einem geschichtlichen Zusammenhang und ordnet sich ein in die große Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Dieses Problem klingt auf bei Leibniz, der ewige Wahrheiten (veritees eternelles, Vernunfterkenntnisse, auch veritees de raison) von Tatsachenwahrheiten (veritees de fait) unterscheidet. Die ersten beruhen auf dem Satz des Widerspruches, ihr Gegenteil ist schlechthin undenkbar, z.B. die Erkenntnisse der Mathematik und der Metaphysik. Die zweiten dagegen enthalten Erfahrungsinhalte z.B. die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, jedoch keine logische Notwendigkeit. Ihre Erkenntnis beruht auf dem Satz vom zureichenden Grunde, nach dem jede Erscheinung eine Ursache haben muß. Dieses Problem wurde von Kant klar erkannt und prägnant formuliert. Er trennt das Reich der Naturwissenschaft von dem Bereich der Freiheit. Das Reich der geordneten Erscheinungen nennt er die Natur. Der Verstand schreibt dieser die allgemeinen Gesetze vor. Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Naturwissenschaften gibt Kant in der ,,Kritik der reinen Vernunft". Der Bereich der Willensfreiheit wird von den regulativen Ideen Unsterblichkeit, Seele und Gott beherrscht. Die Gegenstände, auf die sich der Wille bezieht, werden nur durch die Erfahrung gegeben. Kant behandelt diesen Fragenkomplex in der "Kritik der praktischen Vernunft". Die Welt des Fühlens verbindet beide Bereiche. In der ,,Kritik der Urteilskraft" sucht Kant nach Gesetzen, die den Bereich der Gefühle, nämlich von Lust und Unlust, beherrschen. Das Gebiet des Schönen und Erhabenen durchdenkt die reflektierende ästhetische Urteilskraft. Die reflektierende teleologische Urteilskraft sucht hinreichende ErklärungsgrüDde fur die organische Natur, da die mechanischen Naturgesetze zu ihrer Erklärung unzureichend sind. Sie entdeckt die subjektiven Erklärungsmöglichkeiten des "Als - Ob", nämlich der Zweckmäßigkeit.

Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Sprangers

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Wir werden im ersten Hauptteil auf dieses Problem zurückkommen, wenn wir den philosophischen Grundbegriff Zweck aufzuhellen versuchen. Die Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erreicht am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, als der naturwissenschaftliche Positivismus (Büchner, Häckel, Mach) glaubte, alles Geschehen, auch im Bereich des Geistes, nach naturwissenschaftlichen Gesetzen erklären zu können, und Geist nur als Produkt des materiellen Gehirns ansah. Zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang noch Lotze, Fechner und Wilhelm Wundt, die sich um die Philosophie als eine positivistische WissenschaftsSynthese bemühten. Philosophisch-systematisch gesehen handelt es sich im letzten um das Problem des Allgemeinen und des Besonderen. Spranger geht hierauf in seiner Dissertation "Die erkenntnistheoretischen und psychologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft", Berlin 1905, ein und stellt fest: " ... daß schließlich der sachliche Gegensatz von Natur und Kultur als relativ zulässig bestehen bleibt ... Da die fortschreitende Entwicklung dahin ging, auch die irrationalen Tatsachen des Lebens, die Welt des Handeins, des Historischen, des Psychologischen der philosophischen Erfassung zu unterwerfen, so lag das Schwergewicht der Fortbildung auf dieser Seite" (S. 9). Hier hören wir zum ersten Male das lebensphilosophische Element aus dem Sprangerschen Philosophieren heraus. Wir werden im zweiten Hauptteil bei den psychologisch-historischen Werken auf die Dissertation noch ausfiihrlich eingehen. Sprangers geistige Heimat ist der Neuhumanismus, an ihm entzünden sich seine Philosophie und seine Pädagogik. Er stellt die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen seines Denkens. Berlin ist die physische und geistige Heimat Eduard Sprangers. Er ist Erbe des deutschen Idealismus, aus der Tradition des 19. Jahrhunderts von Goethe und Schiller, Hegel und Humboldt bis zu Dilthey und Windelband. Die Gedanken und Systeme des Idealismus entwickeln sich auf dem Fundament der Kantischen Philosophie, teilweise als Fortfiihrung, teilweise im Widerspruch zu ihr. In Kants Philosophie war ein Gleichgewicht zwischen Spekulation und Tatsächlichkeit hergestellt. Er hatte versucht, in seiner "Kritik der Urteilskraft" die Synthese von theoretischer und praktischer Vernunft herzustellen. Im

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letzten hatte er den menschlichen Geist auf die Bereiche der Erscheinungen und des sittlichen Tuns begrenzt. Die eigentliche Realität, "das Ding an sich", hatte er ausgeklammert. Im Idealismus wird die Frage nach diesem, nach dem Absoluten, dem Göttlichen, neu gestellt. Im spekulativen Idealismus von Fichte, Schelling und Hegel wird es als Geist gedeutet. Im humanistischen Idealismus von Humboldt und Schleiermacher wird es im humanum transparent. Im magischen Idealismus eines Novalis und Carl Gustav Carus ist es die schöpferische Phantasie in den Grenzen genialer Besonnenheit. So stellt der Idealismus den Menschen wieder in die eigentliche Realität; Fichte von der sittlich-aktiven Religiosität her im subjektiven Idealismus, Schelling und Hegel im objektiven Idealismus reihen ihn einerseits ein in den schöpferischen Urgrund der Natur und andererseits in die Weltgeschichte des absoluten Geistes. Der Idealismus stellt die philosophische Ausprägung des Neuhumanismus dar, speziell bei Wilhelm von Humboldt wird die Humanitätsidee klar gestaltet. Zweimal in der Neuzeit hat der humanistische Gedanke Macht gewonnen, einmal in der Renaissance und dann im Neuhumanismus. Dieser will durch Kultur des Geistes und der Seele eine höhere Seinsform des Menschen, die Humanität, erreichen. Herder nennt in seinen ,,Briefen zur Beförderung der Humanität" diese "das Göttliche, den Charakter und die Kunst unseres Geschlechtes" (Herders Werke, IV. Band, S. 107). In Fichte findet der neuhumanistische Bildungswille seinen stärksten Ausdruck. Er stellt das Ich in die Mitte alles Existierenden. Dieses Ich ist ein lebendiges, geistiges Subjekt. Aus ihm leiten sich das Selbstbewußtsein und die Bewußtseinsphänomene ab: "Ich bin derjenige, der sich selber schafft". Der Mensch ist frei zum Guten und gestaltet sich selbst. Fichte glaubt an die "wahre Erziehung", deren Hauptmittel "die Veranlassung zur Tat" (Fichte, Reden an die deutsche Nation, PhiI. BibI., Fichtes Werke, Bd. V, S. 399) und somit zur geistigen Betätigung ist. Der Mensch liebt die von ihm geschaffene geistige Welt. Aber es gibt kein Ich ohne ein Du. Der freie Wille steht einem anderen freien Willen gegenüber. Hieraus ergibt sich eine Welt geistiger Beziehungen, die wir als objektiven Geist bezeichnen können. Die volle Sittlichkeit entfaltet sich nach Fichte wie auch nach Kant nur in der Gemeinschaft.

Sinn, Wert, Zweck Wld Struktur in der Philosophie Sprangers

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Spranger folgt Fichte in seiner Auffassung des Ethischen. Beide betonen, daß Sittlichkeit Selbstbestimmung durch ein objektives, außerpsychisches Gesetz ist. Während Fichte die Vollendung des Menschen von seiner Aktivität abhängig macht, wirkt bei Schelling, Schleiennacher und Humboldt der ursprünglich einheitliche Urgrund von Natur und Geist selbständig im Menschen, in der Natur und in der Geschichte: "Natur ist die Idee als wirkende Macht; die Idee ist die Natur als reflektierter Gedanke" (Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 205 und 209). Im objektiven Idealismus wird die Idee durch das Beschauliche, Ästhetische erkannt. Ästhetisches Anschauen ist eine Art von Denken (Goethe). Mit den Gedanken und Anschauungen Wilhelm von Humboldts werden wir uns noch eingehend bei der Besprechung von Sprangers Werk: "Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee" beschäftigen. Nach Hegel ist nichts wirklich außer dem Geist: "Der Geist und der Verlauf seiner Entwicklung ist das Substantielle" (Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 27). Der Geist entfaltet sich in der geschichtlichen Entwicklung. Aufgabe des Menschen ist es, die Vernunft in der Weltgeschichte zu erkennen. Im Bewußtsein des Menschen weiß der Geist sich selbst. Die Entfaltung des Geistes vollzieht sich in drei Stufen: 1. im subjektiven Geist des Menschen, 2. im objektiven Geist des Sozialen und Kollektiven und 3. in der höheren Einheit des absoluten Geistes. Er ist die Totalität des geistigen Lebens überhaupt. Nach Spranger entwickelt sich die Geschichte im Zusammenwirken des Absoluten und des Tuns der menschlichen Seele. Dichterische Ausprägung hat die Humanitätsidee in Goethes Werken "Faust" und" Wilhelm Meister" gefunden. So bilden die Geschichtsmetaphysik des deutschen Idealismus und die Bildungsidee des Neuhumanismus den Ausgangspunkt fiir Sprangers Philosophieren. Beide Ideen wurden Eduard Spranger durch seine Lehrer Friedrich Paulsen und Wilhelm Dilthey vermittelt. Paulsen sieht im deutschen Idealismus und Klassizismus Höhepunkte des Geistes und des Gemütes, deren Schöpfungen als Bildungsgüter ideal geeignet sind von der Volksschule bis zum Gymnasium.

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Mit Wilhelm Dilthey kommen wir wieder zu unserem ersten Problem, der Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zurück. Dilthey ist der Repräsentant des historischen Bewußtseins. Die Geschichtsmetaphysik des Idealismus sieht in der Geschichte die Verwirklichung des absoluten Geistes. Im Wirken der Geschichte kann man diesen erkennen. Alle Phänomene der geistigen Welt sind Produkte der geschichtlichen Entwicklung. Das geistige Sein ist in der Entwicklung und nichts Festes. Wie ist nun ein Verständnis der Geschichte möglich? Ein bloßes Wissen der historischen Daten reicht dazu nicht aus, sondern man muß den historischen Prozeß nacherleben und nacherzeugen können, wenn man an ihm teilhaben will. Durch dieses "Erlebnis" wird fiir Dilthey erst das Verstehen möglich. Man muß das geschichtliche Geschehen erst seelisch nacherleben und seiner innewerden, dann kann man es auch verstehen. Für Dilthey ist das eigene Erleben grundlegend fiir das Verstehen, fiir Spranger nicht. Bei ihm ist es die "Gleichgesetzlichkeit", welche das Verstehen ermöglicht (Lebensformen, S. 412). Sie bildet die Grundlage dazu. Psychisches Sein ist nach Sprangers Ansicht isoliert, und erst geistiges Leben bildet die Brücke zwischen den einsamen Einzelseelen. Geistiges Leben ist rur ihn aber immer strukturiertes Leben, gesetzmäßig aufgebaute Sinngebung und Sinnempfang. Mit diesem Problem des Verstehens wurde Spranger durch Wilhelm Dilthey konfrontiert. Dieser bemühte sich um die erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Letztere haben einen apriori gegebenen logischen Zusammenhang dadurch, daß unser Verstand der Natur nach Kant die Gesetze vorschreibt. In Analogie zu Kants "Kritik der reinen Vernunft" schwebt Dilthey eine "Kritik der historischen Vernunft" vor. Im Gegensatz zur Geschichtsmetaphysik des Neuhumanismus und auch im Gegensatz zur geisteswissenschaftlichen Psychologie Sprangers will Dilthey aus der faktisch gegebenen geschichtlich gewordenen geistigen Welt das Wesen des geistigen Seins herauslesen. Wie Husserl geht auch Dilthey von der inneren Wahrnehmung, nämlich vom "Erlebnis" aus. Er lehrt, daß wir das Seelenleben verstehen und die Natur erklären. Die Realität besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewußtseins. Die Analysis dieser Tatsachen ist das gedachte Zentrum der Geisteswissenschaften. So sucht Dilthey den Zugang zu den Objektivationen des geistigen Seins im Erlebnis als ursprünglich gegebener Realität: "Die Urzelle der geschichtli-

Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Sprangers

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chen Welt ist das Erlebnis" (Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. VIII, S. 118 und 161). Im Erleben liegt der Zusammenhang der Geisteswissenschaften, es bildet die Grundlage des Verstehens: "Nicht begrifiliches Verfahren bildet die Grundlage der Geisteswissenschaften, sondern Innewerden eines psychischen Zustandes in seiner Ganzheit und Wiederfinden derselben im Nacherleben. Leben erfaßt hier Leben" (Dilthey, ebenda, S. 118 und 136). Erlebnis, Ausdruck und Verstehen bedingen die geisteswissenschaftliche Begriffsbildung: "Vom Erlebnis geht ... eine direkte Linie von Repräsentationen bis zu der Ordnung der Begriffe, in der es denkend aufgefaßt wird" (Dilthey, ebenda, S. 139). In den Naturwissenschaften gibt es Formalkategorien, in den Geisteswissenschaften Realkategorien (Wirkungszusammenhänge) wie Kraft, Bedeutung, Wert und Zweck, bei Spranger Sinn, Wert und Struktur (Sinnzusammenhänge). Als Diltheyschüler will Spranger Historisches und Psychisches nicht beschreiben und zergliedern, sondern erleben, innewerden und verstehen. Daher nimmt die geisteswissenschaftliche Psychologie in seinem Schaffen eine ZentralsteIlung ein und verbindet sich methodisch mit einer philosophischen Wertlehre im Verstehen und Sinndeuten. So erklären sich die Hauptanliegen seines geistigen Schaffens: 1. die erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften, 2. die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Psychologie, 3. das Verstehen von Struktur und Gestalt im Seelischen, Künstlerischen und Religiösen: So erscheint Sprangers Feststellung logisch, daß er sich "die Aufgabe gestellt habe, geistige Erscheinungen strukturell richtig sehen zu lehren" (Lebensformen, S. IX). Um die Bedeutung der philosophischen Grundbegriffe Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Eduard Sprangers klären zu können, versuchen wir, diese im ersten Hauptteil sprachlich und philosophisch zu erhellen. Im zweiten Hauptteil betrachten wir dann die Werke des Philosophen und zeigen im dritten Hauptteil, welche Funktion die vier Hauptbegriffe im Sprangerschen Philosophieren ausüben.

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B. I. Hauptteil Sprachliche und philosophische Klärung der philosophischen Grundbegriffe Sinn, Wert, Zweck und Struktur

1. Sprachliche Klärung a) Sinn Bevor wir die philosophischen Grundbegriffe Sinn, Wert, Zweck und Struktur im Werke Eduard Sprangers betrachten, halten wir vorerst ihre sprachliche Klärung für notwendig. Spranger schreibt in seiner "Magie der Seele" (Tübingen 1949): "Es wäre durchaus nützlich, mit sondernden Betrachtungen über den Sprachgebrauch zu beginnen und erst einmal die geheime Weisheit der Sprache zu befragen" (S. 50). Wir wollen damit einen objektiven Hintergrund schaffen, von dem sich die Anwendungsformen dieser Begriffe bei Eduard Spranger klar abheben. Das Wort Sinn wird im Deutschen Wörterbuch, im folgenden kurz mit "DW" bezeichnet, von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm (Zehnten Bandes Erste Abtheilung, Leipzig 1905) in den Spalten 1103 bis 1152 besprochen. Wir geben die Hauptbedeutungen gekürzt wieder. Dort lesen wir über Sinn, lat. sensus, animus, sententia: "die ursprünglich bedeutung der wurzel war augenscheinlich die einer ortsbewegung ... daneben findet sich die Übertragung in die geistige sphäre ... " Eine Handlung hat Sinn, wenn sie ein Ziel verfolgt, eine Entwicklung hat Sinn, wenn sie einem Ziel zustrebt. Zum Beispiel ist die Aristotelische Entelechie als "geprägte Form, die lebend sich entwickelt" (Goethe) Entwicklungsziel und Entwicklungssinn in einem. Das menschliche Geistesleben kristallisiert sich um die Frage nach dem Sinn, manchmal freilich bloß unbewußt. Das Organ, mit dem sich der Mensch dabei orientiert, bezeichnet der Volksmund als "inneren Sinn". Sinn bezeichnet: "allgemein ... das innere wesen des menschen ... die einem jeden eigenthürnliche geistig-seelische veranlagung, die seine sonderart ausmacht".

Sinn, Wert, Zweck lUld Struktur in der Philosophie Sprangers

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Der Sinn "ist zunächst das organ und der sitz alles strebens, wollens, verlangens ... als treibende macht zum handeln ... ". Das Wort Sinn gibt nicht nur die Richtung des menschlichen HandeIns im geistigen Raum an, sondern bezeichnet auch das Zentrum, in dem der Mensch seine Entscheidungen fällt: "im sinne geschehen daher willensbestimmungen, entschlüsse, vorsätze ... daneben steht sinn auch mehr objektiv und spezialisierend für absicht, wille, lust ... der sinn einer handlung u. a. die absicht, die man damit verfolgt". Auf die heutige Bedeutung des Wortes Sinn wird in folgendem hingewiesen: "im mhd. und im 16. jahrhundert steht sinn überaus häufig für gedanke, plan, anschlag, ausweg, mittel, list und ähnl. ... einen sinn erdenken, (bedenken, gedenken, denken) ... einen sinn finden, erfinden." "in neuerer zeit ist sinn nur noch üblich und sehr gewöhnlich von der bedeutung 'meinung', dem geistigen gehalte, der tendenz einer äuszerung, eines werkes oder (seltner) einer handlung ... ". Zusammenfassend stellen wir fest: das Wort Sinn bedeutet ursprünglich eine ortsbewegung (1103,3), bezeichnet allgemein das innere Wesen eines Menschen (1105) und die ihm eigentümliche geistig-seelische Veranlagung (1106), zugleich das Organ und den Sitz allen Strebens, Wollens und Verlangens (1108), gleichbedeutend mit Vernunft (1128). Übertragen auf das Geistig-Seelische, gibt das Wort die Richtung einer Entwicklung an, die der Mensch mit "äußeren Sinnen und dem inneren Sinn" erkennt, als Wert erlebt und zum Ziel seines HandeIns macht. Abschließend nennen wir noch die Negationen des Wortes Sinn: Unsinn, Widersinn, Sinnlosigkeit und Irrsinn.

b) Wert

Am Schluß unserer sprachlichen Betrachtung des Wortes Sinn stellten wir fest, daß Sinn als Wert erlebt wird. Wir wenden uns nun dem Wort Wert zu, über das wir im "DW" (Vierzehnter Band, I. Abt., 2. Teil, Leipzig 1960) in Spalte 460 lesen: " ... im nhd. genus masculinum erklärt sich wohl aus anlehnung an sinnverwandte masculina wie kauf und preis ebenso wie lat. pretium und griech. 't1.J.11l, denen es in früheren germanischen texten entspricht, bezieht sich wert auf das 'wert-sein' und das 'wert-seiende' in mannigfacher anwendung. beide

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gebrauchsweisen finden sich schon im ahd., zufrühst im speziellen sinne von 'preis' und kaufsumme, wenig später die bedeutungen 'geltung', (wert-)schätzung, bedeutung und 'güte': 'qualität'. im neueren dt. wird substantivisches wert zudem auf mannigfache (wert)-objekte, materielle und geistige güter bezogen, ohne daß andererseits sein anwendungsbereich durch das vordringende preis wesentlich geschmälert worden ist, es wird ein wichtiges fachwort der volkswirtschaft und philosophie, dessen inhalt umstritten und oft definiert worden ist". Abschließend stellen wir fest, das Wort Wert kann das Wert-sein und das Wert-seiende bezeichnen. Unberücksichtigt bleibt im "DW", daß der Wert durch das Werten und Schätzen gesetzt wird.

c) Zweck

Für das Sprachgefiihl sind die Wörter Sinn und Zweck bedeutungsverwandt. Eine Handlung ist sinnvoll, wenn sie den beabsichtigten Zweck erreicht. Wir legen unserer sprachlichen Betrachtung wieder das "DW", und zwar den Sechzehnten Band (Leipzig 1954, Spalte 955-963) zugrunde: "Zweck bezeichnete in der zeit der armbrust- und büchsenschieszen das ziel, nach dem geschossen wurde ... die allgemeine begriffliche bedeutung des wortes ... bezeichnet, was man mit einer Handlung will. die aufgabe, um deren willen sie geschieht, das ergebnis, das irgendwie hinter der handlung als endpunkt steht ... man fuhrt wohl absichten aus, aber nicht zwecke. für diese denkweise steht der zweck am ende des weges der gedanken und erscheint als endursache, wodurch der begriff der ursache umgekehrt wird ... der zweck ist für die vernünftige betrachtung begreiflich, verspricht vor allem gewinn und nutzen ... umgekehrt ist rur das denken, das sich über die vernunft hinaus erhoben hat, der nur begreifliche zweck etwas minderes, das reale im gegensatz zum idealen". Wir definieren: Zweck stellt ein äußeres Ziel dar und ist immanent, Sinn bezieht sich auf einen größeren Zusammenhang und ist transzendent.

Sinn, Wert, Zweck \llld Struktur in der Philosophie Sprangers

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d) Struktur

Einen Zweckzusammenhang kann man Struktur nennen. Das Wort Struktur wird im "DW" (Zehnter Band, IV. Abteilung, Leipzig 1942) in den Spalten 90 bis 92 besprochen. Struktur, lat. structura bezeichnet: "bauart, äuszerer bau; innerer aufbau, gliederung ... beide anwendungen (werden) übertragen auf den menschlichen körper und seine teile ... ".

Außerdem ist das Wort "als term. techno aus der antike in sprache der mathematik und grammatik vererbt." In der Bedeutung "grundlage, aufrisz, innerer aufbau, gliederung (hat sich das Wort) bes. seit 1800 entwickelt." So spricht Schiller von der "unveränderlichen struktur der menschlichen seele". Weiter heißt es im "DW": "unter einwirkung der entwicklung in den naturwissenschaften (vgl. strukturchemie) (bezeichnet dieses Wort) in der modernen psychologie: (einen) begriff, der dem aufbau des ganzen aus den teilen zugewendet ist". Der Begriff Struktur wurde von Dilthey ausgebildet, besonders seit 1894: "Ich gehe von der Struktur des Seelenlebens, von dem System der Triebe aus" (an GrafYorck, JaD. 1890, Briefwechsel, S. 90, nach dem DW zitiert). Neu abgeleitet werden von dem Wort Struktur die Adjektiva: strukturell und strukturiert.

2. Philosophische Klärung Nachdem wir die fiir uns wichtigen Begriffe sprachlich geklärt haben, wenden wir uns nun ihrer philosophischen Betrachtung zu.

a) Sinn

Das Wort Sinn umreißt einen geistigen Gehalt. Im Gegensatz zur Naturwirklichkeit gibt es eine Sinnrealität. Nur das auffassende Bewußtsein des Menschen kann einen Sinn erkennen. Der Sinn kann sich auf ein Äußeres und ein Inneres beziehen. Das durch das Äußere ausgedrückte Innere wird dem Menschen durch den Strukturzusammenhang seiner Seele verständlich. Das

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Joachim S. Hohmann

Wort Sinn umschließt also einen Bedeutungs- und einen Ausdrucksgehalt. In dem Begriff Sinn wird ein Wert oder eine Wertbezogenheit intendiert. Dem Wort Sinn sind Zweck und Bedeutung nahe verwandt. Nach Rickert steht der Sinn in Zusammenhang mit Wert. Er unterscheidet einen "transzendenten" und einen "immanenten" Sinn. Der transzendente Sinn stellt einen reinen Wert, besonders die Wahrheit dar: "Wo wir einen wissenschaftlichen Satz, also ein theoretisches Gut, als wahr verstehen, nennen wir den theoretischen Wert des Satzes auch seinen "Sinn" (System der Philosophie I, 1921, S. 261). Der immanente Sinn ist kein Wert jenseits der Wertung, sondern steckt in dem Wertungsakt und würde mit diesem verschwinden. Er ist "kein reales psychisches Sein, sondern weist über dieses hinaus auf die geltenden Werte hin". Der Akt des Wertens verknüpft die Reiche des Wirklichen und der Werte miteinander: "Die Sinndeutung ist dementsprechend weder Seinsfeststellung noch bloßes Wertverständnis, sondern das Erfassen eines Subjektaktes mit Rücksicht auf seine Bedeutung fiir den Wert, seine Auffassung als Stellungnahme zu dem, was gilt" (Rickert, ebenda, S. 261 f.). Der Begriff Sinn bezieht sich also immer auf Werte. Das bringt auch Spranger klar zum Ausdruck: "Denn als Eigentümlichkeit der seelischen Totalität bezeichneten wir vorhin, daß sie einen Sinnzusammenhang darstelle. Was heißt das? - Sinn ist immer ein Wertbezogenes" (Lebensformen, S. 13). In seiner "Psychologie des Jugendalters" (27. Auflage, Heidelberg 1963) drückt Spranger den gleichen Gedanken in folgender Formulierung aus: "Sinn hat, was in ein Wertganzes als konstituierendes Glied eingeordnet ist. Sinnvoll ist demgemäß eine Ordnung oder ein Zusammenhang von Gliedern, die ein Wertganzes bilden, auf ein Wertganzes bezogen sind oder ein Wertganzes bewirken helfen" (S. 19). Hier tritt mehr der organische Gesichtspunkt in den Vordergrund.

b) Struktur Den Begriff Struktur fiihrte Dilthey in die Geisteswissenschaften ein; er bezeichnet damit einen psychischen Zusammenhang, "die Anordnung, nach welcher psychische Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit im entwickel-

Sinn, Wert, Zweck und Struktur in der Philosophie Sprangers

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ten Seelenleben durch eine innere erlebbare Beziehung miteinander verbunden sind" (Dilthey, Kultur der Gegenwart, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 31). Die Struktur dient der Wertverwirklichung und erfüllt einen Zweck, sie hat somit einen teleologischen Zusammenhang. Spranger definiert ein Lebensgebilde, das auf Wertverwirklichung angelegt ist, als Struktur: "So müssen wir die sogenannte Seele selbst ansehen als ein Lebensgebilde, das auf Wertverwirklichung angelegt ist. Ein solches Gebilde im weitesten Sinne nennen wir eine Struktur. Gegliederten Bau oder Struktur hat ein Gebilde der Wirklichkeit, wenn es ein Ganzes ist, in denen der Teil und jede Teilfunktion eine für das Ganze bedeutsame Leistung vollzieht, und zwar so, daß Bau und Leistung vom Ganzen her verständlich sind" (Psychologie des Jugendalters, S. 23/24). Spranger hält im übrigen diesen Strukturbegriff "sowohl auf den Naturorganismus wie auf den Geistesorganismus anwendbar".

c) Zweck

Zweck, griechisch 'tEAO